Antisemitismus im Kontext der Politschen Romantik
Marco Puschner
Max Niemeyer Verlag
Conditio Judaica 72 Studien und...
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Antisemitismus im Kontext der Politschen Romantik
Marco Puschner
Max Niemeyer Verlag
Conditio Judaica 72 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing
Marco Puschner
Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik Konstruktionen des »Deutschen« und des »Jdischen« bei Arnim, Brentano und Saul Ascher
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Die vorliegende Untersuchung ist die leicht berarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2007 vom Institut fr Germanistik der Friedrich-Alexander-Universit"t Erlangen-Nrnberg unter folgendem Titel angenommen wurde: »Deutsche« und »Juden«. Konstruktionen kollektiver Identit"t im Kontext der Politischen Romantik. Mit besonderer Bercksichtigung von Ludwig Achim von Arnim, Clemens Brentano und Saul Ascher.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65172-2
ISSN 0941-5866
< Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul"ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf"ltigungen, Ebersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest"ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
A Hinführung zum Thema ........................................................................ I II III IV B
Nationalismus und Antisemitismus................................................. 3 Romantik und Nationalismus ......................................................... 8 Antisemitismus und Romantik ....................................................... 17 Begriffsklärungen ........................................................................... 22
»Schlag lauter deine Saiten, Sohn des Vaterlands« – Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert ........................................ 35 I II III IV V VI VII
C
1
Patriotismus in »weltbürgerlicher Absicht«? ................................. Johann Elias Schlegel und die »Arminius-Mode« ......................... Lessing, Gleim und ein Drahtseilakt .............................................. Die Debatte um den Nationalgeist ................................................. Herder und der Wert des Vorurteils ............................................... Für Deutschland und gegen Wieland – der Göttinger Hainbund ... »Deutscher Kosmopolitismus«: Die Frühromantik ........................
35 38 42 43 47 50 56
»Wir sind seit undenklichen Zeiten ein deutsches Volk gewesen« – Die romantische Vorstellung von der »deutschen Nation« ................... 59 I
II
Das Konzept der »Nation« und seine Attraktivität für die romantische Generation ................................................................. 59 1 Hoher Anspruch, triste Realität: Die Situation der jungen Intellektuellen um 1800 ............................................................ 59 2 Freundeskreise in »sezessionistischer Absicht« ....................... 67 3 Kunst als Paradigma der Selbstverwirklichung ........................ 78 4 Ganzheitliche Bezugssysteme .................................................. 81 5 Mythos und Nation ................................................................... 85 6 Vom Vorbild zum Feindbild: Der Bezug zu Frankreich .......... 88 Aspekte des romantischen Nationalgedankens .............................. 92 1 Romantik und Aufklärung ........................................................ 92 2 Maschine und Organismus ....................................................... 94 3 Der Begriff der »Natur« ........................................................... 98 4 Individuum und Kollektiv ........................................................ 101 5 Instanzen der gesellschaftlichen Integration: Familie, Adel, Monarchie ................................................................................. 104
VI
Inhalt
6 Die konstruierte Nationalgeschichte ......................................... 111 7 Das Verhältnis von Religion und Nation .................................. 117 a) Gott und die Vielfalt der Nationen ....................................... 117 b) Drei religiöse Bezugsebenen des politischen Kollektivs ...... 119 8 Der Begriff des »Volkes« ......................................................... 122 9 »Des Deutschen Vaterland« ..................................................... 129 10 Das »heilige Amt« des Schriftstellers ...................................... 135 D »Dieser Haß wird uns wie ein heller Spiegel sein« – Einschluß durch Ausschluß in den nationalen Konzepten von Kleist, Fichte, Müller und Arndt .............................................................................................. 147 I II
Die Funktion des Feindbildes ........................................................ 147 »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs« – Das Verhältnis von Einschluß und Ausschluß in Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg ................................................................................. 149 III Autarkie und Sendung: Johann Gottlieb Fichte ............................. 153 IV Die »Idee der Eigentümlichkeit« als »Kranz des Sieges«: Adam H. Müller ............................................................................. 158 V Der »Meister des Hasses«: Ernst Moritz Arndt ............................. 162 E
»Ein interessanter Staat in Palästina« – Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft ............................................... 169 I II III
IV V VI VII F
»Daß niemand einseitig eine Last trage«: Die Emanzipation der Juden in Preußen ...................................................................... 169 Fichte und die argumentative Basis der antisemitischen Ausschlußklausel ........................................................................... 175 »Ein durchaus fremdes Volk«: Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum ........................................................................................ 185 1 Die Reinheit des Volkes ........................................................... 185 2 Juden mit französischen »Anlagen« ......................................... 186 3 »Böse Triebe seit 2000 Jahren«: Der degenerierte jüdische Charakter .................................................................................. 189 4 Die Religion: Das »Tiefste«, was ein Volk besitzt ................... 193 »Eine Ehe mit dem Boden«: Müller, Arndt und der für den Ackerbau untaugliche Jude ............................................................ 195 Ein »Loblied auf Moses und sein Volk«: Das Judentum als nationales Vorbild ......................................................................... 204 Friedrich Rühs und die Systematisierung des Diskurses ................ 211 Fataler Konsens .............................................................................. 218
»Der Jude geht wie ein Rätsel umher unter uns« – Nationales Engagement und antisemitische Denunziation bei Ludwig Achim von Arnim ............................................................................................. 223 I
Arnim und die Forschung .............................................................. 223
Inhalt
II
VII
Politik und Poesie .......................................................................... 234 1 »Herkules am Scheidewege« .................................................... 234 2 Kosmopolitische Anfänge ........................................................ 235 3 Die politische Konzeption ........................................................ 239 4 Die Macht der Poesie ............................................................... 244 5 Die Verantwortung des Schriftstellers ...................................... 249 III Kultur und Gedächtnis ................................................................... 252 1 Ein »Doppeldecker«-Modell .................................................... 252 2 Der »Kern der Deutschheit«: Zur politischen Intention von Des Knaben Wunderhorn ......................................................... 253 3 Abschied »ohne Vorwurf«: Die kurzlebige Zeitung für Einsiedler ................................................................................ 258 4 »Du bindest des zerstreuten Volkes Geister«: Goethe als nationale Identifikationsfigur ................................................... 261 IV Salon und Tischgesellschaft ........................................................... 268 1 »Jüdisch-deutsche Symbiose« in den Berliner Salons .............. 268 2 Christlich-deutsche Homogenität in Arnims Tischgesellschaft ...................................................................... 273 3 Der Nationalismus der Tischgenossen ..................................... 277 4 Der »ernsthafte Krieg« gegen die Juden: Beckedorffs Abschiedsrede .......................................................................... 279 5 »Rassenhass romantischer Faktur«: Ueber die Kennzeichen des Judenthums ........................................................................ 283 6 Ein Duell im Badehaus und seine »höhere Bestimmung«: Arnims Itzig-Referat ................................................................. 288 7 Das Ende der Tischgesellschaft ................................................ 296 V Fiktion und Projektion ................................................................... 299 1 Juden und Zigeuner: Isabella von Ägypten .............................. 299 a) Die Leiden einer Minderheit ................................................ 299 b) Phantastische Figuren und Politische Romantik .................. 302 c) Jüdische Prüfsteine ............................................................... 310 d) Isabella als »fremde Blume«: Die Stabilisierung kultureller Differenz ................................................................................... 315 e) »Ein Traum – was sonst?«: Die finale Harmonie als ästhetische Utopie ..................................................................... 317 2 Der fremde Jude: Die Versöhnung in der Sommerfrische ........ 320 a) Die mißglückte Integration ................................................... 320 b) Die deutsch-jüdische Differenz als »Naturwahrheit« ........... 325 c) »Besetzte Weiblichkeit«: Juden und Franzosen als Verführer .................................................................................. 329 d) Ein deutsches Volksfest ....................................................... 333 3 Der Jude als Kapitalist: Halle und Jerusalem und Die Majorats-Herren ................................................................ 338 a) Cardenios »Erlösungswerk« ................................................. 338 b) Juden als Profiteure einer Zeitenwende ............................... 342
VIII
Inhalt
c) Der Jude und die Familie ...................................................... 349 4 Tod und Taufe: Arnims Verhältnis zur jüdischen Religion ...... 352 VI Resignation und Rückzug .............................................................. 357 1 Kein Ende in Harmonie: Die Majorats-Herren als Arnims bitterste Erzählung .................................................................... 357 2 Der Abschied der Hoffnungsträger .......................................... 359 3 »Doch genug vom poetischen Firlefanz«: Der verhinderte Volksdichter Arnim .................................................................. 365 4 Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau und die Versöhnung mit Frankreich ...................................................... 367 5 Ein gescheiterter Autor und die Imagination eines »jüdischen Literaturbetriebes« .................................................................... 369 G »Dumoulin war ein Jude gewesen...« – Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors ..................................................... 377 I II
Der politische Brentano ................................................................. 377 Im Kampf gegen die »Pole des Verkehrten«: Brentanos »Philister«-Satire ............................................................................ 385 III Antisemitismus und Nationalismus: Drei Texte im Schatten der Forschung ....................................................................................... 392 IV Juden als Wurzel des nationalen Unglücks: Gockel und Hinkel .... 396 V Eine unheilige Allianz: Der jüdisch-französische Schulterschluß in Brentanos Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe ...... 403 1 Die Aufklärung eines alten Verbrechens .................................. 403 2 Die kriminalisierte Revolution ................................................. 405 3 Ein deutscher Baron und sein jüdischer Opponent ................... 406 4 Im Geist der Zeit: Die Absolution für Frankreich .................... 410 5 Keine Gnade für Dumoulin ...................................................... 414 6 Die erzählte Restauration ......................................................... 415 7 Die Rehabilitation eines Freundes ............................................ 417 VI Die Nivellierung der Differenz: Viktoria und ihre Geschwister .... 419 1 Anmerkungen zu Brentanos nationalen Kriegsliedern ............. 419 2 Die Nation als Familie .............................................................. 424 VII Abschied von Lessing .................................................................... 427 VIII Schreiben unter »Torschlußpanik« ................................................ 430 H »Wir erkennen ein Wesen in uns, ein bleibendes Sein« – Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese ............................................................................................... 437 I II
Mendelssohn und die böse Überraschung durch Michaelis .......... 437 Saul Ascher und der Traum der Vernunft ...................................... 442 1 Ein Plädoyer für die Aufklärung .............................................. 442 2 Aschers Nationenkonzept ......................................................... 445 3 Die Forderung nach Gleichstellung .......................................... 447
Inhalt
IX
4 Zwei Formen jüdischer Identität .............................................. 450 5 Eine deutsche Utopie ................................................................ 452 III Börne, Wolf, Salomon und die Mission des Judentums ................. 458 1 »Lehrer des Kosmopolitismus« ................................................ 458 2 Lehrer der Moral ...................................................................... 463 IV List, Moser und die Suche nach Identität ....................................... 466 V Heinrich Heine und die gescheiterte Symbiose .............................. 470 Zusammenfassung und Ausblick ........................................................... 477 Literaturverzeichnis ............................................................................... 497 Danksagung ........................................................................................... 569 Personenregister .................................................................................... 571
Der »gesunde« Nationalismus aber, so vage seine Kriterien formuliert sind, enthält das Potential seines angeblichen Gegensatzes. Denn er beschwört ein ingroup-Bewußtsein, indem er an ein rational nichtausgewiesenes Gemeinschaftsgefühl appelliert, das in prekären historischen Situationen als Aggression nach außen (und Säuberung nach innen) umschlagen kann. [...] Die moderne Gesellschaft verlegt sich durch das Neuaufleben eines Nationalismus, wie immer er beschönigt werden mag, tendenziell selbst den Weg zu fortschreitender Rationalisierung im Sinne der Bildung einer kritisch-demokratischen Öffentlichkeit. Kurt Lenk
A
Hinführung zum Thema
»Sie scheinen aber Volk und Glauben zu verwechseln«1, zeigt sich der IchErzähler über seinen Gesprächspartner, Raphael Rabuni, reichlich erstaunt; Rabuni hatte sich zuvor vehement gegen seine zum Christentum konvertierten ehemaligen Glaubensgenossen ausgesprochen und »solche[n] Gesellschaftschristen«2 vorgeworfen, lediglich die »die Lasten beider Völker«3 zu vereinen. Gegen die Unterstellung seines Mitdiskutanten, zwischen »Volk« und »Glauben« nicht ausreichend differenziert zu haben, verwahrt sich Raphael indes; er insistiert darauf, diese Begrifflichkeiten »mit Bedacht«4 gewählt zu haben. Seiner Ansicht nach ist es »unserm Volke [also dem jüdischen, M. P.] eigentümlich [...], daß es überall von den übrigen Bewohnern eines Staats eine Ausnahme gemacht hat, sich immer als ein abgesondertes Volk, als zerstreute Gemeinen eines Staats, der erst noch wiedererrichtet werden sollte, angesehen hat, von den Regierungen als Flüchtige, die ihrem Schutz sich empfohlen hatten angesehen worden sind«5. Der Text, dem diese Szene entstammt, heißt Die Versöhnung in der Sommerfrische6, sein Autor ist der romantische Schriftsteller Ludwig Achim von Arnim. Entstanden ist die Erzählung im Jahr 1811, als die Debatte um die Emanzipation der Juden in Preußen gerade auf einen neuen Höhepunkt zusteuerte – im Jahr darauf sollte mit dem Edikt vom 11. März 1812 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate7 endlich eine rechtliche Besserstellung der unterdrückten Minderheit erreicht werden. In
1
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Motto aus: Kurt Lenk: »Volk und Staat«. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1971, S. 98. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band drei: Sämtliche Erzählungen 1802–1817. Hg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker; 55), S. 557. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 541–609. Ein Abdruck des Edikts findet sich bei Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. Zweiter Band: Urkunden. Berlin: Poppelauer 1912, S. 455–459.
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A Hinführung zum Thema
zeitlicher Nachbarschaft zu diesem Versuch, die Menschen jüdischen Glaubens in die christliche Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, etabliert Arnims unveröffentlicht gebliebener Text eine neue, unüberbrückbare Differenz: Aus der Trennung von Juden und Christen wird die zwischen Juden und Deutschen. Die Juden, so Arnims Protagonist Rabuni, sind eben nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Sie müssen vielmehr als Angehörige eines »abgesonderte[n] Volk[es]«8 betrachtet werden, das einem Staate angehört, den es »erst noch wieder[zu]erricht[en]«9 gilt. Deshalb sind Versuche gutmütiger Deutscher, Juden als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anzusehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt; die Minderheit darf allenfalls geduldet werden. Wie Christhard Hoffmann überzeugend darlegt, wurde »Wahrnehmung und Bewertung des Judentums häufig von einem dualen Schematismus bestimmt«10, in dem es als Antithese immer den negativen Pol »zum eigenen Ideal und Selbstverständnis«11 bildete. So konnte in den Denkstrukturen des religiösen Antijudaismus der Christ »[a]m Judentum und seiner Geschichte [...] in beispielhafter Verdichtung den Weg des ›Bösen‹ erkennen, von dem er sich fernhalten mußte«12. In der Zeit der Aufklärung wiederum avancierte das Judentum zu einem »zentralen Objekt religionskritischer und antiklerikaler Polemik«13, das den neuen Leitwerten »Vernunft« oder »Fortschritt« diametral entgegenstand. Das Judentum erschien »als eine Art religionsgeschichtliches Fossil«14, wie Thomas Rahe schreibt, und blieb so auch »vielen Aufklärern ein negativ besetztes Fremdes«15. Als sich in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts abzeichnete, daß die Stellung der Juden verbessert und ihre Ghettoexistenz aufgehoben werden sollte, bildete sich ein drittes duales Schema heraus: Die Vorstellung, daß die »Judenemanzipation [...] zu einer Vermischung und damit zu einer Auflösung der deutschen und jüdischen ›Eigentümlichkeit‹«16 führt, ging von einer nationalen, nicht mehr nur einer religiösen Sonderexistenz der Juden aus. Während die beiden ersten Wertungsmuster von der Stellung der Juden zu seiner Religion abhingen, rekurriert die dritte Variante auf »unwandelbare[] Gegebenheiten«17: Es lag nun nicht mehr in der Hand des einzelnen Juden, ob er das 8 9 10
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Arnim, Werke III (wie Anm. 1), S. 557. Ebd. Christhard Hoffmann: Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters. In: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. Hg. von Wolfgang Benz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995, S. 25. Herv. i. O. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Thomas Rahe: Religionsreform und jüdisches Selbstbewußtsein im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. In: Menora 1 (1990), S. 91. Ebd. C. Hoffmann, Judentum als Antithese (wie Anm. 10), S. 33. Ebd.
I Nationalismus und Antisemitismus
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Entrebillet in die Mehrheitsgesellschaft würde lösen können oder nicht. Arnims Erzählung muß als früher Belegtext für diese dritte Spielart der dualen Wertungsmuster gelesen werden, in der der Jude nicht mehr als Antithese zum Christen oder zum aufgeklärten Bürger herhalten muß, sondern vielmehr die Vorstellung eines »jüdischen Wesens« den Gegenpol zu einem vermeintlichen »deutschen Wesen« darstellt.
I
Nationalismus und Antisemitismus
Angesichts der Problematik dieser Konstruktion eines deutsch-jüdischen Gegensatzes muß es überraschen, daß der Zusammenhang zwischen Nationalismus und Antisemitismus bislang nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurde. Michael Jeismann begreift es gleichwohl nicht als »bloße Willkürlichkeit«18, daß »beide Forschungsstränge nicht ineinander verliefen«19: »Von der Seite der Nationalismusforschung aus gesehen, ist der Antisemitismus eine Art Dreingabe, eine Verschärfung auch, die über das Nationale als Fragestellung rasch hinausführt. Von der anderen Seite, der Antisemitismusforschung aus betrachtet, ist der nationale Rahmen und das, was man Nationalismus nennt, zu eng und zudem zeitlich auf das 19. und 20. Jahrhundert begrenzt«20, begründet Jeismann die zwar »merkwürdig anmutende[]«21, aber eben doch »bemerkenswert stabile Scheidung«22 beider Forschungszweige, die seiner Ansicht nach auch als Grund dafür anzusehen ist, daß der Antisemitismus in einem großen Forschungsbericht Dieter Langewiesches23 zum Nationalismus überhaupt keine Rolle spielt. Jeismanns 1999 gestellte Diagnose ist noch immer nicht überholt, auch wenn in ihrem zeitlichen Umfeld zahlreiche Publikationen erschienen sind, die sich mit dem Themenkomplex »nationale Identität« beschäftigen.24 18
19 20 21 22 23 24
Michael Jeismann: Der letzte Feind. Die Nation, die Juden und der negative Universalismus. In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 176. Ebd. Ebd. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176. Vgl. Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Neue politische Literatur 40 (1995), S. 190–236. In den Darstellungen von Gerd Wiegel: Nationalismus und Rassismus. Zum Zusammenhang zweier Ausschließungspraktiken. Köln: Papy Rossa 1995 (PapyrossaHochschulschriften; 4), Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a. M.: Campus 1998, Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen. München: C. H. Beck 2001 (Wissen in der
4
A Hinführung zum Thema
Freilich gibt es durchaus vereinzelte Beiträge, die die Konstruktion der Nation gegen die Juden (Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff) oder den Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation (Lutz Hoffmann) thematisieren; die historischen Szenarien des von Alter, Bärsch und Berghoff
Beck’schen Reihe; 2169) und Rolf-Ulrich Kunze: Nation und Nationalismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 (Kontroversen um die Geschichte) wird der Zusammenhang zwischen Nationalismus und Antisemitismus ebensowenig thematisiert wie in den Beiträgen folgender Sammelbände: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg: Meiner 1996 (Studien zum 18. Jahrhundert; 18); Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne. Hg. von Ulrich Bielefeld und Gisela Engel. Hamburg: Hamburger Edition 1998; Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Polrola. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 1998; Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Hg. von Ruth Florack. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 76); Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000; Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hg. von Monika Flacke. 2. Aufl. München, Berlin: Koehler & Amelang 2001; Die Stolzdeutschen. Von Mordspatrioten, Herrenreitern und ihrer Leitkultur. Hg. von Dietrich Heither und Gerd Wiegel. Köln: Papy Rossa 2001 (Neue kleine Bibliothek; 74) sowie Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg 2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56). In dem Band Nationale Identität aus germanistischer Perspektive. Hg. von Maria Katarzyna Lasatowicz und Jürgen Joachimsthaler. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 1998, der sich dem Themenkomplex der nationalen Identität aus dezidiert germanistischer Perspektive nähert, finden sich Studien von Malogorzata Dubrowska und Wojciech Krol zur »Selbstfindung ostdeutscher Autoren jüdischer Herkunft« (ebd., S. 271–279) und zur »Identitätssuche im Leben und Werk Wolf Biermanns« (ebd., S. 281–290). Mit der nationalen Identitätssuche jüdischer Autoren nach 1945 beschäftigt sich auch eine Studie Eva Reichmanns: Deutsche oder Juden? Die Konstruktion einer nationalen Identität in der Literatur nach 1945 geborener jüdischer Autoren in Deutschland und Österreich. In: Narrative Konstruktionen nationaler Identität. Hg. von Eva Reichmann. St. Ingbert: Röhrig 2000, S. 179–193. Der von ihr verantwortete Sammelband enthält zudem eine Untersuchung Armin A. Wallas über »Narrative Konstruktion jüdischer Nationalität« (ebd., S. 157–177). Vgl. zudem noch einmal die Forschungsberichte von Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat (wie Anm. 23) sowie Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller: Perspektiven einer politik- und kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung. Einleitung. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg 2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56), S. 1–24. Vgl auch die von Echternkamp und S. O. Müller ebd., S. 271–289, zusammengestellte Auswahlbibliographie zum Deutschen Nationalismus vom 18. zum 20. Jahrhundert.
I Nationalismus und Antisemitismus
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herausgegebenen und interdisziplinär angelegten Sammelbandes,25 in dem auch Jeismanns Thesen publiziert sind, setzen jedoch erst im Jahr 1819 mit einer Studie Stefan Rohrbachers über die sogenannten »Hep-Hep-Unruhen« ein.26 Der schmale Beitrag Lutz Hoffmanns konzentriert sich auf die »enge Symbiose«27, die in dem 1871 gegründeten deutschen Reich zwischen Nationalismus und Antisemitismus bestand. Diese Symbiose leitet er durchaus aus der romantischen Konstruktion der »deutschen Nation« ab, die es nicht vermocht habe, »dem Übergang zur modernen Gesellschaft einen positiven Sinn ab[zu]gewinnen«28, wie Hoffmann konstatiert. »Wollte man gleichwohl am romantischen Bild eines organisch sich entwickelnden deutschen Volkes festhalten, so mußte man nach Wegen suchen, den damit unvereinbaren Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit abspalten und verdrängen zu können.«29 Dieses Problem, so Hoffmann, wurde gleichsam »auf Kosten der Juden«30 gelöst. Hoffmanns Überlegungen überzeugen – umso erstaunlicher ist es, daß er seine Thesen nicht an den Texten der Romantiker selbst exemplifiziert. Der Versuch, die deutsche Nation im Schattenriß des jüdischen Feindes zu konstruieren, findet sich, wie später gezeigt werden soll, schon bei Achim von Arnim, Clemens Brentano, Ernst Moritz Arndt oder Adam Heinrich Müller, und nicht erst bei den Adepten ihres Nationenkonzeptes im späten 19. Jahrhundert. Dieser Aspekt wird auch in den Untersuchungen von Klaus Holz31 und Thomas Koebner32 vernachlässigt. Die wissenssoziologisch ausgerichtete Habilitation über den Nationalen Antisemitismus, die Holz vorgelegt hat, beschäftigt sich mit Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker, Edouard Drumont, Adolf Hitler sowie dem Antizionismus in der Sowjetunion und der sogenannten »Waldheim-Affäre«. Die Traditionslinie, die die ideengeschichtlich orientierte Studie Koebners zieht, 25
26 27
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Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des SalomonLudwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999. Vgl. Stefan Rohrbacher: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt. In: Ebd., S. 29–47. Lutz Hoffmann: Der Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation. In: Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns. Hg vom Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus. Freiburg/Breisgau: Ça Ira 2001, S. 43–58, hier S. 49. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd. Vgl. Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Edition 2001. Vgl. Thomas Koebner: »Feindliche Brüder«. Stereotypen der Abgrenzung jüdischen und deutschen Wesens. In: Archiv Bibliographia Judaica 1 (1985), S. 29–55.
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A Hinführung zum Thema
beginnt bei Richard Wagner und führt über Gustav Freytag sowie Wilhelm Raabe zu Wilhelm Stapel, Hans F. K. Günther und Werner Sombart. Einen frühen Vorläufer zu diesen Arbeiten bildet Erich Voegelins hellsichtige Untersuchung zu Rasse und Staat, in der die konstitutive Bedeutung gezeigt wird, die die Konstruktion von »Gegenrassen« für die Genese der Rassenidee besitzt.33 »[D]as Werden einer solchen [einer nationalen bzw. rassischen, M. P.] partikulären Gemeinschaft«34, so Voegelin, »haben wir [...] an dem gleichzeitigen Entstehen ihres Gegenbildes zu typisieren. [...] In Europa vollzieht sich das Werden der Rasse durch die Gegenrasse heute in breitester Wirkung am Gegenbild der Juden«35. Gerade in Deutschland avancierten die Juden nach Voegelin zur »wichtigsten Gegenrasse«36, wobei der Politologe den Konstruktcharakter dieses »Gegenbildes« durchaus erkennt: »Wir erfahren bei Gelegenheit der Schöpfung der Gegenidee zwar auch mancherlei über die Juden, aber die umfangreiche politische Literatur, um die es sich hier handelt, will nicht primär das jüdische Wesen erkennen, sondern es sich, dem eigenen Wesen, entgegensetzen.«37 Auch wenn hier gleichsam noch suggeriert wird, daß es ein jüdisches Wesen gebe, das theoretisch erkannt werden könne und über das auch durch antisemitische Schriften »mancherlei« zu erfahren sei, so ist Voegelins Studie ihrer Zeit doch weit voraus. Von einigen kurzen Hinweisen auf die judenfeindlichen Argumentationen Johann Gottlieb Fichtes38 und Friedrich Rühs’39 einmal abgesehen, behandelt allerdings auch Voegelin Autoren, die sich außerhalb unseres Untersuchungszeitraumes befinden. Neben Treitschke, Günther und Sombart geht es ihm vornehmlich um Bruno Bauer, Houston Stewart Chamberlain und Otto Weininger. Die vorliegende Untersuchung diagnostiziert den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Antisemitismus dagegen bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts; durch diese frühere Datierung setzt sie sich von den genannten Studien ab. Einige andere Untersuchungen dagegen beschäftigen sich durchaus mit eben diesem Zeitraum, gelangen dabei aber zu Ergebnissen, die es in der vorliegenden Arbeit kritisch zu hinterfragen gilt. So kann eine bereits etwas ältere Überblicksdarstellung über Nationalismus und Antisemitismus40 in den Haltungen Fichtes, Friedrich Ludwig Jahns und Ernst Moritz Arndts keine natio33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Erich Voegelin: Rasse und Staat. Tübingen: Mohr 1933, insbesondere das 7. Kapitel, S. 181–208: »Die Juden als Gegenidee«. Ebd., S. 181. Ebd., S. 181f. Ebd., S. 182. Ebd., S. 184. Herv. i. O. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 187. Ernst von Schenck: Nationalismus und Antisemitismus. In: Judentum. Schicksal, Wesen und Gegenwart. Band 2. Hg. von Franz Böhm und Walter Dirks. Wiesbaden: Steiner 1965, S. 680–743, hier S. 713f.
I Nationalismus und Antisemitismus
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nal motivierte Judenfeindschaft feststellen: »Noch lebte man im Bann ›christlicher‹ Vorstellungen, die zuließen, daß aus einem Juden ein Christ und Deutscher wurde«41, schreibt Ernst von Schenck. Diese These ist überaus fragwürdig, wie zu zeigen sein wird; Schencks Studie leidet zudem darunter, daß sie nicht mit dem konstruktivistischen Nationenverständnis operiert, was sie aus der heutigen Forschungsperspektive antiquiert erscheinen läßt. Allerdings existieren durchaus auch Untersuchungen, die eine national motivierte Judenfeindschaft schon für das frühe 19. Jahrhundert konstatieren. Bernhard Giesen42 etwa widmet dem »von der Romantik inspirierte[n] Antisemitismus«43 einige flüchtige Zeilen;44 letztlich marginalisiert er die betreffenden Einstellungen jedoch als »persönliche[] Vorurteil[e] mit begrenzter Verbreitung«45. Michael Ley dagegen vermutet in seiner Kleinen Geschichte des Antisemitismus durchaus einen Zusammenhang zwischen dem neuen und wirkungsmächtigen »ästhetischen Design«46, das die Schriftsteller der romantischen Generation der konstruierten »deutschen Nation« verliehen haben, und der »in hohem Maße judenfeindlich[en]«47 Haltung dieser Autoren; zudem insistiert er auf der Wirkungsmächtigkeit der romantischen Ideen. In Autoren wie Joseph Görres oder Friedrich Wilhelm Schelling sieht Ley die »wahnwitzigen Vorreiter einer Resakralisierung von Politik und Gesellschaft«48: »Ihr Projekt der ›Romantisierung der Gesellschaft‹ ist der gigantische Versuch, eine Gesellschaft in ein Gesamtkunstwerk zu transformieren, das letztlich in Auschwitz endete.«49 Unabhängig davon, daß Leys – zudem bereits im Titel als »klein« ausgewiesene – Überblicksdarstellung den Romantikern nur einige wenige Seiten widmen kann, muß ihr Versuch, Görres und Schelling für Auschwitz in die Verantwortung zu ziehen, freilich problematisch erscheinen. Wie viele andere Studien zum Thema leidet auch diese Arbeit darunter, daß sie ein »Bedeutungs- und Bewertungsgefüge«50 errichtet, das die »Scheinexistenz eines ge41 42
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Ebd., S. 714. Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1410), S. 284– 330. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 289–292. Ebd., S. 292. So Wolfgang Müller-Funk: »Sauget, Mütter und Weiber, das schöne Blut der Schlacht!« Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur, Mythos und Nation. In: Nationalismus und Romantik. Hg. von Wolfgang Müller-Funk und Franz Schuh. Wien: Turia und Kant 1999, S. 51. Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. München: Fink 2003 (UniTaschenbücher; 2408), S. 85. Ebd. Ebd. Harrm-Hinrich Brandt: Vom aufgeklärten Absolutismus bis zur Reichsgründung: Der mühsame Weg der Emanzipation. In: Geschichte und Kultur des Judentums.
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A Hinführung zum Thema
schlossenen Kausalgebäudes suggeriert«51; dem gilt es die Mahnung HarmHinrich Brandts entgegenzuhalten, daß zwar »zweifellos eine Kontinuität antisemitischen Denkens vom 19. zum 20. Jahrhundert auszumachen ist«52, daraus aber »Terror und Genozid des nationalsozialistischen Deutschland in ihrer Einmaligkeit«53 nicht hergeleitet werden können.
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Romantik und Nationalismus
Ley beruft sich in seiner Studie explizit auf die Thesen des marxistischen Literaturtheoretikers Georg Lukács, der ebenfalls eine lineare historische Entwicklung von der Romantik hin zu Hitler konstruiert und diese Entwicklung als allmähliche »Zerstörung der Vernunft« interpretiert hatte.54 Damit ist eine zweite Frage aufgeworfen, die neben dem Konnex zwischen Nationalismus und Antisemitismus für meine Untersuchung von zentraler Bedeutung ist: nämlich die nach dem Zusammenhang zwischen der Romantik55 und dem deutschen Nationalismus.
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Hg. von Karlheinz Müller und Klaus Wittstadt. Würzburg: Schöningh 1988 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg; 38), S. 199. Ebd. Ebd. Ebd. Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin: Aufbau-Verlag 1954. Vgl. zu diesem Buch: Rainer Rosenberg: Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft (1954). In: Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. Hg. von Walter Erhart und Herbert Jaumann. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2002 (Beck’sche Reihe; 1398), S. 262–277. Zur Romantik vgl. grundlegend: Hans-Georg Werner: Die Erzählkunst im Umkreis der Romantik (1806–1815). In: Weimarer Beiträge 17 (1971), H. 8, S. 11–38; HansGeorg Werner: Die Erzählkunst im Umkreis der Romantik (1806–1815). Teil II. In: Weimarer Beiträge 17 (1971), H. 9, S. 82–111; Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil. Das Zeitalter der Französischen Revolution: 1789–1806. München: C. H. Beck 1983 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 7); Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration: 1806–1830. München: C. H. Beck 1989 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 7); Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 (edition suhrkamp; 1551); Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik. 2., erweiterte Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 1990 (Sammlung Metzler; 170); Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363); Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2002 (Beck’sche Reihe; 2053); Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3. Aufl. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2007. Neuerdings: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser 2007.
II Romantik und Nationalismus
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In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war dieser Konnex in der deutschen Germanistik, die damals von den Repräsentanten des geistesgeschichtlichen Methodenparadigmas56 wie Hermann August Korff, Rudolf Unger, Oskar Walzel, Richard Cysarz, Fritz Strich, Paul Kluckhohn oder Julius Petersen dominiert wurde, unbestritten. Die Aufwertung, die die zuvor im Schatten des Weimarer Klassizismus stehende Romantik in diesen Jahren erfuhr,57 vollzog sich auch unter der Prämisse, daß ihr eine bedeutende Rolle bei der nationalen Selbstfindung der Deutschen zuerkannt wurde. »Gemeinschaftsgesinnung und Verantwortungsbewußtsein für das Ganze«58 hält etwa Paul Kluckhohn für eine »Grundforderung romantischer Staatsauffassung«59: »Sie zeigt sich in der nachdrücklichen Heraushebung von Werten, die über den Parteien stehen müßten, den religiösen und nationalen, und wird in Verbindung mit dem neubelebten Sinn für die Vergangenheit des eigenen Volkes ein Hauptfaktor für die nationale Wiedergeburt in den Befreiungskriegen.«60 Aus einer ähnlich affirmativen Perspektive stellt Fritz Strich dem Ideal »klassischer Menschheit«61 die »romantische Volksidee«62 entgegen: »Es war für die Romantik selbstverständlich, daß solches Ideal der Volksgemeinschaft 56
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Vgl. zur geistesgeschichtlichen Verfahrensweise: Jost Hermand: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. München: Nymphenburger Verlags-Handlung 1971, S. 35–59; Beate Pinkerneil: Trennung von Geist und Politik. Literaturwissenschaft im Bann der Geistesgeschichte. In: Klaus L. Berghahn und Beate Pinkerneil: Am Beispiel Wilhelm Meister. Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Band 1: Darstellung. Frankfurt a. M. 1980, S. 54–74; Frank Trommler: Geist oder Gestus? Ursprünge und Praxis der Geistesgeschichte in der Germanistik. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hg. von Petra Boden und Holger Dainat. Berlin: Akademie-Verlag 1997 (Literaturforschung), S. 59–80; Rainer Kolk: »Repräsentative Theorie«. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geistesgeschichte. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hg. von Petra Boden und Holger Dainat. Berlin: Akademie-Verlag 1997 (Literaturforschung), S. 81– 101 sowie den Sammelband: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993 (Literaturwissenschaft Fischer). »Die Geschichte der Romantikrezeption im 19. Jahrhundert ist im wesentlichen die Geschichte der Romantikkritik«, schreibt Meike Steiger pointiert. Meike Steiger: »Schöpferische Restauration«. Zur politischen Romantik-Rezeption. In: Athenäum 13 (2003), S. 148. Paul Kluckhohn: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik. Halle/Saale: Max Niemeyer 1925 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte/Buchreihe; 5), S. 104. Ebd. Ebd.; Herv. i. O. Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München: Meyer & Jessen 1922, S. 72. Ebd.
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A Hinführung zum Thema
mit dem des Vaterlandes und der Nation zusammenschmolz.«63 Jakob Baxa hält dementsprechend in dem Vorwort zu der zweiten Auflage seiner Einführung in die romantische Staatswissenschaft (1931) den »Gegnern der Romantik«64 vor, »daß man diese glorreiche Bewegung in der deutschen Geistesgeschichte niemals aus den Annalen unseres Volkes streichen kann«65, und Julius Petersen sieht in der Romantik »überhaupt die Ausdrucksform des germanischen Geistes, die sich überall findet, wo er mit seinem Eigenleben in Erscheinung tritt«66. Nach der von den namhaften Vertretern der Germanistik überwiegend »emphatisch begrüßte[n]«67 Machtübernahme Adolf Hitlers68 scheint sich die Literaturwissenschaft nach einem pointierten Wort Klaus Weimars ohnehin nur noch als »Agentur zur Verleihung von Orden in Gestalt des Prädikats deutsch
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Ebd. Jakob Baxa: Einführung in die romantische Staatswissenschaft. Zweite, erweiterte Auflage. Jena: Fischer 1931 (Die Herdflamme/Ergänzungsband; 4), S. IX. Ebd. Julius Petersen: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Leipzig: Quelle und Meyer 1926, S. 58. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den Sammelbänden zu den politischen Texten der Romantiker wider, die in jenen Jahren herausgegeben wurden: Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik. Die staats- und gesellschaftswissenschaftlichen Schriften deutscher Romantiker, ausgewählt, mit erklärenden Einleitungen und Anmerkungen versehen und hg. von Jakob Baxa. Jena: Fischer 1924 (Die Herdflamme; 8); Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Hg. von Paul Kluckhohn. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1934 (Literarhistorische Bibliothek; 13) sowie Deutsche Vergangenheit und deutscher Staat. Hg. von Paul Kluckhohn. Leipzig: Reclam 1935 (Deutsche Literatur/Reihe Romantik; 10). Vgl. zum Umgang geistesgeschichtlicher Literaturwissenschaft mit der Romantik auch die Hinweise bei Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte. München: Fink 1983 (Literaturgeschichte und Literaturkritik; 5), S. 46–49. Stephan Reinhardt: »Eine Kompanie von Söldnern«? Anmerkungen zur deutschen Germanistik in der Weimarer Republik. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. von Wolfgang Rothe. Stuttgart: Reclam 1974, S. 458–466, hier S. 458. Zu der konservativ-antidemokratischen Ausrichtung der Germanistik der Weimarer Republik vgl. neben Reinhardts Beitrag (wie Anm. 67) auch Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994 (rowohlts enzyklopädie; 534), S. 83–97 sowie die mit interessanten Statistiken über das politische Engagement der Germanisten aufwartende Studie von Christian Jansen: Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle in Universität und Gesellschaft. Die zwischen 1910 und 1925 in Deutschland lehrenden germanistischen Hochschullehrer im politisch-wissenschaftlichen Spektrum. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993 (Literaturwissenschaft Fischer), S. 385–399.
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verstanden zu haben«69. So fand denn auch die positive Evaluierung des romantischen Beitrages zu der deutschen Selbstfindung ihre Fortsetzung; während in den – um nur zwei von unzähligen Beispielen zu nennen – Aufsätzen der nationalsozialistischen Literarhistoriker Heinz Kindermann sowie Franz Koch über Eichendorffs deutsche Sendung (1933) und Kleists deutsche Form (1938) gehandelt wird, kann Kluckhohn, der 1941 das »Eintreten für die Sache des Vaterland[e]s«70 als die »entscheidende praktische Auswirkung der romantischen Staatsidee«71 würdigt, an frühere Forschungsergebnisse anknüpfen.72 Nach dem Ende der Terrorherrschaft wurde dann in der bereits erwähnten Studie von Lukács der Konnex unter veränderten Vorzeichen neuerlich behauptet: Die Romantik stand nun für die Irrwege der deutschen Geschichte in der Verantwortung.73 »Das Reich der blauen Blume«, schrieb Claus Träger, 69
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Klaus Weimar: Deutsche Deutsche. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hg. von Petra Boden und Holger Dainat. Berlin: Akademie-Verlag 1997 (Literaturforschung), S. 129. Vgl. zur Rolle der deutschen Germanistik in der NS-Zeit Hermand, Geschichte der Germanistik (wie Anm. 68), S. 98–113; Peter Sturm: Literaturwissenschaft im Dritten Reich. Germanistische Wissensformationen und politisches System. Wien: Verlag Edition Praesens 1995; Holger Dainat: Anpassungsprobleme einer nationalen Wissenschaft. Die Neuere deutsche Literaturwissenschaft in der NS-Zeit. In: Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Hg. von Petra Boden und Holger Dainat. Berlin: AkademieVerlag 1997 (Literaturforschung), S. 103–126; Holger Dainat: Germanistische Literaturwissenschaft. In: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933– 1945. Hg. von Frank-Rutger Hausmann. München: Oldenbourg 2002 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien; 53), S. 63–86. Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik. 4. Aufl. Tübingen: Max Niemeyer 1941 (Handbücherei der Deutschkunde; 6), S. 94. Ebd. Kluckhohns Buch über das Ideengut der deutschen Romantik erlebt 1966 noch seine fünfte Auflage. Zum Romantik-Bild der NS-Literaturwissenschaft vgl. Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1999. Siehe auch die Erläuterungen bei Karl Robert Mandelkow: Vom Kaiserreich zur Neuen Bundesrepublik. Romantikrezeption im Spiegel der Wandlungen von Staat und Gesellschaft in Deutschland. In: »Die echte Politik muß Erfinderin sein«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Mit einem Vorwort von Wolfgang Frühwald. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin: Saint-Albin-Verlag 1999 (Schriftenreihe des Freundeskreises Schloß Wiepersdorf – Erinnerungsstätte Achim und Bettina von Arnim; 3), S. 277–306, hier S. 288–294. Vgl. Lukács, Zerstörung (wie Anm. 54); Georg Lukács: Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur. In: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-Hain-Scriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93), S. 40–52; Georg Lukács: Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? Hg. von Laszlo Sziklai. Budapest: Akademiai 1982 (Veröffentlichungen des Lukács-Archivs), S. 111–148. Als ein später Ausläufer dieser Sichtweise erweist sich Peter Hacks: Zur Romantik. Hamburg:
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»entpuppt sich als Reich der preußisch-deutschen Reaktion.«74 Sie wurde allerdings nicht nur von der politischen Linken zur Rechenschaft gezogen; der konservative Fritz Strich, der zwar liberaler dachte als manche seiner Kollegen,75 der aber durch seine diversen Unterschriften unter Resolutionen zwischen 1912 und 1925 ebenfalls »mitunter bedrohlich in autoritär-rechte Rücklage geriet«76, eröffnete die vierte Auflage seines wissenschaftsgeschichtlichen Klassikers über Deutsche Klassik und Romantik im Jahr 1949 mit einem signifikanten Vorwort,77 in dem er frühere Positionen revidierte: »Wenn es damals [bei den ersten drei Auflagen des Buches, die zwischen 1922 und 1928 erschienen waren, M. P.] eine Aufgabe war, das eigene Recht der Romantik gegenüber der Klassik ins Licht zu stellen, so gestehe ich heute, daß mich die Entwicklung der Geschichte dazu geführt hat, in der deutschen Romantik eine der großen Gefahren zu erkennen, die dann wirklich zu dem über die Welt hereingebrochenen Unheil führten.«78 Strich begreift den »ästhetische[n] Zauber«79 der Romantik nunmehr als bedrohlich; er sieht in ihm »die Abdankung
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Konkret-Literatur-Verlag 2001. Erläuterungen bei Klaus Peter: Einleitung. In: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-Hain-Scriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93), S. 1–39, vor allem S. 16–29; Gerhart Hoffmeister: Forschungsgeschichte. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Tübingen: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 197–201; Mandelkow, Vom Kaiserreich zur Neuen Bundesrepublik (wie Anm. 72), S. 295–300; knappe Hinweise bei Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004 (Einführungen Germanistik), S. 15. Claus Träger: Novalis und die ideologische Restauration. Über den romantischen Ursprung einer methodischen Apologetik. In: Sinn und Form 13 (1961), S. 618–660. Später sah der DDR-Germanist dies freilich differenzierter. Vgl. Claus Träger: Ursprünge und Stellung der Romantik. In: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-Hain-Scriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93), S. 304–334 sowie Claus Träger: Geschichte und Romantik. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter 1984 (Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie; 103). Daß Strich dem demokratischen Deutschland nicht ganz so ablehnend gegenüberstand wie andere Germanisten dürfte nach Julian Schütt gemeinsam mit seiner jüdischen Herkunft dazu beigetragen haben, daß er trotz seines fachlichen Renommees »in München keinen Lehrstuhl erhielt und sich 1929 ins vergleichsweise provinzielle Bern fortwählen lie[ß]«. Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich: Chronos 1996, S. 40f., hier S. 41. Ebd., S. 40. Vgl. hierzu C. Jansen, Im Kampf um die geistig-ideologische Führungsrolle (wie Anm. 68), S. 389. Vgl. Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. Vierte Auflage. Bern: Francke 1949, S. 9–17. Vgl. hierzu Reinhardt, Kompanie von Söldnern (wie Anm. 67), S. 463f. sowie Dainat, Germanistische Literaturwissenschaft (wie Anm. 69), S. 83. Strich, Klassik und Romantik (wie Anm. 77), S. 9. Ebd.
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der europäischen Vernunft«80. Seiner Einschätzung, daß die Romantik nicht nur als sozial- und literarhistorische Bewegung das Nationalbewußtsein forciert hat, sondern auch als Wesenszug »tief in der deutschen Natur«81 steckt, bleibt der einem naturalistisch-ontologisierenden Nationenverständnis82 verpflichtete Strich treu. Nur kann er darin nun nichts Positives mehr erkennen; vielmehr wird die »Überwindung der Romantik«83 postuliert, wenn der »europäische Geist sich nicht verwirren und verirren sollte«84. In den Bemühungen, die Romantik einerseits vor diesen Verdikten zu schützen und sie andererseits – nach der Vereinnahmung durch die NS-Germanistik – zu rehabilitieren, hat die Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte85 die Darstellung des Zusammenhangs zwischen Romantik und Nationalismus86 entweder vermieden oder diesen – in anderen Disziplinen unbestrittenen87 – Konnex bagatellisiert.88 80 81 82 83 84 85
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Zu den Begrifflichkeiten vgl. Kapitel A. IV. Strich, Klassik und Romantik (wie Anm. 77), S. 13. Ebd. Einen guten Überblick bis 1980 bieten die Beiträge in: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-HainScriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93). Vgl. zudem Hoffmeister, Forschungsgeschichte (wie Anm. 73) und Schmitz-Emans, Einführung (wie Anm. 73), S. 12–16. So der Titel eines Sammelbandes – Nationalismus und Romantik. Hg. von Wolfgang Müller-Funk und Franz Schuh. Wien: Turia und Kant 1999 –, in dem der Zusammenhang beider Phänomene allerdings in Frage gestellt wird. Vgl. Müller-Funk, »Sauget, Mütter« (wie Anm. 46), S. 25f. Vgl. für die Historiker exemplarisch Thomas Nipperdey: Auf der Suche nach Identität: Romantischer Nationalismus. In: Thomas Nipperdey: Nachdenken über deutsche Geschichte. Essays. 2. Aufl. München: C. H. Beck 1986, S. 110–125; Ernst Schulin: Weltbürgertum und deutscher Volksgeist. Die romantische Nationalisierung im frühen 19. Jahrhundert. In: Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick. Hg. von Bernd Martin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992 (dtv; 11499), S. 105– 125; Wehler, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 65–71; für die Soziologie Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1070), S. 130–162; für die Philosophie Ernest Gellner: Nationalismus. Kultur und Macht. Aus dem Englischen von Markus P. Schupfner. Berlin: Siedler 1999, S. 112–119; für die politische Ideengeschichte Isaiah Berlin: Der gekrümmte Zweig. Über den Aufstieg des Nationalismus. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 156f. sowie Herfried Münkler: Politische Romantik: der Fall Richard Wagner. In: Zukunftsbilder. In Zusammenarbeit mit der Staatsoper Unter den Linden. Hg. von Hermann Danuser. Schliengen 2002, S. 47–60. Daß Paul Michael Lützelers Diktum über die Romantikforschung – »Wohin man schaut, begegnet man der Etikettierung nationalistisch« – zumindest für die Germanistik nicht gilt, hat Karlheinz Schulz gezeigt: »Die Bearbeitung des Themas kann
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A Hinführung zum Thema
Selbst in Darstellungen, die sich explizit der Politischen Romantik89 widmen, figuriert das nationale Engagement der in Frage kommenden Autoren
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sich nicht allein auf germanistische Literatur stützen, da die Germanistik früher oft dazu neigte, politische Bezüge auszuklammern, und die Erörterung der Frage nach dem nationalen oder kosmopolitischen Standpunkt der Romantiker daher an die Geschichtswissenschaft abtrat.« Vgl. Paul Michael Lützeler: »Kosmopoliten einer europäischen Literatur«. Romantiker über Europa. In: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hg. von Ernst Ribbat. Königstein/Taunus: Athenäum 1979 (Athenäum-Taschenbücher; 2149), S. 213–236, hier S. 213 sowie Karlheinz Schulz: Voraussetzungen kultureller Vermittlung in der deutschen Frühromantik. Kosmopolitismus und Nationalismus bei den Brüdern Schlegel. In: Recherches Germaniques 19 (1989), S. 31–67, hier S. 32. Schulz bezieht sich auf die Germanistik bis 1933; er vernachlässigt hier die Tatsache, daß die Konzentration der NSGermanistik auf das »volkhaft Deutsche« (ebd., S. 33) in der Romantik durch die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft vorbereitet worden war. So gilt seine These von der Ausblendung der politischen Bezüglichkeiten weit mehr noch für die werkimmanente Literaturwissenschaft der 1950er und 60er Jahre. Als es in den folgenden Jahrzehnten darum ging, aus sozialgeschichtlicher und später poststrukturalistischer Perspektive die Modernität der Romantik – so der Titel eines von Dieter Bänsch herausgegeben Sammelbandes (Stuttgart: J. B. Metzler 1977) – zu erweisen, paßte die nationale Orientierung der betreffenden Autoren freilich abermals nicht in das Forschungskonzept. Der Terminus der »Politische[n] Romantik« wurde 1919 durch das gleichnamige Buch des konservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt geprägt [Carl Schmitt: Politische Romantik. 6. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1998], der diese Begrifflichkeit freilich in pejorativer Absicht gebrauchte. Für ihn bedeutete Romantik die »Vermeidung von Wirklichkeit« und das »Ausweichen vor grundsätzlichen weltanschaulichen Entscheidungen«; alles Positive, so Schmitts Kritik, diente Autoren wie Adam Müller und Friedrich Schlegel nur »als Material unverbindlich-spielerischer Aneignung«. Dadurch restituiert die Romantik entgegen ihrer Selbstdarstellung nicht traditionelle Werte, sondern sie forciert vielmehr den Subjektivismus der Moderne, den Schmitt als destruktiv begreift und verurteilt. Vgl. Markus Schwering: Politische Romantik. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 477–507, S. 477f., Zitate S. 477. Martin Meyers Studie zur Politischen Romantik ist den Überlegungen Schmitts verpflichtet. Meyer konstatiert eine »totale[] Entschlusslosigkeit« bei den romantischen Denkern, die dazu führte, daß die »Verbindung zur praktischen Politik nicht mehr herzustellen [...] war«. Auch Meyer stuft den romantischen Beitrag in der Geschichte des deutschen Nationalismus als gering ein; er bewertet dies jedoch negativ: »[D]ie romantische Idee der Volkseinheit« habe das deutsche Nationalbewußtsein nicht forcieren können, sondern sei vielmehr »mystische[n] Bereiche[n]« verhaftet geblieben und »in kaum mehr zu überbietender Weise von den politischen Geschäften abgewandt« gewesen. Vgl. Martin Meyer: Idealismus und politische Romantik. Studien zum geschichtsphilosophischen Denken der Neuzeit. Bonn: Bouvier 1978 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; 74), S. 87f., Zitate ebd. Zur zeitgenössischen Debatte um Schmitts Buch vgl. Kurzke, Das »politische« Werk Hardenbergs (wie Anm. 66), S. 40–44, vgl. zu Schmitts Romantik-Auffassung auch neuerdings: Reinhard Mehring: Überwindung des Ästhetizismus? Carl Schmitts selbstinquisitorische Romantikkritik. In: Athenäum 16 (2006), S. 125–147.
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seltsam am Rande;90 so beschäftigt sich von jenen Beiträgen, die in Richard Brinkmanns aus einem Symposion zur Romantik in Deutschland hervorgegangenen Sammelband die politische Dimension der Romantik thematisieren, keiner explizit mit dem romantischen Nationalismus.91 Lediglich Ulrich Scheuner verweist auf die romantische »Hinwendung zur Besonderheit jedes Volkes«92; er beeilt sich aber – gerade im Hinblick auf die »verhängnisvolle[n] Übersteigerungen des Nationalismus«93 – zu versichern, daß die Überlegungen eines Friedrich Schlegel oder Joseph Görres »bei allem einfließenden nationalen Gefühl doch einen hohen Geist europäischer Gesinnung atmen«94. Die »bedauerlichen Verluste[] gegenüber der universellen Öffnung des 18. Jahrhunderts«95 seien »[e]rst später«96 aufgetreten und mithin den Romantikern nicht anzulasten. Ähnlich argumentieren Paul Michael Lützeler, dessen Studien sich darum bemühen, die Romantik als kosmopolitische beziehungsweise europäische Bewegung auszuweisen,97 sowie Wolfgang Müller-Funk, der diese Epoche als »einzige nennenswerte nicht-nationalistische und universalistische Strömung im Deutschland der frühen Neuzeit«98 begreift. Indes verschweigt Müller-Funk ihre Bedeutung für die Entfaltung des Nationalgedankens keineswegs – er weist diese Tendenzen jedoch einer »sekundären Romantik«99 zu, also gleich90
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Ein Beispiel hierfür bietet auch der ansonsten sehr hilfreiche Beitrag von Klaus Peter: Einleitung. In: Die politische Romantik in Deutschland. Eine Textsammlung. Hg. von Klaus Peter. Stuttgart: Reclam 1985 (Reclams Universal-Bibliothek; 8093), S. 9–73. Vgl. Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann.Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 39–166. Auch bei Andreas Groh: Die Gesellschaftskritik der Politischen Romantik. Eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung. Bochum: Winkler 2004 spielt das nationale Engagement der untersuchten Autoren kaum eine Rolle. Ulrich Scheuner: Staatsbild und politische Form in der romantischen Anschauung in Deutschland. In: Romantik in Deutschland (wie Anm. 91), S. 70–89, hier S. 76. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd. Ebd. Vgl. Paul-Michael Lützeler: Die Romantik zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses in Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Band 11: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Hg. von Wilhelm Vosskamp und Eberhard Lämmert. Tübingen: Max Niemeyer 1986, S. 236–240. Müller-Funk, »Sauget, Mütter« (wie Anm. 46), S. 26. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 49: »Die sekundäre Romantik führt tatsächlich in den Nationalismus, und sie macht die mythischen Strukturen, die bei einem Klopstock, Johann Elias Schlegel und Möser noch implizit waren und im Sinne einer Realhistorie der Deutschen mißverstanden wurden, explizit.«
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A Hinführung zum Thema
sam einer Schwundstufe der eigentlichen Bewegung, und kann so seinen universalistischen Romantik-Begriff retten. Markus Schwering wiederum konzediert zwar, daß die Romantik »Denkfiguren von Herder radikalisiert und vereinseitigt«100 habe, doch – in impliziter Abgrenzung zu Kluckhohn, der sich in seinen Veröffentlichungen genau gegen diese Position verwahrt hatte101 – ist für ihn die »Wendung der Romantiker zum Nationalgedanken [...] unmittelbar aus der zeitgeschichtlichen Situation zu erklären«102 und auf die Jahre der napoleonischen Fremdherrschaft beschränkt.103 Da der romantische Nationalismus als Begleiterscheinung der erhitzten Atmosphäre in der Zeit vor den Befreiungskriegen und nicht als konstitutiver Bestandteil des Ideenkataloges der Politischen Romantik verstanden wird,104 werden die für unseren Zusammenhang einschlägigen Texte in den Readern zur Politischen Romantik auch nicht mehr abgedruckt. So findet sich in den Anthologien von Klaus Peter und Herbert Uerlings zwar jeweils der Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796)105 des jungen Friedrich Schlegel, Texte wie Heinrich von Kleists Katechismus der Deutschen (1809)106 oder Joseph Görres’ Reflexionen ueber den Fall Teutschlands und die Bedingungen 100 101
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Schwering, Politische Romantik (wie Anm. 89), S. 493. Kluckhohn will die »politische Katastrophen- und Kampfzeit« nicht als Ursache, sondern lediglich als Verstärkung eines ohnehin schon vorhandenen Nationalbewußtseins der Romantiker verstanden wissen. Kluckhohn, Ideengut (wie Anm. 70), S. 94f., Zitat S. 94. Vgl. auch Kluckhohn, Persönlichkeit (wie Anm. 58), S. 1f. Schwering, Politische Romantik (wie Anm. 89), S. 493. In dem von Helmut Schanze herausgegebenen Romantik-Handbuch finden sich neben Schwerings Studie zur Politischen Romantik auch Abhandlungen des Autors über die romantische Theorie der Gesellschaft und die romantische Geschichtsauffassung. In seinen Ausführungen über die romantische Gesellschaftstheorie kommt Schwering zwar auch auf die Staatsauffassung der Romantik zu sprechen, hier geht er jedoch auf die nationale Konnotation dieser Entwürfe gar nicht mehr ein; der Aufsatz über das Geschichtsbild widmet dem nationalen Mittelalterbild der Romantiker nur einige Absätze. Vgl. Markus Schwering: Romantische Theorie der Gesellschaft. In: RomantikHandbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 516–524 sowie Markus Schwering: Romantische Geschichtsauffassung – Mittelalterbild und Europagedanke. In: Ebd., S. 548f. Vgl. auch Claudia Stockinger: »Des Deutschen Vaterland.« Romantischer Patriotismus und die Literatur der Befreiungskriege. In: Der Deutschunterricht 57 (2005), H. 3, S. 24–32. So bemüht sich Hans-Christof Kraus, die Spätromantik als betont nichtnationalistische Bewegung darzustellen. Vgl. Hans-Christof Kraus: Politisches Denken der deutschen Spätromantik. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 111–146. Vgl. Die politische Romantik in Deutschland. Eine Textsammlung. Hg. von Klaus Peter. Stuttgart: Reclam 1985 (Reclams Universal-Bibliothek; 8093), S. 75–94 bzw. Theorie der Romantik. Hg. von Herbert Uerlings. Stuttgart: Reclam 2000 (Reclams Universal-Bibliothek; 18088), S. 295–314. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 2. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 350–360.
III Antisemitismus und Romantik
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seiner Wiedergeburt (1810)107 sucht man indes vergebens.108 Uerlings hat zwar einen Auszug aus Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808)109 in seine Anthologie aufgenommen, verweist jedoch in der Einleitung beschwichtigend darauf, daß diese Vorträge »[t]rotz ihrer nationalistischen Züge«110 eigentlich für einen »europäischen Völkerbund«111 plädierten und sie zudem ohnehin in einem »Spannungsverhältnis«112 zur »Realpolitik«113 stünden. Freilich befindet sich jede politische Utopie zunächst einmal in einem solchen »Spannungsverhältnis«; das entbindet die Forschung jedoch nicht von der Verpflichtung, die Konstrukteure dieser Utopien und ihre politischen Vorstellungen ernst zu nehmen. Die Identifikation mit den Forschungsgegenständen darf sich nicht auf Kosten des Erkenntnisinteresses vollziehen. Im übrigen sollte der Opfertod für das Vaterland, den etwa Fichte und Kleist dem Individuum abfordern, schon sehr zeitnah – nämlich in den Befreiungskriegen der Jahre 1813 bis 1815 – seine historische Realität erhalten.114 Neben der besprochenen interdisziplinären Problematik einer Scheidung von Nationalismus und Antisemitismus muß also aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auch die Marginalisierung nationaler Tendenzen innerhalb der Romantik durch eine affirmativ ausgerichtete Forschung konstatiert werden. Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu überraschen, daß die letzte verbliebene Begriffspaarung in der Literaturwissenschaft ebenfalls ein Forschungsdesiderat darstellt: Da die Romantik ja nicht national gesinnt war, können ihr auch schwerlich antisemitische Haltungen zugeschrieben werden.
III
Antisemitismus und Romantik
So wird denn auch die Möglichkeit einer nationalen Motivierung des romantischen Antijudaismus trotz eines frühen Hinweises von Eckart Kleßmann115 107
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Vgl. Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg und Adolf Dyroff. Fortgeführt von Leo Just. Band 4: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften II (1808–1817). Hg. von Leo Just. Köln: J. P. Bachem 1955, S. 221–229. Bezeichnenderweise hat Jakob Baxa in seiner Anthologie den Katechismus aufgenommen, bei Paul Kluckhohn finden sich beide genannten Texte. Vgl. Gesellschaft und Staat (wie Anm. 66), S. 233–247 sowie Deutsche Vergangenheit (wie Anm. 66), S. 272–282 sowie S. 283. Vgl. Theorie der Romantik (wie Anm. 105), S. 347–364. Herbert Uerlings: Einleitung. In: Theorie der Romantik (wie Anm. 105), S. 42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd. Vgl. Kleist, Werke, Band 2 (wie Anm. 106), S. 360 sowie Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 382f. »Die Wurzeln des romantischen Antisemitismus waren nationaler Natur«, schreibt Eckart Kleßmann: Romantik und Antisemitismus. In: Monat 21 (1969), H. 244,
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A Hinführung zum Thema
kaum ernsthaft diskutiert,116 obwohl mittlerweile durchaus eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen vorliegt, die wichtige und richtige Einsichten in das Verhältnis romantischer Autoren wie Friedrich Schlegel,117 Friedrich Schleiermacher,118 Achim von Arnim,119 Clemens Brentano,120 E.T.A. Hoffmann,121
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S. 68. Vgl. auch Horch, der »radikale Formen des Antisemitismus« und »rassistisch begründete[] Ausgrenzungsstrategien« für die Romantik und die von Romantikern gegründete Christlich-deutsche Tischgesellschaft konstatiert. Hans Otto Horch: Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte? Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters 49 (1996), S. 128f. Ausnahmen bilden im Falle Arnims die Studien von Susanna Moßmann: Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der »Christlich-deutschen Tischgesellschaft«. In: Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1273), S. 123–159; Birgit R. Erdle: ›Über die Kennzeichen des Judenthums‹: Die Rhetorik der Unterscheidung in einem phantasmatischen Text Achim von Arnims. In: German Life and Letters 49 (1996), S. 147–158 und Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Breisgau: Rombach 1999 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 68). Vgl. Helmut Schanze: Dorothea geb. Mendelssohn, Friedrich Schlegel, Philipp Veit – ein Kapitel zum Problem Judentum und Romantik. In: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Hg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Francke 1988, S. 133–150. Die Dissertation von Paul Busch: Friedrich Schlegel und das Judentum. Phil. Diss. masch. München 1939 steht unter den Prämissen der nationalsozialistischen Ideologie. Vgl. Gunter Scholtz: Friedrich Schleiermacher über das Sendschreiben jüdischer Hausväter. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4 (1977), S. 297–351; Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand Literaturverlag 2002 (Sammlung Luchterhand; 2028), S. 132–195; Birgit R. Erdle: Sich öffentlich der Gesellschaft einverleiben. Die Konstellation Friedländer/Schleiermacher. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München: Fink 2003, S. 192–209; Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 104–118. Vgl. Gisela Henckmann: Das Problem des »Antisemitismus« bei Achim von Arnim. In: Aurora 46 (1986), S. 48–69; Heinz Härtl: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die Tischgesellschaft. In: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 1159–1173; Gunnar Och: Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindlicher Blutschuld-Mythen durch die Romantiker. In: Aurora 51 (1991), S. 81– 94; Peter Philipp Riedl: »... das ist ein Schachern und Zänken...« Achim von Arnims Haltung zu den Juden in den Majorats-Herren und anderen Schriften. In: Aurora 54 (1994), S. 72–105; Helmut Hirsch: »Frauen, Franzosen, Philister und Juden«. Zu den Ausschlußklauseln der Tischgesellschaft. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von
III Antisemitismus und Romantik
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Bettina von Arnim,122 Wilhelm Müller123 oder Wilhelm Hauff124 zum Judentum bieten.125 Auch Wolf-Daniel Hartwichs Habilitationsschrift Romantischer
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Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 153–164; Stefan Nienhaus: Aufklärerische Emanzipation und romantischer Antisemitismus in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. In: Studia theodisca 2 (1995), S. 9–27; Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 273–292; Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 118), S. 154–204. Vgl. Heinz Härtl: Clemens Brentanos Verhältnis zum Judentum. In: Clemens Brentano. 1778–1842; zum 150. Todestag. Hg. von Hartwig Schultz. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1993, S. 187–210; Christina E. Brantner: Zur Problematik des vaterländischen Freiheitsgedankens in Brentanos Die Schachtel mit der Friedenspuppe. In: German Life and Letters 46 (1993), S. 12–24; Gunnar Och: Spuren jüdischer Mystik in Brentanos Romanzen vom Rosenkranz. In: Aurora 57 (1997), S. 25–43; Martina Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano. Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Peter Lang 1999 (Forschungen zum Junghegelianismus; 4); Klaus Peter: Die alte Bäuerin: Zur Identität des »Volkes« in Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«. In: Romantische Identitätskonstruktionen. Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 4), S. 13–30; Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 118), S. 154–204. Vgl. Gerhard R. Kaiser: Illustration zwischen Interpretation und Ideologie. Jozsef von Divekys antisemitische Lesart zu E.T.A. Hoffmanns Klein Zaches genannt Zinnober. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 35 (1989), S. 21–48; Josef Quack: Über E.T.A. Hoffmanns Verhältnis zum Judentum: eine Lektüre der »Brautwahl«, der »Irrungen« und der »Geheimnisse«. In: Zeitschrift für Germanistik 10 (2000), S. 281–297; Gunnar Och: Gibt es Antisemitismus in der Literatur? Unveröffentlichtes Typoskript. Erlangen 2003; Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 118), S. 119–153. Vgl. Jacques Emanuel Picard: Zum Judenbild der Romantik. Ein Seitensprung mit Bettine von Arnim. In: Wege des Widerspruchs. Festschrift für Hermann Levin Goldschmidt zum 70. Geburtstag. Hg. von Willi Goetschel, John G. Cartwright und Maja Wicke. Bern, Stuttgart: Haupt 1984, S. 119–148; Helmut Hirsch: Jüdische Aspekte im Leben und Werk Bettine von Arnims. In: Bettina-von-ArnimGesellschaft: Internationales Jahrbuch 1 (1987), S. 61–76; Marie-Claire HoockDemarle: Bettinas Umgang mit Außenseitern. In: Bettina-von-Arnim-Gesellschaft: Internationales Jahrbuch 2 (1988), S. 76–91; Helmut Hirsch: Zur Dichotomie von Theorie und Praxis in Bettines Äußerungen über Judentum und Juden. In: Bettinavon-Arnim-Gesellschaft: Internationales Jahrbuch 3 (1989), S. 153–172; Lisabeth M. Hock: »Sonderbare«, »heißhungrige« und »edle« Gestalten. Konstrukte von Juden und Judentum bei Bettina von Arnim. In: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 317–341. Vgl. Günter Hartung: Müllers Verhältnis zum Judentum. In: »Kunst kann die Zeit nicht formen.« 1. Internationale Wilhelm-Müller-Konferenz. Hg. von Ute Bredemeyer und Christiane Lange. Berlin: Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft 1994 (Schriften der Wilhelm-Müller-Gesellschaft; 1), S. 195–222.
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A Hinführung zum Thema
Antisemitismus beschäftigt sich vorwiegend mit der »Renaissance der Mythen«126 der christlichen motivierten Judenfeindschaft und nimmt die Instrumentalisierung dieser Stereotypen im Namen eines nationalen Konzeptes nicht in den Blick.127
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Vgl. Rolf Düsterberg: Wilhelm Hauffs ›opportunistische‹ Judenfeindschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 190–212; Jürgen Landwehr: Jud Süß – Hauffs Novelle als literarische Legitimation eines Justizmords und als Symptom und (Mit-)Erfindung eines kollektiven Wahns. In: Wilhelm Hauff. Aufsätze zu seinem poetischen Werk. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur. Hg. von Ulrich Kittstein. St. Ingbert: Röhrig 2002 (Mannheimer Studien zur Literaturund Kulturwissenschaft; 28), S. 113–146; Wolf-Daniel Hartwich: Tragikomödien des Judentums. Wilhelms Hauffs Mitteilungen aus den Memoiren des Satan und der romantische Antisemitismus. In: Wilhelm Hauff oder die Virtuosität der Einbildungskraft. Hg. von Ernst Osterkamp, Andrea Polaschegg und Erhard Schütz. Göttingen: Wallstein 2005, S. 160–173. Zudem muß auf die wichtigen Überblicksdarstellungen von Wolfgang Frühwald, Günter Oesterle und Gunnar Och hingewiesen werden. Vgl. Wolfgang Frühwald: Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung. Zweiter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1989, S. 72–91; Günter Oesterle: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum 2 (1992), S. 55–89; Gunnar Och: Judenbilder der Romantik. In: Reuchlin und seine Erben. Hg. von Peter Schäfer und Irina Wandrey. Ostfildern: Thorbecke 2005 (Pforzheimer Reuchlinschriften; 11), S. 155–169. Konrad Feilchenfeldt verweist freilich darauf, daß innerhalb des Arbeitsgebietes »Deutsche Literatur und Judentum« die Epochen der Romantik und des Biedermeier als auch des Nationalsozialismus »im engeren Sinne« eher »am Rande [...] des umschriebenen Forschungsinteresses« liegen. Konrad Feilchenfeldt: Die Wiederentdeckung des »Juden« in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996 (Fischer. Kultur & Medien), S. 232. Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 118), S. 16. Grundlegend zu antisemitischen Vorurteilen und Mythen: Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (rowohlts enzyklopädie; 498); Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps und Joachim Schlör. Augsburg: Bechtermünz 1999. Grundlegend zu deutsch-jüdischen Literaturbeziehungen: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung. Erster Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1988; Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung. Zweiter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst
III Antisemitismus und Romantik
21
Es geht der vorliegenden Arbeit wohlgemerkt nicht darum, die obigen Thesen Michael Leys zu unterstützen. »Die deutsche Geschichte ist keine Einbahnstraße, die nach Auschwitz führt«128, bemerkte Peter Pulzer zu Recht. Gleichwohl wird meine Studie zum einen auf den Zusammenhang zwischen Romantik und Nationalismus insistieren und andererseits die Judenfeindschaft namhafter romantischer Autoren aus diesem Nationalismus herleiten; damit nimmt sie in Kauf, sich gleich in zweifacher Hinsicht auf ein »bis zur vollständigen Unbegehbarkeit vermint[es]«129 Gelände zu begeben, zumal einigen fürsorglichen Inschutznahmen der betreffenden Autoren durch die jüngere literaturwissenschaftliche Forschung widersprochen werden soll. Letztlich aber geht es dieser Untersuchung – und hier schließe ich mich Kurt Lenk an, der 1971 am Beispiel der Begriffe »Volk« und »Staat« eine wegweisende Analyse über den Strukturwandel der politischen Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert vorgelegt hat – »nicht um personale Zurechnungen [...], sondern um konkrete Reaktionsweisen auf historische und gesellschaftliche Vorgänge und deren Argumentationsmuster und -figuren«130. Daß diese Argumentationsmuster und -figuren auch in fiktionalen Texten vorgetragen werden, wird »in den meisten Studien zum Thema ›Judentum und Romantik‹ [...] aus[ge]blende[t] oder doch zumindest weitgehend vernachlässig[t]«131, wie unlängst Gunnar Och feststellte, der diese »eigentümliche Zurückhaltung [...] auf methodisch begründete Skrupel«132 zurückführt: »Man fürchtet den von poststrukturalistischer Theoriebildung genährten Vorwurf des Reduktionismus, der sich unweigerlich einstellt, wenn im Zuge der Interpretation eine direkte Referenz zwischen ästhetisch komplexen Gebilden und lebensweltlichen Zusammenhängen hergestellt wird.«133 Im Anschluß an Och beharrt dagegen auch diese Studie auf »Referenz und Lesbarkeit der Judenbilder, ohne sich deshalb schon einer platten Widerspiegelungstheorie zu ver-
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Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1989; Horch, Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte (wie Anm. 115), S. 124–135. Peter Pulzer: Warum scheiterte die Emanzipation der Juden? In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des Salomon-Ludwig-SteinheimInstituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 283. So Ulrike Landfester in einer Rezension über Martina Vordermayers Studie zu Antijudaismus und Antisemitismus im Werk Clemens Brentanos. Vgl. Ulrike Landfester: [Rezension]. Martina Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano. In: Literaturkonzepte im Vormärz. Hg. von Michael Vogt und Detlev Kopp. Bielefeld: Aisthesis 2001 (Jahrbuch Vormärz-Forschung; 6), S. 357. Kurt Lenk: »Volk und Staat«. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1971 (Reihe Kohlhammer), S. 8. Och, Judenbilder (wie Anm. 125), S. 157. Ebd. Ebd.
22
A Hinführung zum Thema
schreiben«134. Deshalb sollen – nach einem Überblick über die Verbindung von nationaler und judenfeindlicher Argumentation in pamphletistischessayistischen Texten von Fichte, Arndt, Müller und Rühs (Kapitel E) – in den Kapiteln zu Ludwig Achim von Arnim (Kapitel F) und Clemens Brentano (Kapitel G) vor allem auch Erzählungen und Dramen auf ihre Konstruktionen eines »deutschen« und eines »jüdischen Wesens« hin befragt werden. Eingangs wird jedoch zunächst über Genese des romantischen Nationalismus und die Komponenten seiner inhaltlichen Ausgestaltung zu sprechen sein (Kapitel C); anschließend gilt es, am Beispiel Kleists, Fichtes, Müllers und Arndts die konstitutive Funktion aufzuzeigen, die der Auschluß des Ungleichartigen für die nationale Selbstfindung besitzt (Kapitel D). Diese aggressive Kehrseite des nationalen Phänomens ist jedoch keine Erfindung der Romantik, wie ein kurzer Überblick über die Aspekte des um 1740 einsetzenden Vaterlandsdiskurses der Aufklärung beweist (Kapitel B). Daß die Notwendigkeit des Feindbildes für die Konturierung des deutschen Eigenen auch das Emanzipationsverlangen der unterdrückten jüdischen Minderheit gefährden könnte, ist den jüdischen Intellektuellen früh bewußt geworden. Ein kurzer Abriß über die Reaktionen der Juden auf diese Gefahr des erneuten – nunmehr national motivierten – Auschlusses aus der Mehrheitsgesellschaft wird daher die Untersuchung beschließen (Kapitel H).
IV
Begriffsklärungen
Zu Beginn sollen jedoch drei Prämissen dieser Studie, die in die obigen Ausführungen bereits eingegangen sind, noch einmal explizit gemacht werden. Sie betreffen die Verwendungsweise des »Antisemitismus«-Begriffes, die »Janusköpfigkeit« des nationalen Phänomens und die Verortung der romantischen Bewegung innerhalb der Geschichte des deutschen Nationalismus. Auch diese Untersuchung operiert mit der in der Forschung mittlerweile klassischen Differenzierung zwischen zwei Formen der Judenfeindschaft, nämlich einem theologisch motivierten Antijudaismus und einem rassisch begründeten Antisemitismus, der sich im 19. und 20. Jahrhundert entfaltete.135 Wenn eine Mitgliedschaft in der 1811 gegründeten Christlich-deutschen Tischgesellschaft davon abhängt, ob man »in christlicher Religion geboren sey«136, dann ist nach dieser Begriffsverwendung die Grenze zu einem antisemitischen Argumentationsmuster überschritten. Arnim, der gemeinsam mit 134 135
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Ebd. Zu der Forschungskontroverse um diese Begrifflichkeiten vgl. Johannes Heil: »Antijudaismus« und »Antisemitismus« – Begriffe als Bedeutungsträger. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 92–114. Vgl. Arnims Vorschlag zu einer deutschen Tischgesellschaft. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 4– 6, hier S. 5.
IV Begriffsklärungen
23
Adam Heinrich Müller die Gruppierung ins Leben gerufen hatte, sprach sich freilich zunächst gegen den besagten Passus aus, was er wenige Monate danach allerdings schon wieder bereuen sollte.137 Dieses gegenüber der Mehrheitsmeinung der Tischgenossen abweichende Votum und seine spätere Revision zeigen exemplarisch, daß eine trennscharfe Differenzierung zwischen den beiden Formen der Judenfeindschaft in den Argumentations- und Einstellungsmustern der betreffenden Autoren bisweilen schwerfällt. Dies hängt freilich auch damit zusammen, daß die älteren antijüdischen Argumentationsmuster »weiter zur Verfügung stehen und in Argumentationsstrategien des modernen Antisemitismus eingesetzt werden können«138. Armin Pfahl-Traughber plädiert angesichts dieser Problematik dafür, den auch alltagssprachlich eingebürgerten Begriff des »Antisemitismus« den Status einer »Sammelbezeichnung«139 zuzusprechen; der Terminus soll demnach »für alle Einstellungen und Verhaltensweisen [verwendet werden], die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zugehörigkeit in diffamierender und diskriminierender Weise negative Einstellungen unterstellen, um damit eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder gar Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen«140. Auch wenn Pfahl-Traughbers Vorschlag bedenkenswert sein mag, soll im folgenden versucht werden, an der Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus festzuhalten; dies erscheint schon alleine aus heuristischen Gründen sinnvoll, erweist sich die Romantik doch auch in diesem Zusammenhang als ein Übergangsphänomen, in dem beide Formen der Judenfeindschaft eine wichtige Rolle spielen und gerade die wechselseitigen Überlagerungen von Interesse sein können. Der Begriff des »Antisemitismus« wird also im folgenden für die Formen der national motivierten Judenfeindschaft verwendet; daß dieses Begründungsmuster zeitgleich mit der Emanzipation entstand, wurde in der Forschung schon verschiedentlich betont. »Die Ansicht, daß das Judentum eine Macht darstelle, gegen die man sich in einem Abwehrkampf befinde, setzt keineswegs die Existenz des rechtlich emanzipierten Judentums voraus, son137
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In seinem Referat zum Itzig-Skandal, auf das später ausführlich eingegangen werden soll, nimmt er angesichts der »schaudervollen Resultate[]«, die die Einbürgerung der Juden in anderen Länder gezeitigt hatte, seinen früheren Einspruch zurück. Vgl. Achim von Arnim: ‹Tischrede zum Itzig-Skandal›. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 260. Ludwig Stockinger: Toleranz und Ausgrenzung. Antijüdische Implikationen der Geschichtsphilosophie in der deutschen Literatur um 1800. In: Haß, Vefolgung und Toleranz. Beiträge zum Schicksal der Juden von der Reformation bis in die Gegenwart. Hg. von Thomas Sirges und Kurt Erich Schöndorf. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2000 (Osloer Beiträge zur Germanistik; 24). S. 49, Anm. 5. Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Opladen: Leske + Budrich 2002 (Beiträge zur Politik und Zeitgeschichte), S. 9. Ebd.
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dern entstand bereits in Reaktion auf die geplanten Rechtsverbesserungen mit dem Beginn der Emanzipationsdebatte«141, schreiben etwa Rainer Erb und Werner Bergmann, die sich damit von Reinhard Rürups und Thomas Nipperdeys Definition des Antisemitismus als einer »post-emanzipatorische[n] Bewegung«142 absetzen. »Bei allen Diskontinuitäten bleibt das Ziel radikaler Judengegner seit Beginn der Emanzipation die Ausschaltung der Juden aus Staat und Gesellschaft. [...] Keinesfalls entstand die antisemitische Mentalität erst mit der Prägung des Begriffs ›Antisemitismus‹ in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts«143, legitimieren Erb und Bergmann die gleichsam rückwirkende Verwendung des Terminus’, mit der auch diese Untersuchung arbeitet.144 Zeitgleich mit diesem Emanzipationsprozeß steht auch ein »folgenreiche[s] Konzept«145 am Beginn seiner erstaunlichen Karriere: das Konzept der Nation. »Die Erfindung der Nation« lautet der Titel einer erstmals 1983 erschienen Studie von Benedict Anderson,146 die in der Nationalismus-Forschung einem Paradigmenwechsel den Weg geebnet hat: Die »Nation« wird nun nicht mehr als »naturgegebener Sachverhalt«147 oder als eine »wesentlich ›vorgegebene‹ Wirklichkeit«148 verstanden, sondern als »politisch-intellektuelle Projektion«149 (Hans Manfred Bock), als Erfindung.150 »Erfindung der Nation« heißt 141
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Rainer Erb und Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860. Berlin: Metropol 1989 (Antisemitismus und jüdische Geschichte; 1), S. 11. Thomas Nipperdey und Reinhard Rürup: Antisemitismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 1. Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. 142. Erb/Bergmann, Die Nachtseite (wie Anm. 141), S. 11. Vgl. allerdings aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Gegenposition von Günter Hartung, der den Begriff des »Antisemitismus« im Hinblick auf judenfeindliche Haltungen vor 1870 »grundsätzlich« vermieden wissen will. Günter Hartung: Notizen zur Judendarstellung in der deutschen Literatur. In: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 871. Ebenso: Hirsch, »Frauen, Franzosen, Philister und Juden« (wie Anm. 119). Vgl. den Untertitel von Andersons Studie: »Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts«. Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen von Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erweiterte Ausgabe, Berlin: Ullstein 1998 (Ullstein-Buch; 26529). Hans Manfred Bock: Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibungen. In: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Hg. von Ruth Florack. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 76). S. 11. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch die knappe und gelungene Übersicht bei Doris Lindner: »Schreiben für ein besseres Deutschland«. Nationenkonzepte in der deutschen Geschichte
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allerdings nicht, wie Ernst Schulin bemerkt, daß sie »etwas Fiktives, Unwirkliches sei. Nationen sind Produkte der Geschichte, werden also ge- und erfunden, indem die Völker ihre nationalen Bindungen entdecken und schaffen, wobei sie allerdings oft für Entdeckung ausgeben, was tatsächlich Konstruktion ist.«151 In diesem Kontext wird die früher in der Forschung gebräuchliche Differenzierung zwischen »Kultur-« und »Staatsnation« hinfällig.152 Diese Unterscheidung hatte eine Opposition zwischen historisch gewachsenen und politisch gewollten Nationen unterstellt – nationale Kollektive beruhen jedoch stets auf sozialer Konstruktion. Verglichen mit vormodernen Gesellschaftsformen, die in erster Linie auf interpersonellen Verbindungen familiärer, feudaler oder berufsständischer Provenienz beruhten, muß dem nationalen Ordnungsentwurf gleichwohl eine »geradezu abenteuerliche[] Künstlichkeit«153 attestiert werden, weil sich ein »Individuum [...] einem Volk zurechnen [kann], ohne irgendeine gesellschaftliche Beziehung zu anderen Mitgliedern dieses Volkes zu besitzen«154. Der durch die Publikationen von Anderson, Ernest Gellner155 und Eric J. Hobsbawm156 initiierte Bruch mit dem naturalistisch-ontologisierenden Natio-
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und ihre literarische Gestaltung in den Werken Stefan Heyms. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 (Epistemata, Würzburger Wissenschaftliche Schriften/Reihe Literaturwissenschaft; 398), S. 13–16. Schulin, Weltbürgertum und Volksgeist (wie Anm. 87), S. 109. Vgl. auch James J. Sheehan: Nation und Staat. Deutschland als »imaginierte« Gemeinschaft. In: Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. Hg. von Manfred Hettling und Paul Nolte. München: C. H. Beck 1996, S. 33–45. Friedrich Meinecke hatte die Begriffe in seinem Buch Weltbürgertum und Nationalstaat (1908) in die Diskussion eingeführt. Vgl. dazu Kunze, Nation und Nationalismus (wie Anm. 24), S. 28f. Lutz Hoffmann: Die Konstruktion von Minderheiten als gesellschaftliches Bedrohungspotential. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 59. Lutz Hoffmann: Das ›Volk‹. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs. In: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 195. Vgl. die Ausführungen Benedict Andersons, der darauf verweist, daß selbst »die Mitglieder [...] der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.« Anderson, Erfindung der Nation (wie Anm. 146), S. 14f. Siehe auch Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen von Meino Brüning. Berlin: Rotbuch 1991 (Rotbuch Rationen) sowie Ernest Gellner, Nationalismus. Kultur und Macht (wie Anm. 87). Zu den Unterschieden zwischen Anderson und Gellner vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Springer 2002, S. 223–225 sowie Kunze, Nation und Nationalismus (wie Anm. 24), S. 63–81.
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nenbegriff, der davon ausgegangen war, daß »Nationen [...] historisch notwendige, aus dem geschichtlichen Prozeß gleichsam von selbst herauswachsende Gebilde«157 seien, hatte auch eine Neubewertung des Nationalismus zur Konsequenz, die Gellners berühmtes Diktum trefflich artikuliert: »Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, nicht umgekehrt.«158 Der Nationalismus muß also als »diejenige Form kollektiven Bewußtseins«159 verstanden werden, »die allererst dazu führt, daß Menschen sich und ihre Gruppe als ›Nation‹ definieren«160. Er ist das »Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient.«161 Die Vorstellung einer nationalen Homogenität162 innerhalb von Großgesellschaften führte zu der Bildung von Nationen, und nicht – wie es der völkische Nationalismus suggeriert – eine vermeintliche »ethnische«163 Einheit des Volkes, die sich im Verlauf des historischen Prozesses nur 156
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Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen von Udo Rennert. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998. Hans Peter Herrmann: Einleitung. In: Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1273), S. 8. Gellner, Nationalismus und Moderne (wie Anm. 155), S. 87. Herrmann, Einleitung (wie Anm. 157), S. 8. Ebd. Wehler, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 13. Das hat, obgleich glühender Nationalist, im übrigen schon Max Weber erkannt, der ein »Gemeinsamkeitsgefühl« und nicht objektive Kriterien als ausschlaggebend für die Formierung einer Nation erachtete. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit einem Anhang: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. 2. Halbband. Hg. von Johannes Winckelmann. 4. Aufl. Tübingen: Mohr 1956 (Grundriss der Sozialöonomik; 3,2), S. 528. Vgl. hierzu Wehler, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 11f. Daß der vermeintlich politisch korrekte Begriff der »Ethnie« genauso problematisch ist wie der des »Volkes«, hat Marco Heinz gezeigt: Die Vokabel, so Heinz, verdanke ihren Erfolg »einerseits der semantischen Nähe zum ›Völkischen‹ und ›Nationalen‹ und andererseits ihrer Unklarheit«. »In erster Linie«, stellt Heinz klar, »leben Individuen zusammen und nicht ›Ethnien‹. Zu Ethnien können diese erst durch [...] gesellschaftliche Prozesse werden, zu denen zumindest auch die Stigmatisierung von Menschen als ›ethnisch‹ durch die Sozialwissenschaften gehören.« Marco Heinz: Der fundamentale Irrtum im »ethnischen Diskurs« – Wilhelm Heitmeyers unkritischer Umgang mit einem undefinierten Begriff. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 159 und 172. Vgl. dazu auch Elisabeth Beck-Gernsheim: Juden, Deutsche und andere Erinnerungs-
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den ihr essentiell zustehenden Staat erschaffen hat. »Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß dieser Mythos nach wie vor zum festen Bestandteil der Staatslehre vieler deutscher Staatsrechtler gehört.«164 Wenn das Konstrukt »Nation« auf diese Weise durch den Nationalismus gleichsam »produziert«165 wird, dann stellt sich auch die Frage nach »Inklusion und Exklusion«166 neu, wird sie nun doch den Konstrukteuren der nationalen Identität überantwortet: »Die Form ›Nation‹ erlaubt uns, alltagssprachlich zwischen ›Wir‹ und ›Sie‹, zwischen ›Uns‹ und den ›Anderen‹ zu differenzieren. Wie die Konstruktion der ›Person‹, die sich an deutlich sichtbaren Umrissen orientiert, orientiert sich die semantische Konstruktion der ›Nation‹ bezeichnenderweise wiederum an Grenzen«167, schreiben Armin Nassehi und Dirk Richter. Die beiden Autoren machen freilich darauf aufmerksam, daß diese Grenzen keineswegs mit der Reichweite eines politischen Systems kongruent sein müssen. Die nötige Orientierung kann auch »die imaginäre Grenze einer Sprach- und Kulturgemeinschaft«168 bieten, »welche dann zur angestreb-
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landschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (Edition Zweite Moderne), S. 108–113. L. Hoffmann, Konstruktion von Minderheiten (wie Anm. 153), S. 57. Exemplarisch für die Anhänglichkeit an diesen Mythos kann auf Ausführungen des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof verwiesen werden, der 2005 dem »Kompetenz-Team« der CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel angehört hatte. Der Mensch brauche, schreibt Kirchhof, »die Kulturgemeinschaft des demokratischen Staatsvolkes, das sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Geschichte, einer prinzipiell lebenslänglichen Staatsangehörigkeit, einer geografischen und kulturellen Zusammengehörigkeit sowie gemeinsamer wirtschaftlicher Anliegen zusammengehörig weiß und sich Organe gibt, um ein in dieser Gemeinschaft verbindliches Recht zu setzen und durchzusetzen«. Paul Kirchhof: Der Staat – eine Erneuerungsaufgabe. 2. Aufl. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2005, S. 95. Peter Berghoff konstatiert, daß die Nation in der Wissenschaft zwar weitgehend als Konstruktion erkannt ist, im »öffentlichen Ordnungsbewußtsein von nationalen Gesellschaften« aber »den ihr verliehenen Nimbus noch nicht eingebüßt« habe. Peter Berghoff: »Der Jude« als Todesmetapher des »politischen Körpers« und der Kampf gegen die Zersetzung des nationalen »Über-Lebens«. In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, ClausEkkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 159. Armin Nassehi und Dirk Richter: Die Form »Nation« und der Einschluß durch Ausschluß. Beobachtungen zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. In: Sociolia Internationalis 35 (1996), S. 153. Dieses Begriffspaar hat Niklas Luhmann in die Diskussion eingeführt. Vgl. Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hg. von Helmut Berding. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft; 1154), S. 15–45. Nassehi/D. Richter, Die Form »Nation« (wie Anm. 165), S. 157. Ebd.
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ten Grenze des Staatswesens umfunktioniert wird«169. Die logische Konsequenz dieser Grenzziehung ist die »vielfältige[] [...] Ausgrenzung des Ungleichartigen«170 (Bernd Estel): »Man gehört entweder zu der Gruppe, die favorisiert wird, oder nicht, und wenn nicht, hat man die entsprechenden Konsequenzen zu tragen«171, resümieren Nassehi und Richter, und Barbara Vogel konstatiert eine dem »Theorem Nationsbildung immanente Ambivalenz«172: »Der Gedanke der Nation stiftete nicht nur Identität durch ein neues WirBewußtsein für bislang regional, konfessionell oder ethnisch sich selbst genügende Einheiten, sondern er grenzte auch Bevölkerungsgruppen als ›Minderheiten‹ aus. Dabei bildete sich oft eine fatale Entwicklung von Minderheit zu Minderberechtigung und Minderwertigkeit heraus«173. Es muß bei der Konstruktion der Form Nation notwendig Rechenschaft darüber abgelegt werden, wer an der »gedachten Ordnung« (M. Rainer Lepsius)174 bzw. der »vorgestellte[n] [...] Gemeinschaft« (Benedict Anderson)175 teilhat und wer nicht. »Die Diskriminierung von Minderheiten ist daher nicht das Resultat einer bereits vorstaatlich bestehenden ethnischen Differenz. Sie ergibt sich erst, wenn im Kontext von Staatsgründungen eine bestimmte Vorstellung von Homogenität definiert und durchgesetzt wird«176, wie Lutz Hoffmann resümiert. Vor dem Hintergrund dieser für die Konzeption der Nation konstitutiven Logik des Einschlusses durch Ausschluß wird die in der Forschung bisweilen noch bemühte Differenzierung zwischen einem »guten«, emanzipatorischen Nationalismus und einer aggressiv-pathologischen Spielart hinfällig.177 Auf die Problematik einer solchen Unterscheidung, die jüngst wieder von Aleida
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Ebd.; vgl. auch Dirk Richter: Nation als Form. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Bernd Estel: Grundaspekte der Nation. Eine begrifflich-systematische Untersuchung. In: Soziale Welt 42 (1991), S. 220. Siehe dazu auch Ulrich Bielefeld: Die lange Dauer der Nation. In: Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne. Hg. von Ulrich Bielefeld und Gisela Engel. Hamburg: Hamburger Edition 1998, S. 426f. Nassehi/D. Richter, Die Form »Nation« (wie Anm. 165), S. 159. Barbara Vogel: Vom linken zum rechten Nationalismus. Bemerkungen zu einer Forschungsthese. In: Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von BerndJürgen Wendt. Frankfurt a. M., Berlin: Peter Lang 1992, S. 107. Ebd., S. 106f. M. Rainer Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland. In: M. Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 233. Anderson, Erfindung der Nation (wie Anm. 146), S. 14. L. Hoffmann, Konstruktion von Minderheiten (wie Anm. 153), S. 57. Vgl. auch Michael Jeismann: Alter und neuer Nationalismus. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 11.
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Assmann178 vorgeschlagen wurde und die im politischen Diskurs – etwa unlängst durch die Forderung des Bundespräsidenten Horst Köhler nach einem »gesunden Patriotismus«179 – immer wieder bemüht wird, hat Kurt Lenk im übrigen schon im Jahr 1971 hingewiesen. Lenk fragte damals angesichts der »vage[n] [...] Kriterien«180 des »›gesunden‹ Nationalismus«181, »ob [sich] die Grenze zu einem katastrophischen Nationalismus [...] überhaupt ziehen läßt, auch wenn diese Grenze als deutlich sichtbar unterstellt wird«182. Lenks Antwort fällt deutlich aus: »Der ›gesunde‹ Nationalismus aber [...] enthält das Potential seines angeblichen Gegensatzes. Denn er beschwört ein ingroupBewußtsein, indem er an ein rational nichtausgewiesenes Gemeinschaftsgefühl appelliert, das in prekären historischen Situationen als Aggression nach außen
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Aleida Assmann sieht im Nationalismus eine »pathologische Form der Nationsbildung«, bei der an die Stelle der – bei Assmann positiv besetzten – Einheitsvision eine »Reinheitsvision« trete. Einen »nationalen Diskurs, der [...] sich emphatisch von nationalistischen Tönen distanziert«, hält sie in Bezug auf die deutsche Gegenwart für »unverzichtbar«. Sie glaubt an die Möglichkeit einer »Domestizierung des Nationalen [...], das dabei auf seine notwendigen Funktionen und Dimensionen zurückgestutzt wird«. Aleida Assmann: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Nationale Diskurse zwischen Ethnisierung und Universalisierung. In: Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne. Hg. von Ulrich Bielefeld und Gisela Engel. Hamburg: Hamburger Edition 1998, S. 389 sowie S. 398f. Mit diesen Thesen steht sie in der Tradition des einflußreichen Nationalismus-Forschers Otto Dann, der ebenfalls stets von einem »guten Prinzip der Nation« und seiner bösartigen Entartung, dem Nationalismus, ausgeht. Vgl. Otto Dann Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770–1990. München: C. H. Beck 1993 (Beck’sche Reihe; 494), S. 12, 17. Köhler fordert einen »gesunden Patriotismus« und bedauert es, dass sich manche Deutsche damit noch immer schwer tun würden. Horst Köhler: »Offen will ich sein – und notfalls unbequem.« Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg. 7. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 2005, S. 19. In seiner Rede zum 60. Jahrestag des Endes der NS-Herrschaft am 8. Mai 2005 mahnte er ebenfalls Nationalstolz an und schrieb den Deutschen eine organische »Begabung zur Freiheit« zu, die ihnen den »Weg zu unserer freien und demokratischen Gesellschaft« geebnet habe: Horst Köhler: Begabung zur Freiheit. In: Berliner Zeitung, 9. Mai 2005, S. 2. Vgl. zur Kritik an dieser Rede vor allem Knut Pries: Köhlers aufgeräumte Geschichte. Rede des Bundespräsidenten. In: Frankfurter Rundschau, 9. Mai 2005, S. 3; Rudolf Walther: Buchhalters Soll und Haben. Köhler-Rede am 8. Mai: Manches erinnerte an die verlogenen Volkstrauertag-Rituale der Ära Adenauer. In: Freitag, 13. Mai 2005, S. 5; teilweise auch Holger Schmale: Alte Schuld und neuer Stolz. Bundespräsident Horst Köhler schlägt in seiner Rede zum 8. Mai einen neuen Ton an: Er relativiert nichts von Deutschlands Schuld und lobt zugleich aus Demokratie erwachsenes Selbstbewusstsein. In: Berliner Zeitung, 9. Mai 2005, S. 2. Lenk, »Volk« und Staat« (wie Anm. 130), S. 98. Ebd. Ebd.
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(und Säuberung nach innen) umschlagen kann. So ist die Grenzziehung zwischen zwei qualitativ unterscheidbaren Formen des Nationalismus fiktiv.«183 Es gilt also zur Kenntnis zu nehmen, daß »Feindschaft und Gewalt mit der Konstitution der Nation unlösbar verbunden sein könnten«184, wie Michael Jeismann schreibt. Wolfgang Hardtwig hat in diesem Zusammenhang von der »Janusköpfigkeit des modernen Nationalismus«185 gesprochen, die sich im übrigen auch dann erweist, wenn die nationale Selbstentdeckung unter Berufung auf universale Ideale erfolgt, wie es in den beiden »klassischen« nichtkulturalistischen Nationen Frankreich und England geschehen ist.186 Im Falle der deutschen Identitätssuche wurde die aggressive Komponente des Nationalismus, die sogenannte »Selbstdefinition durch Feindmarkierung«187, jedoch besonders virulent, weil die Kriege der Napoleonischen Ära die Entstehung der deutschen Nationalbewegung entscheidend forcierten und Franzosenhaß somit
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Ebd. Vgl. auch neuerdings Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München: C. H. Beck 2005 (Beck’sche Reihe; 1591), S. 191: »Die Behauptung, man brauche einen ›gesunden‹ Patriotismus als Bollwerk gegen ›ungesunden Nationalismus‹, ist typisch für die deutsche Angst, hinter der die verdrängte Sehnsucht nach nationaler Größe lauert.« Jeismann, Der letzte Feind (wie Anm. 18), S. 177. Wolfgang Hardtwig: Einleitung. In: Wolfgang Hardtwig: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1994 (Sammlung Vandenhoek), S. 12. Hardtwig illustriert mit diesem Bild den »inneren Begründungszusammenhang von Modernisierungsimpulsen, Traditionskritik, Freisetzung des Individuellen, Demokratisierungs- und Egalisierungsverlangen einerseits und letztlich zerstörerischen nationalen Macht- und Vorrangambitionen andererseits, die sich davon nicht auf Dauer trennen ließen«. Ebd., S. 12f. Wolfgang Müller-Funk verweist zu Recht darauf, daß sich die universalen Ideen auch als »Instrumente von Unterdrückung, Imperialismus und Kolonialismus« gebrauchen lassen. Vgl. Müller-Funk, Die Kultur (wie Anm. 155), S. 5, Anm. 4. Siehe auch Dirk Richter: Der Mythos der »guten« Nation. Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund eines folgenschweren Mißverständnisses. In: Soziale Welt 45 (1994), S. 314f.: »Ironischerweise hat gerade das französische Nationalbewußtsein über lange Jahrzehnte hinweg darauf beruht, daß es sich über die universalistische Semantik der ›Menschheit‹ als ausgrenzendes und andere Nationen abwertendes Bewußtsein konstituiert hat[.] [...] Das [...] Differenzpaar von Zivilisation (Frankreich) und Barbarei (Deutschland) hat sich denn auch in allen Auseinandersetzungen seit den Revolutionskriegen bewährt. Mit anderen Worten: Auch die ›gute‹ Nation der Staatsbürger braucht ihr Feindbild, um sich als Nation zu denken.« Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte? Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek; 17016), S. 28.
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zu einem der »konstitutiven Merkmale«188 dieser Bewegung avancierte.189 Zudem verlieh der Befreiungskrieg dem deutschen Nationalismus »antiemanzipatorische Schubkraft«190, da mit Frankreich und dem Aggressor Napoleon auch die »Freiheits- und Gleichheitsideen von 1789« bekämpft wurden. Der letztgenannte Aspekt darf aber eines nicht verdecken: Die Napoleonische Ära forcierte den deutschen Nationalismus und sie verlieh ihm wirkungsmächtige Konturen, aber sie begründete ihn nicht.191 Wenn in dieser Arbeit die Entwicklung des deutschen Nationalismus in den Jahren nach 1789 behandelt wird, so bedeutet dies keineswegs eine stillschweigende Übereinkunft mit der in der Forschung seit den späten 1960er Jahren etablierten These,192 daß eine »Wasserscheide«193 zwischen einem vermeintlich weltbürgerlich orientierten »aufgeklärten« Patriotismus im 18. Jahrhundert und dem modernen, militant-aggressiven Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts existiere. Vor dem Hintergrund der generellen Janusköpfigkeit des nationalen Phänomens wird (neben der These, daß der Nationalismus im Verlauf des
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Vogel, Vom linken zum rechten Nationalismus (wie Anm. 172), S. 109. Vgl. Rogers Brubaker: Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich. Mit einer Einführung von Ulrich Bielefeld. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Schmaltz. Hamburg: Junius 1994 (Schriftenreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung); Reinhard Kühnl: Deutschland seit der Französischen Revolution. Untersuchungen zum deutschen Sonderweg. Heilbronn: Distel-Verlag 1996 (Distel-Hefte/Beiträge zur politischen Bildung; 29). Vogel, Vom linken zum rechten Nationalismus (wie Anm. 172), S. 109. Insofern kann nicht – wie bei Friedrich Tomberg: Menschheit und Nation. Zur Genese des deutschen Nationalismus in Antwort auf die Französische Revolution. In: Französische Revolution und deutsche Klassik. Beiträge zum 200. Jahrestag. Weimar: Böhlau 1989 (Collegium philosophicum Jenense), S. 303 – von einer »Genese des deutschen Nationalismus in Antwort auf die Französische Revolution« gesprochen werden. Hans-Martin Blitz macht darauf aufmerksam, daß es Germanisten und Historikern im 19. und lange Zeit auch im 20. Jahrhundert darum gegangen war, das »18. Jahrhundert als Vorgeschichte eines preußisch-kleindeutschen Nationalismus« zu interpretieren. »[I]nsbesondere Dichter galten als die bewunderten Vorkämpfer der deutschen Nation.« Als Spätfolge der Deligitimierung des Nationalismus nach 1945 vollzog sich Ende der 1960er Jahre ein Paradigmenwechsel: »Das 18. Jahrhundert wurde plötzlich entnationalisiert und zum patriotischen, friedlichkosmopolitischen, bürgerlich-emanzipatorischen Zeitalter umgedeutet. Die Aufklärung ließ sich so als eine Epoche charakterisieren, deren Liebe zum Eigenen gerade nicht in der Verachtung des Fremden gründete.« In der Bemühung, die These von der »Janusköpfigkeit« des Nationalismus auch für die Zeit der Aufklärung ernst zu nehmen, vermeidet die Studie von Blitz diese Einseitigkeiten und bietet so eine ausgezeichnete Gesamtdarstellung des Vaterlandsdiskurses im 18. Jahrhundert. Vgl. Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg: Hamburger Edition 2000, S. 9f. Langewiesche, Nation, Nationalismus (wie Anm. 23), S. 199.
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19. Jahrhunderts immer reaktionärer werde),194 auch diese – von namhaften Historikern wie Hans-Ulrich Wehler195 oder Thomas Nipperdey196 etablierte – Dichotomie obsolet, wie Studien von Hans Peter Herrmann und Hans-Martin Blitz197 eindringlich gezeigt haben: »[B]ereits in den vierziger Jahren [des 18. Jahrhunderts, M. P.], mitten in der freiheitssüchtigen, vernunftorientierten, ›hellen‹ Aufklärung, wurden auch ›dunkle‹, irrationale und machtorientierte Selbstbehauptungswünsche und militante Aggressionsphantasien zu Papier gebracht«198, analysiert Herrmann, der den modernen Nationalismus als ein Kind eben dieser Aufklärung begreift199 und die Dialektik des Phänomens dabei von Anbeginn »am Werke«200 sieht: »Patriotismus und Nationalismus lassen sich nicht in eine geordnete historische Abfolge bringen, beide gehören auch systematisch zusammen als die zwei miteinander verbrüderten Seiten neuzeitlicher Selbst- und Weltanschauung.«201 In diesem Kontext plädiert auch Ute Planert dafür, die Vorstellung zu verabschieden, »daß die ›Befreiungskriege‹ gegen die ›napoleonische‹ Fremdherrschaft die entscheidende Zäsur in der Genese des deutschen Nationalismus 194
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Diese These vertritt etwa Heinrich August Winkler, der für Deutschland von einem »Umschlag vom liberalen in den reaktionären Nationalismus« um 1870 ausgeht und diesen als Konsequenz aus der »große[n] Krise nach der industriellen Revolution« begreift. Vgl. Heinrich August Winkler: Einleitung: Der Nationalismus und seine Funktionen. In: Nationalismus. Hg. von Heinrich August Winkler. Königstein/Taunus: Athenäum 1978 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 100), S. 29 sowie S. 14f. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700– 1815. München: C. H. Beck 1987, S. 506–530 sowie Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus und Nation in der deutschen Geschichte. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hg. von Helmut Berding. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1154), S. 163–175. Vgl. Thomas Nipperdey: Bürgerwelt und starker Staat. Deutsche Geschichte 1800– 1866. 6. Aufl. München: C. H. Beck 1993, S. 30f. Vgl. Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 192). Herrmann, Einleitung (wie Anm. 157), S. 12. Der Versuch von Otto Kallscheuer und Claus Leggewie, den Nationencode des frühen 19. Jahrhunderts als unabhängig von den Nationalgeist-Debatten des 18. Jahrhunderts zu erweisen und den deutschen Nationalismus auschließlich als Folge der von Frankreich ausgehenden revolutionären Umwälzungen zu interpretieren, hat angesichts der gründlichen Quellenstudien von Herrmann und Blitz keinen Bestand. Vgl. Otto Kallscheuer und Claus Leggewie: Deutsche Kulturnation versus französische Staatsnation? Eine ideengeschichtliche Stichprobe. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hg. von Helmut Berding. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1154), S. 115 bzw. S. 142–162. Herrmann, Einleitung (wie Anm. 157), S. 12. Ebd.
IV Begriffsklärungen
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markieren«202 würden. Sie schlägt dagegen vor, die Zeit zwischen 1740 und den 1820er Jahren als eine »nationale Sattelzeit« zu begreifen, in der sich der moderne Nationalismus herausgebildet habe: »In diese nationale Sattelzeit fallen – geknüpft an den ›Aufstieg des Bürgertums und an eine Umorientierung in Teilen des ›Reform‹adels – die Durchsetzung eines nationalen Kulturund Kommunikationsraumes, die Herausbildung bürgerlicher Partizipationserwartungen an das staatliche Gemeinwesen, die allmähliche nationale Legitimierung der Dynastien und die Formulierung des ultimativen und letalen Folgeanspruches, den der Nationalismus in Absorbierung und Umformung christlicher Heilserwartung und Folgebereitschaft an seine weltlichen Jünger stellt. Hinwendung zum Staat, Partizipationsansprüche und religiös abgefederte Todesbereitschaft gehörten in dieser Denkfigur seither untrennbar zusammen.«203 Innerhalb dieser Entwicklung hat auch die Romantik ihren historischen Ort. Sie erfindet das »nationale Narrativ« nicht und sie ist auch nicht alleine verantwortlich für die aggressive Seite des deutschen Nationalismus – sie knüpft vielmehr an den dialektisch konzipierten Vaterlandsdiskurs der Aufklärung an und verhilft ihm zu einem neuen »ästhetischen Design«204, welches im zweiten
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Ute Planert: Wann beginnt der »moderne« deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg 2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56), S. 26. Ebd., S. 43. Vgl. für die Bedingungen der Ausbreitung des Nationalismus auch Wehler, Nationalismus (wie Anm. 24), S. 45–50. Zur Geschichte des (deutschen) Nationalismus vgl. grundlegend Wolfgang Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500–1840. In: Wolfgang Hardtwig: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1994 (Sammlung Vandenhoek), S. 34–54 und S. 278–284; Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 24); Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1399); Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2004 (Beck’sche Reihe; 1602) sowie die Reader: Nationalismus gestern und heute. Texte und Dokumente. Hg. von Hannah Vogt. Opladen 1967 und Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466). Vgl. noch einmal Müller-Funk, »Sauget, Mütter« (wie Anm. 46), S. 51.
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A Hinführung zum Thema
Kapitel dieser Studie ausführlich vorgestellt werden soll. Wenn von einem Zäsurcharakter der Jahre um 1806 gesprochen werden kann, dann wohl lediglich hinsichtlich der Breitenwirksamkeit dieses Diskurses, der mit den Befreiungskriegen (1813/15) seine erste »massenrelevante Formulierung«205 erlebt.206
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Kallscheuer/Leggewie, Kulturnation versus Staatsnation (wie Anm. 199), S. 161. Nach Planert »reichte die Erfahrung der französischen Suprematie nicht aus, um in der breiten Bevölkerung traditionelle Bindungen durch die Nation als oberste Legitimationsinstanz abzulösen«. Die nationale Aufbruchstimmung erfaßte demnach wieder nur die intellektuellen Eliten, nicht das Gros der Bevölkerung. Auf der Ebene der hohen Politik blieben ebenfalls dynastische Vorstellungen wirksam, wie die Entwicklung nach 1815 zeigt. Vgl. Planert, Plädoyer für eine nationale Sattelzeit (wie Anm. 202), S. 58f., Zitat S. 58. Dagegen hält Horst Carl mit gewissen Einschränkungen an der früheren Forschungsthese fest: »Auch wenn die Realitäten der militärischen Mobilisierung der Jahre 1813/1814 – die wesentlich auf das Bürgertum begrenzte Rezeption nationaler Parolen, die Beharrungskraft lokaler und regionaler Orientierungen, die geringe militärische Bedeutung von Freikorps und Landwehr, deren hohe Desertionsraten – mittlerweile die Legendenbildung um die ›nationale Erhebung‹ kräftig relativiert haben, bestätigen doch eben diese Legenden die mythenbildende Kraft und die immanente Logik einer Befreiungstradition.« Horst Carl: Der Mythos des Befreiungskrieges: Die »martialische« Nation im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792–1815. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 82. Peter Brandt macht darauf aufmerksam, daß »die starke Beteiligung an den Oktoberfeiern 1814 und 1815 (in Erinnerung an die Leipziger Schlacht) mit insgesamt wahrscheinlich Hunderttausenden von Teilnehmern in hunderten Orten Deutschlands darauf hin[weist], daß über das Bildungsbürgertum hinaus zumindest eine erhebliche Minderheit der Bevölkerung zeitweise in den Sog der auf den Befreiungskrieg zurückgehenden Politisierung geriet.« Peter Brandt: Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte. In: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Hg. von Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann und Heinz Gerhard Haupt. Frankfurt a. M., New York: Campus 1999, S. 35.
B
»Schlag lauter deine Saiten, Sohn des Vaterlands« – Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
I
Patriotismus in »weltbürgerlicher Absicht«?
Wie bereits erläutert, folge ich in dieser Untersuchung der These Ute Planerts, die von einer um 1740 beginnenden »nationalen Sattelzeit« ausgeht, in der die sich die Konstruktion der Nation allmählich als zentrales und kohärentes Muster der kollektiven Identitätsbildung durchzusetzen beginnt. Freilich bekam durch das Wirken der Humanisten der Begriff der »Nation« bereits im 15. und 16. Jahrhundert eine Kontur, die einige Merkmale der modernen Begriffsinterpretation antizipierte: Auch sie entwickelten ein Selbstverständnis des »Deutschen«, das zugleich als Integrations- und Abgrenzungsmuster fungieren sollte; zudem beriefen sich auch diese Gelehrten auf einen »überzeitlichen ethnischen Kern«1, der die Zusammengehörigkeit der Deutschen verbürgen sollte, und nationale Mythologeme wurden für die Legitimation und Verbreitung dieses Nationalbewußtseins eingesetzt.2 Planert verweist jedoch zu Recht auf die Differenzen zwischen diesem frühneuzeitlichen Nationenentwurf und jenem modernen Nationalismus, der sich im 18. Jahrhundert entfaltet. Demnach war bei den Humanisten »mit der Intensivierung des Nationalbewußtseins kein Gesellschaftsentwurf verbunden«3; zudem stand die »Nation« als integrationsstiftendes Ordnungsmodell nicht nur in Konkurrenz zu anderen, ebenfalls identititätsstiftenden Ordnungen wie Reich, Staat, Kommune oder die Einheit der lateinischen Christenheit, sondern ihr fehlte auch vollkommen die Breitenwirksamkeit.4 Der nationale Diskurs blieb auf die enge Schicht der Gebildeten, auf Gelehrtengesellschaften und Lesevereine, beschränkt – und er trat mit ihnen auch wieder in den Hintergrund: John Breuilly begründet den »hochgradig episodenhaft[en]«5 Charakter 1
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Ute Planert: Wann beginnt der »moderne« deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg 2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56), S. 33. Vgl. ebd., S. 34–38. Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 36f. John J. Breuilly: Nationalismus als kulturelle Konstruktion: Einige Überlegungen. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760– 1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
dieses Diskurses in der Frühen Neuzeit vor allem auch damit, daß er über »keinerlei bedeutsame institutionelle Wurzeln«6 verfügt habe; mit der Auflösung der betreffenden Gesellschaften endete die »vorübergehende Konjunktur«7 der Idee des Nationalen denn auch wieder. »Einen deutschen Nationalhelden des 17. Jahrhunderts zu konstruieren, hat nicht einmal die nationalistische Geschichtsschreibung späterer Zeiten fertiggebracht.«8 Die »primäre Zuständigkeit für den Sinnhorizont und die Handlungsmotive der Menschen«9 lag weiterhin bei der Religion. Erst durch die Aufklärung wird das Individuum aus dieser tradierten religiösen Bindung ebenso emanzipiert wie aus den anderen identitätsstiftenden Orientierungsrahmen dynastischer und berufsständischer Provenienz. In dieses Vakuum konnte die Nation als neuer »Letztwert«10 vorstoßen. Denn ein derart emanzipiertes Individuum zu sein, »wurde als Verlockung und Gefährdung erfahren«11: wenn die Intellektuellen des 18. Jahrhunderts das Ideal der »Vaterlandsliebe« als ein »fast verzweifelt beschworenes Hilfsmittel«12 propagieren, so verbirgt sich dahinter letztlich auch der Versuch, die »moralischen und sozialen Folgen des Zeitenumbruchs«13 zu kompensieren und die »über dem eigenen Jahrhundert schweb[ende]«14 Gefahr des Egoismus durch den Tugendkatalog des Patriotismus einzudämmen. »Die Tugenden des Patrioten
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2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56), S. 254. Planert, Plädoyer für eine nationale Sattelzeit (wie Anm. 1), S. 38 spricht in diesem Sinne von einem »punktuellen Nationaldiskurs«. Breuilly, Nationalismus als kulturelle Konstruktion (wie Anm. 5), S. 254. Planert, Plädoyer für eine nationale Sattelzeit (wie Anm. 1), S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Dieter Langewiesche: ›Nation‹, ›Nationalismus‹, ›Nationalstaat‹ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 12. Dieter Langewiesche sieht in dem Aspekt, daß die Nation nun zum »Letztwert« aufstieg, den entscheidenden Unterschied zwischen früheren Formen des Nationalismus und dem modernen Nationalismus, den er allerdings – im Unterschied zu Ute Planert – erst um 1800 und nicht schon im 18. Jahrhundert beginnen läßt. Daß für die Politische Romantik tradierte religiöse und dynastische Sinnstiftungshorizonte nicht von der »Nation« als neuem Leitwert abgelöst, sondern vielmehr in das nationale Orientierungsmuster integriert werden, wird im Kapitel C II. zu zeigen sein. Hans Peter Herrmann: Individuum und Staatsmacht: Preußisch-deutscher Nationalismus in Texten zum Siebenjährigen Krieg. In: Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1273), S. 68. Herv. i. O. Ebd. Ebd. Ebd., S. 67.
I Patriotismus in »weltbürgerlicher Absicht«?
37
wurden als Bürgertugenden angesehen, die von jedermann verlangt, aber nur von denen tatsächlich ausgeübt werden können, die als Staatsbürger handeln dürfen«15, schreibt Rudolf Vierhaus in seinem einflußreichen Aufsatz über den »Patriotismus« als »Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung«16. Der Staatsbürger wiederum ist nach Vierhaus »nicht deshalb Staatsbürger, weil er in einem Staate lebt, dessen Verfassung und Regierung auf dem Gemeinwillen der Bürger beruht, sondern weil er sich bewußt für den Staat engagiert, der ihm vorgegeben ist und dessen Regierung wohl für die Bürger arbeitet, aber nicht durch sie kontrolliert wird«17. Das Ideal des Patriotismus ermöglichte es, sowohl die Regierenden als auch die Regierten im Sinne des Ganzen in die Pflicht zu nehmen. Angesichts dieser »Verpflichtung zu gemeinnütziger Tätigkeit«18 diagnostiziert Vierhaus eine Nähe in den »Motiven und Intentionen«19 der Nationalpatrioten und der Kosmopoliten: »Sie alle verlangten nach einem politischen Engagement, durch das sie sich in ihrem Selbstwertgefühl bestätigt fanden und die Entwicklung der Gesellschaft weiterzubringen gedachten.«20 In diesem Sinne spricht Vierhaus von einem »Patriotismus in weltbürgerlicher Absicht«21 und definiert die patriotische Haltung als »eine auf das Gemeinwesen bezogene moralisch-politische Gesinnung, die das jeweils eigene Vaterland als gesetzlich gesicherte Stätte menschenwürdiger Existenz einrichten und erhalten will«22. Diese noble Haltung sei durch den Nationalismus des 19. Jahrhunderts »überlagert und durch dessen Ansprüche auf irrationale Hingabe [...] abgedrängt worden«23; erst im 19. Jahrhundert erwiesen sich daher Vierhaus zufolge die Ideale der Vaterlandsliebe und des Kosmopolitismus als unvereinbar. Dagegen haben Hans Peter Herrmann und Hans-Martin Blitz in ihren Studien über den Nationalismus des 18. Jahrhunderts gezeigt, daß zwischen einem guten Patriotismus und einem aggressiven Nationalismus nicht trennscharf differenziert werden kann.24 »Nationales Lagerden15
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Rudolf Vierhaus: Patriotismus – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung. In: Rudolf Vierhaus: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1987, S. 102. Ebd., S. 96. Ebd., S. 103f. Ebd., S. 107. Ebd. Ebd. Ebd., S. 108. Ebd. Ebd. Vgl. Hans-Martin Blitz: »Gieb, Vater, mir ein Schwert!« Identitätskonzepte und Feindbilder in der ›patriotischen‹ Lyrik Klopstocks und des Göttinger »Hain«. In: Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
ken«25 und mithin die aggressive Abgrenzung gegen jene, die am vorgestellten Gemeinschaftsideal nicht teilhaben, ist bereits dem von Vierhaus und anderen als »weltbürgerlich« apostrophierten Patriotismus des 18. Jahrhunderts eingeschrieben. An fünf Stationen des Nationalismus im 18. Jahrhundert – nämlich den Arminius-Dramen, der Kriegslyrik Gleims und ihrer Kommentierung durch Lessing, der Nationalgeist-Debatte, den Theorien Herders und der nationalen Emphase des Göttinger Hainbundes – soll dieser Sachverhalt kurz aufgezeigt werden. Eine ausführliche Analyse dieser Texte erscheint mir unter Berücksichtigung der Studien von Herrmann und Blitz nicht notwendig; jedoch soll kurz auf diese Vorgeschichte des romantischen Nationalismus eingegegangen werden, um die strukturelle – und nicht erst durch die Romantik gleichsam eingeführte – Ambivalenz des Nationalgedankens in Erinnerung zu bringen und zugleich die Grundlagen darzustellen, auf denen die romantischen Konstrukteure der »deutschen Nation« dann aufbauen konnten.
II
Johann Elias Schlegel und die »Arminius-Mode«
»Wer Rom nicht hassen kann, kann nicht die Deutschen lieben. / Was theilest du dein Herz? Sey Treu mit ganzen Trieben: / Sey römisch oder deutsch! Itzt wähle deinen Freund: / Rom, oder deinem Volk sey günstig oder feind.«26 Diese Zeilen enstanden nicht in den Zeiten der nationalen Emphase um 1806, sondern bereits wesentlich früher, zu Beginn der nationalen »Sattelzeit«, nämlich im Jahr 1740. Sie finden sich in Johann Elias Schlegels27 Drama Hermann. Ein Trauerspiel, das 1740/41 entstand und 1743 gedruckt wurde.28
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deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1273), S. 80–122; Hans Peter Herrmann: »Ich bin fürs Vaterland zu sterben auch bereit«. Patriotismus oder Nationalismus im 18. Jahrhundert? Lesenotizen zu den deutschen Arminiusdramen 1740–1808. In: Machtphantasie Deutschland, ebd., S. 32–65; Herrmann, Individuum und Staatsmacht (wie Anm. 11), S. 66–79 sowie Hans Peter Herrmann: Nationalismus im 18. Jahrhundert? Historische und aktuelle Aspekte einer These. In: Nationale Identität aus germanistischer Perspektive. Hg. von Maria Katarzyna Lasatowicz und Jürgen Joachimsthaler. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 1998, S. 163–177 und Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg: Hamburger Edition 2000. Herrmann, Patriotismus oder Nationalismus (wie Anm. 24), S. 63. Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schubert. Weimar: Arion-Verlag 1963 (Textausgaben zur deutschen Klassik; 2), S. 128. Zu Schlegel, dem Onkel der romantischen Schlegel-Brüder, vgl. Norbert Altenhofer: Johann Elias Schlegel. In: Deutsche Dichter. Band 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1988 (Reclams Universal-Bibliothek; 8613), S. 119–134. J. E. Schlegel, Werke (wie Anm. 26), S. 124–171.
II Johann Elias Schlegel und die »Arminius-Mode«
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Hans Peter Herrmann sieht in diesen Zeilen den Beleg dafür, daß nationales Denken bereits in der Aufklärung als »Freund-Feind-Denken, das keine Alternative erlaubt[e]«29, in Szene gesetzt wurde. »[A]us dem Zusammenhang gerissen (und vom Alexandriner-Versmaß abgesehen), würde man diese Stelle eher für ein Dramenzitat von 1914 oder 1933/39 halten als für eines von 1740.«30 Die jüngst etwa von Tadeusz Namowicz vertretene These, daß die »Artikulierung des Hasses gegen eine andere Nation [...] den Aufklärern grundsätzlich unbekannt«31 gewesen sei, erweist sich schon angesichts dieses frühen Arminius-Dramas als unhaltbar. In Schlegels Drama fordert der in Rom ausgebildete Flavius, Bruder des germanischen Befreiungskämpfers Hermann, eine versöhnliche Haltung der deutschen Fürsten gegenüber den Besatzern ein: »Ach! Rom und Deutschland reizt zu gleicher Dankbegier, / Und beyder Liebe kämpft, und keine siegt in mir.«32 Deutschland ist für ihn nur sein »erstes Vaterland«33, nicht sein einziges. Eine Haltung, die im Verlauf des Stückes als wankelmütig, feige und opportunistisch denunziert wird. Wahre Vaterlandsliebe, so die Botschaft der Helden Hermann und Siegmar (er spricht die eingangs zitierten Zeilen), erfordert unversöhnlichen Haß gegen Rom. Flavius’ Argument, er habe Rom kennengelernt und »trau[e] ihm Gutes zu«34, wird von seinem Vater Siegmar mit antiaufklärerischer Attitüde weggefegt: »Ich hab es nicht gesehn, und kenn es mehr, als du.«35 Und später wird der unentschlossene Flavius auch noch von seiner Mutter Adelheid unmißverständlich aufgefordert, mit den Germanen gegen Rom in die Schlacht zu ziehen: »Da dir dein Volk befiehlt, ist Zweifeln ein Verbrechen.«36 Während Siegmar und Hermanns Geliebte Thusnelde in der siegreich bestandenen Befreiungsschlacht sterben,37 bleibt Flavius dem Gemetzel fern – was der am Ende Geläuterte letztlich bereut: »Ihr Deutschen! reißt mich nur aus meinen Freveln fort. / Straft Trägheit und Verrath, Lieb und Vatermord.«38 Schlegel, der auch mit seinem Einsatz für ein deutsches Nationaltheater an der Vorstellung eines »deutschen Vaterlandes« mitwirkte,39 begründete mit 29 30 31
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Herrmann, Patriotismus oder Nationalismus (wie Anm. 24), S. 35. Ebd. Tadeusz Namowicz: Zum Problem der Vorstellung von kollektiver Identität zwischen Aufklärung und Romantik. In: Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Polrola. Lodz : Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 1998, S. 48. J. E. Schlegel, Werke (wie Anm. 26), S. 147. Ebd., S. 144. Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 163f. sowie S. 168. Ebd., S. 168. Bernd Schönemann bescheinigt solchen »Versuche[n] der Schaffung und Verstärkung nationaler Zusammenhänge, so sehr sie sich auch auf die Sphäre des Geistig-
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
diesem Text die »Arminius-Mode« in der Dramenliteratur des 18. Jahrhunderts.40 Anders als bei seinen Nachfolgern findet sich bei ihm jedoch neben dem unhinterfragten Freund/Feind-Schema durchaus auch noch eine Rückbindung der vaterländischen Gesinnung an die humanistischen Werte der Aufklärung wie »Sprachfähigkeit, Gesellschaftlichkeit, Selbstbestimmung und Vernunft«41: »[D]ie politische Freiheit, die die Germanen im Kampf gegen die Römer erringen wollen, wird von Schlegel nicht als Selbstzweck verstanden«42. Die Freiheit ist vielmehr notwendige Vorbedingung, um dem Individuum innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein selbstbestimmtes Leben und gleichsam einen »aufrechten Gang[]«43 zu ermöglichen. Wie Herrmann, Blitz und Wolfgang Müller-Funk44 nachgewiesen haben, werden derlei progressive Intentionen bei Schlegels Nachfolgern Justus Möser (Arminius, 1749), Friedrich Gottlieb Klopstock (Hermanns Schlacht, 1769, Hermann und die Fürsten, 1784, Hermanns Tod, 1787) und Heinrich von Kleist (Die Hermannsschlacht, 1808) preisgegeben; während bei Möser der Tod für das Vaterland »als Erfüllung des (Männer-)Lebens propagiert«45 wird, ohne daß die bei Schlegel noch gegebene »Begründung politischer Ordnung aus dem Geist der Vernunft«46 irgendwelche Spuren hinterlassen hätte, wird in den Texten Klopstocks und Kleists die Berufung auf inhaltliche Bestimmungen des Freiheitsbegriffes dezidiert abgelehnt. Die Freiheit des Vaterlandes figuriert in diesen Texten als ein Wert an sich, der nicht hinterfragt werden darf. Komplementär dazu schrumpfen die römischen oder romtreuen Antipoden, die bei Schlegel noch »dramatisch durchaus wirkungsvolle Gegenposition[en]«47 zu Gehör gebracht hatten, »zu einem Popanz«48 zusammen. In
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Kulturellen beschränken mochten«, eine politische Qualität, weil sie die »partielle Überwindbarkeit der einzelstaatlichen Fragmentierung der Deutschen« implizierten. Bernd Schönemann: Volk, Nation, Nationalismus, Masse: Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert (VI–XII). In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Band 7: Verw–Z. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 307. Vgl. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 91–143. Zur »Vereinnahmung des Germanischen für das Deutsche« vgl. auch Rolf Christian Zimmermann: Die kritische Replik der deutschen Spätaufklärung und Klassik auf ArminiusEnthusiasmus und Germanen-Utopie der Epoche. In: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 109–133, Zitat S. 110. Herrmann, Patriotismus oder Nationalismus (wie Anm. 24), S. 44. Ebd. Ebd., S. 42. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Springer 2002, S. 231–241. Herrmann, Patriotismus oder Nationalismus (wie Anm. 24), S. 44. Ebd., S. 45. Müller-Funk, Die Kultur (wie Anm. 44), S. 233. Ebd.
II Johann Elias Schlegel und die »Arminius-Mode«
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Kleists Drama,49 dessen »verstörende Bilder«50 in der Forschung noch immer heftig diskutiert werden,51 bezeichnet Hermann die Römer als »Insektenschwarm«52, der »durch das Schwert der Rache jetzo«53 sterben müsse. Auf Thusneldas Frage, ob Hermann nicht wenigstens die guten Römer verschonen wolle, antwortet der Cherusker unmißverständlich: »Die Guten mit den Schlechten. – Was! Die Guten! / Das sind die Schlechtesten! Der Rache Keil / Soll sie zuerst, vor allen andern, treffen!«54 Am Ende gibt es in der Tat weder für das römische Personal des Stückes noch für den unbequemen Fürsten der Ubier, der am gemeinsamen Befreiunskampf der germanischen Stämme nicht mitwirken wollte und »keck«55 fragt, was »Germanien« mit ihm zu tun habe, ein Erbarmen.
49 50 51
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Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 1. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 533–628. Norbert Miller: Verstörende Bilder in Kleists »Hermannsschlacht«. In: KleistJahrbuch (1984), S. 98–105. Vgl. etwa Lawrence Ryan: Die ›vaterländische Umkehr‹ in der »Hermannsschlacht«. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1981, S. 188–212; Miller, Verstörende Bilder (wie Anm. 50); Claus Peymann und Hans Joachim Kreutzer: Streitgespräch über Kleists ›Hermannsschlacht‹. In: Kleist-Jahrbuch (1984), S. 77–97; Peter Michelsen: »Wehe, mein Vaterland, dir!« Heinrich von Kleists »Die Hermannsschlacht«. In: Kleist-Jahrbuch (1987), S. 115–136; Gerhard Gönner: Von »zerspaltenen Herzen« und der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«. Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist. Stuttgart: J. B. Metzler 1989, S. 70–81; Hans Joachim Kreutzer: Die Utopie vom Vaterland. Kleists politische Dramen. In: Oxford German Studies 20/21 (1992), S. 69–84; Andreas Dörner und Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 (Westdeutscher Verlag Studium; 170), S. 212–266; Gesa von Essen: Hermannsschlachten. Germanenund Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 1998 (Göttinger Sonderforschungsbereich Internationalität nationaler Literaturen; 2), S. 145–194; Gesa von Essen: Römer und Germanen im Spiel der Masken. Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹. In: Kleist-Jahrbuch (1999), S. 41–52; Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam 2002 (Reclams UniversalBibliothek; 17635), S. 250–264 und Stefan Börnchen: Translatio imperii. Politische Formeln und hybride Metaphern in Heinrich von Kleists ›Hermannsschlacht‹. In: Kleist-Jahrbuch (2005), S. 267–284. Manchmal wird die Diskussion indes auch umgangen. So moniert Bernd Hamacher zu Recht, daß in Walter Hinderers im ReclamVerlag 1997 herausgekommener Sammlung mit Interpretationen zu Kleists Dramen neben dem Guiskard-Fragment und Die Familie Schroffenstein auch die Hermannsschlacht ohne Begründung ausgespart bleibt. Bernd Hamacher: »Rühreier« oder Erisäpfel«? (Über Kleists Dramen. Hg. von Walter Hinderer/Kleists Erzählungen. Hg. von Walter Hinderer). In: Kleist-Jahrbuch (2000), S. 225f. Kleist, Werke I (wie Anm. 49), S. 593. Ebd. Ebd. Ebd., S. 627.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
III
Gleim, Lessing und ein Drahtseilakt
Ahnlich grausam geht es in jenen Kriegsliedern zu, die der als bedeutender Mäzen sowie – wegen seiner vielen Kontakte und Brieffreundschaften – als »Knotenpunkt der Kommunikation«56 in die Literaturgeschichte eingegangene Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1758 (zwei Jahre nach Beginn des Siebenjährigen Krieges) in Berlin veröffentlichte. Mit den Preußische[n] Kriegsliedern in den Feldzügen von 1756 und 1757 von einem Grenadier beginnt nach Hans Peter Herrmann »eine positive Wertung des Krieges und eine Heroisierung der Teilnahme an ihm bis zur Verklärung blutigen Gemetzels«57; Gott, das Vaterland und der preußische König sind die Instanzen, die Rohheit und Brutalität gegenüber den Kriegsgegnern – Gleims Texte richten sich gegen die Franzosen, Ungarn und Russen – legitimieren. Interessanter als diese Gedichte selbst scheint indes die Rolle zu sein, die Gotthold Ephraim Lessing in ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext spielte. Am 16. Dezember 1758 sendet Lessing seinem Freund Gleim nämlich eine in der Forschung seither gerne zitierte Ermahnung: »Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten nach meiner Denkungsart das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte.«58 Diese Briefstelle ist oft als Beleg für das kosmopolitische Denken Lessings gesehen worden, steht der Autor doch mit seiner Distanzierung von dem »patriotische[n] Feuer«59 jener Jahre im »Wirbel des Zeitgeschehens [...] ziemlich isoliert da«60. Daß freilich die zitierten Sätze in Lessings Äußerungen über Gleim und dessen »martialische Kriegslieder«61 ebenfalls eine ziemlich singuläre Stellung einnehmen, wurde dabei lange geflissentlich übersehen. Die besagten Kriegsgesänge seines Kollegen hatte Lessing nämlich selbst herausgegeben62, und »[i]n den 38 überlieferten Briefen Lessings an Gleim (26 aus 56
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59 60 61 62
Zu Gleim vgl. Jürgen Stenzel: Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Deutsche Dichter. Band 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1988 (Reclams Universal-Bibliothek; 8613), S. 135– 140. Stenzel beschreibt den Autor als »Enthusiast[en] der gutmütigen Sorte«, verschweigt aber nicht die »hyperpatriotische Fiktion vom einfachen friderizianischen Soldaten« in den Kriegsliedern. Ebd., S. 138. Herrmann, Individuum und Staatsmacht (wie Anm. 11), S. 69. Zit. n. Klaus Bohnen: Von den Anfängen des »Nationalsinns«. Zur literarischen Patriotismus-Debatte im Umfeld des Siebenjährigen Krieges. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp Taschenbuch; 2117), S. 126. Ebd., S. 127. Ebd. Michael Rohrwasser: Lessing, Gleim und der nationale Diskurs. In: Nationale Identität aus germanistischer Perspektive (wie Anm. 24), S. 198. Lessing brachte die Sammlung der elf zuvor bereits in Einzelstücken erschienenen Lieder Gleims im August 1758 in dem Verlag seines Freundes Christian Friedrich Voß heraus. Vgl. ebd., S. 182f.
IV Die Debatte um den »Nationalgeist«
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den Jahren 1757 bis 1760) bestimmen Lob und Zustimmung den Ton«63. Insofern ist Michael Rohrwassers provokante Frage, ob denn nicht auch Lessing »zur Peripherie jener neuen Stimmen gerechnet werden [müsse], die ihr Weltbürgertum in der Zeit des Siebenjährigen Krieges einer nationalen Begeisterung unterordnen«64, zumindest nicht unberechtigt. Der Aufklärer partizipiert zwar nicht am »blutrünstigen Chauvinismus«65 des »Kanonikus Gleim«66, aber er »toleriert ihn über weite Strecken«67, was nach Rohrwasser vor allem auch damit zu tun hat, daß Lessings kulturelle Intentionen – die deutsche Literatur sollte von der ästhetischen Vorherrschaft des französischen Klassizismus befreit werden – mit einer politischen Entwicklung, die Frankreich auch zum militärischen Gegner werden ließ, bestens korrespondierte. Unabhängig davon, wie groß der Anteil des »literarische[n] Arminius«68 am neuen nationalen Diskurs letztlich war, illustriert das Beispiel Lessings, daß sich der Versuch, den »Patriotismus« in den aufgeklärten Tugendkatalog einzubinden und dem kosmopolitischen Denken zu subordinieren, sehr bald als ein problematischer Drahtseilakt erweisen mußte.
IV
Die Debatte um den »Nationalgeist«
Dies läßt sich auch an den Autoren der sogenannten »Nationalgeist«-Debatte69 veranschaulichen, zu der Johann Georg Zimmermann (Von dem Nationalstol63 64 65 66
67 68
69
Ebd., S. 191f. Ebd., S. 180f. Ebd., S. 197. Vgl. Jörg Schönert: Schlachtgesänge vom Kanapee. Oder: »Gott donnerte bei Lowositz«. Zu den »Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757« des Kanonikus Gleim. In: Gedichte und Interpretationen. Band 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. von Karl Richter. Stuttgart: Reclam 1983 (Reclams UniversalBibliothek; 7891), S. 126–139. Rohrwasser, Lessing, Gleim und der nationale Diskurs (wie Anm. 61), S. 197. So Heine über Lessing in seiner Schrift Die romantische Schule (1835). Vgl. Heinrich Heine: Werke in vier Bänden. Vierter Band: Schriften über Deutschland. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1994 (Insel-Taschenbuch; 1628), S. 166–298, hier S. 177. Vgl. hierzu Rudolf Vierhaus: Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789. In: Rudolf Vierhaus: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1987, S. 183–201 und S. 295–297; Schönemann, Volk, Nation (wie Anm. 39), S. 309–314; Bohnen, Von den Anfängen (wie Anm. 58), S. 121–137; Wolfgang Burgdorf: »Reichsnationalismus« gegen »Territorialnationalismus«: Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 157–189; Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 281–339.
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ze, 1758), Thomas Abbt (Vom Tode für das Vaterland, 1761) und Friedrich Carl von Moser (Von dem Nationalgeist, 1765) die wichtigsten Beiträge lieferten; mit diesen Schriften vollzieht sich nach Hans-Martin Blitz »[i]m Vergleich [...] zur Arminiusmode der 1740er Jahre und zu den epischen und lyrischen Propagierungen eines preußisch-deutschen Vaterlandes im Siebenjährigen Krieg [...] ein[] erstaunliche[r] Gattungswechsel, der nicht hoch genug bewertet werden kann. Die äußere Form des Essays oder der Rede ließ die Dramen- und Gedichtfiktion ›Deutschland‹ diskutierbar und damit ein Stück realer erscheinen; sie hob den Vaterlandsdiskurs zudem von der Kriegspropaganda auf eine neue Ebene«70. In der Forschung galten die betreffenden Texte lange »als zentrale Zeugnisse der moralischen, emanzipatorischen und kosmopolitischen ›Tugendlehre des Patriotismus‹«71 – in der Tat mahnen die genannten Autoren einen am Gemeinwohl orientierten Begriff der »Vaterlandsliebe« an, der sich dezidiert gegen despotische Tendenzen richtet und eine Aufwertung der Stellung des Bürgers impliziert. Der Versuch, diese Schriften zu einer politischen Oppositionsideologie im Sinne eines emanzipatorischen Nationalismus zu stilisieren, scheitert jedoch schon an produktionsästhetischen Aspekten: Wie Wolfgang Burgdorf gezeigt hat, entstand Mosers Schrift »im Auftrage des kaiserlichen Hofes, der sie auch korrigierte und den Verfasser bezahlte. [...] Das Ziel der Aktion bestand darin, die deutsche Nation nach dem Siebenjährigen Krieg, der auch auf der ideologisch-propagandistischen Ebene eine bislang unbekannte Intensität ereicht hatte, unter ihrem kaiserlichen Oberhaupt, Kaiser Joseph II, zu einen«72. Abbts Text wiederum erschien als Plädoyer für das preußische Vaterland, »das im König [Friedrich II, M. P.] personifiziert war, und in ihm geliebt werden sollte«73. Abbt und Moser differieren, »was die territoriale Realisierung des jeweiligen ›Vaterlandes‹«74 betrifft, denn Moser war Anhänger reichspatriotischer Vorstellungen.75 Doch wie Hans-Martin Blitz konstatiert, lassen sich beide Schriften dennoch auf »den gemeinsamen Nenner des durch Gesetzesherrschaft gemilderten aufgeklärten Absolutismus«76 bringen. Auch Zimmermann weicht hier allenfalls graduell ab; er hatte zwar zunächst konstatiert, daß der von ihm eingeforderte »Nationalstolz« vor allem in Republiken zu finden sei, 70 71 72
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Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 292f. Ebd., S. 291. Burgdorf, »Reichsnationalismus« (wie Anm. 69), S. 173. Zu den pietistischen Elementen in Mosers Schrift vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. 2., ergänzte Aufl. Frankfurt a. M.: Athenäum 1973 (Wissenschaftliche Paperbacks/Literaturwissenschaft), besonders S. 224–241. Burgdorf, »Reichnsnationalismus« (wie Anm. 69), S. 169. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 304. Zum Reichspatriotismus vgl. Karl Otmar von Aretin: Reichspatriotismus. In: Aufklärung 4 (1989), H. 2, S. 25–36. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 304.
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aber in der zweiten Auflage seiner Schrift relativiert er diese These und billigt auch Monarchien zu, diesen »Geist« entfachen zu können:77 »Zimmermanns Rehabilitation eines monarchischen Nationalstolzes stand im Konjunktiv und war zudem unter Vorbehalt formuliert. Dennoch belegt sie, wie wenig absolut patriotische Gleichheitsforderungen genommen und wie wenig radikal patriotische Freiheitsformulierungen bewertet werden dürfen.«78 Unabhängig davon, daß der häufige Ruf nach Freiheit in den besagten Texten also »nicht vorschnell mit republikanischem Gedankengut gleichgesetzt werden«79 darf, muß zudem die Schattenseite des neuen Gemeinschaftsentwurfes gesehen werden. Bereits bei den frühen Theoretikern des Nationalen wird der Anspruch, den das »Vaterland« auf das Individuum hat, als absolut und exklusiv verstanden. Nicht nur bei Abbt, der den Staat getreu der Philosophie der Aufklärung als eine »politische Maschine«80 imaginiert, geht die »Aufwertung jedes einzelnen zum wichtigen Teil eines funktionierenden politischen ›Getriebes‹«81 mit dem »Verschwinden [dieses einzelnen, M. P.] im vaterländischen Ganzen«82 einher. Auch Moser, dessen Vorstellung von der Nation als beseeltem Organismus83 auf die Romantik vorausweist,84 und Zimmermann »ließ[en] an der Höherwertigkeit des Vaterlandes keinen Zweifel«85. Zimmermann86 antizipiert dabei auch durchaus schon jene »abwägende[] philosophische[] Betrachtungsart«87, in der Abbt »mit dem begrifflichen Rüstzeug der Aufklärungsphilosophie de[n] Tod für das Vaterland [drei Jahre später, M. P.] zur moralischen Pflicht jedes Bürgers«88 erheben sollte.89 Doch für Abbt ist die Bereitschaft, das eigene Leben für das nationale Kollektiv einzusetzen, 77
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Vgl. Johann Georg Zimmermann: Von dem Nationalstolze. Kapitel 10–17 der zweiten Auflage aus dem Jahre 1760. In: Der Siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Literatur. Hg. von F[ritz] Brüggemann. Leipzig: Reclam 1935 (Deutsche Literatur/Reihe Aufklärung; 9), S. 32–34. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 303. Ebd., S. 302f. Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland (1761). In: Der Siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Literatur. Hg. von F[ritz] Brüggemann. Leipzig: Reclam 1935 (Deutsche Literatur, Reihe Aufklärung; 9), S. 81. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 312. Ebd. Vgl. Friedrich Carl von Moser: Von dem Deutschen Nationalgeist. ND der Ausgabe von 1766. Selb: Notos 1976, S. 40. Vgl. G. Kaiser, Pietismus (wie Anm. 72), S. 140–142. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 313. Vgl. J. G. Zimmermann, Von dem Nationalstolze (wie Anm. 77), S. 42: »Wir müssen dem Vaterlande in unserm Herzen den ersten Rang geben, wenn wir es mit Nachdruck lieben wollen. [...] Diese Liebe [...] machte den Tod leicht und ruhig, sobald er dem geheiligten Name des Vaterlandes ein Opfer war.« Herrmann, Individuum und Staatsmacht (wie Anm. 11), S. 76. Ebd. Vgl. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 311–316.
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beileibe nicht nur eine »große[] Pflicht«90; er sieht in der Selbstaufgabe im Namen des Vaterlandes vielmehr auch die hedonistischen Bedürfnisse des Individuums befriedigt. Nach Abbt kann der Tod nämlich »nur auf eine doppelte Art ein Übel für uns sein. Entweder weil er uns das noch gehoffte Vergnügen entzieht, oder weil er uns neuem Mißvergnügen aussetzt, das sonst noch von uns entfernt geblieben wäre. Die Liebe für das Vaterland überzeugt uns, das kein Vergnügen gegen das Vergnügen, ihm gedient zu haben, erheblich sei«91. Als Konklusion aus diesen Überlegungen kommt Abbt zu dem Ergebnis, daß ein »solcher Tod«92 – also der im Namen des Vaterlandes – zu der »Summe unsers Vergnügens mehr hinzusetze, als wir durch ein längeres Leben jemals würden erhalten haben. [...] Man wird den Tod suchen, um sein Vergnügen vollständig zu machen, den man erst als den Räuber desselben floh«93. Ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identitätsstiftung ist auch schon in den Schriften Abbts, Zimmermanns und Mosers die aggressive Abgrenzung von äußeren und inneren Feinden. Moser sieht die Einheit und Stärke des Reiches durch »Ausländer aller Gattung«94 gefährdet, die im »Innerste[n] des Reiches gehaußt, gebrandschazt, gesengt, gebrennt, gemordet und geraubt und viele Millionen aus Deutschland fortgeschleppt«95 hätten. Abbts »Heroisierungen des unbesiegten preußischen Monarchen [symbolisieren] erkennbare Größenphantasien eines militärisch unüberwindlichen Vaterlandes«96, auch wenn der Autor die Nation eigentlich nicht in der Rolle des militärischen Welteroberers sehen wollte.97 Ähnlich widerspruchsvoll verläuft der Diskurs bei Zimmermann, der zwischen einer tugendhaften Variante des Nationalstolzes, die sich auf tatsächliche Vorzüge des Vaterlandes beziehen sollte, und einer vorurteilsbehafteten Erscheinungsform zu differenzieren versuchte. Das zeigt, daß Zimmermann »ein klares Bewußtsein vom Gefahrenpotential des Nationalstolzes«98 hatte; dennoch wollte er ihn für seine politischen Vorstellungen nutzbar machen, und auch die »grundsätzliche Verneinung des Nationalhasses«99 wird später revidiert, wenn er dem Nationalstolz in der zweiten Auflage seines Buches aus dem Jahr 1760 zugesteht, daß er »Verachtung gegen andre«100 impli90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Abbt, Vom Tode für das Vaterland (wie Anm. 80), S. 50. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd. Friedrich Carl von Moser: Patriotische Briefe. o. O. 1767. S. 363. Zit. n. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 334. Ebd. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 332. »Wir fordern nicht von ihr [der Nation, M. P.], daß sie sich des Erdbodens bemeistern soll.« Abbt, Vom Tode für das Vaterland (wie Anm. 80), S. 69f. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 336. Ebd., S. 331. J. G. Zimmermann, Von dem Nationalstolze (wie Anm. 77), S. 10.
V Herder und der Wert des Vorurteils
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zieren dürfe, sofern diese »Anderen« denn auch wirklich nach der »Natur der Dinge [...] verachtungswürdig«101 wären.
V
Herder und der Wert des Vorurteils
Die labile Balance zwischen dem tradierten kosmopolitischen Ideal und dem neuen nationalen Gemeinschaftsmythos prägt auch die Schriften Johann Gottfried Herders, der im Gegensatz zu den Autoren der »Nationalgeist«-Debatte explizit politische Fragestellungen freilich ausblendete und so die Nation noch deutlicher zu einer unhintergehbaren Schicksalsgemeinschaft überhöhte. »Sprache und Poesie galten Herder [...] nicht als äußerliche Merkmale, sondern als konstitutive Faktoren, die Volk und Nation überhaupt erst zu dem machten, was sie waren – zu spirituellen menschlichen Gemeinschaften, die vornehmlich auf einem Gleichklang innerer Werte beruhten.«102 Die Sprache beglaubigt den Zusammenhang der deutschen Teilstaaten jenseits interner politischer Konfliktlinien und verweist zugleich auf die Differenz zu anderen nationalen Kollektiven. Diese durch die unterschiedlichen Sprachen bezeugte und daher als unüberbrückbar verstandene Verschiedenheit der nationalen Gemeinschaften veranlaßte den frühen Herder, sich gegen eine Verschmelzung der Völker auszusprechen; eine dauerhafte und für alle Seiten vorteilhafte Trennung zwischen den Nationen versprach er sich durch eine Rehabilitierung der durch die Aufklärung inkriminierten Vorurteile:103 »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken.«104 Daher ist in Herders Überlegungen die »vorurteilendste Nation [...] oft die erste«105; wenn dagegen bei einem Volk das »Zeitalter fremder Wunschwanderungen«106 und »ausländischer Hoffnungsfahrten«107 beginnt, so muß das als 101 102 103
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Ebd. Schönemann, Volk, Nation (wie Anm. 39), S. 317. »Vorurteile werden seit ihrer ersten Thematisierung bei Bacon und Descartes und dann vor allem von Thomasius bis Kant durchgängig als irrtümliche, der Wahrheitssuche und dem aufgeklärten Selbstverständnis zuwiderlaufende Urteile verstanden«, erläutert Karl Menges. Vgl. Karl Menges: Vom Nationalgeist und seinen ›Keimen‹. Zur Vorurteils-Apologetik bei Herder, Hamann und anderen ›Patrioten‹. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp Taschenbuch; 2117), S. 107f., Zitat S. 108. Noch Johann Georg Zimmermann verurteilt 1760 Vorurteile als die »allgemeinen Irrtümer der Nationen«. J. G. Zimmermann, Von dem Nationalstolze (wie Anm. 77), S. 17. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1990 (Reclams Universal-Bibliothek; 4460), S. 36. Ebd. Ebd. Ebd.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
Zeichen für »Krankheit«108 und »Ahndung des Todes«109 einer Nation verstanden werden, wie Herder in seinem Essay Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) deutlich macht. In »programmatischer Abkehr«110 von der »scheinbar vorurteilsfreien Nachahmung fremder Vorbilder«111 sprach Herder also den Vorurteilen einen »sinnstabilisierenden Effekt«112 und eine integrative Funktion zu. Durch die über Vorurteile gewährleistete Abgrenzung nach außen kann die innere politische Zerrissenheit überwunden und die angestrebte Homogenisierung der Nation erreicht werden. In diesem Kontext scheute er sich auch nicht, »anstelle denkbarer Gleichrangigkeit«113 der Völker die »Suprematie der deutschen Nation«114 zu behaupten. Herder überhöhte das Deutsche »zur ursprünglichste[n] Sprache Europens«115 und beklagte, daß »Deutschland« gleichwohl zur »Dienerin fremder Nationen«116 herabgesunken sei. Diese anderen Nationen werden als »Nebenbuhler«117 imaginiert; »kämpferischer Wettstreit und nicht friedliches Nebeneinander bestimmen das Wechselverhältnis kollektiver Identität und Alterität«118 in den frühen Schriften Herders: »Die ersehnte Größe der Nation erschließt sich nur in hierarchischen Denkmustern und postuliert so die Überordnung des ›Eigenen‹ über das ›Fremde‹, vor allem das Französische«119, wie Hans-Martin Blitz resümiert. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, daß sich der späte Herder – wie vordem Lessing – von dem ins Extrem gesteigerten Nationalbewußtsein seiner Mitbürger einigermaßen pikiert zeigte: »hat die Erde nicht für uns alle Raum? liegt ein Land nicht ruhig neben dem andern?«120, heißt es in den Briefe[n] zu 108 109 110 111 112 113 114 115
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Ebd. Ebd. Menges, Vom Nationalgeist (wie Anm. 103), S. 109. Ebd. Ebd. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 354. Ebd. In der Vorrede zu den Alten Volksliedern (1774). In: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Band drei: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker; 60), S. 11–68, hier S. 23. Ebd., S. 21. So in der Schrift Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten (1767). In: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Band eins: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker; 1), S. 161–259, hier S. 170. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 353. Ebd., S. 354. Im 57. Brief, fünfte Sammlung. In: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Band sieben: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M.:
V Herder und der Wert des Vorurteils
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Beförderung der Humanität (1793–97), die Martin Bollacher als »geistiges Vermächtnis«121 des Autors bezeichnet hat. An der Auffassung, daß der »anmaßende[n] Verkettung der Völker«122 ein »Riegel«123 vorgeschoben werden müsse, wird freilich auch in den Spätschriften festgehalten. Gleichwohl zeigt Herders Appell an die »Vaterländer«124, sich »als Familien bei[zustehen]«125, daß der Autor am Ende seines Lebens vor den Konsequenzen seiner eigenen Theoriebildung zurückschreckte.126 Eine Theoriebildung, die freilich insbesondere aufgrund der Aufwertung des »Volks«-Begriffes in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Die durch Herder »inaugurierte Nobilitierung«127 dieses Signifikanten begreift Bernd Schönemann als den »wohl folgenreichste[n] semantische[n] Wandel in der Geschichte d[es] Begriffs«128 und
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Deutscher Klassiker-Verlag 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker; 63), S. 294– 338, hier S. 337. Martin Bollacher: Johann Gottfried Herder. In: Deutsche Dichter. Band 4: Sturm und Drang, Klassik. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8614), S. 37. So im 115. Brief der zehnten Sammlung. In: Herder, Werke VII (wie Anm. 120), S. 686–697, hier S. 687. Ebd. »Wo die Natur durch Sprache, Sitten und Charakter die Völker geschieden; da wolle man sie doch nicht durch Artefacta und chemische Operationen in Einsverwandeln«, heißt es im 113. Brief (neunte Sammlung). In: Herder, Werke VII (wie Anm. 120), S. 652–656, hier S. 654. Ebd., S. 338. Ebd. Während Herder am Ende seines Lebens die strukturelle Problematik des Nationalismus also erkannt zu haben scheint und sie nur schwerlich mit seiner Theorie der nationalen Sprachgemeinschaften harmonisieren konnte, simplifizieren wohlwollende Interpreten wie jüngst Roberto Simanowski die Widersprüche dieses Konzeptes, wenn sie in Herders Überlegungen pauschal eine »Einheit von nationalem Denken und Weltbürgertum« erkennen und die spätere Inanspruchnahme von Herder als dem »größte[n] Anreger des politischen Nationalismus« alleine einer »selektiven Rezeption« zuschreiben. Vgl. Roberto Simanowski: Die methodischen Grundlagen des Nationalismus am Beispiel Johann Gottfried Herders. In: Nationale Identität (wie Anm. 31), S. 62f., die Zitate ebd. Auch Wolfgang Frühwald glättet die Dissonanzen, wenn er die »weltbürgerlich-universalistische Verankerung von Herders Nationalgedanken« als »offenkundig« dekretiert. Wolfgang Frühwald: Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland. In: Nationalismus in vorindustrieller Zeit. Hg. von Otto Dann. München: Oldenbourg 1986 (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; 14), S. 138. Ebenso affirmativ: Otto Dann: Herder und die Deutsche Bewegung. In: Johann Gottfried Herder. 1744–1803. Hg. von Gerhard Sauder. Hamburg: Meiner 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert; 9), S. 308–340. Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 53. Schönemann, Volk, Nation (wie Anm. 39), S. 316.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
als »eine Art kopernikanische[] Wende«129: Der Begriff »Volk«, der zuvor im politischen Sinn die Untertanen und – vor allem – in seiner soziologischen Bedeutung die Unterschicht bezeichnet hatte, setzte sich nun allmählich als Synonym zu dem Terminus »Nation« durch; durch den von Herder initiierten Bedeutungswandel wird das »Volk« zudem »zu einer kollektiven, mit Sprache, Seele und Charakter begabten Individualität auf[ge]wertet«130 – die Romantik wird auf diese Begriffsverwendung rekurrieren können.
VI
Für Deutschland und gegen Wieland – der Göttinger Hainbund
Hatte Herders Gemeinschaftsentwurf explizit auch die Unterschichten integriert und somit dem nationalen Ordnungsentwurf eine neue soziale Reichweite verschafft, so ist Friedrich Gottlieb Klopstocks »Vaterlandsphantasie[]«131 als »elitäres Gedankengebäude«132 konzipiert, »das sich der Rezeption breiter Massen verweigert hat«133. Gerade aber jener »Gestus der Selbsterhöhung«134, in dem sich Klopstock »zum Propheten einer imaginierten Nation«135 stilisierte, ließ ihn und seine Themen für die nachrückende Generation interessant werden: Für die Mitglieder des durch den »bedeutenden Literaturorganisator«136 Christian Heinrich Boie137 inaugurierten »Göttinger Hainbundes«138, 129 130 131 132 133 134 135 136
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Ebd., S. 283. Ebd. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 373. Ebd. Ebd. Ebd., S. 374. Ebd., S. 373. Gerhard Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang. 4. Aufl. Tübingen: Francke Verlag 1991 (Uni-Taschenbücher; 484), S. 258. Boie, Jurist, Philologe und Redakteur, gab von 1770 bis 1775 den Göttinger Musenalmanach heraus. Vgl. Der Göttinger Hain. Hg. von Alfred Kelletat. Stuttgart: Reclam 1967 (Reclams Universal-Bibliothek; 8789/93), S. 375f. sowie Angelika Beck: »Der Bund ist ewig«. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jahrhundert. Erlangen: Palm & Enke 1982 (Erlanger Studien; 36), S. 70. »Es sind einige feine Köpfe da, die zum Theil auf gutem Wege sind. Ich suche das Völkchen zu vereinigen«, schrieb Boie am 4. November 1771 an Karl Ludwig von Knebel. Karl Ludwig von Knebel: Literarischer Nachlaß und Briefwechsel. Hg. von Karl August Varnhagen von Ense und Theodor Mundt. Band 1. Leipzig 1840, S. 116. Zit. n. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 71. Vgl. zum Göttinger Hainbund die Textsammlung Der Göttinger Hain (wie Anm. 136) sowie Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 69–132 und S. 252– 275; Hans-Jürgen Schrader: Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland. In: Euphorion 78 (1984), S. 325–367; G. Kaiser, Aufklärung (wie Anm. 136), S. 258–275; Blitz, Identitätskonzepte (wie Anm. 24), S. 97–122; Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte –
VI Für Deutschland und gegen Wieland – der Göttinger Hainbund
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der sich ab dem Frühling 1772 allmählich herausbildete und der am 12. September desselben Jahres offiziell gegründet wurde, avancierte der Hamburger Pensionär Klopstock zu einer nationalen Identifikationsfigur. Johann Heinrich Voß, Heinrich Christoph Hölty, Johann Friedrich Hahn, die Stolberg-Brüder Christian und Friedrich Leopold, die beiden Cousins Johann Martin Miller sowie Gottlob Dietrich Miller – allesamt Studenten und Nachwuchslyriker, die Boie um sich scharte – verehrten Klopstock, der zu diesem Zeitpunkt den »Zenit seiner Laufbahn bereits überschritten«139 hatte, wie einen »Guru«140. »Wir gingen um Mitternacht in meiner Stube ohne Licht herum, und sprachen von Deutschland, Klopstock, Freiheit, großen Thaten und von Rache gegen Wieland, der das Gefühl der Unschuld nicht achtet«141, heißt es in einem für die Intentionen der Gruppe signifikanten Brief von Johann Heinrich Voß an Ernestine Boie.142 Der hier von Voß artikulierte Freiheitsgedanke ist mit Sicherheit zentral für das Selbstverständnis des Bundes, in dem die »Freiheitsharfe«143 als »Harfe des Vaterlandes«144 imaginiert und gegen Adelswillkür und Tyrannenherrschaft mobil gemacht wird. Fritz Valjavec sieht denn auch die politische Wirkung des Hainbundes darin, daß »im deutschen Schrifttum erstmals einer leidenschaftlichen Freiheitsschwärmerei und Deklamationen wider die Tyrannen Ausdruck«145 gegeben worden sei; der Protest gegen ständische Privilegien spiegelte sich auch in der personellen Zusammensetzung des Bundes, dem ab
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Themen. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 17602), S. 251– 258; Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 375–398; Gunnar Och: Der Cornet im Tornister – Zur Rezeption literarischer Kultbücher. In: Kultbücher. Hg. von Rudolf Freiburg, Markus May und Roland Spiller. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 33–35. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 116. Theodor Verweyen: Bücherverbrennungen. Eine Vorlesung aus Anlaß des 65. Jahrestages der »Aktion wider den undeutschen Geist«. Heidelberg: Winter 2000 (Beihefte zum Euphorion; 37), S. 124. Brief vom 16. Juni 1773. In: Briefe von und an Johann Heinrich Voß, nebst erläuternden Beilagen. Band 1. Halberstadt 1829. Hg. von A. Voß, S. 218. Zit. n. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 90. Daß dabei die nationale Gesinnung gegenüber dem poetischen Talent durchaus als die wichtigere Teilnahmebedingung firmieren konnte, belegt ein Brief Gottlob Dietrich Millers vom Februar 1773 an Ernst Theodor Johann Brückner, in dem Miller sich als ein für den Bund »ziemlich entbehrliches Glied« bezeichnet, »wo es auf Genie und Dichtkunst ankömmt«. Dagegen stehe er, »wo es auf Vaterland und Freundschaft ankömmt [...] keinem meiner Brüder nach, und keiner steht mir nach, denn wir sind alle deutsch«. In: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 353f., hier S. 353. So in dem Gedicht Die Freiheit. An Hahn (1774) von Friedrich Leopold zu Stolberg. Abdruck in: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 174. Ebd. Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770– 1815. München: Oldenbourg 1951, S. 131.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
Dezember 1772 immerhin auch die beiden adeligen Grafen zu Stolberg angehörten, wodurch »protokallarische Grenzen vorübergehend außer Kraft«146 gesetzt wurden. Angelika Beck verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf den sozialgeschichtlichen Signalwert der tiefen – wenngleich nicht ewig währenden147 – Freundschaft zwischen Voß, der »Seele des Bundes«148, und Friedrich Leopold zu Stolberg: »Diese Verbrüderung [...] zwischen dem Gastwirtsohn Voß und dem Sproß aus altem Grafengeschlecht ist im zeitgenössischen Kontext ohne Beispiel gewesen.«149 In der standesübergreifenden personellen Zusammensetzung des Bundes und in dem Freiheitspathos, das die Gedichte der Hainbündler durchdringt, sind also durchaus progressive Intentionen der Göttinger erkennbar; jedoch darf nicht übersehen werden, dass es in den Texten nicht selten darum geht, »einem Tirannen den Stal durch den Wanst zu stossen«150, wie es Friedrich Leopold zu Stolberg in einem Brief an Johann Martin Miller formuliert. Die Begeisterung für ein »freies« Vaterland trägt also »emanzipatorische, aber beileibe keine friedliche[n] Züge«151; zudem wird auch im nationalen Diskurs des Hainbundes die innere Formierung der Nation über diskriminierende Abgrenzungen nach außen wie innen ermöglicht. Schon bei Klopstock, der von Christian zu Stolberg mit dem Argument für den Bund geworben wird, daß es sich bei den jungen Dichtern um »vortreffliche Jünglinge«152 handele, »die das wärmste Herz für Tugend und Vaterland haben«153, hatte sich die »Heiligung der Nation«154 über die »Negation des Fremden«155 vollzogen; die Dichter des Göttinger Hain radikalisierten sein nationales Pathos, in dem sie dessen »Vergegenwärtigung einer vergangenen, wehrhaften germanischen Schicksalsgemeinschaft«156 aufnahmen und sich 146 147
148 149 150
151 152
153 154 155 156
Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 110. Bekanntlich führte die Konversion des jüngeren Stolberg zum Katholizismus (1800) zum Bruch zwischen den Freunden. Vgl. hierzu die knappen Hinweise bei Gerhard Hay: Johann Heinrich Voß. In: Deutsche Dichter. Band 4: Sturm und Drang, Klassik. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8614), S. 196. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 128. Ebd., S. 110. Brief vom 12. März 1774. In: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe. Hg. von Jürgen Behrens. Neumünster: Wachholtz 1966 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte; 5), S. 31–33, hier S. 31. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 397. Brief vom 10. Dezember 1772. In: Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Hg. von Jürgen Behrens. Neumünster: Wachholtz 1964 (Kieler Studien zur Deutschen Literaturgeschichte; 3), S. 146f., hier S. 147. Ebd. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 372. Ebd., S. 366. Ebd.
VI Für Deutschland und gegen Wieland – der Göttinger Hainbund
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danach sehnten, »als unmittelbare Nachfolger berühmter Tyrannenkämpfer [selbst] aktiv werden zu dürfen«157. »Es kann nicht anders sein«158, heißt es in diesem Sinne in einem Brief von Voß, »der Bund muß einmal Deutschlands Vortheil stiften«159. In der »Gewißheit einer nationalen Mission«160 nennen die Hainbündler »Roß und Reiter«161; wo es Klopstock bei vagen Denunziationen der absolutistisch-westlichen Zivilisation im Vergleich zur positiv bewerteten bürgerlichdeutschen Kultur beließ, wird nunmehr das Ressentiment gegen Frankreich merklich verstärkt: »Franzosenfeindschaft gehört zum guten Ton innerhalb der Gruppe und beschränkte sich nicht auf kulturelle Animositäten«162. Voß bekundet dementsprechend in einem Brief an Ernst Theodor Brückner »mit jedem deutschen Patrioten«163 die »französische Nation im Ganzen zu hassen«164; seinen Bundesgenossen Hahn lobt er als »Feind aller Gallier, die unser deutsches Vaterland mit ihren Sitten verderbten«165, und in seinem Gedicht An Hahn (1772)166 differenziert er zwischen dem biederen, edlen und guten Charakter der Deutschen und dem »Franzenbrauch«167: »Schlag lauter deine Saiten an, / Du Sohn des Vaterlands! / Und sing dem Briten Trotz, und Hohn / dem Gallier!«168 Auch bei Hölty gelten die Franzosen als »Schänder[] eurer Fluren«169; er besingt das »Vaterland«170 sowie die »[h]eimischen Eichen«171 in Abgrenzung zu einem »Ausland«172, dem es im Namen »deutsche[r] Redlichkeit, Keuschheit und Treue«173 zu trotzen gilt. Friedrich Leo157 158
159 160 161 162 163
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Ebd., S. 381. Brief vom 20. Februar 1773 an Ernst Theodor Johann Brückner. In: Briefe von und an Johann Heinrich Voß, nebst erläuternden Beilagen. Band 1. Hg. von A. Voß. Halberstadt 1829. S. 122f. Zit. n. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 108. Ebd. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 108. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 383. Ebd., S. 384. Brief von Anfang 1773. Briefe von und an Johann Heinrich Voß, nebst erläuternden Beilagen. Band 1. Hg. von A. Voß. Halberstadt 1829, S. 125. Zit. n. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 97. Ebd. Brief an Brückner vom 20. September 1772. Briefe von und an Johann Heinrich Voß, nebst erläuternden Beilagen. Band 1. Hg. von A. Voß, Halberstadt 1829. S. 88. Zit. n. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 76. In: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 254f. Ebd., S. 255. Ebd., S. 254. Im Gedicht Bundsgesang im Septemb. 1772. In: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 68f., hier S. 68. Ebd. In der Ode An Hahn (1773). Ebd., S. 69f., hier S. 69. Ebd. Ebd., S. 70.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
pold zu Stolberg hofft, »die Deutschen bald gegen die Franzosen fechten zu sehen«174, und Johann Martin Miller warnt in seinem Gedicht Sittenverderb (1774)175 vor »dem Nachbar, der / in Freundestracht sich hüllt, / Und unser ganzes Land umher / Mit seinen Fehlern füllt«176. Wie Millers Text bereits andeutet, befindet sich der Feind für die Hainbündler nicht nur außerhalb des Vaterlandes: Wenn Voß gegenüber dem »Mitdeutsche[n]«177 Friedrich Leopold zu Stolberg anmahnt, daß »Deutschland, das Heiligthum Gottes, von seinen Gräueln gereinigt«178 werden müsse, dann wird damit die Bekämpfung interner Gegner postuliert. Das »erheblich[] Gewaltpotential«179, das sich in den antifranzösischen Attacken offenbart, artikuliert sich auch in der »furiosen Feindseligkeit«180, mit der die Hainbündler gegen Christoph Martin Wieland agitieren. Wieland hatte »[d]en zahlreichen Bestrebungen, die deutsche Nation zu stärken, den Deutschen einen gemeinschaftlichen Geist zu vermitteln und ihnen so ein Selbstbewußtsein als Nation zu verschaffen«181, aus einer humanistisch-kosmopolitischen Perspektive heraus immer »indifferent, reserviert oder gar ablehnend gegenüber«182 gestanden. Die nun von Voß und seinen Mitstreitern gegen ihn erhobenen Vorwürfe lassen sich denn auch nach Theodor Verweyen »unter dem Einwand zusammenfassen, Wieland sei nicht ›deutsch‹«183. Er gilt den Göttingern als »deutsche[r] Voltaire«184 und Freund der Franzosen. Voß, die Stolberg-Brüder und ihre Mitstreiter sprechen Wieland genau jene Tugenden ab, die von den Göttingern »mit einem scheinbar natürlichen ›deutschen Wesen‹ gleichgesetzt und verwechselt werden«185. Treue, mutige und gerechte Männer sowie keusche und sittsame Frauen bevölkern dieses »Deutschland«, das mit den Vorstellungen der bürgerlichen Moral nahezu vollständig zur Deckung kommt. »Das Ergebnis ist die Konstruktion 174 175 176 177
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Brief an Klopstock vom 24. Mai 1775. In: Stolberg, Briefe (wie Anm. 150), S. 43– 45, hier S. 44. In: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 150. Ebd. Brief vom 29. Dezember 1773. In: Johann Heinrich Voß und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Neun bisher unveröffentlichte Briefe. Hg. von Jürgen Behrens. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1965), S. 59–61, hier S. 59. Brief vom 2. März 1774. Ebd., S. 62–64, hier S. 62. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 384. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 91. Irmtraut Sahmland: Ein Weltbürger und seine Nation: Christoph Martin Wieland. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a. M. 1993 (Suhrkamp Taschenbuch; 2117), S. 96. Ebd.; vgl. auch ebd., S. 92: »Statt auf nationale Bezüge will er [Wieland, M. P.] die Dichtung auf die menschliche Gesellschaft ausgerichtet sehen, mit humanistischem Anspruch und grenzüberschreitend.« Verweyen, Bücherverbrennungen (wie Anm. 140), S. 119. Ebd., S. 118. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 390.
VI Für Deutschland und gegen Wieland – der Göttinger Hainbund
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eines deutschen Vaterlandes, die sich desto stärker vertraglich-politischen Gestaltungsprinzipien verweigert, je mehr ein Verhaltenskodex darüber entscheidet, wer als Deutscher zu gelten hat und wer nicht.«186 Die rüden Ausfälle gegen Wieland erreichen ihren makabren Höhepunkt im August 1773, als die Nachwuchsdichter ein feierliches Autodafe veranstalten, dem neben Wielands Werk Idris und Zenode (1767) auch ein Bildnis des Dichters zum Opfer fällt; im April 1774 wird Hahn dann sogar eine Künftige Grabschrift187 für den »Volksverführer«188, »Franzennnachäffer«189 und »[W]eisheitsgaukler«190 Wieland verfassen. Die Mitglieder des Göttinger Hainbundes sprachen, wie der bereits zitierte Brief von Voß an Ernestine Boie bezeugt, in ihren nächtlichen Diskussionen über »Deutschland, Klopstock, Freiheit, große[] Thaten und von Rache gegen Wieland«. Im Namen des Vaterlandes wird zwar die Freiheit von adeliger Willkür gefordert, aber die brutalen Gewaltphantasien der Studenten richten sich beileibe nicht nur gegen Tyrannen. Vielmehr imaginieren die Göttinger auch die Vernichtung vermeintlicher interner und externer Gegner ihrer nationalen Konstruktion. Im Namen des Vaterlandes wird Klopstock als »Leitstern des Bundes«191 geehrt und Wieland »wutschnaubend[]«192 verfemt. Wielands kosmopolitische Grundhaltung veranlaßt die »Autorverbrennung ›in effigie‹«193; die Balance zwischen Weltbürgersinn und Patriotismus, die schon von Johann Elias Schlegel, Lessing oder Herder kaum gehalten werden konnte, ist für die Autoren des Hainbundes nicht von Relevanz. Es bleiben von den genannten Stichwörtern noch die »großen Taten«. Aus diesen wurde wenig, was auch daran lag, daß die Gruppierung bereits im September 1773 – also ein Jahr nach ihrer Gründung – die Abreise der StolbergBrüder zu verkraften hatte; im Oktober 1774 verließen auch die beiden Millers Göttingen, und so wurde die Gemeinschaft spätestens Ende 1774 endgültig von einem unaufhaltsamen »Zerfallsproze[ß]«194 ergriffen. »Voß’ Abschied aus Göttingen im Frühjahr 1775 beendete das ambitionierte Literaturunternehmen der jungen Studenten, Patrioten und Poeten nach nur wenigen Jahren«195, bilanziert Hans-Martin Blitz, und so erfüllte sich die Prognose Gottlob Dietrich Millers, der bereits im Februar 1773 prophezeit hatte, daß die »gold186 187 188 189 190 191
192 193 194 195
Ebd., S. 391. Vgl. den Abdruck des Textes ebd., S. 385. Ebd. Ebd. Ebd. Alfred Kelletat: Ludwig Christoph Heinrich Hölty. In: Deutsche Dichter. Band 4: Sturm und Drang, Klassik. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8614), S. 90. Ebd. Verweyen, Bücherverbrennungen (wie Anm. 140), S. 115. I. O. kursiviert. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 378. Ebd.
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B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
nen Tage [...] in einem Hui«196 vorbei sein werden, wenn »uns ein wildes Schicksal in entlegene Winkel unsers undankbaren Vaterlands [bannt]«197. Zudem wich die nationale Emphase mancher Mitglieder des Göttinger Hains in späteren Jahren wieder einer Haltung, die sich stärker an den kosmopolitischen Idealen der Aufklärung orientierte.198 Dennoch ist die vaterländische Lyrik der Göttinger nicht zu unterschätzen: Nach Theodor Verweyen muß das vage nationale Programm der Voß, Stolberg und Hahn als »eine gefährliche, weil leicht adaptierbare und unterschiedlichen Interessen gefügige Mixtur weltanschaulicher Versatzstücke«199 gesehen werden; und ohne die »mobilisierenden Gedichte des Göttinger Hains wäre die Lyrik der Befreiungskriege«200 nach Hans-Martin Blitz »nicht denkbar«201 gewesen.
VII »Deutscher Kosmopolitismus«: Die Frühromantik Eine »groteske Teutomanie im Sinne des Göttinger Hains«202 ist den frühromantischen Autoren sicher nicht vorzuwerfen. Im Vergleich zu Voß, den Stolberg-Brüdern und ihren Mitstreitern versuchen die Schlegels und Novalis wesentlich subtiler, dem Nationalgedanken gegenüber dem tradierten Kosmopolitismus zu seinem Recht zu verhelfen. Im Hinblick auf den »Hang des Übersetzens«203, den er bei den »deutschen Schriftsteller[n]«204 besonders 196 197 198
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So Gottlob Dietrich Miller in einem Brief an Brückner vom Februar 1773. In: Der Göttinger Hain (wie Anm. 136), S. 353–355, hier S. 354. Ebd. Vgl. etwa die Ausführungen Angelika Becks zu Friedrich Leopold zu Stolbergs utopischem Staatsroman Die Insel (1788) und dem von dem Hainbund-Nachzügler Christian Adolf Overbeck im Jahr 1778 initiierten Auswanderungsprojekt, das die früheren Träume von der Wiederherstellung eines freien Germanien verdrängte und über das neben Overbeck und dem jüngeren Stolberg auch Voß und Johann Martin Miller nachdachten. »Es blieb auch hier bei der Beschwörung ›großer Thaten‹«, resümiert Beck. Beck, »Der Bund ist ewig« (wie Anm. 136), S. 128–132, hier S. 130. Verweyen, Bücherverbrennungen (wie Anm. 140), S. 121. Blitz, Aus Liebe zum Vaterland (wie Anm. 24), S. 398. Ebd. Jost Hermand: In Tyrannos. Über den politischen Radikalismus der sogenannten ›Spätaufklärung‹. In: Jost Hermand: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur. Stuttgart: J. B. Metzler 1969, S. 9–52 und S. 356– 364, hier S. 11. Novalis an August Wilhelm Schlegel, Brief vom 30. November 1797. In: Novalis: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Hg. von Richard Samuel. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 648f., hier S. 648. Ebd.
VII »Deutscher Kosmopolitismus«: Die Frühromantik
57
ausgeprägt findet, definiert Novalis etwa »Deutschheit«205 als »Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualitaet gemischt«206. Friedrich Schlegel wiederum bezeichnet es als »angeborne[n] Trieb des Deutschen, daß er das Fremde liebt«207, und sein älterer Bruder August Wilhelm reklamiert »Universalität, Kosmopolitismus«208 als die »wahre deutsche Eigentümlichkeit«209. In den Konzepten der frühromantischen Autoren wird das kosmopolitische Ideal mithin nicht aufgegeben, aber von dem neuen Nationenkonzept gleichsam »adaptiert«210, wie Wulf Wülfing zu Recht feststellt. Den Schlegels und Novalis ist bewußt, daß in Zeiten, in denen »die politische Existenz der deutschen Nation zum Teil [...] ganz und gar aufgehört hat«211 dem »hohe[n] Geist der Deutschen«212 zunächst nur das kulturelle Feld zur eigenen Profilierung verbleibt. Dort aber ist die Rolle »Deutschlands« unumstritten: Nach Friedrich Schlegel wird die »deutsche Literatur« kraft ihrer universalen Ausrichtung »in nicht gar langer Zeit, alle andren ältern Literaturen verbannt, sich einverleibt und in sich aufgenommen haben«213, und August Wilhelm Schlegel bezeichnet es als »keine zu sanguinische Hoffnung, anzunehmen, daß der Zeitpunkt nicht [...] entfernt ist, wo das Deutsche allgemeines Organ der Mitteilung für die gebildeten Nationen sein wird«214. Daß diese kulturelle Würdigung ihre politischen Implikationen nicht verleugnen kann, wird deutlich, wenn der ältere Schlegel die »[d]eutsche[n] Völkerschaften«215 als »Wiederschöpfer und Stifter Europas«216 preist und auch künftig den Deutschen einen »hohen Beruf in der Weltgeschichte«217 voraussagt: »Das ist nicht zu leugnen: wenn der Orient
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211 212 213 214 215 216 217
Ebd. Ebd. In seiner in der Zeitschrift Europa erschienenen Abhandlung Beiträge zur Geschichte der modernen Poesie und Nachricht von provenzalischen Manuskripten (1803). Vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829). Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1975, S. 17–37, hier S. 17. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe IV: Geschichte der romantischen Literatur. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur; 20), S. 36. Ebd. Wulf Wülfing: »Nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher«. Einige Bemerkungen zu Verwendungsweisen des Ausdrucks »deutsch« in der deutschsprachigen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 94 (1994), S. 115. F. Schlegel, Kritische Ausgabe III (wie Anm. 207), S. 17. Ebd. Ebd., S. 18. A. W. Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur (wie Anm. 208), S. 36. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd.
58
B Stationen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert
die Region ist, von welcher die Regeneration des Menschengeschlechtes ausgeht, so ist Deutschland als der Orient Europas zu betrachten.«218 Die Legitimation des Nationalgefühls, die sich bei den Frühromantikern freilich noch als »Selbstfeier der literarischen Intelligenz«219 ohne jedwede Breitenwirksamkeit vollzog, erfolgte also unter Vereinnahmung des tradierten universalen Ideals im Namen des engeren, partikularen Denkmusters.220 Bedenkt man die Attraktivität des Integrationsmusters »Nation« für die romantische Generation, über die im folgenden Kapitel zu sprechen sein wird, vermag diese Vereinnahmung des universalen Gedankens nicht zu überraschen.
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Ebd.; vgl. Harro Segeberg: Nationalismus als Literatur. Literarisches Leben, nationale Tendenzen und Frühformen eines literarischen Nationalismus in Deutschland (1770–1805). In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Karl Robert Mandelkow gewidmet. Hg. von Jörg Schönert und Harro Segeberg. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (Hamburger Beiträge zur Germanistik; 1), S. 312–317; Alexander von Bormann: Volk als Idee. Zur Semiotisierung des Volksbegriffs. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 51 sowie Manfred Koch: Deutsche Welterleuchtung oder globaler Ideenhandel? Der Topos von der Übersetzernation Deutschland in Goethes Konzept der ›Weltliteratur‹. In: Athenäum 10 (2000), S. 29–31. Ernst Weber: Die nationale Idee in der Zeit der Romantik und des Vormärz. In: Die Intellektuellen und die nationale Frage. Hg. von Gerd Langguth. Frankfurt a. M.: Campus 1997, S. 76. Vgl. auch Edith Höltenschmidt: Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000, S. 184f. sowie Claudia Becker: Zwischen Anerkennung und Aneignung. Der frühromantische Blick auf Europa. In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hg. von Silvio Vietta, Dirk Kemper und Eugenio Spedicato. Tübingen: Max Niemeyer 2005, S. 73–87.
C
»Wir sind seit undenklichen Zeiten ein deutsches Volk gewesen« – Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
I
Das Konzept der »Nation« und seine Attraktivität für die romantische Generation
1
Hoher Anspruch, triste Realität: Die Situation der jungen Intellektuellen um 1800
Die Irritation muß groß gewesen sein in der Heidelberger Universität, als Joseph Görres im Sommer 1807 seine Vorlesung »Über den Himmelsbau« – in der auch die Eichendorff-Brüder Joseph und Wilhelm hospitierten – eröffnete. »Meine Herren, es gibt nur zwei Klassen von Menschen«1, beschied der junge Privatdozent dem Bericht eines Studenten zufolge seinen verdutzten Zuhörern: »1) die mit poetischem Geist gesalbet sind, 2) die Philister; und so ging er zu seiner Metapysik des Weltgebäudes über.«2 Sieben Jahre vor Görres’ bemerkenswertem Vorlesungsbeginn hatte Friedrich Schlegel den Poeten mit ähnlich elitärem Gestus ebenfalls eine Ausnahmestellung attestiert: »Wie die Senatoren der Römer sind die wahren Künstler ein Volk von Königen«3, heißt es im 114. jener »prophetisch feierliche[n]«4 Fragmente, die Schlegel unter dem Titel Ideen (1800)5 veröffentlichte.
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Dieser Vorlesungseinstieg ist überliefert durch einen Brief J. Georg Müllers an seinen Bruder Johannes von Müller (im Juli 1807). In: Der Briefwechsel der Brüder J. Georg Müller und Joh. v. Müller. Hg. von E. Haug. Frauenfeld 1843, S. 419. Zit. n. Wolfgang Frühwald: Der Regierungsrat Joseph von Eichendorff. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979), S. 42, Anm. 17. Ebd.; Johann Gottlieb Fichte, der mit der Reitpeitsche im Stiefel vor seine Studierenden in Jena (1794) trat, hatte ähnlich eigenwillige universitäre Auftritte. »Das romantische Pathos der Zeitenwende kann man sich gar nicht genug skandalisierend vorstellen«, schreibt Günter Osterle: Drei Gesichter der Romantik. In: Der Deutschunterricht 57 (2005), H. 3, S. 7. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1967, S. 267. Ernst Behler: Frühromantik. Berlin, New York: de Gruyter 1992 (Sammlung Göschen; 2807), S. 254. Vgl. F. Schlegel, Kritische Ausgabe II (wie Anm. 3), S. 256–272.
60
C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
Friedrich von Hardenberg wiederum wies in seiner Aphorismensammlung Blüthenstaub (1797/98)6 den Künstlern eine noch exklusivere Rolle zu: »Jener Repraesentant des Genius der Menschheit dürfte leicht der Dichter kat exochin seyn.«7 Eine derart emphatische Einschätzung der künstlerischen und literarischen Produktion,8 wie sie sich in diesen wenigen Beispielen artikuliert, war am Ausgang des 18. Jahrhunderts möglich geworden,9 weil die Genieästhetik des Sturm und Drang und die langsame Entfaltung des literarischen Marktes zu einer Trennung zwischen den Autoren und ihren Lesern geführt hatten; waren bisher die Perspektiven austauschbar gewesen, so festigte die durch die Literaturtheorie des Sturm und Drang vorgenommene »radikale Aufwertung der Produktionsästhetik«10 die »fragile Scheidelinie«11 zwischen den Intellektuellen und ihrem Publikum dadurch, daß »der sozial erzeugte Unterschied [...] auf Geburt und Begabung, auf Unabänderliches und Unentfremdbares zurückgeführt wurde«12. Die Intellektuellen klagten nun »zunehmend über den schlech6
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Vgl. Novalis: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. Lizenzausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 225– 285. Ebd., S. 260. Vgl. hierzu auch Aira Kemilainen: Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Helsinki: Suomalaisen Kirjallisuuden Kirjapaino 1956 (Suomalainen Tiedeakatemia Toimituksia; 101), S. 149– 155. In Kapitel C I folge ich im wesentlichen den Thesen des Autorenkollektivs um Bernhard Giesen, die ich mit zusätzlichem Material zu erhärten versuche. Vgl. Bernhard Giesen und Kay Junge: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der »Deutschen Kulturnation«. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hg. von Bernhard Giesen. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 940), S. 275–303 und Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft; 1070), S. 130–162 sowie die Zusammenfassungen: Bernhard Giesen, Kay Junge und Christian Kritschgau: Vom Patriotismus zum völkischen Denken. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hg. von Helmut Berding. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1154), S. 353–356 und Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1410), S. 174–179. Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren –Texte – Themen. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 17602), S. 67. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 130. Ebd.; vgl. zur Genieästhetik des Sturm und Drang Luserke, Sturm und Drang (wie Anm. 10), S. 66–80 sowie Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680–1789. Hg. von Rolf Grimminger. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984 (Hansers So-
I Das Konzept der »Nation« u. seine Attraktivität für die romantische Generation
61
ten Geschmack dieses Publikums und behandelte[n] die eigene literarische Tätigkeit als eine Berufung, die nur wenigen Auserwählten aufgrund ihres ›Originalgenies‹ zuteil wurde«13. Wie Heinz Härtl schreibt, wurde das Auseinanderbrechen der früheren »Einheit von Autoren und Publikum«14 erstmals bei der Rezeption von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther (1774)15 deutlich, »den die meisten Leser konträr zur Autorintention identifikatorisch lasen, und am Ende des Jahrhunderts war sie [die Kluft zwischen beiden Parteien, M. P.] unübersehbar«16. Freilich war die »Dissoziation der freien Schriftsteller von den freien Lesern«17 auch ein Vorgang, der sich nach marktgesetzlichen Kriterien abspielte. Die steigende Lesefähigkeit der Bevölkerung verschaffte dem Buch als einem Instrument zur Befriedigung von Zerstreuungs- und Identifikationsbedürfnissen eine neue Funktion, die auch nach einem neuen Autorentypus verlangte, nämlich den »auf Massenproduktion spezialisierten Unterhaltungsschriftsteller«18. Während Literaten wie August Heinrich Lafontaine, August von Kotzebue oder August Wilhelm Iffland diese Rolle übernahmen, gerieten »[d]iejenigen Autoren, welche die Kunst und das ästhetische Niveau weiterentwickelten, ohne sich dem Publikumsgeschmack anzupassen, [...] in einen immer krasser werdenden Gegensatz«19 zu eben diesem Publikumsgeschmack.20 Wer – wie Goethe – nicht für »die Wünsche des großen Hau-
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zialgeschichte der deutschen Literatur; 3), S. 327–340. Über die vorausgegangene Poetik der späten Aufklärung informiert im selben Band Jochen Schulte-Sasse: Poetik und Ästhetik Lessings und seiner Zeitgenossen. Ebd., S. 304–326. Vgl. zudem zum Prozeß der Auflösung des »Einverständnis[ses]« zwischen Autor, Kritiker und Publikum Manfred Naumann: Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1973 (Akademie der Wissenschaften der DDR/Zentralinstitut für Literaturgeschichte), S. 181–220, hier S. 194. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 130. Heinz Härtl: »Die Wahlverwandtschaften« und ihre zeitgenössischen Leser. In: Weimarer Beiträge 29 (1983), S. 1575. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Band 6: Romane und Novellen I. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese. 14. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 7–124. Härtl, »Wahlverwandtschaften« (wie Anm. 14), S. 1575. Ebd., S. 1574. Olaf Reincke: Nachwort. In: O Lust, allen alles zu sein. Deutsche Modelektüre um 1800. Hg. von Olaf Reincke. Köln: Röderberg 1989 (Röderberg-Taschenbuch; 176), S. 410. Vgl. hierzu auch Luserke, Sturm und Drang (wie Anm. 10), S. 14f. sowie Wolfgang Ungern-Sternberg: Schriftsteller und literarischer Markt. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 12), S. 133–185, hier S. 134–147. Härtl, »Wahlverwandtschaften« (wie Anm. 14), S. 1575. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 285–313.
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fens«21 schreiben wollte, konnte das sich ebenfalls mit der neuen literarischen Öffentlichkeit herausbildende Berufsmuster des professionellen Schriftstellers nicht ausfüllen. Friedrich Nicolai brachte diesen Sachverhalt auf die prägnante Formel, daß »diejenigen Schriftsteller, welche der Gelehrte und der Mann von Geschmack für die besten erkennt, sehr oft für den Buchhändler in Ansehnung des Debits nicht die besten sind«22. Als sich Ludwig Friedrich August Wieland im Jahr 1802 ganz auf seine Rolle als Autor verlegen wollte, warnte ihn sein Vater Christoph Martin Wieland denn auch, daß »die Schriftstellerey, als Nahrungszweig getrieben, [...] der sicherste Weg«23 sei, »im Hospital zu sterben«24. Das »Bettlerhandwerk«25, so der alte Wieland, »nährt seinen Mann besser und ist kaum schmählicher. [...] Ich weiß was du mir sagen wirst – Romane, Schauspiele, Zeitschriften, Taschenbücher – u. die Beispiele von Göthe, Schiller, Richter, Kotzebue, La Fontaine. – In der That machen diese fünf eine Ausnahme; aber was sind 5 gegen mehr als 6000 Buchmacher, die es izt giebt?«26 Wieland zufolge konnten also nur fünf Autoren um die Jahrhundertwende von dem Ertrag ihrer literarischen Arbeit leben; bedenkt man, daß Johann Wolfgang von Goethe ein stattliches Festgehalt als Minister in Weimar bezog, Friedrich Schiller hauptsächlich von Fürstenpensionen lebte27 und Jean Paul jahrelang um solche Pensionen kämpfte, weil er eben »nie wie Lafontaine oder Kotzebue der dauerhafte Liebling eines breiten Lesepublikums war«28 und deshalb permanent von finanziellen Sorgen umgetrieben wurde, so bleiben mit Lafontaine und Kotzebue gerade einmal zwei Autoren übrig, die als Ausnahmen von der Regel do-
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So Goethe zu Eckermann am 11. Oktober 1826. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Fritz Bergemann. Leipzig 1968. Zit. n. Härtl, »Wahlverwandtschaften« (wie Anm. 14), S. 1575. Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971. S. 219f. Hier zit. n. Ungern-Sternberg, Schriftsteller und literarischer Markt (wie Anm. 18), S. 181. Christoph Martin Wieland an Ludwig Friedrich August Wieland, Brief vom 9./16. August 1802. In: Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Band 16 (Juli 1802– Dezember 1805). Erster Teil: Text. Hg. von Siegfried Scheibe. Berlin: AkademieVerlag 1997, S. 24–32, hier S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Das konzediert Wieland anschließend selbst: »Zudem leben die beiden ersten nicht bloß von der Schriftstellerey, und der filius albae gallinae Kotzebue hat durch seine Frauen und von Kayser Pauls Freygebigkeit über 6000 reichsthaler jährliches Einkommen.« Ebd., S. 27. Vgl. Dirk Sangmeister: August Lafontaine oder Die Vergänglichkeit des Erfolges. Leben und Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung. Tübingen: Max Niemeyer 1998 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 6), S. 212. Sangmeister, August Lafontaine (wie Anm. 27), S. 231.
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kumentieren, daß eine Existenz »als freier, marktabhängiger Schriftsteller«29 an der Wende zum 19. Jahrhundert im Einzelfall möglich wurde.30 Wie Dirk Sangmeisters bemerkenswerte Studie zu Lafontaine – der im Gegensatz zu Kotzebue gar nicht so geschäftstüchtige Schriftsteller31 konnte ab 1800 seine Existenz von seiner literarischen Produktion bestreiten – belegt, geriet eine solche Karriere indes schon für die meisten der »mediokren Unterhaltungsautoren«32 zu einem Wagnis;33 für die Romantiker blieb sie schlicht unmöglich: »Der bei der Uraufführung ausgelachte Jon August Wilhelm Schlegels war eher dazu angetan, das verstörte Theaterpublikum in die Arme Kotzebues zurückzutreiben, als es zu gewinnen; die Aufführung des Alarcos von Friedrich Schlegel geriet trotz Goethes Anteilnahme zu einem rechten Trauerspiel, und die als Schlüsselroman gelesene und daher als skandalös oder schlicht wirr empfundene Lucinde [...] verschreckte ein Lesepublikum, das sich anschließend um so behaglicher bei der Lektüre des (vermeintlich) sittsamen Lafontaine fühlte«34, beschreibt Sangmeister die glücklosen Versuche der 29
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Ebd., S. 233. Kotzebue hätte von seinen Einkünften als freier Autor existieren können, zumal er sich stets als harter Verhandlungspartner seines Verlegers Paul Gotthelf Kummer erwies und »fürstliche Buchhonorare« bekam. Er bezog aber – darauf weist Wieland in der zitierten Briefstelle ebenfalls hin – auch diverse Pensionen und wurde »sein Leben lang von drei europäischen Mächten besoldet und begünstigt«. Vgl. ebd., S. 225–230, Zitate S. 227, 226. Die Grundlage des frei schaffenden Schriftstellers bildeten dabei die kommerziellen Leihbibliotheken, in denen Lafontaine eine »überragende Stellung« innehatte, wie Sangmeister (ebd., S. 276) darlegt. Auf der Basis von 27 Leihbibliothekskatalogen aus den Jahren von 1756 bis 1814 hat Sangmeister eine – trotz schmaler Datenbasis – interessante Rangliste der in diesem Zeitraum beliebtesten Autoren ermittelt: Spitzenreiter dieser Liste ist demnach Lafontaine vor Carl Gottlob Cramer und August von Kotzebue. Es folgen auf den Rängen vier bis zehn: Christoph Martin Wieland, Christian Heinrich Spieß, August Gottlieb Meißner, Gustav Schilling, August Wilhelm Iffland, Johann Gottwerth Müller und Jean Paul. Von den knapp 40 erhaltenen Briefen Lafontaines sind zwar die meisten an Verleger adressiert, Honorarforderungen aber werden nicht erhoben. Sangmeister folgert daraus, daß der »lucrativste[] Schriftsteller in ganz Deutschland« (so sein Verleger Johann Daniel Sander in einem Brief vom 7. Januar 1800) nicht versuchte, »seine Manuskripte so teuer wie möglich zu verkaufen.« Zudem hätte Lafontaine auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn mit der Publikation einer gut ausgestatteten Werkausgabe – die zudem auch seine bereits vergriffenen älteren Texte wieder zugänglich gemacht hätte – eine zusätzliche Einnahmequelle erschließen können. Diese Chance ließ er ebenso ungenutzt wie die Möglichkeit, der designierten Königin Luise, die zu seinem Leserkreis zählte, den 1797 erschienen Roman Saint Julien zu dedizieren und sich damit eventuell ein zusätzliches Salär zu verdienen. 1799 widmete er der Königin zwar dann den Herrmann Lange, insgesamt aber »zog es Lafontaine vor, dem Publikum zu schmeicheln und nicht den Königen.« Vgl. Sangmeister, August Lafontaine (wie Anm. 27), S. 211–223, Zitate S. 216, 221, 215. Ebd., S. 385. Vgl. hierzu die Beispiele Sangmeisters ebd., S. 211–233. Ebd., S. 385f.
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romantischen Generation, Breitenwirksamkeit zu erzielen. »Die (Kunst-) Literatur der (Früh-) Romantik war unverkäuflich, selbst die frühen Romane eines so talentierten Erzählers wie Ludwig Tieck waren solche Ladenhüter, daß Carl August Nicolai dessen sämtliche (Früh-) Werke im Oktober 1798 zum halben Preis und der Leipziger Verleger Sommer, der das Sortiment des zwischenzeitlich gestorbenen Nicolai aufgekauft hatte, im Herbst 1804 schließlich zu einem Drittel des ursprünglichen Preises verramschte.«35 Freilich war der professionelle Schriftsteller nicht das einzige Berufsmuster, das jungen romantischen Autoren der Jahrhundertwende versperrt blieb: »Das universitäre Bildungssystem hatte in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts eine Vielzahl von Studenten hervorgebracht, denen keine entsprechende Anzahl offener Positionen im Staatsdienst gegenüberstand«36, erläutert Bernhard Giesen jenen die Jahrhundertwende kennzeichnenden Karrierestau, der die romantischen Autoren mit einer ungewissen und wirtschaftlich nicht gesicherten Zukunft konfrontierte und sie in Stellungen zwang, »die keineswegs ihrer Selbsteinschätzung und ihrer Ambition entsprachen«37. So sah sich etwa auch August Wilhelm Schlegel – er sollte später als Bonner Universitätsprofessor eine »Zelebrität«38 darstellen, die in einem »mit verschwenderischem Luxus ausgestattete[n] Haus«39 lebte – gezwungen, von 1791 bis 1795 in Amsterdam eine Hofmeister-Stelle zu bekleiden.40 »Daß Deine Beschäftigungen Deinen Geist nicht erheben glaube ich wohl; erwäge indessen, daß dieß schwerlich irgend eine bürgerliche Beschäftigung thun wird«41, ermahnte ihn in diesem Zusammenhang sein jüngerer Bruder Friedrich, in dessen Briefen freilich die Klagen über den »gänzliche[n] Mangel des Geldes«42 ebenfalls einen »ständi35 36
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Ebd., S. 386. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 131. Vgl. hierzu auch Henri Brunschwig: Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität. Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1975, S. 247–268. Vgl. zu den Berufsfindungen der Romantiker auch: Richard van Dülmen: Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik. Band 1: Lebenswelten. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002, S. 112–126. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 133. Fritz J. Raddatz: Taubenherz und Geierschnabel. Heinrich Heine. Eine Biographie. Zürich: Pendo 1999 (Pendo Pocket; 21), S. 52. Ebd., S. 53. Vgl. Günter Peters: Das tägliche Brot der Literatur. Friedrich Schlegel und die Situation des Schriftstellers in der Frühromantik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 236f. Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel. Brief vom 26. August 1791. In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 23: Briefe von und an Friedrich Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule. 15. September 1788–15. Juli 1797. Hg. von Ernst Behler. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1987, S. 18–23, hier S. 18, Herv. i. O. Brief vom 28. August 1793. Ebd., S. 123–130, hier S. 126.
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gen Refrain«43 bildeten. Der jüngere Schlegel sah sich genötigt, »eine Fülle von kleineren Gelegenheitsarbeiten in Angriff [zu nehmen], welche die Ausführung wirklich großer Pläne immer wieder verhinderten«44. Nur so konnte er sich dem »Zugriff seiner Gläubiger [...] entziehen«45, wie Ernst Behler berichtet. Friedrich Schlegels Ideal, »frey zu leben«46, blieb unerfüllt.47 Die Liste der Autoren, die sich in eine soziale Randlage gedrängt sahen, ließe sich fortführen mit jenen Schriftstellern, die dem krisengeschüttelten Adelsstand entstammten, wie Ludwig Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff oder Heinrich von Kleist. Arnims »Arnimsarmut«48 war beinahe sprichwörtlich,49 Kleist trieben
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Ernst Behler: Friedrich Schlegel mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 (rowohlts monographien; 123), S. 27. Ebd. Ebd. Vgl. Friedrich Schlegels Brief vom 2. Juni 1793 an August Wilhelm Schlegel. In: F. Schlegel, Kritische Ausgabe XXIII (wie Anm. 41), S. 99–102, hier S. 100. Vgl. hierzu u. a. Peters, Das tägliche Brot (wie Anm. 40), und Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. München: C. H. Beck 1992 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 62. »Gott sei Danck wird die dir so spashafte uns so betrübte Arnims Armuth dadurch wenigstens [...] Etwas gemildert, aber Geld, Geld ist hier [in Berlin, M. P.] dennoch unter 20 p% keins zu haben« schreibt Clemens Brentano in einem Brief vom 13. März 1810 an Friedrich Carl von Savigny, in dem er über den Tod von Arnims Großmutter Caroline von Labes und die zu erwartende Erbschaft berichtet. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald u. a. Band 32: Briefe IV. 1808–1812. Hg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, S. 234–237, hier S. 235. Freilich erwies sich Brentanos optimistische Prognose als Fehleinschätzung, denn mit der Tilgung der Kredite der restlos verschuldeten Güter sollte »der in die Literatur entlaufene märkische Junkersproß« Arnim nie ganz fertig werden. Vgl. Klaus Günzel: Ein Jude fordert Genugtuung. Turbulenzen um ein Duell, das 1811 nicht stattfand. In: Das Duell. Der tödliche Kampf um die Ehre. Hg. von Uwe Schultz. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1996 (Insel-Taschenbuch; 1739), S. 170–183, hier S. 173f., Zitat S. 173. Signifikant ist in diesem Kontext ein Brief seines älteren Bruders Carl Otto von Arnim an Carl Friedrich von Savigny vom 5. Mai 1814, in dem der Ältere beklagt, daß sich Achim von Arnim zu wenig um den Publikumsgeschmack kümmere: »So lange man selbst reich genug ist, und das Dichten als Nebensache betrachtet, kann man thuen, was man will, und schreiben was man will. Wird es nicht gelesen, so sagt man sich, die Menschen verstehn es nicht, sie sind es nicht wehrt. Wird es aber Ernährungszweig, dann muß man dem Geschmakke der andern nachgeben.« In: Heinz Härtl: Zwischen Tilsit und Tauroggen. Briefe Achim von Arnims an seinen Bruder Carl Otto von Arnim 1807–1812. Mit einem Briefwechsel Achim von Arnims und Wilhelm von Humboldts als Anhang. In: Impulse 6 (1983), S. 325.
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unter anderem auch seine materiellen Nöte 1811 in den Freitod,50 und Eichendorff hatte ebenfalls lange unter einer »finanziell prekäre[n] Situation«51 zu leiden. »Wie kann man Künstlerzwecke sich vorsetzen, wenn ängstliche Brodtsorge alle Zeit wegnimmt«52, klagte Friedrich von Hardenberg, der in jeder bürgerlichen Beschäftigung »etwas krebsartiges«53 erkannte; letztlich fügte er sich den finanziellen Zwängen als Bergassessor bei der kursächsischen Salinen-Direktion und verlegte das Schreiben auf die Nebenstunden.54 Der eingangs geschilderte unorthodoxe Vorlesungseinstieg von Görres wiederum besaß ebenfalls nicht zuletzt auch einen monetären Hintergrund, wurde die Heidelberger Universität doch von den gut besoldeten Juristen dominiert; Philosophen und Theologen indes hatten nach Wolfgang Frühwald nur »Verdienstchancen [...], wenn es ihnen gelang, mit einem Sensation und Interesse weckenden Kolleg in den Arbeitsalltag der paukenden Studenten einzubrechen«55. Nur wenige der romantischen Autoren vermochten es, die bürgerliche Karriere mit der als Berufung empfundenen schriftstellerischen Existenz in Einklang zu bringen, wie etwa mit Abstrichen Hardenberg;56 nur wenige waren – wie der aus einer reichen Frankfurter Kaufmannsfamilie stammende Clemens 50
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Vgl. Peter Staengle: Heinrich von Kleist. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (dtv portrait), S. 144–146 sowie Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam 2002 (Reclams Universal-Bibliothek; 17635), S. 116–122. Hermann Korte: Joseph von Eichendorff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000 (rowohlts monographien; 50568), S. 69. Vgl. auch ebd., S. 34f. Eichendorffs Vater »war es gelungen, in kürzester Zeit ein Vermögen zu den geerbten und erheirateten Gütern hinzuzugewinnen und es in groß angelegten Spekulationen wieder zu verlieren«, schreibt Frühwald, Der Regierungsrat Eichendorff (wie Anm. 1), S. 38. Vgl. auch Wolfgang Frühwald: »Schlesische Toleranz« und »preußische Reform«. Sozialgeschichtliche Grundlagen einer Jugendbiographie Joseph von Eichendorffs. In: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Hg. von Gerhard Hahn und Ernst Weber. Regensburg: Pustet 1994, S. 12–14 und Alfred Riemen: Adelsleben und Zeitgeschehen. Beobachtungen Eichendorffs zur napoleonischen Zeit. In: Aurora 58 (1998), S. 71f. Novalis an Christian Friedrich Bachmann. Brief vom 21. Februar 1796. In: Novalis: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Hg. von Richard Samuel. Lizenzausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 583f., hier S. 583. Ebd., S. 584. Vgl. hierzu Ulrich Stadler: Friedrich von Hardenberg/Novalis. Ein Autor, der mehr sein möchte als bloß Poet. In: Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992 (Fischer-Taschenbücher; 10722), S. 135–150; zu Novalis’ Geldsorgen auch Gerhard Schulz: Novalis. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. 13. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996 (rowohlts monographien; 154), S. 37f. Frühwald, Der Regierungsrat Eichendorff (wie Anm. 1), S. 39f. Vgl. Peters, Das tägliche Brot (wie Anm. 40), S. 255f.
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Brentano57 – materieller Sorgen weitgehend enthoben. Für die anderen galt, daß das, »[w]as als allgemeine Bildung den subjektiven Anspruch, die ästhetisch-kulturelle und moralisch-politische Sensibilität formte«58, mit einer »stagnierenden Lebenspraxis«59 kollidieren mußte.60
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Freundeskreise in »sezessionistischer Absicht«
Die durch den Mißerfolg auf dem literarischen Markt und die materiellen Sorgen bedingte gesellschaftliche Isolation – »ich stehe einzeln, gleichsam ausserhalb der Welt«61, schrieb Friedrich Schlegel seinem Bruder August Wilhelm – führte die Romantiker, wie Wolfgang Heise und Bernhard Giesen überzeugend darlegen, auf den Weg in die Innerlichkeit des Subjekts: »Man steigerte die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, und verlagerte das Leben in den inneren Raum der Empfindsamkeit. [...] Man verschob das eigentliche und wirkliche Leben an den Ort, an dem man gerade nicht war, und aus der Gegenwart in eine ferne Vergangenheit oder die Zukunft. Sehnsucht, die sich über das Endliche und Beschränkte hinausrichtete, wurde zum Grundmotiv der literarischen Epoche [...].«62 Doch obgleich die »Aktionsimpulse [...] nur das Spiel der inneren Möglichkeiten«63 fanden, so bot doch die Kultur der romantischen Geselligkeit, die sich in dem Schlegel-Kreis der Jenaer Frühromantik ebenso entfaltete wie später etwa auch in der »romantische[n] Freundschaft überhaupt«64 zwischen Arnim und Brentano, die Option, die fehlende gesellschaftliche Integration durch das Gruppengefühl der Gleichgesinnten zu kompensieren. Auf diese Weise avancierte, wie Heise anmerkt, »vor allem die intime persönliche Beziehung [...], der personale Zusammenhalt von Ich und Ich im bergenden 57
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»Allein die Zinsen seines in Frankfurt verwalteten Erbteils«, so Hartwig Schultz, »erlaubten ihm sein Leben lang eine bescheidene, aber unabhängige Existenz ohne den Zwang, durch Publikationen Geld zu verdienen.« Hartwig Schultz: Clemens Brentano. Stuttgart: Reclam 1999 (Reclams Universal-Bibliothek; 17614), S. 16. Wolfgang Heise: Weltanschauliche Aspekte der Frühromantik. In: Weimarer Beiträge 24 (1978), H. 4, S. 40. Ebd. Vgl. auch Karl-Georg Faber: Zur Machttheorie der politischen Romantik und der Restauration. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 59f. Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, Brief vom 28. August 1793. In: F. Schlegel, Kritische Ausgabe XXIII (wie Anm. 41), S. 123–130, hier S. 127. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 134f. Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 40. Holger Schwinn: Kommunikationsmedium Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano in den Jahren 1801 bis 1816. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften; 1635), S. 23.
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Wir«65, zum Maßstab, an dem die gesellschaftliche Wirklichkeit gemessen wurde. »Angesichts einer als ›feindlich‹ erfahrenen Umwelt rückte die Freundschaft ins Zentrum romantischen Empfindens«66, bilanziert Hans-Jürgen Heiner das Phänomen der romantischen Geselligkeitskultur, das freilich auch die offensive Abgrenzung sowohl von den Zwängen und Begrenzungen des bürgerlichen Erwerbslebens als auch von der Konkurrenz auf dem literarischen Markt – nämlich den kommerziell erfolgreichen Autoren der Spätaufklärung und den »Kulturheroen« 67 des Weimarer Klassizismus‹68 – implizierte. 65 66 67 68
Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 41. Hans-Joachim Heiner: Das Ganzheitsdenken Friedrich Schlegels. Wissenssoziologische Deutung einer Denkform. Stuttgart: J. B. Metzler 1971, S. 100. Giesen, Kollektive Identität (wie Anm. 9), S. 176. »Der Terminus ›deutsche Klassik‹ ist in allen historischen Kontexten zutiefst problematisch«, schreibt Hans-Georg Werner [Hans-Georg Werner: Literarische »Klassik« in Deutschland. Thesen zum Gebrauch eines Terminus. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 359], und unter Berücksichtigung der politischen Instrumentalisierung des »Klassik«-Begriffes wird er hier – von Zitaten aus der Forschung abgesehen – bewußt nicht verwendet. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Klaus L. Berghahn: Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 19. Jahrhundert. In: Die Klassik-Legende. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt a. M.: Athenäum 1971 (Schriften zur Literatur; 18), S. 50–78. Berghahn hat die Genese des »literar-historische[n] Epochenbegriff[es] ›deutsche Klassik‹ [...] zwischen 1835 und 1883« (ebd., S. 75) aus einem »nationalen Wunschdenken« (S. 75) hergeleitet und als Produkt einer »politisierende[n] Literaturgeschichtsschreibung« (S. 75) interpretiert, die mit Georg Gottfried Gervinus einsetzt, dessen Konzept Berghahn wie folgt nachzeichnet: »Die religiöse Erneuerung erfuhr durch Luther ihre Vollendung; die geistige durch Schiller und Goethe sowie die politische müssen sich im 19. Jahrhundert erfüllen: [...] Die Kunst hat ihre Zeit gehabt; sie hat sich in der Goethezeit erfüllt. Jetzt muß sich das Interesse des Geistes der Politik zuwenden.« (S. 61) Auf diese Weise interpretiert Gervinus in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835/42) den Tod Goethes als »Endpunkt der deutschen Literatur« (S. 60), wie Berghahn darlegt. Die Entwicklung der deutschen Nationalliteratur kulminiert in der »deutschen Klassik«, die als »höchste geistige Blüte der Nation« (S. 63) zu gelten hat und für die Zeitgenossen die »Verpflichtung« (S. 63) impliziert, »der geistigen Blütezeit eine nationale folgen zu lassen« (S. 63). Wenn im späten 19. Jahrhundert Schiller und »manchmal auch Goethe« (S. 71) zugejubelt wurde, so Berghahns Fazit, war eigentlich »das Deutschtum« (S. 71) gemeint, »das eben im Begriff war, sich unter Preußens Fahnen zu sammeln« (S. 71). Vgl. zu dieser Problematik neben den genannten Beiträgen von Berghahn und Werner auch: Wilfried Malsch: Die geistesgeschichtliche Legende der deutschen Klassik. In: Die Klassik-Legende. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt a. M.: Athenäum 1971 (Schriften zur Literatur; 18), S. 108–140; Claus Träger: Über Historizität und Normativität des KlassikBegriffs. In: Weimarer Beiträge 25 (1979), S. 5–20; Klaus L. Berghahn: Zur Einführung: Weimarer Klassik. Geschichte ihres Begriffs und ihrer Kritik. In: Am Beispiel Wilhelm Meister. Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Hg. von Klaus L. Berghahn und Beate Pinkerneil. Band 1: Darstellung. Königsstein/Taunus: Athenäum 1980 (Athenäum-Taschenbücher; 2159), S. 15–25; Wilhelm Voss-
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Mit Goethe und Schiller hatten die Romantiker immerhin gemeinsam, daß die beiden »Weimarer Dioskuren«69 gleichfalls mit dem »Rücken zum Publikum«70 (Klaus L. Berghahn) schrieben: »Die Literaturkritik der Weimarer Klassik verteidigt[e] [...] das höchste Niveau der Kunst gegenüber volkstümlichen Tendenzen und dem Publikumsgeschmack.«71 Das »Gewitter in Distichen«72, das die beiden Altmeister im sogenannten »Xenien«-Streit von 1797 über ihre unverständigen Zeitgenossen ergehen ließen, ist in diesem Kontext ebenso symptomatisch wie jene »scholastische[] Spitzfindigkeiten in dunkle[r]
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kamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München: Fink 1987 (Poetik und Hermeneutik; 12). S. 493–514; Klaus L. Berghahn: Weimarer Klassik und Jenaer Romantik = Europäische Romantik? In: Monatshefte 88 (1996), S. 480–488; Klaus Manger: »Klassik« als nationale Normierung? In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 265–291. Neben die politische Problematik tritt freilich noch eine literarhistorisch-ästhetische: Daß im Schatten der »zweigipflige[n] Monumentalität der Weimarer Klassik« [Berghahn,Von Weimar nach Versailles, S. 76] das Nachfolgende verblassen und als epigonal abqualifiziert werden mußte, ist die logische Konsequenz aus Gervinus’ teleologischer Deutung der Literaturgeschichte. Unter diesem Aspekt leidet m. E. auch die durchaus bemerkenswerte und in den Feuilletons zu Recht gepriesene »[K]urze Geschichte der deutschen Literatur« von Heinz Schlaffer, die überwunden geglaubte Muster der literarischen Wertung reanimiert, wenn sie den Repräsentanten der sieben Jahrzehnte nach Goethes Tod pauschal künstlerische Bedeutsamkeit abspricht und somit die in den 1960er und 1970er Jahren nur leidlich rehabilitierten Autoren des Jungen Deutschland und des Vormärz erneut als »lästige Gästige« [vgl. Wulf Wülfing: Lästige Gäste? Zur Rolle der Jungdeutschen in der Literaturgeschichte. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972), S. 130–148] aus der Literaturgeschichte vertreiben will. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien: Hanser 2002. Klaus L. Berghahn: Mit dem Rücken zum Publikum: Autonomie der Kunst und literarische Öffentlichkeit in der Weimarer Klassik. In: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen: Max Niemeyer 1990, S. 208. Ebd., S. 207. Vgl. auch die »Publikumsbeschimpfungen« bei Brentano: Hannelore Schlaffer: Gitarre und Druckerei. Clemens Brentanos Schwierigkeiten beim Publizieren. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Band 7: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing – nur für Experten? Hg. von Klaus Grubmüller und Günter Hess. Tübingen: Max Niemeyer 1986, S. 51f. Berghahn, Mit dem Rücken zum Publikum (wie Anm. 69), S. 208. Berghahn und H.-G. Werner, Literarische »Klassik« (wie Anm. 68), S. 365 plädieren für den Terminus »Weimarer (Hof-) Klassik«, um dem Begriff der »deutschen Klassik« entgehen und gleichwohl die literarhistorische und ästhetische Eigenständigkeit des Kunstkonzeptes Goethes und Schillers konturieren zu können. Manger, »Klassik« als nationale Normierung (wie Anm. 68), S. 275.
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Schreibart«73, die nicht nur Friedrich Nicolai an Schillers Journal Die Horen zu kritisieren wußte.74 Schiller freilich wich vor der Kritik nicht zurück. Er wolle nun wissen, »ob das Publikum uns, oder wir das Publikum zwingen«75, schrieb er im März 1795 an den Verleger Johann Friedrich Cotta. Als diese »Kraftprobe«76 bereits entschieden war – die anspruchsvollen Horen hatten ihr Erscheinen 1797 nach zwei Jahren einstellen müssen – wurde Schiller noch deutlicher: »Das einzige Verhältniß gegen das Publicum, das einen nicht reuen kann«, so der verbitterte Autor in einem Brief an Goethe, »ist der Krieg«77. Diese demonstrative Abgrenzung von den Bedürfnissen der literarischen Öffentlichkeit war durchaus mit den frühromantischen Vorstellungen kompatibel; zudem verbietet es schon der »gemeinsame Quellgrund«78 der beiden literarischen Programmatiken – sowohl der Weimarer Klassizismus als auch die Romantik müssen als ästhetische Bewältigungsversuche einer »tiefge-
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Friedrich Nicolai: Anhang zu Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797. Berlin 1797, S. 11. Zit. n. Berghahn, Mit dem Rücken zum Publikum (wie Anm. 69), S. 219. Zur Kontroverse zwischen Nicolai und den Weimarern vgl. Klaus L. Berghahn: Maßlose Kritik. Friedrich Nicolai als Kritiker und Opfer der Weimarer Klassiker. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Band 2: Formen und Formgeschichten des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tübingen: Max Niemeyer 1986, S. 189–200. Friedrich Schiller an Johann Friedrich Cotta. Brief vom 2. März 1795. In: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider. Band 27: Briefwechsel. Schillers Briefe 1794–1795. Hg. von Günter Schulz. Weimar: Böhlau 1958, S. 154f., hier S. 155. Berghahn, Mit dem Rücken zum Publikum (wie Anm. 69), S. 219. Friedrich Schiller an Johann Wolfgang von Goethe. Brief vom 25. Juni 1799. In: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Hg. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Band 30: Schillers Briefe. 1. November 1798–31. Dezember 1800. Hg. von Lieselotte Blumenthal. Weimar: Böhlau 1961, S. 63f., hier S. 64. Vgl. zu Schillers Verhältnis zum Publikum Klaus H. Hilzinger: Autonomie und Markt. Friedrich Schiller und sein Publikum. In: Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992 (FischerTaschenbücher; 10722), S. 105–119. Josef Körner: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Berlin: Askanischer Verlag 1924, S. 7. Körner sieht diesen »Quellgrund« freilich eher literarhistorisch in der Bewegung des Sturm und Drang.
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henden Verunsicherung«79 in der Umbruchszeit zwischen 1750 und 1830 verstanden werden80 – einen Antagonismus zwischen diesen Lagern zu etablie79
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Peter Schnyder: Kontingenzpolitik. Das Glücksspiel als interdiskursives Element in der Politischen Romantik. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München: Fink 2003, S. 135. Die Autoren gehen vielfach darauf ein, daß sie sich in einem Zeitalter der Destabilisierung, des Umbruchs und Übergangs zu befinden glauben. »Heutzutage muß man mit dem Titel Traum doch nicht zu verschwenderisch sein – Es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden«, schreibt etwa Novalis an Friedrich Schlegel in einem Brief vom 1. August 1794. »Wer die letzten zwanzig Jahre gelebt hat, der hat für Jahrhunderte gelebt. [...] Das Zeitalter ist auf der Flucht und führt seine bedeutenden Bilder in einem so schnellen Wechsel vorbei, die Zeitgenossen aber sind die Staunenden und Gaffenden, welche unbeweglich stehen und anstaunen und nichts begreifen können«, heißt es im ersten Teil von Ernst Moritz Arndts Geist der Zeit (1806). Joseph Görres bringt 1811 die erfahrene Beschleunigung aller historischen Vorgänge auf den Punkt, als er schreibt, »die Zeit selbst fährt auf dem Rennwagen daher«. In Goethes Wahlverwandtschaften (1809) spricht der Protagonist Eduard davon, daß sich die Vorfahren an den Unterricht hielten, den sie in der Jugend empfangen hätten: »[W]ir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.« Henrik Steffens konstatiert 1819 eine »bewegte[] und gährende[] Zeit, die alle Elemente des Daseyns verworren unter einander wirft«. Wilhelm Grimm spricht in einem Brief an Arnim (20. Dezember 1830) von einer »merkwürdige[n] Zeit«: »Sie scheint bestimmt, was sich sonst in sechzig Jahren entwickelte, in sechs Monaten zusammenzudrängen.« Ganz ähnlich äußert sich 35 Jahre zuvor Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift Das achtzehnte Jahrhundert (1795): »[W]er auch nur mit flüchtiger Aufmerksamkeit den heutigen Zustand der Dinge mit dem vor funfzehn oder zwanzig Jahren vergleicht, der wird nicht läugnen, dass eine grössere Ungleichheit darin, als in dem doppelt so langen Zeitraum am Anfang des Jahrhunderts herrscht.« Novalis, Werke I (wie Anm. 52), S. 554–557, hier S. 556; Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Neunter Band: Geist der Zeit. Erster Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 49; Görres zit. n. Wolfgang Frühwald: Nachwort. In: Joseph Görres. Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald. Band 2. Freiburg/Breisgau 1978, S. 937; Goethe zit. n. Gerhard Schulz: Die Zeit fliegt heut entsetzlich. Der Erzähler Eichendorff in der Geschichte. In: Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposions, Akademie der Diözese RothenburgStuttgart. Hg. von Michael Kessler und Helmut Koopmann. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1989 (Stauffenburg-Colloquium; 9), S. 156; Henrik Steffens: Die gute Sache. Eine Aufforderung zu sagen, was wie sei, an alle, die es zu wissen meinen, veranlaßt durch des Verfassers letzte Begegnisse in Berlin. Leipzig: Brockhaus 1819, S. 25; Reinhold Steig und Herman Grimm: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Dritter Band: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig. Mit zwei Porträts. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 614– 619, hier S. 615; Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 376–505, hier S. 399. Vgl. bezüglich des Epochenbewußtseins: Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert
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ren.81 Auf der anderen Seite nivelliert die Rede von einer »klassischromantischen Literaturtheorie«82 die Tatsache, daß sicherlich nicht alle Differenzen zwischen beiden Gruppierungen nur dem »schematisierenden Ordnungsbedürfnis der Literarhistoriker«83 geschuldet sind.84 In poetologischer Hinsicht etwa konnte vor dem Konzept der »absoluten Poesie«, wie es von Friedrich Schlegel und Novalis zur Zeit der Jahrhundertwende ausgearbeitet wurde, »kein Autor des 18. Jahrhunderts, auch Goethe nicht«85, bestehen. Die durch das Athenaeum gleichwohl propagierte Vorbildhaftigkeit des Wilhelm Meister bestand nach Heinz Härtl »nicht zuletzt darin, daß durch die Anknüpfung an ihn eine unendliche Progression künstlerischen Schaffens möglich schien, die zur Überbietung des Vorbilds führen konnte und führen sollte«86.
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als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München: Fink 1987 (Poetik und Hermeneutik; 12), S. 269–282; Gerhard Schulz: Die Zeit fliegt heut entsetzlich. Der Erzähler Eichendorff in der Geschichte. In: Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposions, Akademie der Diözese Rothenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Helmut Koopmann. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1989 (Stauffenburg-Colloquium; 9), S. 155–170; Alexander Kosenina: Von »des Jahrhundert ernstem Ende, / Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird«. Literarische Reflexionen der Jahrhundertwende 1800. In: Zeitschrift für Germanistik X (2000), S. 61–76; Christine Lubkoll, Günter Oesterle und Stephanie Waldow: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Einleitung. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Stiftung für Romantikforschung; 12), S. 10f.; Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004 (Einführungen Germanistik), S. 17–20. In seiner Studie über Kotzebue weist Frithjof Stock darauf hin, daß gerade Goethes enge Verbindung mit den Romantikern den Unmut der Spätaufklärung und namentlich Kotzebues auslöste. Vgl. Frithjof Stock: Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit. Polemik – Kritik – Publikum. Düsseldorf: Bertelsmann-Universitätsverlag 1971 (Literatur in der Gesellschaft; 1), S. 55–58. Karl Robert Mandelkow: Kunst- und Literaturtheorie der Klassik und Romantik. In: Europäische Romantik I. Hg. von Karl Robert Mandelkow. Wiesbaden: Athenaion 1982 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft; 14), S. 49–82. Stock, Kotzebue (wie Anm. 81), S. 57f. Mit polemischem Gestus insistiert Peter Hacks auf einer Trennlinie zwischen Klassizismus und Romantik: »Noch drolliger als der Begriff Goethezeit ist die Wendung ›klassisch-romantische Epoche‹, die etwa gebildet ist wie: das Bockshirschgehege oder die Holzeisenkultur.« Peter Hacks: Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 86. Behler, Frühromantik (wie Anm. 4), S. 51. Heinz Härtl: »Athenaeum«-Polemiken. In: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von HansDietrich Dahnke und Bernd Leistner. Band 2. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1989, S. 260. Daß die frühromantische Dichtung die Trennung von Kunst und Leben auf-
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Neben diesen poetologischen Aspekten trübten bekanntlich persönliche Animositäten das Verhältnis zwischen beiden Gruppen: Der im Kulturbetrieb nicht unumstrittene, aber arrivierte Friedrich Schiller hatte den Ehrgeiz des jungen Friedrich Schlegel ausgebremst, indem er dessen Intention, in Zeitschriften wie der Neuen Thalia und den Horen zu veröffentlichen, nicht entgegengekommen war87, was eine boshafte Rezension von Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796 durch Schlegel und eine dauerhafte Entzweiung beider Autoren nach sich zog. Daß im Athenaeum Goethe in eine Sonderrolle innerhalb der deutschen Literatur gedrängt und somit implizit deutlich von seinem unerwähnt gebliebenen Mitstreiter Schiller separiert wurde, kann getrost als Versuch der Romantiker gewertet werden, »einen Keil«88 zwischen beide zu treiben.89 Während die Abgrenzung zu Goethe und Schiller also als widerspruchsvoller Prozeß begriffen werden muß, erlaubte es die Denunziation der »Aufklärung«90, zwei zentrale Feindbilder der Romantik zugleich zu treffen: Nämlich
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heben und die »Demarkationslinien« zwischen Reflexion und Poesie, zwischen »Primär- und Sekundärprozeß« kassieren will, trennt sie nach Jochen Hörisch von Goethe: »Bei aller konstruktiven und reflexiven Virtuosität verrätselt Goethe doch [...] seine klassischen Werke und seine Prosa zumal. Goethes Texte blenden die reflexiven und konstruktiven Grundlagen souverän aus, auf denen sie beruhen.« Novalis berühmtes »Überbietungspostulat« – »Göthe wird und muß übertroffen werden« – muß Hörisch zufolge nicht als »Oppositions- oder Alternativentwurf« verstanden werden; es geht den Romantikern vielmehr darum, den von Goethe eingeschlagenen Weg noch entschiedener fortzuschreiten.Vgl. Jochen Hörisch: Die andere Goethezeit. Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800. München: Fink 1992, S. 191– 199, hier S. 194. Zum Verhältnis Goethe/Novalis grundlegend Hans-Joachim Mähl: Goethes Urteil über Novalis. Ein Beitrag zur Geschichte der Kritik an der deutschen Romantik. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1967), S. 130–270. Vgl. Pikulik, Frühromantik (wie Anm. 47), S. 69f. sowie ausführlich noch immer Körner, Romantiker und Klassiker (wie Anm. 78), S. 137–165. Manger, Klassik als nationale Normierung (wie Anm. 68), S. 275. Heinz Härtl sieht in der Nichterwähnung Schillers eine »beispiellose Ranküne, die dem literaturpolitischen Kalkül entsprang«. Vgl. Härtl, »Athenaeum«-Polemiken (wie Anm. 86), S. 255–261, hier S. 260. Daß die divergierenden Strömungen innerhalb der Spätaufklärung durch die pauschale Verwendungsweise des Begriffs geflissentlich nivelliert werden, ist keinesfalls nur durch die Forschung verschuldet worden, die die Dichotomie Aufklärung/Romantik weiter tradierte. Die Frühromantik konstruierte sich vielmehr ein Bild der Aufklärung, »das nicht einmal für die namentlich immer wieder gekennzeichneten Protagonisten zutreffend war«, wie Wolfgang Frühwald konstatiert. Vgl. Wolfgang Frühwald: Der Zwang zur Verständlichkeit. August Wilhelm Schlegels Begründung romantischer Esoterik aus der Kritik rationalistischer Poetologie. In: Die literarische Frühromantik. Hg. von Silvio Vietta. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1983 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1488), S. 139 und – zu den unterschiedlichen Tendenzen der Spätaufklärung – Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte. Stuttgart: Reclam 1999 (Reclams Universal-Bibliothek; 17616), S. 214–248.
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den in der bürgerlichen Berufspraxis reüssierenden »Philister«91 und den in kommerzieller oder reputativer Hinsicht erfolgreicheren literarischen Rivalen. Ihre Ablehnung bildete denn auch »[d]as stärkste gemeinsame Band des Schlegelkreises«92, wie Heiner schreibt. Auf die Notwendigkeit dieser Abgrenzung zur Definition des eigenen Anspruchs verweist Wolfgang Frühwald, dem es »gelegentlich fast so [scheint], als hätte sich – schon in der Frühromantik – der romantische Zirkel [...] die Gegner selbst geschaffen, um eine Folie zu haben, von der sie sich als die literarische und kunsttheoretische Moderne ablösen und [vor der] sie das Eigene polemisch oder satirisch begründen konnte«93. Dem »bösen Prinzip«94 in der Literatur, das Friedrich Schlegel in Auto91
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Zum Begriff des »Philisters« vgl. Ulla Hofstaetter: »Das verschimmelte Philisterland.« Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine. In: Romantik im Vormärz. Hg. von Burghard Dedner und Ulla Hofstaetter. Marburg: Hitzeroth 1992 (Marburger Studien zur Literatur; 4), S. 107: »Der Begriff [...] wurde in Anspielung an die Philister der Bibel [...] von den Studenten des 17. Jahrhunderts für ihre Feinde, die spießetragenden Soldaten der Bürgerwehr und Nachtwächter, übernommen. In der Folge bezeichnete das Wort Philister zunächst allgemein Nichtstudenten, dann zunehmend den geistig beschränkten, unmusischen Menschen, den engherzigen, kleinlichen Spießbürger. Seit der Zeit des jungen Goethe findet sich der Philister auch in der Literatur, und er wird dann besonders bei den Romantikern zu einer unermüdlich bekämpften Figur.« Auch Dieter Arendt, der in seiner Studie die weitere Entwicklung dieses »Modeschimpfwort[es]« nachzeichnet, begreift den Philister als »eine typisch romantische Spottgeburt, denn in keiner Epoche hat sich der geistige, der kreative, der künstlerische Mensch so entschieden abgegrenzt vom automatisch und monoton funktionierenden Mitläufer [...].« Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation. In: Orbis Litterarum 55 (2000), S. 83 und 89. Vgl. zudem die Kontroverse zwischen Alexander von Bormann und Alfred Riemen aus den frühen 1970er Jahren. Während Bormann auf die Verbindung des Philistermotivs mit dem romantischen Antikapitalismus verweist, will Riemen den Begriff weniger sozialpolitisch als anthropologisch verstanden wissen: Alexander von Bormann: Philister und Taugenichts. Zur Tragweite des romantischen Antikapitalismus. In: Aurora 30/31 (1970/71), S. 94–112; Alfred Riemen: Die reaktionären Revolutionäre? oder Romantischer Antikapitalismus? In: Aurora 33 (1973), S. 73–86. Heiner, Das Ganzheitsdenken (wie Anm. 66), S. 101. Frühwald, Zwang zur Verständlichkeit (wie Anm. 90), S. 134. Auch Inge Hoffmann-Axthelm sieht in dem frühromantischen Zirkel vornehmlich ein »Defensivbündnis«. Vgl. Inge Hoffmann-Axthelm: »Geisterfamilie«. Studien zur Geselligkeit der Frühromantik. Frankfurt a. M. 1973 (Studien zur Germanistik), vor allem S. 195–207, hier S. 203. Grundlegend zu den romantischen Gruppen: Clemens Heselhaus: Die romantische Gruppe in Deutschland. In: Ernst Behler, Heinrich Fauteck, Clemens Heselhaus u. a.: Die europäische Romantik. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, S. 44–162. So in einem Brief Friedrich Schlegels an Caroline Schlegel vom 20. Oktober 1798. In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 24: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums. 25. Juli 1797–Ende August 1799. Hg. von Raymond Immerwahr. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1985, S. 184–186, hier S. 185.
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ren wie dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß oder der »literarischen Großmacht«95 (Heinz Härtl) Christoph Martin Wieland zu erkennen glaubte, wurde jedenfalls sehr offen der »Belagerungsstand«96 erklärt: »In einer seiner infamsten Äußerungen ging Friedrich Schlegel so weit, in Erwägung zu ziehen, ›Wielands litterarischen Tod zu einem Punkt des Contracts‹ mit dem Verleger [des Athenaeum, M. P.] zu machen«97, wie Heinz Härtl berichtet. Die polemische Exekution sollte August Wilhelm Schlegel übernehmen, der aber anstelle des greisen Wieland eine andere Größe des Literaturbetriebes ins Visier nahm: Der »Lieblingsschriftsteller des deutschen Volkes«98, August Heinrich Lafontaine, wurde im ersten Stück des Athenaeum das Opfer einer »fulminanten Kritik«99, die »genauem Kalkül und langer Planung«100 entsprungen war.101 Daß Schlegels Invektiven »vielfach überzogen«102 und bisweilen »unangemessen oder sogar falsch«103 waren, hat Dirk Sangmeisters Analyse der Rezension gezeigt.104 Wichtiger für unsere Belange ist die offene Kampfansage, 95 96
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Härtl, »Athenaeum«-Polemiken (wie Anm. 86), S. 272. F. Schlegel, Kritische Ausgabe XXIV (wie Anm. 94), S. 185: »Ihr Dichten und Trachten [gemeint sind Voß und Wieland, M. P.] scheint mir nicht etwa nur unbedeutend und weniger gut, sondern ihre Poesie ist absolut negativ [...]. Sie hat gar keinen Werth, sondern wirklichen Unwerth, und muß also in Belagerungsstand erklärt werden.« Härtl, »Athenaeum«-Polemiken (wie Anm. 86), S. 271. Vgl. den Brief vom 22. Dezember 1798 an Caroline und August Wilhelm Schlegel. In: F. Schlegel, Kritische Ausgabe XXIV (wie Anm. 94), S. 217f., hier S. 218: »Artig wäre es, Wielands litter.[arischen] Tod zu einem Punkt des Contracts zu machen.« Der Verleger Johann Friedrich Vieweg hatte von August Wilhelm Schlegels geplanter »Waffenrüstung« gegen Wieland gehört und sich davon einen verkaufsfördernden Effekt für das Athenaeum versprochen. Sangmeister, August Lafontaine (wie Anm. 27), S. 375. Ebd. Ebd. Vgl. August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Band XII: Vermischte und kritische Schriften. Sechster Band. ND der Ausgabe 1846/47. Hildesheim, New York: Olms 1971, S. 11–27. Ein Teilabdruck der Rezension findet sich in: O Lust, allen alles zu sein. Deutsche Modelektüre um 1800. Hg. von Olaf Reincke. Köln: Röderberg 1989 (Röderberg-Taschenbuch; 176), S. 382–387. Sangmeister, August Lafontaine (wie Anm. 27), S. 376. Ebd., S. 378. Vgl. ebd., S. 375–381. Sangmeister kritisiert zu Recht, daß sich literaturgeschichtliche Darstellungen allzu affirmativ gegenüber den von Klassizismus und Romantik »entwickelten, im frühen 19. Jahrhundert durchgesetzten, von der Germanistik tradierten und bis heute gültigen ästhetischen Kriterien« verhalten: »Woher nehmen Literaturhistoriker die Legitimation, Hölderlin breiten Raum zuzugestehen, gleichzeitig aber die gesammelten Werke von Demme, Eberhard, Engel, Huber, Jünger, Kotzebue, Lafontaine, Langbein, Laun, Meißner, Meyern, Musäus, Rochlitz, Schilling, Schulz, Sintenis, Starke, Wall und Weber mehrheitlich zu ignorie-
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mit der die nachrückende Generation gegenüber den etablierten Größen des literarischen Lebens auftrat.105 Durch die Kultivierung von Feindbildern wie Wieland, Lafontaine oder Schiller konnte im Rahmen des frühromantischen Freundeskreises die faktische »soziale Außenseiterposition in ein Zeichen der Erwähltheit«106 umschlagen – man fühlte sich als »wahrhaft geweihete[r] Kreis«107, der Eindringlinge aggressiv abzuwehren wußte108 und der mit esote-
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ren? Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um eine (von vornherein verfehlte) Ehrenrettung von Romanen wie Pächter Martin, Hallo’s glücklicher Abend, Quinctius Heymeran von Flaming oder Guido von Sohnsdom, sondern lediglich darum, diesen Autoren und ihren Werken den Platz in der Geschichte der deutschen Literatur zuzuweisen, der ihnen aufgrund ihrer seinerzeitigen Gelesenheit im Publikum und Wertsschätzung von seiten der Kritik zusteht. Wer die Geschichte des deutschen Romans in der angeblichen Goethezeit schreiben will, muß das Korpus der oben aufgeführten Romane zur Kenntnis nehmen und in Beziehung setzen zu den Texten, die uns heute als zeitlose Meisterwerke der deutschen Literatur gelten. Der Stellenwert des Wilhelm Meister wird dadurch ja nicht gemindert, sondern gemehrt.« Ebd., S. 417. Signifikant ist in diesem Kontext auch das Argument, mit dem August Wilhelm Schlegel in seiner Allgemeine[n] Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur (1803) das Sonett vor seinen Kritikern verteidigt: »Und dann ist ein Sonett wenigstens ein kurzes Übel, und es ist eine von den vielen Vortrefflichkeiten dieser Dichtart, daß sie durchaus nur 14 schlechte Zeilen enthalten kann.« In: August Wilhelm Schlegel: Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters. Eine Auswahl aus den kritischen Schriften. Hg. von Franz Finke. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1994 (Reclams Universal-Bibliothek; 8898), S. 3–94, hier S. 16f. Heiner, Das Ganzheitsdenken (wie Anm. 66), S. 102. So Caroline an August Wilhelm Schlegel am 7./8. Mai 1798. In: Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Band 2. Hg. von Georg Waitz und Erich Schmidt. Leipzig: Reclam 1913, S. 120–127, hier S. 126: »Sollte man die zudringlichen Dilettanten und miserablen Wesen zulassen in der Hoffnung, einen wahrhaft geweiheten Kreis zu erweitern?« »[...] alle Ungehörigen, die sich unter die Genossen eingeschlichen haben, wieder zu entfernen«, definiert Friedrich Schlegel in seiner 140. Idee dementsprechend als eine der »wichtigsten Angelegenheiten des Bundes«. F. Schlegel, Kritische Ausgabe II (wie Anm. 3), S. 270. Wie das Beispiel Clemens Brentanos zeigt, konnte die Ablehnung des Schlegel-Kreises dabei auch Autoren treffen, die sich als Gleichgesinnte wähnten und die den Schlegels in der Gegnerschaft zu Traditionen der Spätaufklärung und des Weimarer Klassizismus in nichts nachstanden. »Die jungen Intellektuellen [...] nehmen Brentano nicht ganz ernst, als Angebrentano wird er verspottet, nachdem er sich in die Professorengattin Sophie Mereau verliebt hat«, beschreibt Hartwig Schultz die vergeblichen Integrationsversuche Brentanos in den Jenaer Kreis. Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano. Berlin: Berlin Verlag 2000, S. 52. Estelle Morgan: ›Angebrentano‹ in Berlin. In: German Life and Letters 28 (1974/75), S. 316 bezeichnet Brentanos Aufnahme in Jena als »rather cool«: »Tieck and the Schlegels laughed at his extravagances and did not appreciate his talents, though Brentano was devoted to Tieck.« Vgl. das entsprechende Brief-
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risch-anspruchsvollen Zeitschriftenprojekten eine dem Uneingeweihten kaum oder nicht zugängliche Diskussionskultur schuf. »Man wollte kein reales Publikum erziehen, sondern einem idealen Publikum sein Genie offenbaren«109, bemerkt Giesen. »Nun läßt sich aber nicht einsehen«110, schreibt August Wilhelm Schlegel in diesem Sinne, »warum die Poesie, der es gegeben ist, das Höchste im Menschen auszusprechen, sich irgend nach der Mittelmäßigkeit bequemen sollte, statt sich an die vortrefflichsten und von der Natur am reichsten begabten Geister zu wenden und die übrigen sorgen zu lassen, wie sie mit ihr fertig werden möchten.«111 Nach dem älteren Schlegel darf der Autor sich nicht aus wirkungsästhetischen Aspekten heraus zu Kompromissen verleiten lassen; er sollte vielmehr »Leser [...] voraussetzen dürfen, welche die Natur mit einem philosophischen Auge betrachtet haben oder mit dem klassischen Altertume vertraut sind. Was er an Ausdehnung seiner Wirkung verliert, könnte ihm leicht ihr Gewicht ersetzen«112. Dem Athenaeum wird folgerichtig aus der Retrospektive zugute gehalten, an der »Scheidung des Vortrefflichen und des Schlechten in der Kunst und Literatur«113 mitgewirkt zu haben.114 Die frühromantischen Kreise konstituierten sich in »durchaus sezessionistischer Absicht«115 (Harro Segeberg); die Schlegel-Brüder insistierten nicht auf
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zeugnis von Friedrich Schlegel: »Auch der junge Angebrentano ist dagewesen, um sich als Abgebrentano darzustellen. Er fiel mit einem unendlichen und unleidlichen Zutrauen über uns her, wurde aber dadurch der Veit und bald auch mir so fatal, daß ich ihn anfing mit einer gelinden Dosis Wahrheit zu behandeln, worauf er sich schleunig entfernte.« Brief an Tieck vom 22. August 1800. Zit. n. Morgan, S. 316. Vgl. zu Brentanos Verhältnis zur Frühromantik auch Hartwig Schultz: Von Jena nach Heidelberg. Die Entfaltung von Brentanos Poetik. In: Clemens Brentano. 1778–1842; zum 150. Todestag. Hg. von Hartwig Schultz. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1993, S. 11–30. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 138. So in seiner Schrift über Bürger aus dem Jahr 1800. In: A. W. Schlegel, Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (wie Anm. 105), S. 148–215, hier S. 157. Ebd., S. 157f. Ebd., S. 158; das »kuriose[] Lesegestrüpp«, als das sich Ludwig Tiecks Roman William Lovell (1796) darstellt, muß nach Wolfgang Rath als Herausforderung an den als »erweiterten Autor« verstandenen Leser begriffen werden, dem allenfalls noch eine »dunkle[] Aufklärung« angeboten wird. Vgl. Wolfgang Rath: Der Autor als Diagnostiker. Ludwig Tieck und die Epochenwende um 1800. In: Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Hg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wunderlich. Konstanz: Universitäts-Verlag 1992, S. 105–119, Zitate S. 115f. So Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz Literatur (1803). In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802–1829). Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1975, S. 3–16, hier S. 10. Zur Streitlust dieses Organs vgl. Härtl, »Atenaeum«-Polemiken (wie Anm. 86). Harro Segeberg: Nationalismus als Literatur. Literarisches Leben, nationale Tendenzen und Frühformen eines literarischen Nationalismus in Deutschland (1770– 1805). In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Ge-
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
den Leser, wie er war, sondern »wie er sein soll[te]«116. »Das wirkliche Publikum war [damit] ausgeschlossen, und erst in Distanz zu ihm konnte sich die romantische Geselligkeit entfalten.«117
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Kunst als Paradigma der Selbstverwirklichung
Die romantische Ironie avancierte zum zentralen Instrument, um diese Distanz zu kultivieren. »Wahres Leben ist nur außerhalb der allgemeinen Wahrheit möglich, und die behauptete und ausgesprochene Wahrheit ist als allgemeine immer schon falsch«118, skizziert Giesen das romantische Verfahren, sich mit einer als zusammenhanglos und unüberschaubar empfundenen Wirklichkeit »aus dem Abseits«119 heraus auseinanderzusetzen; die sichtbare Welt wird dabei der Lächerlichkeit preisgegeben und als banale Oberfläche denunziert, die es mit Novalis zu »romantisir[en]«120 gilt: »So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.«121 Dieser Sinn freilich entzieht sich einer begrifflichen oder systematischen Fixierung; das Ganze ist nicht nur für Hegel, sondern auch für die Romantiker »das Wahre«, doch in schroffer Abgrenzung zum Weimarer Klassizismus hält die jüngere Generation des Jenenser Freundeskreises das Fragment und den Widerspruch »für unüberbietbar«122: »[N]ur in der Andeutung, aus der schrägen, seitlichen Perspektive, in vielfältigen Einkreisungen kann man sich der letztlich fassungslosen und unaussprechlichen tieferen Wirklichkeit nähern.«123 Auf die Gefahr hin, »wegen eines gewissen
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schichte und Wirkung der Literatur. Karl Robert Mandelkow gewidmet. Hg. von Jörg Schönert und Harro Segeberg. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (Hamburger Beiträge zur Germanistik; 1), S. 302. So Friedrich Schlegel in den Lyceums-Fragmente[n]. Vgl. F. Schlegel, Kritische Ausgabe II (wie Anm. 3), S. 147–163, hier S. 161. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 138. Herv. i. O. Die demonstrative Abgrenzung vom Publikum darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die intensive Auseinandersetzung der Romantiker mit den – eigentlich nicht ebenbürtigen – Unterhaltungsautoren der Spätaufklärung doch auch als ein »Ringen um den Beifall« verstanden werden muß: »Kotzebue fand begeisterte Aufnahme oder zumindest waches Interesse in weiten Kreisen des Publikums, das die anderen [die Vertreter der später sog. ›hohen‹ Literatur, M. P.] für sich gewinnen wollten, selbst wenn sie mitunter vorgaben, es zu verachten.« Stock, Kotzebue (wie Anm. 81), S. 132. Vgl. zu dem Aspekt der Abgrenzung vom PhilisterPublikum auch Hans-Georg Werner: Der romantische Schriftsteller und sein Philister-Publikum. Zur Wirkungsfunktion von Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. In: Weimarer Beiträge 24 (1978), S. 87–114. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 140. Ebd. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 334. Ebd. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 141. Ebd.
I Das Konzept der »Nation« u. seine Attraktivität für die romantische Generation
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Scheins von Unvollendung um so eher [...] verkannt zu werden«124, muß die moderne Literatur – wie August Wilhelm Schlegel in seinen Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von 1806 zu bedenken gibt – einsehen, daß für sie das »griechische Ideal«125 der »natürliche[n] Harmonie«126 nicht mehr zugänglich ist: »Die Neueren [...] sind zum Bewußtsein der inneren Entzweiung gekommen, welche ein solches Ideal unmöglich macht«.127 Daraus resultiert der »unendliche Strebenscharakter«128, der in der romantischen Literaturtheorie als grundlegender Wesenszug literarischer Modernität erscheint, und darauf basiert auch jener Skeptizismus, der nach Friedrich Schlegel das »Resultat«129 sämtlicher poetologischer Überlegungen sein muß. »Unser Dasein ruhet auf dem Unbegreiflichen«130, heißt es programmatisch bei August Wilhelm Schlegel, »und die Poesie, die aus dessen Tiefen hervorgeht, kann dieses nicht rein auflösen wollen.«131 Freilich rutscht, wie Giesen pointiert formuliert, »[e]ine solche Kommunikation ohne Abschlußzwang und Bodenhaftung [...] leicht ins Unendliche, in eine Sehnsucht ohne Namen ab«132. Deshalb wird die tiefere Wirklichkeit, die sich hinter der profanen Oberfläche verbirgt, als transzendente Sphäre gedacht, in der die Gegensätze und Widersprüchlichkeiten der erfahrbaren Welt in einer umfassenden Einheit als versöhnt erscheinen. Die Aufgabe von Kunst und Literatur ist es, den »spannungsreichen Gegensatz«133 zwischen beiden Ebenen aufzuzeigen und sich um die Darstellung der eigentlich unfaßbaren transzendenten Sphäre zu bemühen. »Kunst sieht das Unendliche im Endlichen, das Außeralltägliche im Alltäglichen, zeigt Totalität durch das Fragmentarische und gibt damit einen Hinweis auf die umfassende und unfaßbare Einheit des Ganzen.«134 Dadurch aber, daß die künstlerische Kreativität auf den tieferen Sinn und das unaussprechliche Absolute zielt, wird sie für den Künstler auch zum »Paradigma der Selbstverwirklichung«135: »Die künstlerische Kreativität«, so 124
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August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Band V: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. ND Hildesheim, New York: Olms 1971, S. 17. Ebd. Ebd. Ebd. Behler, Frühromantik (wie Anm. 4), S. 124. So Friedrich Schlegel in seiner Schrift Über das Studium der Griechischen Poesie (1795–1797). In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 1: Studium des klassischen Altertums. Eingeleitet und hg. von Ernst Behler. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1979, S. 217–367, hier S. 222. A. W. Schlegel, Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (wie Anm. 105), S. 160. Ebd. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 141. Ebd., S. 143. Ebd. Ebd, S. 144.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
Giesen, »ist der Vorgang, in dem sich die äußerste Individualisierung des Bewußtseins vollzieht und das bloß Regelhafte und Wiederholbare der Verstandestätigkeit und des gesellschaftlichen Lebens überwunden werden.«136 Das dergestalt individualisierte Bewußtsein ist indes in seiner Radikalität nicht kommunizierbar: »Allen Außenstehenden teilt sich diese Individualität nur in der Wahrnehmung des Fremden, im Nicht-Verstehen-Können, mit.«137 Das Fazit, das der Kapellmeister und Komponist Joseph Berglinger in Wilhelm Heinrich Ludwig Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) zieht, ist in diesem Kontext symptomatisch, geriet der Musiker angesichts der Ignoranz des Hofes doch »auf die Idee, [daß] ein Künstler [...] nur für sich allein [sein müsse], zu seiner eignen Herzenserhebung und für einen oder ein paar Menschen, die ihn verstehen«138. Heise erkennt in seiner konzisen Analyse dieses Textes die Tragödie darin, daß die »Verwirklichung dieser ohnmächtigen entfremdeten Subjektivität im Reich der Kunst nicht die Produktivität des Einschlagens ins Lebensgewebe«139 gewinnt; »Wackenroder ging den Weg der Andacht zur Kunst und entdeckte dabei, daß die gesuchte Erhebung und Erlösung als ihr Gegenteil, als tragische Einsamkeit und Scheitern sich realisiert.«140 Die Vorstellung einer Subjektivität, die letztlich nicht mitteilbar ist, geriet freilich nicht nur in Widerspruch mit dem eben angeführten romantischen Geselligkeitsideal und den damit verbundenen poetologischen Konzepten141, 136
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Ebd.; bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die Ausführungen Heises im Zusammenhang seiner Analyse von Wackenroders Herzensergießungen: »Das sensibel verzweifelte Gemüt in einer ihm fremden abstoßenden Welt [...], das in der Kunst seine Befreiung, sein Eigentliches sucht und findet, entdeckt im Verhältnis der Kunst zu seiner Welt, zur prosaischen Wirklichkeit ein Analogon: Kunst ist Aktion und Darstellung eben dieses Leids des vereinzelten, sensitiven Individuums. Entfremdung wird in ihr nicht überwunden, sondern schmerzhaft bewußt, ja notwendig vertieft reproduziert.« Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 36. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 144. Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Nachwort von Richard Benz. Stuttgart: Reclam 1979 (Reclams Universal-Bibliothek; 7860), S. 120. Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 38. Ebd. Man denke insbesondere an die in den frühromantischen Zirkeln entworfenen Konzepte der »Sympoesie« und der »Symphilosophie«. Vgl. Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815. Erster bis vierter Teil. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 4/1), S. 98–116. Freilich weist Inge Hoffmann-Axthelm darauf hin, daß die Hypostasierung des Individuums diese Konzepte von vornherein untergrub, weil kein »Gruppenselbstverständnis« entwickelt wurde: »[D]ie Gruppe als solche in ihrem konkreten Eigenwert wird nicht reflektiert. Die Mitglieder verstehen sich jeweils ausschließlich als Individuen und nicht daneben auch als fungierende und reagierende Teile des Phänomens ›Gruppe‹ mit der ihm eigenen Dynamik.« Hoffmann-Axthelm, »Geisterfamilie« (wie Anm. 93), S. 199.
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sondern sie machte den einzelnen Autoren auch die »innere Gefährdung des Kunstproduzierens«142 bewußt. Eine launige Formulierung Dorothea Schlegels vermag diese Gefährdung nochmals zu illustrieren. »[D]ie Herren sind etwas toll«143, befand die Tochter Moses Mendelssohns, als sie 1799 nach Jena kam. »Tieck treibt die Religion wie Schiller das Schicksal. Hardenberg glaubt Tieck, ist ganz und gar seiner Meinung; ich will wetten [...] sie verstehen sich selbst nicht und einander nicht.«144 Ganz ähnlich formuliert es Caroline Pichler, die in ihren Erinnerungen auf das Athenaeum zu sprechen kommt und sich dabei die Frage stellt, »[w]as [...] denn die neue Schule nun eigentlich«145 gewollt habe: »Das, glaube ich, wußte Niemand, selbst die Kor[y]phäen derselben nicht.«146
4
Ganzheitliche Bezugssysteme
Wenn Friedrich Schlegel eine »Neue Mythologie« postuliert, so geht es ihm auch darum, diese Gefahr der allgemeinen Unverbindlichkeit zu bannen. »Aus dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich gethan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts«147, schreibt Schlegel in seiner Rede über die Mythologie (1800), in der er die Autoren auch anhält, weiterhin auf »die individuellste Weise«148 ihren Weg zu gehen und als »eigentliche[n] Werth«149 des Menschen seine »Originalität«150 proklamiert. Zugleich aber wird als Kor142 143
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Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 38. Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn und deren Söhne Johannes und Philipp Veit. Briefwechsel. Band 1. Hg. von Johann M. Raich. Mainz 1881. S. 20. Zit. n. Wolfgang Nehring: Wie europäisch ist Friedrich Schlegels Europa? In: Aurora 53 (1993), S. 89. Ebd. Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Zweiter Band. 1798 bis 1813. Wien: Pichler 1844, S. 237. Ebd.; signifikant ist in diesem Kontext auch die Einschätzung des Aufklärers Marcus Herz, der »überzeugt davon [war], daß Novalis [...] selber nicht begriff, was er drucken ließ.« Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. Aus dem Englischen übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. München: C. H. Beck 1994, S. 118f. Ich zitiere nach dem vorzüglich kommentierten Abdruck der Rede über die Mythologie in Adrian Hummels Textsammlung poetologischer Entwürfe der Romantik: Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. Rede über die Mythologie. In: »Da ist andere Zeit geworden...«. Eine Anthologie poetologischer Entwürfe der deutschen Romantik. Hg. von Adrian Hummel. München: Iudicium 1994 (Cursus; Texte und Studien zur deutschen Literatur; 8), S. 117–127, hier S. 117. Der Text findet sich freilich auch – in einer etwas weniger behutsam modernisierten Form – in F. Schlegel, Kritische Ausgabe II (wie Anm. 3), S. 311–322. Ebd., S. 126. Ebd. Ebd.
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relat zu dieser Originalität des einzelnen Menschen und des einzelnen Künstlers die Forderung nach einem neuen gemeinsamen Bezugssystem erhoben, denn die von Schlegel in Aussicht gestellte »Neue Mythologie« muß nach Ernst Behler »als eine zusammenhängende und für das Zeitalter verbindliche Weltanschauung«151 verstanden werden. »Das romantische Konzept der Entfaltung subjektiver Willkür sucht den Wiederanschluß an ein unveränderlich vorgegebenes metaphysisches Prinzip, in dessen Geborgenheit sich die artifiziell aus sich selbst heraus rekonstruierte Subjektivität, als ein am Ende ganz gewordenes, von moderner Entfremdung genesenes Element der göttlichen Ordnung, schließlich mit sich selbst versöhnen und so als ein von der ewigen Harmonie des Kosmos Getrenntes aufheben kann«152, schreibt Richard Herzinger. Er betont zugleich, daß die »spielerische Willkür romantischer Subjektivität«153 zwar als die »Antwort auf die Fragmentierung der Wahrnehmung von Wirklichkeit und der Erkenntnis von Wahrheit in der modernen Gesellschaft«154 gesehen werden muß, die tiefere Absicht dieser spielerischen Willkür »jedoch die Transzendierung des Fragmentarischen in die ahnende Erwartung einer neuen Offenbarung umfassenden Sinns«155 sei. Daß es – auch schon in der Frühromantik – um eine neue Offenbarung und um die »Überwindung [der] ›Atomisierung‹ des Ich-Bewußtseins«156 geht, ist – wie Herzinger zu Recht moniert – in der Forschung allzu oft übersehen worden; in dem Bemühen, die Romantik angesichts der Verdikte durch die materialistische Literaturwissenschaft der siebziger Jahre zu rehabilitieren, wurde immer wieder »die herausragende Bedeutung romantischen Denkens für die Entstehung moderner Subjektivität«157 betont und »eine freiheitlich orientierte Frühromantik gegen eine affirmativ-regressive spätere Romantik«158 ausgespielt. Weil Schlegel sich und seine Freunde als Produzenten der postulierten »Neuen Mythologie« annimmt und sein Konzept somit auf dem modernen Gedanken von der Produktivität des Subjekts basiert,159 verfügt es freilich auch über eine durchaus moderne Komponente; Peter Bürger verweist aber zu Recht auf zwei »antimoderne Pointe[n]« 160 der Überlegungen Schlegels: Zum 151 152
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Behler, Frühromantik (wie Anm. 4), S. 257. Richard Herzinger: Erlöste Moderne. Religiosität als politisches und ästhetisches Ordnungsprinzip in der Staatsutopie der politischen Romantik. In: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Hg. von Bettina Gruber und Gerhard Plumpe. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 117f. Ebd., S. 118. Ebd. Ebd. Ebd., S. 117. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117. »Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.« F. Schlegel, Rede über Mythologie (wie Anm. 147), S. 118. Peter Bürger: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 419), S. 40.
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einen kann die Annahme, daß »in einer Gesellschaft, die durch eine tendenziell zunehmende Arbeitsteilung geprägt ist, [...] kulturelle Einheit auf dem Wege über eine einheitliche Weltanschauung hergestellt werden«161 könnte, mit dem »modernen Prinzip der Autonomie menschlicher Vernunft«162 nicht vermittelt werden. Zum anderen ist die von Schlegel postulierte »Neue Mythologie« als ein der rationalen Diskussion enthobenes Bezugssystem nicht kritisierbar, was sie ebenfalls als unvereinbar mit der Aufklärungstradition erscheinen läßt. Dieser partiell »retrograde Charakter«163, der – wie Schlegels Konzept deutlich macht – auch schon das frühromantischen Denken kennzeichnet, wurde in der Forschung oftmals geflissentlich übersehen. Es muß daher in diesem Kontext noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die »Neue Mythologie« eben nicht nur der Kunst als neues Bezugssystem dienen soll, wie etwa Behler in seinen Ausführungen bisweilen suggeriert;164 Schlegel will diese Mythologie vielmehr im Rang einer gesamtgesellschaftlichen Sinngebungsinstanz, eines »ganzheitliche[n] Erklärungsmuster[s]«165, etablieren. »Das Programm der romantischen ›progressiven Universalpoesie‹, wie es Schlegel nennt, zielt von Anfang an auf die Herstellung einer neuen, ›organischen‹ gesellschaftlichen und geistigen Ordnung, vermittelt durch die Poesie«166, betont Herzinger, der sich damit dezidiert gegen Versuche der jüngeren Forschung wendet, das romantische Verfahren der Entgrenzung der Diskurse einzuebnen, um auf diese Weise »die ästhetische Utopie der Romantik von ihren vermeintlich reaktionären politischen Inhalten [...] trennen«167 zu können. Die politische Dimension der frühromantischen Entwürfe wird noch deutlicher in der Schrift Die Christenheit oder Europa (1799)168 von Novalis, in der die religiös geprägte Lebensweise des Mittelalters freilich »mit Blick auf die Zukunft«169 verherrlicht wird. Es geht Novalis in diesem Text »um die Wiederherstellung humaner zwischenmenschlicher Beziehungen«170; die Zerstörung dieser Beziehungen lastet er der neuzeitlichen Wissenschaft und dem beginnenden Kapitalismus an, ihre Restitution wird dem Einheit und Frieden stiftenden Band des christlichen Glaubens überantwortet. »[F]reche Ausbil161 162 163 164
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Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Heise, Weltanschauliche Aspekte (wie Anm. 58), S. 23. Ernst Behler beschreibt die Neue Mythologie zwar als »große Einheitssicht der Welt«, meint aber, daß Schlegel insbesondere »das Fehlen einer solchen gemeinsamen Basis aber hauptsächlich in bezug auf das poetische Schaffen« beklage und entpolitisiert so Schlegels Entwurf. Behler, Frühromantik (wie Anm. 4), S. 258, 257. [Hans-]Jochen Marquardt: »Vermittelnde Geschichte«. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Heinrich Müller. Stuttgart: Heinz 1993 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 276), S. 19. Herzinger, Erlöste Moderne (wie Anm. 152), S. 106. Ebd., S. 116. Vgl. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 732–750. Bürger, Zur Kritik (wie Anm. 160), S. 35. Ebd., S. 36.
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dungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns«171 haben in dem Gesellschaftsmodell Friedrich von Hardenbergs folglich keinen Platz; Novalis befürwortet die Maßnahmen des »weise[n] Oberhaupt[es] der Kirche«172 gegen »gefährliche[] Entdeckungen«173 im »Gebiete des Wissens«.174 Indem er innerhalb dieser »Vertilgungskriege«175 zwischen dem »gelehrte[n] und de[m] geistliche[n] Stand«176 klar Stellung bezieht, reproduziert Novalis freilich »genau den Typus von Denken [...], gegen den seine Polemik gerichtet ist«177, wie Peter Bürger hervorhebt. Die starre Oppositionsbeziehung zwischen Glauben und Wissen, die Hardenberg als Dekadenzsymptom einer depravierten Moderne begreift, bleibt auch für seinen Text konstitutiv, denn nach Novalis kann die Überwindung dieser Trennung nur über die Niederlage der im Aufklärungszeitalter »triumphirenden Gelehrsamkeit«178 erreicht werden – daß die »große Versöhnungszeit«179 notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden muß, wird in Die Christenheit oder Europa deshalb keineswegs verschwiegen und sollte als eines der »manifest reaktionäre[n] Momente«180 dieses Entwurfs zur Kenntnis genommen werden.181 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181
Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 733. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 740. Ebd. Bürger, Zur Kritik (wie Anm. 160), S. 36. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 740. Ebd., S. 745. Bürger, Zur Kritik (wie Anm. 160), S. 36. Diese Problematik übersieht Walter Falk, der Hardenbergs Text für die politische Gegenwart nutzbar machen möchte und Europapolitikern anrät, Novalis zu lesen: Werner Falk: Warum Europapolitiker Novalis lesen sollten. In: Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Hg. von Wulf Segebrecht. Würzburg: Ergon-Verlag 1999 (Literatura; 10), S. 227–232. »Europa ist dadurch es selbst geworden, daß seine Herrscher sich vor den Repräsentanten der göttlichen Gnade beugten« (S. 232), schreibt Falk, der für eine durch den europäischen Rat der Kirchen gebildete Ethik-Institution plädiert, die die »politische[] Selbstherrlichkeit« (ebd.) begrenzen soll. Falk konzediert zwar großzügig, daß »Politiker [...] gewiß nicht per se amoralische Menschen« (S. 227) seien, »aber in die Ursprungsbereiche des Ethischen erlangen sie« (ebd.) seiner Ansicht nach »nur ausnahmsweise Einblick« (ebd.). Diese Einblicke bleiben »Fachleute[n] für das spezifisch Geistige« (ebd.) vorbehalten, worunter Falk ganz offensichtlich ausschließlich christliche Theologen versteht. Nicht nur in der devoten Verbeugung vor den religiösen Würdenträgern, sondern auch in der Denunziation der Aufklärung geht Falk mit seinem Gewährsmann Novalis ohne Abstriche und erschreckend undifferenziert konform: »Eingedenk der entsetzlichen Auswirkungen der Fortschrittsmaschine« (S. 228), die Falk theoretisch von »so hervorragenden Denkern wie Kant, Hegel, Marx und Nietzsche« (ebd.) und »praktisch vor allem durch die Anführer der Französischen Revolution und Napoleon, dann im 20. Jahrhundert durch Lenin und Stalin, durch Hitler« (ebd.) vertreten
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Mythos und Nation
Sowohl in den Ausführungen Schlegels als auch in denjenigen Hardenbergs geht es darum, gesellschaftliche Pluralismen zugunsten einer »Assimilation an das Eine«182 zu nivellieren; bei Novalis ist in diesem Sinne von der »einzigen, ewigen, unaussprechlich glücklichen Gemeinde«183 die Rede, bei Schlegel von dem »geheimen Zusammenhang«184 und der »innre[n] Einheit des Zeitalters«185, die durch die Konstitution einer »Neuen Mythologie« erkennbar werde. Klaus Peter sieht den »spekulativen Anspruch« der Romantiker darin, daß sie das Kommen dieser »goldnen Zeit«186, in der die Welt nach dem Verlust der vermeintlich natürlichen und unbewußten Einheit des mittelalterlichen Lebens wieder als »harmonisches Ganzes«187 erscheint, als eine in der Logik der geschichtsphilosophischen Entwicklung liegende Gewißheit annehmen;188 insofern ist es unzulässig, die Entwürfe der beiden Frühromantiker ihrer politi-
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sieht, müsse man sich wieder mit Novalis auf »die religiöse Tradition des Christentums« (S. 230) besinnen. Der besagte europäische Rat der Kirchen, so Falks fromme Hoffnung, könne dafür sorgen, daß in Europa »nie das Opportune [...], sondern immer das Heilige, das Unverfügbare« (S. 232) als maßgeblich gelte. Vgl. Peter V. Zima: Einheit und Vielheit. Zwischen Romantik und Moderne. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 107–116. Zima legt dar, daß sowohl in Fichtes Reden an die deutsche Nation als auch in Novalis’ Die Christenheit oder Europa »das Andersartige entweder ausgegrenzt, assimiliert oder mit Bedauern zur Kenntnis genommen wird«. Die Tendenz dieser Texte, so Zima, geht dahin, »das Andere auf das Eine zurückzuführen und die Heterogenität als einen Mangel aufzufassen, den es zu überwinden gilt«. Ebd., S. 109. Auch Horst Meixner: Politische Aspekte der Frühromantik. In: Die literarische Frühromantik. Mit Beiträgen von Wolfgang Frühwald, Heinz Gockel u. a. Hg. von Silvio Vietta. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1983 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1488), S. 187–189 verteidigt die Rede nur vorsichtig. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 749. F. Schlegel, Rede über die Mythologie (wie Anm. 147), S. 120. Zum Topos des »goldenen Zeitalters« vgl. nach wie vor H[ans]-J[oachim ] Heiner: Das »Goldene Zeitalter« in der deutschen Romantik. Zur sozialpsychologischen Funktion eines Topos. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972), S. 206–233. F. Schlegel, Rede über die Mythologie (wie Anm. 147), S. 120. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 745 sowie F. Schlegel, Rede über die Mythologie (wie Anm. 147), S. 127. Klaus Peter: Der spekulative Anspruch. Die deutsche Romantik im Unterschied zur französischen und englischen. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1985), S. 117. Vgl. hierzu ebd., vor allem S. 116–121.
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schen Problematik zu entkleiden. Ihr hoher Abstraktionsgrad aber »katapultiert [sie] andererseits gleichsam aus der Realität heraus«189. So treibt etwa Friedrich Schlegel sein ambitiöses Programm mit der Vorstellung, die Poesie könne die »Neue Mythologie« als gesamtgesellschaftlichen Orientierungsrahmen konstruieren, unweigerlich in die Aporie, wie Wolfgang Müller-Funk zu Recht konstatiert: »Die Neue Mythologie [...] schafft sich künstlich wie von selbst durch die Kunst, der sie umgekehrt einen neuen Rahmen gibt.«190 Zudem erweist sich die Vorstellung, »daß die Kunst eine neue verbindliche gemeinschaftliche Ordnung etablieren könnte«191, schon bald als »illusorisch«192. Indes existierte bereits ein politisch tragfähigeres Konzept, das die Utopie der »Neuen Mythologie« mit neuem Inhalt füllen und das über die Kunst entsprechend vermittelt werden konnte: Die Idee der Nation. So brauchte denn auch August Wilhelm Schlegel – wie Hinrich C. Seeba konstatiert – hinsichtlich der »Neuen Mythologie« seines Bruders »in den Vorlesungen über Schöne Litteratur und Kunst (1803/04) nur noch das Stichwort ›Nationalmythologie‹ nachzureichen, damit sich ab 1806, als Napoleon das längst moribunde Heilige Römische Reich deutscher Nation tatsächlich beendete, eine ganze Generation auf die Suche – und Erfindung – nationaler Mythen machen konnte, um die angegriffene Identität zu rechtfertigen und zu kräftigen«193. Daß sich – ähnlich wie Schlegels »Mythologie«-Konzept – auch das religiös fundierte mittelalterliche Europa in der ästhetischen Verklärung des Novalis als kompatibel mit der nationalen Idee erweist, hat Lucjan Puchalski in einem zu Unrecht wenig beachteten Beitrag zum nationalen und europäischen Bewußtsein der polnischen und deutschen Romantiker trefflich herausgearbeitet: »Im mittelalterlichen Europa suchten die deutschen Romantiker eine Vorlage für ihre politische Vision der Ganzheit, die, ohne ihre ästhetische Herkunft ganz abstreiten zu können, die politische Lage des zersplitterten Landes reflek189
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Bürger, Zur Kritik (wie Anm. 160), S. 37. Vgl. dazu auch Jutta Osinski: Harmonie statt Anarchie? Zeitkritik in der katholischen Romantik. In: Aurora 54 (1994), S. 191f. Wolfgang Müller-Funk: »Sauget, Mütter und Weiber, das schöne Blut der Schlacht!« Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur, Mythos und Nation. In: Nationalismus und Romantik. Hg. von Wolfgang Müller-Funk und Franz Schuh. Wien: Turia und Kant 1999, S. 48. Ebd., S. 49. Ebd. Vgl. hierzu auch Klaus Peter: »Der spekulative Anspruch der [Geschichts-, M. P.]Philosophie belastet die Kunst hier freilich mit einem Gewicht, das in der Geschichte der Ästhetik einmalig sein dürfte.« Peter, Der spekulative Anspruch (wie Anm. 187), S. 121. Hinrich C. Seeba: Fabelhafte Einheit. Von deutschen Mythen und nationaler Identität. In: Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Hg. von Claudia Mayer-Iswandy. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994 (Stauffenburg-Colloquium; 32), S. 69.
I Das Konzept der »Nation« u. seine Attraktivität für die romantische Generation
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tierte«194 – vor diesem Hintergrund muß der Essay Hardenbergs auch als »Apologie der Idee der staatlichen Einheit«195 und mithin als »Auseinandersetzung mit der Misere der deutschen Kleinstaaterei«196 gelesen werden. Dieser nationale Hintergedanke der Europa-Idee wird explizit, wenn Novalis in »Deutschland [...] mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt«197 erblickt und er seinem »irdische[n] Vaterland«198 attestiert, »einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus[zugehen]«199. Das Konzept der »Nation«, das um 1800 durch die Diskurse der Aufklärung und die Entwicklungen in Frankreich bereits einen maßgeblichen Rang in den politischen Debatten eingenommen hatte, bot sich freilich nicht nur deshalb als Bezugssystem an, weil es gleichsam für jene »Realitätskontrolle«200 (Alexander von Bormann) sorgte, die »dem etwas überspannten Jenaer RomantikKonzept gewiß an[stand]«201; mit ihm konnte vielmehr auch die Vorstellung einer absoluten, intersubjektiv nicht vermittelbaren Individualität mit dem Geselligkeitskonzept in Einklang gebracht und so die Gefahr der Isolation abgewehrt werden. Denn die romantische Individualitätsidee wurde auf das als Makroanthropos verstandene Kollektiv »Nation« übertragen, wie Bernhard Giesen erläutert: »Die Nation erschien so als ein kollektives Subjekt mit einer unnachahmlichen Individualität und Identität, und innerhalb dieses kollektiven Subjekts konnte sich Kommunikation durch Bezug auf diese Identität und Individualität vollziehen.«202 Das so gedachte »Kollektivsubjekt Nation« entzieht sich einer deskriptiven Analyse – es ist in seiner einzigartigen Individualität ebenso unbeschreiblich und unerklärbar wie das künstlerische Genie; überhaupt läßt sich, wie Giesen zeigt, das Selbstverständnis der Intellektuellen und ihre soziale Lage mit der Situation des gedachten »Deutschland« in erstaunlicher Weise parallelisieren, war doch in beiden Fällen der hohe Anspruch schwerlich mit der problematischen Realität in Einklang zu bringen: »Die zersplitterte und ohnmächtige Situation der deutschen Staaten von der eigentlichen und überzeitlichen Identität der deutschen Nation zu trennen[,] hieß gleichzeitig auch, die eigene Identität als Künstler vor der bedrückenden und beengten biographischen Lage zu 194
195 196 197 198 199 200
201 202
Lucjan Puchalski: Europäischer Patriotismus und nationales Bewußtsein. Zur Europa-Idee in der deutschen und polnischen Romantik. In: Arcadia 26 (1991), S. 168. Ebd. Ebd. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 744. Ebd., S. 734. Ebd., S. 744. Alexander von Bormann: Romantik. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. von Ulfert Ricklefs. Band 3: N-Z. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 1721. Ebd.; Herv. i. O. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 145. Herv. i. O.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
retten.«203 Giesen verweist an anderer Stelle noch auf weitere aufschlußreiche Parallelen zwischen nationaler und persönlicher Identität: »Auf ähnliche Weise, wie die Identität der Intellektuellen in ihrer Bildung und ihrer Distanz zur Welt des Geldes und der Macht gründete, ergab sich auch die Identität der Deutschen nicht aus den Besonderheiten wirtschaftlicher und politischer Interessen, sondern aus der Allgemeinheit von Kunst und Kultur.«204 Der Mythos von der natürlich gewordenen deutschen Kulturnation muß so auch als bewußter Affront gegen jenen Bereich der »verlarvte[n] Politik«205 (August Wilhelm Schlegel) gewertet werden, mit der man Frankreich und die Aufklärungsphilosophie identifizierte. Die Parallelisierung des eigenen, individuellen Schicksals mit dem der deutschen Nation ermöglichte es den Intellektuellen, jene »Auflösung der Wirklichkeit«206, die die romantische Ironie entscheidend forciert hatte, zu kompensieren. Der »romantische Nationencode [...] bietet Sicherheit und Selbstverständlichkeit in einer Welt, die gerade aus der romantischen Perspektive abgründig und unheimlich geworden war«207; er übernimmt damit also jene Aufgabe, die Friedrich Schlegel der »Neuen Mythologie« zugedacht hatte. Die Distanz, die die romantischen Intellektuellen zur Oberflächlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft aufgebaut hatten, konnte auf diese Weise durchaus aufrecht erhalten werden – Einheit und Identität fanden sie in der Konstruktion einer nationalen Zusammengehörigkeit. So kann Giesen der Nation bilanzierend die Funktion eines »externen Rückhalt[s]«208 für die »beim Blick in den Abgrund der eigenen Psyche«209 schwankenden Romantiker zusprechen: »[D]ie Nation – eine Erfindung der Intellektuellen, um ihr unruhiges Selbst zu beruhigen.«210
6
Vom Vorbild zum Feindbild: Der Bezug zu Frankreich
Forciert wurde die Entdeckung der nationalen Identität durch Erfahrungen in der Fremde, namentlich durch die Reise[n] nach Paris,211 die zahlreiche Schriftsteller der romantischen Generation um 1800 unternahmen. Joseph 203 204 205
206 207 208 209 210 211
Ebd., S. 146. Giesen, Kollektive Identittät (wie Anm. 9), S. 179f. August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe IV: Geschichte der romantischen Literatur. Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart: Kohlhammer 1965 (Sprache und Literatur; 20), S. 88. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 155. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. den gleichnamigen Essay Friedrich Schlegels (1803). In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 7: Studien zur Geschichte und Politik. Eingeleitet und hg. von Ernst Behler. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1966, S. 56–79.
I Das Konzept der »Nation« u. seine Attraktivität für die romantische Generation
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Görres, Ernst Moritz Arndt, Heinrich von Kleist, Dorothea und Friedrich Schlegel, Jacob Grimm, Friedrich Carl von Savigny, Achim von Arnim, Ludwig Uhland, Henrik Steffens und Clemens Brentano machten allesamt »einschlägige Pariserfahrungen«212, wie Ingrid Oesterle schreibt, und kaum einer bewertete den dortigen Aufenthalt positiv: »Skepsis und Distanz, ja zuweilen auch äußerste Erregung, wie bei Kleist, tiefer Abscheu, wie bei Görres, oder Spott und Ironie, wie bei Friedrich und Dorothea Schlegel, prägen [...] die Briefe der Romantiker aus der Metropole.«213 Die Bewunderung für die Franzosen, die es durch die revolutionäre Erhebung geschafft hatten, sich als geeinte Nation zu präsentieren, währte nur kurz.214 Gerade Friedrich Schlegel, der nach Aussagen des Bibliothekars Karl Benedict Hase »ohne Plan in der Stadt herum[irrte]«215, fühlte sich in Paris regelrecht deplaziert. »Auch die Menagerie hier ist sehr schön; besonders der Elephant hat mir viel Achtung und Theilnahme eingeflösst. Er ist unstreitig nächst mir derjenige welcher am wenigsten hier zu Hause gehört«216, schreibt er mit schlagender Selbstironie an seinen Bruder August Wilhelm Schlegel. Der jüngere der Schlegel-Brüder nimmt diese Fremdheitserfahrung indes nicht nur aus finanziellen Erwägungen217 in Kauf; Paris wird für den Romantiker vielmehr zum »Ausgangspunkt einer kulturellen Gegenoffensive«218: »[D]urch die bessere Kenntnis der französischen Kultur und ihrer Voraussetzungen soll ihre europäische Vorherrschaft und Vorbildhaftigkeit gebrochen werden«219, 212
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Ingrid Oesterle: Achim von Arnim und Paris. Zum Typus seiner Reise, Briefe und Theaterberichterstattung. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 46. Ebd. Rudolf Vierhaus: »Sie und nicht wir.« Deutsche Urteile über den Ausbruch der Französischen Revolution. In: Rudolf Vierhaus: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1987, S. 202–215 und S. 297–300. Karl Benedict Hase an Jacob Friedrich Fries, Brief vom 28. Dezember 1802. In: Jakob Friedrich Fries’ Briefwechsel. Hg. von Ludwig Theodor Henke. Berlin 1937, S. 303. Hier zit. n. Günter Oesterle: Friedrich Schlegel in Paris oder die romantische Gegenrevolution. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von GonthierLouis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 176, Fn. 35. Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, Brief vom 16. September 1802. Zit. n. Behler, Friedrich Schlegel (wie Anm. 43), S. 96. »Ich kann meinen Aufenthalt dort auf mannigfache Weise gleich zu Gelde machen«, schreibt Schlegel an Rahel Levin. Karl August Varnhagen von Ense: Galerie und Bildnisse aus Rahel’s Umgang und Briefwechsel. Erster Theil. Leipzig 1836. S. 231. Hier zit. n. Nehring, Wie europäisch (wie Anm. 143), S. 77. G. Oesterle, Schlegel in Paris (wie Anm. 215), S. 165. Ebd.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
erläutert Günter Oesterle die »polemische Intention«220 von Schlegels Pariser Aufenthalt. »[Z]iemlich null nach allen Seiten hin«221, lautet denn auch sein vernichtendes Urteil über den französischen Nationalcharakter: »[K]eine Fantasie, keine Kunst, keine Liebe, keine Religion«222. Dagegen erkennt der frühromantische Cheftheoretiker in der Fremde umso deutlicher die vermeintlichen Vorzüge »Deutschlands«, das er vor seiner Fahrt nach Paris ausgiebig bereist hatte und dessen landschaftliche Schönheit und historische Bedeutsamkeit er in dem Essay Reise nach Paris ausführlich würdigt. Daß sich die Schlegels in der französischen Hauptstadt regelrecht vor den Einheimischen abschotteten, ist die fast schon logische Konsequenz aus den besagten Positionen: »Wir leben fast unter lauter Deutschen, die man erst hier recht schätzen lernt, denn wie dumm die Franzosen sind, das ist unglaublich! Wenn man nichts mit ihnen zu tun hätte, so wäre es ein herrlicher Spass, sie zu sehen und zu hören«223, konstatiert Dorothea Schlegel in einem Brief an ihre Söhne. Schon vor den Schlegels hatte im Frühjahr 1798 Ernst Moritz Arndt seine Reise durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs angetreten; auch bei ihm, der sich auf dieser Reise aus Scham als Schwede ausgab, weil der Name eines Deutschen seiner Ansicht nach in Europa »stinkend« geworden war,224 trugen die Erfahrungen in der Fremde maßgeblich zur nationalen Emphase der späteren Jahre bei. Obschon Arndt über die Franzosen hier noch wesentlich moderater als in den Jahren der Okkupation urteilt225, so 220 221
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Ebd. Ungedruckte Briefe an Georg Andreas Reimer. In: Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart. Hg. von Georg Hirzel. 18 (1893), H. 4, S. 100. Zit. n. G. Oesterle, Schlegel in Paris (wie Anm. 215), S. 167. Ebd. Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn und deren Söhne Johannes und Philipp Veit. Briefwechsel. Band 1. Hg. von Johann M. Raich. Mainz 1881. S. 110. Zit. n. Nehring, Wie europäisch (wie Anm. 143), S. 83. So Harald Schmidt: Fremde Heimat. Die deutsche Provinzreise zwischen Spätaufklärung und nationaler Romantik und das Problem der kulturellen Variation: Friedrich Nicolai, Kaspar Riesbeck und Ernst Moritz Arndt. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hg. von Helmut Berding. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1154), S. 420, Anm. 79. Diesen Aspekt betont vor allem Jürgen Voss, der eine Zäsur in der Einstellung Arndts zu Frankreich in den Jahren 1806/07 diagnostiziert. Erst dann, so Voss, predige Arndt »massiven Hass gegen die Franzosen«. Vgl. Jürgen Voss: Ernst Moritz Arndt und die Französische Revolution. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germanique; 3), S. 227–238, Zitat S. 227. Voss scheint mir jedoch zu sehr von Brüchen in der Entwicklung des Autors auszugehen. Schließlich kommt Arndt bereits in der Reisebeschreibung auf die Bedeutung des Volksgeistes zu sprechen. »Man hat vergessen, daß es einen National- oder Volksgeist giebt, der
I Das Konzept der »Nation« u. seine Attraktivität für die romantische Generation
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zeichnet sich in seiner Reisedarstellung doch eine »ideologische Umstruktierung«226 ab; der aufklärerische Weltbürgersinn weicht dem neuen Ideologem der »patriotische[n] Deutschheit«227: »[...] Arndts Rhein-Romantisierung, seine Ästhetisierung einer bislang empiristisch erfaßten politischen Problematik, signalisiert, daß sich im Denken des Reisenden ein Wechsel der Bewertungsnormen vollzieht und der aufklärerische Soziologismus einem patriotischen Utopismus weicht«228, analysiert Hans-Georg Werner. Ein »Wechsel der Bewertungsnormen«229 ist auch im Fall von Joseph Görres zu konstatieren, der 1799 als Abgeordneter der Koblenzer Patrioten in offizieller Mission und als glühender Anhänger der Französischen Revolution nach Paris kommt; im Jahr darauf faßt er die Resultate meiner Sendung nach Paris in einer gleichnamigen Programmschrift zusammen,230 die die »Abkehr von seinem weltbürgerlichen Standpunkt«231 markiert, wie Marion Marquardt bemerkt. Görres konstatiert nunmehr eine »tiefe Kluft«232 zwischen »dem französischen und dem teutschen Nationalcharakter«233; die »scharfe[n] Gränzen in der innern moralischen Natur dieser verschiedenen Völker«234 lassen ihm seine früheren kosmopolitischen Hoffnungen als unrealistisch erscheinen. Das Ideal einer »veredelten Menschheit«235, für das sich Görres vor seiner Pariser Zeit engagiert hatte, muß dem nationalen Denkmuster weichen. Insofern ist sein Sendschreiben von Ingrid Oesterle zu Recht als »Zeugnis und
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oft eben so kräftig wirkt, und eben so groß handelt als alles, was Schwärmerei und Begeisterung für Freiheit ausschreien.« Ernst Moritz Arndt: Reisen durch einen Theil Teutschlands [...]. 4 Bände. Hg. von Heinrich Gräff. Zweite Auflage. Leipzig 1904. Band III, S. 204. Hier zit. n. Hans-Georg Werner: Ernst Moritz Arndts »Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799«. In: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990), S. 562. Ebd., S. 563. Ebd. Ebd., S. 562. Ebd. Vgl. Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 1: Politische Schriften der Frühzeit (1795–1800). Hg. von Max Braubach. Köln: Gilde-Verlag 1928, S. 549–602. Marion Marquardt: Identität durch Differenz. Zur Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins im Kontrast zu Frankreich. In: Nationale Identität aus germanistischer Perspektive. Hg. von Maria Katarzyna Lasatowicz und Jürgen Joachimsthaler. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 1998, S. 204. Vgl. dazu auch Wolfgang Reinbold: Mythenbildungen und Nationalismus. »Deutsche Jakobiner« zwischen Revolution und Reaktion (1789–1800). Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1999 (Freiburger Studien zur frühen Neuzeit; 3), S. 78–83. Görres, Schriften I (wie Anm. 230), S. 591. Ebd. Ebd., S. 590. So Görres in der Schrift Mein Glaubensbekenntniß aus dem Jahr 1795. In: Görres, Schriften I (wie Anm. 230), S. 193–198, hier S. 195.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
Rechenschaft über eine lebensgeschichtliche und zeitgeschichtliche Wende«236 charakterisiert worden. »Als ich in mein Vaterland war, war ich oft in Paris, und nun ich in Paris bin, bin ich fast immer in mein Vaterland«237, heißt es in einem Brief Heinrich von Kleists aus der Metropole – eine Aussage, die den Zusammenhang von Fremdheitserfahrung und »sofort rückwirkende[r] Identitätserfahrung«238 noch einmal auf eine prägnante Formel bringt. Der Brief datiert vom 29. Juli 1801: Er macht somit – ebenso wie die zuvor genannten Beispiele – deutlich, daß sich das nationale Bewußtsein schon deutlich vor und unabhängig von der Okkupation der deutschen Länder durch Napoleons Truppen durchzusetzen beginnt.
II
Aspekte des romantischen Nationalgedankens
1
Romantik und Aufklärung
In Fragen der literarhistorischen Entwicklung ist die früher in der Forschung obligatorische Behauptung eines »Urgegensatz[es]«239 (Hermann August Korff) zwischen Aufklärung und Romantik längst einer differenzierteren Betrachtungsweise gewichen. Die Romantik, die früher als »vollendete Antithese der Aufklärung«240 verstanden worden war, wird nun stärker in die Kontinuität der Überzeugungen des 18. Jahrhunderts gestellt.241 236
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Ingrid Oesterle: Erwartete, erfahrene und begriffene Geschichte der Zeit. Joseph Görres’ Resultate meiner Sendung nach Paris. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 183. Heinrich von Kleist an Adolfine von Werdeck, Brief vom 28./29. Juli 1801. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 1. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 671–679, hier S. 677. M. Marquardt, Identität durch Differenz (wie Anm. 231), S. 212. Hermann August Korff: Das Wesen der Romantik (1929). In: Begriffsbestimmung der Romantik. Hg. von Helmut Prang. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968 (Wege der Forschung; 150), S. 197. Ebd. Vgl. exemplarisch für diese Tendenz: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-Hain-Scriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93); Klaus Peter: Stadien der Aufklärung. Moral und Politik bei Lessing, Novalis und Friedrich Schlegel. Wiesbaden: Athenaion 1980 (Schwerpunkte Germanistik); Silvio Vietta: Frühromantik und Aufklärung. In: Die literarische Frühromantik. Mit Beiträgen von Wolfgang Frühwald, Heinz Gockel u. a. Hg. von Silvio Vietta. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1983 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1488), S. 7–84. Grundlegend für das Verhältnis zwischen Romantik und Aufklärung: Ludwig Stockinger: Die Auseinander-
II Aspekte des romantischen Nationalgedankens
93
Eine Betrachtung der Politischen Romantik kommt jedoch nicht umhin, erneut auf die Antagonismen der beiden Strömungen hinzuweisen. Da die nachrevolutionären Entwicklungen in Frankreich ebenso auf Ablehnung bei den deutschen Intellektuellen stießen wie das Regime Napoleons, entfalteten die romantischen Autoren ihre Konzepte der nationalen Selbstfindung in expliziter Gegnerschaft zum französischen Modell, das als realpolitische Vollstreckung der Aufklärungsphilosophie verstanden wurde.242 Freilich mußte dem revolutionären Weg etwas Originelles entgegengesetzt werden: »Und diese Originalität bezog man in Deutschland zunehmend aus der Verneinung der Französischen Revolution und ihrer Ideen.«243 So vollzog sich die »emphatische ›Selbst-Enteckung‹«244 der deutschen Nation von Anfang an im »Schattenriß des [...] anderen«245: Die Romantiker konstruierten ihr Konzept einer deutschen Nation als Gegenentwurf zu jenem Bild, das sie von ihren Feinden hatten. In den folgenden Unterkapiteln sollen die zentralen Aspekte dieses aus der Negation der Aufklärung und der Entwicklung in Frankreich gewonnenen Konzeptes diskutiert werden. So verstehen die Romantiker den Staat als lebendigen Organismus und grenzen sich von der in der Aufklärung kultivierten Maschinenmetapher ab (Kapitel 2). Gegenüber dem Naturrechtsgedanken der Aufklärung beharren sie auf der natürlichen, historischen Gewordenheit aller nationalen Institutionen (Kapitel 3). Die in der Aufklärung vollzogene Aufwerrung des Individuums wird mit dessen Rückbindung in das – höherwertige – Kollektivsubjekt Nation konterkariert (Kapitel 4). Aus dieser Perspektive erfährt das Ständesystem eine neue Legitimation: Der Adel fungiert als Rückgrat der nationalen Gemeinschaft (Kapitel 5), was durch den Verweis auf die bedeutsame Rolle des Adels in der als »deutschen« Geschichte interpretierten Vergangenheit begründet wird (Kapitel 6). Die deutsche Blütezeit war demnach das – von der Aufklärung geschmähte – Mittelalter, in dem die Stände nach romantischem Geschichtsverständnis zum Wohle des nationalen Ganzen zusammengearbeitet haben. Wenn die Nation als gottgewollte Größe interpretiert wird, setzen sich die Romantiker zudem von dem Versuch der Aufklärer
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245
setzung der Romantiker mit der Aufklärung. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 79– 105. Vgl. Kurt Lenk: Deutscher Konservatismus. Frankfurt a. M., New York: Campus 1989, S. 71–86. Zur romantischen Kritik an der Aufklärung vgl. auch Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik. 2., erweiterte Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 1990 (Sammlung Metzler; 170), S. 161–163. Lutz Hoffmann: Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1992), S. 23. Michael Jeismann: »Feind« und »Vaterland« in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806–1815. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg: Meiner 1996 (Studien zum 18. Jahrhundert; 18), S. 285. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart: KlettCotta 1992 (Sprache und Geschichte; 19), S. 65.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
ab, im Namen einer Vernunftreligion den Einfluß der positiven Religionen zurückzudrängen (Kapitel 7). Komplementär zu den Entwicklungen in Frankreich, wo der Dritte Stand durch Abbé Sieyès zur Nation erhoben worden war, bemüht sich auch die Romantik um eine Aufwertung der einfachen Bevölkerung; allerdings werden Partizipationsansprüche der unteren Schichten abgelehnt. Die Romantiker glauben, gesellschaftliche Widersprüche über die Integrationskraft der Vorstellung einer natürlichen nationalen Zusammengehörigkeit des ganzen »Volkes« nivellieren zu können (Kapitel 8). Das geographische Fundament, also die Frage, wie weit dieses »Deutschland« denn nun eigentlich reichen soll, bleibt dabei insgesamt unklar (Kapitel 9). Den Differenzen in den politischen Vorstellungen zwischen Romantik und Aufklärung steht eine literaturtheoretische Gemeinsamkeit gegenüber, die in der Literaturwissenschaft oftmals marginalisiert wird: Auch die Romantik entwickelt nämlich – insbesondere in den literaturtheoretischen Schriften Adam Heinrich Müllers – ein operatives Verständnis von Literatur, das im Anschluß an aufklärerische Vorstellungen und in dezidierter Opposition zur Autonomieästhetik des Weimarer Klassizismus entsteht (Kapitel 10).
2
Maschine und Organismus
In seiner Schrift Versuch über den Begriff des Republikanismus von 1796246 begreift Friedrich Schlegel die hier noch eingeforderte politische Gleichheit auch deshalb als »ein wesentliches Merkmal zum Begriff des Staats«247, weil der Staat »eine ununterbrochne Masse, ein koexistentes und sukzessives Kontinuum von Menschen, die Totalität derer, die im Verhältnis des physischen Einflusses stehn, z. B. alle Bewohner eines Landes, oder Abkömmlinge eines Stammes«248 umfasse. Der junge Schlegel steht zu diesem Zeitpunkt noch deutlich in der Tradition der Aufklärung, von der er gleichwohl mit dieser Staatsauffassung auch bereits erkennbar auf Distanz geht, wird doch der Akzent schon stärker auf die Gemeinschaft der Bürger – und nicht auf »einzelne zerstreute Mitglieder«249 – gelenkt. Ulrich Scheuner ist durchaus zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, daß sich das romantische Verständnis des Staates schon in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts durchsetzt: »Der Staat erscheint nun durchweg als personale Gemeinschaft, in die der Mensch fest eingebettet ist, und die vom Gefühl der Bürger, von ihrer Teilnahme [...] getragen sein soll.«250 246 247 248 249 250
Vgl. F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 11–25. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Herv. i. O. Ebd. Ulrich Scheuner: Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980 (Vorträge/Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften/Geisteswissenschaften; 248), S. 30.
II Aspekte des romantischen Nationalgedankens
95
Die Naturrechtstheorie der Aufklärung, in der die Politische Romantik ihren »Hauptfeind«251 (Kurt Lenk) erblickt, hatte den Staat vertragstheoretisch bestimmt. Er konstituierte sich demnach durch die Vereinbarung der Menschen, die sich von dieser Organisation des Zusammenlebens die Sicherstellung von Leben und Eigentum versprachen.252 Seine – rein rational bestimmte – Zwecksetzung war nach dieser Lehre das individuelle Wohlergehen der Bürger, deren individuelle Freiheit sich freilich in den deutschen Territorialstaaten auf den unpolitischen Raum beschränkte. Wenigstens diese Freiheit sicherzustellen und die Willkür des Fürsten und seiner Verwaltung weitgehend einzuschränken, war jedoch durchaus die Intention, wenn Theoretiker des aufgeklärten Absolutismus wie Johann Heinrich Gottlob von Justi und August Wilhelm Schlözer den Staat mit einer Maschine253 verglichen – »Ein wohl eingerichteter Staat muß vollkommen einer Maschine ähnlich seyn, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste in einander passen, und der Regent muß der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele seyn, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt«254 – und ihn als Erfindung charakterisierten: »Der Stat ist eine Erfindung: Menschen machten sie zu ihrem Wol, wie sie BrandCassen etc. erfanden. Die instructivste Art, StatsLere abzuhandeln, ist, wenn man den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt.«255 Vor dem Ideal des effizienten Funktionszusammenhanges und dem Zweck der allgemeinen Glückseligkeit, dem der Staat als Instrument dienen soll, hatte sich – zumindest der Logik der Metapher nach – auch der absolute Monarch zu verantworten, dessen Rolle auf die eines »ersten Bewegers«256 oder »Kontrolleur[s]«257 reduziert wurde.258 251 252
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Lenk, Konservatismus (wie Anm. 242), S. 72. Vgl. hierzu kurz und prägnant Wolfgang Kersting: Politische Philosophie. In: Philosophische Disziplinen. Ein Handbuch. Hg. von Annemarie Pieper. Leipzig: Reclam 1998 (Reclam-Bibliothek; 1643), S. 307–310. Zu dieser Maschinenmetapher vgl. die ausgezeichnete Studie von Barbara Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaates. Berlin: Duncker & Humblot 1986 (Historische Forschungen; 30). Johann Heinrich Gottlob Justi: Gesammelte politische und Finanz-Schriften. Dritter Band. Kopenhagen, Leipzig 1764. ND Aalen 1970, S. 87. Zit. n. StollbergRilinger, Staat als Maschine (wie Anm. 253), S. 126. August Ludwig Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere. Göttingen 1793. ND o. O. 1970, S. 3f. Zit. n. Stollberg-Rilinger, Staat als Maschine (wie Anm. 253), S. 101. Ebd., S. 141. Ebd., S. 136. Zugleich – und hier liegt die problematische Ambivalenz der Maschinenmetapher – wurde der Monarch in seiner Stellung freilich auch gestärkt, da das Ideal einer stets effizient und mit möglichst geringem Aufwand arbeitenden Maschine freilich nach 1789 auch gegen republikanische Forderungen und die daraus entstehenden Kontingenzen des politischen Lebens ausgespielt werden konnte. Zudem gilt es als
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
Wenn Schlegel nun vom Staat als »menschliche[r] Gesellschaft«259 spricht, deren Zweck »Gemeinschaft der Menschheit ist«260, und zudem Einspruch gegen ein Politikverständnis anmeldet, das »den Mechanism der Natur zur Regierung der Menschen«261 nutzen will, so wird die spätere – freilich weitaus deutlichere – Distanzierung der Romantiker von der »mathematische[n] Staatsansicht«262 der Naturrechtslehre bereits antizipiert; gerade die Maschinenmetapher sollte im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende in den Mittelpunkt der romantischen Invektiven gegen die ahistorische und instrumentelle Staatstheorie der Aufklärung rücken. Die romantische Staatsauffassung wendet sich »[m]it aller Entschiedenheit gegen das rationalistische Naturrecht und den ihm eigenen Zug, den Staat als ein mechanisches Kunstwerk [...] aufzufassen«263. »Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode«264, heißt es dementsprechend bei Novalis. »So nöthig vielleicht eine solche maschinistische Administration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandtheit des Staats seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, im Wesentlichen darüber zu Grunde.«265 Diese Überlegungen nimmt Adam Müller auf, wenn er sich in seinen Elemente[n] der Staatskunst gegen die Vorstellung verwahrt, daß der Staat eine »künstliche Veranstaltung«266, eine »große organisirte PolizeiAnstalt[]«267, »eine bloße Manufactur, Meierei, Assecuranz-Anstalt, oder mercantilische Societät«268 sei. Demgegenüber verstehen die Romantiker den Staat eben nicht als eine Konstruktion des Verstandes, die lediglich die Sicherheitsbedürfnisse der einzelnen
259 260 261 262
263 264 265 266 267 268
Vorzug einer Maschine, wenn sie von einer zentralen Stelle aus gelenkt wird; daß der Regent mit seinem Handeln bzw. Lenken der Maschine den »richtigen« Zweck verfolgt, wird nicht problematisiert. »Unter dieser Voraussetzung allein ist es richtig und sogar geboten, den Staat als reibungslosen Mechanismus zu installieren, d. h. zu verhindern, daß der schnellen Durchführung des Guten und Richtigen irgendwelche Hindernisse entgegenstehen.« Stollberg-Rilinger, Staat als Maschine (wie Anm. 253), S. 134. F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 15. Ebd. Ebd. So wiederum Friedrich Schlegel in seinen Vorlesungen Über die neuere Geschichte von 1810/11. In: F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 125– 407, hier S. 400. Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik (wie Anm. 250), S. 29. In der Schrift Glauben und Liebe von 1798. In: Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 287–304, hier S. 300. Ebd. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Erster Halbband. Jena: Fischer 1922 (Die Herdflamme; 1), S. 29. Ebd., S. 30. Ebd., S. 37.
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Bürger befriedigen und das gemeinschaftliche Zusammenleben in wohlorganisierte Bahnen lenken soll; Adam Müller definiert ihn vielmehr als die »die innige Verbindung der gesammten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesammten physischen und geistigen Reichthums, des gesammten inneren und äußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen«269. Außerhalb dieser organischen Gemeinschaft »[ist] der Mensch [...] nicht zu denken«270; es entspricht seiner natürlichen Daseinsform, »von allen seiten in den Staat verflochten«271 zu sein. Die Politische Romantik begreift den Staat folglich – wie Ulrich Scheuner formuliert – als »Grundmacht«272 und »Urelement menschlichen Lebens«273, mithin als »eine notwendige Form der Einbindung des einzelnen [...], die nicht auf rationaler Berechnung, sondern auf einer Gesinnung, auf Glauben und Liebe, beruht«274. Diese Einbindung wird bei den Romantikern in kritischer Abgrenzung zum Kosmopolitismus der Aufklärung als nationale Integration verstanden, denn eine staatliche Vereinigung kann nie – wie Friedrich Schleiermacher zu bedenken gibt – »das ganze menschliche Geschlecht umfassen; [...] denn sie beruht auf den geheimnisvoll bleibenden Eigentümlichkeiten, auf der verschiedenen Lebensweise, und auf der Sprache vorzüglich, welche ganz bestimmt jedes Volk von den übrigen absondert«275. Ähnlich argumentiert Friedrich Schlegel, der darauf verweist, daß eine »Vermischung der Sprachen, Sitten und Gesetze diese selbst immer mehr und mehr schwächen und auflösen«276 würde: »Es ist der Natur viel angemessener, daß das Menschenge269 270 271 272 273 274 275
276
Ebd.; Herv. i. O. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28. Scheuner, Beitrag der Romantik (wie Anm. 250), S. 8. Ebd., S. 20. Ebd. Predigt vom 24. August 1806. Zit. n. Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Hg. von Paul Kluckhohn. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1934 (Literarhistorische Bibliothek; 13), S. 64–72, hier S. 65. »Da die romantische Anschauung den einzelnen Menschen in ein Kontinuum der Gemeinschaft einfügt, erkennt sie auch die aus Natur und Kultur geformte Gemeinschaft des Volkes an, die sie nicht wie die Auffassung der französischen Revolution auf den politischen Körper bezieht, sondern mit einer kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeit gleichsetzt.« Scheuner, Beitrag der Romantik (wie Anm. 250), S. 20. In seinen Kölner Vorlesungen Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804/05). In: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 12: Philosophische Vorlesungen (1800–1807). Erster Teil. Eingeleitet und hg. von Jean-Jacques Anstett. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1964, S. 107–480; Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 13: Philosophische Vorlesungen (1800–1807). Zweiter Teil. Eingeleitet und hg. von Jean-Jacques Anstett. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1964, S. 1–175. Hier F. Schlegel, Kritische Ausgabe XIII, S. 145.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
schlecht in Nationen strenge abgesondert sei, als daß mehrere Nationen, wie dies in neueren Zeiten der Fall ist, zu einem Ganzen sollen verschmolzen werden. Es ist dies immer ein unnatürlicher Zusammenhang, der auch duch die gewaltsamsten und künstlichsten Einrichtungen für die Zukunft nicht dauerhaft kann erhalten werden«277.
3
Der Begriff der »Natur«
Mit Adam Müllers oben zitierter Definiton des Staates als »unendlich bewegten und lebendigen Ganzen«278 ist zudem ein Aspekt angesprochen worden, den die Romantik gegenüber der Aufklärung massiv einfordert: Gemeint ist die geschichtliche Betrachtungsweise. Staat und Nation müssen in ihrer historischen Gewordenheit gesehen werden, was eine abstrakte Theoriebildung nach Müller erschwert: »Von diesem Ganzen kann die Wissenschaft kein todtes, stillstehendes Bild, keinen Begriff geben; denn der Tod kann das Leben, der Stillstand die Bewegung nicht abbilden.«279 Diese Bewegung, die historische Genese des politischen Organismus, ist in zweifacher Hinsicht für die Theoriebildung der Politischen Romantik bedeutsam: Zum einen entwickeln sich die Gesellschaften ihren nationalen Eigentümlichkeiten gemäß unterschiedlich und individuell – Müller verweist darauf, daß »jede Nation ihre eigenthümliche Bewegung habe«280, so wie jedes »Musik-Stück seinen eigenthümlichen Takt«281 besitze; zum anderen verläuft der historische Entwicklungsprozeß, den Müller dem organologischen Begriffsarsenal entsprechend als »Wachsthum«282 begreift, vorreflexiv und unbewußt.283 Als logische Konsequenz aus diesen Überlegungen lehnt Joseph von Eichendorff die von liberaler Seite aus geforderte Verfassung mit dem Argument ab, daß eine solche Verfassung »das Ergebnis der eigentümlichen nationalen Entwickelung«284 und »Ausdruck der Individualität eines Vol277 278 279 280 281 282 283
284
Ebd. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 37. Herv. i. O. Ebd., S. 37. Ebd., S. 68. Ebd. Ebd., S. 38. Vgl. zum organischen Staatsverständnis der Romantik auch die Arbeiten von Volker Stanslowski: Bürgerliche Gesellschaft als Organismus. Zum Verhältnis von Staats- und Naturwissenschaften in der »Politischen Romantik«. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 90–101; Volker Stanslowski: Natur und Staat. Zur politischen Theorie der deutschen Romantik. Opladen: Leske + Budrich 1979 (Sozialwissenschaftliche Studien; 17). So Eichendorff in der Schrift Preußen und die Verfassungsfrage. In: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 5: Tagebücher, autobiographische Schriften,
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kes«285 sein müsse. »Nicht vom Verfasser nennt man es Verfassung, sondern weil es alle Elemente des Volkslebens umfassen [...] soll. Mit und in der Geschichte der Nation muß daher die Verfassung [...] organisch emporwachsen wie ein Baum, der [...] den mütterlichen Boden beschirmt, in welchem er wurzelt.«286 Diese Auffassung teilt Joseph Görres; seiner Ansicht nach muß eine Verfassung »allmählig aus dem Innern eines Volkes erwachsen und aufgrühnen [...], und in stiller Wirksamkeit sich allmählig stärken und anwurzeln, der Eiche gleich, die auch hundert Jahre zu ihrem Wachsthum nötig hat, soll es zu einem gründlichen Bestande kommen.«287 Mit dem gleichen Argument wendet sich auch Friedrich Carl von Savigny in seiner Schrift Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814) gegen eine Kodifizierung deutschen Rechts; nicht aus der »Willkühr eines Gesetzgebers«288, sondern aus den »innere[n], stillwirkende[n] Kräfte[n]«289 eines Volkes sollen die rechtlichen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erwachsen.290 Die Vorstellung einer organischen Entwicklung des »Volkslebens«, die sich in den Stellungnahmen Görres’, Eichendorffs und Savignys zu Rechts- und Verfassungsfragen exemplarisch artikuliert, basiert – wie Lutz Hoffmann darlegt – auf einer »biologistische[n] Prämisse«291: »Wenn die Einheit des Volkes von der Natur vorgegeben und unabhängig von der Entscheidung der Individuen sein soll, dann bleibt nur noch die natürliche Abstammung, um die Zugehörigkeit zu ihm zu entscheiden.«292 Dementsprechend bildet nach Friedrich Schlegel die gemeinschaftliche Abstammmung die Grundvoraussetzung für die Genese einer Nation: »Der Begriff der Nation bezeichnet, daß alle Mitglieder gleichsam nur ein Individuum bilden sollen. Damit dieses statthaben kann,
285 286 287
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Dichtungen, historische und politische Schriften. Hg. von Hartwig Schultz. Mit einem Essay von Wolfgang Frühwald. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; 96), S. 599–611, hier S. 609. Ebd. Ebd. So Görres im Artikel Der Kaiser und das Reich im Rheinischen Merkur 181 vom 20. Januar 1815. In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 9–11: Rheinischer Merkur. 2. Band 1815/16. Hg. von Karl d’Ester, Hans A. Münster u. a. Köln: Gilde-Verlag 1928, o. Pag. Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814. In: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Hg. von Hans Hattenhauer. München: Vahlen 1973, S. 95–192, hier S. 105. Ebd.; vgl. hierzu Hans Reiss: Politisches Denken in der deutschen Romantik. Bern, München: Francke 1966 (Dalp-Taschenbücher; 386), S. 73–76. Vgl. auch Osinski, Harmonie statt Anarchie (wie Anm. 189), S. 194 sowie – affirmativ – Michael Großheim: Der Umgang mit Situationen. Ein aktueller Grundgedanke der Politischen Romantik. In: Der Staat 34 (1995), S. 59–77. Lutz Hoffmann: Das deutsche Volk und seine Feinde. Die völkische Droge. Aktualität und Entstehungsgeschichte. Köln: Papy Rossa 1994 (Neue kleine Bibliothek; 42), S. 125. Ebd.
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müssen sie wenigstens alle von der nämlichen Abstammung sein, je älter, reiner und unvermischter der Stamm, desto mehr Sitten, und je mehr Sitten und wahre Beharrlichkeit und Anhänglichkeit an diese, desto mehr wird es eine Nation sein.«293 Joseph Görres wiederum konstatiert einen »Instinkt aller Völker und aller Menschen, der jeden zu seinem Stamme treibt, [...] weil Art nicht lassen kann von Art, und das gleichgemischte Blut, auch in noch so viele Nebenströme ausgezweigt, sich nicht verleugnen kann.«294 Universalmonarchien, so Görres im Rheinischen Merkur (1814), scheitern am »Unvereinbare[n] im Wesen zweyer Völker, die nicht zusammenfließen wollen«295. Jede Nation ist demnach »ein völlig geschlossenes und gerundetes Ganze[s]; alle Glieder umschlingt ein gemeinsames Band der Blutsverwandtschaft; alle, wie sie eine Sprache reden äußerlich, so müssen sie auch innerlich eine Gesinnung haben, und zusammenhalten für einen Mann: das ist ihnen erste Regel und Gesetz«296. Das Individuum tritt einer Nation folglich nicht – wie etwa noch in der Konzeption des »Vaterlandes« bei Thomas Abbt297 – aus freien Stücken bei, sondern seine nationale Zugehörigkeit ergibt sich aus einem vorbewußten, durch die Abstammung determinierten »Trieb, der alle Glieder in ein Ganzes knüpft«298. Daß die nationale Zugehörigkeit in der romantischen Vorstellung einem »Naturgebot«299 folgt, heißt jedoch nicht, daß sich nicht einzelne, etatmäßige 293 294
295 296 297
298
299
F. Schlegel, Kritische Ausgabe XIII (wie Anm. 276), S. 145. Im Artikel Die Verhältnisse der Rhein-Länder zu Frankreich im Rheinischen Merkur 25 vom 11. März 1814. In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 6–8: Rheinischer Merkur. 1. Band 1814. Hg. von Karl d’Ester, Hans A. Münster u. a. Köln: Gilde-Verlag 1928, o. Pag. Ebd. Ebd. Thomas Abbt fordert zwar dem Individuum die Bereitschaft ab, im Zweifelsfall sein Leben für die Nation zu opfern, aber die Grundlage für diese bedingungslose Loyalität ist immerhin noch an eine Übereinstimmung mit den »Gesetzen« der Nation gebunden. Insofern enthält sein Nationenkonzept eine voluntaristische Komponente: »Was ist wohl das Vaterland? Man kann nicht immer den Geburtsort allein darunter verstehen. Aber, wenn mich die Geburt oder meine freie Entschließung mit einem Staate vereinigen, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe, Gesetzen, die mir nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staats nötig ist: alsdann nenne ich diesen Staat mein Vaterland.« Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland (1761). In: Der Siebenjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Literatur. Hg. von F[ritz] Brüggemann. Leipzig: Reclam 1935 (Deutsche Literatur, Reihe Aufklärung; 9), S. 47–94, hier S. 53. Im Artikel Die Verhältnisse der Rhein-Länder zu Frankreich im Rheinischen Merkur 25 vom 11. März 1814. In: Görres, Rheinischer Merkur 1 (wie Anm. 294), o. Pag. Ebd.; vgl. hierzu auch Leif Ludwig Albertsen: Der Jude in der deutschen Literatur 1750–1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag. In: Arcadia 19 (1984), S. 29f.
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Mitglieder des deutschen »Volksstammes« als unwürdig erweisen können. Die Liberalen etwa verkennen nach Friedrich Schlegel den organischen Entwicklungsprozeß der Nation; deshalb und wegen der »ausländischen Oberflächlichkeit ihrer Ideen«300 bezeichnet er sie in seiner späten Signatur des Zeitalters (1820/23)301 denn auch als eine »mehrenteils undeutsche Partei [...], von der ich deshalb auch nicht glauben kann, daß sie jemals wirklich national und volksmäßig unter uns werden kann«302. Ein letzter Aspekt muß in diesem Kontext noch angesprochen werden. Er betrifft die »Strategie der Umfunktionierung aufklärerischer Kampfbegriffe«303 (Peter Bürger): Indem die Romantik die gesellschaftliche Ordnung in den großen Zusammenhang der Natur integriert, kann sie den von der Aufklärung reklamierten »Natur«-Begriff gegen diese selbst ausspielen – denn, wie Jörg Echternkamp zu Recht feststellt, bei »aller inhaltlichen Gegensätzlichkeit darf [...] eine formale Analogie nicht übersehen werden: Sowohl die spätaufklärerischen als auch diese konservativen Leitbilder verdankten ihren normativen Charakter einer Argumentation, welche die Legitimationskraft des ›Natürlichen‹ nutzte. Gegenüber der hypothetisch gesetzten ›Natur‹ war der historische Naturentwurf angesichts des diskreditierten Naturrechts und der positiven Haltung gegenüber dem Natürlichen vor dem Hintergrund des historischen Bewußtseins im Vorteil«304. Das ahistorische und in kosmopolitischer Allgemeingültigkeit entworfene »Naturrecht« ist der spezifischen deutschen Tradition also nicht nur inadäquat, es erfüllt vor allem den Anspruch nicht, den es im Namen trägt.
4
Individuum und Kollektiv
Wenn Müller den Staat als ein »lebendiges und ungezwungenes Ganze[s]«305 begreift, so ist eine weitere Akzentsetzung der Politischen Romantik zumindest angedeutet: Die Romantiker personalisieren und individualisieren die Nation, die mehr ist als die Summe der ihr angehörenden Individuen und die als »Handlungssubjekt eines kollektiven Geschehens«306 fungiert. Daraus folgt
300 301 302 303 304 305 306
F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 544. Vgl. ebd., S. 483–596. Ebd., S. 544f. Bürger, Zur Kritik (wie Anm. 160), S. 39. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a. M.: Campus 1998, S. 211. Adam Müller: Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie. Berlin: Sander 1810, S. 305. Thomas Nipperdey: Auf der Suche nach Identität: Romantischer Nationalismus. In: Thomas Nipperdey: Nachdenken über deutsche Geschichte. Essays. 2. Aufl. München: C. H. Beck 1986, S. 113.
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dann freilich die problematische Konsequenz, daß dem »Macroandropos«307 (Novalis) mehr Wert beigemessen wird als dem einzelnen Individuum: »Es ist die Nation, die den Einzelnen formt, es ist die Nation, in der der Einzelne seine Erfüllung findet«308, faßt Thomas Nipperdey dieses Phänomen zusammen.309 Weil es um das »Ganze« geht, dem sich der Einzelne unterzuordnen hat, kann in den Jahren nach 1806 im Rahmen der antifranzösischen Propaganda schließlich auch der Opfertod auf dem Schlachtfeld verlangt werden.310 Als »Übergangsfigur«311 und »historisch exemplarische Erscheinung«312 ist in diesem Zusammenhang insbesondere Johann Gottlieb Fichte von Interesse, dessen frühe Philosophie aus den 1790er Jahren Gerhard Gamm wie folgt beschreibt: »Selbstbewußtsein heißt nicht nur: Das Ich weiß (in Einheit und Unterschied) um sich selbst; es steht von Anbeginn unter der (ethischen) Forderung: Sich von allem Gegebenen, sei es von der inneren, sei es von der äußeren Natur, loszureißen. Das Selbstbewußtsein muß sich auf sich selbst stellen, denn im Unterschied zum Dogmatiker, der sich durch das Gegebene, das Nicht-Ich oder äußere Autoritäten bestimmen läßt, sucht der dem Idealismus
307
308 309
310
311
312
»[D]er Staat ist immer ein Macroandropos gewesen«, schreibt Novalis in Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik) (1798/99). Vgl. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 473–720, hier S. 520. Nipperdey, Romantischer Nationalismus (wie Anm. 306), S. 114. »In enger Verbindung mit der Übertragung der Individualitätsssemantik auf historische Großformationen steht die romantische Imago vom Kollektivkörper. Während die Rede von der Nation als Individuum vor allem das Moment der Eigentümlichkeit hervorhebt, zeichnet das Bild vom Staat als Körper ein Modell quantitativer wie qualitativer Totalintegration vor«, schreibt Matthias Schöning. Matthias Schöning: Temporäre Gemeinschaften. Politische Romantik und Hobbesche Provokation. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München: Fink 2003, S. 128. Vgl. zur höheren Bewertung des Kollektivs gegenüber dem Einzelschicksal auch den Beitrag von Hans Reiss, der der These Thomas Nipperdeys widerspricht, wonach die nationale Ideologie eine liberale Oppositionsideologie sei: Hans Reiss: Politische Romantik. Eine Antwort auf Thomas Nipperdey. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1995), S. 301–318. Hans Reiss: Fichte als politischer Denker. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 48 (1962), S. 178. Auch Werner Schneiders hält Fichtes Entwicklung für »exemplarisch und anscheinend noch immer aktuell [...]: Sie reicht (grob etikettiert) von der ersten Begeisterung für die Französische Revolution bis zum nationalen Freiheitskampf; der Philosoph entwickelt sich vom egalitären Rationalismus zum elitären Irrationalismus, vom Fürstenfeind zum Nationalromantiker, vom radikalen Aufklärer zum religiösen Geschichtsphilosophen«. Werner Schneiders: Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. J. G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg: Meiner 1996 (Studien zum 18. Jahrhundert; 18), S. 223. Reiss, Fichte als politischer Denker (wie Anm. 311), S. 178.
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verpflichtete Mensch sich frei über sich und jede Abhängigkeit zu erheben.«313 Fichte durchdenkt in diesen Jahren auch die politischen Konsequenzen seiner philosophischen Position und erklärt das freidenkende Individuum dem Staat gegenüber für vollkommen unabhängig. Wie Hans Reiss darlegt, geht Fichtes Individualismus dabei über die »Nachtwächtertheorie« des Staates weit hinaus: »[E]r glaubt sogar, der einzelne könne aufhören, ein Mitglied eines Staates zu sein und doch im Staate weiterleben, er könne keine Pflichten mehr dem Staate gegenüber haben und doch im Territorium des Staates bleiben.«314 Doch noch vor der Jahrhundertwende vollzieht Fichte eine »Schwenkung um 180 Grad«315: In der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97) schreibt er dem Staat einen eigenen Charakter und eine »beinahe mystische Kraft«316 zu, der nur mit einem Bild aus der Natur in seiner Wesenheit adäquat dargestellt werden kann. »Ein Baum, der ein Organismus ist, beschreibt also das wahre Wesen des Staates auf realistische Weise. Wenn der Staat ein organisiertes Produkt der Natur ist, so können dessen Mitglieder nur dadurch Rechte erwerben und ein befriedigendes Leben führen, daß sie Teile dieses Organismus sind.«317 Der Einzelne geht nun im Kollektivindividuum »Staat« auf; die Basis dafür, daß Fichte in den Reden an die deutsche Nation den Opfertod für die nationale Gemeinschaft fordern kann,318 ist gelegt. Das in Fichtes früher Philosophie emanzipierte Subjekt tritt nunmehr wieder in überindividuelle Zusammenhänge ein, die es nicht zu hinterfragen hat. Auch Adam Müller hält es für »spitzfündig«319, dem »Staate das Recht über Leben und Tod seiner Glieder [...] abzudisputiren, gleich als ob das einzelne Menschenleben doch immer noch mehr werth sey, als der Staat!«320 In seinen 1810 gehaltenen Vorlesungen Ueber Friedrich II. stellt er deshalb unmißverständlich klar: »Der Staat ist nicht zu denken ohne diese beständige Bereitschaft, das einzelne Glied dem Ganzen zu opfern«321. Mit ähnlicher Bestimmt313
314 315 316 317 318
319 320 321
Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams UniversalBibliothek; 9655), S. 54f. Zu Fichtes frühen politischen Positionen vgl. den instruktiven Überblick bei Helmut Seidel: Fichtes historisches Grunderlebnis: Französische Revolution. In: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag. Hg. von Marion Marquardt, Uta Störmer-Caysa und Sabine Heimann-Seelbach. Stuttgart: Heinz 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 340), S. 381–396. Reiss, Fichte als politischer Denker (wie Anm. 311), S. 169. Ebd., S. 171. Ebd. Ebd. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 382f. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 310. Ebd. Ebd.
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heit wird in Heinrich von Kleists Katechismus der Deutschen (1809) der Kampf um die »Freiheit Deutschlands« über die Interessen der Individuen gestellt; der Krieg gegen Frankreich sei auch dann zu billigen, heißt es dort, »wenn alles unterginge, und kein Mensch, Weiber und Kinder mit eingerechnet, am Leben bliebe«322.
5
Instanzen gesellschaftlicher Integration: Familie, Adel, Monarchie
Um einen solchen, die persönliche Selbstaufgabe implizierenden nationalen Zusammenhalt über alle gesellschaftlichen Gegensätze hinweg konstituieren zu können, beruft sich die Romantik auf ein familiäres Staatsverständnis; in den »Grundverhältnis[sen] der Familie«323 – nämlich den Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Jung und Alt – glauben die Autoren, auch die gesellschaftlichen Dissonanzen und die Möglichkeiten ihrer Harmonisierung gespiegelt zu sehen.324 »Alle Staatslehre«325, dekretiert demzufolge Adam Müller, »muß [...] mit der Theorie der Familie, anfangen«326. Müller parellelisiert den Gegensatz zwischen dem Alter und der Jugend mit demjenigen zwischen fortschrittlichen und beharrenden Kräften innerhalb der Gesellschaft; die Beziehung zwischen Mann und Frau dient ihm als Analogie zu dem Verhältnis, das Bürgertum und Adel innerhalb eines nationalen Ständestaates miteinander pflegen sollten. Hier wie dort sollen sich in der »erweiterte[n] Familie«327 die Gegensätze zum Wohl der Nation ausgleichen, denn »alle Dissonanz [ist dazu da], daß sie vom Menschen gelöst werden soll; die Natur reicht dem Menschen unaufhörlich ungleiche Dinge hin, damit er in’s Unendliche etwas auszugleichen habe, und das ganze Leben des wahren Menschen ist [...] ein Verbinden des Getrennten.«328. So bewirkt eine harmonische Koexistenz jüngerer und älterer Generationen innerhalb einer Nation – wobei die Jüngeren den Fortschritt propagieren, während die Älteren das Bewährte favorisieren – jenes »ruhige Anschließen an die 322
323 324
325 326 327 328
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 2. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 350–360, hier S. 360. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 107. Vgl. hierzu mit Bezug auf Friedrich Schlegel und Novalis auch Klaus Siblewski: Ritterlicher Patriotismus und romantischer Nationalismus in der deutschen Literatur 1770–1830. Zur konservativen Rezeption der Reformation, des Bauernkriegs und der Aufstandsbewegung des niederen Adels. München: Fink 1981 (Literatur in der Gesellschaft; 4), S. 274–302, vor allem S. 283f. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 100. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd., S. 100.
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Vergangenheit, um zur Zukunft zu gelangen«329, das die Romantiker dem »tumultuarische[n] Schluß des 18. Jahrhunderts«330 als Modell gesellschaftlichen Wandels entgegensetzen. »Auf diese Art bewirkt die Natur, daß der Staat weder still steht (was geschehen würde, wenn die Alten allein Recht behielten), noch stürzt (was sich wohl zuträgt, wenn, wie wir es erlebt haben, die Jungen und jugendliche Weltansichten einmal unbedingte Oberhand erhalten), sondern mit gemessenen, ruhigen, sichern Schritten geht.«331 Dem gewaltsamen Umsturz kann auf diese Weise eine Absage erteilt werden, ohne daß Stagnation der Preis hierfür wäre; denn eine evolutionäre Entwicklung des Staates, die – wie später Joseph von Eichendorff schreiben wird – »das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen«332 vermag, wird dadurch nach Müller gewährleistet: »Den ungestümen Forderungen und Bestrebungen der Jugend dient das Alter zu einer Art von Hemmkette, eben so wie der Trägheit des Alters die Jugend zum Sporn dient.«333 Dem romantischen Selbstverständnis zufolge werden die fortschrittlichen Intentionen der Aufklärung also nicht vollkommen preisgegeben, doch vollzieht sich ein sinnvoller Fortschritt nur auf evolutionärem Wege; deshalb auch das Plädoyer der romantischen Autoren für den Ständestaat, denn die Beharrungskräfte des Adels können die Dynamik des Bürgertums bremsen und »vor allen Dingen«334 dafür sorgen, daß sich »der Streit der Vergangenheit mit der Gegenwart«335 nicht als blindes Zerstörungswerk in Szene setzt, sondern als konstruktiver Austausch »um der Dauer des Ganzen willen«336 geführt wird. 329
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333 334 335 336
So Arnim in seiner Schrift Was soll geschehen im Glücke (1806). In: Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band sechs: Schriften. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 72), S. 200–205, hier S. 202. So Müller in seiner Lehre vom Gegensatz (1804). Vgl. Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Band 2: Ästhetische Schriften. Neuwied: Luchterhand 1967, S. 195–248, hier S. 196. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 91f. Hierin sieht Eichendorff denn auch die Aufgabe eines erneuerten Adels. Das Zitat ist seiner Schrift Der Adel und die Revolution (1857) entnommen. In: Eichendorff, Werke V (wie Anm. 284), S. 391–416, hier S. 414. Zu dieser Schrift siehe Michael Maurer: Der Adel und die Revolution. Sozialstatus und Wertebild. In: Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposions, Akademie der Diözese Rothenburg-Stuttgart. Hg. von Michael Kessler und Helmut Koopmann. Tübingen: Stauffenburg 1989 (Stauffenburg-Colloquium; 9), S. 97– 120. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 92. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd., S. 188f.
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Die zweite Analogie, die Müller zieht, betrifft das zweite familiäre Grundverhältnis, nämlich das zwischen Mann und Frau; Müller vergleicht diese Differenz mit dem gesellschaftlichen Unterschied zwischen Adel und Bürgertum. Genau wie das Verhältnis zwischen Alter und Jugend versteht Müller auch das zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht als eine »Schule der Gegenseitigkeit«337, in der sich Strenge und Liebe ausgleichen, die gegenseitige Anziehung aber den Zusammenhalt verbürgt. Der Adel, der »das Unsichtbare, die Macht der Sitte und des Geistes im Staate repräsentiren«338 soll, befindet sich dabei »in der großen Ehe, welche Staat heißt«339 in jener Rolle, die »die Frau in der Ehe im gewöhnlichen Verstande«340 in Müllers Vorstellung ausfüllt. Auf diese Weise wird der Adel, der seine gesellschaftliche Legitimation schwinden sah, hier durch den später zum Ritter von Nitterdorf avancierten Adam Müller (1826)341 mit einer »unübersehbar restaurativen Attitüde«342 zum Rückgrat des nationalen Ständestaates erhoben, verkörpert er doch die moralische Grundierung und die bleibenden Wertorientierungen jenseits des politischen Tagesgeschäftes. Genau in dieser Funktion will auch Friedrich Schlegel die Aristokratie sehen; er bezeichnet sie in seinen Vorlesungen Über die neuere Geschichte (1810/11) dementsprechend als »bleibende Grundkraft des Staats«343, während Eichendorff noch 1857 feststellt, daß nur »die völlige Barbarei«344 ohne den Adel bestehen könne, ist er doch »seiner unvergänglichen Natur nach[] das ideale Element der Gesellschaft«345. »Unvergänglich« ist – jenseits zeitgebundener Anfechtungen – auch die für das »National-Leben«346 adäquate Organisation von Herrschaft: Die Politische Romantik will nicht nur den Adel, sondern auch die Monarchie über die Umbruchzeit hinwegretten. »Ein einstürzender Thron«347, hatte schon Novalis zu bedenken gegeben, »ist wie ein fallender Berg, der die Ebenen zerschmettert und da ein todtes Meer hinterläßt, wo sonst ein fruchtbares Land und lustige 337 338 339 340 341 342
343 344 345
346 347
Ebd., S. 107. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu die Dokumente in Jakob Baxa: Adam Müllers Lebenszeugnisse. Band II. München, Paderborn, Wien: Schöningh 1966, S. 788–797. Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Breisgau: Rombach 1999 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 68), S. 271. F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 406. Eichendorff, Werke V (wie Anm. 284), S. 414. Ebd.; vgl. hierzu auch Günter Birtsch: Aspekte des Freiheitsbegriffs in der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 52–56. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 176. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 292.
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Wohnstätte war.«348 Ihre Legitimation bezieht die Monarchie bei Müller wie bei Schlegel aus ihrer langen historischen Tradition: »Die einzig dauerhafte Verfassung ist die ständische, durch Priester und Adel gemilderte Monarchie; sie ist auch zugleich die älteste und beste«349, schreibt Friedrich Schlegel in seinen Vorlesungen über Universalgeschichte (1805/06), und Müller sekundiert: »Die ursprüngliche Form der bürgerlichen Gesellschaft war monarchisch.«350 Da Müller nicht glaubt, daß sich die Interessengegensätze zwischen den Ständen – und mithin auch der Dualismus zwischen der Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft einerseits sowie den Erfordernissen des Augenblicks andererseits – immer ohne ein vermittelndes Element werden lösen lassen, erfolgt sein Plädoyer für die Monarchie auch aus dem Gesichtspunkt heraus, daß ein personaler Vermittler »an und für sich schon vollständiger als das geschlechtslose, zeitlose Gesetz«351 sei: »Darin nun besteht der große Vorzug aller monarchischen Verfassung: das Gesetz wird nicht bloß mechanisch ausgelegt, sondern wirklich repräsentirt durch eine Person des Suveräns; es kann gemißbraucht werden, aber nicht erstarren«352. Kurt Lenk sieht die »entscheidende Pointe«353 der »organischen Lehre vom Staat«354 folgerichtig genau in dem Aspekt, »daß dieser Organismus als mit eigenem Leben begabte Einheit nur durch die Person eines Monarchen symbolisiert werden kann. Die Idee des Staates als einer vorgegebenen höheren Einheit über den Menschen entspricht der Glaube an die Kompetenz und das Charisma eines Monarchen, der das Volksganze repräsentiert.«355 Die Vermittlungsleistung, die der Monarch erbringt, ist freilich nicht als »weiche« Moderation gedacht, sondern durchaus in dem Sinne, daß der König als übergeordnete Entscheidungsgewalt fungiert und das nationale Staatswesen lenkt, ohne dabei durch die »Sprödigkeit«356 der »Buchstabe[n] des Gesetzes«357 allzu sehr eingeschränkt zu sein. Der Souverän erlangt zwar nach Müller nur dann wahre Macht, wenn er die gesellschaftlichen Gegensätze erkennt und als treusorgender Patriarch im Sinne des Ganzen entscheidet358 – gleichwohl macht diese Konzeption deutlich, »daß auch die lebendige Wechselwir348 349
350 351 352 353 354 355 356 357 358
Ebd. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 14: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805–1806). Eingeleitet und hg. von Jean-Jacques Anstett. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1960, S. 63. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 179. Ebd., S. 176. Ebd., S. 175. Lenk, Konservatismus (wie Anm. 242), S. 86. Ebd. Ebd. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 176. Ebd. Vgl. ebd., S. 189.
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kung gleichberechtigter Individualitäten ihre wahre Einheit und Erfüllung erst in streng hierarchischer Ordnung findet«359. Durch die Parallelisierung des Privaten mit dem Politischen, die auch in der Analogie zwischen Hausvater und Monarch erfolgt, verschwimmen die Grenzen beider Bereiche nicht nur, sie gehen in der »Totalität des politischen Lebens«360 (Adam Müller) ineinander auf – schon Novalis sah jeden Bürger als »Staatsbeamten«361, ein vorpolitischer Raum gesellschaftlichen Lebens bleibt mithin ausgespart. »Der aufwendige theoretische Zusammenhang richtet sich damit gegen alle liberalen Bestrebungen, das Öffentliche vom Privaten zu trennen«362, bilanziert Gerhard Göhler zu Recht. Zudem impliziert das familiäre Paradigma, daß die gegenseitige Liebe und die kollektive Gesinnung einen Gemeingeist entfachen, der keiner institutionellen Absicherung bedarf. Auch aus dieser Perspektive heraus erfolgt die bereits erwähnte nahezu einhellige Ablehnung, die die Politische Romantik gegenüber politischen Instrumentarien wie einer Verfassung oder den Prinzipien der Gewaltenteilung oder der Volkssouveränität hegt. »Die Naturen, deren Conflict und Balance den Staat und die Familie ausmachen, sind von der Natur – im Staate und in der Familie – schon wahrhaft geteilt«363, schreibt Adam Müller, der vor diesem Hintergrund der Natürlichkeit des familiären und nationalen Zusammenlebens »[a]lle[r] Constitutions-Künstelei unsrer Tage«364 eine Absage erteilt. Jedes Glied bleibt seiner Natur treu, »indem es auf dem ihm von der Natur angewiesenen Platz im Staate verbleibt«365, faßt Karin Richter Müllers Versuch, die »feudale Struktur [des Staates] [...] als seine natürliche, ewige Existenzform«366 festzuschreiben, zusammen. Ohnehin sind nach Müller alle anderen gesellschaftlichen Unterschiede jenseits der familiären Grundverhältnisse (also Geschlecht und Alter) nur abgeleitet und daher
359 360 361 362 363 364 365
366
Gerhard Göhler: Konservatismus. In: Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Hans J. Lieber. Wiesbaden: Fourier 2000, S. 335. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 191. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 294. Göhler, Konservatismus (wie Anm. 359), S. 341. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 190. Ebd. Karin Richter: Eine »traurige Entartung der heiligsten Angelegenheiten der Welt« – Die Auseinandersetzung mit den Ideen der Aufklärung in der Staatstheorie Adam Müllers. In: Aufklärung und Tradition. Eine Festgabe für Thomas Höhle. Hg. von Dieter Heinemann. Halle/Saale: Martin-Luther-Universität 1986 (Hallesche Studien zur Wirkung von Sprache und Literatur; 13), S. 66. Ebd.
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nachrangig.367 Vergleichbare Wendungen und Polemiken gegen den »papierne[n] Kitt, der [...] die Menschen zusammenkleistert«368 (Novalis) durchziehen die Texte der Politischen Romantik bis hin zu Eichendorffs Spätschriften. Den Grundkonsens formuliert Jakob Friedrich Fries, als er sich in der Flugschrift Bekehrt Euch (1814) in signifikanter Prägnanz gegen jedwede Aufweichung des hierarchischen Ständemodells durch Elemente plebiszitärer Partizipation wendet: »Formen sind gleichgültig, nur der Geist entscheidet« 369, heißt es bei dem »politischen Professor«. Der Gedanke, »daß das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten erst rechtlich geordnet sein muß, ehe es gemütlich werden und bleiben kann«370
367
368 369
370
Vgl. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 100. Karin Richter weist darauf hin, daß Müller die anderen Differenzen freilich auch marginalisieren muß, um die Inkonsequenzen in seiner Konzeption der Analogie Familie/Staat ausgleichen zu können: »Müller spricht zwar von der Parallelität der Elemente der Familie Alter und Jugend mit den Klassen des Staates Adel und Bürgertum, doch er verzichtet an den entscheidenden Punkten bewußt auf eine direkte Gegenüberstellung. Sonst hätte sich aus seinen [...] Gedanken, daß jeder Mensch einmal zur ›Partei der Jugend‹ und einmal zur ›Partei des Alters‹ gehöre, ergeben müssen, daß folglich auch jeder Mensch einmal Angehöriger der Klasse des Bürgertums und des Adels sein müsse. Müller unternimmt den Versuch, das Problem zu umgehen, indem er alle Unterschiede innerhalb der Gesellschaft, außer dem Gegensatz Alter-Jugend, als unwesentlich zu charakterisieren sucht«. Vgl. Richters ausführliche Interpretation der Elemente der Staatskunst in Karin Richter: Die Staatstheorie und das politischpraktische Wirken Adam Müllers. Ein Beitrag zur romantischen Staatsauffassung. Phil. Diss. masch. Halle/Saale 1975, S. 52–137, insbesondere S. 73–90, hier S. 77. Vgl. auch Karin Richter: Der »böse Dämon« in der deutschen Romantik. Betrachtungen zum Werk und Wirken Adam Heinrich Müllers (1779–1829). In: Weimarer Beiträge 25 (1979), H. 5, S. 82–105 und Klaus Peter: Novalis, Fichte, Adam Müller. Zur Staatsphilosophie in Aufklärung und Romantik. In: Novalis und die Wissenschaften. Hg. von Herbert Uerlings. Tübingen: Max Niemeyer 1997 (Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft; 2), S. 255–260. Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 293. Hier zit. n. Gerald Hubmann: Ethische Überzeugung und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik. Heidelberg: Winter 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik; 30), S. 162. Friedrich Engels: Ernst Moritz Arndt. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Zweiter Teil. Friedrich Engels. Schriften 1839–1844. Berlin: Dietz 1967, S. 125. Herv. i. O.
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(Friedrich Engels), wird in den Texten der Politischen Romantik dezidiert ausgeblendet.371 371
Hier macht auch Ernst Moritz Arndt keine Ausnahme, dem in der Forschung bisweilen für »seine[] Zeit bahnbrechend[e]« [Reinhart Staats: Ernst Moritz Arndt – Seine Wirkungen in der Deutschen Geschichte. In: Kirche in Preußen: Gestalten und Geschichte. Hg. von Manfred Richter. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1983, S. 79] demokratische Vorstellungen attestiert werden. Vgl. auch Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750–1850. Wiesbaden: Steiner 1981, S. 127–144 und Reinhardt Pester: Französische Revolution und geschichtsphilosophische Positionen Ernst Moritz Arndts. In: Französische Revolution und deutsche Klassik. Beiträge zum 200. Jahrestag. Weimar: Böhlau 1989 (Collegium philosophicum Jenense), S. 253–261. In seiner Schrift Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland von 1814 [Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Dreizehnter Band: Kleine Schriften I. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 197–250] erklärt Arndt indes den Fürsten zu einer »heilige[n], unverletzliche[n] und unschuldige[n] Person, die nicht sündigen kann« (ebd., S. 239). Dem Adel, der »als Glanzgeber und Ehrenträger des Volks und als Emportreiber der fürstlichen Seelen zu hohen Ideen« (ebd., S. 240) mit erkennbar restaurativer Attitüde in seiner Bedeutung für das Kollektiv gewürdigt wird, sowie den Bürgern und Bauern werden über Standesvertretungen zwar konsultative Funktionen konzediert, insgesamt aber ist »Demokratie [...] für Arndt mehr eine Angelegenheit der Gesinnung denn eine Verfassungsfrage«, wie Kurt Lenk: »Volk und Staat«. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1971 (Reihe Kohlhammer), S. 96 zu Recht bemerkt. Mittels institutioneller Garantien muß sie denn auch nicht herbeigeführt werden, denn für Arndt ist es ein natürlicher Vorgang, daß »alle Staaten [...] von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr demokratisch werden« [Arndt, Werke XIII, S. 222]. Bezeichnend für Arndts Demokratieverständnis ist auch eine Stelle in den Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen (1815), in der er sich gegen Verfassungen ausspricht, die sich nicht »langsam entwickelt« hätten: »Denn nicht was auf dem Papiere steht und mit Eiden, die ebenso leicht zerreißlich wie Papier sind, bekräftigt worden, ist die Freiheit, sondern was sich durch festes und mutiges Ringen um die schönsten Güter in den Herzen der Bürger festgewurzelt hat, das drückt dem Papiere das rechte Bestätigungssiegel auf, das ist die Verfassung, die in der starken Brust verfaßt ist.« Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Vierzehnter Band: Kleine Schriften II. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 70–186, hier S. 82f.; mit dieser Reduktion der »Sphäre der Politik [...] auf [...] moralische[] Gesinnungen« [Lenk, »Volk und Staat«, S. 95] bleibt Arndt hinter dem politischen Denken der Spätaufklärung – vgl. hierzu Jost Hermand: In Tyrannos. Über den politischen Radikalismus der sogenannten ›Spätaufklärung‹. In: Jost Hermand: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur. Stuttgart: J. B. Metzler 1969, S. 9–52 und S. 356–364 – weit zurück. Letztlich ist es auch bei Arndt die allen Ständen gemeinsame Vaterlandsliebe, die den gesellschaftlichen bzw. nationalen Zusammenhalt verbürgt. Vgl. dazu auch Maria Muallem: Das Polenbild bei Ernst Moritz Arndt und die deutsche Publizistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2001 (Europäische Hochschulschriften; 1796), S. 52. Auch Arndts Freiheitsbegriff bezieht sich nicht
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Die konstruierte Nationalgeschichte
Das historische Vorbild für einen solchen nationalen Ständestaat, in dem sich die gesellschaftlichen Gegensätze zum Wohl des »lebendigen Ganzen« harmonisch ausgleichen, fanden die Romantiker freilich nicht in der jüngeren Vergangenheit. Dem zeitgenössischen Adel wurde durchaus vorgeworfen, daß er seine gesellschaftliche Rolle aus eigennützigen Motiven vernachlässigt und somit die revolutionären Umtriebe mitverschuldet habe.372 Dagegen avancierte
372
primär auf die »Verwirklichung der Interessen der unteren, entrechteten Schichten des Volkes« [Prignitz, Vaterlandsliebe, S. 144], wie eine Passage aus den Reden und Glossen (1848) belegt: »Was verstehe ich unter der großen Freiheit [Herv. i. O.]? Darunter verstehe ich unsre ganze volle Volksthümlichkeit in ihrer einigen, in ihr selber abgeschlossenen Unversehrtheit und in ihrer den Fremden Achtung gebietenden Stärke: daß wir als Volk geschlossen zusammenhalten, daß kein fremdes Volk unter dem Titel der Befreiung und Beglückung sich in unsre Familiensachen mischen dürfe.« Ernst Moritz Arndt: Reden und Glossen. Leipzig: Weidmann 1848, S. 19. Wie Lenk (»Volk und Staat«, S. 96) zu Recht betont, versteht Arndt unter Freiheit also »weniger die individuelle Freiheit, als vielmehr die Freiheit des Volkes oder der Nation von äußerer Bedrückung.« Was Arndts Verfassungsforderungen betrifft, so hatte Saul Ascher schon 1819 festgestellt, daß sich Arndts Vorstellungen über das »Konstitutionelle« in erster Linie auf »Nationalität, positive Religion und Eigensucht« beziehen und so eher ein »Hinderniß für den Fortschritt der Menschheitbegründung«, also die Humanisierung der Gesellschaft, darstellen. »Ihnen scheint es bloß um den Namen, nicht um die Sache zu thun zu sein«, wirft der Spätaufklärer in seiner Zuschrift an den Herrn Professor E. M. Arndt seinem Widersacher vor. Vgl. Saul Ascher: Zuschrift an den Herrn Professor E. M. Arndt. In: Der Falke. Eine Viertelsjahresschrift. Der Politik und Literatur gewidmet 2 (1819), H. 3, S. 412–437, Zitate S. 415f. In der Tat steht Arndt – obgleich er als Verfechter der Bauernbefreiung gesehen werden muß – den bürgerlichen Emanzipationsprozessen des frühen 19. Jahrhunderts skeptisch und ambivalent gegenüber: »Ich halte die Freilassung aller Dinge und Verhältnisse«, schreibt er an Franz Hermann Hegewisch, »fast ebenso heillos, als die frühere Gebundenheit und Leibeigenschaft. Sprengung aller Innungen, Gewerbefreiheit, willkührliches Zerstören der Bauern, willkührliches Stämpeln neuen armen Adels, Zulassung von Juden und Judengenossen zu allen Rechten, ich will das Volk sehen, das gegen so fürchterliche Verhältnisse auf die Länge bestehen soll.« Brief vom 1. Mai 1817. In: Ernst Moritz Arndt: Briefe. Hg. von Albrecht Dühr. Erster Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (Texte zur Forschung; 8), S. 560–562, hier S. 560. Vgl. hierzu einmal mehr Adam Müller, der in seinen Vorlesungen Ueber Friedrich II. darauf hinweist, daß es nur noch »wenige[ ] Glieder des Adelsstandes [gibt], welche wahrhaft adeligen Sinn zu behaupten vermögen«, und die deshalb auch als »wahre und erprobte Stützen des Gemeinwesens« gelten könnten. Freilich wird diese Kritik auch umgehend relativiert; zum einen teile »der Adel [...] diese innerliche Corruption seiner Individuen mit den übrigen Ständen«, weil die »eigennützige Richtung der Neigungen auf das Augenblickliche, Vergängliche und Gleißnerische, also auf das Geld [...] allen gemein« sei [vgl. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 126]; zum anderen dürfe eine Institution nicht wegen der »Gesinnung ihrer gegenwärtigen Repräsentanten und Wortführer« verurteilt werden.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
die Gesellschaft des Mittelalters zum »Vorbild einer gegliederten, alle Kreise umfassenden Lebensgemeinschaft«373 und zum Muster dafür, wie die gesellschaftliche Erneuerung auszusehen hatte. Neu war dabei nicht, wie Echternkamp betont, daß »die Vergangenheit das Muster für Gegenwart und Zukunft abgab. Neu war, daß die Verbindlichkeit der Vergangenheit, genauer: einer bestimmten Epoche und einer bestimmten Trägerschicht, auf eine metaphysisch überhöhte Nation beschränkt wurde und nur für ihre Angehörigen handlungsrelevant war«374. Das Mittelalter galt den Romantikern als Anfang der deutschen Geschichte und als Blütezeit des deutschen Nationalcharakters; auch deshalb darf das unter Rechtfertigungsdruck geratene Feudalsystem keinesfalls zur Disposition stehen, ist es doch nach Friedrich Schlegel »in den deutschen Sitten ursprünglich gegründet.«375 Auf diese Weise bietet »[d]ie ständische Universalmonarchie [...] den politischen Rahmen für die Entfaltung der deutschen Tugenden: der Ehre, Sittlichkeit und Treue«376, wie Jörg Echternkamp trefflich bilanziert.377 Ausgerechnet das von den Aufklärern verachtete Mittelalter wurde folglich als Höhepunkt der deutschen Geschichte gewertet und als »zeitlose Zeit«378, als enthistorisiertes Ideal, der degenerierten Gegenwart gegenüber gestellt.
373 374 375 376 377
378
Vgl. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 123–150, das letzte Zitat findet sich auf Seite 125. Zur affirmativen, aber nicht gänzlich unkritischen Haltung der Politischen Romantik zum Adel vgl. auch Klaus Peter: Adel und Revolution als Thema der Romantik. In: Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200–1900. Hg. von Peter Uwe Hohendahl und Paul Michael Lützeler. Stuttgart: J. B. Metzler 1979 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften; 11), S. 197–217. Vgl. zudem mit speziellem Bezug zu Müller und Arnim: Jochen Strobel: »Ein hoher Adel von Ideen.« Zur Neucodierung von Adeligkeit in der Romantik (Adam Müller, Achim von Arnim). In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Festschrift für Roger Paulin. Hg. von Konrad Feilchenfeldt, Ursula Hudson u. a. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 318–339. Scheuner, Beitrag der Romantik (wie Anm. 250), S. 57. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 304), S. 211. F. Schlegel, Kritische Ausgabe XIV (wie Anm. 349), S. 140. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 304), S. 206. Vgl. zum »konservativen Leitbild« des Mittelalters und zu den diesbezüglichen Entwürfen Adam Müllers und Friedrich Schlegels ausführlich ebd., 203–215. Vgl. zu den Schlegel-Brüdern ferner die ausführlichen Darstellungen von Klaus Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794–1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik. Tübingen: Max Niemeyer 1984 (Studien zur deutschen Literatur; 78) sowie Edith Höltenschmidt: Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000 sowie zu August Wilhelm Schlegel: Otto Brandt: August Wilhelm Schlegel. Der Romantiker und die Politik. Mit dem Bild und dem Wappen Schlegels. Stuttgart, Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt 1919. Zur Stellung von Wackenroder und Tieck in diesem Kontext vgl. Klaus Peter: Nürnbergs krumme Gassen. Zum Deutschlandbild bei Wackenroder, Tieck und Richard Wagner. In: Aurora 57 (1997), S. 129–147. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 149.
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»Wie sehr andere Nationen jetzt auf uns herabsehen mögen«379, doziert August Wilhelm Schlegel in seiner Geschichte der romantischen Literatur (1802/03) trotzig, »so ist es doch unleugbar, daß im Mittelalter [...] sie den Deutschen den Vorrang zugestanden haben.«380 Die idealisierte Epoche sollte also »einigen Begriff geben [...] von dem, was Deutschland ehedem war, wenn der Anblick dessen, was es jetzt ist, uns selbst von der Erinnerung des Großen immer mehr zu entfernen droht«381. Die ständische Verfassung, die patriarchalischen Bindungen, das Verhältnis zwischen Religion und Politik innerhalb des deutschen Reiches, die künstlerische Produktivität, aber auch die angebliche Machtfülle des deutschen Kaisers382 korrespondierten mit den Intentionen der Politischen Romantik und ließ diese Epoche besonders attraktiv erscheinen, zumal das Ende des »Goldenen Zeitalters« dem »Ausland« angelastet werden konnte: »Der schlechte Einfluß, der von Frankreich und Italien im kirchlichen ebenso wie – durch die Einführung des Römischen Rechts – im rechtlichen Bereich ausging, leitete den Niedergang ein, der durch die Reformation noch beschleunigte [sic!] wurde«383, resümiert Echternkamp die diesbezüglichen Vorstellungen Müllers und Friedrich Schlegels. Eine Äußerung August Wilhelm Schlegels, der sich 1828 in einer Polemik gegen Johann Heinrich Voß384 an die Jahre der Fremdherrschaft erinnert, belegt freilich, wie stark die Romantiker ihr Mittelalter-Bild stilisierten, um es für die Auseinandersetzungen der Zeit um 1806 funktionalisieren zu können: »Waren die Zeiten eines Otto des Großen, eines Friedrich Rotbart etwa nicht glorreich für Deutschland? Was konnte mehr geeignet sein, das Nationalgefühl der Deutschen zu wecken, als die Vergleichung jener Zeiten, wo ihr frei erwähltes Oberhaupt seine Oberherrlichkeit weit über die Länder deutscher Zunge hinaus, sein schiedsrichterliches Ansehen fast über Europa walten ließ, mit dem damaligen Zustande, wo Deutschland ein militärisch vorgeschriebenes neues Staatsgesetz von Frankreich empfing?«385 Diese Instrumentalisierung einer – konstruierten – Geschichte und die Rolle, die den Autoren in diesem Vorgang zukommt, soll im folgenden näher beleuchtet werden. 379 380 381 382
383 384
385
A. W. Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur (wie Anm. 205), S. 38. Ebd. So Friedrich Schlegel in der Europa (1803). Zit. n. A. D. Verschoor: Die ältere deutsche Romantik und die Nationalidee. Haag: Paris-Verlag 1928, S. 66. Karlheinz Schulz macht darauf aufmerksam, daß es freilich »ein historischer Mythos [war], daß der deutsche Kaiser im Mittelalter von anderen Völkern einfach als Oberhaupt der gesamten Christenheit anerkannt worden [wäre].« Karlheinz Schulz: Voraussetzungen kultureller Vermittlung in der deutschen Frühromantik. Kosmopolitismus und Nationalismus bei den Brüdern Schlegel. In: Recherches Germaniques 19 (1989), S. 66. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 304), S. 206. Berichtigung einiger Mißdeutungen. In: August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Band VIII: Vermischte und kritische Schriften. Zweiter Band. ND der Ausgabe 1846/47. Hildesheim, New York: Olms 1971, S. 220–284. Ebd., S. 244f.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
Peter Berghoff macht in seiner Analyse der »substantialisierten Bänder« des vorgestellten Kollektivs der Nation – zu diesen Bändern rechnet er neben der Geschichte noch das Blut bzw. die Gene sowie die Sprache, die Kultur, die Religion und das Territorium – darauf aufmerksam, daß »[d]as ›Band der Geschichte‹ [...] niemals nur das Produkt von Rekonstruktionen [ist], sondern immer auch das Ergebnis von Konstruktionen, die zwar – graduell unterschiedlich – Fragmente historischer Empirie einbeziehen, diese jedoch imaginär überschreiten«386. Dieser Konstruktcharakter der Nationalgeschichte war den romantischen Autoren freilich durchaus bewußt; hier sahen sie die dem Schriftsteller adäquate Aufgabe, wie Friedrich Schlegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur (1812) deutlich macht: »Wichtig vor allen Dingen für die ganze fernere Entwickelung, ja für das ganze geistige Dasein einer Nation erscheint es auf diesem historischen, die Völker nach ihrem Wert vergleichenden Standpunkte, daß ein Volk große alte NationalErinnerungen hat, welche sich meistens noch in die dunkeln Zeiten seines ersten Ursprungs verlieren, und welche zu erhalten und zu verherrlichen das vorzüglichste Geschäft der Dichtkunst ist.«387 Damit ein Volk, so Schlegel, »zum klaren Bewußtsein seiner eigenen Taten und Schicksale gelangen«388 kann, braucht es die Geschichte als »sich aussprechende[s] Selbstbewußtsein einer Nation«389; die Poesie wiederum vermag es, »die einem Volke eigentümlichen Erinnerungen und Sagen zu bewahren und zu verschönern, und eine große Vergangenheit verherrlicht im Andenken zu erhalten«390. Der ältere Schlegel argumentiert ganz ähnlich; er wünscht sich in einem Brief an Friedrich de la Motte Fouque vom 12. März 1806 deutsche Geschichtsdramen in der Manier Shakespeares391 und erklärt an anderer Stelle, daß »die würdigste Gattung des romantischen Schauspiels [...] die historische«392 sei: »Aber unser historisches Schauspiel sei denn auch wirklich allgemein national [...]. Lange 386
387
388 389 390 391
392
Peter Berghoff: Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse. Berlin: Akademie-Verlag 1997 (Politische Ideen; 7), S. 45. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 6: Geschichte der alten und neuen Literatur. Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1961, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 59. Diese sollen »allgemein verständlich und für die Bühne aufführbar« sein. A. W. Schlegel, Werke VIII (wie Anm. 384), S. 142–153, hier S. 146. Vgl. Walter Hinderer: Prinz Friedrich von Homburg. »Zweideutige Vorfälle«. In: Kleists Dramen. Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 17502), S. 145. Im zweiten Teil seiner Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur (1808). August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Band VI: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Zweiter Teil. ND der Ausgabe 1846/47. Hildesheim, New York: Olms 1971, S. 433.
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haben sich die höheren Stände durch Vorliebe für fremde Sitten [...] der Gesammtheit des Volkes entfremdet [...]. Mögen sich alle, die auf die öffentliche Gesinnung zu wirken Gelegenheit haben, beeifern, das alte Mißverständniß endlich zu lösen, und alle ächt Gesinnten um die leider verlaßenen Gegenstände der Verehrung, bei treuer Anhänglichkeit woran unsre Vorahnen so viel Heil und Ruhm erlebt haben, wie um ein heiliges Panier zu versammeln, und sie ihre unzerstörbare Einheit als Deutsche fühlen zu laßen!«393 Geschichte soll literarisch inszeniert werden, um den Rezipienten ihre »unzerstörbare Einheit als Deutsche« begreifbar zu machen; es geht um die »fiktionale Vergegenwärtigung eines ›verschwundenen‹ Glücks«394, wie Hinrich C. Seeba die »kompensatorische Funktion« 395 dieser nationalen Mythologie präzise beschreibt. Hatten die Aufklärer sich hauptsächlich deshalb der Geschichte zugewandt, »weil es ihnen um Kritik der Traditionen ging«396 und sie »durch Hülffe der Historie den Ursprung der Vorurtheile«397 zu erkennen hofften, so versprechen sich die romantischen Autoren von der Geschichtsbetrachtung im Sinne Michael Stürmers »Wegweiser zur Identität, Ankerplätze in den Katarakten des Fortschritts«398. Sie »enthistorisieren«399 die Vergangenheit, in dem sie sie in ihren Texten als »eine von der Gegenwart völlig verschiedene Sphäre«400 inszenieren, die »als stabiler Bezug für die Beobachtung von Wandel und Verfall dient«401. Diese in der Gegenwart verschüttete und vergessene Sphäre, die lediglich in verfallenen Ruinen oder überlieferten Texten noch fragmentarisch erhalten geblieben ist, verweist auf eine »mythische Identität der Deutschen«402, die dem degenerierten Kosmopolitismus der Gegenwart als Ideal entgegenzusetzen ist. Es bleibt die Aufgabe der literarischen Avantgarde, die393 394 395 396
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Ebd. Seeba, Fabelhafte Einheit (wie Anm. 193), S. 70. Ebd. Jürgen Kocka: Geschichte und Aufklärung. In: Jürgen Kocka: Geschichte und Aufklärung. Aufsätze. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1989 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1541), S. 142. So der sächsische Frühaufklärer Christian Thomasius, den ich hier nach Kocka, Geschichte und Aufklärung (wie Anm. 396), S. 142, zitiere. Michael Stürmer: Dissonanzen des Fortschritts. Essays über Geschichte und Politik in Deutschland. München 1986, S. 209. Zit. n. ebd., S. 146. Jürgen Kocka kritisiert mit Recht die als »neo-konservativ zu bezeichnende[n] Stimmungen«, die die Geschichte und die Geisteswissenschaften insgesamt nicht als »Teil- oder Antriebskraft der Modernisierung [...], sondern als Widerhalt, als Kompensation, als Reparatur für jene Identitätsschäden und Sinnverluste [verstehen], die uns die fortschreitende Modernisierung angeblich zugefügt habe und weiterhin antue«. Neben Stürmer nennt er als Kronzeugen eines solchen von »aufklärerisch-emanzipatorischen Positionen [weit, M. P.] entfernt[en]« Wissenschaftsverständnisses noch Hermann Lübbe und Odo Marquard. Vgl. ebd., S. 146f., Zitate S. 147. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation (wie Anm. 9), S. 148. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 149. Ebd.
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ses Ideal aufzuzeigen und die vergessenen nationalen Wurzeln im Sinne einer Regeneration des Zeitalters in Erinnerung zu bringen. So gilt es, die Zusammengehörigkeit der deutschen Nation nicht nur durch das »Band der Geschichte« zu belegen, sondern ihr durch den Aufweis einer besseren Vergangenheit auch eine Zielsetzung für die Zukunft zu geben. In diesem Kontext wirkt Hannah Vogts markante These über die Struktur nationalen Geschichtsbewußtseins mehr als plausibel: »Biologisch zeugen die Väter ihre Söhne, im nationalen Geschichtsbewußtsein aber zeugen die Söhne ihre Väter.«403 Zu diesen Vätern, die freilich in unterschiedlichen historischen Situationen immer wieder neu ins Leben gerufen werden, gehört auch Hermann der Cherusker, der als heroisches Subjekt die verlorene Einheit Deutschlands wieder herstellt und die gedemütigte Nation von den Okkupatoren befreit.404 »An der Schlacht im Teutoburger Walde hing das Schicksal der Welt, darum ist Hermann Weltname geworden; er ist nicht bloß etwas Poetisches für uns«405, schreibt Ernst Moritz Arndt im zweiten Teil seines Geist[es] der Zeit (1808): »[N]ein, er ist etwas Ewiges und Wirkliches, weil wir noch durch ihn sind, weil ohne ihn vielleicht seit sechzehnhundert Jahren hier kein Deutsch mehr gesprochen sein würde.«406 Anders als etwa Arndt oder Heinrich von Kleist werden in den Texten Adam Müllers und Friedrich Schlegels jedoch »die eher germanenorientierten Angebote des Frühnationalismus«407 weitgehend ausgeschlagen, was nicht zuletzt daran liegt, daß die christliche Komponente des deutschen Nationalmythos nur schwerlich mit dem Identifikationspotential dieser »entfernteren Ahnherrn«408 zu vermitteln war. Hierüber wird später noch ausführlicher zu sprechen sein; zunächst ist damit jedoch die Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Religion und Nation in der Konzeption der Politischen Romantik aufgeworfen. 403 404 405
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Nationalismus gestern und heute. Texte und Dokumente. Hg. von Hannah Vogt. Opladen 1967, S. 28. Vgl. hierzu Seeba, Fabelhafte Einheit (wie Anm. 193), S. 72ff. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Zehnter Band: Geist der Zeit. Zweiter Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 94f. Ebd., S. 95; lesenswert ist Heinrich Laubes Satire auf die Germanenbegeisterung der Romantiker am Beispiel Ludwig Jahns (1834): Den »Turnvater« beschreibt Laube als einen »Urbewohner« mit »eine[r] doppelte[n] Stirn, deren zweiter Teil sich leer und dumm rückwärts hinaufstreckte bis in den Teutoburger Wald. Er sah überhaupt nur rückwärts, obwohl er klare Turneraugen hatte. [...] Er erzählte aber von den Cheruskern, vom Minister Stein, von seinen Feldzügen auf der Universität und mit den Aliierten – er selbst hielt sich für den vierten Aliierten, und Rußland, Preußen, Österreich und Jahn hatten die große Armee geschlagen«. In: Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1966 (Reclams Universal-Bibliothek; 8703), S. 56–58, hier S. 56f. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 304), S. 208. Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Band 1: Kritische Schriften. Neuwied: Luchterhand 1967, S. 91.
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Das Verhältnis von Religion und Nation
a) Gott und die Vielfalt der Nationen In den verschiedenen Versuchen, das Verhältnis zwischen Religion und Nation im deutschen Nationalismus zu untersuchen, ist unter dem Stichwort der »Sakralisierung des Nationalen«409 oder auch der »säkulare[n] Religiosität«410 immer wieder auf die Indienstnahme der religiösen Sprache durch die Theoretiker des Nationalen hingewiesen worden. »[U]nendliche Dauer, Zukunft des Heils, Brüderlichkeit«411, benennt Thomas Nipperdey in seinem Essay über den Romantische[n] Nationalismus412 als die »religiösen Prädikate«413, die der Nation zugesprochen werden. »Das tägliche Leben wird auf etwas Unanschauliches, aber Mächtiges hin transzendiert, eben auf die Nation.«414 Hans-Ulrich Wehler spricht in diesem Kontext von einer »neue[n] politische[n] Religion«415, um die sich die Mitglieder »der kleinen deutschen Nationalgemeinde [...] zusammenfand[en]«416. Obschon diese Beobachtungen grundsätzlich ebenso richtig wie wichtig sind, so verdecken sie doch ein wenig die Verbindlichkeit, die das christliche Glaubenssystem für die romantischen Autoren weiterhin besaß. Die Forderung nach einer »neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik«417 (Franz von Baader) war ja ein aus der Ablehnung des Theologischen Rationalismus der Aufklärung418 entstandener konstitutiver Bestandteil des Ideenkata409
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Ute Planert: Wann beginnt der »moderne« deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Hg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller. München: Oldenbourg 2002 (Beiträge zur Militärgeschichte; 56), S. 47. Nipperdey, Romantischer Nationalismus (wie Anm. 306), S. 115. Ebd., S. 115. Ebd., S. 110–125. Ebd. Ebd. Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen. München: C. H. Beck 2001 (Wissen in der Beck’schen Reihe; 2169), S. 65. Ebd.; vgl. auch Michael Jeismann: Alter und neuer Nationalismus. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 17–22 und Jörg Echternkamp: »Religiöses Nationalgefühl« oder »Frömmelei der Deutschtümler«? Religion, Nation und Politik im Frühnationalismus. In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt a. M.: Campus 2001, S. 142–169. Die Schrift Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik (1815) findet sich in Franz von Baader: Schriften zur Gesellschaftsphilosophie. Mit einem Anhang von erstmaligen Veröffentlichungen. Hg. von Johannes Sauter. Jena: Fischer 1925 (Die Herdflamme; 14), S. 53–69. Noch Eichendorff polemisiert gegen die Bemühungen der Franzosen, »Gott ab[zuschaffen] und die nackte Vernunft leibhaftig auf den Altar« zu stellen.
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logs der Politischen Romantik und wurde im Rahmen des nationalen Engagements mitnichten aufgegeben. »Wer des Vaterlandes Noth vergist, den wird Gott auch vergessen in seiner Noth!«419, schreibt Ludwig Achim von Arnim und macht damit deutlich, daß sowohl die Nation als auch die Glaubensinhalte der christlichen Religion als nicht zu hinterfragende Autoritäten und sinnstiftende Instanzen anerkannt werden sollen.420 In dieser Parallelisierung und Koexistenz der beiden Sinngebungsinstanzen liegt ein gravierender Unterschied zum Nationalismus der Französischen Revolution, der bei Nipperdey nivelliert wird,421 denn die Jakobiner funktionalisieren in der Tat das religiöse Vokabular für die politische Vorstellungswelt. Freilich konnte die von den Romantikern intendierte Verbindung der religiösen mit der politischen Idee nicht ohne Komplikationen vor sich gehen, mußte der nationale Partikularismus doch mit dem christlichen Universalismus harmonisiert werden. Diese Schwierigkeit versuchten die Autoren auf zweifachem Wege zu lösen: Zum einen betonte man die besondere Affinität des Deutschtums zum Christentum; so schreibt etwa Friedrich Schlegel, »daß der christliche Staat sich auf germanischem Grund und Boden so vorzüglich entwickelt«422 hätte, weil das germanische Recht mit den christlichen Lehren bestens vereinbar sei. Zum anderen wurden die nationalen Unterschiede als von Gott gegebene und gewollte Differenzierungen verstanden und so der Kampf um den Erhalt oder die Wiedergewinnung nationaler Identität als ein göttlich sanktionierter Kampf deklariert; Adam Müller dekretiert in diesem Sinne, daß »die christliche Religion [...] gerade recht abstechender Nationalitäten [bedarf], um sich recht glorreich zu entfalten«423, und Ernst Moritz Arndt verweist auf eine
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»Christus galt fortan für einen ganz guten, nur leider etwas überspannten Mann, dem sich jeder Gebildete wenigstens vollkommen ebenbürtig dünkte«, erinnert sich der Freiherr 1857 in seiner Schrift Der Adel und die Revolution mit Schaudern an die revolutionäre Umbruchphase. Eichendorff, Werke V (wie Anm. 284), S. 408. Achim von Arnim an Clemens Brentano, Brief vom 8. September 1806. In: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe I. 1801 bis 1806. Vollständige kritische Edition. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), S. 422–427, hier S. 422. Vgl. zur Bedeutung der Religion in den Konzeptionen der Politischen Romantik auch Herzinger, Erlöste Moderne (wie Anm. 152), S. 102f. Nipperdey parallelisiert den religiösen Zug des jakobinischen mit dem des romantischen Nationalismus und sieht beide Phänomene lediglich dadurch getrennt, daß die jakobinische politische Religion eher futuristisch, die der Romantiker eher an der Vergangenheit orientiert sei. Vgl. Nipperdey, Romantischer Nationalismus (wie Anm. 306), S. 115. So Friedrich Schlegel in der Signatur des Zeitalters (1820–1823). In: F. Schlegel, Kritische Ausgabe VII (wie Anm. 211), S. 582. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Zweiter Halbband. Jena: Fischer 1922 (Die Herdflamme; 1), S. 164.
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durch Gott selbst etablierte »Verschiedenheit der Länder und Völker«424. Dieser zweite Lösungsweg schließt Sendungsideen aus; vielmehr impliziert er, daß alle Nationen das gleiche Recht auf die Erhaltung ihrer Identität besitzen. »[W]as besteht, hat ein Recht zu bestehen«425, konzediert denn auch Arndt, und Müller erteilt dem »einseitige[n] Streben nach Vergrößerung oder [einer] Universal-Monarchie«426 gleichfalls eine Absage: »In dem wahren Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit liegt zugleich, wie ich gleichfalls gezeigt, Demuth und Hingebung gegen die Freiheit der Uebrigen«427. In Bezug auf Versuche, diese Toleranz gegenüber anderen Nationen zum zentralen »romantischen Axiom« zu erheben,428 muß freilich auf zwei Faktoren hingewiesen werden: Zum einen unterlaufen die Romantiker mit stetig wiederkehrenden Hinweisen auf die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Volkes ihre eigene Vorstellung von der Koexistenz gleichwertiger Nationen immer wieder. Friedrich Schleiermacher etwa verkündet, fest daran zu glauben, daß die deutsche Nation »ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes ist«429; zum anderen beinhaltet die Vorstellung einer auf göttlichem Willen basierenden Völkervielfalt freilich auch eine göttliche Sanktionierung eines aggressiven Vorgehens gegen Tendenzen, die aus der Perspektive der nationalen Romantik eine »ungebührliche[] Vermischung mit dem Ungleichen«430 und damit eine Gefährdung der nationalen Identität zur Konsequenz haben könnten. b) Drei religiöse Bezugsebenen des politischen Kollektivs Um das komplizierte Verhältnis zwischen politischen Kollektiven und ihren religiösen Dimensionen adäquat analysieren zu können, hat Peter Berghoff ein Modell entwickelt, das für unsere Zusammenhänge hilfreich ist und daher kurz 424
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430
So Arndt in der Abhandlung Über Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache (1813). Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 319–334, hier S. 331. Ebd. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 209. Ebd. So insbesondere Kurt Hübner: Das Nationale. Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes. Graz, Wien, Köln: Styria 1991, S. 96–145. Hier zit. n. Wehler, Nationalismus (wie Anm. 415), S. 65. Es gilt auch zu bedenken, daß das Mittelalter – wie bereits erwähnt – auch deshalb zum Leitbild stilisiert wird, weil die Romantiker glauben, hier eine deutsche Führungsrolle in der europäischen Völkervielfalt erkennen zu können. Dazu Adam Müller: »Die Christenheit des Mittelalters hingegen war ein Bund Romanischer, Gothischer, Germanischer, Slavischer, Finnischer Nationen, also der ungleichartigsten Sprachen, der verschiedensten Sitten und Neigungen, der abstechendsten Klimate; – und gerade die nationale Ungleichheit war es, welche diesen Bund befestigte. Deutschland war der nähere Berührungspunkt aller dieser ungleichartigen Elemente, deren mannichfaltige Spuren ja noch jetzt nicht verwischt sind«. Müller, Elemente II (wie Anm. 423), S. 164. Arndt, Volkshaß (wie Anm. 424), S. 331.
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referiert werden soll.431 Berghoff geht von drei verschiedenen religiösen Bezugsebenen in der Imagination des politischen Kollektivs aus – nämlich der explizit-traditionellen Ebene, der komplementär-traditionellen Ebene und der Ebene des impliziten Religionsbezuges. »Gewissermaßen markieren diese drei Ebenen verschiedene Grade der Säkularisierung, die zwar auf der dritten Ebene am stärksten ausgeprägt ist, aber durch Resakralisierung des verweltlichten Kollektivs wird eben dieses als zentrales Objekt religiösen Begehrens hervorgehoben.«432 Das politische Kollektiv steht auf dieser dritten Ebene nicht mit einer spezifischen religiösen Tradition in Beziehung, sondern es avanciert selbst zur Religion – deswegen werden religiöse Symbole einerseits zwar verwendet, andererseits aber als solche nicht mehr explizit gemacht. »Dieser Typus religiöser politischer Kollektivität ist am schärfsten in der Französischen Revolution hervorgebracht worden«433, wie Berghoff deutlich macht: »Wenngleich der revolutionäre Geist der Dechristianisierung in Frankreich vor allem an die Zeit der Revolution gebunden war, ist hier die Ideologie des Nationalismus als eine Gegenreligion erfunden worden, die zumindest in der Zeit der Revolution gegen das Christentum gerichtet war und diese – vor allem katholische – Tradition überwinden wollte.«434 Die Politische Romantik fühlte sich durch diese vermeintlich atheistischen Tendenzen herausgefordert und wollte dagegen die christliche Tradition wieder in ihr Recht setzen – deshalb ist es problematisch, wenn im Hinblick auf den deutschen Nationalismus des beginnenden 19. Jahrhunderts von einer »Zivilreligion oder Säkularreligion«435 gesprochen wird. Als wesentlich ergiebiger erweisen sich in diesem Kontext die von Berghoff in die Diskussion eingeführten Kategorien, denn in der Tat versuchen die romantischen Nationalisten, das von ihnen konstruierte politische Kollektiv mit einer bestehenden religiösen Tradition in Verbindung zu setzen, nämlich mit dem Christentum; ihre religiöse Bezugsebene ist also eine explizit-traditionelle, in der »[d]ie Zugehörigkeit zum politischen Kollektiv [...] angelehnt [wird] an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, aber nicht immer umgekehrt. D. h. es wird von allen Zugehörigen das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion erwartet, während nicht alle Gläubigen dieser Religion zugleich auch Zugehörige des politischen Kollektivs sind und sein sollen«436. Auf dieser Ebene wird das politische Kollektiv nach Berghoff als »Instrument einer religiösen Tradition«437 betrachtet; dementsprechend insistiert Adam Müller darauf, »[d]aß Christus nicht bloß für die Menschen, sondern auch für die Staaten gestorben 431 432 433 434 435 436 437
Vgl. Berghoff, Tod des politischen Kollektivs (wie Anm. 386), S. 96–118. Ebd., S. 112. Ebd. Ebd., S. 111. Wehler, Nationalismus (wie Anm. 415), S. 32. Berghoff, Tod des politischen Kollektivs (wie Anm. 386), S. 97. Ebd., S. 111.
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sey«438 und daß das »wahre National-Leben«439 ohne das Fundament der christlichen Religion nicht erreicht werden könne.440 Auf der zweiten – der komplementär-traditionellen – Ebene verschiebt sich der Akzent hin zum politischen Kollektiv: Seine größere Bedeutung und »die schwindende Verbindlichkeit zur religiösen Tradition«441 diagnostiziert Berghoff als die entscheidenden Unterschiede zu der ersten Ebene. Gleichwohl bleibt die religiöse Tradition, auch wenn sie nun »kritisiert, gebrochen oder ergänzt [wird], [...] ein wichtiges Bezugsreservoir für die Konstruktion der Kollektivitätsreligion, die auch ausdrücklich als Religion verstanden wird«442. Von den hier zu behandelnden Autoren der Politischen Romantik überschreitet lediglich Fichte die Grenze von der ersten zur zweiten Ebene, eröffnet er doch dem Volk die Möglichkeit, »Unterpfand einer diesseitigen Ewigkeit«443 zu werden.444 Diese Perspektive ist ebenso gegen das Christentum gerichtet wie 438 439 440
441 442 443 444
So der Titel seiner 34. Vorlesung in den Elementen der Staatskunst. Vgl. Müller, Elemente II (wie Anm. 423), S. 178–195, hier S. 178. Ebd., S. 189. Vgl. hierzu auch Peter Steins Untersuchung zur politischen Lyrik der Jahre zwischen 1780 und 1848, in der auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den romantischen Lyrikern der Befreiungskriege und den Vormärz-Literaten verwiesen wird. Beide Gruppierungen arbeiten mit Stichwörtern aus der religiösen Sphäre. »Der politische Eifer in religiöser Sprache wurzelt bei den Befreiungslyrikern jedoch noch in echter Religiosität. Die politische Haltung soll nicht die religiöse ersetzen, sondern wird als ungetrennt von ihr empfunden.« Bei den Autoren des Vormärz werden »Formeln und Gedanken wie heiliger Krieg, Flammenzeichen, Kreuzzug, höchstes Heil, das im Schwert liegt, Altar der Freiheit, Märtyrer des gerechten Krieges usw.« dagegen stärker instrumentalisiert. Peter Stein: Politisches Bewusstsein und künstlerischer Gestaltungswille in der politischen Lyrik 1780– 1848. Hamburg: Lüdke 1971 (Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen; 12), S. 204. Berghoff, Tod des politischen Kollektivs (wie Anm. 386), S. 101. Ebd., S. 112. Ebd., S. 102. Als Grenzfall zwischen erster und zweiter Ebene muß noch Ernst Moritz Arndt gesehen werden, der in den Jahren der Befreiungskriege nach Maria Muallem »[a]ufs Ganze gesehen [...] nicht der Gefahr entgangen [ist], die christliche Religion in den Dienst seiner nationalen Anliegen zu stellen.« Karl Heinz Schäfer urteilt vorsichtiger, konstatiert aber ebenso, »daß Arndts Glaube und Gottesbild in diesen Jahren sehr eigenwillige Züge aufwiesen.« Günther Ott spricht in seiner grundlegenden Untersuchung über die religiöse Entwicklung Arndts in diesem Zusammenhang von »religiösen Seitenwege[n]«. Vgl. Muallem, Polenbild (wie Anm. 371), S. 54–60, hier S. 59; Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zur Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert. Bonn: Röhrscheid 1974 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn; 13), S. 133–141, hier S. 138 sowie Günther Ott: Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten. Bonn, Düsseldorf: Röhrscheid 1966 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn; 2/Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kichengeschichte; 22),
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Fichtes Invektiven gegen jenen »sehr verkehrte[n] Gebrauch der Religion«445, der das »zeitliche Leben«446 und mithin das irdische Vaterland nur zu einem »Vorhofe des wahren [jenseitigen, M. P.] Lebens«447 erklärt und somit entwertet. Dagegen werden in seinen Reden an die deutsche Nation Nationalismus und Vaterlandsliebe in den Rang einer »geschichtsimmanenten Ewigkeitsverheißung«448 (Kurt Lenk) erhoben, insofern als daß der Einzelne im nationalen Ganzen auch nach seinem Tode weiterlebt: »Der Glaube des edeln Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat [...]. Dauer verspricht ihm allein die selbstständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muss er sogar sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat. So ist es.«449
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Der Begriff des »Volkes«
In den Bemühungen der Politischen Romantik, eine »deutsche Identität« zu konstruieren, nimmt der Begriff des »Volkes« eine zentrale Rolle ein. Dabei können sich die Autoren auf die von Johann Gottfried Herder »inaugurierte Nobilitierung«450 der Begrifflichkeit berufen; nachdem im 18. Jahrhundert nämlich zumeist die Angehörigen der unteren sozialen Schicht, die Besitzlosen und Nichtgebildeten, oder aber die Untertanen des Königs oder Landesfürsten als »Volk« bezeichnet worden waren, leistete Herder gegenüber dieser soziologischen und dynastischen Verwendungsweise des Begriffes eine »semantische Neufundierung, wie man sie sich umfassender kaum vorstellen kann«451.
445 446 447 448 449 450
451
S. 203. Dagegen geht Reinhart Staats davon aus, daß umgekehrt die »eindeutige[] christliche[] Parteinahme« Arndts ab 1809 seinen »leidenschaftlichen Patriotismus verstärkt« habe. Vgl. Staats, Arndt (wie Anm. 371), hier S. 66f. Fichte, Werke VII (wie Anm. 318), S. 378. Ebd., S. 379. Ebd. Lenk, »Volk und Staat« (wie Anm. 371), S. 75. Fichte, Werke VII (wie Anm. 318), S. 382f. Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 53. Bernd Schönemann, Bernd: »Volk« und »Nation« in Deutschland und Frankreich 1760–1815. Zur politischen Karriere zweier Begriffe. In: Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft. Hg. von Ulrich Herrmann und Jürgen Oellers. Weinheim, Basel: Beltz 1989 (Zeitschrift für Pädagogik/Beiheft; 24), S. 279. Vgl. zum Bedeutungswandel des »Volks«-Begriffes auch Heinrich Meyer: Volk – Von der Aufklärung zur Romantik. In: Dichtung und Deutung. Gedächtnisschrift für Hans M. Wolff. Hg. von Karl S. Guthke. Bern, München: Francke 1961, S. 83–95; Gerhard vom Hofe: Der Volksgedanke in der Heidelberger Romantik und seine ideengeschichtlichen Voraussetzungen in der
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Herders Vorstellung einer »sprachlich-kulturellen Individualität der Völker [...], [die] als die eigentlichen Träger einer von der Vorsehung gelenkten Menschheitsgeschichte figurierten«452, ermöglichte eine Synonymisierung der Begriffe »Volk« und »Nation«, wobei die Nation im Sinne Herders sich eben nicht bürgerlicher Rechtlichkeit verdankt, sondern als »geburts- und schicksalsverbundene[] Stammesbrüderschaft«453 (Henning Buck) gesehen werden muß. Auf dieser Basis kann Adam Müller in seinen Elementen der Staatskunst das »Volk« definieren als »die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbande zu Leben und Tod zusammenhangen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum, den gemeinsamen Bund verbürgt, und mit seiner gesammten Existenz wieder von ihm verbürgt wird«454. Freilich gab es weder in dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation noch später in den durch französische Truppen besetzten oder bedrohten deutschen Ländern eine politische Handlungseinheit, die sich als »deutsches Volk« im Sinne der neuen Begriffsverwendung verstanden hätte. »Das deutsche Volk taucht erst in der Zeit der Französischen Revolution, vor allem aber in der napoleonischen Ära und in den Befreiungskriegen auf – und zwar als Desiderat«455, betont Michael Jeismann zu Recht. Dem Signifikanten fehlte noch das Signifikat, wie auch Novalis’ Postulat aus dem Jahr 1800 – »Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden«456 – deutlich macht. In dem Bewußtsein, angesichts der Bedrohung durch Frankreich einen »neuen Gemeingeist« entfachen zu müssen, behaupteten die romantischen Intellektuellen jenseits aller politischer Widrigkeiten eine natürliche Zusammengehörigkeit aller Deut-
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deutschen Literatur seit Herder. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: KlettCotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 225–251; Michael Titzmann: »Volk« und »Nation« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sozio-semiotische Strategien von Identitätsbildung und Ausgrenzung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1992), S. 38–61; Joep Leerssen: Nation, Volk und Vaterland zwischen Aufklärung und Romantik. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 171–178; Henning Buck: Zum Spannungsfeld der Begriffe Volk – Nation – Europa vor der Romantik. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 21–33. Schönemann, »Volk« und »Nation« (wie Anm. 451), S. 279. Buck, Spannungsfeld der Begriffe (wie Anm. 451), S. 25. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 145f. Michael Jeismann: Das souveräne Volk. Eine Geschichtsrevue. In: Kursbuch 116 (1994), S. 10f. So Novalis in seiner Sammlung Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (1797/98). In: Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 225–285, hier S. 246f.
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schen. Der politischen Nation Frankreichs setzte man eine vorpolitische Einheit des deutschen Volkes entgegen, die ihre Beglaubigung in den Tiefen der Geschichte fand. »[W]ir sind seit undenklichen Zeiten ein teutsches Volk gewesen«457, verlegt Joseph Görres den Ausgangspunkt der deutschen Nation weit in die Vergangenheit zurück. Damit gerät er freilich in einen signifikanten Widerspruch zu der zuvor zitierten Forderung von Novalis; ein Widerspruch, der daraus resultiert, daß – in bewußter Abgrenzung zu Frankreich, wo man den voluntaristischen Charakter der »Nation« betonte – der Konstruktcharakter der nationalen Selbstfindung ontologisch verschleiert wurde. »Die Romantiker wollten nicht wie die Aufklärer eine neue Welt konstruieren. Sie fühlten sich als Entdecker einer zwar verborgenen, aber bereits vorhandenen Wirklichkeit«458, betont Lutz Hoffmann, der freilich auch auf eine Problematik dieser Vorstellung eines ontologischen Volksbegriffs aufmerksam macht: »Die Französische Revolution gründete das Volk auf den Willen und das Handeln von Menschen. [...] Auch der deutsche Volksbegriff durfte auf ein solches Aktzentrum nicht verzichten, wenn er gegenüber dem voluntaristischen Begriff nicht auf einer vegetativen Stufe verharren wollte.«459 Erneut konnte sich die Politische Romantik bei Herder bedienen, der bereits die Grundzüge einer »Volksgeistlehre«460 entwickelt hatte. Dieser »Volksgeist« wurde nun zu einem »in der Geschichte handelnde[n] Subjekt erhoben«461 und nahm damit jene Stelle ein, die im französischen Staatsverständnis die Volkssouveränität innehatte: »Das deutsche Volk«462, so Hoffmanns Bilanz, »konstituiert sich nicht wie die französische Nation durch den Willen der Individuen, sondern es ist eine immer schon gegebene natürliche Einheit, die von einem transzendenten Zentrum zusammengehalten wird, und von ihm die Impulse seiner geschichtlichen Entwicklung empfängt. Der Volksgeist als dieses Zentrum ist das eigentliche Subjekt dieses Volkes, ausgestattet mit eigener Legitimität, eigenem Willen und eigener Kraft, so daß die Realität des Volkes nur das Ergebnis seines Wirkens sein kann.«463 So wird der Bevölkerung, wenn es um politische Entscheidungsfindungen geht, weiterhin eine »Statistenrolle«464 zugewiesen, was letztlich auch nicht dadurch kaschiert werden kann, daß an die Regierenden durchaus die Forderung gestellt wird, ihre Entscheidungen transparent zu machen und eine öffentliche Diskussion zuzulassen. Selbst Adam Müller, dem in der Forschung immerhin schon einmal attestiert worden war, »die klerikal-feudale ›Romantik‹ 457
458 459 460 461 462 463 464
Im Artikel Die Verhältnisse der Rhein-Länder zu Frankreich.(Fortsetzung) im Rheinischen Merkur 26 vom 13. März 1814. In: Görres, Rheinischer Merkur I (wie Anm. 294), o. Pag., Herv. i. O. L. Hoffmann, Das deutsche Volk und seine Feinde (wie Anm. 291), S. 110. Ebd., S. 123f. Ebd., S. 124. Ebd. Ebd., S. 125. Ebd. Echternkamp, Aufstieg des Nationalismus (wie Anm. 304), S. 206.
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in ihrer reaktionär-militantesten Gestalt«465 (Günther Rudolph) verkörpert zu haben, postuliert im Sinne der für das Projekt der »deutschen Nation« unabdingbaren Binnenmobilisierung eine »wechselseitige Verbindung«466 zwischen Herrscher und Beherrschten, zwischen Regenten und Regierten: »[V]on den Herrschenden herab nach allen Seiten sollen unendliche Berührungen Statt finden; eben so soll aber auch eine Berührung, die vom Volke ausgeht, wieder ohne Ende die Herrschenden erreichen«467, schreibt er in seinen Vorlesungen Ueber Friedrich II.. Diese Verbindung bedarf freilich keiner neu geschaffenen institutionellen Absicherungen, denn »[d]ie öffentliche Meinung, von welcher ich rede, [...] läßt sich durch Formen allein nicht herbei zwingen«468. Stattdessen empfiehlt Müller sowohl der Regierung als auch der Bevölkerung die allgemeine Besinnung auf die »Wesenheit unseres Zustandes«469 und den Glauben »an ein Nationalleben«470: »[F]ür das Gemüth eines Volkes, und die Kraft und die Ordnung, die daraus entspringt, gibt es kein Surrogat, auch nicht in den intelligentesten Köpfen, auch nicht in den größten Virtuosen.«471 Die Besinnung auf das »Gemüth«472 des »deutschen Volkes« führte freilich auch zu der Überlegung, »daß der große Literaturstaat sein Haus der Gemeinen 465
466 467 468
469 470 471 472
Günther Rudolph: Adam Müller und Kleist. Über die sozialökonomische Ausprägung der deutschen Romantik in ihren Bezügen zur spezifisch literarischen Form der Romantik. In: Weimarer Beiträge 24 (1978), H. 7, S. 123. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 46. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 48. Gerhard Göhler sieht in der beständigen Forderung, dem Souverän die öffentliche Meinung zu Gehör bringen zu können, nur »die übliche Formel der damaligen Zeit, um sie nicht zu politischer Wirksamkeit gelangen zu lassen«. Göhler, Konservatismus (wie Anm. 359), S. 341. Demgegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß die meisten Autoren der Politischen Romantik auch als Publizisten und Journalisten tätig waren, in diesem Kontext oft Probleme mit der Zensur hatten und deshalb schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse heraus für die Möglichkeit der öffentlichen Meinungsäußerung plädierten. Vgl. hierzu exemplarisch etwa die Geschichte der von Heinrich von Kleist unter reger Beteiligung Adam Müllers herausgegebenen Berliner Abendblätter. Vgl. u. a. Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Klaus Peter, Dirk Grathoff u. a.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Frankfurt a. M.: Athenäum-Verlag 1972 (These; 5), S. 35–168; Eberhard Scheibner: Zu Kleists politischen Ansichten zur Zeit der »Berliner Abendblätter«. In: Weimarer Beiträge 23 (1977), H. 9, S. 144–170; [Hans-]Jochen Marquardt: Der mündige Zeitungsleser – Anmerkungen zur Kommunikationsstrategie der »Berliner Abendblätter«. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1986), S. 7–36 sowie Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, insbesondere S. 94–110 sowie S. 202–210. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 48. Ebd., S. 49. Ebd. Henrik Steffens betont in seiner Schrift Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (1817), daß jede Nation »ein Gemüt« habe, »eine innere geistige Constitution wie die Menschen, und nur wer diese gefaßt hat, vermag die Nation zu begreifen.« Zit. n. Die Idee des Volkes (wie Anm. 275), S. 75.
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habe, in dem die Nation sich selbst unmittelbar repräsentire«473. Das Interesse der Romantiker an den literarischen Erzeugnissen der sozial marginalisierten Schichten verdankte sich dem Glauben, hier dem »Volksgeist« und dem mit Attributen wie Treue, Biederkeit, Ehrlichkeit, Tugendhaftigkeit, Einfalt, Demut, Redlichkeit, Edelsinn, Tapferkeit, Ehre und Wehrlichkeit474 versehenen Nationalcharakter in seiner natürlichsten Ausprägung jenseits der modernen Gefährdungen durch Rationalismus und Aufklärung begegnen zu können. »So hat die alte Zeit verbannt beim Volke sich verbergen müssen«475, konstatiert Joseph Görres, »und das Volk ist rein auch allein vom Schimpfe der bösen Zeiten geblieben, die sie verdrängten.«476 Wie Lutz Hoffmann zu Recht bemerkt, ist dieses »von den einfachen Leuten bewahrte Alte [...] das wahre Eigene«477. So wird, ähnlich wie in Frankreich, der dritte Stand mit den »Weihen der Totalität«478 versehen, doch ohne daß die politischen und revolutionären Konsequenzen des Nachbarlandes gezogen worden wären; denn »[w]ährend es 473 474
475 476
477 478
Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher. Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 1807. Hildesheim, New York: Olms 1982, S. 9. Aufzählung nach Gerhard Schulz: Von der Verfassung der Deutschen. Kleist und der literarische Patriotismus nach 1806. In: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 71. Es handelt sich hierbei um vom Bürgertum getragene und geförderte Tugenden, die in der »nationalen Sattelzeit« nationalisiert werden und mithin zu deutschen Nationaltugenden avancieren. Vgl. Hubert Orlowski: Zur ›Erfindung der (deutschen) Nation‹. Von historischer Semantik und historischer Stereotypenforschung. In: Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Polrola. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 1998, S. 20. Vgl. auch Dieter Martin: Vom Beistand altdeutscher »Biederleute« bei der romantischen Suche nach nationaler Identität. In: Romantische Identitätskonstruktionen. Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 4), S. 3f. Zu nationalen Stereotypen generell vgl. Michael Jeismann: Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln? In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart: Klett-Cotta 1991 (Sprache und Geschichte; 16), S. 84–93; zu den »deutschen Urworten«, wie Hans-Dieter Gelfert Begriffe wie »Einfalt« oder »Redlichkeit« bezeichnet, vgl. Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München: C. H. Beck 2005 (Beck’sche Reihe; 1591), S. 22–81. Görres: Aus der Rückschau. Zit. n. Die Idee des Volkes (wie Anm. 275), S. 101. Ebd. Joep Leerssen weist darauf hin, daß dieser Gedanke freilich so neu nicht ist: »Entsprechend finden wir überall in Europa, und zwar das ganze 18. Jahrhundert hindurch, die Klischeeformel, daß Nationalcharaktere am besten bei Bürgern und einfachen Leuten zu beobachten seien, da sie dort am ausgeprägtesten und unverdorbensten hervortreten, während die gehobenen Schichten, poliert wie sie sind, ihre nationale Eigenart fast verloren haben.« Leerssen, Nation, Volk und Vaterland (wie Anm. 451), S. 171. L. Hoffmann, Das deutsche Volk und seine Feinde (wie Anm. 291), S. 114. Ebd.
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Sieyes darum ging, den politischen Willen eines Teils der Bevölkerung zum Willen der Nation zu erklären, verallgemeinerten die Romantiker die unpolitische ›Natürlichkeit‹ der einfachen Leute zu einem Merkmal des Ganzen«479. Vor diesem Hintergrund kann Gerhard Schulz die »Aufwertung des Wortes ›Volk‹ im Deutschen«480 als eine »verhängnisvolle«481 begreifen, »wurde es [das Volk, M. P.] doch verstanden als eine Naturgegebenheit gegenüber einer die prinzipielle menschliche Fehlbarkeit akzeptierenden, ja auf sie bauenden Konstruktion des Staates bei Kant oder Wilhelm von Humboldt«482. Es ist bei dieser idealisierten und funktionalisierten Volksvorstellung483 nur folgerichtig, daß die konkrete Lebenswirklichkeit der einfachen Bevölkerung aus dem Blick geriet; eine Ausnahme stellt Adelbert von Chamisso dar, der etwa mit Der Bettler und sein Hund (1829)484 »die erste sozialkritische Ballade des Vormärz«485 verfaßte und dessen Gedicht Die alte Waschfrau (1833)486 am Anfang der »Arme-Leute-Poesie« des 19. Jahrhunderts steht.487 Die »offene Aufmerksamkeit für die sozialen Mißstände«488 und der »krasse[] Realis479 480 481 482 483
484 485
486 487
488
Ebd. G. Schulz, Verfassung der Deutschen (wie Anm. 474), S. 69. Ebd. Ebd. Die permanente Bemühung der Romantiker, zwischen »Volk« und »Pöbel« zu differenzieren, muß als Konsequenz aus dieser idealisierten Volksvorstellung gesehen werden. »Aber eines wollen wir vorzüglich in’s Auge nehmen«, schreibt etwa Joseph Görres in seiner Einleitung zu Die teutschen Volksbücher (1807), »daß wir die Pöbelhaftigkeit, als Solche rein schlecht und verwerflich unterscheiden von Volksgeist und Volkessinn, die in ihrer Ausartung und Verderbniß nur in jenen übergehen.« Görres, Volksbücher (wie Anm. 473), S. 5. »Das Volk ist ebenso heilig, als der Pöbel unheilig ist«, heißt es dementsprechend in Ernst Moritz Arndts Abhandlung Über künftige ständische Verfassungen in Deutschland (1814). In: Arndt, Werke XIII (wie Anm. 371), S. 197–250, hier S. 222. Alexander von Bormann sieht die »geschichtliche Tendenz dieser Argumentation« in dem Versuch, mittels »dieser Abgrenzung des deutschen Bürgertums von allen plebejischen Elementen [...] den angestrebten und weitgehend schon durchgesetzten Klassenkompromiß zwischen Feudalabsolutismus und Bourgeoisie nicht zu gefährden«. Alexander von Bormann: Vom Traum zur Tat. Über völkische Literatur. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. von Wolfgang Rothe. Stuttgart: Reclam 1974, S. 304. Adelbert von Chamisso: Werke in zwei Bänden. Erster Band: Gedichte. Dramatisches. Hg. von Werner Feudel und Christel Laufer. Leipzig: Insel 1981, S. 207f. Hermann Haarmann: Fremd in der Welt, zu Hause in der Sprache. Adelbert von Chamisso und die Berliner Romantik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990), S. 52. Chamisso, Werke I (wie Anm. 484), S. 77–79. Vgl. Gert Sautermeister: Religiöse und soziale Lyrik. In: Zwischen Restauration und Revolution. 1815–1848. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 5), S. 519–521. Norbert Miller: Chamissos Schweigen und die Krise der Berliner Romantik. In: Aurora 39 (1979), S. 118.
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mus der Darstellung«489 wurden ihm jedoch prompt in einer symptomatischen Kritik von Joseph von Eichendorff zum Vorwurf gemacht. Der »Deutschfranzose[]«490, so Eichendorffs Verdikt, habe sich aufgrund seines »französischen Naturell[s]«491 einer »absichtliche[n] Effectmacherei«492 nicht enthalten können. Die soziale Frage wurde durch die Politische Romantik entweder, wie hier im Falle Eichendorffs, dezidiert ausgeblendet, oder aber mit untauglichen Konzepten – etwa den religiösen Therapievorschlägen Franz von Baaders – einer Scheinlösung zugeführt.493 Diesen Problematiken zum Trotz, darf ein durchaus progressiver Ideenkomplex der Politischen Romantik in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. So hatte die romantische Vorstellung von einer überindividuellen und überzeitlichen Kontinuität des »deutschen Volkes« auch zur Folge, daß – im Anschluß an die von Hans-Jochen Marquardt als »Geburtsurkunde des europäischen Konservativismus«494 bezeichneten Reflections on the Revolution in France (1790) Edmund Burkes – ein verantwortliches Handeln von den Regierungen nicht nur im Hinblick auf die Zeitgenossen, sondern auch mit Rücksichtnahme auf die »Raumgenossen«495 eingefordert werden konnte. Die gegenwärtig Lebenden, so der »romantische[] Basistopos«496 (Hans Wisskirchen) des Generationenzusammenhanges, haben »die Werte der vergangenen Generation zu achten und in die Zukunft, zu [...] nachfolgenden Generation zu tradieren.«497 Hierzu Adam Müller: »Der Staat ist [...] eine Allianz der vorangegangenen Generationen mit den nachfolgenden, und umgekehrt. Die Lehre von der Verbindung auf einander folgender Generationen ist ein leeres Blatt in allen unsern Staats-Theorien; und darin liegt ihr großes Gebrechen, darin liegt 489 490
491 492 493
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495 496
497
Ebd. Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Kunisch. Band IX. Literarhistorische Schriften III. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Hg. von Wolfram Mauser. Regensburg: Habbel 1970, S. 460. Ebd. Ebd. Vgl. Sautermeister, Religiöse und soziale Lyrik (wie Anm. 487), S. 509f. Vgl. zu Baader auch Klaus Peter: Franz Baader únd William Godwin. Zum Einfluß des englischen Sozialismus in der deutschen Romantik. In: Athenäum 3 (1993), S. 151–172. Hans-Jochen Marquardt: Zur ästhetischen Theorie des deutschen Frühkonservativismus: Friedrich Schlegels und Adam Heinrich Müllers Wiener Vorlesungen von 1812. In: Acta Germanica 23 (1995), S. 24. Die deutsche Übersetzung des Textes, den Novalis in seiner Sammlung Blüthenstaub als »revoluzionäres Buch gegen die Revoluzion« [Novalis, Werke II (wie Anm. 6), S. 278] bezeichnete, leistete 1793 Friedrich Gentz. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 60. Hans Wisskirchen: Romantische Elemente im politischen und historischen Denken Ludwig Börnes. Romantik im Vormärz. Hg. von Burghard Dedner und Ulla Hofstaetter. Marburg 1992 (Marburger Studien zur Literatur; 4), S. 170. Ebd., S. 156.
II Aspekte des romantischen Nationalgedankens
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es, daß sie ihre Staaten, wie für einen Moment, zu erbauen scheinen, und daß sie die erhabenen Gründe der Dauer des Staates und seine vorzüglichsten Bindungsmittel [...] nicht kennen und nicht würdigen.«498 Diese Überlegungen und das aus ihnen abgeleitete Postulat des verantwortungsvollen Umgangs mit natürlichen Ressourcen gewinnen angesichts der heutigen unter dem Stichwort der »Nachhaltigkeit« geführten Debatten eine »erstaunliche Aktualität«499; andererseits versteht Müller unter den zitierten »vorzüglichsten Bindungsmitteln« vor allem den »Geburtsadel«500, was nach Gerhard Göhler zeigt, daß »der philosophische und gesellschaftstheoretische Begründungszusammenhang«501 dieses Plädoyers für das ›Prinzip Verantwortung‹ in erster Linie eben doch »der Absicherung altständisch-konservativer Interessen«502 dient.
9
»Des Deutschen Vaterland«
Michael Jeismann spricht von einem »Harmoniepostulat«503, das eventuelle politische Differenzen zwischen den Protagonisten der frühen Nationalbewegung kaschiert habe; und in der Tat werden im Zeichen der allgemeinen nationalen Aufbruchstimmung die »auseinanderlaufenden Interessen der beteiligten Gruppen zugedeckt«504. So bleibt auch die Frage nach dem Referenzpunkt 498
499
500 501 502 503 504
Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 59f. Auch an anderer Stelle mahnt Müller, daß der »Leichtsinn der Gegenwart« die »Raumgenossen [...] am allerersten übersehen könnte«: »[P]rivilegirt Ihr die gegenwärtige Generation mit Freiheit vor allen vergangenen und kommenden Geschlechtern: So habt Ihr einen neuen Begriff für den alten, eine neue Tyrannei für die alte errichtet, und das kommende Geschlecht wird Eure Freiheit eben so wenig respectiren, wenn Ihr dereinst abwesend seid, als Ihr die Freiheit Eurer abwesender Väter geachtet habt.« Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 152f. Göhler, Konservatismus (wie Anm. 359), S. 331. Vgl. auch Ernst Hanisch: »Dieses umfassende Konzept von Gesellschaftsgeschichte und Gesellschaftskritik ermöglichte der Romantik jedoch, die Frage nach den sozialen Kosten des Fortschritts zu stellen. Das Paradigma des wirtschaftlichen Wachstums um jeden Preis, die Orientierung allein an dem ökonomischen Output, wurde von ihr entschieden hinterfragt. [...] Die Zerstörung der Natur durch die Industrialisierung wurde registriert und kritisiert. Die Diskussion über die ›Grenzen des Wachstums‹ hat diese Aspekte der Politischen Romantik stärker in das Blickfeld treten lassen.« Ernst Hanisch: Der »vormoderne« Antikapitalismus der Politischen Romantik. Das Beispiel Adam Müller. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 133. Müller, Elemente I (wie Anm. 266), S. 60. Göhler, Konservatismus (wie Anm. 359), S. 331. Ebd. Jeismann, Vaterland der Feinde (wie Anm. 245), S. 41. Jürgen Voigt: O Deutschland, meine ferne Liebe... Der junge Heinrich Heine zwischen Nationalromantik und Judentum. Bonn: Pahl-Rugenstein 1993 (Pahl-
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jenes Nationalgefühls, das die romantischen Autoren erzeugen wollen, eigentümlich unbestimmt. Freilich bietet Ernst Moritz Arndts Lied »Des deutschen Vaterland«505 mit der Definiton der Sprachgrenze als Nationengrenze ein konsensfähiges Modell der künftigen staatlichen Einheit; eine solche Konzeption ›Deutschlands‹ hätte den beiden bedeutendsten Teilstaaten aber auch Einbußen abgenötigt, wie Hans-Ulrich Wehler zu bedenken gibt: »Streng genommen hätte das von der Wiener Großmacht den Verzicht auf den größten Teil ihres Imperiums, von Preußen den Verzicht auf seine polnischen Annexionsgebiete verlangt. So konsequent ›volksnational‹ mochte aber kaum einer argumentieren, vielmehr sollte das konsolidierte nationale Reich auch fremdsprachige Territorien umfassen, die seinen Gliedstaaten bereits angehörten.«506 Die Grenzen blieben deshalb im nationalen Diskurs sehr unbestimmt, obgleich der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn ein ›Großdeutschland‹ entwarf, das auch die Schweiz, Holland und Dänemark einschloß.507 Einen Gegenpol zu diesem Modell bildet gleichsam Friedrich Schleiermacher, dessen Nationalismus sich primär auf Preußen richtete. »[E]s mag überraschend erscheinen«508, schreibt Michael Jeismann, »aber es war [...] noch nicht entscheidend, ob sich d[er] Patriotismus national auf ›Deutschland‹ bezog oder auf einen Partikularstaat wie Preußen, sondern daß ›Volk‹ und ›Vaterland‹ als eine Handlungsgemeinschaft angesehen und emotionalisiert wurden.«509 Vor dem Hintergrund dieser Direktive zeigten sich die Repräsentanten des romantischen Nationalismus denn auch kompromißbereit. Schleiermacher vermochte sich auch mit einem Modell anzufreunden, daß über die preußischen Grenzen hinausreichte510, und in umgekehrter Hinsicht nahmen viele »gesamtdeutsch« orientierten Autoren eine Konzentration auf Preußen in Kauf, weil sie hier den Ausgangspunkt einer möglichen Widerstandsbewegung gegen das napoleonische Frankreich erblickten. So konzediert Adam Müller in seinen Vorlesungen über Friedrich II., »viel von einer Verbindung jenes größeren Volkes geträumt [zu haben], zu dem wir gehören, wie der Zweig zum Stamme gehört«511 – allein die »Sorge für das Nächste, Ergreifliche«512 habe ihn dazu geführt, das »von ganz unscheinbaren Anfängen zu gewaltigen Wirkungen allmählich
505
506 507 508 509 510
511 512
Rugenstein-Hochschulschriften/Gesellschafts- und Naturwissenschaften; 283), S. 35. Ein Abdruck findet sich jüngst wieder in dem Reader Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, S. 213f. Wehler, Nationalismus (wie Anm. 415), S. 67. Vgl. ebd., S. 68. Jeismann, Vaterland der Feinde (wie Anm. 245), S. 33, Anm. 16. Ebd. Vgl. Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 115), S. 103– 108. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 305), S. 58. Ebd., S. 59.
II Aspekte des romantischen Nationalgedankens
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fortschreiten[de] [...] Wachsthum«513 des »Deutschen Lebens«514 der »ewigen Natur«515 zu überlassen: »[U]ns gebührt eine bestimmte Begeisterung für das besondere Vaterland, den besondern Herrn, und für das, was er mit königlicher Hingebung für noch höher hält, als sich selbst, für seine hundertjährige Krone.«516 Aus ähnlichen Erwägungen heraus nennt Arnim ein Zeitungsprojekt, das nationalen Anliegen dienen soll, provisorisch Der Preuße.517 Die »gesamtdeutsche« Perspektive bleibt damit freilich im Hintergrund als Fernziel bestehen, wobei die innenpolitische Organisation dieses »Gesamtdeutschlands« in den Texten des frühen Nationalismus ebenfalls nur verschwommen zum Vorschein kommt;518 die »Anstrengung des klaren politischen Konzepts«519 wird auch in diesem Punkt gescheut, weil das nationale Projekt nicht durch die Interessenkollisionen seiner Befürworter gefährdet werden soll. So läßt Johann Gottlieb Fichte die Pläne für ein zentralistisch orientiertes »Gesamtdeutschland« – mit Magdeburg als Hauptstadt –, das im deutlichen Gegensatz zu den föderalistischen Vorstellungen seiner Mitstreiter gestanden hätte, in der Schublade;520 in den Reden an die deutsche Nation bestreitet er gar explizit die Bedeutung solcher Fragestellungen: Ob der deutsche Staat »nun als einer oder mehrere erscheine, thut nichts zur Sache, in der That ist dennoch Einer«521, heißt es in der neunten Rede. Fichte geht es darum, bestehende Differenzen zwischen den Staaten bzw. innerhalb der jeweiligen Gesellschaften im Sinne des besagten »Harmoniepostulates« zu bestreiten: »Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben.«522 Ganz ähnlich argumentiert Ernst Moritz Arndt, wenn er 513 514 515 516 517 518
519 520
521 522
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 329), S. 186–189. Peter Brandt spricht von einer »beinahe beliebig erscheinende[n] Flexibilität« in den politischen Vorstellungen der Nationalaktivisten. Peter Brandt: Die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 in der deutschen Geschichte. In: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Hg. von Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann und Heinz Gerhard Haupt. Frankfurt a. M., New York: Campus 1999, S. 37. Jeismann, Vaterland der Feinde (wie Anm. 245), S. 32. Die Wahl Magdeburgs begründet Fichte verkehrstechnisch: Die Stadt lag genau in der Mitte jenes Großdeutschlands, das er konzipiert hatte. Vgl. hierzu Richard Schottky: Fichtes Nationalstaatsgedanke auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte von 1807. In: Fichte-Studien. Band 2: Kosmopolitismus und Nationalidee. Hg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader. Amsterdam: Rodopi 1990, S. 125f. Fichte, Werke VII (wie Anm. 318), S. 397f. Ebd., S. 266.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
die Differenzen zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten als Phantasmagorie einiger (süddeutscher) Übelgesinnter abtut: »Euer Unterschied zwischen Norddeutschland und Süddeutschland ist nirgends als in euren bösen Herzen«523. Für den Dualismus zwischen Preußen und Österreich gilt das Gleiche: Auch er ist hinsichtlich der wichtigeren Frage nach nationaler Einheit zweitrangig. Die Meinung, die der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn im Lützower Korps 1813 vertreten haben soll – »Einen Kaiser müssen wir haben, ein einziges Deutschland muß es sein. Ob unser (Preußens) König oder der Kaiser von Österreich die deutsche Kaiserkrone erhält, ist mir einerlei; aber ein einziges Oberhaupt muß es sein«524 – ist in dieser Beziehung signifikant. Bedenkt man diesen Versuch des romantischen Nationalismus, den preußisch-österreichischen Dualismus zu bagatellisieren, wirkt auch die Persönlichkeit Adam Müllers weniger fragwürdig. Müller war abwechselnd für beide Staaten tätig, was unter anderem dazu beitrug, daß der romantische Staatsphilosoph in der Literaturwissenschaft bis heute mit zahlreichen Verdikten belegt wird. Der »spätfeudale Ideologe«525 (Günther Rudolph) gilt nicht nur als »zwielichtigste[r] der romantischen Autoren mit politischer Ambition«526 (Gert Ueding), sondern auch als »Opportunist und Anpasser von hohen Graden«527 (Gerhard Schulz), als »selbstsüchtiger, eitler und sprunghafter Charakter«528 (Ernst Rudolf Huber), als »servile[r] Höfling[]«529 (Walter Jens), als 523
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In seiner Schrift Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen (1815). In: Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Vierzehnter Band: Kleine Schriften II. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 5–70, hier S. 19f. Kurt Lenk verweist auf die »Unbestimmtheit der Arndtschen Begriffswelt« und führt sie »zum nicht geringen Teil« darauf zurück, »daß es aufgrund der territorialen Zersplitterung Deutschlands so wenig Handgreifliches für die Verwirklichung seiner Forderungen gab, [...] daß ein deutsches Nationalgefühl im wesentlichen nur als Idee und Postulat vorhanden sein konnte.« Lenk, »Volk und Staat« (wie Anm. 371), S. 89. Zit. n. P. Brandt, Befreiungskriege (wie Anm. 518), S. 37. Eine Quellenangabe fehlt. Rudolph, Müller und Kleist (wie Anm. 465), S. 126. Ueding, Klassik und Romantik I (wie Anm. 141), S. 106. Auch Günther Rudolph bezeichnet Müller als »zwielichtige Gestalt«. Vgl. Rudolph, Müller und Kleist (wie Anm. 465), S. 122. Gerhard Schulz: Der furchtbare und honigsüße Prophet. Zu Adam Müllers 200. Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juni, 1979. Ernst Rudolf Huber: Adam Müller und Preussen. In: Ernst Rudolf Huber: Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee. Stuttgart: Kohlhammer 1965, S. 52. Huber spricht später noch von einer »Verderbtheit im Zentrum der geistigen Existenz« Müllers. Ebd., S. 57. Walter Jens: Nachwort. In: Adam Müller. Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Mit einem Essay und einem Nachwort von Walter Jens. Frankfurt a. M. 1967, S. 205. Zit. n. [Hans-]Jochen Marquardt: »Ein Traum, was sonst?« Die Vision vom Nationalstaat in Adam Müllers Vorlesungen über
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nur auf den Effekt bedachter »Zirkuskünstler«530 (Regina Ogorek) und als »politische[s] Amphibium«531 (Walter Hinderer); die »schier unerschöpfliche Liste der negativen Epitheta«532, mit der Müller in der Forschung belegt wurde, erweckt – so Hans-Jochen Marquardts pointiertes Fazit – gar den Eindruck, man habe es mit einem »abgefeimte[n] Schurken der deutschen Real- und Literaturgeschichte«533 zu tun.534
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Friedrich II. und Kleists vaterländisches Schauspiel. In: Beiträge zur KleistForschung (1992), S. 25. Regina Ogorek: Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas. In: Kleist-Jahrbuch (1988/89), S. 104 diagnostiziert in Müllers Schriften und namentlich in der Lehre vom Gegensatz »rasche[] Effekte[] und verblüffende[] Kapriolen«, die es erschweren würden, eine »rationale Rekonstruktion« ihres Aussagegehaltes zu leisten: »Im Umgang mit Worten und Begriffen ist er ein Zirkuskünstler, der mit schneller Hand ein Kartenhaus errichtet, ohne um dessen Haltbarkeit besorgt zu sein«. Ähnlich urteilt Ernst Klein, der dem »streitbare[n] Romantiker« einen Mangel »an begrifflicher Klarheit« unterstellt. Ernst Klein: Die Auseinandersetzungen Adam Müllers mit den wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Auffassungen seiner Zeit. In: Katholizismus, konservative Kapitalismuskritik und Frühsozialismus bis 1850. Hg. von Albrecht Langner. Paderborn: Schöningh 1975 (Beiträge zur Katholizismusforschung), S. 100. Walter Hinderer: Vorwort. In: Kleists Dramen. Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 17502), S. 7. H.-J. Marquardt, Zur ästhetischen Theorie (wie Anm. 494), S. 21. Ebd., S. 22. Vgl. auch die Zusammenschau der Verdikte bei Erwin Jaeckle: Baumeister der Unsichtbaren Kirche. Lessing – Adam Müller – Carus. Stuttgart: KlettCotta 1977, S. 74–81. Freilich gibt es in der Müller-Forschung mittlerweile Untersuchungen, die mit guten Gründen gegen diese Verdikte argumentieren. Benedikt Koehlers Arbeiten erhellen Müllers Biographie und versuchen, die moralisch konnotierten Vorwürfe zurückzuweisen. Vgl. Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980; Benedikt Koehler: Gescheiterte Utopie: Adam Müller und die politische Romantik in Berlin. In: Berlin zwischen 1789 und 1848. Facetten einer Epoche. Ausstellung der Akademie der Künste von 30. August bis 1. November 1981. Hg. von Barbara Volkmann. Berlin: Frölich & Kaufmann 1981 (Akademie-Kataloge; 132), S. 27–36. In den Studien von Axel Schnorbus: Ein Eiferer gegen Liberalismus und Emanzipation. Am 30. Juni 1779, vor 200 Jahren, wurde Adam Müller geboren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juni 1979, Ernst Nolte: Ein moderner Reaktionär? Adam Müller. In: Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Hardtwig und Harm-Hinrich Brandt. München: C. H. Beck 1993, S. 74–82 und – hier mit kritischem Akzent – Ralph-Rainer Wuthenow: Romantik als Restauration bei Adam H. Müller. In: Katholizismus, konservative Kapitalismuskritik und Frühsozialismus bis 1850. Hg. von Albrecht Langner. Paderborn: Schöningh 1975 (Beiträge zur Katholizismusforschung), S. 75–97 wird die Kontinuität der politischen Grundüberzeugungen hervorgehoben. Wichtiger als die Kontroverse um die persönliche Integrität Müllers scheint freilich die um die Bedeutung des Werkes. Auch hier divergieren die Forschungsmeinungen augenfäl-
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Aus der nationalen Perspektive heraus erscheint Müllers Lebensgeschichte jedoch konsequent und folgerichtig.535 Müller schloss sich nach der Besetzung Dresdens durch Österreich – der Zufall hatte den Staatstheoretiker als Hauslehrer der Familie Haza in das napoleonfreundliche Sachsen geführt – der Besatzungsmacht an, weil sich die Österreicher 1809 noch entschieden gegen Frankreich stellten. Nach der schnellen Niederlage der Österreicher ging der im Sommer 1809 aus Dresden ausgewiesene Müller nach Preußen, das nunmehr seine nationalen Hoffnungen zu verkörpern schien; eben diese nationalen Hoffnungen sah Müller aber durch den Kurs des Staatskanzlers Hardenberg gefährdet, weil dessen liberale Wirtschaftspolitik seiner Ansicht nach einen indifferenten Kosmopolitismus zeitigte; zudem agierte Hardenberg für sein Verständnis gegenüber Frankreich viel zu defensiv. Der Reformkanzler wollte sich seines Kritikers entledigen und schickte ihn im Frühjahr 1811 nach Wien, wo Müller sich angesichts der nunmehr »lavierende[n] Politik Österreichs«536 über den »Minister der Neutralität«537 Clemens Graf Metternich ebenso indigniert zeigte wie vormals aus den gleichen Gründen über Hardenberg. »Müller verfolgte zu dieser Zeit die österreichische Politik ständig unter dem Aspekt
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lig, wie zwei kurze Beispiele deutlich machen sollen: Während Kurt Hübner in Müllers Oeuvre den »Höhepunkt Romantischer Staatsphilosophie, gleichsam ihre[] Summa« erblickt, vermag Wolf Kittler in ihm nur einen »mehr oder weniger weitschweifige[n] Kommentar« zu Novalis’ Aphorismensammlung Glauben und Liebe zu entdecken. Vgl. Hübner, Das Nationale (wie Anm. 428), S. 123 sowie Wolf Kittler: Die Revolution der Revolution oder Was gilt es in dem Kriege, den Kleists Prinz von Homburg kämpft. In: Heinrich von Kleist: Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hg. von Gerhard Neumann. Freiburg/Breisgau: Rombach 1994 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 20), S. 63. Die aufschlußreichen Studien Hans-Jochen Marquardts sehen die Bedeutung Müllers auf der Ebene der ästhetischen Theorie, stehen seine Schriften doch – wie Marquardt konzis herausarbeitet – für die theoretische Fundierung eines wirkungsästhetisch konzipierten Literaturbegriffes. Vgl. H.-J. Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165); H.-J. Marquardt, Zur ästhetischen Theorie (wie Anm. 494); Hans-Jochen Marquardt: »Das gegenwärtige Geschlecht, ganz zu einseitigen Zwecken erzogen [...]«. Ästhetische Theoriebildung bei Adam Heinrich Müller vor dem Hintergrund zeitgenössischer Alltagserfahrungen. In: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag. Hg. von Marion Marquardt, Uta Störmer-Caysa und Sabine Heimann-Seelbach. Stuttgart: Heinz 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 340), S. 171–186. Ralph-Rainer Wuthenow hatte diesen Aspekt zuvor auch gesehen, sich aber unter Bezugnahme auf die frühromantische Theoriebildung gegen die »publikumsbezogenen Veranstaltungen von Müller« ausgesprochen, die seiner Ansicht nach auf einem anderen – nämlich mäßigeren – Niveau liegen als »[d]ie Erkenntnisakte, Denkfragmente und Divinationen bei Novalis«. Wuthenow, Romantik als Restauration, S. 86. Vgl. zum folgenden K. Richter, Staatstheorie (wie Anm. 367), S. 148–190. Ebd., S. 183. So Müller über Metternich in einem Bericht an Hardenberg vom 6. August 1811. In: Jakob Baxa: Adam Müllers Lebenszeugnisse. Band I. München, Paderborn, Wien: Schöningh 1966, S. 671–679, hier S. 674. Herv. i. O.
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der Möglichkeit einer Allianz zwischen Österreich und Preußen«538. Unter diesem übergeordneten Aspekt müssen Müllers nur scheinbar ›charakterlose‹539 Wechsel zwischen den beiden bedeutendsten Teilstaaten des einstigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gesehen werden. In der Entschiedenheit seines nationalen Engagements, das über realpolitische Hemmnisse hinwegsah und ein klares politisches Konzept in der Hoffnung auf einen Konsens der Nationalgesinnten mied, steht Müller repräsentativ für die Politische Romantik.540 Albert Portmann-Tinguelys Fazit mag daher nicht nur für den »zwielichtigen« Müller gelten: »Im Zentrum von Müllers Denken steht der Staat, im Mittelpunkt seiner Wünsche und Sehnsüchte ›Deutschland‹, was immer er darunter verstanden haben mag.«541
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Das »heilige Amt« des Schriftstellers
In der zwölften seiner 14 Reden an die deutsche Nation, die er im Winter 1807/08 dem Berliner Publikum vortrug, formuliert Johann Gottlieb Fichte ein klares Anforderungsprofil an die Autoren seiner Zeit: »Was will denn der vernünftige Schriftsteller, und was kann er wollen? Nichts Anderes, denn eingreifen in das allgemeine und öffentliche Leben, und dasselbe nach seinem Bilde gestalten und umschaffen; und wenn er dies nicht will, so ist alles sein Reden leerer Laut, zum Kitzel müssiger Ohren.«542 Gerade weil »Deutschland [...] in mehrere abgesonderte Staaten zertrennt«543 sei und nun auch noch »das letzte äussere Band, das die Deutschen vereinigte, die Reichsverfassung«544 nicht mehr existiere, komme es mehr denn je auf das »Werkzeug des Schriftstel-
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K. Richter, Staatstheorie (wie Anm. 367), S. 183. »Charakterstärke ist Müllers Sache nie gewesen«, schreibt Gerhard Schulz, und Ethel Matala de Mazza konstatiert »Anbiederungen an gegensätzliche politische Lager«. Vgl. G. Schulz, Der furchtbare und honigsüße Prophet (wie Anm. 527) sowie Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 342), S. 267. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 342), S. 265 sieht in ihm in ihrer kritischen Studie denn auch den »Vordenker nicht nur der romantischen, sondern der konservativen Staatstheorie insgesamt«. Albert Portmann-Tinguely: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und »Freiheitssängern«: Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner. Freiburg/Schweiz: Universitäts-Verlag 1989 (Historische Schriften der Universität Freiburg; 12), S. 38. Ähnlich urteilt – freilich mit affirmativer Intention – Rudolf Franz Künzli: Adam Müller: Ästhetik und Kritik. Ein Versuch zum Problem der Wende der Romantik. Winterthur: Schellenberg 1972, S. 33: »Müllers ganzes Werk will verstanden werden im Sinne einer solchen historischen Selbstbesinnung auf den Charakter des deutschen Geistes.« Fichte, Werke VII (wie Anm. 318), S. 452f. Ebd., S. 454. Ebd.
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lers«545 an: Dank Sprache und Schrift, so Fichtes Hoffnung, kann die Nation als »gemeinsames Ganzes«546 restituiert werden; an dieser Aufgabe mitzuwirken, sieht er als »[d]as edelste Vorrecht und das heiligste Amt des Schriftstellers«547. Wohlgemerkt: Fichte will keineswegs im Sinne Schillers die Vorstellung einer »Kulturnation« als Surrogat für die fehlende politische Einheit und Selbständigkeit etablieren. Er ist vielmehr davon überzeugt, daß ohne einen politischen Rahmen langfristig auch die kulturelle Homogenität »Deutschlands« nicht verteidigt werden kann; deshalb sollen die Schriftsteller gleichsam als intellektuelle Avantgarde an einem Wandel der politischen Verhältnisse mitwirken, anstatt auf die »Nichtigkeit des Trostes aus der Fortdauer unserer Sprache und Literatur«548 zu bauen.549 Mit diesen Thesen wendet sich Fichte gegen das vor allem von Immanuel Kant und Friedrich Schiller entwickelte autonomieästhetische Literaturkonzept, das seit den 1790er Jahren die »Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen«550 proklamiert hatte. Durch die klassizistische Ästhetik war die Literatur zwar von gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen emanzipiert worden,551 doch die Kostenseite dieses Prozesses gilt es zu beden545 546 547 548 549
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 459. Vgl. hierzu auch Walter Hinderer: Das Kollektivindividuum Nation im deutschen Kontext. Zu seinem Bedeutungswandel im vor- und nachrevolutionären Diskurs. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bormann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 183. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur zweiten Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974 (edition suhrkamp; 727), S. 63; vgl. zum autonomen Literaturbegriff ebd., S. 57–63 sowie Theodor W. Adorno: Zur Dialektik des Engagements. In: Die neue Rundschau (1962), S. 93–110; Rolf-Peter Janz: Autonomie und soziale Funktion der Kunst. Studien zur Ästhetik von Schiller und Novalis. Stuttgart: J. B. Metzler 1973; Klaus L. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik. In: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730– 1980). Hg. von Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart: J. B. Metzler 1985, S. 10–75; S. J. Schmidt, Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur (wie Anm. 20), S. 409– 432; Wolfgang Wittkowski: Einleitung. Zur Konzeption ästhetischer Autonomie in Deutschland. In: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen: Max Niemeyer 1990, S. 1–29; Berghahn, Mit dem Rücken zum Publikum (wie Anm. 69); Konrad Paul Liessmann: Geschmackssache. Immanuel Kant und die Erfindung der modernen Ästhetik. In: Freitag, 20. Februar 2004, S. 16. Vgl. grundlegend: Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Stuttgart: J. B. Metzler 1994. Wilhelm Vosskamp spricht in diesem Kontext von einem »Widerstandspotential gegen alle Geschichte und Politik«, das sich die autonome Kunst durch ihr »Unbeflecktsein [...] durch Wirklichkeit« sichere. Vosskamp, Klassik als Epoche (wie Anm. 68), S. 498.
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ken, wie Peter Stein deutlich macht: »Was die Poesie aus dieser Distanz [zur geschichtlichen Gegenwart, M. P.] an Schönheit, Wahrheit und bleibendem Wert gewann, verlor sie zugleich an Zeitgenossenschaft, Verantwortlichkeit und Operativität.«552 Diese Entwicklung kritisierte Fichte; wenn er die Schriftsteller auffordert, in das öffentliche Leben verstärkt einzugreifen, leistet er einen frühen Beitrag zu jenem »ästhetischen Modell der operativen Literatur«553, das in den folgenden Jahrzehnten noch heftig und kontrovers diskutiert werden sollte.554 Fichte forderte mit seinen Reden den Einspruch Adam Heinrich Müllers heraus. Allerdings nicht wegen, sondern trotz seiner Absage an die Autonomieästhetik. Obgleich Fichte für eine operative Literatur plädiert, bleibt er hinsichtlich der Wirkungschancen, die die Erzeugnisse der literarischen Intelligenz besitzen, mehr als skeptisch. Der »neuere[n] deutsche[n] Philosophie«555 bescheinigt er etwa, in der geschichtlichen Gegenwart »gar nicht zu Hause«556 zu sein: »[...] sie ist ein Vorgriff der Zeit, und ein schon im voraus fertiges Lebenselement eines Geschlechtes, das in demselben erst zum Lichte erwachen soll.«557 Müller indes hält eine Philosophie, die »für die Zeit, worin 552
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Peter Stein: Operative Literatur. In: Zwischen Restauration und Revolution. 1815– 1848. Hg. von Gerd Sautermeister und Ulrich Schmid. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 5), S. 486. Vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow: Romantik als Zeitgeist? In: Athenäum 5 (1993), S. 177f. Stein, Operative Literatur (wie Anm. 552), S. 486. Ich folge in der Begriffsverwendung dem Vorschlag Peter Steins, der unter »operativer Literatur« ein »erfolgreich[es] und zugleich folgenreich[es]« Gegenkonzept zum Modell ästhetischer Autonomie begreift, das insbesondere zwischen 1815 und 1848 an Profil gewinnen sollte: »›Operativ‹ hieß dabei nicht nur ›politischpropagandistisch‹ (etwa im jungdeutschen, junghegelianischen oder christlichkonservativen Sinne), sondern signalisierte einen (neuen) Gebrauchswert von Literatur und Publizistik, der im weitesten Sinne didaktische Zwecksetzungen enthielt und auch andere als ästhetische Einstellungen zum Gegenstand zuließ bzw. forderte.« Stein, Operative Literatur (wie Anm. 552), S. 494. Siehe auch Peter Stein: Zum Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit bis zum deutschen Vormärz. Oder: Wie schlüssig ist Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit für die Literaturgeschichte? In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive I. Öffentlichkeit und nationale Identität. Hg. von Helmut Koopmann und Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis 1996 (Studien zur Literatur des Vormärz; 1), S. 55–84; Peter Stein: »Kunstperiode« und »Vormärz«. Zum veränderten Verhältnis von Ästhetizität und Operativität am Beispiel Heinrich Heines. In: Vormärz und Klassik. Hg. von Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke und Michael Vogt. Bielefeld: Aisthesis 1999 (Vormärz-Studien; 1), S. 49–62. Fichte, Werke VII (wie Anm. 318), S. 309. Ebd. Ebd.; Fichte versteht unter der »neueren deutschen Philosophie« freilich vor allem seine eigenen Schriften. »[I]n Anbetracht der Erfolglosigkeit« dieser Texte deutet er sie daher als Vorgriff auf eine bessere Zukunft, wie Werner Schneiders erläutert. Vgl. Schneiders, Zwingherr zur Freiheit (wie Anm. 311), S. 234, Anm. 5.
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der Philosoph lebt und die er allein kennt und erfassen mag, nicht passen will«558, für vollkommen untauglich, da sie »aus demselben Grunde höchst wahrscheinlich für gar keine Zeit passet«559. Vor dem Hintergrund dieser Kritik an einer Philosophie, die von den Fragen der Gegenwart abstrahiert, vermag es nicht zu überraschen, daß Müller früher als andere Autoren auch die »Politisierung der Poesie«560 einfordert. In den 558 559 560
Vgl. Müller, Schriften II (wie Anm. 330), S. 277–295, hier S. 285 Anm. Ebd. So Hans-Jochen Marquardt, der darauf hinweist, daß Müller damit bereits einen Literaturbegriff einforderte, wie er – »unter völlig anderen politischen Vorzeichen« – später durch das Junge Deutschland und die revolutionären Demokraten proklamiert werden sollte. Robert Eduard Prutz wird 1843 zwar gegen die Romantiker agitieren, aber ähnlich wie Müller das »Dogma von der politischen Unbeflecktheit, der olympischen Selbstgenügsamkeit der Dichtung« kritisieren. [Hans-]Jochen Marquardt: Die Vermittlung zwischen Ökonomie und Poesie. Adam Müllers Analyse der Französischen Revolution und deren Anwendung auf seine ästhetische Theorie. In: Deutsche Romantik und Französische Revolution. Internationales Kolloquium Karpacz 28. September – 2. Oktober 1987. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1990 (Germanica Wratislaviensia; 80), S. 176f.; Robert E. Prutz: Die politische Poesie der Deutschen (1843). In: Theorie der Politischen Dichtung. Hg. von Peter Stein. München 1973, S. 72. Zum Jungen Deutschland vgl.: Jost Hermand: Nachwort. In: Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1966 (Reclams Universal-Bibliothek; 8703), S. 369–391; Udo Köster: Literarischer Radikalismus. Zeitbewußtsein und Geschichtsphilosophie in der Entwicklung vom Jungen Deutschland zur Hegelschen Linken. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972 (Wissenschaftliche Paperbacks/Literaturwissenschaft; 10); Jost Hermand: Jungdeutscher Tempelsturm. Zur Austreibung des Poetischen aus der Literatur. In: Das Junge Deutschland. Kolloquium zum 150. Jahrestag des Verbots vom 10. Dezember 1835. Hg. von Joseph A. Kruse und Bernd Kortländer. Hamburg: Hoffmann und Campe 1987 (Heine-Studien), S. 65–82; Helmut Koopmann: Das Junge Deutschland. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993 und die Anthologie: Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1966 (Reclams Universal-Bibliothek; 8703). Zu den Autoren des »engeren« Vormärz (1840–1848) vgl. Stein, Politisches Bewusstsein (wie Anm. 440); Friedhelm Rudorf: Poetologische Lyrik und politische Dichtung. Theorie und Probleme der modernen politischen Dichtung in den Reflexionen poetologischer Gedichte von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M., Bern, New York u. a.: Peter Lang 1988 (Europäische Hochschulschriften; 1105), S. 111–152; Jost Hermand: Nachwort. In: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 8794), S. 357–394; Stein, Operative Literatur (wie Anm. 552) und die Anthologie: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 8794). Vgl. zudem die folgenden Überblicksdarstellungen: Peter Stein: Epochenproblem »Vormärz« (1815–1848). Stuttgart: J. B. Metzler 1974 (Sammlung Metzler; 132); Josef Jansen u. a.: Einführung in die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Band 1: Restaurationszeit
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Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806)561 wendet er sich gegen die »Vernachlässigung des gesellschaftlichen Zustandes der Welt und seiner Bedingungen«562 durch Philosophie und Literatur; er bemängelt in Anspielung auf das autonome Literaturkonzept, »daß es bei manchen von derselben Muse befangenen und geblendeten unter unsern Zeitgenossen für Entweihung gilt, wenn man auf den Lustplätzen der Poesie jener Sorgenstätten des häuslichen Lebens, wenn man unter den Spielen sogenannter moralischer Freiheit der düstern, harten physischen Schranken des bürgerlichen Lebens, seiner Gesetze und Konvenienzen[,] gedenkt«563. Müller ist bereit, diesen Vorwurf der »Entweihung« eines gleichsam sakralen Bereiches zu riskieren. »Kann ich denn unbeschränkt und ewig lieben, was mich dem Vaterlande, gleichviel, wie erniedrigt es auch sei; was mich den Banden der Familie, die im peinlichsten Drucke mir noch heilig sind; was mich meiner Zeit und ihren, wie es mein Herz sagt, keineswegs unheilbaren Gebrechen entführt; was mich buhlerisch in eine hoffnungslose Ferne lockt?«564 Statt den Rezipienten in eben diese »hoffnungslose Ferne« zu locken, muß sich die »himmlische Poesie«565 vielmehr auf die »widrigen Schranken der Außenwelt«566 einlassen. Die Trennung von Literatur und Leben, die Kant und Schiller mit hohem theoretischen Aufwand konstituiert hatten, wird in Müllers Programmatik als »feindselig[e]«567 Zersplitterung begriffen und folglich wieder zurückgenommen. Philosophie und Literatur können »ihre zauberische Kraft«568 demnach nur entfalten, wenn sie den »ehrwürdige[n] Anspruch auf praktische Beziehung oder Brauchbarkeit«569 nicht aufgeben. Diese Überlegungen führen in Müllers Poetologie folgerichtig zu einer Betonung der rezeptionsästhetischen Aspekte, also zu einer »Auffassung von Dichtung als einem Kommunikations- und Wirkungszusammenhang«570, wie Hans-Jochen Marquardt darlegt: »Während bei Schiller Schönheit und Tages-
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(1815–1848). Opladen: Westdeutscher Verlag 1982 (Grundkurs Literaturgeschichte); Udo Köster: Literatur und Gesellschaft in Deutschland 1830–1848. Die Dichtung am Ende der Kunstperiode. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1984 (Sprache und Literatur; 120); Norbert Otto Eke: Einführung in die Literatur des Vormärz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 (Einführungen Germanistik). Zu Prutz siehe Edda Bergmann: »Ich darf das Beste, das ich kann, nicht tun«. Robert Eduard Prutz (1816–1872) zwischen Literatur und Politik. Würzburg: Ergon-Verlag 1997 (Spektrum Politikwissenschaft; 1). Vgl. Müller, Schriften I (wie Anm. 408), S. 13–137. Ebd., S. 54. Ebd.; Herv. i. O. Ebd., S. 54f. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 55. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. H.-J. Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165), S. 52.
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politik unvereinbar sind, faßt Müller Schönheit als Triebkraft zum politischen Handeln auf.«571 Es ist in diesem Zusammenhang signifikant, daß Müller den Phöbus im Jahr 1808 als Gegenentwurf zu Schillers Horen konzipiert. Während man bei der Lektüre der Horen dem »Geständniß des Herausgebers nach [...] das wirkliche Leben und alles politische Kreuz der Zeitumstände eine Weile vergessen sollte«572, insistiert der »Föbusritter[]«573 gegenüber dem »vortreffliche[n] Freund«574 Friedrich Gentz darauf, »eine ähnliche Trennung der sogenannten heitern Kunst von dem ernsten Leben«575 nie eingehen zu wollen.576 571 572 573
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Ebd., S. 54. Müllers Brief an Gentz vom 6. Februar 1808. In: Baxa, Lebenszeugnisse I (wie Anm. 537), S. 390–392, hier S. 390. Als »Föbusritter« bezeichnet Karl August von Varnhagen die beiden Herausgeber Müller und Kleist in einem Brief an Friedrich de la Motte Fouque vom 9. Februar 1809. Ebd., S. 393. Ebd., S. 390. Ebd. »Zeitabgewandt und politikfern sollte das Journal mitten im Tumult der Zeit eine Enklave bilden, welche die ›Ideale veredelter Menschheit‹ gegenüber einem ›unreinen Parteigeist‹ verteidigt«, faßt Klaus L. Berghahn die Programmatik der Horen zusammen. Berghahn, Mit dem Rücken zum Publikum (wie Anm. 69), S. 217. In der Kritik an den Horen trifft sich Müller mit dem Spätaufklärer Friedrich Christian Laukhard: Literatur als moralische Gegenmacht (1799). In: Theorie der Politischen Dichtung. Neunzehn Aufsätze. Hg. von Peter Stein. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1973 (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft; 13), S. 55–61. Laukhard hatte 1799 Schillers Versuch, »die politisch getheilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen« (S. 56), als »löblich« (S. 56), aber unrealistisch klassifiziert: »Wie irgend Leute zum Tanze oder Ball bestimmen, in deren Nachbarschaft es brennt? oder denen es an dem Nöthigen fehlt, um an dem Angenehmen Theil nehmen zu können? [...] Unser Magen ist nicht rein menschlich, noch weniger über allen Einfluß der Zeiten erhaben: er fordert reelle Befriedigung für den Darmsinn; und hat er die zur Genüge und sicher, dann erst hat unser Kopf und Herz Zeit und Geschmack für Ideenspeise.« (S. 56f.) In diesem Sinne fordert Laukhard »Gedichte [...], welche das Hauptthema unserer Tage eben so schön als wahr abhandeln« (S. 58) und die »Haupthindernisse der Humanisirung wegräumen« (S. 59f.). In dieser Forderung nach einer operativen Literatur gehen Laukhard und Müller also konform; Laukhards Kritik an Burke, Pitt, Rehberg, Schirach und Gentz markiert freilich die politischen Differenzen zwischen dem Aufklärer und dem Romantiker: Diese »politischen Altflicker« (S. 55), so Laukhard, behaupten »sehr irrig« (S. 55), daß »[k]eine Regierung die Völker bürgerlich frey machen [könne], bevor diese sich nicht selbst moralisch frey gemacht hätten. Dieß ist wahrlich eben so viel, als wenn man behaupten wollte, man müsse keinem erlauben, eher gehen zu lernen, bis er tanzen gelernt hätte [...]; oder einer Taube die Flügel festzuhalten und doch zu fodern, sie solle fliegen! Diese Foderung bringt sogar den Reinen die Krätze bey« (S. 55f.). Zu Laukhard vgl. Peter Stein: Einleitung: Die Theorie der Politischen Dichtung in der bürgerlichen Literaturwissenschaft. In: Theorie der Politischen Dichtung. Neunzehn Aufsätze. Hg. von Peter Stein. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1973.
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Auch wenn die frühromantischen Zirkel keineswegs als apolitisch verstanden werden dürfen, so war doch die bewußte Abgrenzung dieser Gruppierungen von der Öffentlichkeit kaum mit den hier durch Fichte und Müller formulierten wirkungsästhetischen Postulaten vereinbar.577 Gleichwohl klingt die Mahnung, die Friedrich Schlegels Protagonist in dem Gedicht Rückkehr des Gefangenen (1807, publiziert 1808)578 an die »Denker, Lehrer, Dichter«579 richtet – nämlich sich nicht aus Geltungssucht um »nicht’gen Tand«580 zu streiten, sondern sich stattdessen um »[d]es eignen Volks Geschichten«581 zu kümmern – den Thesen Fichtes und Müllers nicht unähnlich.582 So muß denn auch August Wilhelm Schlegel in einer Rezension der in der Sammlung »Dichtergarten« erschienenen nationalen Gedichte seines Bruders (1807) konstatieren,583 daß man »Friedrich Schlegel [...] hier von einer ganz neuen Seite kennen[lerne]«584. An die Stelle der früheren dunklen Ausdrucksweise sei größere Klarheit getreten; der ältere Schlegel hält diesen Wandel für eine notwendige Entwicklung, denn »[a]ndere Umstände schaffen andere Bedürfnisse«585: »In einer Lage, wo man nur an einem begeisternden Glauben einen festen Halt zu finden wußte, wo dieser Glaube aber durch den Lauf der weltlichen Dinge gar sehr gefährdet wäre: da würde in der Poesie jenes luftige Streben, das wohl der Erschlaffung dumpfer Behaglichkeit mit Glück entgegenarbeiten mochte, nicht mehr angebracht sein.«586 Die Poesie, so August Wilhelm Schlegel, müsse in einer solchen Situation »Gegenständen huldig[en], um
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(Nymphenburger Texte zur Wissenschaft; 13), S. 19f. Es ist ein Versäumnis von Peter Steins Reader zur Theorie der Politischen Dichtung, die im Kontext der Politischen Romantik entwickelten operative Literaturkonzepte nicht berücksichtigt zu haben. Vgl. zu der Problematik Esoterik und Öffentlichkeit im Hinblick auf August Wilhelm Schlegel bzw. Novalis Frühwald, Zwang zur Verständlichkeit (wie Anm. 90) sowie Ludwig Stockinger: »Tropen und Räthselsprache«. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 182–206. Vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 5: Dichtungen. Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1962, S. 392–397. Ebd., S. 394. Ebd. Ebd. Vgl. Verschoor, Die ältere deutsche Romantik (wie Anm. 381), S. 102. Vgl. August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Band XII: Vermischte und kritische Schriften. Sechster Band. ND der Ausgabe 1846/47. Hildesheim, New York: Olms 1971, S. 206–216. Ebd., S. 212. Ebd., S. 207. Ebd.
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welche Liebe und Verehrung eine unsichtbare Gemeinschaft edler Menschen versammelt.«587 Die Romantiker nahmen spätestens ab 1806/07 Literatur als ein »Politikum ersten Ranges« (Jan Papior)588 wahr und forderten dementsprechend eine operative Kunst. Noch ein weiteres Beispiel soll dies belegen: Friedrich Schlegel verfaßte eine weitgehend wohlwollende Rezension von Müllers Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, in der insbesondere der operative Literaturbegriff gewürdigt wurde.589 Dem ehemaligen Cheftheoretiker des frühromantischen Kreises erschien es angesichts der »ruinenvolle[n] Geschichte des letzten Jahrhunderts«590 nämlich als höchst bedenklich, daß man »die ersten Geister der Deutschen [...] seit mehr als funfzig Jahren einzig und allein in eine bloß ästhetische Ansicht der Dinge so ganz verloren [...] sieht, bis endlich jeder ernste Gedanke an Gott und Vaterland, jede Erinnerung des alten Ruhms [...] bis auf die letzte Spur erloschen war«591. Schlegel sieht in diesen »spielende[n] Träumerei[en]«592 ein »Übel [...], was die besten Kräfte des deutschen Herzens verzehrt, und die Menschen endlich bis zur gefühllosesten Gleichgültigkeit aushöhlt«593. Daß Müller gegen dieses »Übel« anschreibt, in dem er die Literatur zu den »großen Begebenheiten der Zeitgeschichte«594 in Beziehung setzt, machte seine Ausführungen für Schlegel »anziehend«595, während der Ältere sein frühes
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Ebd. Jan Papior: Friedrich Schlegels Wandel zwischen universalen und partikularen Begriffsbestimmungen. Am Beispiel der Termini: Nation, Literatur, Nationalliteratur. In: Zeitschriftenliteratur der Romantik. Internationales Kolloquium Karpacz 7.–10. Oktober 1985. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1988 (Germanica Wratislaviensia; 67), S. 71. Dagegen wird nach Jochen Strobel »[d]ie Tendenz hin zu Konzeptionen literarischer ›Operativität‹« erst »um 1813/15 virulent«. Vgl. Jochen Strobel: Nach der Autonomieästhetik. Zur Reaktion romantischer Autoren auf Veränderungen des Literatursystems in der Zeit des Vormärz. In: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen. Bielefeld: Aisthesis 2003 (Vormärz-Studien; 10), Zitate S. 434, 435. Die Rezension erschien 1808 in den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur. Vgl. F. Schlegel, Kritische Ausgabe III (wie Anm. 207), S. 145–158. Ebd., S. 156. Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang das anregende Schlegel-Kapitel in HansJochen Marquardts Studie über Adam Müller. H.-J. Marquardt, Vermittelnde Geschichte (wie Anm. 165), S. 157–189 sowie H.-J. Marquardt, Zur ästhetischen Theorie (wie Anm. 494). F. Schlegel, Kritische Ausgabe III (wie Anm. 207), S. 156. Ebd. Ebd., S. 145. Ebd.
II Aspekte des romantischen Nationalgedankens
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Oeuvre indirekt als »Formenspielerei«596 denunziert, das »der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen«597 sei. Genau wie Adam Müller, der seine Forderung nach einer operativen Literatur von Anfang an vertreten hatte,598 ging es auch Schlegel nun um »die Überwindung einer nur ästhetischen Betrachtungsweise«599 und um die Forderung, »daß sich die Literatur mit dem nationalen Leben aussöhne«600. Wenn Schlegel hofft, jener »großen Kluft, welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt«601, entgegenwirken zu können, dann steht eine solche Hoffnung freilich im Zeichen des politischen Kampfes um die Einheit der deutschen Nation: »Es kann nicht fehlen, die gemeinschaftliche Erfahrung wird bei so vielen bis jetzt nur allzu getrennten deutschen Völkern auch die gemeinsame Erinnerung mächtig wecken, aus welcher dann die Einheit der Gesinnung selbst hervortreten wird, wo die Kraft und der Mut dazu da ist.«602 Der berühmte Vorsatz Heinrich von Kleists – er wolle nunmehr Werke schreiben, die »in die Mitte der Zeit«603 fallen beziehungsweise »für den Augenblick berechnet«604 seien – geht gleichfalls konform mit den Überlegungen Müllers und der SchlegelBrüder. Kleists Drama Die Hermannsschlacht (1808)605 ist in der Forschung nicht zu Unrecht als »[e]in Stück Agitationsliteratur«606 bezeichnet worden. 596 597 598
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Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Vgl. hierzu H.-J Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165), S. 165. »Ein Künstler, der die Welt über seinem Werk vergißt, wird nie durch das Werk zur Welt sprechen, wird das Werk vielleicht tot von sich losreißen, aber nie zu eignem freien und notwendigen Leben schließen können«, heißt es etwa in seiner frühen Lehre vom Gegensatz (1804). In: Müller, Schriften II (wie Anm. 330), S. 193– 248, hier S. 237. H.-J. Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165), S. 164. Ebd. So Friedrich Schlegel in der Widmung für Metternich, die er der 1815 erschienenen Buchausgabe seiner Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur von 1812 voranstellte. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 6: Geschichte der alten und neuen Literatur. Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1961, S. 4. Vgl. zu Friedrich Schlegels Position auch Stein, »Kunstperiode« und »Vormärz« (wie Anm. 554), S. 54f. F. Schlegel, Kritische Ausgabe III (wie Anm. 207), S. 156. So Kleist in einem Brief an den Freiherrn Karl von Stein zum Altenstein vom 01. Januar 1809, der zu diesem Zeitpunkt als preußischer Finanzminister amtierte (November 1808–Juni 1810). In: Kleist, Werke II (wie Anm. 322), S. 819–821, hier S. 820. So Kleist über sein Drama Die Hermannsschlacht in einem Brief an Heinrich Joseph von Collin vom 22. Februar 1809. In: Ebd., S. 821f., hier S. 821. Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 237), S. 533–628. Peter Philipp Riedl: Das Alte Reich und die Dichter. Die literarische Auseinandersetzung mit einer politischen Krise. In: Aurora 59 (1999), S. 214. Angesichts der
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
In letzter Konsequenz führte der Versuch, autonomieästhetische Konzepte durch einen stärker operativ-funktional verstandenen Literaturbegriff zu ersetzen, zu der Fragestellung, ob in Zeiten des antinapoleonischen Kampfes der fiktionale Diskurs überhaupt noch zu legitimieren sei. In diesem Kontext muß die Schiller-Kritik Adam Müllers gesehen werden. Müller kommt in den Zwölf Reden über die Beredsamkeit (1812)607 letztlich zu dem Schluß, daß aufgrund ihrer höheren Wirksamkeit der Beredsamkeit der Vorzug gegenüber der Poesie gegeben werden muß: »Die Majorität der besseren Naturen muß der Gegenwart, muß dem öffentlichen Leben, also der Beredsamkeit verbleiben«608, lautet sein Appell; Schillers Entscheidung für die »Dichterwelt«609 bewertet Müller als »erhabenste[s] Beispiel eines [...] Mißgriffes«610, weil der Autor damit der öffentlichen Sphäre verloren gegangen sei. »Deutschland«611, konzediert Müller freilich, hatte »im Großen den ähnlichen Mißgriff begangen, weil es unter unbesänftigten Begierden nach europäischer Bedeutung und Unabhängigkeit sich in Dichtungen und Träume verloren hat, die ebensowenig befriedigen können als jenen dichterischen Redner, den ich meine, seine Werke.«612 An die Stelle des Dichters soll der öffentliche Redner treten – eine Vorstellung, die auch August Wilhelm Schlegel umtrieb, wie der schon erwähnte Brief an Friedrich de la Motte Fouque vom 12. März 1806 belegt, in dem sich der Autor zunächst gegen Dichtungen als »Festtagsschmuck des Geistes«613 ausspricht und stattdessen für die Konzepti-
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Mehrschichtigkeiten, Uneindeutigkeiten und »Kippstruktur[en]« [Christine Lubkoll: Soziale Experimente und ästhetische Ordnung. Kleists Literaturkonzept im Spannungsfeld von Klassizismus und Romantik. (Die Verlobung in St. Domingo). In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Stiftung für Romantikforschung; 12), S. 119], die für Kleists frühere Texte konstitutiv waren, ist diese Entwicklung besonders beachtenswert. Vgl. Müller, Schriften I (wie Anm. 408), S. 293–451. Peter Foley verkennt den politischen Charakter der Reden, wenn er schreibt, daß Müller für diese Vorlesungen auf »(für ihn schon unaktuell gewordenes) kritisch-ästhetisches Ideengut« zurückgegriffen hätte. Peter Foley: Heinrich von Kleist und Adam Müller. Untersuchung zur Aufnahme idealistischen Ideenguts durch Heinrich von Kleist. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften; 1209), S. 40. Müller, Schriften I (wie Anm. 408), S. 348. Ebd. Ebd. »Schiller«, so Müller, »war [...] zum Redner geboren und strebte nach Kränzen, die nicht für ihn geflochten waren und die er doch zu gut kannte, als daß ihn der Lorbeer, den ihm sein Vaterland wirklich reichte und mit dem es seinen frühen Sarg umflocht, je hätte befriedigen und entschädigen können.« Ebd., S. 349. Ebd. Ebd.; vgl. zu Müllers Kritik an Schiller auch H.-J. Marquardt, Ästhetische Theoriebildung bei Müller (wie Anm. 534). A. W. Schlegel, Werke VIII (wie Anm. 384), S. 144.
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on einer »wachen, unmittelbaren, energischen und besonders einer patriotischen Poesie«614 plädiert, bevor er dann erwägt, ob in Zeiten, in denen »unsere nationale Selbständigkeit, ja die Fortdauer des des deutschen Namens so dringend bedroht wird«615, die Poesie nicht »ganz der Beredsamkeit weichen«616 müsse. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß die Autoren angesichts der Zeitumstände eine Politisierung der fiktionalen Literatur und bisweilen sogar ihre Ersetzung durch journalistische oder agitatorische Redeformen forderten. Die in den Horen angestellten Bemühungen Friedrich Schillers, eine von der politischen Welt unberührte, selbstgenügsame Diskussionskultur zu schaffen, erhielten durch die Autoren der Politischen Romantik eine ebenso deutliche Absage wie Schiller selbst. Schon der Phöbus, den Müller und Kleist im Jahr 1808 herausgaben, war – obwohl offiziell als Kulturzeitschrift deklariert – in bewußter Abgrenzung zu den Horen konzipiert worden.617 Die Schlegel-Brüder, Müller, Kleist, Arndt, Görres, Eichendorff und auch Arnim und Brentano wollten »das heilige Feuer der Vaterlandsliebe unter der Asche glimmend [...] erhalten, bis es einmal wieder in hellen Flammen auflodern könnte«618, wie August Wilhelm Schlegel später im Rückblick die Motivationen der »Gleichgesinnten«619 umschrieb.620 »[A]ktive Praxiser614 615 616 617 618
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Ebd., S. 145. Ebd. Ebd. Vgl. zu der Geschichte des Phöbus und seiner politischen Intentionen H.-J. Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165), S. 97–118. So August Wilhelm Schlegel in seiner Schrift Berichtigung einiger Mißdeutungen, mit der er sich 1828 gegen einen Angriff von Johann Heinrich Voß verteidigte. Vgl. A. W. Schlegel, Werke VIII (wie Anm. 384), S. 220–284, hier S. 242. Ebd. Selbst Ludwig Tieck ist hiervon nicht ganz auszunehmen, auch wenn er die Möglichkeit, mittels der Literatur auf die politischen Verhältnisse einwirken zu können, zurückhaltender einschätzte als andere Romantiker. Ende 1815 jedoch machte er seinem Freund Karl Wilhelm Ferdinand Solger den Vorschlag, eine Zeitschrift herauszugeben, die durchaus auch als Gegenentwurf zu den Horen intendiert war: »[J]ezt könnte man wohl der Politik und Geschichte nicht mehr so absichtlich aus dem Wege gehen, man müßte suchen, das Böse, Verirrende darin aufzuhellen.« Brief an Solger vom 5. Juli 1816, hier zit. n. Strobel: Nach der Autonomieästhetik (wie Anm. 588), S. 453. Vgl. zu Tiecks realistischerer Einschätzung der Möglichkeit, mittels Literatur gesellschaftliche Wirkungen erzielen zu können: Roger Paulin: Arnim und Tieck. In: Arnim und die Berliner Romantik. Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 3), S. 171–179. Zu seiner politischen Position siehe auch Ernst Ribbat: Die Französische Revolution im Werk Ludwig Tiecks. In: Deutsche Romantik und Französische Revolution. Internationales Kolloquium Karpacz 28. September – 2. Oktober 1987. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1990 (Germanica Wratislaviensia; 80), S. 109–119.
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C Die romantische Vorstellung von der deutschen Nation
kenntnis und historisch-politische Praxisbeherrschung«621 war nun der Maßstab, an dem sich die Intellektuellen messen lassen wollten, und den sie der »Vernachlässigung des gesellschaftlichen Zustandes der Welt und seiner Bedingungen«622 durch eine Philosophie und Poesie, die die Autoren nur allzu oft »buhlerisch in eine hoffnungslose Ferne«623 gelockt hatte, entgegensetzen wollten. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß fast alle der genannten Schriftsteller auch eine politische Laufbahn anstrebten; die Tatsache, daß diese »Karrieren« zumeist eher unglücklich verliefen oder oftmals auch gar nicht erst richtig begannen, vermag die Ernsthaftigkeit des Anspruchs – nämlich auf direktem Weg Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung ausüben zu können – nicht zu unterminieren. Dieser Ernsthaftigkeit des Anspruchs entsprach die selbstbewußte Überzeugung, die Zukunft des nationalen Zusammenlebens und das Handeln ihrer Leser positiv beeinflußen zu können. Aus dieser Perspektive ist es denn auch nur konsequent, wenn Ernst Moritz Arndt die »Rettung des Volkes zunächst bei den Schriftstellern«624 vermutet.
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H.-J. Marquardt, »Vermittelnde Geschichte« (wie Anm. 165), S. 165. So Müller in seinen Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur (1806). Vgl. Müller, Schriften I (wie Anm. 408), S. 11–137, hier S. 54. Ebd., S. 55. »Jener unwiderstehliche, durch die vornehmste Esoterik der Philosophie nicht abzuweisende, als Gemeinplatz selbst noch ehrwürdige Anspruch auf praktische Beziehung oder Brauchbarkeit der Philosophie wird die stolzesten Systeme verfolgen, verzehren und überleben«, heißt es kurz darauf ebd. Im zweiten Teil seines Geist[es] der Zeit (1808). Arndt, Werke X (wie Anm. 405), S. 158.
D
»Dieser Haß wird uns wie ein heller Spiegel sein« – Einschluß durch Ausschluß in den nationalen Konzepten von Kleist, Fichte, Müller und Arndt
I
Die Funktion des Feindbildes
Wie aus dem vorangegangenen Überblick hervorgeht, wurde die deutsche Selbstfindung – im Gegensatz zu der Entwicklungsgeschichte des amerikanischen und des französischen Nationalismus – nicht durch politische Ideale flankiert; im Gegenteil, die »romantische Idee der Nation war ausgesprochen unpolitisch und vergangenheitsorientiert«1, wie Lutz Hoffmann schreibt. »Als solche taugte sie nicht viel, um den Bürgern des neuen Staates eine selbstbewußte Identität zu vermitteln. Aus dieser Schwäche ließ sich allerdings Kapital schlagen, wenn es gelang, sie als Wehrlosigkeit angesichts drohender Gefahren zu interpretieren.«2 Daraus resultierte die durch die Politische Romantik forcierte Konstruktion »ein[es] existenzbedrohende[n] Widerspruch[es]«3 zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das dieses Eigene unterminieren und vernichten will. Der »Feind« – das war den Autoren der Politischen Romantik bewußt – ermöglichte es also erst, daß »[ü]ber dem Umweg einer engagierten Verneinung der dem Gegner unterstellten Verneinung des Eigenen«4 eine »Zustimmung zum eigenen Kollektiv«5 erwachsen und diese Bejahung des Eigenen zudem eine »klar umrissene Gestalt«6 erhalten konnte. So vermochte es die deutsche Nation, aus der Abwehr des französischen Eroberers – und eben auch des 1
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Lutz Hoffmann: Der Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation. In: Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns. Hg vom Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus. Freiburg/Breisgau: Ça Ira 2001, S. 55. Zum Gegensatz zwischen Kultur und Politik in der deutschen Ideengeschichte vgl. auch Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München: Hanser 2006. L. Hoffmann, Antisemitismus als Baugerüst (wie Anm. 1), S. 55. Lutz Hoffmann: Die Konstruktion von Minderheiten als gesellschaftliches Bedrohungspotential. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 62. Ebd. Lutz Hoffmann: Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1992), S. 26. L. Hoffmann, Die Konstruktion von Minderheiten (wie Anm. 3), S. 62.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
jüdischen Eindringlings – ein Bild von sich selbst zu gewinnen. »Das deutsche Volk wird durch seine Feinde nicht infragegestellt, sondern in der Konfrontation mit ihnen überhaupt erst definiert.«7 Die einfache Bevölkerung, »die an der Politik der Höfe wenig Anteil nahm[]«8, hatte der Frage, »unter welche Herrschaft sie geriet«9, zumeist relativ gleichgültig gegenüber gestanden, »solange sie nur von den Plünderungen und Brandschatzungen des Krieges verschont«10 geblieben war, wie Johannes Harnischfeger darlegt. Die homogenisierende und mobilisierende Wirkung eines gemeinsamen Feindbildes konnte diesen Zustand ändern; das war den Propagandisten des deutschen Nationalgedankens bewußt. In den staatsphilosophischen Vorlesungen Johann Gottlieb Fichtes und Adam Heinrich Müllers wird die Rolle des »Feindes« für die Entdeckung des Eigenen folglich ebenso reflektiert und instrumentalisiert wie in der politischen Pamphletistik Ernst Moritz Arndts. Ziel ist es, im Angesicht des vermeintlichen Untergangs des Eigenen durch die Heimtücke des Feindes eine massenrelevante Kontur des deutschen Kollektivs zu entwerfen. Diese Systematik des Einschlusses durch den Ausschluß des Ungleichartigen und Bedrohlichen artikuliert sich indes nicht nur in der die essayistischen und pamphletistischen Produktion, sie überformt vielmehr auch die fiktionalen Texte jener Jahre, wie kurz am Beispiel Heinrich von Kleists11 gezeigt werden soll. 7 8 9 10 11
L. Hoffmann, Die Konstitution des Volkes (wie Anm. 5), S. 21. Johannes Harnischfeger: Der Traum vom Heroismus. Zu Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1989), S. 261. Ebd. Ebd. Zur kontroversen Diskussion über Kleists Nationalismus und seine politischen Positionen vgl. u. a. die Beiträge von Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Klaus Peter, Dirk Grathoff u. a.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Frankfurt a. M.: Athenäum-Verlag 1972 (These; 5), S. 35–168; Hans Joachim Kreutzer: Über Gesellschaft und Geschichte im Werk Heinrich von Kleists. In: Kleist-Jahrbuch (1980), S. 34–72; Rudolf Vierhaus: Heinrich von Kleist und die Krise des preussischen Staates um 1800. In: Kleist-Jahrbuch (1980), S. 9–33; Beda Allemann: Der Nationalismus Heinrich von Kleists. In: Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978. Hg. von Walter Müller-Seidel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981 (Wege der Forschung; 586), S. 46–54; Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Rombach: Freiburg/Breisgau 1987 (Rombach Wissenschaft/Reihe Litterae); Manfred Botzenhart: Kleist und die preußischen Reformer. In: Kleist-Jahrbuch (1988/89), S. 132–146; Gerhard Gönner: Von »zerspaltenen Herzen« und der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«. Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist. Stuttgart: J. B. Metzler 1989; Rudolf Vierhaus: »Man muß sich mit seinem ganzen Gewicht in die Waage der Zeit werfen.« Die Zeit, der Dichter und die Tat. Kleist-Jahrbuch (1990), S. 71–85; Hans Joachim Kreutzer: Die Utopie vom Vaterland. Kleists politische Dramen. In: Oxford German Studies 20/21 (1992), S. 69–84; Lothar Bornscheuer: Heinrich von Kleists
II Das Verhältnis von Einschluß u. Ausschluß in ›Prinz Friedrich von Homburg‹
II
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»In Staub mit allen Feinden Brandenburgs« – Das Verhältnis von Einschluß und Ausschluß in Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg
Am Ende wird in Kleists Drama Friedrich Prinz von Homburg12 tatsächlich alles gut. Der Kurfürst Friedrich Wilhelm verzeiht dem Prinzen dessen Insubordination und nimmt das eigentlich den Gesetzen entsprechende Todesurteil im letzten Moment doch noch zurück; Homburg, der in der – freilich für Brandenburg siegreich verlaufenen – Schlacht von Fehrbellin ebenso verfrüht wie unbefugt zum Angriff gegen die Schweden geblasen hatte,13 bleibt nicht nur am Leben, er erhält auch noch die schöne Prinzessin Natalie von Oranien, die Nichte des Großen Kurfürsten, zur Frau.14 Kleist setzt mit dem harmonischen Finale des Dramas dem »Preußen des starren Rechts ein anderes, ein alternatives Preußen entgegen«15, wie Klaus Peter betont, nämlich den »Staat als Familie«16, in dem die zwischenmenschlichen Bindungen und die Idee des Vaterlandes mehr zählen als die »seelenlosen« Buchstaben der gesetzlichen Bestimmungen. Ganz zum Schluß, unmittelbar vor Homburgs Hinrichtung und deshalb gerade noch rechtzeitig, handelt der Kurfürst – den Intentionen der Politischen Romantik gemäß – nicht als ausführendes Organ einer moralisch indifferenten »Staats-Mechanik«17, sondern als wohlwollender Landesvater. »Thema des Stückes ist deshalb nicht die Erziehung des Prinzen, daß er seinen Fehler einsieht und in sich geht; Thema des Stückes ist die (Wieder-)Herstellung der Familie, daß der Vater als Vater handelt und dem Sohn verzeiht«18, so Peter vollkommen zu Recht. Homburg erhält auch den Oberbefehl über die Reiterei zurück, und diese zusätzliche Versöhnungsgeste des Kurfürsten signalisiert, worin die Stärke jenes alternativen Preußens, das Kleist hier entwirft, zu finden ist: Nämlich im »blinde[n] Vertrauen«19 zwischen Vater
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›vaterländische‹ Dichtung, mit der kein Staat zu machen ist. In: Die Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a. M. 1993. S. 216–236; Bernd Fischer: Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten. Berlin: Schmidt 1995 (Philologische Studien und Quellen; 135), S. 271–320; Klaus Müller-Salget: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam 2002 (Reclams Universal-Bibliothek; 17635), S. 250–264. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 1. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 629–709. Vgl. ebd., S. 652–654. Vgl. den fünften Akt des Dramas; ebd., S. 691–709, bes. S. 707–709. Klaus Peter: Für ein anderes Preußen. Romantik und Politik in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Kleist-Jahrbuch (1992), S. 100. Ebd., S. 102. Adam Müller: Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie. Berlin: Sander 1810, S. 55. Peter, Für ein anderes Preußen (wie Anm. 15), S. 120. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
und Sohn, zwischen Kurfürst und Prinz, zwischen Herrscher und Untertan. Es wird ein politisches Kollektiv entworfen, in dem sich die Bedürfnisse der Individuen und des Staates als »deckungsgleich«20 erweisen; besiegelt wird dieses neue Miteinander der Protagonisten mit dem kollektiven Ausruf: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs«21, der das Drama beschließt. Der aggressive und kriegerische Gestus dieser Schlußlosung war nicht nur die wesentliche Ursache der hochproblematischen Wirkungsgeschichte des Homburg22, sondern er sorgte auch in der jüngeren Literaturwissenschaft noch für gravierende Irritationen. Im Versuch, den zitierten Zeilen die Brisanz zu nehmen, »haben sich etliche Kleist-Forscher zu mitunter abenteuerlichen interpretatorischen Verrenkungen verpflichtet gesehen«23. So will Helmut Arntzen am Ende des Dramas24 »ein neues, ein wahres Sprechen«25 erkennen, das »kein ›meinendes‹ Sprechen«26 mehr sei, »das [...] auf etwas hinweist«27, sondern vielmehr »an und für sich selbst bedeutend«28: »Nein, diese Verse sind nur zu rechtfertigen, insofern sie nicht sagen, was sie mitteilen«29, schreibt Arntzen und illustriert damit eindringlich jenen fachfremden Umgang, den Teile der Literaturwissenschaft noch immer mit den Texten der Politischen Romantik pflegen. Mit erfrischender Grundsätzlichkeit weist dagegen HansJörg Knobloch in der Auseinandersetzung mit Arntzens Analyse darauf hin, daß es »gewiß nicht Aufgabe eines Literaturwissenschaftlers [sein kann] nach 20
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Michael Emmrich: Heinrich von Kleist und Adam Müller. Mythologisches Denken. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1990 (Europäische Hochschulschriften; 1141), S. 202. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 709. Vgl. die ausgewählten Dokumente zur Rezeptionsgeschichte bei Bernd Hamacher: Heinrich von Kleist. Prinz Friedrich von Homburg. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1999, S. 115–187, insbesondere S. 140–150. Vgl. auch die pointierte Darstellung der Wirkungsgeschichte bei Alexander von Bormann: Kleists Prinz Friedrich von Homburg – Drama der Adoleszenz. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Stiftung für Romantikforschung; 12), S. 277f. Hans-Jörg Knobloch: Ein Traum in Preußischblau? Zu Kleists Prinz Friedrich von Homburg. In: Aurora 56 (1996), S. 55. Arntzen bezieht sich nicht auschließlich auf die Schlußformel, sondern sieht das von ihm diagnostizierte »neue Sprechen« mit Homburgs Aufforderung an den Kurfürsten, den »Weltkreis« zu überwinden, einsetzen. »Geh und bekrieg, o Herr, und überwinde / Den Weltkreis, der dir trotzt – denn du bists wert!« (V, 7); vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 705. Helmut Arntzen: »Prinz Friedrich von Homburg« – Dramen der Bewußtseinsstufen. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1981, S. 233. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
II Das Verhältnis von Einschluß u. Ausschluß in ›Prinz Friedrich von Homburg‹
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Rechtfertigungen für einen Text zu suchen, und schon gar nicht, wenn er zu diesem Behufe dessen Sinn suspendieren muß.«30 Nun soll jedoch nicht, gleichsam in Abgrenzung zu Arntzens Rettungsversuchen, eine neuerliche moralische Inkriminierung der besagten Stelle erfolgen. Es geht vielmehr darum, ihren funktionalen Status im nationalen Argumentationsmuster des Homburg zu bestimmen. Hierzu ist es nötig, noch einmal auf jene Versöhnung zwischen Kurfürst und Prinz einzugehen, die die finale Katastrophe – nämlich die Hinrichtung Homburgs – abwendet. Diese Versöhnung stimmt zwar mit der Programmatik der Politischen Romantik überein, wonach sich die persönlichen und gesellschaftlichen Gegensätze in einer als Familie gedachten Nation zum Wohle des Ganzen harmonisieren sollen; aus einer werkimmanenten Perspektive heraus erscheint das versöhnliche Ende jedoch kaum nachvollziehbar. Schließlich ist das Verhältnis zwischen Homburg und dem Kurfürsten nicht nur durch die Insubordination des Jüngeren gestört; Homburg hatte in der Traumsequenz zu Beginn und später nach dem vermeintlichen Tod des Kurfürsten jeweils sehr offen nach der Krone gegriffen,31 was seine stets wortreich bekundete Liebe und Loyalität dem Herrscher gegenüber doch konterkariert.32 Zudem war sein Sieg in der Schlacht von Fehrbellin weniger glanzvoll ausgefallen, als es seine spätere Verteidigung vermuten lässt,33 und der verfrühte Angriffsbefehl war auch nicht der erste Fehler in Homburgs militärischer Karriere, in der ohnehin ein »auffällige[r] Gegensatz«34 zwischen »der heroischen Rolle, die er sich [selbst] zugedacht hat«35, und den »tatsächlichen Leistungen des Prinzen«36 festzustellen 30 31
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Knobloch, Traum in Preußischblau (wie Anm. 23), S. 55. Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 633f. sowie S. 657f. Jürgen Schröder spricht von einem »scheinbar vermessene[n] Verlangen« des Prinzen, das »jenseits aller moralischen Zensuren steht«. Die Tatsache, daß Homburg den Tod des Kurfürsten »zumindest unbewußt herbeiwünschte«, macht das Verhältnis der beiden »äußerst delikat und zwielichtig«. Vgl. Jürgen Schröder: Geschichtsdramen. Die »deutsche Misere« – von Goethes Götz bis Heiner Müllers Germania? Eine Vorlesung. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994 (Stauffenburg-Colloquium; 33), S. 131–134, Zitate S. 131, 131, 133, 131. Vgl. hierzu Walter Hinderer: Prinz Friedrich von Homburg. »Zweideutige Vorfälle«. In: Kleists Dramen. Interpretationen. Hg. von Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 17502), S. 164f. sowie Emmrich, Kleist und Müller (wie Anm. 20), S. 211. Die Worte Graf Sparrens, der berichtet, daß der Kurfürst doch noch lebt, fallen Homburg denn auch »schwer wie Gold in meine Brust!« (II, 8). Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 660. Knobloch weist darauf hin, daß Kleist die Möglichkeit offen zu lassen scheint, ob der Sieg über die Schweden ohne Homburgs verfrühten Angriffsbefehl deutlicher ausgefallen wäre. Vgl. Knobloch, Traum in Preußischblau (wie Anm. 23), S. 49 sowie Hinderer, »Zweideutige Vorfälle« (wie Anm. 31), S. 170f. Harnischfeger, Traum vom Heroismus (wie Anm. 8), S. 263. Ebd. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
ist.37 Auf der anderen Seite zeigt sich auch der Kurfürst wenig »väterlich«: Zu Beginn macht er sich über den somnambulen Homburg lustig,38 am Ende zwingt er den schon begnadigten Delinquenten »noch in die psychische Hölle einer vorgetäuschten Exekutionssituation«39. Aus der Logik des Stückes heraus scheint der Dissens zwischen den Protagonisten kaum überbrückbar.40 »In der geschichtlichen Realität, auf märkischem Sandboden, vermögen die menschlichen Kräfte der Gefühlsaktivierung derart schreckliche Gegensätze gemeinhin nicht zu harmonisieren«41, formuliert denn auch Hans-Georg Werner seine Skepsis gegenüber einer Schlußidylle, die sich bei näherer Betrachtung als ein doch sehr fragiles Gebilde erweist. So bedarf es der agressiven Schlußformel, wenn dem neu erwachten Gemeinschaftsgeist ein tragfähiges Fundament gegeben werden soll: »Die Harmonisierung der Antinomie erfolgt im Interesse eines bestimmten Staatswesens und mit einer kriegerischen Geste.«42 Damit das »Vaterland« zum »Begriff einer Lebensordnung«43 avancieren kann, »die stark genug ist, auch Abweichungen zu ertragen«44, bedarf es der demonstrativen Abgrenzung nach außen. Der Kurfürst und der Prinz stellen ihre Interessen hintan, um gemeinsam die »Feinde Brandenburgs« – wie es in dem kollektiven Ausruf heißt – in den Staub schicken zu können. »Mit diesem martialischen Gebrüll«45, so Wolf Kittler, »werden die Konflikte zugedeckt, die dem Stück eine tragische Wendung hätten geben können.«46 Die nationale Integration erfolgt in Kleists Stück über Vergebung, Liebe und Vertrauen; aber sie erfolgt auch und mehr noch über die offensive Abgrenzung gegen jene, die nicht dazugehören und die das nationale Kollektiv bedrohen. 37
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»Zwei Siege«, so der gestrenge Kurfürst, habe ihm Homburg »jüngst verscherzt« (I, 5). Auch sonst wirkt das Verhalten des Prinzen wenig professionell: Bei der Befehlsausgabe hört er nicht zu, bei einem Ritt in ein benachbartes Dorf fällt er vom Pferd. Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 647, S. 642–647, S. 649. Vgl. Hinderer, »Zweideutige Vorfälle« (wie Anm. 31), S. 162 sowie Knobloch, Traum in Preußischblau (wie Anm. 23), S. 49, Harnischfeger, Traum vom Heroismus (wie Anm. 8), S. 262–267 und Emmrich, Kleist und Müller (wie Anm. 20), S. 209f. Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 632–634. Hans-Georg Werner: Geschichtlichkeit in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Kleist-Jahrbuch (1992), S. 87. Vgl. Kleist, Werke I (wie Anm. 12), S. 707f.; auch Johannes Harnischfeger spricht von einer »Scheinexekution«. Harnischfeger, Traum vom Heroismus (wie Anm. 8), S. 279. Vgl. auch Hinderer, »Zweideutige Vorfälle« (wie Anm. 31), S. 167f. H.-G. Werner, Geschichtlichkeit (wie Anm. 39), S. 93. Ebd. Bormann, Drama der Adoleszenz (wie Anm. 22), S. 283. Ebd. Wolf Kittler: Die Revolution der Revolution oder Was gilt es in dem Kriege, den Kleists Prinz von Homburg kämpft. In: Heinrich von Kleist: Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hg. von Gerhard Neumann. Freiburg/Breisgau: Rombach 1994 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 20), S. 81. Ebd.
III Autarkie und Sendung: Johann Gottlieb Fichte
III
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Autarkie und Sendung: Johann Gottlieb Fichte
Daß die nationale Integration auch über die Definition derjenigen erfolgen muß, die nicht dazugehören und die Inklusion zwangsläufig auch eine Exklusion beinhaltet, wurde bereits mehrfach thematisiert. Im Fall der deutschen Selbstfindung verschärft sich dieses grundsätzliche strukturelle Moment des Nationalismus durch die Abgrenzung zu Frankreich – die Politische Romantik betont auch deshalb die natürliche Gewordenheit der deutschen Nation, um sie von dem vermeintlich subjektiv-mechanischen Modell der Identitätsstiftung im Land der Invasoren abzusetzen. Mit der Diskreditierung Frankreichs geht die Abwertung des politischen Ideenkatalogs der Franzosen einher, denn die Romantiker beschwören als Gegenmodell zu den revolutionären Gründungsmythen der Grande Nation47 die apolitisch-natürliche Gewordenheit des Deutschen. Diese eindringlich behauptete Natürlichkeit des nationalen Zusammenhangs, die auch die sprachtheoretischen Definitionen der »deutschen Nation« bestimmt,48 erweist sich freilich als sehr schmale Basis für eine positive Identitätsstiftung. Der bewußte Verzicht auf eine politische Definiton der deutschen Nation forciert daher die exklusive Seite des Nationalismus. Das »Deutsche« wird vor dem »Schattenriß des [...] anderen«49 konstruiert und in seinen Inhalten maßgeblich darüber bestimmt, was es nicht ist. Das Verhältnis des »deutschen Wesens« zu dem Anderen, Nicht-Deutschen, konturiert nicht nur – wie gezeigt wurde – die »für den Augenblick berechneten« Texte Kleists, sondern auch die Überlegungen jener Denker, die in Gerhard Schulz’ ausgezeichneter Überblicksdarstellung über die deutsche Literatur zwischen 1806 und 1830 als »Theoretiker des nationalen Widerstands«50 47
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Vgl. hierzu exemplarisch Rolf Reichardt: Die Stiftung von Frankreichs nationaler Identität durch die Selbstmystifizierung der Französischen Revolution am Beispiel der »Bastille«. In: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Hg. von Helmut Berding. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1246), S. 133–163. »Was ist des Deutschen Vaterland? / So nenne mir das große Land! / So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es sein! / Das, wackrer Deutscher, nenne dein!«, lautet die sechste Strophe von Arndts berühmten Lied Des Deutschen Vaterland (1813), das ich hier nach dem Abdruck in der Sammlung Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, S. 213f. zitiere. Noch einmal Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart: Klett-Cotta 1992 (Sprache und Geschichte; 19), S. 65. Vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration: 1806–1830. München: C. H. Beck 1989 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 7), S. 26–50; neben Arndt, Fichte und Müller
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
figurieren. Im folgenden wird über drei dieser Autoren zu sprechen sein, nämlich über Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und Adam Heinrich Müller. Daß die Konzepte dieser Autoren in Einzelfragen erheblich differieren, wurde in der Forschung zu Recht thematisiert. Müller hat sowohl gegen Fichte als auch gegen Arndt polemisiert,51 und auch die Divergenzen zwischen Fichte und Arndt sind nicht zu unterschätzen.52 Gleichwohl sollen in dieser Darstellung die Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen; auch wenn die konkreten politischen Handlungsanweisungen, in die Müller, Arndt und Fichte ihre Überlegungen gleichsam übersetzen, unterschiedlich sind, so kreist das Denken dieser drei Autoren doch um die »deutsche Nation«, und alle definieren hierbei das Eigene über seine Beziehung zum Fremden, zum Anderen. Arndt, Fichte und Müller sehen die Möglichkeit, die Vorstellung einer deutschen Identität in der Bevölkerung etablieren zu können, in entschiedener Abhängigkeit davon, ob es gelingen würde, die Differenzqualität dieses nationalen Kollektivs zum Nicht-Deutschen im öffentlichen Bewußtsein dauerhaft verankern zu können. Das Nicht-Deutsche firmiert dabei in erster Linie als das »Französische«; eine weitere Gemeinsamkeit von Arndt, Fichte und Müller besteht darin, daß sie auch das »jüdische Wesen« als unvereinbar mit dem »deutschen Wesen« einstufen und deshalb dem Emanzipationsedikt von 1812 ablehnend gegenüberstehen. Im folgenden soll zunächst dargelegt werden, welche Konzepte Fichte, Müller und Arndt entwickelten, um das Eigene durch das Fremde zu definieren; anschließend wird es darum gehen, inwiefern ihr Entwurf eines »deut-
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behandelt Schulz in diesem Abschnitt auch Joseph Görres und den »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn. Müller gab im Jahr 1801 sein publizistisches Debüt mit einer Polemik gegen Fichtes Schrift Der geschloßne Handelsstaat, die im Dezember in der Berlinischen Monatschrift erschien. Vgl. Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 42 sowie – zu den philosophischen Prämissen von Müllers »Grundsatzkritik« an Fichte – Walter Hinderer: Immanuel Kants Begriff der negativen Grössen, Adam Müllers Lehre vom Gegensatz und Heinrich von Kleists Ästhetik der Negation. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Hg. von Christine Lubkoll und Günter Oesterle. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Stiftung für Romantikforschung; 12), S. 46–52, Zitat S. 46. Später erklärte er sich in einem Nachwort zu den Elemente[n] der Staatskunst gegen die »grassierende Vaterlandsretterei« und meinte damit vermutlich Arndt, der in seiner Schrift Der Bauernstand, politisch betrachtet (1810) prompt gegen die »etwas vornehme[n]« Behauptungen Müllers zu Felde zog. Vgl. G. Schulz, Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration II (wie Anm. 50), S. 41, dort auch die Zitate. Sie betreffen freilich hauptsächlich die philosophischen Prämissen der beiden Autoren; Arndt zeigt sich Fichtes Wissenschaftslehre gegenüber skeptisch. Vgl. hierzu Hanns Frömbgen: E. M. Arndt und die deutsche Romantik. Phil. Diss. masch. Münster 1926, S. 7.
III Autarkie und Sendung: Johann Gottlieb Fichte
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schen Wesens« auch vor der Negativfolie eines »jüdischen Nationalcharakters« konzipiert wurde. In seiner Schrift Der geschloßne Handelsstaat (1800)53 empfiehlt Fichte eine radikale Abschottung der Staaten voneinander, die über den wirtschaftlichen Aspekt – weder der Privatmann noch die Regierung darf den »mindesten Handelsverkehr mit dem Auslande«54 haben – weit hinausgeht; neben dem Handel ist nämlich auch das Reisen in eben jenes »Ausland« für den durchschnittlichen Bürger nicht gestattet, soll es doch der »müßigen Neugier und Zerstreuungssucht [...] nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen«55. Der Philosoph der Wissenschaftslehre erhofft sich von diesem Konzept in erster Linie sozialpolitische Konsequenzen; immerhin soll den Bürgern auf diese Weise nicht nur ein Existenzminimum, sondern auch ein Anteil am erwirtschafteten Vermögen des Staates zuerkannt werden: »Das Volk«56, so Fichte, als er am Ende des Textes die gewünschten Konsequenzen der von ihm angedachten »Maßregeln«57 erläutern will, »befindet sich, zufolge der vor der Schließung gemachten Verbesserungen, in einem beträchtlichen Wohlstande, und von diesem Wohlstande genießen alle ihren geziemenden Teil. [...] Verarmen und in Mangel kommen kann keiner«58. Für unsere Belange ist freilich interessant, daß auch in dieser Abhandlung, die noch nicht den konsequent nationalistischen Gestus der um 1806 verfaßten Texte annimmt, bereits die Idee der »deutschen Nation« eine Rolle spielt – für Fichte nämlich ist es »klar, daß unter einer so geschlossenen Nation, deren Mitglieder nur untereinander selbst, und äußerst wenig mit Fremden leben, die ihre besondere Lebensart, Einrichtungen und Sitten durch jene Maßregeln erhält, die ihr Vaterland und alles Vaterländische mit Anhänglichkeit liebt, sehr bald ein hoher Grad der Nationalehre und ein scharf bestimmter Nationalcharakter entstehen werde«59. Herders Lehre von den verschiedenen Volkscharakteren steht hier im Hintergrund – doch hatte Herder auf anthropologischer und klimatheoretischer Basis argumentiert, während der Entwicklung von Fichtes Nationalcharakteren erst durch wirtschaftspolitische Maßnahmen nachgeholfen werden muß. Denn nur die Einführung des Landesgeldes und die damit verbundene Autarkie gegenüber anderen Völkern läßt eine »andere, durchaus neue Nation«60 entstehen. Innerhalb dieser »neuen Nation« wird die 53
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Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Ausgewählte politische Schriften. Hg. von Zwi Batscha und Richard Saage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 201), S. 59–167. Ebd., S. 161. Ebd., S. 162. Eine bezeichnende Ausnahme von dieser Regel macht Fichte freilich für die »Gelehrte[n] und höhere[n] Künstler«, die gar auf Staatskosten »zum Besten der Menschheit und des Staates« in die Welt geschickt werden sollen. Vgl. ebd. Ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 160–164. Ebd., S. 160. Ebd., S. 164. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
der Aufklärung angelastete Vereinzelung und Individualisierung zugunsten eines Gemeingeistes aufgehoben, der freilich an den »natürlichen Grenzen«61 zu den Nachbarländern sein Ende findet: »Traten in früheren Epochen die Individuen sich entfremdet und vereinzelt aufgrund ihres ausschließlichen Interesses an persönlicher Bereicherung gegenüber, so treten sich jetzt die Nationen als vereinzelte und aufgrund ihres nationalen Bereicherungsinteresses als voneinander entfremdete gegenüber«62, bilanziert Bernd Fischer, der zu Recht darauf aufmerksam macht, daß dem »neuen Nationsbegriff [...] ein radikalisierter Begriff des Ausländers«63 korrespondiert. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Abschottung von eben diesen »Ausländern« dient also nicht nur sozialpolitischen Maximen, sondern es geht auch darum, ein nationales Gemeinschaftsgefühl und einen scharf konturierten Nationalcharakter entstehen zu lassen. Beides würde durch den Austausch mit anderen Ländern unterlaufen bzw. verwässert werden; für die erhoffte Binnenhomogenisierung ist die radikale Abgrenzung nach außen unabdingbar.64 Damit wird ein Gedanke angesprochen, der wenige Jahre später auch in den Reden an die deutsche Nation65 (1807/08) eine Rolle spielt, in denen Fichte – bei Strafe des »Untergangs unsrer Nation«66 – gleichfalls vor einem »Zusammenfliessen [...] mit dem Auslande«67 warnt. Zwischenzeitlich hatte Preußen freilich die Schlachten bei Jena und Auerstedt verloren und war auf dem Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt. Fichte führt diese Entwicklung auch darauf zurück, daß seiner Konzeption der autarken Nation keine Aufmerksamkeit geschenkt worden war: »Dieser Vorschlag verstiess gegen unsere Gewöhnungen, besonders aber gegen unsere 61
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66 67
Ebd., S. 158. Vgl. hierzu die Erläuterungen Bernd Fischers: »Denn die Nation [...] muß über genügend Anbauflächen, Bodenschätze usw. verfügen, um sowohl die Grundbedürfnisse als auch die produktive Vermehrung des Nationalvermögens zu gewährleisten.« Deshalb muß der geschlossene Handelsstaat aufrüsten, um die ›natürlichen Grenzen‹ und mithin das für die intendierte Autarkie notwendige Gebiet einnehmen zu können. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche (wie Anm. 11), S. 235. Ebd. Ebd. Vgl. insgesamt zu Fichtes Schrift den präzisen Überblick bei Fischer, ebd., S. 232– 237. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 259–499. Vgl. zu den Reden Kurt Lenk: »Volk und Staat«. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1971 (Reihe Kohlhammer), S. 74–84; Fischer, Das Eigene und das Eigentliche (wie Anm. 11), S. 249–270; Klaus Peter: Deutschland in Not: Fichtes und Arnims Appelle zur Rettung des Vaterlandes. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 3–22. Fichte, Werke VII (wie Anm. 65), S. 266. Ebd.
III Autarkie und Sendung: Johann Gottlieb Fichte
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abgöttische Verehrung der ausgeprägten Metalle, und wurde leidenschaftlich angefeindet und beiseite geschoben. Seitdem lernen wir, durch fremde Gewalt genöthigt und mit Unehre, das und noch weit mehr entbehren, was wir damals [...] nicht entbehren zu können versicherten.«68 Wie die anderen Autoren der Politischen Romantik, sieht allerdings auch Fichte in dieser Krise eine Chance: »Möchten wir endlich einsehen, dass alle jene schwindelnden Lehrgebäude über Welthandel und Fabrication für die Welt zwar für den Ausländer passen, [...] dass sie aber bei den Deutschen keine Anwendung haben, und dass, nächst der Einigkeit dieser unter sich selber, ihre innere Selbstständigkeit und Handelsunabhängigkeit das zweite Mittel ist ihres Heils, und durch sie des Heils von Europa.«69 Indem Fichte das »deutsche Heil« mit dem von Europa verbindet, ist eine wichtige Akzentverschiebung bereits angedeutet: In den Reden insistiert der Autor Fichte nicht nur auf dem prinzipiellen Unterschied zwischen den Deutschen und dem »Ausland«, er beharrt auch auf einer Überlegenheit des deutschen Nationalcharakters, den er sprachtheoretisch zu beglaubigen sucht; Fichte geht davon aus, daß das Deutsche als einzige Sprache »nicht durch aufoktroyierte Begriffe und Anschauungsweisen sich selbst entfremdet sei und [daher] noch näher an der Ursprache stehe«70, wie Bernd Fischer erläutert. »Die Verschiedenheit ist sogleich bei der ersten Trennung des gemeinschaftlichen Stammes entstanden, und besteht darin, dass der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache.«71 Als Konsequenz resultiert aus diesen Überlegungen, daß »die anderen Völker [...] keine Nation im Fichteschen Sinn ausmachen«72 können, weil ihnen mit der echten und unverfälschten Muttersprache auch der wahre Patriotismus abgeht;73 es bleibt dem »deutsche[n] Geist«74 vorbehalten, »Felsmassen von Gedanken [zu] schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen«75. Die Entwicklung des deutschen Nationalcharakters soll sich weiterhin autonom von den Anderen vollziehen, um den Grundunterschied – »Naturgemässheit von deutscher Seite, Willkürlichkeit und Künstelei von der Seite des Aus68 69 70 71 72 73
74 75
Ebd., S. 466. Ebd., S. 466f. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche (wie Anm. 11), S. 257. Fichte, Werke VII (wie Anm. 65), S. 325. Fischer, Das Eigene und das Eigentliche (wie Anm. 11), S. 259. Vgl. auch Lenk, »Volk und Staat« (wie Anm. 65), S. 76: »Die Umdeutung gegebener nationaler und sprachlicher Differenzen zu schicksalhaften und daher angeblich für immer unüberbrückbaren metaphysischen Wesensunterschieden muß herhalten für die Stilisierung der Deutschen zum sogenannten Urvolk, das von allen anderen Völkern durch reine Unmittelbarkeit und durch Ursprünglichkeit wie durch einen Abgrund getrennt ist und: als realpolitisches Desiderat notwendig getrennt bleiben muß.« Fichte, Werke VII (wie Anm. 65), S. 339. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
landes«76 – bewahren zu können; doch im Gegensatz zu der Abhandlung über den Geschloßne[n] Handelsstaat kommt dem ›deutschen Volk‹ nunmehr eine missionarische Aufgabe zu, die sich freilich auch und gerade auf die französische Besatzungsmacht bezieht, mit der – nach der militärischen Auseinandersetzung – nun ein »Kampf der Grundsätze« ausgefochten werden soll: »Der Kampf mit den Waffen ist beschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters. Geben wir unseren Gästen ein Bild treuer Anhänglichkeit an Vaterland und Freunde, unbestechlicher Rechtschaffenheit und Pflichtliebe [...] als freundliches Gastgeschenk mit in ihre Heimath, zu der sie doch wohl endlich einmal zurückkehren werden.«77 Die besagte Mission erschöpft sich dabei keineswegs in der deutschfranzösischen Auseinandersetzung; vielmehr hängt von ihr nicht weniger als das Wohl der »ganze[n] Menschheit« ab: »[W]enn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung«78, heißt es dementprechend am Ende der Reden.79 »Autarkie« und »Sendung« scheinen mir die Schlüsselbegriffe zu sein, mit denen Fichtes Theorie des Deutschtums adäquat erfaßt werden kann. Beide Begriffe rekurrieren auf die exklusive Seite des nationalen Januskopfes; beide brauchen das – abschätzig evaluierte – »Ausland« als Referenzpunkt.
IV
Die »Idee der Eigentümlichkeit« als »Kranz des Sieges«: Adam H. Müller
Auch wenn Adam Müller das Konzept des Geschloßnen Handelsstaates als eine »de[r] beiden großen Hauptformen alle[n] politischen Unsinns«80 abquali76 77
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Ebd., S. 337. Ebd., S. 470. Peter L. Oesterreich verweist zu Recht darauf, daß mit diesen Überlegungen der Versuch unternommen wird, die »lebensweltliche Niederlage der spekulativen Philosophie mit der politisch-militärischen des deutschen Volkes zu verbinden und in eine[n] gemeinsamen geistigen und sprachkulturellen Sieg zu verwandeln«, wobei durch die »topische Polarisierung« zwischen den »Deutschen« und dem »Ausland« eine »bedenkenlose Identifikation« erzwungen werden soll. Vgl. Peter L. Oesterreich: Politische Philosophie oder Demagogie? Zur rhetorischen Metakritik von Fichtes Reden an die deutsche Nation. In: Fichte-Studien. Band 2: Kosmopolitismus und Nationalidee. Hg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader. Amsterdam: Rodopi 1990, S. 87. Fichte, Werke VII (wie Anm. 65), S. 499. Vgl. hierzu Klaus Peter, der von den »weitreichende[n] Konsequenzen« jenes »gefährlichen Weg[es]« spricht, den Fichte betritt, in dem er »die Rettung Deutschlands mit der Rettung der Menschheit in eins« setzt. Peter, Deutschland in Not (wie Anm. 65), S. 18f. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Erster Halbband. Jena: Fischer 1922 (Die Herdflamme; 1), S. 79. Die zweite Hauptform ist der zu »Universal-Staaten« neigende Kosmopolitismus. Vgl. zur Müller-Forschung die gründliche Bibliographie bei Harm-Peer Zimmermann: Ästhetische Aufklärung. Zur
IV Die »Idee der Eigentümlichkeit« als »Kranz des Sieges«: Adam H. Müller
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fizierte und sogar mit einer wenig wohlwollenden Rezension über Fichtes Schrift sein publizistisches Debüt gab,81 so war er doch in einem Punkt mit dem späteren Rektor der Berliner Universität im Einklang: Auch Müllers Programm einer nationalen Selbstfindung konstituierte sich maßgeblich über die Abgrenzung zum Nicht-Deutschen. In seinen Vorlesungen Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie (1810) erläutert Müller dementsprechend, daß die Staaten nur über »unaufhörlichen Streit und gegenseitige Reibungen aller Art [...] zu einem immer bestimmteren Bewußtseyn ihrer Eigenheit«82 gelangen. Das »Wesen des Staates«83 ist ohnehin »nicht absolut zu begreifen«84, wie der Staatstheoretiker in den Elementen der Staatskunst (1809) deutlich macht, sondern »gleichfalls nur mit Wechselblicken auf sehr verschieden gestaltete, constituirte und organisirte Staaten, lebendig, im Fluge, d. h. ideenweise, zu erkennen«85. Bei den »Wechselblicken«, also bei der vergleichenden Betrachtung der verschiedenen Staatswesen, soll es indes nicht bleiben: Der Krieg bekommt eine zentrale Funktion in Müllers Programmatik der nationalen Selbstfindung. Droht in Friedenszeiten nämlich nicht nur die Erschlaffung und Erstarrung, sondern auch ein durch interne Konflikte geschürter Erosionsprozeß des nationalen Lebens, so wird in »dem Kriege der National-Kraft gegen die NationalKraft [...] das Wesentliche und Schönste der National-Existenz, d. h. die Idee der Nation, allen Interessenten ihres Schicksals vornehmlich klar«86. Der Krieg, der deshalb mitnichten von der »Brut des allerschlaffsten, allerentartetsten Privatlebens«87 aus Europa »hinaus [...] industrir[t] oder moralisir[t]«88 werden darf, wird also nicht wichtig, da sich mit seiner Hilfe die Machtfülle des Staates erweitern läßt oder die politische Unabhängigkeit verteidigt werden kann – er ist für die Nation vielmehr von zentraler Bedeutung, weil er in ag-
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82 83 84 85 86
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Revision der Romantik in volkskundlicher Absicht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 571–607. Adam Müller: Über einen philosophischen Entwurf von Hrn. Fichte, betitelt: ›Der geschloßne Handelsstaat‹. In: Neue Berlinische Monatsschrift, hg. von Johann Biester. Berlin 1801, S. 436–458. Vgl. hierzu [Hans]-Jochen Marquardt: »Vermittelnde Geschichte«. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Heinrich Müller. Stuttgart: Heinz 1993 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 276), S. 192–194. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 17), S. 311. Müller, Elemente I (wie Anm. 80), S. 77. Ebd. Ebd. Ebd., S. 81. Das »höhere Gut«, das die Kriege befördern sollen, ist demnach eben nicht der »Weltfriede« – wie Harm-Peer Zimmermann schreibt – sondern die Idee der nationalen Eigentümlichkeit. Vgl. H.-P. Zimmermann, Ästhetische Aufklärung (wie Anm. 80), S. 485. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 17), S. 309. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
gressiver Abgrenzung nach außen die inneren Bindungskräfte intensiviert und die Nation als Gemeinschaft erfahrbar macht. »Aus dem Standpunkte der Staaten sind Kriege die Bewegungen insonderheit, unter denen das politische Leben sich selbst erkennen und fühlen lernt, unter denen der Staat sich seiner abgesonderten Natur bewußt wird, das Ganze seine Kräfte vornehmlich erprüft, weil es sich selbst einem andern solchen Ganzen gegenüber sieht«89, schreibt Müller. »Unter allen Bindungsmitteln der Staatsvereinigung ist der wahre Krieg das wirksamste und dauerhafteste, weil gemeinschaftliche Noth und Thränen besser und fester binden als das Glück, weil alles Einzelne, was sich im Frieden verbergen und verheimlichen kann, nun nothwendig öffentlich hervortreten und dem Ganzen hergegeben werden muß.«90 Vor diesem Hintergrund erfahren sogar die napoleonischen Eroberungsfeldzüge eine positive Evaluation, denn der »Schein der Universal-Herrschaft kommt mitunter in die Welt, um den Völkern ihre Abgestorbenheit sichtbar zu machen, um jeder einzelnen Nation ihr höchstes Gut, das sie vor allem todten Besitze vergessen hat, nehmlich die Idee ihrer Eigenthümlichkeit, wie einen Kranz des Sieges, den sie erst erobern muß, vorzuhalten.«91 Es ist das politische und geistesgeschichtliche Verdienst Frankreichs und der Aufklärung, die nationalen Eigentümlichkeiten in das Bewußtsein gerufen zu haben; letztlich aber argumentieren die »Kosmopoliten in unsern Tagen«92 auf der Grundlage widernatürlicher Prämissen, denn die natürliche Ordnung basiert nach Müller gerade auf der »unendlichen Verschiedenartigkeit der Menschen, ihrer Wohnsitze, ihrer Bedürfnisse, ihrer Klimate, ihrer Regierungsweisen«93. In den militärischen Auseinandersetzungen artikulieren sich diese Partikularismen besonders eindringlich; und genau darin liegt ihre Bedeutung. Martin Greiffenhagen bescheinigt Müller denn auch, daß er »als erster den Zusammenhang zwischen politischer Integration und kriegerischer Dynamik erkannt«94 habe. Der Krieg kann die beschriebene Funktion jedoch nur wahrnehmen, wenn er keine Angelegenheit bezahlter Söldnerheere bleibt, die nach Müller ein Symptom der verhängnisvollen Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus darstellen. So hatte die preußische Armee den »Hauptfehler«, nicht mit der Nation »verwachsen«95 gewesen zu sein. Anstelle einer solchen »Spaltung der ganzen Nation in eine
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95
Müller, Elemente I (wie Anm. 80), S. 80. Ebd. Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 79. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Mit einem neuen Text: ›Post-histoire?‹ Bemerkungen zur Situation des ›Neokonservatismus‹ aus Anlaß der Taschenbuchausgabe 1986. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 634), S. 263. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 17), S. 309.
IV Die »Idee der Eigentümlichkeit« als »Kranz des Sieges«: Adam H. Müller
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Friedenshälfte und eine Kriegeshälfte, in Civil und Militair«96, setzt Müller auf die »Einheit und gegenseitige Durchdrungenheit des Civils und des Militairs«97, sprich auf die »militairische Erziehung der ganzen Nation«98: »Jeder Tropfen Blut, der den Staat durchfließt, [...] soll mit dem Eisen des Krieges versetzt seyn, und der ganze Staat so gestellt werden, daß er im Kriege, wie im Frieden, ein Ganzes bleiben kann«99, beschreibt Müller seine Vision einer Nation in Waffen. Jenen »Kriegesmuth, den die Zeit schon in unsrer Jugend zu wecken strebt«100, gilt es, »bestimmt, deutlich und national zu gestalten, und ihn auf den einzig seiner würdigen Zweck, nehmlich auf das bestimmte Vaterland, zu richten«101. Damit erklärt Müller freilich die Verwirklichung jener Utopien eines ewigen Friedens, die von Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel und Joseph Görres in den 1790er Jahren entworfen worden waren,102 für keineswegs wünschenswert, weil das soziale und nationale Leben der Regeneration durch die militärische Auseinandersetzung bedarf. Müller hält den Krieg nicht nur für »unvermeidlich«103, wie es Kurt Hübner in seiner wohlwollenden Interpretation behauptet, sondern obendrein für dringend erforderlich. Auch die Bevölkerung steht militärischen Auseinandersetzungen seiner Ansicht nach durchaus nicht so ablehnend gegenüber, wie das die besagten Friedensutopien suggerieren: »[D]as Volk [...] hat eine Art von Sehnsucht so gut nach Frieden, wie nach Krieg. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, daß die Völker mehr den Frieden begehrten.«104 Wohlgemerkt: Im Rahmen des 96 97 98 99 100 101 102
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Ebd., S. 313. Ebd., S. 315. Ebd., S. 313. Ebd. Ebd., S. 320. Ebd. Vgl. zu diesen Friedensutopien Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil. Das Zeitalter der Französischen Revolution: 1789–1806. München: C. H. Beck 1983 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 7), S. 159–180. Kurt Hübner: Das Nationale. Verdrängtes, Unvermeidliches, Erstrebenswertes. Graz, Wien, Köln: Styria 1991, S. 137. Müller, Elemente I (wie Anm. 80), S. 11f.; diese Zitat macht Harm-Peer Zimmermanns apologetische Interpretation von Müllers Nationalismus vollends fragwürdig. Zimmermann konzediert zwar, daß der Philosoph die »Gewaltfrage in ihrer Komplexität nicht angemessen erfaßt« habe, insgesamt jedoch sieht er Müllers »kriegerische[n] Patriotismus« in einem weltbürgerlichen Humanismus eingebettet. Unabhängig davon, daß Zimmermanns Argumentation auf der zumindest diskussionswürdigen Prämisse der Möglichkeit eines »[g]erechte[n] Krieges« basiert, wird hier die Funktion, die dem Krieg in Müllers politischer Theorie zukommt, gänzlich verfehlt. Es geht eben gerade nicht um den »Weltfrieden«, der als ein erstarrter, fixierter Zustand nach Müller kein wünschbares Ideal darstellt. Zudem verkennt Zimmermann die Janusköpfigkeit des Nationalismus, wenn er Müllers »Idee des Patriotismus« von einem »bornierten Nationalismus« abzugrenzen ver-
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intendierten Aufstandes gegen Frankreich hatten auch Schlegel105 und Görres106 die Hoffnung auf einen »Ewigen Frieden« längst verabschiedet; beide begreifen den Krieg allerdings als – wenn auch notwendiges und gottgewolltes – Übel, während er bei Müller dazu dient, der »deutschen Nation« zu einem Bilde von sich selbst zu verhelfen.107
V
Der »Meister des Hasses«: Ernst Moritz Arndt
Was bei Müller nur über eine äußere Bedrohung und den konkreten Waffengang konditioniert werden kann, versucht Ernst Moritz Arndt zu einer im einzelnen Bürger dauerhaft verankerten charakterlichen Disposition umzugestalten – nämlich das Bewußtsein, Mitglied einer besonderen und einmaligen Nation zu sein, die sich von allen anderen Völkern unterscheidet und deren Eigenart es zu bewahren und zu verteidigen gilt. Genau deshalb bildet die Opposition von »Liebe« und »Haß« den »Grundakkord«108 in Arndts Schrif-
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sucht. Vgl. H.-P. Zimmermann, Ästhetische Aufklärung (wie Anm. 80), S. 477– 486, Zitate S. 485. Vgl. zu Schlegels Verständnis des Krieges Albert Portmann-Tinguely: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und »Freiheitssängern«: Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner. Freiburg/Schweiz: Universitäts-Verlag 1989 (Historische Schriften der Universität Freiburg; 12), S. 134– 155. Zu seinen politischen Positionen vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow: Revolution und Kirche im Denken Friedrich Schlegels. In: Deutscher Katholizismus und Revolution im frühen 19. Jahrhundert. Hg. von Anton Rauscher. München, Paderborn, Wien 1975 (Beiträge zur Katholizismusforschung), S. 11–32. Vgl. zu Görres Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg (wie Anm. 105), S. 84– 116. Mit den Heeresreformern Gerhard Johann David Scharnhorst, Carl von Clausewitz und Otto August Rühle von Lilienstern freilich geht Müller konform; auch sie sind überzeugt, daß der Krieg als integraler Bestandteil von Staat und Politik und mithin der gesamten Gesellschaftsordnung verstanden werden muß, und auch sie thematisieren seine Rolle bei der Identitätsfindung des Volkes. Vgl. Johannes Kunisch: Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege. In: Kleist-Jahrbuch (1988/89), S. 44–63; Horst Carl: Der Mythos des Befreiungskrieges: Die »martialische« Nation im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege 1792–1815. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 63– 82 und bezüglich der Beziehungen Müllers zu den Militärreformern Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 135–147. Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zur Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert. Bonn: Röhrscheid 1974 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn; 13), S. 126.
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ten, die in »nahezu kultischer Manier [...] um nichts anderes«109 als um den Begriff des »deutschen Volkes« kreisen: »Liebe und Haß sind die Elemente der Welt und des Menschen, woraus alles gezeugt ward und wird. Das Endliche muß ewiglich hassen, um ewiglich lieben zu können.«110 Auch ein Volk muß, um sich seiner Eigenart bewußt werden zu können, nach Arndt das Fremde hassen und das Eigene lieben. Was uns in den frühen Texten Arndts in vergleichsweise gemäßigter Form eher als »philosophischer Lehrsatz«111 begegnet, erfährt schon wenige Jahre später durch den »Meister des Hasses«112 (Benedikt Erenz) eine merkliche Radikalisierung und fungiert nun als »politisches Dogma mit suggestiver Ausstrahlung«113, wie Karl Heinz Schäfer analysiert.114 Am signifikantesten für die Bedeutung des »Völkerha[sses] als Rückkopplung der Vaterlandsliebe«115 im Denken Arndts scheint die eigens diesem Phänomen gewidmete Schrift Über den Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache zu sein;116 die historische Situation des Jahres 1813 hält Arndt für geeignet, eine »wohltätige Scheidewand«117 aus Liebe und Haß 109
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Lutz Hoffmann: »Die Liebe des Esels zu seinem Stall«. Die Rolle des Nationalstolzes bei der Entstehung des deutschen Volkes. In: Die Stolzdeutschen. Von Mordspatrioten, Herrenreitern und ihrer Leitkultur. Hg. von Dietrich Heither und Gerd Wiegel. Köln: Papy Rossa 2001 (Neue kleine Bibliothek; 74), S. 108. So Arndt zu Beginn seiner frühen Schrift Germanien und Europa aus dem Jahr 1803. Vgl. Ernst Moritz Arndt: Germanien und Europa. In: Germanien und Europa von Ernst Moritz Arndt. Ein Buch an der Schwelle unseres Zeitalters. System, Bedeutung, Einordnung in die Zeit. Hg. von Ernst Anrich. Stuttgart, Berlin: Kohlhammer o. J. [1940], S. 91. Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 126. Vgl. Benedikt Erenz: Meister des Hasses. Was bleibet aber, stiften die Dichter. In: Die Zeit, Nr 48, 22. November 1996, S. 45. Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 126. Im ersten Teil von Geist der Zeit (1806) nimmt Arndt sogar Napoleon noch etwas in Schutz vor jenen, die ihn im Haß zu einem »verruchte[n] Bösewicht« stempeln wollen. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Neunter Band: Geist der Zeit. Erster Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 213. Schon im zweiten Teil (1808) zeigt er sich diesbezüglich weniger skrupulös und zieht noch wortmächtiger gegen die »treulose Herrschsucht und [...] verderbenzettelnde Spinnenlist« des Korsen zu Felde. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Zehnter Band: Geist der Zeit. Zweiter Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 151. Vgl. Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 126f. Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 127. Schäfer macht ebd. freilich zu Recht darauf aufmerksam, daß »diese doppelte Leidenschaft von Liebe und Haß [...] in den Jahren 1812 bis 1815 Arndts gesamte Publizistik« durchdringt. Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 334.
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zwischen den Völkern zu errichten, da er in der deutschsprachigen Bevölkerung gleichsam einen »gerechten Zorn« gegen die französischen Eroberer heranwachsen sieht: »Laß die Franzosen in Frankreich Franzosen sein, in Teutschland sollen sie es nicht sein; da müssen sie und ihre Anhänger und Evangelisten geächtet sein und als Hochverräter an dem Lande und Volke bestraft werden [...].«118 Arndt geht es dabei freilich um weit mehr als »nur« um die Befreiung von der Fremdherrschaft oder um die Person Napoleons; der in den Befreiungskriegen entzündete Zorn und Haß gegen Frankreich soll vielmehr als dauerhafter »Vereinigungspunkt«119 der Deutschen auch in Zukunft die nationale Identität stabilisieren und die »überhitzte Atmosphäre der Freiheitskriege«120 gleichsam überdauern. Deswegen unterscheidet er zwischen einem »äußerlichen Haß«, »der aus angebornen Verschiedenheiten der Völker entspringt«121, und einem »innerlichen Haß«, der dann entsteht, »wenn ein Volk sich einmal des Frevels unterstanden hat, seine Nachbarn unterjochen zu wollen: dann brennt er bei edlen Völkern unauslöschlich«122. Arndt geht es nun darum, den »Widerwille[n]«123, den das »brave teutsche Volk«124 angeblich schon immer »gegen die Welschen und ihre Sitten«125 empfunden hat, zu
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Ebd., S. 332. Ebd. Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 128. Schäfer bemerkt zwar, daß Arndt »die Grenze verantwortlicher Publizistik« (ebd.) überschritten habe, verweist aber auch auf spätere Revisionen Arndts. So schwächte Arndt seine »Volkshaß«-Programmatik bereits im Jahr 1815 ab, und die unterschiedslose Abwertung der Franzosen wollte er später nur noch für Kriegszeiten gelten lassen, wie angeblich ein Brief an Ludwig Döderlein vom 2. Juni 1842 zeigt: »Ich begreife [...], daß in friedlichen Zeiten die Leute [...] das wo jeder Franzmann [heißet Feind, M. P.] nicht angemessen finden. Jedes menschliche Ding und Wort hat seine Zeit und nach dieser Zeit seinen Ort.« Ernst Moritz Arndt: Briefe. Hg. von Albrecht Dühr. Dritter Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 (Texte zur Forschung 10), S. 81f., hier S. 81. Gegenüber Schäfer ist jedoch festzuhalten, daß Arndt im selben Brief zu bedenken gibt, daß das Lied freilich nur solange nicht gesungen werden sollte, solange »die übermüthigen Wälschen die Waffen nicht rühren«; zudem, so Arndt, könne das Wort wälsch »ohne Anstoß« (Zitate ebd.) auch in Friedenszeiten gesungen werden. Unabhängig davon, wie tiefgreifend Arndts Selbstkorrekturen sein mögen, ändern sie überdies nichts daran, daß in seiner Publizistik der (Vor-)Kriegsjahre genau jene Kontinuität des trennenden Volkshasses auch in Friedenszeiten, die er später partiell zurücknimmt, eingefordert wird: »Ich will denn [sic!] Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer.« Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 117), S. 332. Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 117), S. 329. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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einem »brennenden Haß«126 umzuformen, der »aus teutschen Brüsten künftig nicht mehr auszurotten ist«127. Der deutsch-französische Gegensatz soll als Beitrag zur deutschen Identitätsfindung in die Zukunft hin perpetuiert und aus einer national interpretierten Vergangenheit heraus beglaubigt werden: »Wir sollen die Franzosen nicht allein wegen dessen hassen, was sie uns in den letzten zwanzig Jahren Übels getan haben [...]; nein, wir sollen sie hassen, weil sie schon über drei Jahrhunderte unsere Freiheit hinterlistig belauert haben, weil sie von Geschlecht zu Geschlecht rastlos und planmäßig gearbeitet haben, diese Freiheit zu untergraben, bis sie unter ihren letzten Banditenstreichen hingefallen ist.«128 Lutz Hoffmann macht darauf aufmerksam, daß Arndts Ansätze genau wie die führender preußischer Politiker und Militärs zwar um einen neuen Gemeingeist kreisen, aber dennoch in die »umgekehrte Richtung«129 weisen: »Für ihn ist der gesuchte ›Gemeingeist‹ kein Mittel, um Napoleon militärisch gewachsen zu sein [wie für die Politiker und Militärs, M. P.], sondern er sieht in der Unterdrückung durch Napoleon das Mittel, um die Deutschen endlich zu einem Volk zusammenzuschweißen.«130 Um dieses nationale Zusammengehörigkeitsgefühl dauerhaft etablieren zu können, gilt es, die deutsch-französische Feindschaft als »überzeitliche Erscheinung«131 zu erweisen; Arndt löst die zeitgenössische Wut auf die Besatzungsmacht deshalb aus ihrem historischen Kontext und imaginiert eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen dem französischen und dem deutschen Nationalcharakter, als deren adäquater Ausdruck ein unauslöschlicher Haß zwischen beiden Völkern firmiert: »Dieser Haß wird uns wie ein heller Spiegel sein, worin wir unsere Herrlichkeit wie unser Verderben werden sehen können; dieser Haß wird uns und unsern Enkeln und Urenkeln nach uns immer ein Ausschüttler sein, daß wir im Glück und in der Sicherheit des Friedens nicht einschlafen können; dieser Haß wird uns grade durch die Verschiedenheit zeigen, was uns und unserm Gemüte gleich und gerecht ist; [...].«132 Nur in der »Verschiedenheit«, in der Differenz zu den Anderen, zeigt sich also, was dem deutschen Gemüt »gerecht« und angemessen ist. Selten ist die »Selbstdefinition durch Feindmarkierung«133 (Hagen Schulze) von den Theoretikern des Nationalen deutlicher in Szene gesetzt worden. »Das Bewusstsein, 126 127 128 129 130 131
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Ebd. Ebd. Ebd. L. Hoffmann, Die Rolle des Nationalstolzes (wie Anm. 109), S. 109. Ebd. Michael Jeismann: »Feind« und »Vaterland« in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806–1815. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg: Meiner 1996 (Studien zum 18. Jahrhundert; 18), S. 289. Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 117), S. 330. Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte? Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek; 17016), S. 28.
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ein ›deutsches Volk‹ zu sein, hat [...] den Haß auf die Franzosen zu seiner Voraussetzung«134, bilanziert denn auch Lutz Hoffmann die Abhängigkeit dieses Modells nationaler Selbstfindung von einem negativ evaluierten Anderen. Auf zwei Aspekte gilt es in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen. Den Vorwurf, mit seinem Plädoyer für den Haß gegen Gebote der christlichen Ethik zu verstoßen, versucht Arndt damit zu entkräften, daß er der früheren völkerpsychologischen Argumentation nun ein religiöses Fundament verleiht.135 Demnach entspricht die erwähnte »wohltätige Scheidewand« göttlichem Ratschluß. »Gott hat die Verschiedenheit gefallen, denn Gott gefällt das lebendige Leben und ein freier und lustiger Wettkampf der Kräfte. Gott hat diese Verschiedenheit auch unter den Menschen gewollt, und deswegen hat er sie gestiftet: darum die verschiedenen Völker, Länder und Sprachen und was sich daraus wieder für eine Unendlichkeit von Verschiedenheiten erzeugt.«136 Der Haß »gegen das fremde Volk ist [folglich, M. P.] nicht allein erlaubt, sondern geboten«137, denn »auch diese Gefühle sind von Gott in die Menschenbrust gepflanzt, sie gebieten die größten Taten und Tugenden, wie könnten sie denn Sünde sein?«138 Am Ende profitieren von dem Haß als »heilige[n] und schützende[n] Wahn im Volke«139 alle Nationen und mithin auch die Menschheit insgesamt: »Wo die Völker geschieden stehen, jedes in seiner vollen Eigentümlichkeit, wo ein stolzer und edler Haß das Verschiedene und Ungleiche trennt oder getrennt hält, da wird jedes sich auf das volleste, würdigste und eigentümlichste ausbilden, und also wird die große Aufgabe der Menschheit und der klare Wille der Gottheit am besten erfüllt werden.«140 Folgt man dieser Argumentation, dient der Volkshaß also nicht nur göttlichen Geboten, sondern auch dem humanen, an dem Fortschritt der gesamten Menschheit interessierten Denken der Aufklärung. Diejenigen »Prediger [...] von sogenannter christlicher Geduld und Freundlichkeit und Versöhnlichkeit«141 dagegen, die sich im Namen christlicher Moralvorstellungen gegen Haß und Krieg erklären, wissen nach Arndt »von dem christlichen Gott und dem christlichen Leben nichts«142. Sie haben sich vielmehr – »weil ihr Gemüt 134
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L. Hoffmann, Die Rolle des Nationalstolzes (wie Anm. 109), S. 110. Ganz ähnlich urteilt Michael Jeismann, für den die »Spiegelmetapher [...] auf die Korrespondenz von Selbst- und Feindbild [verweist]: durch den Feind sollen die Deutschen zum nationalen Bewußtsein ihrer selbst gelangen«. Jeismann, »Feind« und »Vaterland« (wie Anm. 131), S. 288. Vgl. hierzu Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 108), S. 133–141, besonders S. 137–141. Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 117), S. 325f. Ebd., S. 319. Ebd., S. 322. Ebd., S. 334. Ebd., S. 333. Ebd., S. 324. Ebd.
V Der »Meister des Hasses«: Ernst Moritz Arndt
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klein und feig und elendig ist«143 – »einen weinerlichen und weichlichen Gott erfunden, welcher nicht zürnen noch strafen kann«144. Wenn Gott die Verschiedenheit als solche will, lohnen sich qualitative Vergleiche zwischen den einzelnen Nationen eigentlich nicht; Arndt hält solche Klassifikationen denn auch für »einen lächerlichen Streit der Eitelkeit[en]«145: »[W]as besteht, hat ein Recht zu bestehen, und damit eine lebendige, reiche und mannigfaltige Welt würde, hat Gott die Verschiedenheit der Länder und Völker gesetzt. [...] Im allgemeinen ist die Frage törigt, welches Volk besser sei, der Engländer oder der Spanier, der Teutsche oder der Franzose, [...] so wie es törigt ist, wenn ich frage: Ist die Eiche besser als der Dornstrauch, das Veilchen als der Schierling, die Distel als der Rosenbusch?«146 Die Superiorität des deutschen Wesens klingt in den Stereotypen, die »der alte Hasser«147 bei der Gegenüberstellung des deutschen und des französischen Nationalcharakters benutzt, gleichwohl an;148 sie zu beweisen, ist jedoch nicht Ziel des Essays, auch wenn Arndt sich nicht scheut, »den Glauben zu bekennen, daß das deutsche Volk in der Weltgeschichte mehr bedeutet hat und mehr bedeuten wird als das französische«149. Wichtiger als solche Vergleiche zwischen den Nationen ist für Arndt aber die für die Entwicklung des Nationalbewußtseins konstitutive Abgrenzung der Völker untereinander, die der Volkshaß gewährleistet, da er jene »Buhlerei mit dem Fremden«150 verhindert, die die »eigenen Tugenden«151 in gefährlicher Weise »verdunkel[n]«152 würde. Fichte, Müller und Arndt einte also ihr Engagement für die »deutsche Nation«, und es einte sie auch das Bemühen, einen Begriff dieser Nation im Kontrast zu ihren (vermeintlichen) Feinden zu gewinnen. Darüber hinaus war es ihnen wichtig, das aus der akuten Bedrohung durch Frankreich gewonnene nationale Selbstverständnis über die aktuelle historische Situation hinaus in die Zukunft zu perpetuieren. Über die territoriale (Fichte), militärische (Müller) oder emotionale (Arndt) Abgrenzung vom Fremden sollte ein dauerhafter 143 144 145 146 147
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 331. Ebd. So Arndt selbstironisch in seiner Schrift Noch ein Wort über die Franzosen und über uns (1814). Vgl. Ernst Moritz Arndt: Noch ein Wort über die Franzosen und über uns. Germanien [Frankfurt a. M.]: Rein 1814, S. 9. »In Arndts Schilderung der Besonderheit deutscher Nationaleigenschaften herrscht die Neigung vor, alle positiven Merkmale mit dem Prädikat ›deutsch‹, alle negativen mit den Etiketten ›undeutsch‹ bzw. welsch oder entartet zu versehen«, bemerkt Kurt Lenk pointiert in seinem Arndt-Kapitel. Vgl. Lenk, »Volk und Staat« (wie Anm. 65), S. 85–98, hier S. 89. Arndt, Über Volkshaß (wie Anm. 117), S. 331. Ebd. Ebd. Ebd.
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D Einschluß durch Ausschluß bei Kleist, Fichte, Müller und Arndt
Begriff des Eigenen Gestalt gewinnen. Doch noch in einem Punkt waren sich Arndt, Fichte und Müller einig: Den Emanzipationsbestrebungen der jüdischen Minderheit standen sie ablehnend gegenüber. Davon soll im folgenden Kapitel die Rede sein.
E
»Ein interessanter Staat in Palästina« – Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
I
»Daß niemand einseitig eine Last trage«: Die Emanzipation der Juden in Preußen
An dieser Stelle scheint es geboten, den andernorts ausführlich beschriebenen und deshalb hier nur kurz zu skizzierenden Emanzipationsprozeß der jüdischen Minderheit in Preußen bis zu der Verabschiedung des Edikt[s] vom 11. März 1812 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate in Erinnerung zu bringen.1 1
Vgl. hierzu insbesondere Albert A. Bruer: Die Geschichte der Juden in Preußen (1750–1820). Frankfurt a. M., New York: Campus 1991, v. a. S. 257–305. Vgl. auch Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. Erster Band: Darstellung. Berlin: Poppelauer 1912; Julius H. Schoeps: Aufklärung, Judentum und Emanzipation. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4 (1977), S. 75–102; Jacob Toury: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum. In: Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation. Hg. von Hans Liebeschütz und Arnold Paucker. Tübingen: Mohr 1977 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-BaeckInstituts; 35), S. 139–242; Arno Herzig: Das Problem der jüdischen Identität. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposium anläßlich der 250. Geburtstage Lessings und Mendelssohns. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv: Universität 1980 (Jahrbuch des Institus für Geschichte; 3), S. 243–264; Heinz Holeczek: Die Judenemanzipation in Preußen. In: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981 (dtv; 1745), S. 131–160; Thomas Stamm-Kuhlmann: Vernichtung durch Anpassung. Judentum und Staatsbürgerrecht im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts. Bonn: Urheber-Verlag 1985; Harm-Hinrich Brandt: Vom aufgeklärten Absolutismus bis zur Reichsgründung: Der mühsame Weg der Emanzipation. In: Geschichte und Kultur des Judentums. Hg. von Karlheinz Müller und Klaus Wittstadt. Würzburg: Schöningh 1988 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg; 38), S. 175–200; Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp; 1257), S. 20–42; Thomas Rahe: Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (Judentum und Umwelt; 21), S. 38– 103; Ingrid Belke: Zur Emanzipation der Juden in Preußen. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
In der Judenpolitik Preußens unter dem »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. und seinem Nachfolger Friedrich II. bestimmten drei Haupttendenzen die restriktive Behandlung der jüdischen Minderheit. Es galt erstens, die Bevölkerungsvermehrung dieser Minorität zu unterminieren, was unter anderem dadurch erreicht wurde, daß die Armen aus dem Land gedrängt und die Reichen finanziell ausgenutzt wurden; zweitens sollten die den Juden verbleibenden Handelszweige zugunsten der in Zünften organisierten Christen eingeschränkt werden; drittens wurde die Solidarhaftung der Synagogengemeinden durchgesetzt. Unter diesen Vorzeichen nahmen staatliche Einschränkungen und bürokratische Kontrollen gerade unter der Regentschaft Friedrich II. (1740–1786) »extreme Formen«2 an: So durfte etwa jeder »ordentliche Schutzjude«3 nur zwei (zeitweise gar nur eines)4 seiner Kinder als »Nachfolger« einsetzen, während »überzählige« Nachkommen das Land verlassen oder als unverheiratete »Knechte« anderer Juden in Dienst gehen mußten; zudem hatten die Juden Eingriffe in ihre Kultpraxis zu akzeptieren und wurden durch eine Fülle von
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zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Erster Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 25–46; Walter Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789–1938. München: Piper 1991 (Serie Piper; 1008), S. 9–40; Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zweite aktualisierte Auflage. München: C. H. Beck 2002 (Beck’sche Reihe; 1196), S. 153–185 und die entsprechenden Aufsätze in: Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel und Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Band II: Emanzipation und Akkulturation. 1780–1871. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1401) sowie die Dokumente bei Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. Zweiter Band: Urkunden. Berlin: Poppelauer 1912. Zur Emanzipationsgeschichte des Judentums insgesamt vgl. auch die Beiträge in: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Hg. von Hans Otto Horch. Tübingen: Francke 1988. Holeczek, Judenemanzipation (wie Anm. 1), S. 136. Das 1750 erlassene Generalprivileg differenzierte zwischen ordentlichen Schutzjuden, die durch einen Geleit- oder Schutzbrief in dem dort genannten Ort aufenthaltsberechtigt waren und dieses Recht auf ein bzw. zwei Kinder übertragen konnten, sowie außerordentlichen Schutzjuden, die auf Lebenszeit geduldet waren und einem Kind für 1000 Taler ein Aufenthaltsrecht erkaufen konnten. Insgesamt ordnete das Generalprivileg die preußischen Juden in sechs Klassen ein; neben den wenigen generalprivilegierten Hof- und Finanzjuden, die in der Regel christlichen Kaufleuten gleichgestellt waren, den ordentlichen und den außerordentlichen Schutzjuden gab es noch eine Kategorie »publiquer Bedienter« (u. a. Rabbiner, Lehrer, Metzger, Totengräber u. ä.), deren Rechtsstellung sich an den außerordentlichen Schutzjuden orientierte, sowie eine Klasse von Geduldeten mit zeitlich begrenzten Aufenthaltsgenehmigungen und eine Gruppe von Privatdienstboten, die als rechtlose Diener von dem Schicksal ihrer Herrschaft abhängig waren. Vgl. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 71f. Nämlich von 1750 bis 1763. Vgl. Belke, Emanzipation der Juden (wie Anm. 1), S. 34.
I Die Emanzipation der Juden in Preußen
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Sonderabgaben um ihre wirtschaftlichen Verdienstchancen gebracht.5 Ein besonders prominentes Beispiel hierfür ist die Verpflichtung, die Königliche Porzellanmanufaktur zu unterstützen: Seit 1769 mußten Juden bei besonderen Anlässen überteuerte Porzellanaffen einkaufen.6 Die Diskussion um Christian Konrad Wilhelm von Dohms Buch Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, das 1781 und 1783 in zwei Teilen erschienen war, hatte nach Heinz Holeczek zwar »ein allgemeines Gefühl [dafür] geschaffen [...], daß die Stellung der Juden reformiert werden müsse«7, aber erst als mit dem Tode Friedrich II. im Jahr 1786 »das wichtigste Hindernis gegen eine Veränderung der Lage der preußischen Juden entfallen«8 war, kam zaghafte Bewegung in die Problematik. König Friedrich Wilhelm II. zeigte sich gegenüber der von der Berliner Judenschaft ab 1787 initiierten Reformbemühung wohlwollend, doch nicht entschlossen genug, und so blieb dieser erste Versuch in den zähen Mühlen der preußischen Regierungsbürokratie ebenso hängen wie zwei weitere bis zum Zusammenbruch Preußens im Jahr 1806 gestartete Initiativen.9 Teilerfolge – wie die Abschaffung der unseligen Porzellanabgabe im Jahr 178810 – gelangen, ein Durchbruch freilich wurde nicht erzielt. Der besagte militärische und politische Zusammenbruch Preußens durch die bei Jena und Auerstedt erlittenen Niederlagen änderte die Lage indes grundlegend. Angesichts des nunmehr vorhandenen Reformdrucks »setzte sich die Einsicht durch, daß die lange propagierte, aber nie zu einem befriedigenden Abschluß geführte ›bürgerliche Verbesserung der Juden‹ nicht durch fortdauernde Repression, sondern nur durch gravierende Änderung der bisherigen Gesetzgebung erreicht werden könnte«11. So mutierten selbst erklärte Gegner 5 6
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Vgl. hierzu Grab, Der deutsche Weg (wie Anm. 1), S. 11f. Vgl. I. Freund, Emanzipation der Juden I (wie Anm. 1), S. 25; Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 73 sowie Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München: C. H. Beck 2002, S. 176. Holeczek, Judenemanzipation (wie Anm. 1), S. 138. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 165. Die beiden folgenden Initiativen wurden 1795 und 1800 gestartet. Vgl. zu diesen drei Reformversuchen Holeczek, Judenemanzipation (wie Anm. 1), S. 138–144 sowie I. Freund, Emanzipation der Juden I (wie Anm. 1), S. 33–88. Freilich mußten sich die preußischen Juden die Freistellung von dieser Abgabe mit 40000 Talern erkaufen. Vgl. Klaus L. Berghahn: Der Jude als der Andere. Das Zeitalter der Toleranz und die Judenfrage. In: Jüdische Intelligenz in Deutschland. Hg. von Jost Hermand und Gerd Mattenklott. Hamburg: Argument-Verlag 1988 (Literatur im historischen Prozeß; 19), S. 12 sowie Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 167. Peter Baumgart: Befürworter und Gegner der preußischen Judenemanzipation im Spiegel der Denkschriften und Gesetzgebung. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin: Colloquium-Verlag 1992 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 75), S. 160.
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der jüdischen Minderheit wie der Staatsminister Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein zu »Reformer[n] wider Willen«12; Stein, der zeitweise die »treibende Kraft«13 der preußischen Reformbewegung darstellte, sah in den Juden »parasitäre Existenzen«14 – gleichwohl bescherte die von ihm durchgesetzte neue Städteordnung, die den Kommunen eine autonome Regelung ihrer Angelegenheiten ermöglichte, den preußischen Juden gleichsam als »Nebenprodukt«15 ein Bürgerrecht im kommunalen Bereich. Auf der staatlichen Ebene wiederum brachte Ende 1808 mit dem scheidenden Provinzialminister für Ost- und Westpreußen, Friedrich Leopold von Schroetter, ausgerechnet ein Mann den Prozeß in Gang, der in den Jahren zuvor »hartnäckiger als jeder andere preußische Politiker für die zahlenmäßige Einhegung des Judentums«16 eingetreten war. Schroetter beugte sich dabei der normativen Kraft der politischen Faktenlage: Weil in allen angrenzenden Staaten die Judengesetzgebung modifiziert wurde, glaubte er, daß Preußen nicht zurückbleiben dürfe, wenn es nicht seine gebildeten und wohlhabenden Juden an jene Staaten verlieren wollte, in denen vorteilhaftere Regelungen herrschten. Zudem galt es, die einheimischen Juden für das Militär nutzbar zu machen und zugleich den Zuzug der vor ihrer Rekrutierung flüchtenden Juden aus dem Herzogtum Warschau einzudämmen.17 Der ehemals »unerbittlich[e]«18 Schroetter favorisierte daher am Ende seiner politischen Karriere eine »Politik der Versöhnung«19; sein der aufklärerischen Erziehungsmaxime verpflichteter und 122 Paragraphen umfassender Gesetzesentwurf20 stellte den Juden eine stufenweise rechtliche Verbesserung unter der Zielsetzung in Aussicht, »daß sie keinen Staat im Staate zu formieren mehr beabsichtigen«21. Freilich blieb Schroetters Vorlage zunächst einmal liegen; mit der von Stein forcierten und am 16. Dezember 1808 in Kraft getretenen Regierungsreform – an die Stelle des die Funktionen des Innen- und des Finanzministeriums zugleich wahrnehmenden Generaldirektoriums mit seinen Provinzialdepartements traten fünf durch ihre Aufgabenbereiche voneinander abgegrenzte Ressortministerien22 – wurde seine bisherige Position abgeschafft. Für die neu 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 261. Ebd., S. 264. Ebd., S. 272. Vgl. hierzu ebd., S. 272–275. Ebd., S. 272. Ebd., S. 273. Vgl. den Abdruck des Immediatantrags vom 22. Dezember 1808 bei I. Freund, Emanzipation der Juden II (wie Anm. 1), S. 227–248. So Schroetter in seiner Immediatvorlage vom 20. November 1808. Vgl. ebd., S. 208–211, hier S. 209. Vgl. zu dieser Reform des Regierungsapparates und zur Entstehung der modernen Fachministerien Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Band 6: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789–1815. Hg. von Walter
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zugeschnittene Administration kam der bereits 65jährige Schroetter nicht mehr in Frage, zumal sein langjähriger Mentor Stein bereits am 24. November 1808 entlassen worden war, nachdem Napoleons Agenten einen Brief abgefangen hatten, indem der Reichsfreiherr einen nationalen Volksaufstand gegen die französische Herrschaft erwogen hatte.23 Als Nachfolger Steins bestimmten in der Folgezeit der neue Innenminister Alexander Burggraf von Dohna-Schlobitten und sein für die Finanzen zuständiger Kabinettskollege Karl Freiherr von Stein zum Altenstein die Richtlinien der preußischen Politik. Während Dohna das in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Emanzipationsprojekt ruhen ließ,24 gab der ihm unterstellte kurzzeitige Chef der Sektion für Kultus und Unterricht, Wilhelm von Humboldt,25 im Juli 1809 eine bedeutende, von Schroetters Vorstellungen deutlich abweichende Stellungnahme ab:26 Humboldt sah im Staat kein »Erziehungs-[,] sondern ein Rechtsinstitut«27 und hielt daher die »plötzliche Gleichstellung aller Rechte«28 für »gerecht, politisch und consequent«29. »Auf die Ansichten eines Humboldt kam es jedoch in der realen Judenpolitik bald nicht mehr an«30, wie Albert A. Bruer zu Recht konstatiert. Der Sektionschef bat wegen Differenzen mit Dohna schon Ende April 1810 um seine Entlassung und ging später als preußischer Gesandter nach Wien.31 Zum »Vollender des Emanzipationsedikts«32 avancierte so Karl August Freiherr von Hardenberg, der – nach der Ablösung der glücklosen und insbesondere in finanzpolitischer Hinsicht havarierenden Regierung Dohna/Altenstein33 – am 4. Juni 1810 auf die neugeschaffene Position des Staats-
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Demel und Uwe Puschner. Stuttgart: Reclam 1995 (Reclams Universal-Bibliothek; 17006), S. 136–165; Manfred Botzenhart: Reform, Restauration, Krise. Deutschland 1789–1847. Lizenzausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997 (Moderne deutsche Geschichte; 4), S. 45–48. Vgl. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 275f. und zu Steins Entlassung: Ingo Hermann: Hardenberg. Der Reformkanzler. Berlin: Siedler 2003, S. 279–282. Dohna »fiel bei diesem Thema eigentlich nur dadurch auf, daß er die verwitwete, aber noch nicht getaufte Henriette Herz mehrmals erfolglos um ihre Hand gebeten hatte«, wie Albert A. Bruer süffisant bemerkt. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 276. Humboldt bekleidete dieses Amt nur von Februar 1809 bis Juni 1810. Vgl. P. Baumgart, Befürworter und Gegner (wie Anm. 11), S. 162. Vgl. den Abdruck des Gutachtens vom 17. Juli 1809 bei I. Freund, Emanzipation der Juden II (wie Anm. 1), S. 269–282. Ebd., S. 270. Ebd. Ebd., S. 271. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 288. Vgl. ebd. P. Baumgart, Befürworter und Gegner (wie Anm. 11), S. 165. Weil sich Hardenberg in seinen personellen Vorstellungen zu einigen Konzessionen bereit zeigte, durfte Dohna als nunmehr weisungsgebunden agierender Innenminister jedoch im Amt bleiben. Vgl. Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 23), S. 288f.
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kanzlers gerückt war und »eine Machtfülle auf sich vereinigte, die ihn nahezu zum Ersatzkönig des Landes machte«34. Hardenbergs Vorstellung in der Emanzipationsfrage entsprach den Ansichten Humboldts, nicht denen Schroetters, wie Ingo Hermann deutlich macht: »Als Mann der Spätaufklärung und einer mehr oder weniger rationalistischen Philosophie hatte er kein Verständnis für die Ausgrenzung von Menschen jüdischen Glaubens. [....] Die Fragen einer religiösen Dogmatik [...] waren ihm fremd. Er wollte alle Bewohner des Landes als Einländer und preußische Staatsbürger zu ihren Rechten zulassen und sie mit ihren Pflichten [...] in Anspruch nehmen können.«35 So erklärte Hardenberg denn auch kurz und bündig, daß er »für kein Gesetz der Juden [stimmen werde], das mehr als vier Worte enthält: Gleiche Pflichten, gleiche Rechte«36. Der Widerstand des judenfeindlichen Justizministers Friedrich Leopold Kircheisen37 und die zögerliche Haltung des seit 1797 regierenden Friedrich Wilhelm III. – er wird in der Forschung zuweilen schon mal als »ziemliche[r] Holzkopf«38 (Jürgen Schröder) bezeichnet – nötigten Hardenberg indes zu Konzessionen; das Gesetz, das auf sein entschiedenes Betreiben hin am 11. März 1812 endlich verabschiedet wurde,39 war am Ende jedoch nicht nur in der Kette seiner Maßnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen ein »konsequentes, ja unentbehrliches Glied«40, sondern es muß auch als inhärenter Bestandteil von Hardenbergs gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen gesehen werden: Die »Weisheit der Regierung«41, so die Überzeugung des »Reformkanzlers«42, erweise sich gerade darin, »daß niemand einseitig eine Last tra34 35 36 37
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Ebd., S. 286. P. Baumgart, Befürworter und Gegner (wie Anm. 11), S. 165 spricht von der »Quasistellung eines Premierministers«. Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 23), S. 303. Zit. n. ebd. bzw. Berghahn, Der Jude als der Andere (wie Anm. 10), S. 7. Kircheisens Blockadepolitik ist nur ein Beispiel dafür, welche enormen Probleme Hardenberg und seine Mitarbeiter im Staatskanzleramt mit den weniger reformwilligen und an einer Konservierung der bestehenden ständischen Strukturen interessierten Ressortchefs hatten. Vgl. hierzu ausführlich: Barbara Vogel: Reformpolitik in Preußen 1807–1820. In: Preußen im Rückblick. Hg. von Hans-Jürgen Puhle und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1980 (Geschichte und Gesellschaft/Sonderheft; 6), S. 202–223. Jürgen Schröder: Geschichtsdramen. Die »deutsche Misere« – von Goethes Götz bis Heiner Müllers Germania? Eine Vorlesung. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994 (Stauffenburg-Colloquium; 33), S. 115. Vgl. den Abdruck bei I. Freund, Emanzipation der Juden II (wie Anm. 1), S. 455– 459. P. Baumgart, Befürworter und Gegner (wie Anm. 11), S. 166. Vgl. etwa seine in Riga verfaßte Denkschrift (1807) und die Rede vom 23. Februar 1811. In: Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Hardenberg vom Jahre 1806 bis zum Jahre 1813. Band IV. Hg. von Leopold von Ranke. Leipzig 1877. S. 7f. bzw. S. 248. Zit. n. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 290. So der Titel von Ingo Hermanns anregender Hardenberg-Biographie, vgl. Anm. 23.
II Fichte und die argumentative Basis der antisemitischen Ausschlußklausel
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ge«43 und jeder Staatsbürger seine Potentiale frei entfalten könne. Der »seltene[] Liberalismus«44, für den Hardenberg in den Debatten um die Emanzipation der jüdischen Minderheit stand, ist die logische Konsequenz aus diesem Konzept, das sich zumindest partiell auch in dem Edikt widerspiegelt. Auch wenn Juden der Zugang zu politischen Ämtern mit Ausnahme der kommunalen Ebene auch nach der neuen Gesetzgebung weiterhin verschlossen blieb, so waren doch die Rechte auf Grundbesitz und Gewerbefreiheit sowie die privatrechtliche Gleichstellung nunmehr gewährt; zudem wurden Juden von sämtlichen Sonderabgaben befreit und zum Militärdienst verpflichtet. Die rechtlichen Voraussetzungen zur beruflichen und sozialen Einordnung der Minderheit in das Bürgertum waren durch das – nach zeitgenössischen Maßstäben beurteilt – durchaus liberale Edikt45 weitgehend geschaffen. Die »Kostenseite«46 freilich gilt es – wie Heinz Holeczek und Harm-Hinrich Brandt mit Recht anmahnen – gleichfalls zu bedenken: »Das Selbstopfer jüdischer Identität und Lebensweise ist gerade von den entschiedenen Vertretern der Emanzipation in der Französischen Revolution und den preußischen Reformen gefordert worden. [...] Dementsprechend erhielt die jüdische Minderheit nicht die Chance, sich insgesamt in die Gesellschaft zu integrieren, sondern nur der einzelne Jude vermochte den Weg aus dem Ghetto zu finden«47, resümiert Holeczek, während Brandt darauf hinweist, daß die »biedersinnige Selbstverständlichkeit«48, mit der der Begriff der »Emanzipation« verwendet wird, nicht zu verschleiern vermag, »daß die jüdische Orthodoxie diesem Gesamtvorgang stets auch erhebliche Vorbehalte entgegengebracht hat«49. Im folgenden sollen indes nicht die Vorbehalte der jüdischen Orthodoxie, sondern vielmehr die der Politischen Romantik erörtert werden.
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Obgleich Johann Gottlieb Fichtes judenfeindliche Äußerungen in seiner frühen Schrift Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französi-
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In der Rede vom 23. Februar 1811. Zit. n. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 299. Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 298. In der Forschung wird dies sehr einmütig betont. Vgl. etwa H.-H. Brandt, Vom aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 1), S. 193. Holeczek, Judenemanzipation (wie Anm. 1), S. 156. Ebd. H.-H. Brandt, Vom aufgeklärten Absolutismus (wie Anm. 1), S. 175. Ebd., S. 177.
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sche Revolution (1793) innerhalb des knapp 250 Seiten starken Textes50 nur einen Randaspekt darstellen, stießen sie sowohl bei den Zeitgenossen als auch in der Forschung auf ein breites Echo. Für den Spätaufklärer Saul Ascher war Fichte – in Anspielung auf das judenfeindliche barocke Kompendium Entdecktes Judenthum – »Eisenmenger der Zweite«51. Walter Grab glaubte in »Fichtes abgründigem Judenhaß [...] de[n] Keim seines übersteigerten Chauvinismus«52 erkennen zu können. Dieser Vorwurf muß jedoch mit Vorsicht formuliert werden, da Fichte 1793 noch nicht – wie später mit den Reden an die deutsche Nation – unter den Prämissen des romantischen Nationalgedankens argumentierte, sondern vielmehr in dieser Phase den in Frankreich entwickelten Vorstellungen eines modernen Nationalstaates anhing. Als Apologet der Französischen Revolution entfaltete er mit dem Beitrag »das Programm eines allein auf freier Moralität gegründeten Gemeinwesens«53, wie Micha Brumlik betont. In Rahmen dieser Konzeption polemisierte der Philosoph gegen Juden nicht aus primär national motivierten Ursachen heraus, sondern weil sie ihm mit ihrer feudalständischen Verfassung als Teil des Ancien Regime erschienen, eine Ansicht, die nach Brumlik »unter Demokraten und Aufklärern in ganz Europa Konsens zu sein [schien]«54. Dennoch bietet Fichtes Schrift in zweifacher Hinsicht eine Grundlage, auf der die Argumentation der national motivierten Judenfeindschaft späterer Jahre aufbauen konnte.55 50 51
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Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VI: Zur Politik und Moral. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 39–288. Vgl. Aschers gleichnamige Flugschrift: Saul Ascher: 4 Flugschriften. Eisenmenger der Zweite. Napoleon. Die Germanomanie. Die Wartburgfeier. Hg. von Peter Hacks. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 5–80. Walter Grab: Deutscher Jakobinismus und jüdische Emanzipation. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposium anläßlich der 250. Geburtstage Lessings und Mendelssohns. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv: Universität 1980 (Jahrbuch des Instituts für Geschichte; 3), S. 272. Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand Literaturverlag 2002 (Sammlung Luchterhand; 2028), S. 88. Ebd., S. 79. »Der Antijudaismus der Aufklärung betrachtete das Judentum als einen Widersacher des Fortschritts, als ein Relikt des Mittelalters und einen Anachronismus«, beschreibt Gudrun Hentges den argumentativen Kontext des »aufgeklärten Antijudaismus«, in dem Fichte eingebettet werden muß. Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und »Wilden« in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Schwalbach/Taunus: Wochenschau-Verlag 1999 (Studien zu Politik und Wissenschaft), S. 110. Peter Rohs konstatiert in Bezug auf Fichtes »antisemitische Polemik« denn auch, dass der Denker »in der Frühgeschichte des des neuzeitlichen Antisemitismus eine wenig rühmliche Rolle« gespielt habe: »Seine Vorurteile haben hier sein Rechtsdenken ruiniert. Im damals anhebenden Kampf um die bürgerliche Emanzipation der Juden mußten solche Äußerungen großen Schaden anrichten.« Peter Rohs: Johann Gottlieb Fichte. C. H. Beck: München (Beck’sche Reihe: Große Denker; 521), S. 26.
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Zum einen überführt die Polemik im Beitrag den bis dahin primär theologischen Diskurs über das Judentum auf die politische Ebene, indem sie die »strukturelle[] Nichtintegrierbarkeit«56 der Juden in die moderne Gesellschaft zu erweisen sucht; zum anderen formuliert sie ein Bündel an Argumentationsfiguren, das eine unter den Prämissen des romantischen Nationalismus leichthin reaktivierbare Begründungsbasis für den Ausschluß des Judentums aus der »gedachten Ordnung« Deutschland bereitstellen sollte. Was den ersten Aspekt betrifft, so wird in Fichtes Schrift »[p]räzise wie erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder«57 zwischen Menschen- und Bürgerrechten differenziert: »Menschenrechte müssen sie [die Juden, M. P.] haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. [...] Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.«58 Der brutalen Metaphorik zum Trotz, wird den Juden eine humane Behandlung konzediert, wie der Appell gegen einen »Antisemitismus der Tat«59 deutlich macht; doch in der konkreten politischen Gesellschaft ist kein Platz für die jüdische Minderheit. Unter der Tarnkappe des moralisch gebotenen Toleranzpostulates kann politische Intoleranz gepredigt werden – damit gewinnt Fichte, wie Brumlik zu Recht konstatiert, »das Instrumentarium zur Ausschließung sowohl des Judentums als auch einzelner Juden aus der neu zu gründenden deutschen Nation«60; es sollte Autoren wie Arndt, Arnim oder Rühs vorbehalten bleiben, sich dieses Instrumentariums zu bedienen. Doch auch die Argumentationsfiguren, mit denen Fichte die Absage an die jüdischen Emanzipationsbemühungen begründet, ließen sich nach der Jahrhundertwende unschwer mit den Prämissen des romantischen Nationalismus vereinbaren. So faßt Fichte die These, daß eine unüberbrückbare Differenz zwischen den Juden und den anderen Bürgern eines Staatswesens bestehe, in die prägnante Formel vom »Staat im Staate«61, die seither zum festen Bestand56 57 58 59 60 61
Brumlik, Deutscher Geist (wie Anm. 53), S. 90. Ebd. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 150, Anm. Brumlik, Deutscher Geist (wie Anm. 53), S. 90. Ebd. »Erinnert ihr euch denn hier nicht des Staates im Staate?« Fichte VI (wie Anm. 50), S. 150. Diese Formel gab es freilich bereits vorher, und sie wurde auch davor schon mit Bezug auf die jüdische Minderheit verwendet. Jedoch fand sie durch Fichte Eingang in die antijüdischen Debatten in den deutschen Ländern. Vgl. Jacob Katz: A state within a state. The History of an Anti-Semitic-Slogan. In: Jacob Katz: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 124–153; Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 113f.; Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum. Den vergessenen Generationen der jüdischen Fichte-Rezeption. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000 (Fichte-Studien-Supplementa; 14), S. 42–50.
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teil des argumentativen Repertoires der Emanzipationsgegner avancieren sollte: »Nach Fichtes Abhandlung findet sich kaum mehr eine antijüdische Schrift, die ohne diese Warnung vor dem ›Staat im Staate‹ auskommt«62, schreibt Stefan Nienhaus. Der Philosoph warnt zwar in seinem Beitrag auch vor anderen »Staaten im Staat« (nämlich Künstler, Handwerker, Adel und Militär), doch im Fall der jüdischen Minderheit – in der er anscheinend »einen besonders gefährlichen Feind«63 erblickt – operiert Fichte mit offensichtlich »[a]ndere[n] Maßstäben«64: »Weder der Adel noch das Militär veranlassen ihn dazu, darüber nachzudenken, ob man den Angehörigen dieser ›Staaten im Staate‹ denn weiterhin das Bürgerrecht zugestehen solle.«65 Dagegen konstituiert Fichte zwischen dem modernen Nationalstaat und dem Judentum eine unüberbrückbare Differenz, die er bereits mit der Vorstellung eines jüdischen Volkscharakters untermauert; Kennzeichen des »auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechtes aufgebaut[en]«66 Judentums sind demnach in erster Linie die feindselige Gesinnung und der »den Körper erschlaffende[], und den Geist für jedes edle Gefühl tödtende[] Kleinhandel«67, zu dem sich die Juden – wie Fichte »wider besseres Wissen«68 behauptet – selbst »verdammt«69 haben. Auf der einen Seite verweist Fichte auf die körperlichen und geistigen Defizite der Juden, was Gudrun Hentges damit begründet, daß der Philosoph die Inkompatibilität dieser Minderheit mit den »Erfordernissen der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft«70, nämlich einer »jugendlichen Energie, Vitalität und Gesundheit«71, beweisen will; zugleich aber entwirft Fichte ein Bedrohungsszenario, wenn er das Judentum als einen Staat beschreibt, der »festiger und gewaltiger ist als die eurigen alle«72 und der – wenn er erst durch die Vergabe der Bürgerrechte ungehindert schalten und walten kann – die »übrigen Bürger völlig unter die Füsse treten [wird]«73. 62 63
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Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 115), S. 209. Armin Pfahl-Traughber: Aufklärung und Antisemitismus. Kants, Lessings und Fichtes Auffassungen zu den Juden. In: Tribüne 40 (2001), S. 177. Daß Fichte die gesellschaftliche Bedeutung des Judentums höher einschätzt als die von Militär und Adel muß dabei als »erstaunliche Fehldeutung der tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit« gesehen werden, in der sich nach Armin PfahlTraughber die »besonders intensive Feindschaft« Fichtes dem Judentum gegenüber artikuliert. Vgl. ebd., S. 178. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 114. Ebd. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 149. Ebd. Brumlik, Deutscher Geist (wie Anm. 53), S. 85. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 149. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 115. Ebd. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 150. Ebd. In diesem Kontext muß auch Fichtes »Befürchtung« gesehen werden, daß »der erste Jude, dem es gefällt«, ihn »ungestraft« ausplündern könnte. Ebd., S. 149.
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Indem Fichte diese ebenso geschlossene wie feindselige religiöse und politische Identität der Juden als unveränderbar begreift, verläßt er freilich den Vorstellungsbereich des »aufgeklärten« Antijudaismus, der die Juden zwar von ihrem Judentum »befreien« wollte, sie aber als Menschen für in die bürgerliche Gesellschaft integrierbar erachtete. Fichte dagegen hält die »Verschanzungen«74, hinter denen sich die Juden befinden, für »unübersteiglich[]«75. Genau diese Vorstellung eines durch politische Reformen nicht modifizierbaren jüdischen Nationalcharakters will Fichte auch erhärten, wenn er – wie oben bereits zitiert – davon spricht, daß man den Juden die Köpfe abschneiden und andere ohne jüdische Ideen aufsetzen müßte, um adäquate Voraussetzungen für die Gewährleistung von Bürgerrechten zu schaffen. Die Drastik dieser Gewaltphantasie hat in der Forschung eine heftige Debatte provoziert,76 die bisweilen auch unfreiwillig komische Züge trägt: So weist etwa Hans-Joachim Becker darauf hin, daß das – freilich – »unschön[e] [...] Bild [...] rein metaphorisch gemeint«77 sein müsse, da »selbst heute ja eine Transplantation von Köpfen im Gegensatz zu anderen Organen und Körperteilen immer noch unmöglich«78 sei. Erich Fuchs will die Stelle dagegen weder wortwörtlich noch metaphorisch lesen, sondern als »Umschreibung einer geistigen Umwendung«79 verstanden wissen; diesen fürsorglichen Inschutznahmen Fichtes stehen am anderen Ende der Skala Walter Grab und Leon Poliakov gegenüber. Während Grab dabei allerdings lediglich auf die grundsätzliche Möglichkeit einer wortwörtlichen Interpretation verweist und den schmalen Grat zwischen Metaphorik und Realität betont,80 sieht Polia74 75 76 77 78 79
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Ebd., S. 150, Anm. Ebd. Vgl. den sehr guten Überblick über diese Forschungsdebatte bei Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 117–119. H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 118. Ebd. Erich Fuchs: Fichtes Stellung zum Judentum. In: Fichte-Studien. Hg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader. Band 2: Kosmopolitismus und Nationalidee. Amsterdam: Rodopi 1990, S. 168. Gudrun Hentges hat zu Recht darauf verwiesen, daß auch eine »Umschreibung metaphorisch erfolgen« könne und Fuchs’ Argument damit »ins Leere« laufe. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 118. »Waren seine [also Fichtes, M. P.] Phrasen vielleicht auch metaphorisch gemeint, sie wurden ja immerhin in die Wirklichkeit umgesetzt«, gibt Grab in einem bei Wirtz zitierten Diskussionsbeitrag zu bedenken. Stefan Wirtz: Hauptpunkte der Diskussion. In: Conditio Judaica: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung. Erster Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 346. Ähnlich urteilt Paul Lawrence Rose: »Überdies liegt Scherzen über Mord und Totschlag in der Regel ein emotionaler Zwiespalt zugrunde, der einem ›wishful thinking‹ nahekommt.« Paul Lawrence Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus. Aus dem Englischen von Angelika Beck. Zürich, München: Pendo 1999, S. 22.
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kov durch Fichte »die Vorstellung einer Massenenthauptung der Juden«81 artikuliert. Poliakovs These dürfte schwerlich zu halten sein, da Fichte, wie oben referiert, den Juden Menschenrechte ja konzediert und mithin die von Poliakov evozierten »Massenenthauptungen« ausgeschlossen hatte. Andererseits darf die Rohheit und Brutalität von Fichtes Metaphorik auch nicht als »unschön« bagatellisiert (Becker) oder gänzlich ausgeblendet (Fuchs) werden.82 Die Drastik seines Bildes dient Fichte dazu, die prinzipielle Nichtintegrierbarkeit der Juden und ihre grundsätzliche Fremdheit gegenüber jenen Staaten, in denen sie leben, besonders grell in Szene zu setzen. In dieser »verschärfte[n] Dissimilationstendenz«83 (Micha Brumlik) liegt die für unsere Belange entscheidende Dimension der kontrovers diskutierten Gewaltphantasie Fichtes. Vor diesem Hintergrund können die Intentionen eines Nicolai, Lessing oder Mendelssohn mit dem spöttischen Vorwurf des Realitätsverlustes herabgewürdigt werden; auch das sollte später obligatorischer Bestandteil des antijüdischen Repertoires bleiben.84 Erich Fuchs und Hans-Joachim Becker, die – wie gesehen – schon die Brisanz des Beitrags entschärfen wollen, bemühen sich ebenso wie Edward L. Schaub und jüngst Wolf-Daniel Hartwich darum, den späteren Fichte gänzlich vom Antisemitismus-Vorwurf freizusprechen. Dabei greifen diese Interpreten auf vier zentrale Argumente zurück. Erstens habe Fichte die »erschreckend pöbelhaften [...] Ausfälle[]«85 (Wolfgang Frühwald) der Revolutionsschrift nicht mehr wiederholt86 und sich zweitens auch noch durch die Verantwor81 82
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Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band V: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz. Worms: Heintz 1983, S. 204. Helmut Seidel etwa »scheu[t]« sich schlicht, Fichtes »affektgeladene[] Ausfälle« zu wiederholen. Seine These, daß die »seltsamen kritischen Bemerkungen über das Judentum [...] keineswegs seinen [also Fichtes, M. P.] Grundsätzen entspringen«, wirkt einigermaßen hilflos. Vgl. Helmut Seidel: Fichtes historisches Grunderlebnis: Französische Revolution. In: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag. Hg. von Marion Marquardt, Uta Störmer-Caysa und Sabine Heimann-Seelbach. Stuttgart: Heinz 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 340), S. 395. Brumlik, Deutscher Geist (wie Anm. 53), S. 91. Fichte polemisiert gegen die »zuckersüsse[n] Worte von Toleranz und Menschenrechten und Bürgerrechten« und mahnt, nicht zu »empfindle[n]«. Vgl. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 149f. bzw. S. 151, Anm. Wolfgang Frühwald: Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der WernerReimers-Stiftung. Zweiter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1989, S. 83. Vgl. Edward L. Schaub: J. G. Fichte and Anti-Semitism. In: The Philosophical Review 49 (1940), H. 1, S. 37–52; auch Armin Pfahl-Traughber verweist darauf, daß sich »eine direkt artikulierte antisemitische Einstellung [...] in Fichtes späterer Phase als Gegner Napoleons und im Kontext seiner nationalistischen ›Reden an die deutsche Nation‹ 1807 und 1808 [...] nicht mehr [findet]«. Armin Pfahl-Traughber:
II Fichte und die argumentative Basis der antisemitischen Ausschlußklausel
181
tungsschrift (1799) von ihnen distanziert.87 Drittens wird auf das persönliche Verhalten Fichtes Juden gegenüber rekurriert; Fuchs referiert ausführlich die Affäre um die Studenten Brogi, Klaatsch und Melzer, die im Februar 1812 dazu führte, daß Fichte, der sich für den ungerecht bestraften jüdischen Kommilitonen Brogi stark gemacht hatte, von seinem Amt als Rektor der 1810 neu gegründeten Berliner Universität zurücktrat.88 Trotz beharrlicher Plädoyers dafür, »alle erreichbaren historischen Einzelheiten«89 zu berücksichtigen, übergeht Fuchs stillschweigend die Mitgliedschaft Fichtes in der Christlichdeutschen Tischgesellschaft, die selbst getaufte Juden von der Teilnahme auschloß; hier sekundiert ihm freilich Hans-Joachim Becker, der diese Gruppierung insgesamt von dem Antisemitismus-Vorwurf freisprechen will90 und in Bezug auf Fichte – gleichsam als viertes Argument – die Tischrede in Knittelversen (1811)91 zitiert, mit der sich der zeitweilige Sprecher der Gruppe über die Juden- und Philistersatiren der Tischgenossen lustig macht.92 Diese Argumente sind durch Gudrun Hentges und Micha Brumlik zu Recht relativiert oder widerlegt worden. Was die Verantwortungsschrift betrifft, so nimmt Fichte mit ihr offiziell Abschied von seiner Zeit als Jakobiner und Anhänger der Französischen Revolution; wie Hentges zu Recht bemerkt, findet sich in ihr »keinerlei Hinweis darauf, daß sich Fichte von seinen judenfeindlichen Äußerungen distanziert«93. In dem vor der Tischgesellschaft gehaltenen Gedicht geht es ebenfalls keineswegs darum, Juden und Philister vor den Angriffen der Tischgenossen zu schützen, sondern vielmehr ist es die Selbstgefälligkeit der Herrenrunde, die Fichte thematisiert. »Philister und Juden seien deshalb nicht zu necken, weil dieser Spott den Spötter selbst zum Juden und Philister mache«94, bilanziert Brumlik Fichtes Motive. »Dem Bannkreis seiner Negativurteile entrann der Philosoph des sich selbst transparenten göttlichen Selbstbewußtseins [damit] nicht«95, denn beide Gruppen werden durch das Gedicht weiterhin negativ evaluiert; nur warnt Fichte die beteiligten Herren vor einer bedenklichen Nähe gerade zu den Philistern.
87 88 89 90 91 92
93 94 95
Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Opladen: Leske + Budrich 2002 (Beiträge zur Politik und Zeitgeschichte), S. 48. Darauf verweist E. Fuchs, Fichtes Stellung zum Judentum (wie Anm. 79), S. 165. Vgl. ebd, S. 170–177. Ebd., S. 177. Herv. i. O. Vgl. H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 180–223. Der Abdruck des Textes findet sich bei Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 291–295. Vgl. H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 218–220. Auch Hartwich sieht in dieser Rede eine »differenzierte Kritik des Antisemitismus der Berliner Romantik«. Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 163. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 119. Brumlik, Deutscher Geist (wie Anm. 53), S. 130. Ebd.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
Auch wenn die Knittelversrede folglich nicht dazu herhalten kann, Fichte als Freund der jüdischen Minderheit zu erweisen, so mag doch sein Widerspruch gegen die selbstgefälligen Trinkgenossen einer persönlichen Redlichkeit geschuldet sein, die der scheidende Rektor auch im Einsatz für den jüdischen Studenten Brogi unter Beweis stellte. Fichtes Rücktritt erfolgte jedoch nicht nur aus einer gerechtfertigten Empörung über die Behandlung Brogis durch den Senat, sondern auch, weil er dem studentischen Verbindungswesen nicht Einhalt gebieten konnte. Der Philosoph hatte sich schon in seiner Antrittsrede als Rektor (Über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit) »gegen Duell und Trinkzwang, Orden und Landsmannschaften«96 ausgesprochen; im Senat schien er jedoch keinen Rückhalt für diese Positionen zu besitzen, was sich in der verhältnismäßig harten Bestrafung Brogis, der seinen Kontrahenten Klaatsch beim Rektor angezeigt hatte, anstatt sich mit ihm zu duellieren, dokumentierte. Zudem firmierte Fichtes persönlicher Konkurrent Friedrich Schleiermacher97 als offener Befürworter des studentischen Verbindungswesens, so daß er auch auf einen einflußreichen Gegenspieler traf, gegen den er sich letztlich nicht durchsetzen konnte. Fichtes honoriger Einsatz für Brogi soll nicht marginalisiert werden; aber sein Rücktritt erfolgte eben zumindest nicht ausschließlich aus Solidarität mit dem benachteiligten Juden.98 Für unsere Belange sind derlei lebensgeschichtliche Zusammenhänge aber ohnehin von eher sekundärem Interesse. Wichtiger ist die Frage, ob jener Fichte, der sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als maßgeblicher Konstrukteur des romantischen Nationalgedankens exponierte, noch die antijüdischen bzw. antisemitischen Positionen seiner frühen Jahre einnahm. Fichte befaßt sich weder in seiner Vorlesungsreihe über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806)99 noch in den Reden an die deutsche Nation (1808)100 explizit mit dem Judentum. Implizit aber wird es aus der zu gründenden deutschen Nation ausgeschlossen, wie die 13. Vorlesung der Grundzüge101 deutlich macht. Dort erklärt Fichte nicht nur das Christentum zum 96
97
98
99
100 101
Wilhelm G. Jacobs: Johann Gottlieb Fichte. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998 (rowohlts monographien; 50336), S. 121. Weil der bei den Studierenden sehr populäre Theologe im März 1811 seine Stunden auf jenen Termin verlegte, an dem Fichte seine Rechtslehre las, mußte Fichte seine Vorlesung absagen. Vgl. Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 181f. sowie Jacobs, Fichte (wie Anm. 96), S. 121. So auch Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 123 und Rose, Wagner und der Antisemitismus (wie Anm. 80), S. 23f. Vgl. die ausführliche Zusammenfassung dieser Affäre bei Jacobs, Fichte (wie Anm. 96), S. 122–124. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 3–256. Ebd., S. 259–499. Ebd., S. 185–198.
II Fichte und die argumentative Basis der antisemitischen Ausschlußklausel
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»schöpferische[n] und leitende[n] Princip«102 des »neuen Staates«103, sondern er redet auch aggressiven Abgrenzungsstrategien gegenüber nichtchristlichen Staaten das Wort. Denn während zwischen den christlichen Staaten ein Verhältnis der »wechselseitigen Anerkennung«104 herrschen müsse und ein potentieller Krieg lediglich die »zufälligen Bestimmungen der Existenz«105, nicht jedoch die Existenz der Nationen an sich betreffen dürfe, ist ein »Ausrottungskrieg«106 gegen nichtchristliche Staaten erlaubt: »[D]iese haben nach demselben Princip [nämlich des Völkerrechts, das nach Fichte den christlichen Staaten den Bestand in den ursprünglichen Grenzen und die Souveränität in den eigenen Angelegenheiten garantiert, M. P.] keine anerkannte Existenz, und sie können nicht nur, sondern sie sollen auch verdrängt werden aus dem Umkreise des christlichen Bodens.«107 Diese völkerrechtlichen Bestimmungen parallelisiert Fichte mit der Verleihung von Bürgerrechten. »[K]ein Christ kann Sklave seyn«108, dekretiert der Philosoph, der freilich mit der gleichen Bestimmtheit erklärt, daß »nach demselben Princip«109 der Nichtchrist »gar wohl«110 versklavt werden dürfe. Gegenüber der Revolutionsschrift von 1793 ist hier, wie Gudrun Hentges zu Recht resümiert, sowohl eine Relativierung als auch eine Radikalisierung früherer Positionen zu konstatieren.111 Da Nichtchristen (und damit implizit auch Juden) versklavt werden dürfen, werden den Juden nun auch – und das ist die Radikalisierung der Ausführungen von 1793 – die Menschenrechte aberkannt. Da Fichte zufolge »vor Gott [...] alle Menschen gleich und frei«112 sind, muß es jedoch »jedem ohne Ausnahme verstattet werden«113, sich »zu Gott zu wenden«114. Somit wird auch den Juden (wiederum implizit) die Option konzediert, zum Christentum zu konvertieren. Im Jahr 1793 hatte Fichte bekanntlich noch »unübersteigliche[] Verschanzungen«115 zwischen der jüdischen Minderheit und ihrer Umwelt ausgemacht; diese Position wird nun relativiert. Ein Deutscher jüdischen Glaubens bleibt für Fichte indes auch in den Grundzügen ein Selbstwiderspruch.
102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115
Ebd., S. 185. Ebd. Ebd., S. 195. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd. Vgl. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 119f. Fichte, Werke VII (wie Anm. 99), S. 195f. Ebd., S. 196. Ebd. Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 150, Anm.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
Das ändert sich auch in den Reden nicht. Hier erhebt Fichte die Deutschen vor allem deshalb zu einem »Urvolk«116, weil sie als »Volke der lebendige[n] Sprache«117 die germanische Sprache über die Jahrhunderte beibehalten hätten; die Möglichkeit des individuellen Erwerbs der deutschen Sprache, mit dem ein »Aufstieg« von Angehörigen anderer Nationalitäten in die deutsche Gemeinschaft möglich wäre, wird bestritten, da »Ausländer« das »ächt Deutsche«118 nie adäquat erlernen könnten.119 »Fichte [betrachtet] die Sprache nicht lediglich als Kommunikationsmittel zwischen Menschen, das beliebig erworben werden kann, sondern als das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen ›Völkern‹, als Schlüssel zum Verständnis unterschiedlicher Geisteshaltungen.«120 So wird das Kriterium der Abstammung über den Umweg der Sprachfähigkeit schon bei Fichte für die Frage nach der Zugehörigkeit zum deutschen Kollektiv entscheidend: Nur wer seinen Platz in der Kette der vergangenen und noch kommenden Generationen der »deutschen Nation« angeben kann, gehört dazu. Nach Hentges bleibt die »jüdische Bevölkerung aus dieser Gruppe des ›Volks der lebendigen Sprache‹ ausgeschlossen, da sie nicht von sich behaupten kann, von den germanischen Völkerschaften abzustammen«121. In jenem Zukunftsstaat, den Fichte in unveröffentlicht gebliebenen Manuskripten in zeitlicher Nachbarschaft zu den Reden entwirft,122 wird konvertierten Juden jedoch wieder eine Perspektive in der Republik der Deutschen zu Anfange des zwei u. zwanzigsten Jahrhunderts zugestanden. »Juden; entweder verschmolzen, oder ausgewandert. Sie besitzen einen höchst intereßanten Staat in Palästina«123, heißt es dort lapidar. Hier ist die Möglichkeit einer »Ver116 117 118 119
120 121 122
123
Vgl. Fichte, Werke VII (wie Anm. 99), S. 359. Ebd., S. 327. Ebd., S. 326. Dagegen kann der Deutsche des »Ausländers eigene Sprachen« sehr leicht erlernen und alsbald sogar »gründlicher verstehen und weit eigenthümlicher besitzen« als dieser. So kann er letztlich »den Ausländer immerfort übersehen und ihn vollkommen, sogar besser, denn er sich selbst, verstehen, und ihn nach seiner ganzen Ausdehnung übersetzen«. Vgl. ebd. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung (wie Anm. 54), S. 121. Ebd., S. 122. Die Manuskripte sind im Mai/Juni 1807 in Königsberg entstanden und größtenteils gemeinsam mit politischen Fragmenten aus dem Jahr 1813 von Immanuel Hermann Fichte im siebten Teil der Werkausgabe veröffentlicht worden. Vgl. Fichte, Werke VII (wie Anm. 99), S. 519–545. Als Ergänzung zu diesen Fragmenten existieren noch Blätter mit stichwortartig formulierten Einzelgedanken, die für einen noch nicht publizierten Nachlaßband der Akademieausgabe von Fichtes Werken entziffert wurden. Daraus stammt das für unsere Belange entscheidende Zitat. Vgl. Richard Schottky: Fichtes Nationalstaatsgedanke auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte von 1807. In: Fichte-Studien. Band 2: Kosmopolitismus und Nationalidee. Hg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader. Amsterdam: Rodopi 1990, S. 111. Zit. n. Schottky, Fichtes Nationalstaatsgedanke (wie Anm. 122), S. 116. Herv. i. O.
III Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
185
schmelzung«, also einer vollständigen Assimilation der Juden an ihre christlich-deutsche Umwelt, die in den Reden implizit negiert und in dem Beitrag als kaum realistisch erachtet wird, folglich gegeben. Den nicht konvertierten Juden, das muß jedoch als Konstante in Fichtes Denken herausgestellt werden, wünscht sich der Philosoph freilich im »gelobte[n] Land«124, respektive in »Palästina«125. »Es ist Hauptgrundsatz, daß nur der Deutsche Bürger seyn könne«126, schreibt Fichte in den Entwürfen für sein utopisches »Deutschland«. Einzelne Juden, so die Quintessenz von Fichtes verstreuten Überlegungen zur Emanzipationsfrage, könnten unter Umständen Deutsche und somit Bürger werden; das Judentum an sich jedoch hat keine Chance, zum integralen Bestandteil der deutschen Nationalgemeinschaft zu avancieren.
III
»Ein durchaus fremdes Volk« – Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
1
Die Reinheit des Volkes
Wie für Fichte, so war auch für Ernst Moritz Arndt die Vorstellung eines »deutschen Juden« oder eines »Deutschen jüdischen Glaubens« ein Selbstwiderspruch. Jene »wohltätige Scheidewand«127, die Arndt generell zwischen den Völkern und insbesondere zwischen Franzosen und Deutschen errichtet sehen wollte, soll auch Deutsche und Juden für immer trennen. Das wird vor allem im sechsten Kapitel seines Buches Blick aus der Zeit auf die Zeit (1814)128 deutlich; dort erklärt Arndt, aufgrund »einiger Aeusserungen, die in meinen Schriften hie und da über die Juden sich finden [...] von Juden und Judengenossen, und auch von solchen Christen, die ein sogenanntes humanes Herz für die ganze Welt haben«129 als »gräßlicher und wilder Barbar«130 gescholten worden zu sein. Deshalb sieht er sich genötigt, zu diesem Thema ausführlich Stellung zu beziehen, wobei der Publizist gleich vorausschickt, sich in dieser Frage mitnichten revidieren zu wollen: »Ich erkläre denn hiermit 124 125 126 127
128
129 130
Fichte, Werke VI (wie Anm. 50), S. 150, Anm. Zit. n. Schottky, Fichtes Nationalstaatsgedanke (wie Anm. 122), S. 116. Herv. i. O. Zit. n. ebd., S. 115. Herv. i. O. Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 334. Vgl. zum folgenden bereits meinen Beitrag: Marco Puschner: Jüdische Aufklärung und Politische Romantik. Konstruktionen nationaler Identität bei Saul Ascher und Ernst Moritz Arndt. In: Aurora 65 (2005), S. 157– 174. Vgl. Ernst Moritz Arndt: Blick aus der Zeit auf die Zeit. Germanien [Frankfurt a. M.]: Eichenberg 1814, S. 180–201; das Kapitel heißt »Noch etwas über die Juden«. Ebd., S. 180. Ebd.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
feierlichst und ernstlichst, daß Spaß mit ernsten Dingen gar nicht meine Art ist, sondern daß ich es ganz so meine, wie ich es geschrieben habe.«131 Daß die folgende Polemik gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden aus primär nationalen Motivationen erfolgt, wird schnell deutlich, erklärt Arndt die Juden doch zu einem »durchaus fremde[n] Volk«132, das in »Teutschland«133 keinesfalls auf eine »ungebührliche Weise [...] vermehrt«134 werden dürfe, da der »germanische[] Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandtheilen rein [...] erhalten«135 werden soll. Arndt sieht in der »zu häufige[n] Mischung der Völker mit fremden Stoffen«136 grundsätzlich ein »Verderben«137, wird dadurch doch »Eigenthümlichkeit und Kraft des Karakters eines Volkes zerstört«138. »Auch aus dieser Ursache«139, so Arndt, »ist das Geschlecht der Mischlinge auf den Gränzscheiden der Völker gewöhnlich ein leichtfertiges, zuchtloses und treuloses Geschlecht.«140 Es muß also generell auf die Reinheit eines Volkes geachtet werden; daß eine »Vermischung« mit Juden für den deutschen Volkscharakter aber in besonderem Maße problematisch wäre, wird in Arndts Analyse mit drei verschiedenen Faktoren begründet. Erstens besteht keinerlei Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zwischen dem deutschen und dem jüdischen Nationalcharakter; zweitens wurde der letztere systematisch degeneriert, er ist also in qualitativer Hinsicht dem der Deutschen unterlegen; drittens sorgt die religiöse Differenz für eine unüberbrückbare Trennung zwischen den christlichen Deutschen und den Juden.
2
Juden mit französischen »Anlagen«
Was den ersten Punkt betrifft, so hält Arndt die »ursprünglichen Anlagen [der Juden, M. P.] und ihre durch spätere Verhältnisse und Schicksale bestimmten Neigungen [...] dem Karakter der slavonischen Völker und der Südeuropäer, namentlich der Franzosen, [für] viel gleichartiger, als dem Karakter der Teutschen«141. Die Stoßrichtung dieses Arguments ist deutlich: Indem Arndt den Juden einen französischen Volkscharakter zuspricht,142 konstruiert er nicht nur 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142
Ebd. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 191. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. In seiner Schrift Über den deutschen Studentenstaat (1815) definiert Arndt – ohne nähere Erläuterung – den Franzosen als ein »Mittelding von einem Chinesen und Juden«: »Der Franzose, ein Mittelding von einem Chinesen und Juden, mit vorherrschender Anlage zu mechanischer Einförmigkeit und formaler Gesetzlichkeit,
III Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
187
eine nationale Abgrenzung gegen die Minderheit im eigenen Land, sondern er identifiziert diese Minorität auch noch mit einem äußeren Feind, gegen den im Rahmen der Befreiungskriege zeitgleich heftig agitiert wird.143 Lutz Hoffmann sieht hinter diesem Verfahren, »Teile der eigenen Bevölkerung als illoyale Minderheiten zu definieren und sie dem Verdacht auszusetzen, in Wirklichkeit nicht dem eigenen, sondern dem feindlichen Kollektiv anzugehören oder zumindest dessen [...] heimliche Verbündete zu sein«144, eine zweifache Motivation. Einerseits wird die Bedrohlichkeit des äußeren Feindes gesteigert, der sein aggressives Potential nun schon im eigenen Kollektiv angelegt hat und dieses unterwandert; »vor allem aber eröffnet sich jetzt den Angehörigen der Gesellschaft und ihren politischen Institutionen eine Möglichkeit, die Bedrohung nicht nur zu beschwören, sondern auch praktisch zu bekämpfen, ohne befürchten zu müssen, es deswegen mit der geballten Macht des als überlegen vorgestellten Feindes zu tun zu bekommen. Die Minderheiten werden dadurch zu Platzhaltern des Feindes«145. In seiner Schrift Noch ein Wort über die Franzosen und über uns (1814) bezeichnet Arndt den »einzelne[n] Franzose[n]«146 denn auch nicht nur als »zierliche[n] Lakei [!], [...] gebückte[n] Knecht, [...] ausgeputzte[n] Affe[n], [...] [und] armselige[n] und kümmerliche[n] Wicht«147, sondern eben auch als »ein[en] kniffige[n] und pfiffige[n] Jude[n]«148. Die Franzosen firmieren in dieser Schrift als »Judenvolk«149, und in einem Brief an seine Schwester Dorothea Arndt vom 20. April 1814 sind sie für Arndt »schlecht verfeinerte Juden«150; selbst wenn er im gleichen Brief an dieser »Vergleichung«151 bemän-
143
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hat auch hier nie etwas von der deutschen Art noch weniger von der freien deutschen Wildheit gehabt.« Vgl. Ernst Moritz Arndt Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Dreizehnter Band: Kleine Schriften I. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 275–320, hier S. 279. Umgekehrt bezeichnet Arndt in seinem ebenfalls 1814 erschienenen Pamphlet Noch ein Wort über die Franzosen und über uns die Franzosen als ein »geitzige[s] und spitzbübische[s] Judenvolke«, das mit »jüdischen Kniffen und Pfiffen« danach trachtet, die Deutschen zu »verderben«. Ernst Moritz Arndt: Noch ein Wort über die Franzosen und über uns. Germanien [Frankfurt a. M.]: Rein 1814, Zitate S. 4, 13, 13. Lutz Hoffmann: Die Konstruktion von Minderheiten als gesellschaftliches Bedrohungspotential. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 65. Ebd. Arndt, Noch ein Wort über die Franzosen (wie Anm. 143), S. 22. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 22. Ebd., S. 4, 13. Vgl. Ernst Moritz Arndt: Briefe. Hg. von Albrecht Dühr. Erster Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (Texte zur Forschung; 8), S. 365. Ebd.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
gelt, daß »man den armen Juden [damit] noch himmelschreiendes Unrecht thut«152, so geht es ihm doch stets darum, mit dieser Gleichsetzung der »französische[n] und jüdische[n] Gaukelei«153 das Bedrohungspotential für das deutsche Volk aufzuzeigen, welches von der jüdischen Minderheit seiner Ansicht nach ausgeht. »Teutschland« leidet demnach unter dem »traurige[n] Schicksal, daß es mehr als andere Länder von einer Judensündfluth bedroht wird«154; »Gott«155, so Arndt in einem Brief an Georg Andreas Reimer, »ist sichtbar mit uns, aber das Judenvolk ist wieder lebendig zum Betrug und zur politischen Gleisnerei«156. Neben den Franzosen, die – wie Arndt im ersten Teil seiner insgesamt vierteiligen Kampfschrift Geist der Zeit moniert – »alle Zugänge und Wege der Geschichte [...] breit und übermütig«157 besetzen, ist es die »Judensündfluth«, die das Wohlergehen der deutschen Länder gefährdet. Als »Paradebeispiel«158 (Maria Muallem) für die negativen Konsequenzen, die ein »reichliche[r] Zufluß«159 durch Juden haben kann, dient ihm Polen, das »durch das Judenunwesen auch mit verdorben und untergegangen«160 sei. Arndts Hinweis auf Polen kommt an dieser Stelle freilich nicht von ungefähr: Die Lage des Nachbarlandes ließ sich mit der »Deutschlands« durchaus parallelisieren, wurde doch auch in Polen das Bewußtsein einer nationalen Zusammengehörigkeit durch die politische Wirklichkeit unterminiert; doch deshalb solidarisiert sich Arndt keineswegs mit den Osteuropäern, die ihm vielmehr als warnendes Beispiel erscheinen: »Polen hat sich sein Schicksalslos selbst gezogen.«161 Eine der vielen Fehlentwicklungen, die Arndt in dem Nachbarland diagnostiziert, ist dessen »Unterwanderung« durch Juden. 152 153 154 155 156 157
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Ebd.; kurz darauf spricht er allerdings schon wieder »von den Schanden der Judenfranzosen«. Ebd. Arndt, Noch ein Wort über die Franzosen (wie Anm. 143), S. 45. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 191. Ernst Moritz Arndt an Georg Andreas Reimer, Brief vom 8. Juli 1815. In: Arndt, Briefe I (wie Anm. 150), S. 459f., hier S. 459. Ebd. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Neunter Band: Geist der Zeit. Erster Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 170. An dieser Stelle bezeichnet Arndt die Franzosen auch als »eine Menge Torenköpfe«: »Es ist wunderlich, daß ein Volk, welches selbst nie gedacht hat, den Leuten soviel zu denken gibt.« Maria Muallem: Das Polenbild bei Ernst Moritz Arndt und die deutsche Publizistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2001 (Europäische Hochschulschriften; 1796), S. 123. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 193. Ebd., S. 192. So in Arndts Schrift Der Bauernstand, politisch betrachtet (1810). In: Arndts Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Hg. von August Leffson und Wilhelm Steffens. Teil 10. Berlin, Leipzig, Wien o. J. (1912). S. 52. Hier zit. n. Muallem, Polenbild (wie Anm. 158), S. 102. Vgl. auch Arndts Abhandlung Polen, ein Spiegel der Warnung für uns (1831), in der er vehement die These bestreitet, daß Polen schon von den natürlichen Voraussetzungen her den Nachbarn unterlegen gewesen sei:
III Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
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»Böse Triebe seit 2000 Jahren«: Der degenerierte jüdische Charakter
Doch Arndt insistiert nicht nur auf der prinzipiellen Fremdheit zwischen Deutschen und Juden, er zieht auch Vergleiche in qualitativer Hinsicht, wobei natürlich das deutsche Wesen gegenüber dem degenerierten »jüdischen Volkscharakter« besser abschneidet. Dies wird implizit schon deutlich, wenn Arndt – wie oben zitiert – den Juden in ihren »Anlagen und [...] Neigungen«162 eine Nähe zu den Südeuropäern und den »slawonischen Völkern« bescheinigt. Das südliche Europa, mit dem Arndt Oberflächlichkeit, Unsauberkeit und Unverschämtheit assoziiert, wird von ihm bereits in dem frühen Text Germanien und Europa (1803) mit den »›besseren‹ und ›vorbildhaften‹ Vertretern von Nordeuropa«163 kontrastiert;164 und auch die Slawen belegt der »Altmeister der Propaganda«165 zumeist mit wenig schmeichelhaften Stereotypen, und er läßt keinen Zweifel daran, daß er den »ganze[n] slawonische[n] Stamm«166 als
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»Polen hat glückliche Zeiten und Gelegenheiten gehabt, deren Gunst es schlecht benutzt hat«, schreibt Arndt, der nachteilige Eigenschaften des Nationalcharakters der Polen für ihre aktuelle politische Situation verantwortlich macht. »Gesetzlosigkeit, Sklaverei, Armut bei dem größten Reichtum der Natur, Schmutz und Elend auf dem Lande, Schmutz, Elend und Juden in den Städten, Zucht, Ordnung, Fleiß, Geschicklichkeit nirgends; Hilflosigkeit, Sorglosigkeit, Leichtfertigkeit, Vaterlandsvergessenheit überall.« Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Fünfzehnter Band: Kleine Schriften III. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 49–66, Zitate S. 60 bzw. 60f. Ganz ähnlich argumentiert der »Turnvater« Jahn, der am 18. Januar 1839 in einem Brief an G. Ulrich die »Dreieinigkeit von Junkern, Pfaffen und Juden« für »Polens Untergang«, der ihn »entzückt« habe, verantwortlich macht. Friedrich Ludwig Jahn: Die Briefe. Hg. von Wolfgang Meyer. Leipzig: Eberhardt 1913, S. 437–439, Zitate S. 439. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 191. Muallem, Polenbild (wie Anm. 158), S. 88. Vgl. zur Vorbildfunktion, die Schweden im Denken Arndts für Deutschland einnahm und zur Ähnlichkeit der nationalen Stereotypen, mit denen er beide belegte: Ulrike Hafner: »Norden« und »Nation« um 1800. Der Einfluß skandinavischer Geschichtsmythen und Volksmentalitäten auf deutschsprachige Schriftsteller zwischen Aufklärung und Romantik (1740–1820). Triest: Parnaso 1996 (Hesperides; 1), S. 171–201, vor allem S. 184–187. J. M. Ritter: Der Altmeister der Propaganda. Zu E. M. Arndts 175. Geburtstag. In: Leipziger Neueste Nachrichten (23. Juli 1944), S. 4. Zit. n. Karl Heinz Schäfer: Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zur Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert. Bonn: Röhrscheid 1974 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn; 13), S. 94. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Sechzehnter Band: Kleine Schriften IV. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 76. Der »polnische Wildfang« etwa ist Arndt schon »immer als ein halber politischer Taugenichts erschienen «. Ebd., S. 75.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
»geringhaltiger als die Deutschen«167 einstuft: »Gott der Herr«168, so Arndt in seiner späten Schrift Polenlärm und Polenbegeisterung (1848),169 scheint die »slawonische Münze von Anfang an [...] leicht ausgeprägt zu haben«170. Doch nach dieser impliziten Abwertung der Juden, die durch die Konstruktion einer Ähnlichkeit ihres Nationalcharakters mit dem der Franzosen und der Slawen erfolgt, wird Arndt im Blick aus der Zeit auf die Zeit durchaus auch noch sehr direkt: »Ich nenne dieses Fremde schon an sich eine Plage und ein Verderben. Es ist noch mehr so zu nennen, weil die Juden ein verdorbenes und entartetes Volk sind.«171 Neben die grundsätzliche Problematik der »Vermischung« verschiedener Nationen tritt also die besondere, daß der jüdische Volkscharakter, wie Arndt ihn versteht, durch den Zwang sowohl äußerer Gewalten als auch innerer Satzungen systematisch degeneriert wurde: »Dieser lange Zustand eines unstäten Daseyns ohne festes Volk und Vaterland, ja fast ohne sicheren Besitz auf Erden, und diese Verfolgung, Erniedrigung und Verabscheuung, die ihnen von der übrigen Welt widerfuhr, hat das Edle, Große, Muthige und Großmüthige in ihnen von Geschlecht zu Geschlecht mehr und mehr erstickt und das Gemeine, Kleinliche, Feige und Geitzige hervorgelockt.«172 Hier nähert sich Arndt durchaus den Diagnosen Dohms an, wenn er für den »verdorbene[n] und entartete[n]«173 Charakter der Juden auch die feindliche Umwelt verantwortlich macht und konzediert, daß es »ein Wunder gewesen [wäre], wenn die Juden in solcher Lage ein edles Volk geblieben wären«174. Die Konsequenzen, die Arndt aus diesen Überlegungen zieht, sind freilich ganz anders gelagert als bei Dohm. Denn auch wenn sich »aus den Verhängnissen des unglücklichen Volkes [...] sehr gut [ergibt], warum die Kinder Israel so seyn müssen«175, so sind sie »darum nicht weniger gefährlich«176; deshalb gilt es, den »ehrliche[n], stille[n] und treue[n] teutsche[n] Bürger und Bauer«177 vor dem fatalen Einfluss der Juden zu schützen. Dohms Konzept, die Juden über staatliche Erziehungsmaßnahmen zu nützlichen Staatsbürgern zu machen, wird von Arndt als unrealistisch abgelehnt und durch die Überführung der sozialpsychologischen in eine biologische Argumentation letztlich abge167 168 169 170
171 172 173 174 175 176 177
Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 75–79. Russland wird von dieser Pauschalverurteilung als »ehrenvolle Ausnahme« mit der Begründung ausdrücklich ausgenommen, daß es »eine Zutat von germanischen Skandinaven« bekommen hätte. Vgl. ebd, S. 75, 76. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 193. Ebd., S. 194f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 197.
III Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
191
wehrt. Denn, so Arndt, der negative jüdische Charakter sei zwar historisch gewachsen, durch die »langen Zeugungen«178 aber mittlerweile »etwas Angebohrnes«179 – »wenigstens drei Menschenalter müßten auch bei den besten Anstalten vergehen, ehe die Juden sich von der Unstätigkeit zu der Stille, von der Faulheit zu der Arbeitsamkeit und von dem Betruge zu der Rechtlichkeit des teutschen Volkes wenden, vorzüglich ehe sie sich zum stätigen Fleiß gewöhnen und zu schwerer Arbeit, ohne deren Geduld ein Volk überhaupt nichts taugt«180. Ein »paar Edikte eines Staatsministers«181, so Arndt in Anspielung auf Hardenbergs Reformgesetzgebung, kommen nicht gegen das an, »[w]as von bösen und nichtswürdigen Trieben und Neigungen seit zweitausend Jahren in dem Volke eingewurzelt und verstockt ist«182. In den Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen (1815)183 meint Arndt dann sogar, daß den Juden überhaupt nicht mehr zu helfen sei: Er konstatiert hier, daß jede Nation als »organische[s] Wesen[]«184 betrachtet werden müsse, das einen »bestimmten Kreislauf durchlaufen und dann vergehen und von der Bühne abtreten soll«185; für manche Völker ist dieser Kreislauf indes »nach unbekannten Beschlüssen des Schicksals«186 früher vollendet: »Im Ernste gibt es kein gewisseres Zeichen von dem geschichtlichen Untergange oder von dem gänzlichen Tode eines Volkes, als wenn man sagen kann: Das Volk ist ein kluges Volk.«187 Unter dieser »Klugheit« versteht Arndt einen Zustand, in dem »das Scharfe, das Spitzige, das Geistige, das Schlaue und Pfiffige durchaus vortritt«188 und von dem aus die als »deutsche Tugenden« gepriesenen Eigenschaften wie Frömmigkeit, Einfältigkeit, Treue und Ordentlichkeit »als Wahn oder gar als Dummheit verlacht und verspottet«189 werden. Dieser Spott freilich ist unbegründet, denn gerade die vermeintliche intellektuelle Überlegenheit dieser Völker macht sie für die 178 179 180
181 182 183
184 185 186 187 188 189
Ebd. Ebd. Ebd., S. 197f. Der Konservative Revolutionär Wilhelm Stapel wird noch über 100 Jahre später in seiner Schrift Versuch einer praktischen Lösung der Judenfrage von 1932 den Juden ebenfalls eine allenfalls über drei Generationen laufende Integration in Aussicht stellen. »Für die Einzelperson lief dies faktisch auf Unveränderlichkeit der Gruppenzugehörigkeit hinaus«, stellt Stefan Breuer fest. Vgl. Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 90f., Zitat S. 91. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 197. Ebd. Vgl. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Vierzehnter Band: Kleine Schriften II. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 70–186. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd. Ebd.; Herv. i. O. Ebd. Ebd.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
höheren Werte unzugänglich: Da ihnen »die Einfalt und der Glaube fehlt«190, können sie den »Zusammenhang und das Leben der Dinge nicht begreifen und also auch nichts weiter schaffen und bilden«191. Als Beispiele für solche Völker, die »die Geschichte fast immer als verloren«192 zeigt, nennt Arndt die Juden und die Franzosen. »Es ist nichts leichter zu erwerben als die Art Witz und die Art Geistreichtum, welche man Judenwitz oder Franzosenwitz nennt«193, stellt Arndt fest. »Er wird durch die bloße Übung [...] erworben [...]. Es ist nur ein Wortwitz, ein kombinatorischer und arithmetischer, der mit Worten und Zahlen zusammengewürfelt wird, und hat nichts mit jenem Witze gemein, der aus den stillen und verborgenen Quellen des tiefsten Gemütes gleich Jupiters Blitzen hervorschießt und durch einen Zug ganze Himmel vor uns aufreißt.«194 Für ihn zeugt dieses »Kluge, Spitze und Listige«195, das er bei den Juden, den Franzosen und auch bei »fast [...] allen Mischlingsvölkern«196 sowie den »slawischen Stämmen«197 vorherrschend findet, also von einer verhängnisvollen Entfernung zu »dem stillen und einfältigen Genius der schöpferischen Kräfte«198, den er im »ursprüngliche[n] Volk«199 der Deutschen repräsentiert glaubt. Wie Gunnar Och gezeigt hat, etabliert sich das Stereotyp des »Judenwitzes« im Verlauf des Vormärz als »einprägsame Formel«200 zumindest in den »Randpositionen der Literaturkritik«201; insbesondere das Oeuvre Heinrich Heines, Ludwig Börnes und Moritz Gottlieb Saphirs wird mit diesem Schlagwort von Germanisten wie etwa Friedrich Heinrich von der Hagen denunziert. »Judenwitz ist subversiver, obszöner, blasphemischer Witz oder eben noch kürzer und prägnanter: Judenwitz ist ›verneinender Witz‹«202, bilanziert Och.203 Indem Arndt die weltanschaulich bindungslose, nicht konstruktive und 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200
201 202 203
Ebd., S. 101. Ebd. Ebd. Ebd., S. 113. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 115; Herv. i. O. Gunnar Och: »Judenwitz« – zur Semantik eines Stereotyps in der Literaturkritik des Vormärz. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Hg. von Horst Denkler, Norbert O. Eke u. a. Bielefeld: Aisthesis 1999 (Forum Vormärz-Forschung; 4), S. 186. Ebd. Ebd. Och sieht das Vorurteil im kirchlichen Antijudaismus verwurzelt, der die Verhöhnung christlicher Glaubensinhalte und Symbole als essentiellen Bestandteil des Judentums begreift. »Und als biblische Urszene kommt selbstverständlich auch die Verspottung des gekreuzigten Christus in Betracht, die nach geläufiger Lesart eine kollektive Untat der Juden ist.« Vgl. ebd., S. 185.
III Ernst Moritz Arndts Stellung zum Judentum
193
folglich »unschöpferische« Witzkultur der Juden mit den »schöpferischen Kräfte[n]«204 des deutschen Volkes kontrastiert, spielt er das Stereotyp in der von Och beschriebenen Verwendungsweise bereits 1815 gegen die jüdische Minderheit aus und antizipiert damit gleichsam eine fatale Entwicklung des Literaturbetriebes der kommenden Jahrzehnte.
4
Die Religion: Das »Tiefste«, was ein Volk besitzt
Der dritte Faktor, der für eine prinzipielle Trennung von Deutschen und Juden spricht, ist der der unterschiedlichen Religion. Wesentlicher integrativer Bestandteil des romantischen Nationalismus ist, wie bereits erläutert, der christliche Glaube. »[W]eil die Religion das Ernsteste und Tiefste ist, was ein Volk hat, so muß sie auch in allem gefühlt und gesehen werden und bis in das innerste Getriebe des Staates eindringen.«205 Den Juden bleibt nicht zuletzt auch deshalb der Zutritt zur deutschen Nation verwehrt, weil sie »mit ihrer schroffen und alles Andere feindselig ausschliessenden Art [...] völlig außerhalb de[s] Christenthum[s]«206 stehen; mehr noch, ihre »Berührung mit demselben«207, beeilt sich Arndt zu versichern, ist viel entfernter, »als man bei dem ersten Blick glauben sollte«208. Hier vermengen sich die Argumente des alten religiösen Antijudaismus mit jenen der neuen nationalen Judenfeindschaft in signifikanter Weise. Allerdings geschieht diese Vermengung auf Kosten der argumentativen Konsistenz. So behauptet Arndt an einer Stelle, daß »jährlich viele [jüdische, M. P.] Familien sich taufen lassen und dadurch unmittelbar in die teutsche Art und in alle Verhältnisse des Volks«209 eingingen. Später schreibt er, daß sich nach dem Übertritt zum Christentum »gar bald alle jüdische Eigenthümlichkeit in Karakter und Gestalt«210 verwische und »man in dem zweiten Geschlechte [...] den Stamm Abrahams«211 kaum noch erkenne. Beide Thesen widersprechen sich nicht nur untereinander, sondern sie sind auch mit Arndts zuvor referierter Behauptung – die jüdische Eigentümlichkeit sei mittlerweile angeboren und daher nur sehr langfristig oder gar überhaupt nicht korrigierbar212 – schwerlich 204 205 206 207 208 209 210 211
212
Arndt, Werke XIV (wie Anm. 183), S. 113. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 189. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 193. Ebd., S. 199. Ebd.; Auch in einem späten Brief an Henrich Eugen Marcard vom 22. April 1843 vertritt Arndt diese Überzeugung, wenn er schreibt, daß viele »Israeliten [...] durch den Übergang zum Christentum sich allmählich in unserem Volke verlieren«. In: Ernst Moritz Arndt: Briefe. Hg. von Albrecht Dühr. Dritter Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 (Texte zur Forschung; 10), S. 108f., hier S. 108. Vgl. noch einmal Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 197.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
vermittelbar. Man kann die Widersprüche in Arndts Argumentation damit erklären, daß der Autor – wie Lutz Hoffmann in anderen Zusammenhängen schreibt – eigentlich ein »bedeutungsloser politischer Schriftsteller«213 gewesen sei und lediglich durch seine Rolle als Prediger des Deutschtums einen Platz in der Geschichte erhalten habe. Auch Karl Heinz Schäfers Hinweis, daß für Arndt die emotionale Komponente der Argumentation immer entscheidender war als ihre logische Folgerichtigkeit, mag für die diagnostizierten Inkonsequenzen bedeutsam sein.214 Letztlich aber scheint sich in ihnen vor allem die nationale Überformung der traditionellen religiösen Judenfeindschaft zu spiegeln; die idealtypische Scheidung eines traditionellen Antijudaismus und eines modernen Antisemitismus muß vor Übergangsphänomenen wie Arndts Pamphletistik zumindest partiell kapitulieren. Geblieben ist jedoch die Bewertung der Religionen: Das Judentum figuriert auch bei Arndt als »eine veraltete Ruine«215, die den »ganz anderen Weltverhältnisse[n]«216 nicht gewachsen ist und die »warnenden und rufenden Geister der Zeit«217 in hartnäckiger und verstockter Weise überhört. 213
214
215 216 217
Lutz Hoffmann: »Die Liebe des Esels zu seinem Stall«. Die Rolle des Nationalstolzes bei der Entstehung des deutschen Volkes. In: Die Stolzdeutschen. Von Mordspatrioten, Herrenreitern und ihrer Leitkultur. Hg. von Dietrich Heither und Gerd Wiegel. Köln: Papy Rossa 2001 (Neue kleine Bibliothek; 74), S. 108. Gerhard Schulz formuliert diese These etwas konzilianter, wenn er anmerkt, daß man Arndt – obgleich er »weite historische Überblicke [...] und Deutungen vom Gang der Geschichte, von Gott, Mensch und Welt« wage – den »Rang eines Philosophen nicht zubilligen« könne. Gerhard Schulz: Von der Verfassung der Deutschen. Kleist und der literarische Patriotismus nach 1806. In: Kleist-Jahrbuch (1993), S. 59. Anders sieht dies Reinhardt Pester, der fordert, Arndt auch als »philosophischen Denker ernst[zu]nehmen« (Herv. i. O.). Reinhardt Pester: Französische Revolution und geschichtsphilosophische Positionen Ernst Moritz Arndts. In: Französische Revolution und deutsche Klassik. Beiträge zum 200. Jahrestag. Weimar: Böhlau 1989 (Collegium philosophicum Jenense), S. 253. »Er [Arndt] wollte nicht so sehr – wie etwa Gentz – die Argumente geschickt aufbauen, Probleme nach verschiedenen Seiten hin abwägen, den Verstand ansprechen. Er wollte vielmehr Flammen der ›Begeisterung‹ entfachen«, beschreibt Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 165), S. 126 die Intentionen Arndts. Gerhard Schulz freilich bestreitet die Möglichkeit, die intendierte publizistische Wirkung auch ohne eine logisch folgerichtige Argumentation erzielen zu können. »Sein Denken und seine Schriften«, so Schulz über Arndts Publikationen, »besitzen eine Allgemeinheit und Unschärfe der Begriffe, die der Konsequenz logischen Denkens widerstreben, während sie sich für den publizistischen Zweck des Augenblicks zu eignen scheinen, aber eben auch nur scheinen, denn unklare Begriffe, also Begriffe, die ihre Unschuld in der Geburtsstunde verloren haben, können gerade in der Publizistik am allergefährlichsten sein.« G. Schulz, Verfassung der Deutschen (wie Anm. 213), S. 59f. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 188. Ebd. Ebd.
IV Müller, Arndt und der für den Ackerbau untaugliche Jude
IV
195
»Eine Ehe mit dem Boden«: Müller, Arndt und der für den Ackerbau untaugliche Jude
Die Verbindung zwischen christlicher Religion und deutscher Nationalität avancierte auch bei Adam Müller zu einem wichtigen Argument in seinen Bemühungen, das »jüdische Wesen« als ein dem Deutschen grundsätzlich fremdes gegenüberzustellen. In seinen Elemente[n] der Staatskunst scheut er dabei auch nicht davor zurück, gegenüber den Juden erneut den alten Vorwurf des »Gottesmordes« zu erheben. »Als nun der Retter kam, kreuzigten sie ihn. Und so ging nicht bloß ihre National-Existenz verloren; sie wurden in alle Welt ausgetrieben: der Begriff ihrer National[-]Existenz ward in ihre Stirn gebrandmarkt, weil sie die Idee derselben aus den reinsten Händen nicht hatten empfangen wollen«218, heißt es am Ende der elften Vorlesung, in der Müller über den Geist der Mosaischen Gesetzgebung spricht.219 Als Strafe für den Mord an Jesus Christus haben die Juden ihren nationalen Zusammenhalt verloren; aus dieser Perspektive sind sie nicht nur dem deutschen Wesen fremd, sondern sie sind der Gegensatz zu jedweder nationalen Identität. »Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Teutschland vermehrt werden«220, schreibt Arndt dementsprechend. Die Basis für die Genese einer »gesunden« nationalen Identität ist für Müller und Arndt der mit der Bindung an den heimischen Boden verbundene »Ackerbau«, wie Müller insbesondere in den Agronomische[n] Briefen (1812)221 deutlich macht, in denen der Staatsphilosoph die »innere Bindung des Volkes mit dem Boden, auf dem es lebt«222, hervorhebt: »Von dem Verfahren aber, von dem Bleiben, ich möchte sagen von der ausschließenden Ehe und ewigen Ehe eines Volkes mit einem bestimmten Boden hängt alles Gedeihen und aller Wachstum, alle innere organische Ausbildung, alle eigentliche Lebenskraft ab«223. Die Überzeugung des romantischen Nationalismus, daß die Nation mehr sei als die Summe ihrer Mitglieder, wird in diesem Kontext 218 219
220 221
222 223
Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Erster Halbband. Jena: Fischer 1922 (Die Herdflamme; 1), S. 231. Vgl. ebd., S. 215–231. Von den antisemitisch argumentierenden Arbeiten Hans Karl Krügers einmal abgesehen existieren in der Müller-Forschung keine Studien, die sich eigens mit der Haltung des Staatsphilosophen zum Judentum auseinandersetzen. Vgl. Hans Krüger: Adam Müller in seiner Stellung zum Judentum. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 15 (1939), S. 122–130; Hans Karl Krüger: Berliner Romantik und Berliner Judentum. Bonn: Röhrscheid 1939, S. 79–91. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 188. Adam Müller: Ausgewählte Abhandlungen. Mit einem Bildnis, einem Lebensabriß und bisher unveröffentlichten Briefen und Berichten. Hg. von Jakob Baxa. Jena: Fischer 1921, S. 71–94. Ebd., S. 73. Ebd., S. 79.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
von Müller nochmals aufgegriffen. Während nämlich ein »wandernder Staat nie mehr vermögen wird als die einzelnen Bürger zusammengenommen, so ist in einem bleibenden Staate außer der Summe individueller Kräfte noch etwas unendlich Mächtigeres vorhanden, die Gesamtkraft«224. Diese »Gesamtkraft« speist sich nach Müller aus der »akkumulierte[n] Kraft vieler aufeinander folgender Geschlechter«225 und verleiht der Nation ihre »eigentlich[e] politische Macht«226. Die »Nomadenhorde«227 ist als »bloßes Bündel von Individuen«228 dem seßhaften Volk aus dieser Perspektive hoffnungslos unterlegen; daß mit Müllers Polemik gegen die »Nomadenhorden« auch eine implizite Abwertung gegen die »in alle Welt ausgetrieben[en]«229 Juden einhergeht, scheint offensichtlich. Ihnen fehlt demnach jene Verbindung »mit einem bestimmten Boden«230, die Voraussetzung dafür ist, daß die »Erhaltung eines Staates in jeder gedenkbaren Krise«231 gewährleistet werden kann. Politische Krisen können nur bewältigt werden, wenn ein Volk in den heimischen Boden »ein[ge]wurzel[t]«232 ist; äußeres Zeichen dieser Verwurzelung ist die »nationale Landwirtschaft«233, die es daher durch politische Begleitmaßnahmen gegen die »Strudelgewalt des Marktes«234 zu schützen gilt, wenn »Stamm und Wurzel alle[n] politischen Lebens«235 nicht gefährdet werden sollen. Im Gegensatz zur Landwirtschaft wirkt der »Kaufmannsstand«236 – so Müller in der Vorlesung über den Geist der Mosaischen Gesetzgebung – »aller Nationalität entgegen«237; er schwächt den Gemeingeist, weil »jedes einzelne Individuum für sich«238 handelt, und er befördert einen indifferenten Kosmopolitismus, weil er »überall, und doch eigentlich nirgends, zu Hause«239 ist. Als Kronzeugen für diese Argumentation führt Müller ausgerechnet Moses an, dem er attestiert, aus guten Gründen auf die Landwirtschaft und – trotz auch dafür günstiger geographischer Lage – nicht auf den Handel gesetzt zu haben. Der Bauer avanciert, wie Klaus von See herausgearbeitet hat, im Rahmen der Romantik »ebenso zur Idealfigur für die Vertreter des völkischen Denkens, 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 231. Müller, Abhandlungen (wie Anm. 221), S. 79. Ebd., S. 73. Ebd., S. 79. Ebd., S. 78. Ebd., S. 89. Ebd., S. 79. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 227. Ebd. Ebd. Ebd., S. 226.
IV Müller, Arndt und der für den Ackerbau untaugliche Jude
197
wie der Kaufmann, der Händler, die Idealfigur für die Vertreter des aufklärerischen Rationalismus ist. Dem völkischen Denken garantiert der Bauer die Bodenständigkeit und Kontinuität der Kultur und die Möglichkeit der wirtschaftlichen Autarkie«240. Daß sich das zeitgenössische Judentum mit seiner (erzwungenen) Konzentration auf den Handel in diesem Kontext für eine nationale Integration alles andere als anbietet, betont Müller in den Elementen nicht eigens, es geht aber aus der Argumentation des romantischen Staatsphilosophen zwingend hervor – zumal er an anderer Stelle deutlicher wird. Die an König Friedrich Wilhelm III. gerichtete Lebuser Denkschrift (1811)241 bemühte sich darum, gegenüber dem Königshaus und der preußischen Administration die alten Adelsprivilegien zu verteidigen; als Erstunterzeichner fungierten mit dem Präsidenten der neumärkischen Regierung, Friedrich Ludwig Karl Graf Finck von Finckenstein, und dem ständischen »Oppositionsführer[]«242 Friedrich August Ludwig von der Marwitz zwei »leidenschaftliche und unbeugsame Sprecher des kurmärkischen Adels«243. Als »geistiger Vater« des Schreibens darf aber durchaus Adam Müller vermutet werden,244 dessen intellektueller Unterstützung sich die »beiden Hau240
241
242
243
244
Klaus von See: Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Heidelberg: Winter 2001, S. 32. In: Jakob Baxa: Adam Müllers Lebenszeugnisse. Band I. München, Paderborn, Wien: Schöningh 1966, S. 644–653; vgl. hierzu die Anmerkungen Jakob Baxas ebd., S. 653–656. Madelaine von Buttlar: Die politischen Vorstellungen des F.A.L. v.d. Marwitz. Ein Beitrag zur Genesis und Gestalt konservativen Denkens in Preußen. Frankfurt a. M., Bern, Cirencester: Peter Lang 1980 (Schriftenreihe zur Politik und Geschichte; 13), S. 51. Ingo Hermann: Hardenberg. Der Reformkanzler. Berlin: Siedler 2003, S. 292. Zu den politischen Positionen von Marwitz vgl. Buttlar, Die politischen Vorstellungen (wie Anm. 242), vor allem S. 33–63 und Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz. 1777–1837. Biographien eines Preußen. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2001, vor allem S. 237–284. Frie relativiert dabei die Sprecherrolle für den kurmärkischen Adel, die die Forschung Marwitz und Finckenstein ziemlich einhellig zuweist, weil die anderen Rittergutsbesitzer mit wenigen Ausnahmen keine Möglichkeit sahen, Hardenbergs Position zu schwächen und daher mittlerweile auf eine Zusammenarbeit mit dem Kanzler setzten. Folgerichtig weigerten sich auch viele Adelige, die Eingabe zu unterzeichnen. Vgl. ebd., S. 276– 284. Zur Nähe zwischen Marwitz und Müller vgl. auch Karin Richter: Die Staatstheorie und das politisch-praktische Wirken Adam Müllers. Ein Beitrag zur romantischen Staatsauffassung. Phil. Diss. masch. Halle/Saale 1975, S. 169–182 sowie Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 312–317. Volker Stanslowski verweist in seiner Analyse der Lebuser Denkschrift, in der er die antisemitischen Passagen des Textes freilich überhaupt nicht erwähnt, auf den Einfluß, den Müller »auf die Adelsopposition gewonnen hatte«. Vgl. Volker Stanslowski: Natur und Staat. Zur politischen Theorie der deutschen Romantik. Opladen: Leske + Budrich 1979 (Sozialwissenschaftliche Studien; 17), S. 129–136, Zitat S. 135.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
degen«245 im gemeinsamen Kampf »gegen die napoleonische Unterdrückung, den Liberalismus und die Aufklärung«246 versicherten, wie Ingo Hermann jüngst noch einmal feststellte: »Was sich da im Widerspruch zur Reformpolitik Hardenbergs formierte, war der Marsch zurück in die vorabsolutistische Ständegesellschaft mit ihrem mittelalterlichen Wertesystem.«247 Hardenberg begriff das Schreiben als inakzeptable Provokation; er ließ die Rädelsführer Marwitz und Finckenstein im Juni 1811 festnehmen und in die Festung Spandau einsperren. Dort blieben sie fünf Wochen, dann ordnete König Friedrich Wilhelm III. ihre Freilassung an.248 Das Sendschreiben greift den Zusammenhang zwischen Grundbesitz und nationaler Loyalität noch einmal auf: Mit dem Verweis darauf, daß es gerade der Grundbesitz sei, »der am festesten an den Staat knüpft«249, während sich der Kaufmann »überall gleich wol«250 befinde, wird hier gegen die preußische Reformpolitik und die »Mobilisirung alle[n] Grundeigenthumes«251 agitiert. Das Schreckensszenario der konservativen Opposition sieht in den Juden die wesentlichen Profiteure der Kommerzialisisierung der Landwirtschaft, da sie »die Masse des Geldes in ihren Händen«252 hätten, so daß es ihnen leicht fiele – sofern die preußische Regierung nicht interveniere – den Grundbesitz mit »Vortheil zu acquiriren«253 und alsbald als »Hauptrepräsentanten des Staates«254 zu firmieren. Diese Bedrohungsphantasie wird mit der Annahme eines unveränderlichen jüdischen Nationalcharakters unterfüttert – konvertierte Juden denunziert die Sendschrift als »Heuchler«255, die anderen als »nothwendigste[] Feinde eines bestehenden Staates«256 – und mündet schließlich in die Vorstellung ein, daß »unser altes, ehrliches brandenburg’sches Preußen ein neumodischer Judenstaat werden [wird]«257. Daß Müller – obgleich er das Schreiben nicht unterzeichnete – auch die antisemitischen Überzeugungen von Marwitz und Finckenstein teilte, geht nicht nur aus der Geschichte der Christlich-deutschen Tischgesellschaft hervor, die
245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257
Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 243), S. 292. Ebd. Ebd. Vgl. Günter de Bruyn: Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2001, S. 72f. Baxa, Lebenszeugnisse I (wie Anm. 241), S. 652. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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er als »Mitunternehmer«258 Achim von Arnims gründete und in der selbst getaufte Juden von der Teilnahme ausgeschlossen waren; vielmehr hat Müller 1816 in einem Artikel für die von ihm herausgegebenen Deutschen Staatsanzeigen die in dem Sendschreiben gemeinsam mit den Vertretern des kurmärkischen Adels entworfenen Thesen, in denen das Judentum als »Symbol der nachständischen Unübersichtlichkeit«259 erscheint, noch einmal wiederholt.260 Der in Fortsetzungen erschienene Artikel Anmerkungen von der Souveränität und vom Lehnsrechte bei Gelegenheit der heiligen Allianz verteidigt das System des vorrevolutionären Feudalismus, das über das Fehlverhalten einzelner Repräsentanten – Müller spricht von »schlechte[n] Priester[n] und [...] eine[m] verworfenen Adel«261 – zu Unrecht in Mißkredit geraten sei: »Durch die unvernünftige Verfolgung der feudalistischen Gesetze zerstören wir einerseits unsre ganze Geldwirthschaft und die Macht des Geldes selbst, andrerseits erzeugen wir den viel grausamern Feudalismus der allgemeinen Verschuldung, die schon weit genug um sich gegriffen hat.«262 An die Stelle des »barbarischen Verhältnisses des Gutsherrn zum Unterthan«263, so Müller ironisch, tritt das »sanfte Joch des Gläubigers für seinen Schuldner«264. Persönliche Freiheiten werden durch die Abschaffung der feudalistischen Strukturen also nicht gewonnen; stattdessen etablieren sich neue Zwangsverhältnisse, während Traditionen verlorengehen. In diesem Zusammenhang kommt Müller auch auf die Juden zu sprechen, die er als Profiteure der geschilderten Entwicklung begreift. Wenn die »Veräußerungen des Bodens nicht mehr als Ausnahme«265 gelten, sondern gleichsam zur Regel werden, dann dehnt sich das – für Müller jüdisch konnotierte – System der »Geldsklaverey«266 auch »über Grund und Boden«267 aus. »[W]ohlan!, so werden sie auch unsern Feldbau beherrschen«268, schreibt Müller, der die »Oberlehnsherrschaft der Juden und Wucherer«269 heraufziehen sieht. Dem 258
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So Arnim in einem undatierten Brief an die Brüder Grimm von Anfang Januar 1811. In: Reinhold Steig und Herman Grimm: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Dritter Band: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig. Mit zwei Porträts. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 94–97, hier S. 94. Frie, Marwitz (wie Anm. 243), S. 280. Vgl. Adam Müller: Anmerkungen von der Souveränität und vom Lehnsrechte bey Gelegenheit der heiligen Allianz. In: Deutsche Staatsanzeigen 1 (1816), H. 3, S. 294–299. Ebd., S. 294. Ebd., S. 296. Herv. i. O. Ebd. Ebd. Ebd., S. 297. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
»rechtschaffenen christlichen Hausvater«270 bleibt so »kein Ausweg [...], als sie zu vernichten oder ihr Sklave zu werden«271. Bemühungen, »die Juden [zu] reformiren«272, verurteilt Müller als realitätsfremd; solche Versuche hätten lediglich zur Konsequenz, »daß es baldigst nur dahin komme, daß sie uns reformiren«273. Wenn die Juden die gleichen Rechte und Pflichten wie ihre christlichen Mitbürger bekämen, so müßte sich nämlich »[d]as ganze erfreuliche Gewebe unsers Verkehrs und Handels [...] auf jüdische Weise umformen«274, um überhaupt bestehen zu können. Insofern würde die Assimilation gleichsam den umgekehrten Weg gehen und somit auf den Kopf gestellt werden.275 Müller hält die jüdische Minderheit als soziale Gruppe für nicht integrierbar; ob er, wie es die von ihm mitverantwortete Lebuser Denkschrift und seine Rolle in der Tischgesellschaft nahelegen, auch den einzelnen Juden durch sein »jüdisches Wesen« für determiniert erachtet, geht aus dem Artikel nicht eindeutig hervor. Wenn Müller schreibt, daß der »verderbte[], aber immer noch ehrwürdige Stamm[]«276 der Juden nur durch »christliche Gesetze und Gesinnung [...] zu zwingen«277 sei, so könnte dies durchaus im Sinne eines Plädoyers für ein Missionierungsprogramm gelesen werden. Wahrscheinlicher aber ist – gerade im Kontext der Apologetik feudalistischer Strukturen –, daß die von angeblich »mächtige[n]«278 Juden ausgehende Gefahr durch die Rückkehr zu der religiös verbrämten Kompromißlosigkeit vorrevolutionärer Ausgrenzungs- und Ghettoisierungsstrategien gebannt werden soll. Daß es den Juden in Bezug auf den Grundbesitz nie um das Land, sondern nur um den materiellen Vorteil gehe, betont auch Arndt, wenn er ihnen vorwirft, »stätige und schwere Arbeit«279 zu scheuen und stattdessen »[u]nstät an Sinn und Trieb«280 immer nur auf die »Beute des Augenblicks«281 zu hoffen: »[W]ie Fliegen und Mücken und anderes Ungeziefer flattert er [der Jude, M. P.] umher, und lauert und hascht immer nach dem leichten und flüchtigen 270 271 272 273 274 275
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Ebd., S. 298. Ebd. Ebd. Ebd.; Herv. i. O. Ebd. In einem Brief an Clemens Graf von Metternich vom 12. Dezember 1815 wendet sich Müller ebenfalls gegen eine »gesetzliche oder politische Emancipation der Juden«; und zwar mit der Begründung, daß eine solche Maßnahme zwangsläufig »zu einer Verschlimmerung ihrer bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse führen muß«, weil sich dann der Haß der »öffentlichen Stimme« gegen die Juden erheben werde. In: Müller, Abhandlungen (wie Anm. 221), S. 214–216, hier S. 215. Müller, Anmerkungen von der Souveränität (wie Anm. 260), S. 297. Ebd. Ebd. Arndt, Blick aus der Zeit (wie Anm. 128), S. 196. Ebd. Ebd.
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Gewinn, und hält ihn, wann er ihn erschnappt hat, mit blutigen und unbarmherzigen Klauen fest.«282 Zum Ackerbau ist der Jude, der körperliche Arbeit scheut, weder willig noch tauglich – dieses Stereotyp hat »sich trotz des historischen Wandels der Gesellschaft als konstant [...] und in seiner Evidenz und Streuweite als bedeutsam«283 erwiesen, wie Rainer Erb analysiert. Es erhielt in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Emanzipationsedikt weitere Nahrung dadurch, daß die jüdische Minderheit das Angebot, auch landwirtschaftliche Berufe ausüben zu dürfen, nur sehr verhalten annahm und mithin die »vermeintlich objektive[] Elle der Berufsstatistik«284 die Vorurteilsstrukturen weiter stabilisierte. »So glaube ich nimmer«285, heißt es in den schon zitierten Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen (1815) von Ernst Moritz Arndt, »daß wenn man die Juden, soviele ihrer sind, aus allen Teilen zusammenbrächte und ihnen ein bestimmtes Land eingäbe und zu ihnen sagte: Nun frisch! Richtet euch ein und macht euch wieder zu einem freien Volk und Staate! aus ihnen je noch ein tüchtiges und ordentliches Volk würde«286. Diesen Überlegungen bleibt er auch in späteren Jahren treu, wie eine Passage aus dem 1843 erschienenen Versuch in vergleichender Völkergeschichte dokumentiert. Hier agitiert Arndt gegen ein »Geschlecht«287, das sich »die übertriebensten und halsbrechendsten Lehren von Verfassung und Staat von den Wälschen ausgegriffen«288 und »den vollsten Liberalismus der losesten und liederlichsten Grundsätze derselben zugelegt«289 habe: »An der Spitze dieser Übertriebenen, dieser vornehmen Überblicker und Verhöhner des matten und dummen Deutschen stehen viele Israeliten, zum Theil Proselyten der christlichen Pforte, welche von Natur zu spitzen und blanken Bemerkungen und Ansichten geneigt sind und welche, als die da lange schmählich unterdrückt waren und kein festes Volk und Vaterland hatten und empfanden, natürlich leicht in die leerste und ödeste Weite des wildesten Kosmopolitismus und Liberalismus hinausfahren. Mit solchen verlohnt es nicht der Mühe sich über Deutschland und über Deutschheit zu streiten.«290 282 283
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Ebd. Rainer Erb: Warum ist der Jude zum Ackerbürger nicht tauglich? Zur Geschichte eines antisemitischen Stereotyps. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hg. von Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin: Wissenschaftlicher Autoren-Verlag 1987, S. 99. Wilhelm Kreutz: Aufbruch und/oder Krise? Zur jüdischen Identitätsfindung zwischen Aufklärung und Restauration. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 9 (1999), S. 322. Arndt, Werke XIV (wie Anm. 183), S. 101. Ebd., S. 101f. Herv. i. O. Ernst Moritz Arndt: Versuch in vergleichender Völkergeschichte. Leipzig: Weidmann 1843, S. 390. Ebd. Ebd. Ebd., S. 390f.
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Den kosmopolitischen Juden291 fehlt also der Sinn für das Vaterland und der adäquate Begriff von »Deutschheit«. Angesichts der Kontinuität der Grundüberzeugungen in den Werken des »unvergleichlichen Wiederholer[s]«292 (Rudolf Haym) kann es demnach nicht ernst gemeint sein, wenn Arndt 1847 die in Zeiten des Aufstiegs der kapitalistischen Marktwirtschaft fürwahr anachronistisch erscheinende Forderung erhebt,293 die Juden sollten sich »wieder zur Herablassung der lieben Mutter Erde bequemen und gleich dem Altvater Adam wieder lernen Disteln und Dornen roden, Steine brechen, Sümpfe abzapfen und Pflugsterz, Sense und Axt gleich andern guten Christen und Heiden führen«294. Arndt spricht hier freilich nicht nur aus der Perspektive des »guten Christen«, sondern auch aus der des »Deutschesten aller Deutschen«295, der im ereignisreichen Jahr darauf als Alterspräsident des Frankfurter Paulskirchenparlamentes einen eindrucksvollen Beweis seiner Wirksamkeit erfahren sollte: Als der greise Publizist erstmals an das Rednerpult tritt, singt die Versammlung spontan sein wohl bekanntestes Lied Des deutschen Vaterland (1813).296 Ebenfalls 1848 erscheinen Arndts Reden und Glossen, in denen er »Juden und Judengenossen, getaufte[n] und ungetaufte[n]«297, vorwirft, »unermüdlich [...] an der Zersetzung und Auflösung [...] jeder Vaterlandsliebe und Gottes-
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Schon in dem Pamphlet Noch ein Wort über die Franzosen und über uns (1814) spricht Arndt von einem »judenartigen Kosmopolitismus«. Arndt, Noch ein Wort über die Franzosen (wie Anm. 143), S. 39. Hier zit. n. Kurt Lenk: »Volk und Staat«. Strukturwandel politischer Ideologien im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1971 (Reihe Kohlhammer), S. 89. Eleonore Sterling hält es zu Recht für eine »seltsame Auffassung, die von den Juden verlangt, sich umzustellen, den Geld und Warenhandel, der in der kapitalistischen Marktwirtschaft zeitgemäß und im Aufstieg ist [...] aufzugeben, um sich dem zerfallenden Gewerbe des Ackerbaues und Handwerks zu widmen«. Eleonore Sterling: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815–1850). Frankfurt a. M.: Europäische Verlags-Anstalt 1969, S. 34. Vgl. auch Yaacov Ben-Chanan: Juden und Deutsche. Der lange Weg nach Auschwitz. Kassel: Jenior & Pressler 1993, S. 291f. So Arndt in der Allgemeinen Zeitung vom 20. August 1847. Zit. n. Sterling, Judenhaß (wie Anm. 293), S. 34. Jörg Schmidt: Fataler Patron. Noch immer tragen deutsche Schulen, Kasernen und eine Universität den Namen des völkischen Ideologen und Antisemiten Ernst Moritz Arndt. In: Die Zeit, 5. November 1998, S. 94. Vgl. ebd. sowie Schäfer, Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 165), S. 125 und Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon. Zürich: Artemis & Winkler 1995, S. 9–11; vgl. nochmals den Abdruck des Textes im Reader: Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002 (Fischer-Taschenbücher; 15480), S. 213f. Ernst Moritz Arndt: Reden und Glossen. Leipzig: Weidmann 1848, S. 37.
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furcht«298 zu arbeiten. Die von der »jüdischen Humanitätswundersalbe«299 ausgehende Problematik besteht nach Arndt darin, daß die Mannigfaltigkeit der besonderen Nationalcharaktere durch »das fürchterlichste Einerlei«300 eines »Völkerrührbrei[s]«301 abgelöst wird; doch im Gegensatz zur »philosophische[n] und kosmopolitische[n] Humanität«302 der Aufklärungszeit, die nach Arndt zwar naiv, aber immerhin »voll edler Hoffnungen«303 war, ist die »Judenhumanität«304 eine »giftige«305: Die »Zerstörer der Vaterlandsliebe«306 werden angetrieben durch den »Haß gegen Volksthum und Christenthum«307. Die Juden, so Arndts Verschwörungstheorem, stellen deshalb einen »gar nicht ungefährliche[n] Gährungsstoff [...] in unserm sittlichen und öffentlichen Leben«308 dar. »Indem sie sich der guten Hälfte der Tagesliteratur bemächtigt haben, spielen sie Hohn, Haß und radikalste Lüge in alles Spiel des Tages hinein, und schauen und lauschen ringsum, wo im Vaterlande noch eine Kraft gesund und stark ist, sie zu mindern und aufzulösen.«309 Die eminente Gefahr, die von der »giftige[n] Judenhumanität«310 ausgeht, ist nur mit der Entgegensetzung des »Eigenthümliche[n], Deutsche[n]«311 zu bannen. Gerade das Beispiel des romantischen Antisemiten und »einflußreich[en] Volkstribunen«312 Arndt – sein 90. Geburtstag sollte zwölf Jahre später als »nationales Fest«313 begangen werden – belegt die antisemitischen Ausschlußklauseln, die auch dem vermeintlich ausschließlich progressiv orientierten Nationalismus von 1848 eingeschrieben waren. Doch zurück in die Zeit des Emanzipationsediktes. Indem Arndt und Müller den Juden die Möglichkeit einer echten Bindung an den heimischen Boden absprechen und daraus folgern, daß diese auch keine echte nationale Loyalität entwickeln könnten, reaktivieren die beiden Schriftsteller ein in den Patriotismus-Debatten des 18. Jahrhunderts »schlagkräftiges Argument«314, auf das
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 71. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Lenk, »Volk und Staat« (wie Anm. 292), S. 85. Günzel, 125 Lebensläufe (wie Anm. 296), S. 10. Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms. Stuttgart: J. B. Metzler 1990, S. 7.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
Otto W. Johnston hinweist: Damals hatten die »Ideologen des Adels«315 mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen festem Landbesitz und beweglichen Produktionsgütern bürgerlichen Freiheitsidealen eine Absage erteilt. »[B]eim feindlichen Einbruch ins Land kämen Schutz und Verteidigung dem festangesessenen Junker, nicht dem schleunigst ins Nachbarland geflohenen Bürger zu, der beim Ausbruch der ersten Feindseligkeiten vor allem seinen beweglichen Besitz in Sicherheit brächte und daher als Mitstreiter im Kampf nicht mehr in Frage käme«316, erläutert Johnston die Argumentation der Junker. War es im 18. Jahrhundert die »sogenannte Bürgertreue«317, die angezweifelt wurde, so sind es im frühen 19. Jahrhundert die Juden, die als unzuverlässige Kantonisten denunziert werden. Vor diesem Hintergrund verbietet sich die bürgerliche Gleichstellung einer illoyalen Minderheit, wenn der christliche Nationalstaat im Sinne Müllers und Arndts nicht selbst seine politische Substanz gefährden will. Noch in seiner späten Schrift Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere (1819)318 wiederholt Müller seine Vorbehalte, in dem er – in der für die Texte der Politischen Romantik typischen Anthropomorphisierung des Staatsgebildes – die Juden mit »krankhafte[n] Auswüchse[n] oder Geschwüre[n] des Körpers«319 vergleicht.
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Ein »Loblied auf Moses und sein Volk«: Das Judentum als nationales Vorbild
Die Funktion des Judentums im Rahmen von Müllers Konstruktion einer »deutschen Nation« ist damit jedoch keineswegs ausgeschöpft. Jenen Passagen in den Elementen der Staatskunst, die als Plädoyer gegen die im Raum stehende »bürgerliche Verbesserung« der jüdischen Minderheit zu lesen sind, geht nämlich eine ausführliche Würdigung des alttestamentarischen Judentums voraus, in der insbesondere Moses eine ausgesprochen positive Bewertung erfährt. Diese Stellen wurden in der Antisemitismus-Forschung bisweilen weggelassen; man beschränkte sich – wohl, um den Autor stärker belasten zu können – auf eine Analyse der bereits zitierten Schlußpassagen, in denen Müller mit
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Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Adam Müller, Adam: Schriften zur Staatsphilosophie. Hg. von Rudolf Kohler. Mit einem Vorwort von P. Erich Przywara. München: Theatiner-Verlag 1923, S. 177–246. Ebd., S. 184.
V Das Judentum als nationales Vorbild
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den bekannten Stereotypien gegen das Judentum seiner Zeit zu Felde zieht.320 In der apologetischen Müller-Forschung wurde das »Loblied auf Moses und sein Volk«321, das, wie Hans-Joachim Becker betont, »fast 24 Seiten (von 26 in der Erstausgabe)«322 einnimmt, als Beleg dafür gesehen, daß Müller vom Vorwurf des Antisemitismus freizusprechen sei.323 Freilich könnte man in diesem Exkurs auch nur jenen Respekt erkennen, den die christliche Judenfeindschaft – auch in ihrer national überformten Variante – dem Judentum als »Vorläuferreligion« beinahe obligatorisch erweist. Ich denke dagegen, daß auch diese Passagen als integraler Bestandteil von Müllers nationaler Programmatik gelesen werden müssen; nur mit dem gravierenden Unterschied, daß die »jüdische Nation« diesmal nicht als Gegenentwurf, sondern vielmehr als Vorbild für einen deutschen Nationalzusammenhang firmiert. So schildert Müller die Befreiung des »Jüdischen Volkes«324 aus der ägyptischen Knechtschaft mit dem expliziten Hinweis auf die »jetzigen Zeiten«325 und schreibt ihr hierfür eine »dreifache Wichtigkeit«326 zu: »Die Entführung, die Befreiung des Volkes, und die Reinigung des künftigen Wohnsitzes von den ungerechten Besitzern [!, M. P.] war der kleinste Theil.«327 Viel schwerer wiegt nach Müller, daß die »Fleischtöpfe Aegyptens«328 die »Befreiten«329 korrumpiert hätten. Die Sorge, daß sich die deutsche Bevölkerung mit der Fremdbestimmung durch Frankreich abfinden und mit den Gegebenheiten arrangieren könnte, trieb Müller um, und er teilte sie mit Fichte, der in seinen Reden an die deutsche Nation zwei Jahre zuvor vor der »Süssigkeit des Dienens«330 gewarnt hatte: »Lasst uns auf der Hut seyn [...], denn diese raubt sogar unsern Nachkommen die Hoffnung künftiger Befreiung.«331 320
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So etwa Bruer, Geschichte der Juden (wie Anm. 1), S. 308 und jüngst Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. München: Fink 2003 (Uni-Taschenbücher; 2408), S. 88; mit freilich umgekehrten Intentionen verzichtet auch Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe. Berlin, Stuttgart: Spemann 1901, S. 9f. auf eine Beschäftigung mit Müllers Würdigung des Judentums. H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 207. Ebd. So etwa auch Benedikt Koehler, der im übrigen nicht einmal Die Lebuser Denkschrift als »Ausbund an Rückständigkeit« bewertet wissen will. Vgl. Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 129 sowie H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 205–214. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 220. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Fichte, Werke VII (wie Anm. 99), S. 446. Ebd.
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Daß es Moses gelungen war, sein Volk zu befreien und ihm gegen jedweden Opportunismus seinen »kriegerische[n] Geist«332 zurückzugeben, ist sein historisches Verdienst und macht ihn in Müllers Konzeption zu einem – in der Geschichte einzigartigen – »riesenhaften Helden der Freiheit«333. Moses und den Juden wird in Müllers Text jene Rolle zuteil, die in anderen nationalistischen Abhandlungen Hermann und die Germanen eingenommen hatten. Müller hatte die »germanenorientierten Angebote«334 der Geschichte im Gegensatz zu Fichte und Arndt jedoch bewußt ausgeschlagen; wohl, weil dem »Mittelaltersmann«335 der heidnische Aspekt dieses Identifikationsangebotes nicht zusagte, der einige Autoren der Politischen Romantik in argumentative Verlegenheit brachte. Immerhin wurde durch den Bezug auf Hermann in Frage gestellt, daß »das Christentum die unumgängliche Bedingung der Deutschheit wäre«336. Saul Ascher macht in seiner gegen den romantischen Nationalgedanken agitierenden Flugschrift Die Germanomanie (1815)337 denn auch mit sehr viel Ironie darauf aufmerksam, »daß die Deutschen, wie sie Tacitus darstellt, die unter Brennus, Hermann etc. ihre Freiheit gegen die Römer erkämpften, recht brave Deutsche waren, ohne Christen zu sein«338. Franz von Baader dagegen versucht solchen Einwänden zu begegnen, indem er in seiner Abhandlung Ueber die Ursachen der Leichtigkeit, mit welcher die Germanen die christliche Religion annahmen (1825)339 Brauchtum und Sitten der Germanen als in besonderem Maße kompatibel mit der Botschaft des Christentums beschreibt und ihnen deshalb eine »innere Affinität«340 zu dieser Religion attestiert; so kann er Hermann und die Rolle, die die Germanen beim »Untergange der römischen Weltherrschaft«341 spielten, in den deutschen Nationalmythos integrieren, ohne den Gedanken aufzugeben, daß das »Deutschthum vom Christenthum nicht
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Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 220. Ebd. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a. M.: Campus 1998, S. 208. So Arndt spöttisch, bezogen allerdings vor allem auf Friedrich Schlegel. Zit. n. Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz: Matthias Grünewald Verlag 1992 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte; 59), S. 136. Saul Ascher: 4 Flugschriften. Eisenmenger der Zweite. Napoleon. Die Germanomanie. Die Wartburgfeier. Hg. von Peter Hacks. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 229. Vgl. ebd., S. 191–232. Ebd., S. 229f. Vgl. Franz von Baader: Gesammelte Schriften zur Societätsphilosophie. Zweiter Band. Hg. von Franz Hoffmann. Leipzig: Bethmann 1854, S. 331–340. Ebd., S. 332. Ebd., S. 339.
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wieder trennbar ist«342 und der »Begriff des ersteren mit dem letzteren weltgeschichtlich zusammenfällt«343: »[D]er Genius, welcher die germanischen Völker aus ihren finsteren Wäldern und Sümpfen hervor in die Weltgeschichte einführte, [ist] kein anderer als der Genius des Christenthums selber«344. Adam Heinrich Müller indes wehrt sich dagegen, die »allerältesten Fässer zuerst [anzubohren]«345 und präferiert als nationale Leitepoche (ebenso wie Friedrich Schlegel) das Mittelalter. Die Rolle des »fabelhaften Einheitsstifters«346 übernimmt in der Staatstheorie des »guten Christ[en]«347 Müller nun Moses, nicht Hermann: »Nachdem er [Moses, M. P.] auf solche Art ein Volk von nahe an drittehalb Millionen Köpfen in Eins geschmiedet [Hervorhebung M. P.], nachdem er es gestählt und bewaffnet, um ein Jahrtausend hindurch zu dauern – da, im Angesichte des verheißenen Landes [...] legt er sich hin, und stirbt.«348 Doch noch ein Aspekt machte das alttestamentarische Judentum für Müllers Konzeption des Nationalen interessant: »Wir reden jetzt von Zeiten, wo die Religion, oder die Idee der Menschheit, noch Eins war – nicht etwa künstlich verbunden, sondern von Natur Eins – mit dem Staate, oder der Idee der bürgerlichen Gesellschaft.«349 Müller hat in der zehnten Vorlesung seiner Elemente der Staatskunst konstatiert, daß im Zuge der Reformation die religiöse Praxis aus der öffentlichen Sphäre der europäischen Nationen verschwunden sei, und diesen Vorgang deutlich negativ bewertet350: »Das nun ist das große Gebrechen der Zeit, daß die politischen Beziehungen der christlichen Religion vergessen sind, und daß die Zeitgenossen allzu willig Jenen Gehör geben, die uns, so lange es ihr Vortheil mit sich bringt, gern überzeugen möchten, daß die 342 343 344
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Ebd., S. 338. Ebd. Ebd. Auch Arndt bemüht sich darum, den Germanen einen »Geist des Christentums« gleichsam »in ihre Wiege« zu legen, wie Günther Ott schreibt. Vgl. Günther Ott: Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten. Bonn, Düsseldorf: Röhrscheid 1966 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn; 2/Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kichengeschichte; 22), S. 203–205, hier S. 204. So Müller in seinen Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806). Vgl. Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Band 1: Kritische Schriften. Neuwied: Luchterhand 1967, S. 13–137, hier S. 91. Vgl. Hinrich C. Seeba: Fabelhafte Einheit. Von deutschen Mythen und nationaler Identität. In: Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Hg. von Claudia Mayer-Iswandy. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994 (Stauffenburg-Colloquium; 32), S. 59–74. Becker, Fichtes Idee der Nation (wie Anm. 61), S. 207. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 221. Ebd., S. 218. Vgl. ebd., S. 192–210, besonders S. 208. Vgl. zu den religiösen Aspekten von Müllers Staatstheorie insbesondere K. Richter, Staatstheorie (wie Anm. 244), S. 97–107.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
Religion mit den sogenannten weltlichen Dingen nichts zu schaffen habe.«351 Die enge Verflochtenheit zwischen religiösem, gesellschaftlichem und politischem Leben, die Müller dagegen beim »jüdischen Volk« vorzufinden glaubt, macht es für seine Vorstellung eines »deutschen Volkes« zu einem bewundernswerten Modell. Darauf verweist Müller auch, wenn er »behaupte[t] [...], daß das Wesentliche am Staate, jene uralte natürliche Vereinigung des Staates und der Religion, durch eine erhabene Kunst wieder herzustellen sey, und daß diese Kunst nothwendig zur Ausübung kommen müsse, wenn nicht alle gegenwärtigen Halbstaaten untergehen sollen«352. Müller sieht in der »Mosaischen Staatsverfassung«353 eine »merkwürdige Probe lebendiger Gesetzgebung«354, die zu Unrecht unter dem »Schimpfnahmen der Theokratie«355 beiseite gesetzt worden sei. Diese Einschätzung überrascht, zumal ja der vermeintlich statutarische – und eben gerade nicht als lebendig eingestufte – Charakter der jüdischen Gesetze in der antijüdischen Argumentation stets angegriffen wurde.356 Auch Müller schwenkt am Ende seiner Vorlesung auf diesen Kurs ein, wenn er den Juden vorwirft, an »dem Buchstaben, der Auserwähltheit und der Mosaischen Gesetze, und an dem Begriff eines einzigen Jehova«357 im Verlauf ihrer Geschichte »allmählig immer fester [geklebt]«358 zu haben; doch dem »widerwärtige[n], unerträgliche[n] Hochmut«359, den er an dem späteren Judentum glaubt diagnostizieren zu dürfen, war eben auch ein »uralte[r] gerechte[r] [...] Stolz«360 vorausgegangen, der das ältere Judentum zum Vorbild für die deutsche Selbstfindung werden läßt. In Müllers Konzeption einer »deutschen Nation« fungiert das »jüdische Wesen« im Positiven wie im Negativen als Orientierungspunkt. Es ist das Musterbeispiel, dem es nachzueifern gilt, und es ist das Feindbild, vor dessen 351 352 353 354 355 356
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Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Hg. von Jakob Baxa. Zweiter Halbband. Jena: Fischer 1922 (Die Herdflamme; 1), S. 195. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 218. Ebd., S. 219. Ebd. Ebd. Auf dieser Argumentationsbasis bestreitet Immanuel Kant 1793 gar, daß das Judentum überhaupt als Religion zu begreifen sei: »Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war [...].« Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von Rudolf Malter. Stuttgart: Reclam 2004 (Reclams Universal-Bibliothek; 1231), S. 165. Vgl. auch Christhard Hoffmann: Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters. In: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. Hg. von Wolfgang Benz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995, S. 27. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 230. Ebd. Ebd. Ebd.
V Das Judentum als nationales Vorbild
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dunkler Folie die Charaktereigenschaften der »echte[n] Deutsche[n]«361 umso heller erstrahlen. Besonders deutlich wird dies in seiner Rezension von Fichte’s Reden an die deutsche Nation (1808),362 in der Bewunderung und Ablehnung gegenüber dem Judentum in einem einzigen Satz formuliert werden. Müller diskutiert hier die Frage, inwiefern sich die Deutschen, die kein »einziges sichtbares Reich«363 mehr ausmachen und die nun auch noch ein »Werkzeug fremder Hände«364 wurden, noch auf einen eigenen Nationalzusammenhang berufen könnten. »Es ist schlimm«365, konstatiert Müller in diesem Kontext, »daß uns die Geschichte kein anderes Beispiel für dieses Bleiben der Nationalität aufgestellt hat als gerade ein solches, zu dem wir mit Widerwillen hinübersehen und das seinem innersten Wesen nach mit der Deutschheit in Widerspruch steht, als das Judentum nämlich.«366 Müllers national motivierte, also antisemitische Verurteilung des Judentums, das er seinem innersten Wesen nach mit der »Deutschheit« für unvereinbar hält, darf nicht übersehen werden; zugleich aber bekundet der Staatstheoretiker seinen Respekt davor, wie es dem Judentum gelungen sei, trotz widriger politischer Umstände und ohne eigene Staatlichkeit den »nationalen« Zusammenhang zu bewahren. Während Fichte in der politischen Abhängigkeit von Frankreich zumindest mittelfristig auch das Ende der vorgestellten »deutschen Nation« sieht,367 eröffnen sich Müller durch das »Hinübersehen« zur Geschichte der jüdischen Minderheit im eigenen Land neue Perspektiven. Das »Bleiben der Nationalität«, wie er es formuliert, also das Bewahren des nationalen Identifikationsangebotes, kann auch den Deutschen gelingen – wenn sie es wirklich wollen. Denn die »Nationalität [...] ist das einzige Gut, das uns über den Verlust der äußern Freiheit zu trösten [vermag]«368 und das »einzige Gut, was uns durch niemand geraubt, aber auch durch niemand gegeben werden kann als durch uns selbst«369. In den Elementen wird Müller später trotzig darauf insistieren, daß auch jene Nationen, »welche der Idee der politischen Einheit nicht treu geblieben [...] sind, nehmlich Deutschland und Italien«370, ihre Unabhängigkeit »unter allem 361
362 363 364 365 366 367
368 369 370
Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Band 2: Ästhetische Schriften. Neuwied: Luchterhand 1967, S. 280. Vgl. ebd., S. 277–295. Ebd., S. 280. Ebd. Ebd., S. 281. Ebd. Mit dem Argument, daß ohne politische Selbständigkeit kein integrierendes Nationalgefühl erhalten werden kann, erteilt Fichte bekanntlich der Vorstellung einer ›deutschen Kulturnation‹ eine Absage. Vgl. Fichte, Werke VII (wie Anm. 99), S. 451ff. Müller, Schriften II (wie Anm. 361), S. 281. Ebd. Müller, Elemente I (wie Anm. 218), S. 199.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
Anschein äußerer Abhängigkeit«371 bewahrt hätten. Im Unterschied zu Fichte glaubt Müller also an die Option, das deutsche Nationalbewußtsein auch dann aufrecht erhalten zu können, wenn »Deutschland« längerfristig keine politische Realität erhalten und / oder von Frankreich okkupiert bleiben sollte. Als historischer Kronzeuge dafür, daß diese Hoffnung keine Illusion darstellt, fungiert ausgerechnet das Judentum, dessen Geschichte der nationale Prophet freilich nur »mit Widerwillen«372 einer Betrachtung unterzieht. Die »überwältigende Einheit des Judentums in seiner langen [...] Geschichte«373 (Gerhard Schulz) honoriert auch Ernst Moritz Arndt, der in seinem Buch über den Rhein, der Teutschlands Strom, jedoch keinesfalls dessen Gränze darstellen soll (1813), ganz ähnlichen Überlegungen wie Müller folgt. »[I]n der Aufregung des Kampfes gegen Napoleon, seine deutschen Verbündeten und Anhänger sowie nicht zuletzt die Lauen im eigenen Lager«374 begreift Arndt »das ›jüdische Modell‹ als Vorbild volklicher Geschlossenheit«375, stellt Wolfgang Altgeld fest. Nach einer Polemik gegen den »allerweltliche[n] Judensinn«376, mit der jener für die antijüdische Argumentation der Romantik signifikante Konnex zwischen Aufklärung und Judentum geschlossen wird und Juden implizit als zu nationaler Loyalität unfähige Kosmopoliten gescholten werden, bittet der »Meister des Hasses« die »Kinder Abrahams«377 um Verzeihung: »[I]hr, obgleich über die Welt zerstreuet, seid durch hartnäckige Liebe und Vertheidigung des Eurigen ein ehrwürdiges Volk. Mögten wir Teutsche euch darin gleichen! So werden unsre Kosmopoliten uns nicht zerstreuen.«378 Zuvor hatte Arndt angesichts der französischen Ansprüche ein Untergangsszenario inszeniert. »Wenn nun das Unglück bleibt, daß die Franzosen den Rheinstrom behalten, so wird das Teutsche in seinen Keimen vergiftet und erstickt: Teutschland kann seinen Namen noch Jahrhunderte behalten, aber Teutschland ist dann nicht mehr.«379 Die Verteidigung des Eigenen unter widrigen politischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen – das ist die Aufgabe, vor die Arndt und Müller das »deutsche Volk« gestellt sehen, und die ihrer Ansicht nach das Judentum gemeistert hat. 371 372 373
374 375 376 377 378 379
Ebd. Müller, Schriften II (wie Anm. 361), S. 281. Gerhard Schulz: Der späte Nationalismus im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts. In: Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation. Hg. von Hans Liebeschütz und Arnold Paucker. Tübingen: Mohr 1977 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des LeoBaeck-Instituts; 35), S. 95. Altgeld, Katholizismus, Protestantismus (wie Anm. 335), S. 107. Ebd. Ernst Moritz Arndt: Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Leipzig: Rein 1813, S. 81. Ebd. Ebd. Ebd., S. 76.
VI Friedrich Rühs und die Systematisierung des Diskurses
VI
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Friedrich Rühs und die Systematisierung des Diskurses
Daß das Judentum seine Identität über die Stürme der Zeiten hinweg gewahrt und verteidigt hat, respektiert auch Friedrich Rühs, der ihm attestiert, die – auch aus seiner Perspektive notwendige – »Scheidewand«380 zwischen den Völkern zunächst strenger beachtet zu haben als andere Nationen und sich später trotz der Zerstreuung über »innere Kräfte [...] als eine geschlossene Einheit mit ihren besondern Volksrechten [...] behaupt[et]«381 zu haben. Indes ist dies eine der wenigen Konzessionen, die der Berliner Geschichtsprofessor der »hochlöblichen Jüdischheit«382 zu machen bereit ist; ansonsten geht es ihm in seinen Schriften Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht (Zweite Auflage 1816) und Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks (1816) darum, »die Unverträglichkeit des Christenthums und der Deutschheit mit dem Judenthum und der Jüdischheit näher auseinander zu setzen«383. Genau wie Arndt und Müller bezieht der Historiker die argumentative Grundlage seiner Polemik gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden aus der romantischen Volkstumslehre, die in expliziter Auseinandersetzung mit den Thesen Christian Wilhelm von Dohms gegen die Staatsvorstellung der Aufklärer in Stellung gebracht wird. So betont Rühs, daß der Staat mehr sei als eine »Maschine oder ein Uhrwerk«384 und wirft Dohm ganz im Einklang mit den grundlegenden Thesen der Politischen Romantik ein rein instrumentelles Verständnis des »bürgerlichen Vereins«385 vor: »Auf die Zahl kommt es nicht an: nicht auf die Betriebsamkeit oder den Gewerbfleiß; nur auf den Geist, der ein Volk belebt, der es vereinigt und die Einzelnen zu einem unauflösbaren Ganzen an einander kettet, auf die Treue, die es bewahrt, auf die Liebe für das Vaterland, auf seinen Glauben an Gott und an sich, auf seine Bereitwilligkeit, die irdischen Güter gering zu 380
381 382 383
384
385
Friedrich Rühs: Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks. Vertheidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter. Berlin: Realschulbuchhandlung 1816, S. 30. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 6. Im Gegensatz zu Gerald Hubmann, der in seinen verdienstvollen Beiträgen zum nationalen Antisemitismus bei Fries und Rühs auf eine Analyse der Schrift Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks verzichtet, »da sich hier kaum neue Argumente finden« ließen, beziehe ich in meiner Untersuchung beide Texte ein. Vgl. Gerald Hubmann: Völkischer Nationalismus und Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert: Die Schriften von Rühs und Fries zur Judenfrage. In: Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus 1850–1940. Hg. von Renate Heuer und Ralph-Rainer Wuthenow. Frankfurt a. M., New York: Campus 1997 (Campus Judaica; 10), S. 10, Anm. 1. Fri[e]drich Rühs: Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Zweiter, verbesserter und erweiterter Abdruck. Mit einem Anhange über die Geschichte der Juden in Spanien. Berlin: Realschulbuchhandlung 1816, S. 4. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 46.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
achten, und alles, selbst das Leben, den unwandelbaren Heiligthümern und den Forderungen des Gemüths zum Opfer zu bringen.«386 Nicht die Prinzipien der Staatsräson oder andere von der natürlichen Zusammengehörigkeit der Deutschen abstrahierende politische Entscheidungen konstituieren die Nation, sondern der Volksgeist. »Der Staat ist ein todter Begriff ohne ein Volk, und ein Volk ist Nichts ohne einen Volksgeist.«387 Vor dem Hintergrund dieses Kriteriums bilden die Juden »einen Gegensatz gegen andere Völker, mithin auch gegen die Deutschen«388, so wie sie auf der religiösen Ebene »einen Gegensatz gegen die Christen«389 bilden. Bei dem Versuch, diesen Gegensatz näher zu definieren und die »Eigenthümlichkeiten«390 zu bestimmen, die ein Volk ausmachen, geht Rühs systematischer vor als Arndt und Müller, weshalb sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit seinen Texten für unser Thema als ergiebig erweist. Rühs sechs Faktoren, die gemeinsam den »Volksgeist« hervorbringen und einen Nationalcharakter konturieren: Die Abstammung, die körperliche Konstitution, die juristische und politische Tradition, die Sprache, die Geschichte und – als sechsten Gesichtspunkt – Sitten und Gebräuche.391 In allen diesen Punkten ist nach Rühs keine Übereinstimmung zwischen Deutschen und Juden zu ersehen;392 die »Stammväter«393 der Juden haben sich nicht mit denen der Deutschen vermischt, und die Juden stammen auch nicht von den Deutschen ab; die »Körperkraft des Juden«394 ist »viel geringer«395, als die der Repräsentanten jener Völker, »unter denen er lebt«396. Die »deutsche und die jüdische Verfassung«397 sind nicht identisch, wie Rühs ohne weitere Erklärung dekretiert; zudem können die Juden keinen Anteil an der 386
387 388 389 390 391
392 393 394 395 396 397
Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 4. Mit seiner These, daß es auf die »Zahl« nicht ankomme, wendet sich Rühs explizit gegen die merkantilistische Theorie, daß eine hohe Einwohnerzahl dem Staat auch wirtschaftliche Prosperität garantiert. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 29. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 25. Weil Gerald Hubmann sich auf die Schrift Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht konzentriert, entgeht ihm dieser Katalog, was dazu führt, daß er Rühs – zu Unrecht – biologistische Prämissen gänzlich abspricht. Vgl. Gerald Hubmann: Ethische Überzeugung und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik. Heidelberg: Winter 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik; 30), S. 188–190 bzw. Hubmann, Völkischer Nationalismus (wie Anm. 383), S. 30–32. Vgl. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 25–27. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26.
VI Friedrich Rühs und die Systematisierung des Diskurses
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deutschen Geschichte für sich verbuchen: »Wem gehören Kaiser Friedrich II. und Maximilian, König Friedrich von Preußen, Herrmann und Blücher, Luther und Göthe, die Sänger der Nibelungen und der Minnelieder, repräsentiren sie nur die Deutschen, oder auch die deutschen Juden?«398 Als »eigentliche Volkssprache[n]«399 der Juden versteht Rühs »das Hebräische«400 und den »unter dem Namen des Neujüdischen bekannte[n] Mischmasch«401. Die deutsche Sprache dagegen bleibt für die Juden »immer eine fremde, erlernte«402, was nach Rühs durch die »undeutschen und falschen Wendungen«403 der »jüdische[n] Schriftsteller«404 offenkundig wird. Was als letzten Punkt die »Lebensart«405 betrifft, so haben sich die Juden »viel Eigenthümliches [...] beibehalten«406 und stets auch auf die Erhaltung »ihre[r] geringsten Gebräuche«407 geachtet. Die Trennungslinie zwischen Deutschen und Juden, so das Fazit der Analyse von Rühs, bleibt vor dem unbestechlichen Hintergrund dieses ›objektiven‹ Kriterienkataloges unüberbrückbar: »Wenn also die Juden keine Juden, sondern Deutsche seyn sollen, so weiß ich überhaupt nicht, wie und auf welche Art man Völker unterscheidet«408, schreibt Rühs, der sich freilich im Einklang mit dem »allgemeine[n] Gefühl und de[m] gesunde[n] Menschenverstand«409 glaubt. »Die Juden als Nation betrachtet, haben ihre Landsleute, mit denen sie durch Abstammung, Gesinnung, Pflicht, Glauben, Sprache, Neigung zusammenhängen, auf der ganzen Erde: sie machen mit ihnen eine Einheit aus, und müssen ihnen nothwendig inniger ergeben seyn als dem Volk, unter dem sie leben, das ihnen immer fremd bleiben muß.«410 Die Beschaffenheit dieses über die genannten Faktoren herausgebildeten jüdischen Nationalcharakters weiß der Professor ebenfalls aufzuzeigen; er greift dabei erwartungsgemäß auf tradierte antijüdische Stereotype zurück. So kritisiert er die einseitige Ausrichtung der Juden auf den Handel, der – weil nicht durch christliche Tugenden gemildert – Eigennutz, Gewinnsucht und Grausamkeit der »Jüdischheit« gefördert habe.411 Für den Ackerbau dagegen, den auch Rühs als »Basis unsrer Staaten«412 begreift, hält der Professor sie nicht 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 4. Vgl. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 51f. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 30.
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tauglich, denn »[a]lle Arbeit erscheint den Juden als eine Strafe«413. Rühs agitiert gegen den »Hochmuth [...] als Grundzug des jüdischen Charakters«414 und verweist auf die bei Juden angeblich wesentlich stärker ausgeprägten kriminellen Energien; gegenüber Dohms milieutheoretischen und sozialpolitischen Argumenten – der Staatsrat war ebenfalls von einer charakterlichen Inferiorität des Judentums ausgegangen, hatte darin aber ein behebbares Resultat der permanenten staatlichen Repressionen gesehen – beharrt Rühs auf einem unverbesserlichen jüdischen Nationalcharakter, denn »von allen gedrückten Völkern sind nur die Juden Juden geworden«415: »[M]an gehe die Geschichte durch, man wird viele Völker finden, die unterdrückt waren, aber nirgends solche schreckende [sic!] Eigenthümlichkeiten, als bei den Juden.«416 Welche fatalen Folgen rechtliche Konzessionen an die Juden oder gar eine Gleichstellung dieser Minderheit zeitigen würden, belegt nach Rühs das Beispiel Hamburg: Weil die Juden dort das Recht hätten, überall zu wohnen, »ist [schon] ein großer Theil des Detailhandels und der Maklergeschäfte in ihren Händen; die ganze Stadt ist von jüdischen Ausrufern und Trödlern überschwemmt. Verstattet man ihnen den Zutritt zur Bürgerschaft, die Aufnahme in die bürgerlichen Kollegien und endlich in den Senat: gewiß das ehrwürdige Hamburg [...] wird in kurzer Zeit völlig eine Judenstadt werden; und ich weiß nicht, ob dies zur Ehre und zum Besten unsres Volks zu wünschen ist.«417 Auch die Entwicklungen in Spanien und Polen belegen nach Rühs die »Aussaugungskünste«418 und den »schädliche[n] Einfluß«419 der machtgierigen Juden auf »andere Völker, unter denen sie wohnen«420. Von ihren »Verbindungen«421 und ihrer »Wirksamkeit«422 in Preußen will Rühs nicht sprechen – er kommt jedoch nicht umhin, festzustellen, sich durch diese Rücksichtnahme »eines [...] großen Vortheils [...] beraubt«423 zu haben. Mit diesem Hinweis scheint er auf das in Preußen kursierende (und im übrigen haltlose)424 Gerücht 413 414
415 416 417 418 419 420 421 422 423 424
Ebd. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 70. »Es bedarf wohl keines weitern Beweises, daß die Vorstellung, das erste aller Völker zu seyn, den jüdischen Begriffen so eingewachsen ist, daß keine Aufklärung sie vertilgen kann«, heißt es an anderer Stelle. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 28. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 50. Ebd. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 64. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 20. Ebd. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 5. Ebd. Ebd. Hardenbergs Hauptgläubiger waren keine Juden, sondern der Kurfürst von Hessen und der König von Preußen. Seine Geschäftsbeziehungen mit jüdischen Kaufleuten gingen im Vorfeld des Emanzipationsedikts eher zurück.Vgl. Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 243), S. 301f.
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anzuspielen, daß Hardenbergs Emanzipationsgesetzgebung durch den Einfluß jüdischer Gläubiger forciert worden sei.425 Auch Adam Müller moniert in einem Bericht an Metternich, daß sich die preußische Regierung »bey ihren finanziellen Operationen [...] seit mehreren Jahren vielleicht etwas zu ausschließend der Juden bedient«426 habe, was letztlich keiner Seite zugute gekommen sei: »Jemehr sich [...] durch die Protektion des Staatskanzlers wie des Finanzministers der Einfluß der Juden vermehrte, um so mehr regte sich der Haß gegen sie, wie denn überhaupt jede gesetzliche oder politische Emancipation der Juden nothwendig zu einer Verschlimmerung ihrer bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse führen muß.«427 Rühs und Müller sind sich einig, daß jene durch die »allgemeinen Humanitätsideen«428 inaugurierte rechtliche Gleichstellung der Juden keine Assimilation der Minderheit an die Gepflogenheiten der Mehrheit bedeuten würde, sondern sie vielmehr die genau gegenteilige Konsequenz hätte: Rühs malt die »Accommodation nach ihren Gesetzen und Sitten«429 an die Wand. Weil Juden »zu der eigentlichen Kraft des [deutschen, M. P.] Volks nichts beitragen«430 können – wegen ihrer »schwächern physischen Constitution«431 sind sie auch für das Militär kein Gewinn –, muß es in erster Linie darum gehen, sie »unschädlich zu machen«432. Dieses Ziel impliziert jedoch keine gewaltsamen Maßnahmen, denn Rühs differenziert – wie Fichte – zwischen Menschen- und Bürgerrechten433 und wendet sich mit diesem Argument gegen eine gewaltsame Vertreibung, die Johann Jakob Fries in seiner Rezension von
425
426 427 428 429 430 431 432 433
Aus den zeitgenössischen antijüdischen Vorbehalten erklärt Ingo Hermann auch die »höchst merkwürdige Aufnahme und Würdigung, die Hardenberg [...] in der deutschen Geschichtsschreibung gefunden hat«. In den jeweiligen historischen Bewertungen der Persönlichkeit Hardenbergs, so Hermanns ebenso pointierte wie plausible These, spiegelten sich die Einstellungen der Nachwelt zum Judentum. »Schon im deutschen Kaiserreich hat ein mächtiger und tonangebender Antisemitismus, verbunden mit einem ebenso mächtigen wie tonangebenden HurraNationalismus, den Blick auf Hardenberg vergiftet. Die nationalsozialistische Geschichtsschreibung hat diese Tradition weitergeführt.« Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 243), S. 301 und 304. Bericht an Metternich vom 12. Dezember 1815. In: Müller, Abhandlungen (wie Anm. 221), S. 214–216, hier S. 215. Ebd. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. V. Ebd., S. 28. Ebd., S. 33. Ebd., S. 38. Ebd., S. 33. »Käme es bloß darauf an, den Juden da ihre Menschenrechte zurück zu geben, wo sie ihnen verkümmert sind, so wäre jeder Streit überflüssig; die Pflicht und Würde jeder guten Regierung erfordert es, sie vor Ungerechtigkeiten und Mißhandlungen zu sichern [...].« Ebd., S. 2.
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Rühs’ Schrift freilich vorschlagen wird.434 Die Juden werden jedoch auch bei Rühs allenfalls geduldet; Ansprüche können sie daraus nicht ableiten. »Sie müssen überdies erkennen, daß ihr Aufenthalt unter den Deutschen eine Vergünstigung sey.«435 Die »goldene Zeit«436, die sie in den Jahren der »französische[n] Unterjochung [...] in manchen Gegenden Deutschlands«437 angeblich erlebt haben, soll nunmehr endgültig vorbei sein: »Die Gleichstellung [...] lag ganz in einem System, das alle Volksgefühle, jede ächte Nationalität zu vernichten suchte, um das ganze Volk in einen Haufen von Sklaven und verächtlichen Werkzeugen verruchter Absichten zu verwandeln.«438 Hier klingt ein weiteres Argument an, das Rühs an anderer Stelle noch deutlicher ausführt: Er vermutet eine konspirative Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Juden im Rahmen der Französischen Revolution und bei der anschließenden Okkupation der deutschen Länder durch französische Truppen.439 Damit kann er den Juden eine loyale Haltung zu den deutschen Teilstaaten absprechen und sie einmal mehr als fremdartigen Bestandteil identifizieren. Allerdings sind auch Rühs’ Texte Zeugnisse einer Schwellensituation, in der sich nationale und religiöse Judenfeindschaft in schwer entwirrbarer Weise vermengen. So offeriert der Universitätsgelehrte den Juden eine einzige Möglichkeit, die nicht nur eine »feierliche Einbürgerung«440, sondern – im Sinne des romantischen Nationalgedankens – auch eine »Aneignung der deutschen Volkseigenthümlichkeit«441 ermöglichen würde: Sie müßten das Christentum annehmen und dem Judentum abschwören, denn »die Erhaltung ihrer [sie vom deutschen Volk unüberbrückbar trennenden, M. P.] Volkseigenthümlichkeit ist an ihre Religion gebunden, die zugleich eine trennende politische Tendenz hat.«442 Er empfiehlt den Regierungen daher als eine von drei Maßnahmen im künftigen Umgang mit dem Judentum, durch »Bekehrungsanstalt[en]«443 Konversionen massiv zu forcieren.444 »[U]nmenschlich ist es, den Juden einen 434 435 436 437 438 439
440 441 442 443 444
Zum Vergleich zwischen Fries und Rühs: Altgeld, Katholizismus, Protestantismus (wie Anm. 335), S. 47–50 sowie S. 186–189. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 34. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 35. Ebd. Ebd., S. 36. »An der französischen Revolution haben die Juden als Spione einen sehr lebhaften Antheil gehabt; [...] Die französische Polizei in Hamburg hatte nach öffentlichen Zeugnissen [...] unter den dortigen Juden ihre getreuesten und glücklichsten Helfershelfer und Werkzeuge.« Ebd., S. 73. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 37. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 37. Die beiden anderen Maßnahmen sind eine neue rechtliche Definition des Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden, aus der klar hervorgehen soll, daß die Juden lediglich geduldet werden, sowie die Verhinderung einer Vermehrung der Juden
VI Friedrich Rühs und die Systematisierung des Diskurses
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Vorwurf zu machen, daß sie Juden sind; nur darin liegt ihre Schuld, daß sie es bleiben«445, schreibt Rühs. Der Übertritt muß freilich aus innerer Überzeugung und aus einem echten Bekenntnis zum Christentum erfolgen; den Programmatiken der Politischen Romantik gemäß, hält Rühs weder von dem Konzept einer Vernunftreligion noch von den Bemühungen des Reformjudentums etwas: »[S]ie bilden ein Mittelding zwischen Juden und Christen, das sich eine eigne Art von völlig unhaltbarer natürlicher Religion, eine moralische Religion der Convenienz und des Vortheils, in thörigtem Dünkel zusammengesetzt hat, eine eigne Secte, die kein Staat anerkennt und die nur eine stillschweigende Duldung genießt.«446 Von solchen Vermittlungsversuchen einmal abgesehen, die Rühs der »Flachheit der Aufklärer«447 in Rechnung stellt, hält der Geschichtsprofessor also eine Konversion und den Einschluß des geläuterten einzelnen Juden in das »unauflösliche[] Ganze[]«448 des deutschen Volkes für möglich. In diesem Zusammenhang scheint er weniger restriktiv zu argumentieren als Arnim oder Arndt, die die Erfolgschancen einer Assimilation des getauften Juden an das deutsche Volk weitaus skeptischer beurteilen. Auf der anderen Seite gerät Rühs dadurch freilich mit seiner Konzeption der »Volkseigenthümlichkeit« in Konflikt, hatte er doch die Zugehörigkeit zur deutschen Nation – in Abgrenzung zum »leidige[n] Citoyen«449, also dem französischen Staatsbürger – an Kriterien festgemacht, deren Erfüllung gerade nicht dem Entscheidungsbereich des einzelnen Individuums obliegen; dabei war er partiell von biologischen Prämissen ausgegangen, etwa in der Annahme einer schwächeren körperlichen Konstitution der Juden oder mit dem Argument, daß die Abstammung die Volkszugehörigkeit definiere. Wenn er Juden nunmehr konzediert, aus freiem Entschluß mit dem Übertritt zum Christentum auch ein Mitglied des deutschen Kollektivs werden zu können, führt Rühs über die Hintertür jene voluntaristische Komponente der nationalen Zugehörigkeit wieder ein, die er eigentlich über den Verweis auf vermeintlich substantielle Werte hatte ausschließen wollen. Diesen Widerspruch nivelliert Gerald Hubmann, der darauf insistiert, daß die Schriften von Rühs und Fries zwar die Forderung nach einer »völlige[n] Assimilation der Juden an das deutsche Volkstum und die christliche Sittlichkeit«450 und damit das »Ziel einer sittlichen Ausrottung des Judentums«451
445 446 447 448 449 450 451
durch Einwanderung. Vgl. ebd., S. 32f. sowie Hubmann, Völkischer Nationalismus (wie Anm. 383), S. 20f. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 35. Ebd., S. 6. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 9. Rühs, Ueber die Ansprüche (wie Anm. 384), S. 4. Rühs, Rechte des Christenthums (wie Anm. 380), S. 47. Hubmann, Völkischer Nationalismus (wie Anm. 383), S. 30. Ebd., S. 11.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
enthielten, ein »biologisch begründetes Trennungsdenken«452 aber hier noch nicht zu erkennen sei. Eine derart idealtypische Scheidung zwischen der »Vorurteilsstruktur eines habituellen Antisemitismus«453 und dem »späteren Rassedenken«454 ist mit der widersprüchlichen Argumentationsstrategie in Rühs’ Pamphleten schwerlich in Einklang zu bringen. Allerdings muß Hubmann Recht gegeben werden, wenn er diesen »habituellen Antisemitismus« als »ein Resultat des aufkommenden Nationaldenkens«455 begreift und über die »romantische[] Volkstumslehre«456 begründet sieht. Indes werden die Elemente des romantischen Nationalgedankens in den Texten von Friedrich Rühs trotz der besagten Inkonsequenz systematischer als bei Fichte, Müller oder Arndt gegen das jüdische Emanzipationsverlangen in Stellung gebracht. Insofern ist es die fragwürdige ›Leistung‹ des Berliner Historikers, Ordnung in einen fatalen Diskurs gebracht zu haben. Es steht zu befürchten, daß Rühs auch deshalb von den nationalistischen Studentenverbindungen wie ein »Idol«457 verehrt wurde.
VII Fataler Konsens Für seine Polemik gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden erhält der Geschichtsprofessor Rühs Unterstützung von prominenter Seite. Jakob Friedrich Fries, Philosophieprofessor in Heidelberg, lobt die Texte des Kollegen als »interessante geschichtliche Nachweisung über das Wesen der Judenschaft«458 und stimmt ihnen in vielen Punkten zu.459 Auch er ist der Ansicht, dass die Juden ein »eignes Volk«460 bilden, das sich »notwendig von unsrer Deutschen Volksgemeinschaft«461 trennt; das milieutheoretische Argument, mit dem Dohm die Minderheit in Schutz genommen hatte, wird auch von Fries verworfen, der aus den Erläuterungen von Rühs sogar schließt, daß die Juden »in vielen Dingen über die Gebühr begünstigt waren«462. Egal, wie man Juden 452 453 454 455 456 457
458
459 460 461 462
Ebd., S. 31. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Hubmann, Ethische Überzeugung (wie Anm. 391), S. 157. John Weiss: Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997, S. 109. Jakob Friedrich Fries: Sämtliche Schriften. Hg. von Gert König und Lutz Geldsetzer. Band 25: 2. Band der sechsten Abteilung: Rezensionen. Aalen: ScientiaVerlag 1996, S. 150. Ebd., S. 150–173. Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. Ebd., S. 157.
VII Fataler Konsens
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behandelte – »ihr Schmutz, ihre Arbeitsscheu, ihre Wuth auf prellsüchtigen Handel blieben immer dieselben. Sie ziehen sich vom fleißigen Gewerbe zurück; nicht weil man sie hindert, es zu ergreifen, sondern weil sie es nicht wollen«463. Fries geht von einem unveränderlichen jüdischen Volkscharakter aus: »Mochten sie, wie unter einigen weisen Deutschen Regierungen in der größten Beschränkung leben, oder wie in Spanien und Pohlen herrschen – sie waren und blieben immer dieselben schmutzigen und rohen Schacherer.«464 Letztlich hat die »Judenkaste«465 Fries zufolge dort, »wo sie zugelassen wird, auf das ganze Volk, oben wie unten, auf hohe und niedere eine fürchterliche demoralisirende Kraft«466. Die Folgen für die Deutschen sind fatal, wie das von Fries entworfene Bedrohungsszenario verdeutlicht: »Laßt sie nur noch 40 Jahre so wirthschaften und die Söhne der christlichen ersten Häuser mögen sich als Packknechte bei den Jüdischen verdingen.«467 Die Konsequenzen, die der Heidelberger zieht, übertreffen die des Berliner Historikers in ihrer Radikalität: »Wenn unsere Juden nicht dem Greuel des Ceremonialgesetzes und Rabbinismus gänzlich entsagen und in Lehre und Leben so weit zur Vernunft und Recht übergehen wollen, daß sie sich mit den Christen zu einem bürgerlichen Verein verschmelzen können, so sollten sie bey uns aller Bürgerrechte verlustig erklärt werden, und man sollte ihnen, wie einst in Spanien, den Schutz aufsagen, sie zum Lande hinaus weisen.«468 Fries predigt keine Vernichtungsphantasien gegenüber einzelnen Juden, das Judentum als solches aber will er in den deutschen Ländern nicht mehr sehen: »Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören.«469 Allerdings – hier unterscheidet sich Fries von Rühs, aber auch von Arndt, Müller und den anderen romantischen Autoren, die es im folgenden noch vorzustellen gilt – macht es Fries den Juden zum Vorwurf, dass sie es nicht versucht hätten, sich mit den Deutschen zu vermischen, sondern auf ihrer »physische[n] Absonderung«470 beharrt hätten.471 Unabhängig von dieser argumentativen Differenz, hat auch Fries mit seiner – viel beachteten472 – zustimmenden Rezension zu dem Traktat von Rühs dazu 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472
Ebd., S. 157. Ebd., S. 163f. Ebd., S. 165. Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 172. Ebd., S. 157. Ebd., S. 159. Vgl. hierzu Hubmann, Ethische Überzeugung (wie Anm. 391), S. 183. Vgl. ebd., S. 177 sowie Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. Aus dem Englischen übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. München: C. H. Beck 1994, S. 162. Vgl. zu Fries auch Gert König: In den Fesseln des Zeitgeists? Jakob Friedrich Fries, der Vor-
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beigetragen, die Integration der jüdischen Minderheit in das Bild und die Vorstellung einer deutschen Volksgemeinschaft zu verhindern. Bezüglich der Juden herrschte ein fataler Konsens unter den romantischen Autoren, wie abschließend noch einige kurze Hinweise auf weitere Protagonisten der Politischen Romantik verdeutlichen sollen. Friedrich Carl von Savigny beklagt sich im Jahr 1816,473 daß aufgrund einer »mißverstandene[n], übel angewendete[n] Humanität«474 zwischen »Einheimischen und Fremden«475 nicht mehr ausreichend differenziert werde. Ein »gesunder kräftiger Staat«476, so die Mahnung des Rechtsgelehrten, sei jedoch auf die »Aufstellung sichtbarer Gränzen zwischen Bürgern und Fremden«477 angewiesen. Diese Grenze kann auch innerhalb des politischen Kollektivs verlaufen, wie Savignys Ausführungen deutlich machen. »Vollends die Juden«, heißt es nämlich weiter, »sind und bleiben uns ihrem innern Wesen nach Fremdlinge, und dieses zu verkennen konnte uns nur die unglückseligste Verwirrung politischer Begriffe verleiten«478. Joseph Görres wiederum »verwünscht« in seinen Schriftproben von Peter Hammer (1808)479 »jenes schachernde Volk, das die Ehre der Nation auf dem literärischen Trödelmarkte vergaunert, und Alles mit seinem Unrath befleckt, [...] in den Abgrund der Hölle«480. Ähnlich drastisch äußert sich Wilhelm
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gänger Hegels. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 515–527. Im Heft eins der von ihm sowie Eichhorn und Göschen herausgegebenen Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. Die Aufsätze wurden 1828 als »Erste Beylage« der zweiten Auflage von Savignys Schrift Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814) angefügt. Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814. In: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. Hg. von Hans Hattenhauer. München: Vahlen 1973, S. 241. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.; zu Savignys politischen Positionen siehe Hans Reiss: Politisches Denken in der deutschen Romantik. Bern, München: Francke 1966 (Dalp-Taschenbücher; 386), S. 73–76. Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808). Hg. von Günther Müller. Köln: Gilde-Verlag 1926, S. 337–362 Ebd., S. 343. Zu Görres politischen Auffassungen vgl. vor allem Jutta Osinski: Joseph Görres als Zeitkritiker: Revolution – Nation – Konfession. In: Aurora 57 (1997), S. 11–24, aber auch Reiss, Politisches Denken (wie Anm. 478), S. 54–59; Laszlo Tarnoi: Joseph Görres zwischen Revolution und Romantik. Budapest: Lora´nd-Eötvös-Universität 1970 (Budapester Beiträge zur Germanistik; 1); EstherBeate Körber: Görres und die Revolution. Wandlungen ihres Begriffs und ihrer Wertung in seinem politischen Weltbild 1793 bis 1819. Husum: Matthiesen 1986 (Historische Studien; 441); Marcus Bauer: Der Athanasius von Joseph Görres. Ein
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Grimm, der im November 1809 die Juden als ein »fatales Volk« brandmarkt, dem man nicht ausweichen könne: »[W]er dann ein braver Christ ist, muß ein Jude werden, um nicht unter sie zu gerathen.«481 Otto Heinrich Graf von Loeben, der Mentor des jungen Joseph von Eichendorff,482 verknüpft nach dem vertrauten Muster antifranzösische mit antijüdischer Polemik, als er Eichendorff in einem Brief von seinen Eindrücken aus Paris berichtet: »Ich habe mich immer mehr überzeugt, daß das politische Judentum in diesem Volk [den Franzosen, M. P.] gegründet ist und daß es dereinst noch wie die Juden in alle Himmelsgegenden vertrieben werden möchte wenn seine überall leider! einheimischen Ansichten und Worte nicht eben schon solche ausgewanderte, vaterlandslose, unstete, listige Juden sind, die unseren politischen Heiland gekreuzigt haben.«483 Und Friedrich Ludwig Jahn, der »Turnvater«484, macht deutlich, gegen wen er die durch die Leibesübungen gewonnene körperliche Athletik eingesetzt wissen will, wenn er in einem Brief an Theodor Müller schreibt: »Und darauf verlaß Dich: So wird die preußische Landwehr noch nie geklopft haben, als im Gottesgericht wider Junker, Juden, Gauner, Gaukler und Garden. Gott verläßt keinen Deutschen.«485 In seiner Schrift über Deutsches Volkstum beklagt er die
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politisch-kirchliches Dokument im Spannungsfeld zwischen Politik und Theologie, Liberalismus und Konservativismus, Geistesfreiheit und Dogmenstrenge. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2002 (Europäische Hochschulschriften; 933), S. 15–58; Michael Gamper: Rhetorik und Poetik der Menschenmenge. Die Erneuerung des politischen Sprechens bei Görres und Eichendorff. In: Athenäum 15 (2005), S. 31–63. Wilhelm Grimm an Loise Reichardt, Brief im November 1809. In: Reinhold Steig: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Mit Brentanos Bildnis. Stuttgart, Berlin: Cotta 1914, S. 28. Zum Verhältnis zwischen Loeben und Eichendorff vgl. Günther Schiwy: Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2007, S. 221–232. Loeben, konstatiert Schiwy, »hat als erster Eichendorffs Genie erkannt und auch dann noch zu ihm gestanden und ihn durch seine Verbindungen entscheidend gefördert, als Eichendorff bereits über seinen ›Meister‹ hinausgewachsen war«. Gleichwohl hat Eichendorff in seinem Spätwerk den 1825 verstorbenen einstigen Freund und Mittler scharf karikiert.Vgl. ebd., S. 231f., Zitat ebd. Otto Heinrich von Loeben an Joseph von Eichendorff, Brief vom 7. Juni 1814. In: Joseph von Eichendorff. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Wilhelm Kosch und August Sauer. 13. Band. Briefe an Eichendorff. Hg. von Wilhelm Kosch. Regensburg: Habbel 1911, S. 21. Zu Jahn vgl. Klaus Hermsdorf: Literarisches Leben in Berlin. Aufklärer und Romantiker. Berlin: Akademie-Verlag 1987, S. 285–293 sowie Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1399), S. 103–115. Friedrich Ludwig Jahn an Theodor Müller, Brief vom 24. August 1816. In: Jahn, Die Briefe (wie Anm. 161), S. 69–72, hier S. 72.
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E Der Ausschluß des Judentums aus der deutschen Nationalgemeinschaft
»Weltflüchtigkeit«486 von Zigeunern wie Juden, denn »nichts ist ein Volk ohne Staat, ein lebloser lustiger Schemen«487. Noch ein letztes Beispiel: Im 110. Märchen der 1812 und 1815 herausgekommenen Kinder- und Hausmärchen der Grimm-Brüder, Der Jude im Dorn488, bringt ein fleißiger, redlicher, guter und vor allem auch »unkapitalistischer[]«489 deutscher Knecht einen Juden zur Strecke, der sich als Dieb und Lügner entpuppt und dafür schließlich mit dem Tode durch Erhängen bestraft wird. Mit diesem kurzen Verweis wäre aber freilich bereits die Textsorte gewechselt. Ging es bisher darum, anhand pamphletistischer und essayistischer Schriften den Ausschluß des Judentums aus der romantischen Vorstellung der deutschen Nation zu erweisen, sollen bei den nunmehr folgenden Autoren Achim von Arnim sowie Clemens Brentano auch fiktionale Texte zu Rate gezogen werden.
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Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Hg. und eingeleitet von Franz Brümmer. Leipzig: Reclam o. J. [ca. 1924] (Reclams Universal-Bibliothek; 2638/40), S. 18. Ebd. Wilhelm Grimm und Jacob Grimm: Kinder und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. von Heinz Rölleke. Band 2: Märchen Nr 87–200. Kinderlegenden Nr 1–10. Anhang Nr 1–28. Stuttgart: Reclam 2002 (Reclams Universal-Bibliothek; 3192), S. 124–129 Leif Ludwig Albertsen: Der Jude in der deutschen Literatur 1750–1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag. In: Arcadia 19 (1984), S. 28. Der »gute Knecht, der vom Geld wenig verstand«, läßt sich von seinem Herren für drei Jahre Arbeit mit drei Hellern abspeisen. W. Grimm/J. Grimm, Märchen II (wie Anm. 488), S. 125.
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»Der Jude geht wie ein Rätsel umher unter uns...« – Nationales Engagement und antisemitische Denunziation bei Achim von Arnim
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Arnim und die Forschung
Im dritten Buch seines 1835 erschienenen Essays Die romantische Schule1 kommt Heinrich Heine auf Ludwig Achim von Arnim zu sprechen.2 Er würdigt den fünf Jahre zuvor verstorbenen Herausgeber der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1805/1808) als einen der »originellsten Köpfe der romantischen Schule«3, wobei er ihn insbesondere gegenüber Clemens Brentano, Novalis und E.T.A. Hoffmann als den literaturgeschichtlich bedeutenderen Autor klassifiziert. »Ja, wenn ich Hoffmann selbst zuweilen betrachtete, so kam es mir vor, als hätte Arnim ihn gedichtet«4, schreibt Heine, der in dem »vortreffliche[n] Arnim«5 einen »große[n] Dichter«6 erkennt, dem allerdings weder von der Leserschaft noch von der literarischen Prominenz die ihm eigentlich gebührende Anerkennung zuteil geworden sei. In der Tat antizipiert Heines Lob für Arnim zwar die Bemühungen der jüngeren Germanistik, den lange verkannten Autor zu rehabilitieren, repräsentativ für seine Zeit ist es jedoch nicht. Ein häufig zitiertes Verdikt, das von Johann Wolfgang von Goethe überliefert wird, trifft den Tenor der zeitgenössischen Arnim-Kritik indes schon eher: »Er ist wie ein Faß, wo der Böttcher vergessen hat, die Reifen festzuschlagen, da läufts denn auf allen Seiten hinaus.«7 Doch nicht nur Goethe wahrte zu Arnims literarischer Produktion eine skeptische Distanz; auch die Mitglieder der »romantischen Schule« irritierte das »verfluchte[] Zussammenknitte1
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Vgl. Heinrich Heine: Werke in vier Bänden. Vierter Band: Schriften über Deutschland. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1994 (InselTaschenbuch; 1628), S. 166–298. Vgl. ebd., S. 255–263. Ebd., S. 255. Ebd. Ebd., S. 259. Ebd., S. 255. Goethe und die Romantik. Zwei Bände. Hg. von Carl Schüddekopf und Oskar Walzel. Weimar 1898/99. Band I, S. 364. Zit. n. Friedrich Strack: Phantasie und Geschichte. Achim von Arnim: Die Majoratsherren (1819). In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hg. von Winfried Freund. München: Fink 1993 (Uni-Taschenbücher; 1753), S. 59.
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F Nationales Engagement u. antisemitische Denunziation bei Achim von Arnim
lungs[]wesen«8 (Clemens Brentano), das Arnim in seinen Dichtungen angeblich betrieb. »[D]iese Unordnung in seinen Büchern ist dieselbe [...] wie in seiner Stube«9, schrieb Brentano, während der »stets schroffe«10 Jacob Grimm vermutete, daß Arnim »heimlich«11 an eben dieser Unordnung »seinen unüberwindlichen Spaß habe«.12 »Er arbeitet fast planlos«13, konstatierte wiederum Ludwig Tieck, und Wilhelm Grimm übte im Vorwort der von ihm und Bettina von Arnim veranstalteten ersten Werkausgabe Arnims14 ebenfalls leise 8
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Clemens Brentano an Bettina Brentano, Brief vom Juni 1809. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald u. a. Band 32: Briefe IV. 1808–1812. Hg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, S. 160–163, hier S. 162. An die Brüder Grimm, Brief vom 2. November 1810. In: Ebd., S. 284–295, hier S. 284f. So Renate Moering in Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band vier: Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Hg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 83), S. 1043. In einem Brief an Friedrich Carl von Savigny vom 3. November 1819. Zit. n. ebd., S. 1044. Ebd. Diese Kritik wurde unabhängig von der Debatte um Natur- und Kunstpoesie formuliert, mit der freilich der wohl tiefste Dissens zwischen den poetologischen Vorstellungen von Arnim und insbesondere Jacob Grimm markiert ist. Vgl. HansGünther Thalheim: Natur- und Kunstpoesie. Eine Kontroverse zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim über die Aneignung älterer, besonders volkspoetischer Literatur. In: Weimarer Beiträge 32 (1986), S. 1829–1849; Manfred Schrodi: Naturpoesie und Kunstpoesie. Ein Disput der Brüder Grimm mit Achim von Arnim. In: Perspektiven der Romantik: mit Bezug auf Herder, Schiller, Jean Paul, Friedrich Schlegel, die Brüder Grimm, Gottfried Keller, Rilke und den Avantgardismus. Beiträge des Marburger Kolloquiums zum 80. Geburtstag Erich Ruprechts. Hg. von Reinhard Görisch. Bonn: Bouvier 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 377), S. 50–62; Günter Niggl: Geschichtsbewußtsein und Poesieverständnis bei den »Einsiedlern« und den Brüdern Grimm. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 216–224; Joseph Kiermeier-Debre: »... was bloß erzählt und nicht geschehen...«. Dichtung und Geschichte: Achim von Arnims Poetik im Einleitungstext zu seinem Roman Die Kronenwächter. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 117–146. Ludwig Tieck: Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen. Hg. von Rudolf Köpke. Band 2. Leipzig 1855, S. 203. Zit. n. Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Frankfurt a. M., Bern u. a.: Peter Lang 1996, S. 56. Sie erschien zwischen 1839 und 1856 in 21 Bänden. Vgl. Dagmar von Gersdorff: Bettina und Achim von Arnim. Eine fast romantische Ehe. Berlin: Rowohlt 1997, S. 192 sowie Johannes Barth: Arnim-Bibliographie 1925–1995. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tü-
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Kritik an dessen Dichtungen: »Es ist wahr, manchmal war der Becher zu klein, und der Wein strömte über, oder er war zu groß, und wurde nicht bis zum Rande gefüllt, immer aber war der Duft, der davon aufstieg, rein und erfrischend.«15 Die Kritik der Zeitgenossen an Arnims poetischer Verfahrensweise, für die diese wenigen Beispiele genügen mögen,16 wurde durch eine »Goethe verehrende[] Germanistik«17 bis in die 1950er Jahre tradiert. »Mangelhafte Verknüpfung der Teile, Überfülle der Handlung, unglaubhaft dargestellte Figuren, unvermitteltes Aufeinanderprallen von lebensnahen Realismus und nebelhafter Phantastik«18, lauteten die stereotyp wiederholten Vorwürfe, die Hermann August Korff noch 1953 zu der Erwägung veranlassen sollten, ob denn der Autor nicht »in die Pathologie der Literaturgeschichte zu verweisen«19 sei. Daß »Arnims seltsame[s] Dichtertum«20 eben dort nicht landete, sondern sich vielmehr lebhafter Debatten in der gegenwärtigen Germanistik erfreut,21
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bingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 251. Wilhelm Grimm: Vorwort. In: Ludwig Achim von Arnim. Sämmtliche Werke. Erster Band. Novellen I. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1857. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1982, S. VIII. Vgl. zur Arnim-Forschung den sehr guten Überblick bei Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 11–17 bzw. S. 48–81 sowie noch immer den Forschungsbericht von Volker Hoffmann: Die Arnim-Forschung 1945–1972. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Sonderheft 1973), S. 271–342. Vgl. zudem Barth, Arnim-Bibliographie (wie Anm. 14). Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 73. Ebd., S. 80. H[ermann] A[ugust] Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Teil IV: Hochromantik. 6. Aufl. Leipzig: Koehler & Amelang 1964, S. 327. Ebd. Im Jahr 1994 hat Michael Andermatt moniert, daß Arnims Werk in der Forschung noch immer »eher am Rande« figuriere. Vgl. Michael Andermatt: Einleitung. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 7. Ein gutes Jahrzehnt später erweist sich dieser Befund als überholt. Viele neu erschienene Sammelbände zeugen von der regen Beschäftigung mit einem Autor, dessen Werk in jüngerer Vergangenheit auch immer wieder Gegenstand umfangreicher Spezialuntersuchungen wurde: Vgl. Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation; mit unbekannten Dokumenten. Hg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer. Bern, Frankfurt a. M., New York, Paris: Peter Lang 1990 (Germanic Studies in America; 60); »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994; Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18); Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft;
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ist das Verdienst besonders zweier literaturwissenschaftlicher Verfahrensweisen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich dazu beigetragen haben, daß das frühere Arnim-Bild korrigiert wurde: Gemeint sind die Werkimmanenz und der Poststrukturalismus.22 Die werkimmanente Methode der 1950er und 60er Jahre, mit der, wie »man mit einem gewissen Recht sagen [kann], [...] die Arnim-Forschung erst eigentlich ihren Anfang nahm«23, bemühte sich darum, den Vorwurf der Formlosigkeit entweder über den Nachweis verborgener Formstrukturen zu widerlegen,24 oder aber die Heterogenität in Arnims Werk aus mündlichen Erzähltraditionen herzuleiten und mithin zu legitimieren.25
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1); »Frische Jugend, reich an Hoffen«. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 2); Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3) sowie Peter Staengle: Achim von Arnims poetische Selbstbesinnung. Studien über Subjektivitätskritik, poetologische Programmatik und existenzielle Selbstauslegung im Erzählwerk. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (Europäische Hochschulschriften; 1038); Ulfert Ricklefs: Magie und Grenze. Arnims »Päpstin Johanna«-Dichtung. Mit einer Untersuchung zur poetologischen Theorie Arnims und einem Anhang unveröffentlichter Texte. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1990 (Palaestra; 285); Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen: Max Niemeyer 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 56); Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert: Röhrig 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; 23); Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13). Freilich wurde Arnim unter NS-Vorzeichen ebenfalls beleuchtet: Siehe Hans-Uffo Lenz: Das Volkserlebnis bei Ludwig Achim von Arnim. Berlin: Ebering 1938 (Germanische Studien; 200). Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 12. Vgl. etwa die Arbeiten von Heinz Günter Hemstedt: Symbolik der Geschichte bei Ludwig Achim von Arnim. Phil. Diss. Göttingen 1956; Ernst-Ludwig Offermanns: Der universale romantische Gegenwartsroman Achim von Arnims. Die »Gräfin Dolores« – Zur Struktur und ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Phil. Diss. masch. Köln 1959; Heinrich Henel: Arnims ›Majoratsherren‹. In: Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka. Interpretationen IV. Frankfurt a. M., Hamburg: Fischer 1966 (Fischer-Bücherei; 721), S. 151–178; Ernst Schürer: Quellen und Fluss der Geschichte: Zur Interpretation von Arnims Isabella von Ägypten. In: Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur. Festschrift für Heinrich E. K. Henel. Hg. von Jeffrey L. Sammons und Ernst Schürer. München: Fink 1970, S. 189–210 und noch Gerhard Möllers: Wirklichkeit und Phantastik in der Erzählweise Achim von Arnims. Arnims Erzählkunst als Ausdruck seiner Weltsicht. Phil. Diss. masch. Münster 1972. Vgl. Wolfdietrich Rasch: Achim von Arnims Erzählkunst. In: Der Deutschunterricht 7 (1955), H. 2, S. 38–55; Wolfdietrich Rasch: Reiz und Bedeutung des Unwahr-
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Die von der poststrukturalistischen Theoriebildung26 beeinflußten Arbeiten der jüngeren und jüngsten Vergangenheit dagegen übernahmen den alten Vorwurf und änderten nur die Vorzeichen. Weil es der von dekonstruktivistischen Ansätzen ausgehenden Literaturwissenschaft bekanntlich gerade darum geht, »die Heterogenität der von ihr ins Auge gefaßten Werke heraus[zu]streichen«27, avancierte jene vermeintliche formale Willkür, die die ältere Kritik moniert hatte, nunmehr geradezu zum Gütesiegel von Arnims literarischer Produktion. Der Komplex, um den es im folgenden gehen soll – die Konstruktion eines »deutschen« und eines »jüdischen Wesens« in Arnims Oeuvre – konnte freilich weder unter werkimmanenten noch unter poststrukturalistischen Prämissen eine adäquate Berücksichtigung finden. Die werkimmanente Methode, die fachgeschichtlich als Reflex auf die unsägliche Rolle, die die deutsche Germanistik in der NS-Zeit spielte,28 begriffen werden muß, verstand literarische Werke als »Wortkunst ohne Geschichte« (Klaus L. Berghahn);29 Wolfgang Kaysers Diktum, wonach »Dichtung [...] nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge«30 lebe und
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scheinlichen in Erzählungen Arnims. In: Aurora 45 (1985), S. 301–309 oder Werner Vordtriede: Achim von Arnim. In: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Hg. von Benno von Wiese. 2. Aufl. Berlin: Schmidt 1983, S. 323f. Vgl. zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion: Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart: J. B. Metzler 1988 (Sammlung Metzler; 246), S. 110–137; Peter V. Zima: Literarische Ästhetik. 2. Aufl. Tübingen, Basel: Francke 1995 (Uni-Taschenbücher; 1590), S. 315–363; Caroline Pross und Gerald Wildgruber: Dekonstruktion. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 409–429; Stefan Münker und Alexander Roesler: Poststrukturalismus. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2000 (Sammlung Metzler; 322); Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004 (Einführungen Germanistik), S. 90–120; Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel: Francke 2004 (Uni-Taschenbücher; 2587), S. 318–337; Klaus Michael Bogdal: Einleitung: Von der Methode zur Theorie. Zum Stand der Dinge in den Literaturwissenschaften. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus Michael Bogdal. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 24–29. Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994 (rowohlts enzyklopädie; 534), S. 219. Vgl. ebd., S. 83–120. Vgl. Klaus L. Berghahn: Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945. In: Am Beispiel Wilhelm Meister. Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Hg. von Klaus L. Berghahn und Beate Pinkerneil: Band 1: Darstellung. Königsstein/Taunus: Athenäum 1980 (AthenäumTaschenbücher; 2159), S. 98–112. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Fünfte Aufl. Bern, München: Francke 1959, S. 5.
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entstehe, ist symptomatisch für ein Literaturverständnis, das alle politischen Implikationen der Texte radikal ausblendete.31 Vor diesem Hintergrund konnte zwar in der Analyse von Arnims Texten vereinzelt mit Bedauern der »finstere[] Antisemitismus«32 als »vielleicht [...] einzige[r] Makel an diesem edlen Manne«33 moniert werden, zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den politischen Intentionen des Autors einschließlich seiner judenfeindlichen Haltung kam es indes nicht. Da die von der poststrukturalistischen »Ideologie der Ideologielosigkeit«34 (Jost Hermand) inspirierten Arbeiten wiederum »jeden Universalsinn von Texten im Zuge polydimensionaler Ausdeutungsmöglichkeiten zu unterminieren suchen«35, findet auch in diesen Studien keine Auseinandersetzung mit dem politischen Arnim statt. »Die ›politische‹ Intention des Autors ist etwas Zugefügtes und Ideologisches, sie bleibt dem poetischen Werk äußerlich«36, dekretiert etwa Ulfert Ricklefs im Hinblick auf Arnims Doppeldrama Halle und Jerusalem (1810) – er formuliert damit einen Konsens zwischen den betreffenden Untersuchungen, die sich dezidiert gegen alle Versuche wenden, in Achim von Arnim »einen moralisierenden Zeitkritiker«37 zu sehen, und stattdessen auf die »Offenheit und Ambivalenz«38 seiner Texte verweisen.39 31
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Vgl. hierzu auch die knappen Hinweise bei Jost Hermand: Neuere Entwicklungen zwischen 1945 und 1980. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997 (rowohlts enzyklopädie; 55523), S. 564–569 sowie – kritisch zu Hermand und Berghahn – Lutz Danneberg: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation. In: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hg. von Wilfried Barner und Christoph König. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996 (Fischer. Kultur und Medien), S. 313–342 und Peter Rusterholz: Formen ›textimmanenter‹ Analyse. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 365–385. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 168. Ebd. Hermand, Geschichte Germanistik (wie Anm. 27), S. 213. Vgl. dazu auch die ebenso pointierten wie geistreichen Abhandlungen von Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Aus dem Englischen von Jürgen Pelzer. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1997 sowie Ideologie. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Anja Tippner. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2000. Hermand, Geschichte Germanistik (wie Anm. 27), S. 219. Ulfert Ricklefs: ›Ahasvers Sohn‹. Arnims Städtedrama »Halle und Jerusalem«. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 1), S. 164. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 15. Ebd., S. 470. Münker/Roesler, Poststrukturalismus (wie Anm. 26), S. 141 beschreiben die dekonstruktivistische Literaturanalyse als eine »Suche nach d[er] Aporie«.
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Das »grundsätzliche[] Moment der dynamischen Bedeutungsinfragestellung«40, das Christoph Wingertszahn und Michael Andermatt in Arnims Werk im Anschluß an die frühromantische Ironiekonzeption Friedrich Schlegels diagnostizieren,41 suspendiert mithin auch die politischen Implikationen der Texte42 und ihre potentiell reaktionäre Brisanz.43 Diese Versuche, die Unbestimmtheit von Arnims Werken »programmatisch festschreiben zu wollen«44, entstanden in dezidierter Abgrenzung zu der sozialgeschichtlich argumentierenden Forschung aus den 1970er und 80er Jahren, die sich durchaus mit den politischen Vorstellungen Arnims befaßt hatte, wobei insbesondere die didaktischen Elemente in Arnims Romanen,45 Erzählun-
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Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 84. Vgl. ebd., S. 80–96 sowie Andermatt, Verkümmerts Leben (wie Anm. 13), S. 529– 551. Christoph Wingertszahn läßt es denn auch mit schmalen Verweisen auf die »beklagenswerte[n] antisemitische[n] Tendenzen« in Arnims Werken bewenden, was der Problematik ebenso wenig angemessen ist wie Ulfert Ricklefs’ Rede von dem »phantastische[n] politisch-kulturelle[n] Konzept der vaterländisch christlichen Integration der Juden«, das Arnim in Halle und Jerusalem imaginiere. Michael Andermatt äußert sich nur in einer Fußnote zu Arnims »bedauerlich[er] und beschämend[er]« antisemitischer Haltung, die er für »schwer verständlich« hält, da der Autor immerhin »ein kultivierter Mensch« gewesen sei. Andermatts Ratlosigkeit spiegelt sich auch in der Widersprüchlichkeit seiner Ausführungen. Zunächst spricht er von Arnims »insgesamt ambivalent[er]« Darstellung des Judentums, kurz darauf diagnostiziert er einen »grundsätzliche[n] Antisemitismus« zumindest für die Jahre 1809 bis 1812. Vgl. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 120; Ulfert Ricklefs: Vorwort. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. XX sowie Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 341, Anm. 138. »Die Möglichkeit von Dekonstruktionen [...] macht den Nachvollzug der Konstruktionen nicht überflüssig«, betont dagegen Claudia Breger zu Recht. Claudia Breger: Ortlosigkeit des Fremden. »Zigeunerinnen« und »Zigeuner« in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998 (Literatur-KulturGeschlecht: Grosse Reihe; 10), S. 269. Günter Oesterle: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. Aufklärerische Anthropologie und romantische Universalpoesie. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 41. Vgl. u. a. Horst Meixner: Romantischer Figuralismus. Kritische Studien zu Romanen von Arnim, Eichendorff und Hoffmann. Frankfurt a. M.: Athenäum 1971 (Ars poetica; 13), S. 13–101 sowie Renate Moering: Die offene Romanform von Arnims »Gräfin Dolores«. Mit einem Kapitel über Vertonungen Reichardts u. a. Heidelberg: Winter 1978 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik; 16).
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gen46 und Dramen47 betont und in den Zusammenhang der Intentionen seiner journalistischen Produktion48 gestellt wurden. Mit den judenfeindlichen Positionen des Autors beschäftigten sich allerdings auch diese Untersuchungen nur am Rande, was zum Teil daran lag, daß sie ebenfalls apologetisch argumentierten und in erster Linie darauf bedacht waren, den Autor von dem Vorwurf freizusprechen, er sei ein erzkonservativer Junker gewesen;49 zum anderen 46
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Vgl. u. a. Hans-Georg Werner: Arnims Erzählung »Metamorphosen der Gesellschaft«. Zur Schaffenseigenart und -problematik eines Romantikers in der Restaurationszeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 18 (1969), S. 183– 195; Hermann F. Weiss: Achim von Arnims »Metamorphosen der Gesellschaft«. Ein Beitrag zur gesellschaftskritischen Erzählkunst der frühen Restaurationsepoche. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972), S. 234–251; Hermann F. Weiss: Achim von Arnims Harmonisierungsbedürfnis. Zur Thematik und Technik seiner Novellen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 15 (1974), S. 81–99; Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Prosaentwürfe Achim von Arnims zur Zeitkritik um 1810. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1977), S. 251–291; Helene M. Kastinger Riley: Idee und Gestaltung: Das konfigurative Strukturprinzip bei Ludwig Achim von Arnim. Bern, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1977 (Utah Studies in Literature and Linguistics; 6); Hans-Georg Werner: Zur Wirkungsfunktion des Phantastischen in Erzählungen Ludwig Achim von Arnims. In: Weimarer Beiträge 25 (1979), S. 22–40; Bernd Fischer: Literatur und Politik – Die ›Novellensammlung von 1812‹ und das ›Landhausleben‹ von Achim von Arnim. Frankfurt a. M., Bern: Peter Lang 1983 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 1); Vickie L. Ziegler: Schreibt für Deutschland: Achim von Arnims »Wintergarten« als nationale Literatur. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen GermanistenKongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Band 9: Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation? Hg. von Franz Norbert Mennemeier und Conrad Wiedemann. Tübingen: Max Niemeyer 1986, S. 208–219. Vgl. u. a. Lothar Ehrlich: Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas. Phil. Diss. masch. Halle/Saale 1970. Vgl. u. a. Hans-Georg Werner: Freiherr vom Stein, die preußischen Reformen und das dichterische Weltbild Ludwig Achim von Arnims. In: Preußische Reformen – Wirkungen und Grenzen. Aus Anlaß des 150. Todestages des Freiherrn vom und zum Stein. Hg. von Heinrich Scheel. Berlin: Akademie-Verlag 1982 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR), S. 115–124; Albert PortmannTinguely: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und »Freiheitssängern«: Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner. Freiburg/Schweiz: Universitäts-Verlag 1989 (Historische Schriften der Universität Freiburg; 12), S. 156–229. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Arbeiten Jürgen Knaacks und Helene M. Kastinger Riley zu nennen. Vgl. Jürgen Knaack: Achim von Arnim – Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Mit ungedruckten Texten und einem Verzeichnis sämtlicher Briefe. Darmstadt: ThesenVerlag 1976 (Germanistik; 8); Helene M. Kastinger Riley: Die Feder als Schwert: Ludwig Achim von Arnims politische Aufsätze. In: Etudes Germaniques 37 (1982), S. 444–456; Jürgen Knaack: Achim von Arnim: eine politische Biographie. In: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation; mit unbekannten Dokumenten. Hg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer. Bern, Frankfurt
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wurde der »irrational bornierte[] Antisemit[ismus]«50 Arnims – wenn überhaupt – nur als unerfreulicher Appendix, nicht jedoch als inhärenter Bestandteil seines politischen Weltbildes verstanden. Ein Beispiel für diese Richtung bietet Winfried Freund, der in seiner Analyse der Erzählung Isabella von Ägypten (1812) auch auf die von einem Juden verfertigte Golem-Figur zu sprechen kommt. Freund findet dabei »[b]edauerlich [...], daß Arnim an dieser Stelle, völlig unnötig, seiner antisemitischen Einstellung freien Lauf läßt und dadurch bis heute seinem Werk geschadet hat«51. Das Feindbild des Juden ist für die Komposition der Isabella aber gerade nicht »völlig unnötig«, sondern konstitutiv: Darin liegt die Brisanz dieser Dichtung, die Freunds peinlich berührte Distanznahme nicht zu erfassen vermag. Den frühen Hinweisen von Josef Körner52 und Eckart Kleßmann,53 die in schmalen Beiträgen eine kritische Prüfung von Arnims Haltung zu der jüdischen Minderheit postuliert hatten, wurde folglich erst sehr spät nachgegangen.
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a. M.: Peter Lang 1990 (Germanic Studies in America; 60), S. 9–24; Helene M. Kastinger Riley: Zeit im Umbruch. Die politische Journalistik Ludwig Achim von Arnims. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 103–116; Helene M. Kastinger Riley: Die Politik einer Mythologie: Achim von Arnims Schriften im Spiegel von Baron vom Steins Programm. In: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Hg. von Gerhard Hahn und Ernst Weber. Regensburg: Pustet 1994, S. 25–35; Jürgen Knaack: Achim von Arnim und der »Preußische Correspondent«. Eine letzte großstädtische Aktivität vor dem Umzug nach Wiepersdorf. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen ArnimGesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 133–141; Jürgen Knaack: Achim von Arnim, der Preußische Correspondent und die Spenersche Zeitung in den Jahren 1813 und 1814. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 41–51. Vgl. aber – für die Lyrik – auch Thomas Sternberg: Die Lyrik Achim von Arnims. Bilder der Wirklichkeit – Wirklichkeit der Bilder. Bonn: Bouvier 1983 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 342), S. 82–99. Fischer, Literatur und Politik (wie Anm. 46), S. 46. Fischer konstatiert allerdings zu Recht, daß Arnim die jüdische Minderheit aus seinem »Volksbegriff ausschließt«. Ebd.; Jürgen Knaack dagegen läßt es mit dem Hinweis bewenden, daß Arnims »gestörte[s] Verhältnis [...] zu den Juden nicht übersehen« werden dürfe. Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 38. Winfried Freund: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1990 (Sprache und Literatur; 129), S. 51. Interessant ist allerdings Freunds zutreffende Beobachtung, daß Heine »mit Blick auf die literarische Qualität offenbar keinen Anstoß an Arnims Entgleisung« (ebd.) genommen hat. Vgl. Josef Körner: Romantischer Antisemitismus. In: Jüdischer Almanach auf das Jahr 5691. Prag 1931/32, S. 144–149. Vgl. Eckart Kleßmann: Romantik und Antisemitismus. In: Monat 21 (1969), H. 244, S. 65–71.
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Den Ausgangspunkt hierfür bildete die für jedwede ernsthafte Beschäftigung mit Arnim noch immer unentbehrliche Dissertation Heinz Härtls aus dem Jahr 1971, die mit der Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums, die Arnim 1811 vor der Christlich-deutschen Tischgesellschaft hielt, und dem Erzählzyklus Die Versöhnung in der Sommerfrische zwei für diesen Zusammenhang einschlägige Texte erstmals zugänglich gemacht hat.54 Die Diskussion begann jedoch erst 15 Jahre später, als Gisela Henckmann Das Problem des Antisemitismus bei Achim von Arnim in ihrer gleichnamigen Studie verharmloste und damit profunden Widerspruch förmlich herausforderte.55 Eine nahezu zeitgleich mit Henckmanns Untersuchung entstandene Studie Heinz Härtls56 und die in den folgenden Jahren publizierten Beiträge von Wolfgang Frühwald,57 Peter Philipp Riedl,58 Günter Oesterle59 und Gunnar Och60 setzten sich kritisch mit Arnims Antijudaismus auseinander und machten insbesondere theologische und sozioökonomische Gründe für dieses Phänomen verantwortlich.61 Daß Arnims Motive auch »nationaler Natur«62 waren, wurde in der Folgezeit in den Untersuchungen von Stefan Nienhaus,63 Susanna Moßmann,64 54
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Vgl. Heinz Härtl: Arnim und Goethe. Zum Goethe-Verhältnis der Romantik im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Anhang: Ein fragmentarischer Erzählzyklus Arnims (Text). Phil. Diss. masch. Halle/Saale 1971, S. 471–490 sowie 502–575. Gisela Henckmann: Das Problem des »Antisemitismus« bei Achim von Arnim. In: Aurora 46 (1986), S. 48–69. Heinz Härtl: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die Tischgesellschaft. In: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 1159–1173. Wolfgang Frühwald: Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der WernerReimers-Stiftung. Zweiter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1989, S. 72–91. Peter Philipp Riedl: »... das ist ein Schachern und Zänken...« Achim von Arnims Haltung zu den Juden in den Majorats-Herren und anderen Schriften. In: Aurora 54 (1994), S. 72–105. Günter Oesterle: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum 2 (1992), S. 55–89. Gunnar Och: Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindlicher Blutschuld-Mythen durch die Romantiker. In: Aurora 51 (1991), S. 81– 94; Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995; Gunnar Och: »Gewisse Zauberbilder der jüdischen Kabbala«. Zur Aneignung kabbalistischer Stoffe bei Arnim und Brentano. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hg. von Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott und Christoph Schulte. Tübingen: Max Niemeyer 1999 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 27), S. 179–195. Jüngst hat zudem Wolf-Daniel Hartwich die Judenfeindschaft Arnims aus dem »protestantischen Fundamentalismus« des Autors hergeleitet. Vgl. Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 154–204, hier S. 187. Kleßmann, Romantik und Antisemitismus (wie Anm. 53), S. 68.
I Arnim und die Forschung
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Birgit R. Erdle65 und Ethel Matala de Mazza66 gezeigt. Die folgenden Ausführungen schließen an die Ergebnisse dieser Studien an, erweitern aber das Textkorpus; während Nienhaus und Erdle lediglich Arnims Aktivitäten in der Tischgesellschaft thematisieren und Moßmann67 sowie Matala de Mazza zusätzlich noch die Erzählung Die Versöhnung in der Sommerfrische behandeln, will die folgende Analyse, über eine Interpretation sämtlicher einschlägiger fiktionaler und non-fiktionaler Texte die Konstruktion des »jüdischen Wesens« im Ouevre Achim von Arnims nachzeichnen. Das Feindbild des Juden wird auch bei Arnim in den Dienst genommen, um im Prozeß der nationalen Selbstfindung ein positives Bild des Eigenen entwerfen zu können; für die Tischgeselligkeit der christlich-deutschen Herrenrunde, über die im vierten Kapitel zu sprechen sein wird, besitzt der vorgestellte »Jude« ebenso konstitutive Funktion wie für die fiktionalen Texte, die es im fünften Kapitel zu analysieren gilt. Zunächst sollen jedoch die poetologischen und politischen Konzepte Arnims entfaltet werden, bevor dann über jene integrativen Projekte zu sprechen sein wird, mit denen Arnim den Deutschen ein nationales Zusammengehörigkeitsbewußtsein vermitteln wollte. 63
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Vgl. Stefan Nienhaus: Aufklärerische Emanzipation und romantischer Antisemitismus in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. In: Studia theodisca 2 (1995), S. 9–27; Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 115); Stefan Nienhaus: Grattenauer, Brentano, Arnim und andere. Die Erfindung des antisemitischen Nationalismus im frühen 19. Jahrhundert. In: Aurora 65 (2005), S. 183–199. Das Verdienst von Stefan Nienhaus besteht insbesondere darin, die antijüdischen Töne der Romantiker mit der Pamphletistik eines Christian Wilhelm Friedrich Grattenauer (Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christlichen Mitbürger. 5. Aufl. Berlin 1803) kontextualisiert zu haben. Vgl. zur Einschätzung der Arbeiten von Nienhaus: Konrad Feilchenfeldt: Die christlich-deutsche Tischgesellschaft als Thema interdisziplinärer Literaturwissenschaft. Zu Stefan Nienhaus’ archivalischen Studien – mit einem Seitenblick auf eine bisher unbekannte Handschrift von Clemens Brentanos Philister-Abhandlung. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft 17 (2005), S. 163–179. Vgl. Susanna Moßmann: Das Fremde ausscheiden. Antisemitismus und Nationalbewußtsein bei Ludwig Achim von Arnim und in der »Christlich-deutschen Tischgesellschaft«. In: Hans Peter Herrmann, Hans-Martin Blitz und Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1273), S. 123–159. Vgl. Birgit R. Erdle: ›Über die Kennzeichen des Judenthums‹: Die Rhetorik der Unterscheidung in einem phantasmatischen Text Achim von Arnims. In: German Life and Letters 49 (1996), S. 147–158. Vgl. Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Breisgau: Rombach 1999 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 68), S. 362–418. Moßmann, Das Fremde (wie Anm. 64) geht zwar noch kurz auf Die MajoratsHerren (1819) ein, sieht für die antijüdischen Implikationen dieser Erzählung allerdings keine nationale Motivation mehr. Vgl. ebd., S. 148–151.
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II
Politik und Poesie
1
»Herkules am Scheidewege«
In einem Brief an Ludwig Achim von Arnim schrieb der Medizinstudent Stephan August Winkelmann im März 1802 dem Freund: »Du bist ernst? o mein Freund, du scheinst mir ein neuer Herkules am Scheidewege – hier die Heiterkeit mit der Poesie und dort der Ernst mit der Politik. Kannst du wählen? oder meinst du es gäbe einen Ausweg? Bleibe heiter.«68 Winkelmanns Brief hat Arnim sehr beschäftigt;69 dem impliziten Ratschlag des Freundes, sich in erster Linie auf die Poesie zu konzentrieren, vermochte er indes nicht zu folgen – er sollte auch in den folgenden Jahren ein »Herkules am Scheidewege« bleiben. Sieben Jahre später, als die »Contributionen an Frankreich«70 Arnims Zorn erregen, ärgert er sich, nicht als Abgeordneter dem Landtag anzugehören, »der sich hier [in Berlin, M. P.] versammelt«71: »Mich ergreift meine alte Trauer, die mich in Königsberg quälte, das Gefühl, vielleicht etwas Unrechtes aus Versehen ergriffen zu haben. Statt des Buches hätte ich das Schwert nehmen sollen«72, schreibt er an Bettina Brentano. Diese Zweifel sind symptomatisch für das poetologische Selbstverständnis eines Schriftstellers, der lange auf ein Staatsamt spekulierte, als Journalist73 beharrlich die Zeitläufte kommentierte und in seiner literarischen Produktion mit politischen Anspielungen nicht sparte. 68
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Der Briefwechsel zwischen Friedrich Carl von Savigny und Stephan August Winkelmann (1800–1804) mit Dokumenten und Briefen aus dem Freundeskreis. Hg. von Ingeborg Schnack. Marburg: Elwert 1984 (Hessische Briefe des 19. Jahrhunderts; 3/Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 23,3), S. 265. Arnim zitiert die besagte Briefstelle in einem Schreiben an Clemens Brentano vom 18. November 1802. In: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe I. 1801 bis 1806. Vollständige kritische Edition. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), S. 68–76, hier S. 69. Achim von Arnim an Bettina Brentano, Brief vom 10. März 1809. In: Bettine und Arnim. Briefe der Freundschaft und Liebe. Hg. von Otto Betz und Veronika Straub. Band 2. 1808–1811. Frankfurt a. M.: Josef Knecht 1987, S. 143–146, hier S. 143. Ebd. Ebd., S. 144. Vgl. zu Arnims journalistischen Ambitionen neuerdings Roswitha Burwick: »Der Kreis des Wissens dreht sich wandelnd um...« Arnims kulturpolitisches Programm in den Berliner Jahren. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 1–24; Knaack, Arnim und der »Preußische Correspondent« (wie Anm. 49); Peter Staengle: Achim von Arnim und Kleists »Berliner Abendblätter«. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 73–88 sowie Knaack, Arnim, der Correspondent, die Spenersche Zeitung (wie Anm. 49).
II Politik und Poesie
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An den drei großen Stationen des Kriegsgeschehens seiner Zeit, also 1806, 1809 und 1813/15, war Arnim beteiligt; jedoch nicht als Soldat, sondern als Propagandist, der sich für »die geistige Wiedergeburt Preu[ß]ens oder Deutschlands«74 einsetzte. Die Hoffnung auf eine »nationale[] Kultur, [die sich] über den Stand der Gebildeten hinaus politisch zur Geltung zu bringen«75 vermochte, bildete den Kernpunkt eines politischen Engagements, welches nicht zuletzt Arnims fiktionale Schriften überformte. Auch im Falle Achim von Arnims erweist das nationale Paradigma dabei seine »Janusköpfigkeit«. Im folgenden werden deshalb sowohl die integrativen als auch die exklusiven Aspekte von Arnims Nationalismus zu besprechen sein.
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Kosmopolitische Anfänge
Im März des Jahres 1798 verabschiedete sich Achim von Arnim mit einer Rede über Das Wandern der Künste und Wissenschaften76 von dem Berliner Joachimsthalschen Gymnasium, an dem er soeben das Abitur bestanden hatte.77 Dieser deutlich von Herder inspirierte Vortrag weist den jungen Adeligen, der 1781 in Berlin geboren worden war, noch als Kosmopoliten aus.78 Jedes Volk, so Arnims These, hat jeweils zu seiner Zeit im steten Wechsel von Blüte und Verfall einen Teil zum Fortschritt von Kunst und Wissenschaft beigetragen. Am Ende der Entwicklung sind die nationalen Widersprüche indes gänzlich aufgehoben: »Der Weltbürger sieht keinen Wandel mehr und keine Ver74
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Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg (wie Anm. 48), S. 196. Zu Arnims Stellung zum Krieg vgl. auch Heinz Rölleke: »Kriegslieder«. Achim von Arnims Imitation eines Fliegenden Blattes im Jahre 1806. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 16 (1971), S. 73–80; Wulf Segebrecht: Die Thematik des Krieges in Achim von Arnims »Wintergarten«. In: Aurora 45 (1985), S. 310–316; Claudia Nitschke: Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim. Tübingen: Max Niemeyer 2004 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 122). Ernst Weber: Die nationale Idee in der Zeit der Romantik und des Vormärz. In: Die Intellektuellen und die nationale Frage. Hg. von Gerd Langguth. Frankfurt a. M.: Campus 1997, S. 77. Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band sechs: Schriften. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 72), S. 20–36. Die erste Veröffentlichung der Rede findet sich bei Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 120–129. Vgl. zu Arnims Biographie Günter Häntzschel: Achim von Arnim. In: Deutsche Dichter. Band 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8615), S. 207–217 sowie Helene M. Kastinger Riley: Achim von Arnim in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994 (rowohlts monographien; 277). Vgl. zur Interpretation der Rede Roswitha Burwick: Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin, New York: de Gruyter 1989 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N. F. 91), S. 24–29.
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nichtung, wo Weisheit fortlebt, ist sein Vaterland, wo eine Rose blüht, frohe Empfindung.«79 Gleichwohl mahnt Arnim bereits in diesem frühen Text auch die Besinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln an; er sieht in seiner Zeit den Fortschritt in den Händen der Engländer sowie der Deutschen und warnt seine Landsleute vor der »Nachahmungssucht, der steten Feindin eines später sich bildenden Volkes«80. Das Lob für die Engländer, die Arnim zu »Lehrern der Philosophie und Meßkunst«81 und zu »ehrwürdigen Sängern wahrer, ungekünstelter Gefühle«82 erhebt, ist gleichfalls nicht frei von Implikationen, wie Christoph Wingertszahn darlegt. Arnim knüpft hier an die Anglophilie der Spätaufklärung an, die den »ökonomische[n] und industrielle[n] Vorsprung Englands, vor allem aber seine Errungenschaften der Freiheit und Publizität«83 zu würdigen wußte. Nach der Französischen Revolution verlor das einstige Vorbild für die radikalen Demokraten freilich an Anziehungskraft. Wer sich jetzt noch zu der Insel bekannte, legte damit ein implizites Votum für die englische Verfassungsgeschichte und gegen revolutionäre Umwälzungen ab. »Arnims Sympathien lagen [schon 1798, M. P.] [...] eher bei England als bei Frankreich«84, bilanziert Wingertszahn zu Recht. Die Revolution erscheint in Arnims Rede denn auch nur mit einem »dezenten Verweis«85 auf »die neuesten Veränderungen der bürgerlichen Gesellschaften«86, ansonsten wird das Geschehen nicht thematisiert. Wenige Jahre später hatte Arnim Gelegenheit, beide Länder kennenzulernen. Seine Bildungsreise, die er im November 1801 antrat, führte ihn Ende 1802 nach Frankreich (Lyon, Paris) und 1803 von Paris aus nach London.87 Susanna Moßmann und Albert Portmann-Tinguely nehmen an, daß die Zeit in der Fremde Arnims späteres nationales Engagement erheblich forcierte,88 und die Briefzeugnisse bestätigen diese Einschätzung. In England etwa fühlte sich der Schriftsteller regelrecht isoliert: »[...] so bin ich von allem getrennt, was ich kannte und verstand«89, beschreibt er Wilhelmina von Chezy im August 79 80 81 82 83
84 85 86 87 88 89
Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 36. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Ebd. Christof Wingertszahn: Arnim in England. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 82. Ebd., S. 83. Ebd. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 35. Vgl. Kastinger Riley, Arnim (wie Anm. 77), S. 30–43. Vgl. Moßmann, Das Fremde (wie Anm. 64), S. 129f. sowie Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg (wie Anm. 48), S. 188. Achim von Arnim an Wilhelmina von Chezy, Brief vom 7. August 1803. In: Unbekannte Briefe von und an Achim von Arnim aus der Sammlung Varnhagen und anderen Beständen. Hg. von Hermann F. Weiss. Berlin: Duncker & Humblot 1986 (Schriften zur Literaturwissenschaft; 4), S. 31f., hier S. 31.
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1803 von London aus seine Situation. »In einigen Tagen ziehe ich ganz aufs Land um Englisch zu sprechen, ich will mich zwingen wie zu einem bösen Gerichte durch Hunger, denn [...] ich [habe] grossen Widerwillen gegen die Sprache.«90 Zudem sah Arnim auch seine politischen Erwartungen nicht erfüllt. »Die positiven England-Epitheta der Rede [jener Abschiedsrede vom Gymnasium, M. P.] werden während Arnims Englandaufenthalt allesamt korrigiert«91, konstatiert Wingertszahn. Zuvor, in Frankreich, wo Arnim immerhin auf frühromantische Prominenz getroffen war – Friedrich Schlegel hatte mit ähnlichen Problemen zu kämpfen –,92 war es ihm freilich nicht besser ergangen, wie seine Klage über die »geistige Stickluft«93, die sich über das Land gelegt habe, belegt: »Hier ist nichts als Kripe, Huren und Restaurateurs, alles saugt an einem wie Blutigel, es ist als wenn man sich im Meere badete und die Hayfische beissen einem die Beine ab. [...] Ich kenne manchen talentvollen Mahler, aber ihre Kunst ist hier wie gelähmt, Reichardt komponirt wenig.«94 Das Bild eines Mädchens auf einer Ofenplatte, das eine Fahne mit der – deutschen – Aufschrift »Freiheit« trägt, hinterläßt einen »der stärkste[n] Eindrücke seiner Reise«95: »[K]einer verstand sie als ich. O Lieber, daß du mich verstehest höre, sie war aus Eisen auf eine Platte gegossen und das Feuer spielte in den Falten ihres Kleides, und sie grüste jeden und nur ich verstand, denn sie war geraubt aus ihrem Vaterlande und in die Hölle versetzet.«96 Arnim zog es aus der »Hölle« wieder in die Heimat: »O mein heiliges Vaterland, ich fühle es daß du mich hier noch in der Fremde begeisternd anhauchst, du hebst mich, du treibst, zu dir hin lebe ich«97, schreibt er im April 90 91 92
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Ebd. Wingertszahn, Arnim in England (wie Anm. 83), S. 85. Am 7. März schreibt Arnim an Brentano über seinen »Deutschen Bekannten« Friedrich Schlegel: »Denke Dir ich bin der festen Meinung, daß er eine grundgute Seele wäre, wenn er nicht in seinem Beutel den Grund sehen könnte, das giebt ihm wahrscheinlich zuweilen Neid, Prätension ein [...]. Ich habe ihn und seine Frau sehr bescheiden gefunden; [...] er liest sehr langweilig eine Geschichte der neueren Philosophie und Poesie, und macht die Deutlichkeit noch deutlich, er hat ungefähr 25 Zuhörer und einen sehr unaufmerksamen und der bin ich [...].« In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 110. Vgl. ausführlich zu Arnims Pariser Aufenthalt Johanna Sänger: Arnims Briefe aus Paris – Paris in Briefen Arnims 1803. In: »Frische Jugend, reich an Hoffen«. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 2), S. 147–163. Brief vom 17. Februar [1. und 7. März] an Brentano. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 97–114, hier S. 107. Ebd. Sänger, Arnims Briefe (wie Anm. 92), S. 157. Brief vom 12. [und 26.] Januar 1803 an Brentano. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 87–97, hier S. 88f. Brief vom 4. [und 5.] April. Ebd., S. 114–116, hier S. 115.
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1803 von Paris aus an Brentano, an den im August 1804 auch seine »ersten Worte aus dem alten reinen Deutschlande«98 gerichtet sind. »Deutschland« avancierte zum Bezugspunkt für Arnims nationales Denken, obgleich auch bei ihm die zeittypisch schwankende Verwendungsweise des Begriffes »Vaterland« zu finden ist und er ebenso Preußen oder die Mark als sein »Vaterland« bezeichnete.99 Gleichwohl formulierte er 1806 gegen die verschiedenen Partikularpatriotismen in seiner Ankündigung für ein geplantes Wochenblatt100 ein energisches Plädoyer: »Obenan unter diesen Ausgeschlossenen [die Arnim weder im Mitarbeiter- noch im Leserkreis des Blattes wissen wollte, M. P.] stehen [...] die Engherzigen, welche von der Natur knapp zugeschnitten sind, daß sie ihren deutschen Sinn, der alles zwischen der Nordsee und dem adriatischen Meere erfassen sollte, auf ein Paar Meilen Land, auf eine Stadt, auf eine Familie oder einen Namen beschränken, der doch nur Bedeutung und Wert in der Verbindung mit andern hat [...].«101 Daß das Zeitungsprojekt, das letztlich wegen der preußischen Niederlage gegen Frankreich bei Jena (14. Oktober 1806) sowie Arnims damit verbundener Flucht nach Königsberg nicht zustande kam,102 dennoch unter dem Titel Der Preuße firmierte, hatte pragmatische Gründe: »Wir werden dieses Blatt den Deutschen nennen, sobald Deutschland sich wieder herstellt von der langen Krankheit, welche jede Kraft vereinzelt und gegenseitig vernichtet [...]: jetzt nennen wir es nach dem größten unter den letzten freien deutschen Stämmen, nach dem Preußen, der noch verknüpfend und ausbreitend umher treibt, um den sich neidend und drohend die Gewitter lagern, aber eher mögen sie den Morgenstern vom Himmel wegtoben, ehe sie ihm etwas anhaben.«103 Preußen sollte also, solange sich eine »gesamtdeutsche« Lösung nicht abzeichnete, gleichsam als ›pars pro toto‹ einspringen; im Hintergrund blieb aber stets die Hoffnung auf eine nationale Einigung größeren Formats. Diese Hoffnung wird auch im Letzte[n] Brief eines Freiwilligen,104 den Arnim 1813 in seiner Zeit als Herausgeber des Preußischen Correspondenten verfasste,105 noch einmal artikuliert: »Nur ein guter Preuße, Bayer, Österreicher u. s. w. wird auch ein guter Deutscher im höchsten Sinne des Wortes werden«106, schreibt Arnim in diesem Artikel; jedes dieser Völker, konzediert 98 99 100 101 102 103 104 105
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Brief vom 12. August 1804. Ebd., S. 234f., hier S. 234. Vgl. Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg (wie Anm. 48), S. 175f. Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 186–189. Ebd., S. 187. Vgl. hierzu den Kommentar von Burwick, Knaack und Weiss, ebd., S. 1141. Ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 425–427. Arnim gab diese Zeitung als Nachfolger Friedrich Schleiermachers vom 1. Oktober 1813 bis zum 31. Januar 1814 heraus. Vgl. hierzu Knaack, Arnim und der »Preußische Correspondent« (wie Anm. 49) sowie Knaack, Arnim, der Correspondent und die Spenersche Zeitung (wie Anm. 49). Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 427.
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der Autor, »hat sein Gutes«107. Arnim setzt die Partikularpatriotismen hier also noch einmal in ihr Recht – aber nur unter der Bedingung, daß die Einzelstaaten zum »Heil des Ganzen«108 beitragen.
3
Die politische Konzeption
Nachdem Arnim wegen des französischen Angriffs auf Preußen nach Königsberg geflohen war, schloß er sich zwischen November 1806 und September 1807 dem Kreis des Freiherren Karl vom und zum Stein an und verfaßte eine Reihe von politischen Denkschriften, die »oftmals verblüffend genau«109 zu den von Stein und seinen Mitarbeitern entwickelten Vorstellungen paßten.110 Arnim mahnte eine produktive Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution an, plädierte für ein Volksheer und warnte vor allem vor einer preußischen Ministerialbürokratie ohne öffentliche Kontrolle.111 Daß politische Entscheidungen transparent bleiben müßten und nicht abgeschottet in geheimen Zirkeln getroffen werden dürften, blieb auch später ein zentrales Postulat in Arnims politischer Konzeption. Frankreich avancierte in dieser Hinsicht durchaus zum Vorbild: »Die Leistung der Französischen Revolution und des französischen Volkes war es, so meint [...] Achim von Arnim, die allseitige, funktional differenzierte Kommunikation als Lebenselixier einer menschenwürdigen, modernen Gesellschaft ins allgemeine Bewußtsein gehoben zu haben«112, erläutert Günter Oesterle den Versuch des Romantikers, von Frankreich zu lernen. Arnim nahm Ideen aus Frankreich auf und er wußte auch um die historische Bedeutung des dort Vorgefallenen – doch er war zu keinem Zeitpunkt Parteigänger des gewaltsamen Umsturzes. »Furcht vor dem noch Schlimmeren überwiegt für Arnim das Unbehagen am Bestehenden«113, schreibt Peter 107 108 109 110
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Ebd Ebd. H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48), S. 117. Zum Stein-Kreis vgl. noch einmal Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms. Stuttgart: J. B. Metzler 1990 sowie Otto W. Johnston: Der Freiherr vom Stein und die patriotische Literatur. Zur Entstehung eines Mythos der »Nation« in Preußen in napoleonischer Zeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 9 (1984), S. 44–66. Zur preußischen Politik zwischen 1792 und 1807 sehr ausführlich: Lothar Kittstein: Politik im Zeitalter der Revolution. Untersuchungen zur preußischen Staatlichkeit 1792– 1807. Stuttgart: Steiner 2003 (Geschichte). Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 189–206. Günter Oesterle: »Commentar dieser unbegreiflichen Zeit«. Achim von Arnims Beitrag zum komplexen Verhältnis Frankreich – Deutschland. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 37. Staengle, Arnims poetische Selbstbesinnung (wie Anm. 21), S. 31.
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Staengle in diesem Kontext zu Recht. Revolutionäre Umtriebe konnte der Landadelige mit seiner sozialen Herkunft nicht vereinbaren,114 und von seinem den Maximen der Politischen Romantik verpflichteten Geschichtsverständnis her mußte er sie als »Übereilung«, als Manipulation der natürlichen Entwicklung begreifen. Arnim forderte stattdessen die »Versöhnung des Geistes alter und neuer Zeit, die in unsern Tagen einen so zweifelhaften Krieg geführt haben«115. Daß er gleichwohl in der Forschung bisweilen als »Freund der [F]ranzösischen Revolution«116 und »Bewunderer der neuen (demokratischen) Welt«117 firmiert und – zweifellos auch vorhandene – progressive Tendenzen seiner politischen Ansichten überbetont werden,118 muß wohl als Hyperkorrektur
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»Wenn man Hecksel schneidet, so wird alles Stroh gleich lang in seiner Lade, so hat es die Revoluzion mit den Franzosen gemacht, von der einen Seite gleich starr, von der andern Seite gleich plat sind alle Halme geworden«, schreibt er am 12. Januar 1803 an Brentano. In: Arnim/Brentano Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 87–97, hier S. 90. »Der wunderbarste Einfall der Franzosen ist, sich den Griechen zu vergleichen, ich möchte etwas recht bittres sagen, aber das Papier würde es übel nehmen [...].« Ebd. So in seiner bekannten Schrift Was soll geschehen im Glücke (1806). In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 200–205, hier S. 201. Helene M. Kastinger Riley: Ludwig Achim von Arnims Jugend- und Reisejahre. Ein Beitrag zur Biographie mit unbekannten Briefzeugnissen. Bonn: Bouvier 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik und Literaturwissenschaft; 266), S. IX. »Arnim begrüsste die französische Revolution«, heißt es in einem späteren Aufsatz der Verfasserin. Kastinger Riley, Feder als Schwert (wie Anm. 49), S. 451. Zum Verhältnis Arnims zur Revolution vgl. Luciano Zagari: Revolution und Restauration in Arnims erzählerischem Werk. In: Aurora 39 (1979), S. 28–50; H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48) und Gerhard Sauder: Reflexe der Französischen Revolution in Achim von Arnims Erzählungen. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 281–294; zu dem der Heidelberger Romantik insgesamt vgl. Günter Häntzschel: Die Heidelberger Romantik und die Französische Revolution. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 195–207. Kastinger Riley, Arnims Jugend- und Reisejahre (wie Anm. 116), S. IX. So etwa in den in Anm. 49 aufgeführten Arbeiten Kastinger Rileys: Feder als Schwert (1982), Zeit im Umbruch (1994) und Politik einer Mythologie (1994). Auch die aus dem Jahr 1976 datierende einflußreiche Studie Knaacks, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), ist diesbezüglich problematisch, ebenso die 14 Jahre später erschienene Zusammenfassung [Knaack, Politische Biographie (wie Anm. 49)] sowie die Studie von Ulfert Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart: Achim von Arnim. In: Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe. Hg. von Alexander von Bor-
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verstanden werden; in der Bemühung, Achim von Arnim von Verdikten der älteren Forschung freizusprechen, die in dem Autor größtenteils einen reaktionären Junker gesehen hatte,119 verfielen manche Arbeiten jüngeren Datums in das gegenteilige Extrem. In Arnims Bemerkung, der König solle »das ganze Volk adelig«120 erklären, erkennt Helene M. Kastinger Riley etwa eine der »sehr liberale[n] Äußerungen«121 eines Schriftstellers, der für eine »Nivellierung der Standesunterschiede«122 eintrete. Die markanteste Gegenposition zu dieser wohlwollenden Interpretation vertritt Gerhard Scheit, der Arnims Postulat als eine »romantische Antizipation des Führerstaats«123 begreift. Bernd Fischer wiederum moniert die Widersprüchlichkeit einer Konzeption, die »im 1. Hauptpunkt [...] das ganze Volk adeligt und [...] dem Volk bereits im 3. Hauptpunkt den Stamm einer neuen Ritterschaft vor die Nase setzt [...]«124. Diese Widersprüche diagnostizierte zuvor auch Renate Moering, die schon 1978 feststellte, daß sich die Literaturwissenschaft das Verständnis verstelle, »wenn sie ihn [also Arnim, M. P.] an dem Gegensatzpaar ›reaktionärprogressiv‹ mißt«125; in der Tat finden fortschrittliche und regressive Aspekte von Arnims politischem Denken in seinem Nationalismus ihren Verbindungspunkt. Arnim hat Reformideen bezüglich des Militärs und der öffentlichen Meinungsbildung unter dem Gesichtspunkt vertreten, den »innern Nationalzusammenhang«126 unter den Deutschen stärken zu wollen. Wenn jener neue Gemeingeist, für den sich die Gruppe um den Minister Stein engagiert, das ›Volk‹ im nationalpolitischen Sinn zusammenschweißen soll, dann muß dem ›Volk‹ in der soziologischen Bedeutung des Wortes – also der einfachen Bevölkerung – mehr politische Verantwortung gegeben werden, und es darf nicht von der Meinungsbildung ausgeschlossen bleiben.
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mann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Stiftung für Romantikforschung; 4), S. 65–104. Vgl. hierzu Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 7. In der Schrift Indem ich die Feder ansetze. In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 195–200, hier S. 199, Herv. i. O. Kastinger Riley, Politik einer Mythologie (wie Anm. 49), S. 30. Kastinger Riley, Feder als Schwert (wie Anm. 49), S. 452. Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg/Breisgau: Ça Ira 1999, S. 263. Bernd Fischer: Achim von Arnims ›Wintergarten‹ als politischer Kommentar. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 1), S. 46. Arnim schreibt im dritten Hauptpunkt von Indem ich die Feder ansetze: »Der König pflanzt den Stamm der Ritterschaft [...]. Dieser Ritterschaft werden alle Vorschläge zum Besten des Staats vorgelegt [...].« Arnim versteht die Ritterschaft als »Geist des Staatskörpers«. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 199f. Moering, Offene Romanform (wie Anm. 45), S. 85. So Arnim in der Vorläufigen Anzeige eines neuen Wochenblattes. Der Preuße. Volksblatt. In: Arnim VI (1992), S. 186–189, hier S. 189.
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»Heimlich wird die Welt berathen / Heimlich wie die Missethaten, / [...] / Nur wo frey mit offnem Muthe / Zu dem Volk der Herrscher spricht, / Dient es frey mit seinem Blute, / Blinder Herrschaft dient es nicht«127, heißt es dementsprechend in dem Gedicht Der deutsche Völkerbund, das Arnim 1813 im Rahmen der Christlich-deutschen Tischgesellschaft vortrug.128 Auf der anderen – gleichsam regressiven – Seite seiner politischen Konzeption, blieb Arnim dem Feudalsystem treu. In seinem Essay Was soll geschehen im Glücke (1806) erklärt er zwar, daß »[d]as ganze Volk [...] aus einem Zustand der Unterdrückung durch den Adel zum Adel erhoben werden«129 müsse, doch zielt diese Passage ja gerade nicht auf eine Abschaffung des Adels hin, sondern vielmehr auf eine Aristokratisierung der Gesellschaft. Anstelle des Aufstandes von unten, der den nationalen Zusammenhang unheilvoll sprengen würde, tritt bei Arnim eine Aristokratisierung von oben, die mittels durchlässigerer Ständeschranken und der Idee des Verdienstadels – von der er sich später zugunsten eines konservativeren Modells wieder distanziert130 – erreicht werden soll.131 Die Vorbildfunktion, die dem Adel in diesem Konzept zukommt, illustriert Arnims Roman Armut Reichtum Schuld und Busse der Gräfin Dolores132 (1810) eindringlich. Hier legt Arnim seine Vorstellungen dem Grafen Karl in den Mund, der es als seinen »Lieblingsplan«133 bezeichnet, »alles Gute und Ehrenvolle, was sich in den adlichen Häusern [...] entwickelt habe, allgemein zu machen«134. Dieser Graf fungiert gleichsam als ein »Musteradeliger«, der bei der Arbeit auf den Gütern als »Vormäher«135 selbst Hand anlegt und nicht nur deshalb auf die »ungeheuchelte Anhänglichkeit aller Diener«136 zählen darf. Auch seinen politischen Einfluß nutzt Karl zur allgemeinen Zufrieden127 128 129 130
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Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 323f. Vgl. ebd., S. 321–328. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 200–205, hier S. 203. Vgl. hierzu den bei Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 122–127 abgedruckten Aufsatz Ideen und Vorschläge zu einer neuen Adelsverfassung (1827) und die Ausführungen Portmann-Tinguelys, Romantik und Krieg (wie Anm. 48), S. 166– 169. Vgl. zu dem Essay Was soll geschehen im Glücke die Interpretationen von Jörn Göres: »Was soll geschehen im Glücke.« Ein unveröffentlichter Aufsatz Achim von Arnims. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 207–221 sowie Möllers, Wirklichkeit und Phantastik (wie Anm. 24), S. 30–32. Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band eins: Hollin’s Liebesleben. Gräfin Dolores. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker; 39), S. 101–644. Ebd., S. 286. Ebd. Ebd., S. 335. Ebd., S. 443.
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heit, wie Klaus Peter in seiner Interpretation der Gräfin Dolores betont: »Sein patriarchalisch-wohlwollendes Regime reformiert das Gerichtswesen, in dem er die Unabhängigkeit der Justiz von der Regierung sicherstellt und alle Verhandlungen öffentlich führen läßt.«137 Dagegen repräsentiert die Frau des Grafen, die Titelheldin Dolores, jenen Adel, der seine Verantwortung nicht erkennt und dessen Wirkung auf die Gemeinschaft kontraproduktiv ist. »Sie entzieht sich den Pflichten, die sie als Gräfin in dieser Umgebung besitzt, und kann daher dem Grafen bei seinen Aufgaben, die er sehr ernst nimmt, wenig helfen. Im Gegenteil hält sie ihn, da sie ständig unterhalten sein will, von seiner Arbeit ab und macht ihn unzufrieden selbst mit dem wenigen, was er trotzdem erreicht.«138 Arnim betont die persönlich-moralische Schuld, nicht die institutionelle. Am Tage, als Dolores ihren Mann mit dem Marchese D. betrügt, bricht die Französische Revolution aus:139 Nicht das Ständesystem generell, sondern einzelne lasterhafte Adelige, die nicht mehr als moralische Instanz taugen und die die Bindung zu den einfachen Leuten verloren haben, verschulden die Unzufriedenheit der Untertanen.140 Damit gefährden sie jenen nationalen Zusammenhalt, für den Arnims Graf Karl – auch und gerade in Abgrenzung zu den weltbürgerlichkosmopolitischen Idealen, wie sie im Roman von Ritter Brülar und Prediger Frank vertreten werden141 – so engagiert eintritt. Bernd Haustein konstatiert denn auch zu Recht, daß »bei aller Progressivität im Pragmatischen [...] die feudal-›heile‹ Welt der ›Vorzeit‹ Basis des Arnimschen sozialen Entwurfs«142 sei. Eine moralische Regeneration der Aristokratie und ihre partielle personelle 137
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Klaus Peter: Achim von Arnim: Gräfin Dolores. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1981, S. 242. Ebd., S. 243. Vgl. Arnim, Werke I (wie Anm. 132), S. 373–384 sowie S. 651: »Erst am vierzehnten Juli, es war der Tag ihrer alten Schuld, an welchem sie immer früh aufstand, um lange beten zu können [...].« Vgl. zur Analogie von Ehebruch und Revolution Peter, Dolores (wie Anm. 137), S. 244f., Moering, Offene Romanform (wie Anm. 45), S. 85 und Helmut Fuhrmann: Achim von Arnims Gräfin Dolores. Versuch einer Interpretation. Phil. Diss. masch. Köln 1956, S. 306f. Vgl. hierzu Peter, Dolores (wie Anm. 137), S. 242–246 sowie H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48), S. 120–122. Vgl. hierzu noch immer die Ausführungen Helmut Fuhrmanns: »[D]ie Einheit, welche gleichsam als weltliches Grundmaß in der Gräfin ›Dolores‹ eingeführt wird, ist nicht die Menschheit, sondern die Nation. Daher erscheint alles internationale und kosmopolitische Wesen als heillos und verdächtig. Die Idee der Humanität wird abgewertet zu einer utopischen Fabel wirklichkeitsfremder Schwärmer. Denn die kollektive Entsprechung des Individuums [...] ist nicht die universale Weite der einen Menschheit, sondern die nestwarme Enge des jeweiligen Volkes.« Vgl. Fuhrmann, Dolores (wie Anm. 139), S. 262–268, hier S. 268. Bernd Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim von Arnims. Göppingen: Kümmerle 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 104), S. XII.
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Erneuerung soll das Ständesystem wieder funktionstüchtig machen und mithin zum Fundament einer deutschen Nationalgemeinschaft werden lassen.
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Die Macht der Poesie
Die offenkundigen politischen und moralischen Implikationen seiner Gräfin Dolores verdeutlichen bereits die sozialpolitische Funktion, die Arnim der Poesie zuerkannte. Die zeitgeschichtlichen Anspielungen und die politischen Thematiken ziehen sich durch das gesamte Werk des Schriftstellers, der an die verändernde Kraft der Dichtung glaubte. »Alles geschieht in der Welt der Poesie wegen, die Geschichte ist der allgemeinste Ausdruck dafür«143, heißt es in Arnims Lebensplan von 1802.144 Hans-Georg Werner macht zu Recht darauf aufmerksam, daß sich hinter dieser »vordergründig ästhetisch-spekulativen Erklärung [...] ein Komplex sozialpolitischer Idealvorstellungen«145 verbirgt, nämlich »die Utopie einer von lebendigen Kräften al[l]seitig durchwirkten harmonischen Gesellschaft«146. Arnim übernahm die frühromantische Vorstellung von der immensen Wirkungskraft der Poesie, zog jedoch die Grenze zu einem autonomieästhetischen Literaturbegriff wesentlich schärfer. Will die Dichtung ihre Verantwortung wahrnehmen, so hat sie sich im »Zentrum des Zeitgeistes«147 zu befinden; sie soll, wie es der junge Reisende in der Reisegeschichte Owen Tudor (1820)148 formuliert, »eine heilsame Anregung zu dem geben, was doch höher steht, als alle Künste.«149 Wie Bernd Fischer konstatiert, findet »[d]as Kunstschöne«150 bei Arnim »erst in der lebenspraktischen Bedeutung, in der sich seine Wahrheit bewähren muß«151, eine »ästhetische Erfüllung«.152 Jene Dichtung hingegen, die nicht begreift, daß das »Spiel einem Zwecke«153 dienen muß, gerät in den Mittelpunkt von Arnims Kritik. Dementsprechend unmißverständlich fällt 143 144
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Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 21. Arnim integrierte diesen Text in einen Brief an Brentano vom 9. Juli 1802. In: Ebd., S. 21–23. Etwa zur gleichen Zeit enstand unter dem Titel Die große Arbeit, eine Lebensaussicht ein Fragment mit ähnlichen Inhalten und zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen. Dieser Text findet sich in Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 122–124; vgl. auch den Kommentar ebd., S. 1119f. H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48), S. 117. Ebd. Vgl. hierzu die Ausführungen Günter Oesterles. G. Oesterle, Commentar (wie Anm. 112), S. 26–30. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 148–188. Ebd., S. 185. Bernd Fischer: Interpretation als Geschichtsschreibung: Zur poetischen Imagination Achim von Arnims. In: Etudes Germaniques 43 (1988), S. 184. Ebd. Ebd. Brief an Brentano vom 9. Juli 1802. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 16–23, hier S. 21.
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dann auch die Abrechnung mit dem hypostasierten Subjektivismus der frühromantischen Vorläufer aus, den Arnim mit seiner Darstellung des Dichters Waller in der Gräfin Dolores karikiert: »Waller, dem Genie, gehen Poesie und Wirklichkeit ineinander über, und als Folge davon ist ihm nichts ernst; selbst der Tod seiner Frau erweckt in ihm nur poetische Gefühle, die er für seine Dichtungen ausbeuten kann«154, analysiert Klaus Peter diese Figur. Ebenso scharf äußert sich Arnim in einem Brief an Brentano vom 18. November 1802,155 in dem er zunächst den Heinrich von Ofterdingen von Novalis gegenüber Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre abwertet, bevor er sich dann über die philosophischen Gewährsleute der ersten romantischen Generation mokiert: »[...], Du weist doch, worüber sich jezt Fichte und Schelling streiten, jener sagt Ich = Alles, dieser Alles = Ich, mathematisch ist das einerley, Schelling aber der sich auf seine Produktionskraft etwas einbildet sagt, er stehe dabey auf dem Standpunkte der Produktion, Fichte auf dem Standpunkte der Reflexion; Fichte soll schon ein ältliger Mann seyn, man kann ihm das wohl glauben.«156 Freilich wird dieser scherzhafte Kommentar von einem ernsthaften Vorwurf überschattet: »Politisch konkretisiert bedeutet dies ›Versinken in sich‹ [nämlich, M. P.] Mittäterschaft aufgrund Ignoranz gegenüber sozialen Repressionen«157, wie Bernd Haustein bemerkt.158 Hans-Georg Werner weist darauf hin, daß die »sozialpolitische[n] Ideale, die Arnim mit dem Freiherrn vom Stein verbanden, [...] sein dichterisches Weltbild von Grund auf mit strukturiert«159 hätten. »Das vielleicht auffälligste Merkmal dafür ist die volkserzieherische Tendenz fast aller seiner literarischen Werke.«160 Diese von Werner mit Recht betonte didaktische Komponente wurde jedoch immer wieder von jener eigenwilligen Formgebung, die die Zeitgenossen überforderte und mit der auch die Literaturwissenschaft bis zu Arnims Wiederentdeckung in den 1950er Jahren wenig anzufangen wußte, förmlich untergraben. Für die Gräfin Dolores etwa vermerkt Paul Michael Lützelers Kommentar neben »einem Dutzend Nebenerzählungen«161 noch 40 154 155 156 157 158
159 160 161
Peter, Dolores (wie Anm. 137), S. 253. Vgl. Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 68–76. Ebd., S. 70f. Haustein, Romantischer Mythos (wie Anm. 142), S. VII. In einer Rezension von Friedrich Schlegels Gedichte[n] aus dem Jahr 1810 lobt Arnim die jüngsten Gedichte Schlegels auch deshalb, weil sie sich »fast ausschließlich an die Deutschen als Volk wenden«. Dagegen wäre das Athenaeum nur an Kunst und Wissenschaft interessiert gewesen und »nie zum übrigen Leben« vorgedrungen, was Arnim freilich kritisiert: »Merkwürdig ist es, wie in so bedeutenden Zeiten, wie jene für das Schicksal von Europa waren, wo das Athenäum in fast allein [sic!] friedlichen Gegenden erschien, alle Aufmerksamkeit so auf Literatur gerichtet sein konnte [...].« Vgl. Arnim,Werke VI (wie Anm. 76), S. 301–309, hier S. 303. H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48), S. 120. Ebd. Arnim, Werke I (wie Anm. 132), S. 756.
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Gedichte und Lieder, zehn Balladen und Romanzen, sieben eingeschobene Geschichten und Briefwechsel, zwei Essays und zwei Dramen-Dialoge bzw. Singspiele.162 Arnim selbst sah die formale Gestaltung seiner Werke nicht zuletzt auch als die Konsequenz aus dem Versuch, den turbulenten Zeitläuften literarisch beizukommen, wie eine Antwort an Jacob Grimm, der ihn der »unpractische[n] oder unnatürliche[n] Ueberladung und Verwickelung«163 geziehen hatte, belegt: »Wenn Du meine Pläne zu verwickelt findest, ich kanns nicht bestreiten; warum erscheint mir so die Welt und ihr geistiges Leben, warum sind mir unangenehm alle Theaterstücke, die nach so einem willkürlichen Faden wie der Kandiszucker ankrystallisirt, durchgehen?«164 Bisweilen versucht insbesondere die jüngere Forschung, diesen Zusammenhang zwischen Ästhetik und politischem Gehalt in Arnims Dichtung zu nivellieren; um den Autor in die Rolle eines Vorreiters der modernen Literatur drängen zu können, wird Arnims Absage an die Autonomieästhetik als bedauerliche Begleiterscheinung einer ansonsten avancierten Poetologie begriffen: »Nicht wegen, sondern trotz der moralischen Wirkungsabsicht, nicht trotz, sondern wegen seiner komplizierten Struktur«165, hält etwa Paul Michael Lützeler die Gräfin Dolores für einen »nach wie vor [...] faszinierende[n] romantische[n] Roman«166, der dem »an literarische Experimente der Moderne von Joyce über Broch bis Hildesheimer und Arno Schmidt«167 gewöhnten Leser keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Eine Kritik von Joseph von Eichendorff, der einer der wenigen frühen Bewunderer des Literaten Arnim war,168 erweist 162 163
164 165
166 167 168
Vgl. ebd. Brief vom 1. Dezember 1819. In: Reinhold Steig und Herman Grimm: Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Dritter Band: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig. Mit zwei Porträts. Stuttgart, Berlin: Cotta 1904, S. 457f., hier S. 457. Arnims Antwortbrief wurde am 30. Dezember vollendet. Vgl. ebd., S. 458–461, hier S. 459. Paul Michael Lützeler: Eros und Patriotismus. Achim von Arnims frühe Romane. In: Paul Michael Lützeler: Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation. Berlin: Schmidt 1997 (Philologische Studien und Quellen; 145), S. 73. Ebd. Ebd. In seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857) bedauert es Eichendorff, daß Arnims Werke beim Publikum nicht hatten reüssieren können: »Wenn daher Arnim so wenig genannt und erkannt worden, so liegt wahrlich die Schuld weniger in seiner Art, als in der Unart und Schwerfälligkeit des Publicums, das in Ernst und Scherz sich in seinen gewohnheitsseligen Alltagswerken und Vorurtheilen nur ungern gestört fühlt.« Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Kunisch. Band IX. Literarhistorische Schriften III. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Hg. von Wolfram Mauser. Regensburg: Habbel 1970, S. 342. Vgl. zum Einfluß Arnims auf Eichendorff: Wolfgang Frühwald: Repräsentation der Romantik. Zum Einfluß Achim von Arnims auf Leben und Werk Joseph von Eichendorffs. In: Aurora 46
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sich diesbezüglich als wesentlich hellsichtiger: »Arnim ist ein durchaus objectiver Dichter; in der Welt aber geht es nicht um ein Haar ordentlicher zu, als in seinen Dichtungen, auch die äußere Welt ist nur ein Kaleidoskop, wo sich das Licht bei jeder Wendung neu und anders bricht.«169 Arnim reagierte mit der komplexen Ästhetik seiner Werke auf eine problematische Realität, die durch Dichtungen nicht beschönigt und geglättet werden durfte.170 »Ei, Fluch aller Kunst, wenn sie weiter nichts kann, als dem armen Menschen den würdigsten Gedanken, das herrlichste Bild, seinen letzten Schatz, die Trauer um vergangene Herrlichkeit entreißen, um ihn in die Wolken hineinzuschaukeln, bis es sich im Kopfe dreht und im Magen dehnt.«171 Eine Alternative aber muß Poesie gleichwohl aufzeigen. »Die Zeit lehrt und wird lehren«, schreibt Arnim in der Rezension eines Gedichtbandes von Friedrich Heinrich de la Motte Fouque, »daß Poesie nicht allein Kunde von einem untergegangenen Paradiese, sondern auch Ahndung eines wieder zu gewinnenden sei«172; die zumeist versöhnlichen Ausklänge von Arnims Dichtungen verweisen auf die didaktische Intention des Autors, der »Gnade walten«173 läßt mit seinem Personal, weil er – trotz aller Skepsis – an einen gottgewollten und daher sinnvollen Gang der Geschichte glaubt.
169
170
171 172
173
(1986), S. 1–10; Christof Wingertszahn: »Erfrischende Anregung und Erweckung« – Eichendorffs Arnim-Rezeption in den Erzählungen Das Schloß Dürande und Die Entführung. In: Aurora 54 (1994), S. 52–71; Sibylle von Steinsdorff: Eichendorff und die Romantik in Berlin 1809/1810. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen ArnimGesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 153–169. So Eichendorff in seiner Abhandlung Zur Geschichte des Dramas. In: Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Kunisch. Band VIII. Literarhistorische Schriften II. Abhandlungen zur Literatur. Regensburg: Habbel 1965, S. 247–424, hier S. 380. Vgl. Staengle, Arnims poetische Selbstbesinnung (wie Anm. 21), S. 8: »Arnims poetischer Anarchismus verweist auf einen Mangel an kultureller Orientierung in einer Krisensituation, da überlieferte Verbindlichkeitsofferten nicht mehr und neue noch nicht in Sicht sind; er reflektiert den sozialgeschichtlichen Tatbestand, daß ein historisches Zurück ebenso unmöglich ist wie die vorbehaltlose Begrüßung des Kommenden.« Brief an Bettina Brentano vom 12. Juli 1809. In: Bettine und Arnim, Briefe (wie Anm. 70), S. 208–214, hier S. 208. Ludwig Achim von Arnim: Kritische Schriften, Erstdrucke und Unbekanntes. Hg. von Helene M. Kastinger Riley. Greenville: Whittington 1988, S. 252. Diese von Arnim im Preußischen Correspondent[en] (Nr 114/1813) veröffentlichte Rezension von Fouques Band Gedichte vor und während dem Kriege von 1813 (1813) ist leider nicht in die Werkausgabe aufgenommen worden. Ich zitiere daher aus der von Kastinger Riley (1988) veranstalteten Sammlung der journalistischen Beiträge Arnims. Haustein, Romantischer Mythos (wie Anm. 142), S. X.
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Die versöhnliche Seite seiner Dichtung, die die unerbittliche Zeitkritik gleichsam abfedert, wird in ästhetischer Hinsicht zumeist über ein Verfahren ermöglicht, das Helga Halbfass als eine »spezifische Anwendung des in der romantischen Ironie begründeten Strukturprinzips der Doppelung«174 begreift: »Während z. B. E.T.A. Hoffmann das Motiv der Persönlichkeitsspaltung bevorzugt und virtuos gestaltet, zeigt sich bei Arnim [...] eine ausgeprägte Neigung zur Zweiteilung seiner Werke, zur Figurenverdoppelung (zwei Väter, zwei Mütter, zwei Bräute), wie auch zur fluidalen Verkoppelung zweier Figuren, die sich unter anderem im Motiv des Doppeltodes manifestiert [...].«175 Der eine Teil des Werkes – oder die eine Figur – verkörpert die Krise, der andere verweist auf die Perspektive. So sind die Lebensläufe des selbstbezogenen Hollin und des für die Gemeinschaft wirkenden Saussure in Arnims frühem Roman Hollins Liebesleben antithetisch aufeinander bezogen, das Doppeldrama Halle und Jerusalem zeigt im ersten Teil fatale Leidenschaft und im zweiten eine Pilgerreise zum Zwecke der Buße, und die Titelheldin der Gräfin Dolores präsentiert sich nach ihrem Ehebruch in der ersten Hälfte des Romans später als vorbildliche Gattin. Nicht selten belastet freilich der Versuch, den »Skeptizismus bei der Diagnose«176 mit dem »Optimismus der Prognose«177 in Einklang zu bringen, die Glaubwürdigkeit einzelner Figuren und die Stringenz des erzählten Geschehens.178 So erschien etwa dem Rezensenten Wilhelm Grimm179 der Wandel der Gräfin Dolores von der lebenslustig-selbstsüchtigen Betrügerin zur vor174
175 176 177 178
179
Helga Halbfass: Ironie und Geschichte. Achim von Arnim und die Krise der romantischen Ästhetik. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 67. Ebd. H.-G. Werner, Freiherr vom Stein (wie Anm. 48), S. 116. Ebd. Helga Halbfass hält deswegen den jeweils zweiten Teil in der Gräfin Dolores oder in Halle und Jerusalem schlichtweg für einen »Witz«, mit dem sich Arnim »der von Jean Paul prophezeiten Tendenz zum poetischen Nihilismus« annähere: »Als Instrument der Krisentherapie ist nun die kritische Theorie der Romantik selbst in die Krise geraten: sie vermag zwar noch die Krisen zu identifizieren und zu verursachen, aber nicht mehr zu heilen.« Hier unterschätzt Halbfass m. E. den pädagogischen Impetus Arnims. Vgl. Halbfass, Ironie und Geschichte (wie Anm. 174), S. 68 und auch Fischer, Interpretation (wie Anm. 150), S. 191. Wilhelm Grimm hat indes die didaktische Komponente von Arnims Schaffen durchaus erkannt: »Man hat Arnim zu den romantischen Dichtern gezählt, weil ihn die Betrachtung früherer Zeiten reizte, [...] aber es war ihm nicht blos um poetische Ergötzlichkeit zu thun, der Gewinn sollte den Mitlebenden zu gut kommen«, schrieb er 1839 im Vorwort zu der von ihm und Bettina von Arnim veranstalteten Werkausgabe. W. Grimm, Vorwort (wie Anm. 15), S. X. Zur Freundschaft Bettinas mit den Grimm-Brüdern vgl. Vera Thielenhaus: Die »Göttinger Sieben« und Bettine von Arnims Eintreten für die Brüder Grimm. In: Bettina-von-ArnimGesellschaft: Internationales Jahrbuch 5 (1993), S. 54–72.
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bildlichen Gattin »mit freudiger Bereitschaft zu zwölffacher Mutterschaft«180 wenig nachvollziehbar: »Wir müssen die Unendlichkeit der Gnade und Kraft der Buße anerkennen für die größte Sünde, aber wir begreifen nicht, oder haben keine Erfahrung davon, wie ein leeres Herz von Liebe je kann angefüllt werden, wie es von der Dolores behauptet wird: die Sünde, die gebüßt wird, setzt ein verlorenes Paradies voraus, das wieder erlangt wird. Dolores aber, so weit wir sie kennen, hat nie darin gewandelt.«181
5
Die Verantwortung des Schriftstellers
Arnim hatte seine – durchaus vielversprechende182 – Karriere als Naturwissenschaftler 1802 aufgegeben, weil er nicht »für Büchermotten«183 schreiben wollte: »Ich dachte damals, daß mein Wirken für Physick unnüz wäre [...].«184 Damit ist aber zugleich der Maßstab benannt, an dem sich auch die poetische Existenz messen lassen muß: in den schweren Zeiten des politischen Umbruchs legitimiert sich die intellektuelle Tätigkeit nur über ihre politische und soziale Wirksamkeit. Ein Brief an Sophie Mereau, Brentanos früh verstorbene erste Frau, illustriert Arnims poetologisches Selbstverständnis: »[N]ichts ist unpoetischer in der Welt als das Leben eines Dichters. [...] Dichter sind nur Dichter, wenn sie wirklig nothwendig der Welt, um der Welt nothwendig zu seyn, muß man sich frey in ihrer Noth wenden lernen.«185 Jenes von Helga Halbfass konstatierte »interessante[] Wechselspiel zwischen historischpolitischen Ereignissen, der Biographie, der kritischen Theorie und der literarischen Produktion, die einander als ständig sich neu schreibende Texte überla180 181
182
183 184 185
Halbfass, Ironie und Geschichte (wie Anm. 174), S. 68. Wilhelm Grimm: [Rezension] Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein aufgeschrieben von Ludwig Achim von Arnim. In: Der romantische Rückfall (1806– 1815). Die wesentlichen und die umstrittenen Rezensionen aus der periodischen Literatur von 1806 bis 1815, begleitet von den Stimmen der Umwelt. Hg. von Oscar Fambach. Berlin: Akademie-Verlag 1963 (Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik: 1750–1850; 5), S. 588. Die Rezension erschien im Januar 1811 in den Heidelbergische[n] Jahrbücher[n]. »Schellings Freundschaftsanerbieten und die Beziehungen zu Ritter weisen die Potenzen des jungen Arnim auf den neuen, wesentlich zum Fortschritt der Naturwissenschaften beitragenden physikalischen Gebieten ebenso überzeugend aus, wie Arnims Arbeiten auf diesen zeitgenössischen Forschungsschwerpunkten Zeugnis von seinem produktiven Beitrag zur Entwicklung der Naturwissenschaften ablegen«, kommentiert Heinz Härtl Arnims Perspektiven auf dem naturwissenschaftlichen Sektor. Vgl. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 47f. Brief vom 24., 26. und 27. Dezember 1803 an Brentano. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 181–210, hier S. 184. Ebd. Achim von Arnim an Sophie Mereau, Brief vom 3. Januar 1805. In: Unbekannte Briefe (wie Anm. 89), S. 33–35, hier S. 35.
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gern«186, ergibt sich genau aus diesem Postulat der sozialpolitischen Verantwortung eines Dichters. Der Anspruch, »notwendig zu sein«, erklärt den pädagogischen Impetus und den offenkundigen politischen Gehalt von Arnims literarischer Produktion, hat aber auch Folgen für den Lebensentwurf des Dichters selbst, wie Gerhard Möllers konstatiert: »Eine fest fundierte und daher übermächtige Realität, eine durch die Wirren der Kriege neuformierte Gesellschaft mit hergebrachter Strukturierung, eine Abschwächung der übernommenen Forderungen des Idealismus betreffen nicht nur die künstlerischen Versuche der Zeit und modifizieren sie, sondern dringen in die künstlerische Existenz selbst ein«187; deshalb, so Möllers, ist für Arnim – im Gegensatz zu seinem Freund Brentano – eine Existenz als »totaler Künstler« nicht vorstellbar. In dieser Frage offenbart sich denn auch ein prinzipieller Dissens zwischen den beiden Herausgebern des Wunderhorns, sieht Brentano das rege politische Engagement seines Freundes doch mit sehr viel Skepsis, worüber später ausführlicher zu sprechen sein wird. Ein Künstler – so viel sei vorweggenommen – muß dem jungen Brentano zufolge »ein Mensch hoch über der Zeit«188 sein; eine Ansicht, die Arnim nicht teilen konnte: »Wer des Vaterlandes Noth vergist, den wird Gott auch vergessen in seiner Noth!«189, beschied er dem »liebe[n] Clemens«190. Daß »sein Vaterland« ihn »jetzt nicht eigentlich brauchen kann«191, mußte Arnim freilich schon frühzeitig schmerzvoll realisieren. Seine Bemühungen, die schriftstellerische Tätigkeit mit einer politischen Laufbahn zu ergänzen, waren nur von geringem Erfolg gekrönt, wie er selbst gegenüber Friedrich Schlegel im März 1808 konzediert: »Alle Versuche[,] mich dem Vaterland nützlich zu machen[,] gingen in dem immerwährenden Strudel des Verderbens zugrunde«192. Symptomatisch hierfür ist Arnims (»[Es] ergreift mich eine Lust zum Einrichten des Staats«193) erfolglose Bewerbung bei Wilhelm von Humboldt, der im Februar 1809 zum Chef der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium ernannt worden war. »[A]ber denk Dir, daß Humboldt mir zur ersten Bedingung machte [...], daß ich die verfluchten Gesellschaften 186 187 188 189 190 191 192
193
Halbfass, Ironie und Geschichte (wie Anm. 174), S. 62. Möllers, Wirklichkeit und Phantastik (wie Anm. 24), S. 38. Brief vom 20. August 1806. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 421f., hier S. 421. Brief vom 8. September 1806. Ebd., S. 422–427, hier S. 422. Ebd., S. 423. So Arnim in der Schrift Indem ich die Feder ansetze. In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 195–199, hier S. 196. Brief vom 4. März 1808. In: Roswitha Burwick: Exzerpte Achim von Arnims zu unveröffentlichten Briefen. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1978), S. 355f. Brief an Bettina Brentano vom 15. Januar 1809. In: Bettine und Arnim, Briefe (wie Anm. 70), S. 111–115, hier S. 112.
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besuchen sollte, um den Leuten einen andern Begriff von mir zu geben, die mich für einen Wilden halten, der mit Gott und der Welt trotzt, da ich doch eigentlich den Hauptfehler habe, daß ich zu weich bin«194, berichtet er seiner späteren Frau Bettina, und in der Tat ist es in erster Linie Arnims schlechter Ruf, der ein mögliches Engagement scheitern läßt: »Auch an den Achim v. Arnim, den Wunderhornmann, der wirklich in Dienst gehen will, habe ich gedacht«195, schreibt Humboldt seiner Frau Caroline: »Allein er hat so grobe Streitigkeiten mit Voß und Jacobi, und geht in solcher Pelzmütze und mit solchem Backenbart herum, und ist so verrufen, daß nicht daran zu denken ist.«196 Arnim, dessen Leumund zwei Jahre danach durch den Itzig-Skandal noch weiter beschädigt werden sollte,197 wurde später noch Wiepersdorfer Kreisdeputierter,198 ansonsten blieb ihm eine politische Laufbahn versagt. Nicht weniger glücklos verliefen seine militärischen Ambitionen. 1806 verhinderte der schnelle Waffenstillstand von Austerlitz einen soldatischen Einstand Arnims, 1813 wurde seine Bewerbung bei der Landwehr abgelehnt. Der im April 1813 ausgehobene Landsturm, an dem Arnim sich beteiligte und in dem er schnell zum Hauptmann avancierte, wurde schon im Juli wieder aufgehoben, »ohne da[ß] er sich hätte im Kampf bewähren müssen, und für Arnim war der Krieg vorbei«199. Der Autor sah sich »wieder auf die Poesie reduzirt«200; sein tagespolitisches Engagement blieb auf journalistische Aktivitäten beschränkt, was Arnim tief bedauerte: »Wie thut es mir zuweilen wehe, daß ich keinen Einfluß habe, und dann denke ich mir wieder zum Trost, daß ich gewiß so ein Esel geworden wäre, wie diese Männer von Einfluß, wenn ich ihn erlangt hätte.«201
194 195
196 197 198 199 200
201
Brief vom 10. März 1809. Ebd., S. 143–146, hier S. 144. Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hg. von Anna von Sydow. Dritter Band. Berlin 1909. S. 101f. Hier zit. n. Kastinger Riley, Arnim (wie Anm. 77), S. 75. Ebd. Helene M. Kastinger Riley weist darauf hin, daß sich der Skandal auf »Arnims politische Ambitionen [...] vernichtend« ausgewirkt habe. Ebd., S. 87. Brief an die Brüder Grimm vom 10. Dezember 1829. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 587–590, hier S. 588. Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg (wie Anm. 48), S. 194. So Arnim in einem Brief an Brentano vom 3. August 1813. In: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe II. 1807 bis 1829. Vollständige kritische Edition. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), S. 678. Brief an die Brüder Grimm vom 10. Dezember 1829. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 587–590, hier S. 588.
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F Nationales Engagement u. antisemitische Denunziation bei Achim von Arnim
III
Kultur und Gedächtnis
1
Ein »Doppeldecker«-Modell
Im Juli 1802 berichtet Achim von Arnim seinem Freund Clemens Brentano von dem – freilich unausgeführt gebliebenen – Plan, eine »Singschule der Poesie«202 eröffnen zu wollen. »Die einfachsten Melodien von Schulz, Reichardt[,] Mozart u. a. werden durch eine neuerfundene Notenbezeichnung mit den Liedern unter das Volk gebracht, allmälig bekömmt es Sinn und Stimme für höhere wunderbare Melodien[.] [...] Dies giebt den Deutschen einen Ton und eine enge Verbindung, jeder Streit zwischen ihren Fürsten muß sich selbst verzehren, weil der Deutsche gegen seine Brüder nicht zu Felde zieht, die Ausländer ihrer Unterstützung gegen sie beraubt müssen ihnen verbündet, Deutschland der Blitzableiter der Welt werden.«203 Den »Deutschen eine enge Verbindung« zu geben, das ist – wie erwähnt – auch die Intention jener Reformideen, die Arnim in seiner Publizistik vehement vortrug und die auf eine »verfassungsmäßig garantierte Öffentlichkeit«204 hinzielten. In Arnims Konzeption, die Günter Oesterle ebenso plastisch wie treffend als »Doppeldeckermodell«205 beschreibt, stellt die »reflexive, allseitige Kommunikation«206 freilich nur – um im Bild zu bleiben – die obere Ebene dar. »Diese allgemeine Mitteilungsfähigkeit bleibt [...] formal und abstrakt«207, schreibt Oesterle, »wenn sie nicht in einer unmittelbaren, vorbewußten Verbindung des Volkes fundiert wird.«208 Arnims Heidelberger Projekte wie Des Knaben Wunderhorn oder die Zeitung für Einsiedler sollen diese vorbewußte Verbindung stärken und mithin einen Beitrag zu der intendierten sukzessiven Überwindung der politischen Zersplitterung Deutschlands über die Konstruktion eines gemeinsamen nationalen Gedächtnisses leisten. Genau in diesem Kontext muß auch Arnims Versuch gesehen werden, den von ihm und seinen Heidelberger Freunden Clemens und Bettina Brentano sowie Wilhelm Grimm bewunderten Goethe zu einer nationalen Identifikationsfigur zu stilisieren, die »dem Volke [...] so lieb wie der Keiser Octavianus«209 werden soll.
202 203 204 205 206 207 208 209
Brief vom 9. Juli 1802. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 16–23, hier S. 22. Ebd., S. 22f. G. Oesterle, Commentar (wie Anm. 112), S. 37. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 35. Ebd. Auch dieses Postulat findet sich in dem Brief vom 9. Juli 1802 an Brentano. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 16–23, hier S. 22.
III Kultur und Gedächtnis
2
253
Der »Kern der Deutschheit«: Zur politischen Intention von Des Knaben Wunderhorn
1805 gaben Arnim und Brentano den ersten Band ihrer Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn heraus, drei Jahre später folgten die Bände zwei und drei. Daß die Intention dieser Sammlung nicht zuletzt politischer Natur war, geht aus Arnims Essay Von Volksliedern,210 der den ersten Band beschließt und den Heinz Härtl als »wichtigste Programmschrift der ›Heidelberger Romantik‹«211 einstuft, mit aller Deutlichkeit hervor. »Die Spaltung war gemacht, der Keil eingetrieben, bald sollte der Staat nicht mehr für die Einwohner, sondern als Idee vorhanden seyn, manches Volk kannte seinen eignen Namen nicht mehr und wo ein Staat sich selbst geboren, da sah man, daß die anderen eigentlich nur noch Namen waren«212, beklagt Arnim in diesem – »ein wenig kryptisch angelegten«213 – Text die Zersplitterung Deutschlands und die politisch widrigen Verhältnisse. In der »volle[n], thateigene[n] Gewalt«214 der Volkspoesie erblickt er freilich ein Potential, diese mißliche Situation zu überwinden, denn »es wird uns anstimmend seyn, ihre noch übrigen lebenden Töne aufzusuchen, sie kommt immer nur auf dieser einen ewigen Himmelsleiter herunter, die Zeiten sind darin feste Sprossen, auf denen Regenbogen Engel niedersteigen, sie grüßen versöhnend alle Gegensätzler unsrer Tage und heilen den großen Riß der Welt, aus dem die Hölle uns angähnt, mit ihrem Zeigefinger zusammen«215. Die harmonisierende Wirkung der Volkslieder, das wird an dieser Stelle deutlich, resultiert aus ihrem ahistorischen Charakter. Die Volkspoesie, die »nur entfallen, nicht vergessen werden kann«216, ist zu allen Zeiten in allen Menschen, die verschütteten Traditionen müssen nur freigelegt werden, dann entfalten sie ihre integrative Wirkung. Über die »Sprossen der Zeiten« hinweg heilen die »noch übrigen lebenden Töne« jenen »Riß der Welt«, der durch die Entfremdungsprozesse zwischen den einzelnen Ständen entstanden war. »In Volkspoesie vergegenständlicht sich für Arnim ein überzeitliches, überirdi210
211 212 213
214 215 216
Achim von Arnim: Von Volksliedern. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Band 6: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Teil I. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1975, S. 406–442. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 104. Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 415. So Gerhard vom Hofe: Der Volksgedanke in der Heidelberger Romantik und seine ideengeschichtlichen Voraussetzungen in der deutschen Literatur seit Herder. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 244. Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 409. Ebd., S. 430. Ebd., S. 406.
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F Nationales Engagement u. antisemitische Denunziation bei Achim von Arnim
sches Absolutum mit Ewigkeitscharakter.«217 Auf der Basis einer »höheren, poetischen Einheit«218 wird die politische dank »des gemeinsamen Gesanges eines Ensembles scheinbar gleichberechtigter Individualitäten«219 überhaupt erst möglich. Mit der Anspielung auf die Jakobsleiter in Genesis 28, »welche dort als Zeichen des ersten und erneuerten Bundes Gottes mit seinem Volk begriffen wird«220, erfährt die Volksdichtung an dieser Schlüsselstelle des Essays zugleich ihre »Deifizierung«221, wie Gerhard vom Hofe darlegt; »das Gesetz einer fortwährenden und unverlierbaren Traditionsgeschichte ursprünglicher Poesie und Kultur«222 wird mithin »religiös verankert«223. Besinnt sich ein Volk jedoch nicht auf die Regeneration dieser verschütteten Traditionen, sind die Folgen fatal: Arnim begreift das »urschnelle[] Paradiesgebären«224 der Französischen Revolution auch als Konsequenz daraus, daß dort »fast alle Volkslieder erloschen [sind]«225. »[...] was soll sie [die Franzosen, M. P.] an das binden, was ihnen als Volk festdauernd?«226, fragt Arnim, der ähnliche Prozesse jedoch auch in »Deutschland« befürchtet. Deshalb ist sein Plädoyer für die Volkspoesie zugleich auch eine Attacke gegen eine elitäre Kunstdichtung, die sich bewußt von den einfacheren Gesellschaftsschichten abwendet und damit die Spaltung der Nation forciert: »Hinter dem vornehmen Anstande, hinter der vornehmen Sprache versteckt, scheiden sie sich von dem Theile des Volks, der allein noch die Gewalt der Begeisterung ganz und unbeschränkt ertragen kann, ohne sich zu entladen, in Nullheit oder Tollheit.«227 Dem herrschenden Kulturbetrieb – und mithin auch dem »UnverständlichkeitsKonzept der Frühromantik«228 – stellt Arnim denn auch ein miserables Zeug217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228
Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 120. Ebd., S. 109. Ebd. Hofe, Volksgedanke (wie Anm. 213), S. 246. Ebd. Ebd. Ebd. Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 408. Ebd. Ebd. Ebd., S. 412. Holger Schwinn: Kommunikationsmedium Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano in den Jahren 1801 bis 1816. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften; 1635), S. 71f. Freilich dürfen über diesem Dissens die Gemeinsamkeiten zwischen der Jenaer Frühromantik und der späteren Heidelberger Romantik nicht vergessen werden: Das Ganzheitsdenken, die Prozeßhaftigkeit des Denkens, den Widerwillen gegen alles Gewöhnliche und Alltägliche sowie die Brandmarkung des Philisters als Repräsentanten eben jener Gewöhnlichkeit macht Pikulik als Verbindungspunkte zwischen diesen beiden Phasen der Romantik namhaft: Lothar Pikulik: Die sogenannte Heidelberger Romantik. Tendenzen, Grenzen, Widersprüche. Mit einem Epilog über das Nachleben der Romantik heute. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von
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nis aus. Ohne »Sinn für das Große eines Volks«229 sind »eigentlich die Künstler aller Art der Welt so überflüßig, wie sie gegenseitig ärmlich, zufrieden, wenn einer sie versteht unter tausenden, glücklich, wenn dieser eine keinen Ueberdruß an ihnen erlebt: Mag nur keine neue Völkerwanderung kommen, was würde von dem allen bleiben, – sicher keine Athenische Ruinen!«230 Jene Volkspoesie, die Arnim sucht, und die als Grundlage eines imaginierten Volksideals dienen kann, findet sich »[n]ur an der Peripherie der Gesellschaft, bei den sozial und lokal ungebundenen Schichten, den Fahrenden und Vagabundierenden, Deklassierten und Umherschwärmenden, Zigeunern und Studenten«231 sowie der einfachen Landbevölkerung der südlichen deutschen Länder. Arnim arbeitet hier mit einer Stadt-Land-Dichotomie und spielt die vermeintlich impulsiv-ursprüngliche Vitalität des einfachen Landlebens gegen die städtische Institutionalisierung aller Lebensbereiche aus. Die unkorrumpierten unteren Schichten sieht Arnim als ideale Vermittler jenes vorzeitigen Geistes, der sich in der Volkspoesie kundtut und der den Deutschen ihre Zusammengehörigkeit verbürgt. Der Begriff des »Volkes« avanciert auf diese Weise »zu einem Zukunftsbegriff, der auf etwas noch zu Realisierendes verweist«232 und deshalb eine »ungeheure prognostische Sprengkraft«233 gewinnt. Gleichwohl wird die Sympathie für die einfachen Leute von einem sozialen Interesse allenfalls begleitet, keinesfalls strukturiert, wie Heinz Härtl darlegt: »So sehr er [Arnim, M. P.] ihre Kraft und Würde, ihre echte Sentimentalität zu schätzen wußte, so sehr verwahrte er sich gegen sie, sobald sie unverblümt und unverfroren Tabuisiertes entblößte. [...] Indem er aber die zotige Aufklärung in den Bann tut, richtet er sich auch gegen die radikale demokratische, die mit ihr im Volkslied verschwistert zu sein scheint.«234
229 230 231 232
233 234
Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 194. Vgl. auch Harro Segeberg: Phasen der Romantik. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 31–78 sowie Das »Wunderhorn« und die Heidelberger Romantik. Performanz, Mündlichkeit, Schriftlichkeit. Heidelberger Kolloquium der Interationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2005 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 5). Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 414. Ebd. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 408. Stefan Nienhaus: »Wo jetzt Volkes Stimme hören?« Das Wort ›Volk‹ in den Schriften Achim von Arnims von 1805 bis 1813. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 92. Ebd. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 108f. Auch Lothar Pikulik moniert, daß die Heidelberger Romantiker »bei ihrer Sammeltätigkeit in einer Art Selbstzensur geflissentlich [übersehen, M. P.], was ebenso oder noch eher des Volkes ist, zum Beispiel das Schwankhaft-Obszöne«. Pikulik, Heidelberger Romantik (wie Anm. 228), S. 198.
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Arnims Sammlung ist nicht an der Beförderung der Humanität orientiert, sondern an einer nationalen Programmatik. So fällt sie in ihrem sozialpolitischen Gehalt hinter die früheren Projekte eines Rudolf Zacharias Becker235 oder Johann Gottfried Herder zurück,236 auch wenn Arnim die oberen Stände punktuell kritisiert und ihre Kulturpraxis für grob verfehlt erklärt. »Wo es Herder vor allem um den natürlichen Anspruch des Menschen aus dem Volk um gleiches Recht gegenüber den unnatürlichen Vorrechten der oberen Stände, um Souveränität jedes Individuums geht, geht es Arnim vor allem um die Souveränität der Nation«237, bilanziert Härtl. Symptomatisch hierfür ist die Bearbeitung des epischen Gedichtes Der Schweizer, in dem das Schicksal eines in französischen Diensten stehenden Schweizer Söldners thematisiert wird.238 Der Soldat desertiert und wird dafür 235
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237 238
Die Aufnahme antijüdischer Gedichte in die Sammlung begreift Gunnar Och als dezidierte Abgrenzung zu Beckers Mildheimische[m] Lieder-Buch [...] (1799), in dem in zwei Gedichten religiöse Toleranz gefordert wurde; eines dieser beiden Gedichte propagierte die ›bürgerliche Verbesserung‹ der unterdrückten Minderheit sogar sehr offen. Dagegen reaktiviert Arnim mit der Aufnahme von insgesamt zehn antijüdischen Gedichten (Das Feuerbesprechen, Die Juden in Passau, Die Leiden des Herren, Die Judentochter, Petrus, Frühlingserwartung, Das Prager Lied, Inkognito, Kerbholz und Knotenstock, Letztes Toilettengeschenk) die seit dem Mittelalter tradierten antijüdischen Ressentiments. Insofern enthält auch schon jenes Volksideal, das Arnim in seinem Essay imaginiert und mit seiner Sammlung forcieren will, einen antijüdischen Ausschlußparagraphen. Vgl. Och, Alte Märchen (wie Anm. 60), S. 84– 86; Och, Imago Judaica (wie Anm. 60), S. 273–275; Martina Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano. Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Peter Lang 1999 (Forschungen zum Junghegelianismus; 4), S. 132–142; Barbara Hahn: »Eine Impertinenz«. Rahel Levin liest Achim von Arnim. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 223–231. Zu Herders Volksliedauffassung vgl. ausführlich Hans-Günther Thalheim: Zur Literatur der Goethezeit. Berlin: Ruetten & Löning 1969 (Germanistische Studien), S. 274–287 sowie Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 347–350. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 111. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Band 6: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Teil I. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1975, S. 136f. Vgl. die Erläuterungen in Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Band 8: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Teil I. Lesarten und Erläuterungen. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1975, S. 283–286. Zum »epischen Gedicht« bzw. zur Terminologie vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1989, vor allem S. 88–90.
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hingerichtet – insoweit gehen Vorlage und Bearbeitung konform; die Motive des Söldners indes haben sich geändert, denn in der Überlieferung desertierte er aus »Unzufriedenheit mit dem militärischen Zwangsapparat der französischen Söldnertruppen«239, wie Hans-Günther Thalheims Analyse deutlich macht, während in der Bearbeitung Brentanos das durch die Töne eines Alphorns geweckte Heimweh für die Desertion ausschlaggebend ist. »In der literarischen Vorlage steht der Protest gegen das menschenunwürdige Söldnerwesen im Mittelpunkt. Bei Brentano [...] fehlt jede soziale Anklage«240, bilanziert Thalheim, der eine »konzeptionelle Tendenz der Herausgeber«241 konstatiert, »soziale Proteste zu vermeiden oder abzuschwächen«242. Die bestehenden Gräben zwischen den privilegierten Schichten und jenen Außenseitern, die die Gedichte des Wunderhorns bevölkern, sollen nicht weiter vertieft, sondern im Sinne der nationalen Intention vielmehr zugeschüttet werden. Deshalb findet gegenüber den früheren Volksliedsammlungen eine merkliche Entschärfung statt, was sozialkritische Tendenzen betrifft. Die »Gegensätzler unsrer Tage«243, von denen Arnim in seiner Abhandlung spricht, dürfen keine weitere Nahrung erhalten. Neben dieser Allianz von demokratischem Engagement für das einfache Volk und unkritischer Affirmation des bestehenden politischen Systems tritt in Arnims Essay noch eine zweite für die nationale Programmatik typische Ambivalenz zutage. Die eingeforderte Besinnung auf das Eigene wird durch das Postulat, Fremdes auszuschließen, kontrastiert. »Versteckt euch eben so wenig hinter welschen Liedern, dem einheimischen Gefühl entzogen seyd ihr dem Fremden nur abgeschmackt.«244 Gegenüber Herders Sammlung Volkslieder, die 1778/79 in zwei Bänden erschienen war, wurde auch in dieser Hinsicht ein »programmatisch[er] Abstand«245 gewahrt: Herder war es in seinem Kompendium um die »alle politischen Grenzen transzendierende Natur des empfindenden Menschen«246 gegangen, mithin um ein international-universales Verständnis von »Volksmäßigkeit«. Dagegen will Arnim die »politisch unsichtbare Nation zu Wort kommen [...] lassen«247, wie Ethel Matala de Mazza analysiert. »[F]reilich ist alles ausländische noch aus unserm Plane ausgeschloßen«248, berichtet Brentano folgerichtig in einem Brief vom 20. Mai 1806. 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248
Thalheim, Goethezeit (wie Anm. 236), S. 304. Ebd., S. 304f. Ebd., S. 305. Ebd. Bei Thalheim finden sich weitere Beispiele für diese Tendenz. Vgl. ebd., S. 305ff. Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 430. Ebd., S. 413. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 350. Ebd., S. 349. Ebd., S. 350. Clemens Brentano an Ernst Höpfner, Brief vom 20. Mai 1806. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen
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F Nationales Engagement u. antisemitische Denunziation bei Achim von Arnim
Wie das Wunderhorn insgesamt, dessen »durchaus konkrete politische Implikationen«249 bisweilen übersehen wurden, so stieß auch Arnims Abhandlung Von Volksliedern bei den Zeitgenossen auf viel Unverständnis; selbst Brentano zerbrach sich »über die eigenthümlige Undeutlichkeit vieler Stellen [...] Schamroth oft den Kopf«250. Gleichwohl vermutete er hinter Arnims »Volksliedditirambe [...] voll vulkanischer Explosion«251 einen »geheimen Plan[] in deinem Vaterland eine mächtige Nation zu bilden, die leben, siegen und sterben könnte«252. Dieser »Plan« wird wohl auch Karl August Varnhagen von Ense aufgefallen sein, dessen Rezension von Des Knaben Wunderhorn sich der nationalen Intention des Mitherausgebers Arnim gegenüber adäquat verhielt, indem sie die Lieder als »deutsch« klassifizierte: »Die Lieder sind deutsch; nur den, welchem der innere Kern der Deutschheit noch nicht verdorben ist, können sie ansprechen [...].«253 Varnhagen bittet denn auch, die Texte öffentlich auszuteilen, damit die »erwachenden Singer das Deutsche Reich wiederherstellten«254.
3
Abschied »ohne Vorwurf«: Die kurzlebige Zeitung für Einsiedler
Im gleichen Jahr, als die Bände zwei und drei des Wunderhorns herauskamen, betätigte sich Arnim als »spiritus movens«255 eines Unternehmens, mit dem er ganz ähnliche Interessen verfolgte wie mit der besagten Volksliedsammlung.
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Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald u. a. Band 31: Briefe III. 1803–1807. Hg. von Lieselotte Kinskofer. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1991, S. 528f., hier ebd. Andreas Wistoff: Die deutsche Romantik in der öffentlichen Literaturkritik. Die Rezensionen zur Romantik in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« und der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« 1795–1812. Bonn, Berlin: Bouvier 1992 (Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit; 10), S. 210. Vgl. den Überblick zu den Wunderhorn-Rezensionen ebd., S. 210–222 sowie Thalheim, Goethezeit (wie Anm. 236), S. 315–321. Brief vom 1. Januar 1806 an Arnim. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 325–332, hier S. 329f. Brief vom Juli/August 1805 an Arnim. Ebd., S. 292f., hier S. 292. Ebd. Die Rezension erschien am 24. November 1805 anonym in den Nordische[n] Miszellen. Hier zit. n. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 103. Ebd.; zum Verhältnis von Arnim und Varnhagen vgl. Konrad Feilchenfeldt: Arnim und Varnhagen: Literarisch-publizistische Partnerschaft und Rivalität im Kampf um die ›deutsche Nation‹ 1806–1814. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen ArnimGesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 23–39. Gerard Kozielek: Das kulturpolitische Programm der »Zeitung für Einsiedler«. In: Zeitschriftenliteratur der Romantik. Internationales Kolloquium Karpacz 7.–10. Oktober 1985. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1988 (Germanica Wratislaviensia; 67), S. 85.
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Die Zeitung für Einsiedler256 präsentierte »ein Literaturprogramm, das mit den politischen Bestrebungen einiger patriotisch gesinnter Männer genauestens übereinstimmte«257, wie Gerard Kozielek konstatiert. Arnim konnte für seine Zeitung eine kleine, aber illustre Schar von Mitarbeitern gewinnen; darunter natürlich auch wieder Clemens Brentano, der schon 1805 »eine fortlaufende Zeitschrift für deutsche Volkssage[n]«258 als einen seiner »lebendigsten und liebsten litterärischen Pläne«259 bezeichnet und somit das Projekt seines Freundes gleichsam antizipiert hatte. Neben den anderen Heidelberger Freunden, nämlich Joseph Görres und Bettina Brentano, beteiligte sich noch eine ganze Reihe weiterer führender Romantiker: Tieck, Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, die Brüder Grimm, Uhland, de la Motte Fouque, Werner, Kerner und Runge wären hier zu nennen. Mit Jean Paul, Friedrich »Maler« Müller und dem Historiker Johannes von Müller wies das Blatt zudem prominente Beiträger über die romantischen Zirkel hinaus auf. »Nicht vertreten sind die Dichter der Aufklärung«260, kann Kozielek gleichwohl ein signifikantes Defizit dieses Personaltableaus aufzeigen. Die einzelnen Beiträge »dünken [...] auf den ersten Blick recht unterschiedlich«261 – Nachdrucke und Nacherzählungen aus der älteren und jüngeren Literatur, Gedichte zeitgenössischer Autoren, Übersetzungen aus fremden Sprachen, Auszüge und Fragmente aus Werken Goethes, Schillers und Jean Pauls sowie wissenschaftliche Untersuchungen bilden den Kernbestand – finden jedoch im nationalpädagogischen Engagement Arnims und seiner Mitstrei256
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258 259 260 261
Vgl. Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. Heidelberg 1808. Reprint, hg. von Hans Jessen. Darmstadt: Mohr und Zimmer 1962 (Neudrucke romantischer Seltenheiten; 3). Kozielek, Das kulturpolitische Programm (wie Anm. 255), S. 98. Vgl. zu der nationalen Intention dieser Zeitschrift auch Roman Polsakiewicz: Die romantische Wendung zu Mythos und Geschichte in der »Zeitung für Einsiedler«. In: Zeitschriftenliteratur der Romantik. Internationales Kolloquium Karpacz 7.–10. Oktober 1985. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1988 (Germanica Wratislaviensia; 67), S. 99–106 und Edith Höltenschmidt: Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2000, S. 87–91. Die Gegenposition vertritt Renate Moering, die freilich Kozieleks Beispiele nicht konkret widerlegt, sondern lediglich auf die Verbannung dezidiert politischer Themen – was allerdings, wie sie selbst konzediert, Zensurgründen geschuldet war – und die zahlreichen Übersetzungen verweist. Vgl. Renate Moering: Die Zeitung für Einsiedler. Programm und Realisierung einer romantischen Zeitschrift. In: Romantik und Volksliteratur. Beiträge des Wuppertaler Kolloquiums zu Ehren von Heinz Rölleke. Hg. von Lothar Blum und Achim Hölter. Heidelberg: Winter 1999 (Beihefte zum Euphorion; 33), S. 31–48, vor allem S. 34f. sowie S. 42f. Brief vom 2. April 1805 an Arnim. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 69), S. 277–283, hier S. 279. Herv. i. O. Ebd. Kozielek, Das kulturpolitische Programm (wie Anm. 255), S. 87. Ebd.
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ter ihren Verbindungspunkt. »Das Vorbild einer heroischen Vergangenheit, in der die Kraft der Nation auf seiner Einheit beruhte, hatte den Zweck, die Schlaffheit der eigenen Generation umso anschaulicher bloßzustellen«262, beschreibt Gerard Kozielek die didaktische Wirkung, die gerade die nationalen Belangen dienstbar gemachte altdeutsche Literatur erzielen sollte. Auch wenn das Blatt auf »Tag[e]sneuigkeiten«263 aus Gründen der Zensur verzichten musste,264 so ging es, wie Arnim später resümierte, doch um die »hohe Würde alles Gemeinsamen, Volksmäßigen«265 und mithin darum, über die Mitteilung der »ältesten Heldensagen [...] von den Nibelungen, König Rother u. s. w.«266 ein nationales Selbstbewußtsein in »Deutschland, mein[em] arme[n] [...] Vaterland«267 herzustellen.268 »Ich machte meinen Versuch so lehrreich wie möglich für mich und andre«269, bilanzierte Arnim denn auch später in seiner Abschiedsrede An das geehrte Publikum270, die er nach der Einstellung der Zeitung gemeinsam mit den Restexemplaren als Buch unter dem Titel Trösteinsamkeit auf den Markt brachte. Daß sich die Zeitung für Einsiedler auf die Darbietung von Literatur konzentrierte und nicht – wie Propyläen oder Athenäum – philosophische und ästhetische Fragestellungen in den Vordergrund stellte, trennte sie von den genannten Zeitschriften Goethes und der Frühromantik. »Sie übertrifft beide in der Kürze des Erscheinens [und] in der Mißgunst des Publikums«271, benennt Heinz Härtl in Anspielung auf das rasche Ende des Periodikums weitere Differenzen zu den Vorläufern. Nachdem zwischen dem 1. April und dem 30. August 1808 37 Nummern erschienen waren, erwies sich das Projekt als nicht mehr finanzierbar. Arnim sah seine Zeitung im Rückblick als »gutmüthige[n] Versuch, ob die Zahl der Menschen von allgemeinem Interesse für Kunst und freye Lustigkeit hinlänglich wäre ein Blat der Art zu halten«272 und mußte schließlich konzedieren, 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272
Ebd., S. 79. Arnim in seinem Aufsatz An das geehrte Publikum (1808). In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 249–257, hier S. 252. Vgl. Kozielek, Das kulturpolitische Programm (wie Anm. 255), S. 82: Baden stand als Rheinbundstaat unter der Oberhoheit der französischen Behörden. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 256. Ebd. Ebd., S. 252. Vgl. hierzu die Analyse einzelner Beispiele bei Kozielek, Das kulturpolitische Programm (wie Anm. 255), S. 87–98. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 251. Vgl. auch den Kommentar zu dieser Abschiedsrede S. 1176f. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 163. So Arnim in einem Brief an seinen Bruder Carl Otto »Pitt« von Arnim vom 23. Juni 1808. In: Heinz Härtl: Zwischen Tilsit und Tauroggen. Briefe Achim von Arnims an seinen Bruder Carl Otto von Arnim 1807–1812. Mit einem Briefwechsel Achim von Arnims und Wilhelm von Humboldts als Anhang. In: Impulse 6 (1983), S. 277f., hier S. 277.
III Kultur und Gedächtnis
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daß »diese Hoffnung [...] vielleicht zu kühn«273 gewesen sei; neben der »traurigen Zeit[,] in der die Bessern mit drückender Noth zu kämpfen haben«274 und der »Nachlässigkeit der Buchhandlung in der Versendung«275 machte er auch die »Wuth von Gegnern und Freunden«276 für den Mißerfolg verantwortlich. In der Tat war das Blatt von der Fraktion um den »keulenschwingenden«277 Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß energisch bekämpft worden.278 »[I]ch habe meine Kenntniß von Deutschland erweitert und trete dann ohne Vorwurf ab«279, erwies sich Arnim gleichwohl als guter Verlierer.
4
»Du bindest des zerstreuten Volkes Geister«: Goethe als nationale Identifikationsfigur
Der erste Band von Des Knaben Wunderhorn beginnt mit einer Widmung an Goethe; die beiden Herausgeber hoffen darin, »in Eurer Exzellenz Beifall«280 auszulösen, weil ihre Namen »als Mantel dieser übelangeschriebenen Lie273 274 275 276 277
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hans Jessen: Nachwort. In: Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. Heidelberg 1808. Reprint, hg. von Hans Jessen. Darmstadt: Mohr und Zimmer 1962 (Neudrucke romantischer Seltenheiten; 3), S. 4. Zu den Differenzen zwischen den Heidelberger Romantikern und Voß vgl. die folgenden ausgewogenen Darstellungen: Alfred Riemen: Der »ungraziöseste aller deutschen Dichter«: Johann Heinrich Voß. In: Aurora 45 (1985), S. 121–136; Günter Häntzschel: Johann Heinrich Voß in Heidelberg. Kontroversen und Mißverständnisse. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 301–321; Günter Häntzschel: Aufklärung und Heidelberger Romantik. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Frühwald und Alberto Martini. Tübingen: Max Niemeyer 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 24), S. 381– 397. Die Studie von Heribert Raab: Görres und Voß. Zum Kampf zwischen »Romantik« und »Rationalismus« im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart: Klett-Cotta 1987 (Deutscher Idealismus; 12), S. 322–336 leidet – wie viele Arbeiten zum Thema – darunter, daß sie die romantische Sichtweise des Konflikts, in der Voß als »Leitfossil der philisterhaftrationalistischen Richtung« [Riemen, Voß, S. 121] erscheint, allzu unkritisch übernimmt. Siehe auch Heinz Rölleke: Die Auseinandersetzung Clemens Brentanos mit Johann Heinrich Voß über »Des Knaben Wunderhorn«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1968), S. 283–328. Härtl, Tilsit und Tauroggen (wie Anm. 272), S. 277. Brentano, Sämtliche Werke VI (wie Anm. 238), S. 7.
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der«281 nicht ausreichten, um das »öffentliche Urtheil«282 milde zu stimmen. Die Zueignung muß auch als taktischer Schachzug verstanden werden, sollte dem Werk doch durch eine positive Rezension Goethes die gewünschte Aufmerksamkeit zuteil werden. »Das ist der unaufdringliche, aber nicht überlesbare Wunsch der Herausgeber und die intendierte und von Goethe realisierte Funktion ihrer Widmung.«283 Indes weist der Versuch, sich unter Goethes Schirmherrschaft zu begeben, über derlei pragmatische Aspekte weit hinaus. In Arnims nationaler Programmatik spielt die Person Goethes selbst eine bedeutende Rolle. Arnim, der auch die frühromantische Schiller-Aversion nicht teilte,284 »hatte zu Anfang des neuen Jahrhunderts die Abkehr der Schlegel und Novalis von Goethe nicht akzeptieren können und in eine intensivierte Bewunderung Goethes verkehrt, weil er die ideale Einheit von Dichtung und Leben, Dichter und Mensch in ihm und seinem Oeuvre repräsentiert glaubte«285. Auf dieser Basis stilisierte Arnim den Weimarer zu einer deutschen Identifikationsfigur: »Die Macht der Goetheschen Poesie ist das imaginäre Regime, durch das Arnim die Nation vereint [...] sehen möchte«286, faßt Heinz Härtl gegen Ende seiner Dissertation die Goethe-Apotheose des Romantikers zusammen. Arnims poetologisches Postulat, daß Romane »nationale Erziehungsb[ü]ch[er]«287 sein sollten, sah er durch Wilhelm Meisters Lehrjahre in exemplarischer Weise eingelöst, Goethe selbst war für ihn und seine Heidelberger Mitstreiter »Deutschlands Meister«288. Im August 1811, bei einem Besuch in Weimar, formulierte Arnim seinen Auftrag in einem Gedicht auf Göthe’s Geburtstag noch einmal deutlich: »Unübersetzlicher! Der Sprache Meister, / Die an drey Meeren zu dem Schiffer spricht, / Du bindest des zerstreuten Volkes Geister, [Hervorhebung M. P.] / Daß du ihr Haupt, das ahndest du noch nicht, / Doch wo sich Trauben spiegeln, wo beeister / Die Ströme ziehn, bewegt sie dein Gedicht. / Sie möchten dir vertraun, wie sie sich alle nennen, / Daß sie bey deinem Lied im Meere sich erkennen.«289 281 282 283 284
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289
Ebd. Ebd. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 104. Vgl. Lawrence O. Frye: Textstruktur als Kunstauffassung. Achim von Arnim und die Ästhetik Schillers. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 25 (1984), S. 131– 154. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 320. Ebd., S. 319. So Arnim in seiner Rezension von Ernst Wagners Roman Willibalds Ansichten des Lebens (1809). In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 266–276, hier S. 266. Achim von Arnim: Sämmtliche Werke. Achter Band. Schaubühne. Dritter Theil. Halle und Jerusalem. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1857. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1982, S. 167. Arnim legt diese Huldigung seinem Protagonisten Stürmer im ersten Teil des Doppeldramas Halle und Jerusalem in den Mund. Das Gedicht wurde von Ulfert Ricklefs nicht in den Lyrik-Band der Werkausgabe [Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen
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Als Arnim den Text in Weimar vortrug, umfaßte er insgesamt 32 Strophen; wesentliche Themenkreise dieser Fassung waren auch der Geburtstag des Herzogs Karl August und ein Missgeschick des greisen Christoph Martin Wieland, der sich bei einem Unfall verletzt hatte. Für den Vortrag vor der Christlich-deutschen Tischgesellschaft (Anfang 1812) kürzte er den Text auf zwölf Strophen und fokussierte ihn ganz auf Goethe, um im Sinne der nationalen Intentionen dieses Herrenklubs den »Mythos des einzigen, alle überragenden ›Dichterkönigs‹«290 zu konstruieren, »unter dessen Zeichen sich das Volk einen sollte«291, wie Stefan Nienhaus analysiert. »Gleichsam beschwörend möchte das lyrische Ich dem angeredeten Du die Augen dafür öffnen, daß es längst der klassische Nationalautor geworden ist, dessen patriotische Führungsrolle in Deutschland erst zur Schaffung der nationalen Einheit der Nation beizutragen hat.«292 Arnims Goethe-Apotheose muß daher – wie Nienhaus zu Recht bilanziert – als früher Baustein zu der »Erfindung der Idee einer Weimarer Klassik [...], die den Höhepunkt der deutschen Nationaldichtung bilden sollte«293, gesehen werden; Goethe und – mit Abstrichen – auch Schiller wurden bereits bei Achim von Arnim zu nationalen Identifikationsfiguren erhoben. Er leistete damit jener »Funktionalisierung«294 des Dioskurenpaares Vorschub, welche im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts dafür sorgen sollte, daß aus »classischen Autoren Schriftsteller einer zunehmend national normierten Klassik«295 wurden. Die nationalpolitische Vereinnahmung von Goethe und dessen Werk, die hier ihren Ausdruck findet, erwies sich freilich letzten Endes als eine – wenn auch folgenreiche –Fehlinterpretation. Wie Studien Peter Boerners und Ekkehart Krippendorffs zum Deutschland-Bild Goethes dokumentieren, stützte sich der »Dichterfürst« zwar durchaus auf die Prämisse eines deutschen Nationalcharakters, bewertete diesen aber nicht unbedingt positiv: Goethe spielte englische Tatkraft gegen den deutschen Hang zu tiefsinniger Grübelei ebenso aus wie das gesellige Wesen der Franzosen gegen deutsches Einzelgängertum.296
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Knaack u. a. Band fünf: Gedichte. Hg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker; 118)] aufgenommen. Ich zitiere nach dem Druck bei Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 303– 306, hier S. 305. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 177. Ebd. Ebd., S. 179. Ebd., S. 174. Klaus Manger: »Klassik« als nationale Normierung? In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 274; vgl. hierzu ebd., S. 274–291. Ebd., S. 275. Vgl. Peter Boerner: »Sie mögen mich nicht! Ich mag sie auch nicht.« – Goethe über die Deutschen. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frank-
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Zudem mündeten bei ihm die nationalen Charakterzeichnungen keineswegs in die Forderung nach politischen Konsequenzen, im Gegenteil: Goethe befürchtete, daß die nationale Einheit der deutschen Kultur wenig dienlich sein könnte. »Eine Erklärung [...] für das schöpferische Potential der Deutschen fand er nicht zuletzt in eben der föderalistischen Struktur, die so viele Zeitgenossen zugunsten eines Nationalstaats aufgeben wollten«297, erläutert Boerner Goethes reservierte Haltung gegenüber »allen Versuchen, den Status quo der politischen Gegebenheiten zu verändern«298. Der Altmeister wehrte sich aber auch deshalb gegen den aufkommenden Nationalismus, weil die Größe und Ausdehnung eines deutschen Einheitsstaates »ihn unvermeidlich zu einer sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren, ›entfremdeten‹ Wirklichkeit«299 machen würden. Er präferierte Kleinstaaten wie Weimar, wo interpersonelle Bindungen und nicht die »abenteurliche[] Künstlichkeit«300 eines nationalen Gemeinsamkeitsglaubens die politische Kultur bestimmten.301 Goethe differierte in politischer Hinsicht also deutlich von Arnim; daß er gleichwohl eine »mit freundlicher Behaglichkeit ausgefertigt[e]«302 Rezension
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furt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch; 2117), S. 139–141. HeinzLudwig Arnolds hilfreiche Anthologie zu den »Deutschlandbildern« deutschsprachiger Autoren stellt entsprechende Passagen aus Goethes Texten und den Gesprächen mit Eckermann zusammen. Vgl. Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002 (Fischer-Taschenbücher; 15480), S. 222, 233–235. Boerner, Goethe über die Deutschen (wie Anm. 296), S. 145. Ebd., S. 144. Ekkehart Krippendorff: Goethe. Politik gegen den Zeitgeist. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1999, S. 218. Lutz Hoffmann: Die Konstruktion von Minderheiten als gesellschaftliches Bedrohungspotential. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 59. Vgl. Krippendorff, Zeitgeist (wie Anm. 299), S. 19–42 sowie S. 216–219. Vgl. zu Goethes politischen Positionen neben Krippendorffs Essaysammlung auch die wesentlich kritischere Studie von Wolfgang Rothe: Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1998 (Sammlung Vandenhoek) sowie – zur Rezeption des politischen Goethe – Jost Hermand: »Es ist der Herren eig’ner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.« Der politisch in Dienst genommene Goethe. In: Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Goethe und die Religionen der Welt. Beiträge der Tagung vom 28. bis 30. Mai 1999 der Evangelischen Akademie Nordelbien, Bad Segeberg. Hg. von Wolfgang Beutin und Thomas Bütow. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2000 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte; 31), S. 205–221. So Goethe in seinen Annalen von 1806. Hier zit. nach dem Kommentar zur Wunderhorn-Rezension in der von Erich Trunz veranstalteten Werkausgabe. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Band 12: Schriften zur Kunst. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Herbert von Einem. Schriften zur Li-
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zum Wunderhorn303 publizierte und mit seiner Stellungnahme der Liedersammlung auch eine gewisse Schonfrist bei der Kritik verschaffte,304 lag sowohl in einer gewissen Sympathie für die Herausgeber als auch in seiner sozialpädagogisch motivierten Wertschätzung für das Volkslied begründet. »Volksdichtung als Dichtung für das Volk soll der Hebung des Bildungsniveaus und der charakterlichen Vervollkommnung der unteren sozialen Schichten, nicht dem nationalistischen Zusammenschluß dienen«305, kommentiert Heinz Härtl Goethes diesbezügliche Intentionen, die sich mithin von jenen Arnims fundamental unterschieden. Entsprechend riet der Rezensent den beiden Herausgebern auch noch, das, »was fremde Nationen [...] besitzen, auszusuchen und [...] im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen«306. Genau davor hatte Arnim in seinem Essay Von Volksliedern – den Goethe in seiner Kritik mit keinem Wort erwähnt307 – jedoch ausdrücklich gewarnt Das freundschaftliche Verhältnis, das »Idealist und Dichterkönig«308 miteinander verband, vermochte die konzeptionellen Differenzen zwischen beiden lange zu kaschieren. Wechselseitig wurde jeweils das ignoriert, was mit der eigenen Position unvereinbar erschien und so die zwischenmenschliche Har-
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teratur. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf. 12. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994, S. 701f., hier S. 701. Ebd., S. 270–284. »Nicht alle haben dies Schauspiel im Guten aufgenommen«, kommentiert Joseph Görres in seiner Wunderhorn-Rezension, die in den Heidelbergische[n] Jahrbüchern (1809/10) erschien, die Rezeption der Sammlung, die durch Goethes Intervention aber zunächst dennoch nicht attackiert worden sei: »Zarte Wesen wohl auch haben sich geärgert an manchen Vorstellungen; spotten endlich wollten Viele, hätte nicht ernsthaft der Herr in der Loge gesessen und Stillschweigen geboten dem lärmenden Haufen.« Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg und Adolf Dyroff. Fortgeführt von Leo Just. Band 4: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften II (1808–1817). Hg. von Leo Just. Köln: J. P. Bachem 1955, S. 24–45, hier S. 25. »Daß es zu größeren öffentlichen Auseinandersetzungen erst 1808 kam, läßt sich weitgehend auf die Ausstrahlungskraft von Goethes Rezension zurückführen«, schreibt auch Heinz Härtl. Goethes Mahnung, daß sich die Kritik mit der Sammlung nicht befassen dürfe und sein positives Urteil schreckten demnach kritische Stimmen ab. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 102f. Ebd., S. 174. Goethe, Werke XII (wie Anm. 302), S. 283. Ethel Matala de Mazza sieht darin das »auffälligste Anzeichen« für die »profunde Reserve«, die Goethes »nach außen hin wohlwollenden Bezeugungen« gegenüber dem Wunderhorn grundiert. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 355. So der Titel eines Kapitels in Helene M. Kastinger Riley Studie über Arnims Jugend- und Reisejahre, das sich mit dem Verhältnis der beiden Schriftsteller befaßt. Vgl. Kastinger Riley, Arnims Jugend- und Reisejahre (wie Anm. 116), S. 123–144.
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monie gefährdete. Wie Goethe auf den Volkslieder-Essay nicht einging, so schenkte Arnim dem Programm der von Goethe herausgegebenen Zeitschrift Propyläen keine Beachtung, deren Ausrichtung an der Antike er nicht mit seinem nationalen Engagement vereinbaren konnte.309 Die »Schärfe der Diskrepanz«310 zwischen den poetologischen Programmen der beiden Schriftsteller offenbarte sich in aller Deutlichkeit nach der Veröffentlichung des Romans Gräfin Dolores, den Arnim als Gegenentwurf zu Goethes Wahlverwandtschaften konzipiert hatte. »Arnim mußte wissen, was er mit dem lehrreichen Bestehen auf dem Wert der christlichen Ehe, mit diesem Beitrag zur konservativ-romantischen Erneuerungsbewegung dem verehrten Meister in Weimar zumutete«311, schreibt Ludwig Fertig. Goethe jedenfalls zeigte sich in einem Brief an C. F. von Reinhard einigermaßen pikiert: »Aber manchmal machen sie’s mir doch zu toll. So muß ich mich z. B. zurückhalten, gegen Achim von Arnim, der mir seine Gräfin Dolores zuschickte und den ich recht lieb habe, nicht grob zu werden. Wenn ich einen verlorenen Sohn hätte, so wollte ich lieber, er hätte sich von den Bordellen bis zum Schweinkoben verirrt, als daß er in den Narrenwust dieser letzten Tage sich verfinge: denn ich fürchte sehr, aus dieser Hölle ist keine Erlösung.«312 Die schroffe Zurückweisung des Werkes wird also noch von einer Sympathiebekundung für Arnim begleitet; einmal mehr vermochte das freundschaftliche Verhältnis der beiden Männer die Kluft zwischen ihren politischen und ästhetischen Anschauungen zu überbrücken. Auch die Enttäuschung darüber, daß Goethe sich weder an der Zeitung für Einsiedler beteiligte noch den beiden 1808 erschienen Bänden des Wunderhorn mit einer neuerlichen Rezension jene Förderung zukommen ließ, die er dem ersten Band noch gewährt hatte, konnte Arnim verwinden. Daß die Figur Kümmermann in dem Doppeldrama Halle und Jerusalem, das Arnim 1810 publizierte und auch an Goethe schickte, von ihrem nunmehr kritischeren Verhältnis zum Werther berichtet – »[...] ich habe auch so übertriebne Zeit gehabt, wo ich mit Werther liebetrunken schwärmte, nun bin ich weiter kommen, er scheint mir nun un-Werther«313 – kann zwar nicht als ein Abrücken Arnims von Goethe interpretiert werden, weil die Perspektive der alleine schon durch ihren sprechenden Namen ironisch gebrochenen Figur, die als Anwalt der »bornierten Bedenken«314 einer gegenüber Goethe kritischen Leser- und 309 310 311 312
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Vgl. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 58 bzw. S. 152–156. Ebd., S. 156. Ludwig Fertig: Goethe und seine Zeitgenossen. Zwischen Annäherung und Rivalität. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel Verlag 1999 (Insel-Taschenbuch; 2525), S. 259. Johann Wolfgang von Goethe an C.F. von Reinhard, Brief vom Oktober 1810. In: Johann Wolfgang von Goethe: Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Karl Robert Mandelkow. Band 3: Briefe der Jahre 1805–1821. Hg. von Bodo Morawe. Hamburg: Wegner 1965, S. 137f. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 167. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 282.
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Publikumshaltung auftritt, textintern durch die Konfrontation mit dem glühenden Goethe-Verehrer Stürmer relativiert wird;315 gleichwohl würde Kümmermanns Bonmot von dem Werther, der ihm nunmehr »un-Werther« erscheine, trefflich das immer kühler werdende Verhältnis Arnims zu Goethe in den Jahren nach 1811 überschreiben. Das Ende der freundschaftlichen Beziehungen, ausgelöst durch einen Streit zwischen Bettina von Arnim und Goethes Gattin Christiane Vulpius bei einem Weimar-Besuch des Ehepaares Arnim im Herbst 1811,316 ließ die unterschiedlichen politischen Standpunkte offensichtlich werden, wie Härtl schreibt: »Die Geringfügigkeit des Anlasses, der zum Bruch führte, steht im umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung der Konzeptionen, deren Divergenzen dadurch auch in den persönlichen Beziehungen zutage traten.«317 Nach Härtl erscheinen »Arnims preußisch-nationales und Goethes napoleonisch-kosmopolitisches Engagement während der sich anbahnenden Befreiungsbewegung [...] als die beiden [...] Flächen der einen Medaille, in der die Widersprüche der Epoche manifest wurden«318. Arnim, dem schon 1805 Goethes passive politische Haltung alles andere als imponiert hatte,319 zeigte seine Irritation nun offener. »Aus den Stanzen auf Schiller hat er bei der Wiederaufführung [...] alles, was auf [das] Vaterland Beziehung hat, ausgestrichen. Was das Geschichtliche von Deutschland und Nationelle [anlangt], so scheint er in einer [...] kuriosen Verwirrung [...], kurz ich bin fast niemals ohne eine Art Verzweifelung von ihm gegangen, indem ich deutlich fühlte, er habe unrecht, aber ich sei nicht der, welcher es ihm beweisen solle«320, beschwerte sich Arnim im September 1811 in einem Brief an Wilhelm Grimm. Goethes Abstinenz von den Befreiungskriegen und seine Faszination für Napoleon321 verstärkten diese Einschätzung. 1822 rezensierte Arnim Goethes Schrift Campagne in Frankreich322 wenig gnädig und nahm dabei die Gelegenheit zu einem weiteren Seitenhieb auf das vermeintlich unzureichende 315 316 317 318 319 320 321
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Fertig, Zeitgenossen (wie Anm. 311), S. 261 sieht dies freilich anders. Christiane zertrampelte – so die Überlieferung – bei einer Gemäldeausstellung am 13. September 1811 Bettina von Arnims Brille. Vgl. ebd., S. 262. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 320. Ebd., S. 320f. Vgl. hierzu ebd., S. 131. Brief vom 22. September 1811. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 146f., hier S. 147. Vgl. hierzu Wulf Wülfing: »Heiland« und »Höllensohn«. Zum Napoleon-Mythos im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3. Hg. von Helmut Berding. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1246), S. 175–178. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Band 10: Autobiographische Schriften II. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal und Waltraud Loos. Kommentiert von Waltraud Loos und Erich Trunz. 10. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994, S. 188–363.
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politische Engagement des »Olympiers« wahr: »Der Franzose ist ein großer Freund des Krieges, er löset die liebsten Verhältnisse auf, um sich hinein zu stürzen, während der Deutsche durch Gefahr und Entbehrung von seiner kriegerischen Umgebung zum Nachdenken über die Farbenlehre angeregt wird [...].«323 Der Altmeister in Weimar, der nach eigenem Bekunden froh war, die »Tollhäusler [also die Arnims, M. P.] los«324 zu sein, ging auf die verschiedentlichen Provokationen nicht ein. Er zeigte freilich jedoch auch kein Interesse daran, mit Arnim in neuerlichen Kontakt zu kommen. »So wie die Pausen eben so gut zum musicalischen Rhythmus gehören als die Noten, eben so mag es auch in freundschaftlichen Verhältnissen nicht undienlich seyn, wenn man eine Zeitlang sich wechselseitig mitzutheilen unterläßt«325, antwortet er süffisant, als Arnim im Februar 1814 den Briefwechsel wieder aufnehmen will. Dabei bleibt es, auch wenn Goethe seinen einstigen Bewunderer sechs Jahre später noch einmal zu einem letzten kurzen Besuch empfangen sollte.326
IV
Salon und Tischgesellschaft
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»Jüdisch-deutsche Symbiose« in den Berliner Salons
Das nationalpädagogische Engagement des 1809 nach Berlin zurückgekehrten Arnim kulminierte im Januar 1811 in der Gründung der Deutschen Tischgesellschaft, deren Sinn und Zweck Heinz Härtl pointiert zusammenfaßt: »Die Tischgesellschaft sollte sein und war ein eß- und trinkfreudiger, regelmäßig zu gemeinsamem Vergnügen zusammenkommender Verein gesellschaftlich privilegierter Männer. Sie sollte sein und war ein patriotischer Verein zur geistigen Mobilmachung kurz vor den Befreiungskriegen [...]. Sie sollte sein und war nicht [Hervorhebung M. P.] ein Verein zur Verbreitung und Pflege von Künsten und Wissenschaften.«327 Wie zuvor schon bei der Zeitung für Einsiedler und Des Knaben Wunderhorn stand also auch hinter diesem Projekt die Intention, das Nationalbewußtsein zu stärken und damit einen Beitrag für das Fundament des erhofften politischen Einigungsprozesses der deutschen Länder zu leisten. Stärker als die früheren Projekte basierte die Tischgesellschaft jedoch auf der exklusiven Seite des romantischen Nationalismus – im Zeichen der »als gemeinsam vorausgesetzte[n] Dreieinigkeit von christlicher Religion, deut323 324 325 326 327
Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 729–736, hier S. 729. Vgl. hierzu Fertig, Zeitgenossen (wie Anm. 311), S. 273f. So in einem Brief an Christiane vom 5. August 1812. Zit. n. Fertig, Zeitgenossen (wie Anm. 311), S. 263. Brief an Arnim vom 23. Februar 1814. Zit. n. Fertig, Zeitgenossen (wie Anm. 311), S. 268. Vgl. ebd., S. 271f. Härtl, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 56), S. 1161.
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scher Nationalität und monarchischer Gesinnung«328 versuchte die Gruppierung, gesellschaftliche Pluralismen einzuebnen; jene Pluralismen als solche zu akzeptieren, ist aber gerade das Programm der von jüdischen Frauen geprägten Berliner Salonkultur gewesen, als deren »Gegenentwurf«329 sich die Tischgesellschaft konstituierte.330 Auf diese Kultur soll im folgenden kurz eingegangen werden. Seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts331 hatte das tolerante Klima der unkonventionellen Geselligkeit in den Berliner Salons332 innerhalb der formell noch ständisch gegliederten Gesellschaft gleichsam eine Nische geschaffen. Zwischen den Salonbesuchern herrschte ein gleichberechtigter Verkehr, in dem die gemeinsamen philosophischen, literarischen und kulturellen Interessen Standesunterschiede oder differierende Religionszugehörigkeiten vergessen machten. »Im Mittelpunkt der Geselligkeit stand zunächst die Frau als Gastgeberin, die sich im Kreise einer ihr ergebenen Zuhörerschaft im Gespräch selbst produzierte.«333 Die Salonnieren der ersten Generation waren mit Henriette Herz, Sara von Grotthuß und – etwas später – Rahel Levin (sie er328 329 330
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Ebd. Frühwald, Antijudaismus (wie Anm. 57), S. 87. Stefan Nienhaus hat die in der Forschung seit Jahrzehnten immer wieder angemahnte Geschichte der Tischgesellschaft nun geschrieben und die erhaltenen Dokumente – leider nur im Dissertationsdruck, nicht im Rahmen seines Buches – zugänglich gemacht. Die These, daß die von Achim von Arnim und Adam Müller initiierten Treffen zur Mittagsstunde als »Gegensalon« – vgl. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt a. M.: Hain 1991, S. 305 – verstanden werden müssen, hat sich dabei erhärtet. Vgl. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63) sowie Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127). Zu der Gründungsphase der Berliner Salonkultur vgl. die Ausführungen in der einschlägigen Studie Petra Wilhelmys. Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin, New York: de Gruyter 1989 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 73), S. 33–62. Zu den Berliner Salons um 1800 vgl. Horst Meixner: Berliner Salons als Ort deutsch-jüdischer Symbiose. In: Gegenseitige Einflüsse deutscher und jüdischer Kultur. Von der Epoche der Aufklärung bis zur Weimarer Republik. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv: Universität Tel Aviv 1982 (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte; Beiheft 4), S. 97–109; Konrad Feilchenfeldt: Die Berliner Salons der Romantik. In: Rahel Levin Varnhagen. Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Hg. von Barbara Hahn und Ursula Isselstein. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1987 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft; 14), S. 152– 163; Wilhelmy, Der Berliner Salon (wie Anm. 331), S. 63–95; Petra WilhelmyDollinger: Emanzipation durch Geselligkeit. Die Salons jüdischer Frauen in Berlin zwischen 1780 und 1830. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin: Colloquium-Verlag 1992 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 75), S. 121–137; Hans J. Schütz: Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte im Überblick. München: Piper 1992 (Serie Piper; 1520), S. 62–71. Feilchenfeldt, Berliner Salons (wie Anm. 332), S. 157.
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öffnete ihren »Dachstuben«-Salon in den frühen 1790er Jahren) ausschließlich jüdischen Glaubens; erst um 1800 taten es etliche christlich-bürgerliche sowie adelige Frauen diesen Vorgängerinnen nach. Daß die ältesten und bedeutendsten der Berliner Salons von jüdischen Gastgeberinnen geführt wurden,334 hatte nach Petra Wilhelmy-Dollinger verschiedene Ursachen. So speiste sich die Idee der Salons sicherlich aus dem Vorbild jener freien und anspruchsvollen Gesprächszirkel, die Moses Mendelssohn in seinem Haus gepflegt hatte.335 Zudem war der für das Ideal einer ungezwungenen Zusammenkunft nötige gesellschaftliche Freiraum nur bei den ohnehin außerhalb der christlichen Ständegesellschaft positionierten Jüdinnen zu bekommen. Hier betrat man gleichsam »neutrales Territorium«336; dagegen waren »[d]ie etwa gleichzeitig mit den Salons in Berlin entstehenden Lesekränzchen und Lesegesellschaften [...] als Institutionen zu formell und vereinsmäßig, um alle Bedürfnisse der literatur- und diskussionshungrigen jungen Leute zu befriedigen«337, wie Wilhelmy-Dollinger argumentiert. Hinzu kam, daß sich den bis dahin über keine Schulbildung verfügenden jüdischen Frauen im Zuge der Aufklärung neue Bildungschancen eröffnet hatten,338 ihre intellektuellen Potentiale in einer männlich und christlich dominierten Gesellschaft aber brachlagen. Indem sie an die französische Salonkultur des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpften, schufen sich die Berliner Jüdinnen eine Option, »über die männlichen Besucher indirekt Einfluß auf die Außenwelt zu nehmen.«339 So wird die Salongeselligkeit nach Ursula Isselstein gerade für Rahel Levin zu einem »virtuos beherrschten Instrument«340, das dabei helfen soll, über das »Wirkungspotential des geschlossenen Kreises«341 die fehlende Möglichkeit einer direkten Einflußnahme in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht zu kompensieren. Horst Meixner beschreibt die Salongesellschaften als »entpolitisiert«342, weil in den Diskursen der Gäste Literatur, Philosophie und durchaus auch Privates im Vordergrund gestanden hätte; indes muß dem durch die heterogenen Zusammenstellungen der Besucherkreise in den Salons ermöglichten »so334
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Die erste Gastgeberin aus christlich-bürgerlichen Verhältnissen war die Verlegersfrau Sophie Sander, eine Cousine Adam Müllers, die ihren Salon zwischen 1800 und 1806 und wieder um 1810 betrieb. Vgl. Wilhelmy, Der Berliner Salon (wie Anm. 331), S. 72f. Vgl. Wilhelmy-Dollinger, Emanzipation (wie Anm. 332), S. 124f. Schütz, Literaturgeschichte (wie Anm. 332), S. 67. Wilhelmy-Dollinger, Emanzipation (wie Anm. 332), S. 124. Vgl. ebd. sowie Schütz, Literaturgeschichte (wie Anm. 332), S. 62f. Ursula Isselstein: Die Titel der Dinge sind das Fürchterlichste! Rahel Levins »Erster Salon«. In: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 196. Ebd. Ebd. Meixner, Symbiose (wie Anm. 332), S. 100.
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zialen Kompromiß zwischen sonst voneinander getrennten Bevölkerungsgruppen«343 an sich schon ein politischer Charakter zugesprochen werden, auch wenn den genuin politischen Themen in der Konversationskultur der Salons nur eine Nebenrolle zugekommen sein sollte. Die praktizierte Geistesfreiheit und die gesellige Offenheit, die die Salons auszeichnete, fand freilich »hinter verschlossenen Türen und vor einem begrenztem Publikum«344 statt, weshalb die Wirkung der Salonkultur nicht überbewertet werden darf; Hans J. Schütz wendet gegen eine »Apotheose dieser deutsch-jüdischen Geselligkeit«345 zu Recht ein, »daß den Ausnahmejuden Assimilation im Sinne vollständiger gesellschaftlicher Anerkennung nur so lange zuteil wurde, wie sie sich als Ausnahme von der Masse der übrigen Juden abhoben«346. Gleichwohl ist Petra Wilhelmy-Dollinger zuzustimmen, wenn sie den Salongesellschaften bescheinigt – im geschlossenen Rahmen ihrer Geselligkeit – eine »›Generalprobe‹ der Juden- und Frauenemanzipation«347 praktiziert zu haben. Ähnlich urteilt Horst Meixner, der »die um Berliner Jüdinnen zentrierten Kreise an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als Lichtblicke«348 versteht, »in denen jenseits der bloßen Koexistenz und diesseits der Assimilation die Möglichkeit der Symbiose [zwischen Deutschen und Juden, M. P.] aufscheint«349. Diese »Möglichkeit der Symbiose« muß als Verdienst der Aufklärung verstanden werden; auf ihrem Boden ist die Salongeselligkeit gewachsen. Deshalb insistiert Konrad Feilchenfeldt zu Recht darauf, daß diese Kultur – obgleich sie sich von den literarischen Normen der Aufklärung weit entfernte – mitnichten als »ein Stück deutscher Romantik«350 bezeichnet werden darf.351 Weder die historische Gleichzeitigkeit noch die romantische Geselligkeitstheorie des eifrigen Salonbesuchers Friedrich Schleiermacher,352 die sich gewiß den dort
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Feilchenfeldt, Berliner Salons (wie Anm. 332), S. 155. Wilhelmy-Dollinger, Emanzipation (wie Anm. 332), S. 126. Schütz, Literaturgeschichte (wie Anm. 332), S. 65. Ebd.; mit guten Argumenten wehrt sich auch Barbara Hahn gegen eine Idealisierung der Salongeselligkeit: Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. »Rahels Dachstube« als historische Fiktion. In: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 213–231. Wilhelmy-Dollinger, Emanzipation (wie Anm. 332), S. 126. Meixner, Symbiose (wie Anm. 332), S. 99. Ebd. Feilchenfeldt, Berliner Salons (wie Anm. 332), S. 159. Analog hierzu sieht Ursula Isselstein Rahel »eher in der Tradition des aufgeklärten Humanismus als der Romantik« stehen. Vgl. Ursula Isselstein: Rahel und Brentano. Analyse einer mißglückten Freundschaft, unter Benutzung dreier unveröffentlichter Briefe Brentanos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1985), S. 151–201, hier S. 191. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799). In: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans-Joachim Birkner, Ger-
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gemachten Erfahrungen verdankt, darf nach Feilchenfeldt über die differierenden sozialgeschichtlichen Ursprünge beider Phänomene hinwegtäuschen. Die antikapitalistisch eingestellte Romantik wahrte stets eine intellektuelle Distanz zu eben jenem Kaufmannsstand, aus dem die Gastgeberinnen der Salongesellschaften hervorgegangen waren; zudem war sie als studentisch-akademische Bewegung zunächst in Jena und Heidelberg, nicht in der Großstadt Berlin zu Hause.353 Nach Berlin zog es die »literarischen Führer«354 der Heidelberger Romantik, Achim von Arnim und Clemens Brentano, erst, als sich die Berliner Universität konstituierte. Von den acht Berliner Salons der »klassischen Phase« hatten nur zwei, nämlich die von Sarah Levy und der Herzogin Dorothea von Kurland, die Unruhen des Jahres 1806 überstanden;355 »[e]rst von 1808 an erhielt die Salongeselligkeit wieder einen Aufschwung, und bis 1812 wurde das zahlenmäßige Vorkriegsniveau von acht Salons wieder erreicht«356. Allerdings verschoben sich nun die Koordinaten, denn während in den Häusern der »Kosmopolitin«357 und Napoleon-Verehrerin Kurland und der »noch stark von der französischen Kultur des 18. Jahrhunderts geprägt[en]«358 Levy auch die Vertreter der Besatzungsmacht gerne verkehrten, erwuchs daneben eine dezidiert patriotisch ausgerichtete Salonkultur. Arnim und Adam Heinrich Müller, die beiden späteren Gründer der Tischgesellschaft, gastierten häufig in einem neueren Salon mit stark patriotischer Ausrichtung, den Luise Gräfin von Voß seit 1808 leitete und der »in scharfem Gegensatz zu den frankophilen Kreisen der preußischen Hauptstadt«359 stand. Petra Wilhelmy zufolge ist dort eine preußische Erhebung »recht offen«360 befürwortet worden.361 Die Christlich-deutsche Tischgesellschaft entstand 1811 im geistigen Anschluß an den Salon der Gräfin Voß – viele Tischgenossen waren »Stammgäste« der Gräfin362 – und als markantes Kontrastprogramm zu jenen »Begegnungsstätten«, die unter der Regie von Rahel Levin und Henriette Herz Berlins kulturelle Blüte um 1800 geprägt hatten. Während in diesen Salons versucht
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hard Ebeling u. a. Band 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799. Hg. von Günter Meckenstock. Berlin, New York: de Gruyter 1984, S. 165–184. Vgl. Feilchenfeldt, Berliner Salons (wie Anm. 332), S. 159–161. Ebd., S. 176. Vgl. Wilhelmy, Der Berliner Salon (wie Anm. 331), S. 96f. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd., S. 100. Vgl. hierzu auch Mario Krammer: Clemens Brentano und Berlin. Bilder aus den Tagen der Romantik. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 6 (1955), S. 41f. Darauf verweist Wilhelmy, Der Berliner Salon (wie Anm. 331), S. 106, deren These durch die Monographie von Stefan Nienhaus über die »Tischgesellschaft« erhärtet wird. Vgl. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 33f.
IV Salon und Tischgesellschaft
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wurde, die politische Benachteiligung der Juden auf gesellschaftlicher Ebene zu kompensieren, ging die Tischgesellschaft gleichsam den umgekehrten Weg: Sie verbannte die Juden just zu jenem Zeitpunkt aus dem Kreise fröhlicher Geselligkeit, als die lange unterdrückte Minderheit auf der politischen Ebene endlich auf eine Verbesserung ihrer Situation spekulieren durfte.
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Christlich-deutsche Homogenität in Arnims Tischgesellschaft
Zu Beginn des Jahres 1811 unterrichtet Achim von Arnim die Brüder Grimm von seinem neuesten Vorhaben: »Lieber Wilhelm und Jacob – der Aelteste wird diesmal einen Platz unter den Jüngsten gesetzt, weil er zu wenig geschrieben. [...] Es geschieht aber jetzt sehr viel. Ich bin damit beschäftigt, eine deutsche Freßgesellschaft zum 18. Januar, welches der Krönungstag unsrer Monarchie ist, zu errichten, Ihr sollt Ehrenmitglieder werden, insofern sich Dein Appetit, Wilhelm, noch erhält; sie hat große Zwecke, Adam Müller ist Mitunternehmer, ich bin Gesetzgeber. Das weiseste der Gesetze bestimmt, daß jeder lederne Philister ausgeschlossen; wer von Zehnen mit ihrer Namensunterschrift dafür erkannt ist, wird ausgeschlossen.«363 Dieses Regularium wurde, als sich die Tischgesellschaft »[a]m Krönungstage des 1811ten Jahres nach Christi Geburt (am 18[.] Januar)«364 tatsächlich konstituierte, noch leicht modifiziert. Zwanzig Stimmen sollten es nun sein, die den Auschluß aus der Gruppe zur Konsequenz hatten.365 Aber nicht nur für die »Philister« blieb die Gesellschaft verbotenes Terrain: »In dem »kreuzritterlichen Eifer, eine deutsche patriotische Gesellschaft mit christlichromantischen Idealen zu schaffen, wurde man unduldsam.«366 Wer dennoch Aufnahme finden wollte, mußte von zehn Mitgliedern als »wohlanständig« und der Gesellschaft »angemessen« eingeführt werden. »Die Gesellschaft versteht unter dieser Wohlanständigkeit, daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sey, unter dieser Angemessenheit, daß es kein Philister [sey], als welche auf ewige Zeiten daraus ve[r]ban[n]t sind.«367 Neben den Franzosen, die aufgrund der patriotischen Ausrichtung der Gesellschaft freilich nicht erwünscht waren, war mit diesem Paragraphen auch Frauen und Juden der Zutritt zu der neuen Gruppierung untersagt. »Weiter kann doch wahrlich die Reinheit nicht getrieben werden«368, kommentierte der 363 364
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Undatierter Brief, der Anfang Januar 1811 abgeschickt wurde. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 94–97, hier S. 94f. So der Beginn des Berichts zur Gründungsversammlung. ‹Erstes Tagblatt der deutschen Tischgesellschaft›. Hier zit. nach dem neuesten Abdruck bei Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 8–11, hier S. 8. Vgl. ebd., S. 11. Wilhelmy, Der Berliner Salon (wie Anm. 331), S. 106. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 11. So Ascher in den Miszellen für die neueste Weltkunde (1. Mai 1811). Hier zit. n. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 276.
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zeitgenössische Publizist Saul Ascher später mit viel Sarkasmus die »Ausschlußklauseln der Tischgesellschaft«369, deren eigentlicher Skandal freilich darin bestand, selbst getaufte Juden von der Teilnahme zu dispensieren. Arnim erschien dieser Paragraph zunächst »tadelswerth«370, was in der Forschung teilweise dazu führte, daß die »programmatische[] Intoleranz«371 der Tischgesellschaft alleine Adam Müller angelastet372 und Arnim gar zum »entschieden[en]«373 Befürworter einer Aufnahme getaufter Juden stilisiert wurde. Daß in den politischen Überzeugungen Müllers und Arnims freilich eher ein Konsens als ein Dissens bestand, bezeugt schon ihre in den Artikeln der Berliner Abendblätter gezeigte gemeinsame Frontstellung gegen die Wirtschaftsreformen der Regierung Hardenberg.374 Ob Arnims Engagement gegen die antisemitische Ausschlußklausel im Rahmen der Tischgesellschaft wiederum so »entschieden« war, wie dies Ulfert Ricklefs insinuiert, bleibt mehr als fraglich. Die erhaltenen Dokumente, die durch Stefan Nienhaus erstmals publiziert wurden, stützen Ricklefs’ Behauptung jedenfalls nicht; Arnim hat vielmehr seine frühere Position schon im Itzig-Referat (Ende Juli 1811) revidiert, wo er den Ausschluß auch getaufter Juden mit dem raunenden Hinweis auf die »ernsten Verhältnisse«375, in der sich die Gesellschaft befinde, nachträglich gutheißt. Arnim trug so auf jeden Fall eine Mitverantwortung dafür, daß in der Christlich-deutschen Tischgesellschaft die »fatale Allianz«376 zwischen Nationalismus und Antisemitismus erstmals in einem organisierten Rahmen geschlossen wurde. 369
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Vgl. Helmut Hirsch: »Frauen, Franzosen, Philister und Juden«. Zu den Ausschlußklauseln der Tischgesellschaft. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 153–164. Achim von Arnim: ‹Tischrede zum Itzig-Skandal›. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 260. Matala de Mazza schreibt, daß durch die Tischgesellschaft »das Wirtshaus zum experimentellen Ort programmatischer Intoleranz« erhoben werde. Vgl. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 387. Vgl. die Ausführungen Jürgen Knaacks, der Müller »zum eigentliche[n] Antisemit[en]« der Gesellschaft erklärt und dessen Kontakte zu den altständischen Kreisen betont. Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 37f., hier S. 38. Ricklefs, Arnims Städtedrama (wie Anm. 36), S. 170. Vgl. u. a. Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Klaus Peter, Dirk Grathoff u. a.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Frankfurt a. M.: Athenäum-Verlag 1972 (These; 5), S. 116–127 sowie Staengle, Abendblätter (wie Anm. 73), S. 77f. sowie S. 86f. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 260. Stefan Nienhaus: Vaterland und engeres Vaterland. Deutscher und preußischer Nationalismus in der Tischgesellschaft. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 139.
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Freilich wurden diese beiden ideologischen Grundausrichtungen auch dringend als integrative Elemente benötigt, denn mit der Homogenität der Gruppe sah es bei weitem nicht so gut aus, wie Ascher dies in dem oben zitierten Artikel befürchtet hatte. In der Tischgesellschaft, die vor den Befreiungskriegen »durchschnittlich von etwa 35 bis 50«377 Mitgliedern besucht wurde, fanden sich sehr verschiedene Persönlichkeiten zusammen. Die Professoren der 1810 gegründeten Berliner Universität zeigten reges Interesse: Friedrich Carl von Savigny, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher, Friedrich August Wolf und Karl Christian Wolfart sind aus diesem Bereich unter anderem als Mitglieder zu nennen. Mit Carl von Raumer, Albert von Zschock, Leopold von Quast und vor allem Friedrich August Staegemann gehörten auch »Spitzenfunktionäre der Regierung Hardenberg«378 zu den Tischgenossen, unter denen zudem das Militär einen großen Teil ausmachte, wie die Namen Carl von Clausewitz, Ludwig August Graf von Chasot, Karl Moritz von Bardeleben, Karl Ludwig Tiedemann, Wilhelm von Röder, Johann Karl von Moellendorff und August von Hedemann belegen. Freilich sorgten Arnim und Müller auch dafür, daß das künstlerische Leben Berlins sich ebenfalls in der Tischgesellschaft widerspiegelte: neben Clemens Brentano gehörten die Komponisten Johann Friedrich Reichardt und Anton Fürst von Radzivil, der Architekt Karl Friedrich Schinkel, der Privatgelehrte Eduard Maria Lichnovsky sowie der Baumeister und Goethe-Freund Karl Friedrich Zelter der Gruppe an.379 Diese bunte Personalpalette läßt sich freilich weder unter dem Etikett der »antihardenbergschen Junkerfronde«380 – zumal nur drei Gutsherren der Gruppe angehörten, nämlich neben Achim von Arnim dessen Cousin Friedrich Graf von Arnim sowie Otto Hermann Graf von Schönburg – noch unter dem einer »Reformbewegung«381 subsumieren. Nach Stefan Nienhaus bildete der an sich sehr heterogene Kreis jedoch in zwei Punkten, in denen deutlich Distanz zu Regierung und Herrscherhaus gewahrt wurde, eine Interessengemeinschaft: Die durch Hardenberg vorangetriebenen Maßnahmen zur Judenemanzipation lehnte man ebenso ab wie die vorsichtige Außenpolitik von Friedrich Wilhelm III.382 So wird für die »exklu377 378 379 380
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Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 16. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 128. Vgl. zur Mitgliederstruktur die ausführlichen Erläuterungen von Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 14–24. Ingo Hermanns Hardenberg-Biographie assoziiert mit der Christlich-deutschen Tischgesellschaft den »konservativen Adel um Marwitz und Finkenstein«; die beiden Genannten waren allerdings keine Mitglieder. Ingo Hermann: Hardenberg. Der Reformkanzler. Berlin: Siedler 2003, S. 293 revitalisiert damit ältere, bereits widerlegte Forschungsbefunde, wie sie etwa von Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band I: Reform und Restauration. 1789 bis 1830. Zweite, verbesserte Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1957, S. 136f. vorgetragen wurden. So Kastinger Riley, Zeit im Umbruch (wie 49), S. 103. Vgl. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 129.
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sive Mahlgemeinschaft«383 die Differenz, die Verteidigung ihrer »Unterschiedenheit nach außen«384, zur Prämisse der eigenen Geselligkeit. Daß die Tischgenossen ihr geselliges Beisammensein über Statuten regelten, hat in der Forschung zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Angesichts der zeitgenössischen Diskussionen über eine Verfassung für Preußen betont Jürgen Knaacks affirmative Studie den »Modellcharakter[]«385 der Tischgesellschaft, die sich selbst eine Konstitution gegeben habe. Jene Forscher, die sich von der »bierdünstige[n] Schenkengeselligkeit«386 der Tischgesellschaft inklusive ihrer hochproblematischen Begleiterscheinungen eher peinlich berührt zeigen, bemühen sich dagegen darum, exakt diese von Knaack goutierten Reglements dazu zu instrumentalisieren, um die Gruppierung aus dem Kreis romantischer Gemeinschaftsentwürfe ausschließen und ihr den Status einer – bedauerlichen – Ausnahmeerscheinung zusprechen zu können.387 Nun wäre das Postulat einer juridischen Kodifikation des sozialen Miteinanders im Rahmen der romantischen Gemeinschaftsidee in der Tat untypisch – wie Ethel Matala de Mazza aber deutlich macht, wurde der oben angeführte allgemeine Minimalkonsens der illustren Runde durch die besagten Reglements lediglich abgesegnet, so daß die »›konstitutionelle Selbstbegründung‹ zu einem nachträglichen, ein schon vorhandenes Einverständnis affirmierenden Akt«388 geriet: »Die ›Gesetze‹, die die Homogenität der Gesellschaft von Rechts wegen allererst begründen sollten, waren im Grunde dank der einigen Gesinnung schon obsolet.«389 Insofern dominiert auch in der Tischgesellschaft eben diese einige Gesinnung über den »papierne[n] Kitt, der [...] die Menschen zusammenkleistert«390 (Novalis); Matala de Mazzas Ansatz, die Tischgesellschaft in 383 384 385 386 387
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Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 364. Ebd. Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 38. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 374. Vgl. Otto Dann: Gruppenbildung und gesellschaftliche Organisierung in der Epoche der deutschen Romantik. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hg. von Richard Brinkmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1978 (Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderband), S. 122; Norbert Miller: Literarisches Leben in Berlin im Anfang des 19. Jahrhunderts. Aspekte einer preußischen Salon-Kultur. In: Kleist-Jahrbuch (1981/82), S. 29–32; Segeberg, Phasen (wie Anm. 228), S. 62f. Vgl. dagegen Siegfried Streller: Weltbürger und Patrioten. Berlin um 1810. In: Stätten deutscher Literatur. Studien zur literarischen Zentrenbildung 1750–1815. Hg. von Wolfgang Stellmacher. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1998 (Literatur – Sprache – Region; 1), S. 507f. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 370. Ebd., S. 370f. Novalis: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. von Hans-Joachim Mähl. Lizenzausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 293. In diesem Sinne weist der scheidende Sprecher der Gruppe, Ludolph von Beckedorff, darauf hin, daß die Gesellschaft »wenig Gesetze, aber viel Geschichte,
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die Traditionslinie der frühromantischen Gemeinschaftsentwürfe zu stellen, überzeugt vor diesem Hintergrund ebenso wie ihre Polemik gegen die Ergebnisse der fragwürdigen, aber wirkungsmächtigen Studie Knaacks, die schlichtweg übersieht, daß in der Satzung der Tischgenossen »Fragen der Grundrechte, der Entscheidungsbefugnisse, der Machtmittel und der Aufsichtsfunktionen«391 überhaupt nicht berührt werden, was eine Interpretation der »deutsche[n] Freßgesellschaft«392 als Verfassungsmodell schon im Ansatz fehlschlagen läßt. Die tatsächlichen politischen Interessen der Gruppe finden dagegen bereits in dem zur Gründungsversammlung am 18. Januar 1811 gesungenen Stiftungslied der deutschen Tisch-Gesellschaft393, das Arnim verfaßt hatte, ihren Ausdruck. Die Glorifizierung früherer Herrscher (Friedrich II. und Luise) impliziert eine deutliche Kritik an den amtierenden Machthabern und kultiviert die Differenz zum Regierungsstil Friedrich Wilhelms III.
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Der Nationalismus der Tischgenossen
»Hier zu Preußens Lebehoch«394, heißt es am Ende von Arnims Stiftungslied395, das als einziger Text neben der »Philister«-Abhandlung Clemens Brentanos von der Tischgesellschaft selbst in Druck gegeben wurde.396 Eigentlich wollte Arnim das Lied mit einem Lebehoch auf das »Volk« schließen lassen; daß letztlich in der Endfassung die preußisch-nationale Tendenz stärker betont wurde, wertet Nienhaus als Konzession an den »Geist der Gruppe«397, in der die preußischen Nationalisten, insbesondere repräsentiert durch Hardenbergs rechte Hand Friedrich August Staegemann, zunächst gegenüber den Anhängern einer gesamtdeutschen Lösung dominierten. Indes kam bereits im ersten Halbjahr 1811, das »in jeder Hinsicht das intensivste der Gesellschaft gewesen sein muß«398, auch die deutsch-nationale Variante zum Zug. In dem Lied Die Glockentaufe399, mit dessen 24 Kurz- und
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mehr Reputation und noch mehr Feinde« habe; »wir haben endlich – was in heutiger Zeit viel ist – eine Gesinnung [...].« Ludolph von Beckedorff: ‹Tischrede›. In: Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 232–238, hier S. 234 (Herv. M. P.). Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 371. Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 95. Vgl. Arnim, Werke V (wie Anm. 289), S. 763–765 bzw. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 12–14. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 14. Vgl. Arnim, Werke V (wie Anm. 289), S. 763–765 sowie Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 12–14. Vgl. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 135, Anm. 31. Ebd., S. 131. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 293. Nachdem das Lied bedauerlicherweise nicht in den von Ulfert Ricklefs im Rahmen der Werkausgabe veranstalteten Band mit der Lyrik Arnims aufgenommen worden
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Langstrophen Arnim »die Geduld seiner Tischgenossen [...] auf eine harte Probe stellte«400, wird »Deutschland«401 als »liebes Vaterland«402 verstanden, dem es »die treue Hand«403 zu bieten gelte. Mit der nationalen Emphase geht in dem Text, der eine Kontrafaktur404 auf Friedrich Schillers Lied von der Glocke darstellt, die »Verdammung«405 der Juden einher, zu deren »Schreck«406 die Glocke erklingen soll: »So wollen wird denn auch beyzeiten / Die helle Sprecherglocke läuten, / Daß Juden und Philister beben, / Soweit die hellen Töne schweben.«407 Als die preußischen Nationalisten in den ersten Monaten des Jahres 1812 die preußisch-französische Allianz verarbeiten mußten, setzte sich innerhalb der Gruppe das von Arnim favorisierte – weiter gefaßte – »Vaterlands«Verständnis durch. »Das Jahr 1812 besiegelte das Ende des rein preußischen Nationalismus«408, bilanziert Stefan Nienhaus, und das Lied vom Deutsche[n] Völkerbund409, das Arnim zu Friedrichs Geburtstag am 24. Januar 1813 verfaßte, trug dem Rechnung. »Hoch die deutschen Kronen alle, / Und ein deutscher Kaiser throne, / Frey gewählet über alle«410, heißt es in dem Text, in dem nach Nienhaus einmal mehr die »tatensüchtige[] Ungeduld der Tischgenossen angesichts des scheinbar unentschlossenen Zögerns Friedrich Wilhelms III.«411 zum Ausdruck kommt. Die Erfolge des preußischen Heeres in den Befreiungskriegen bewirkten dann jedoch einen erneuten Stimmungsumschwung innerhalb der Gesellschaft, wie Nienhaus berichtet: »Man ist nun wieder davon überzeugt, daß es Preußens wahre Bestimmung sei, die Führungsmacht der deutschen Nation zu
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war, macht die Monographie von Stefan Nienhaus den Text nun wieder zugänglich. Vgl. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 155–169. Stefan Nienhaus: »Nichts sey ohne Ernst und Scherz«. Achim von Arnims Gedicht-Collage »Die Glockentaufe« und Schillers »Lied von der Glocke«. In: Wirkendes Wort 41 (1991), S. 357. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 168. Ebd. Ebd. Zur Begriffsverwendung in Abgrenzung zur Parodie vgl. Theodor Verweyen und Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1987 (Konstanzer Bibliothek; 6), S. 34–53 sowie Uwe Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh 2006 (Uni-Taschenbücher; 2485), S. 151–157. Vgl. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 169. Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 144. Vgl. Arnim, Werke V (wie Anm. 289), S. 841–845. Ich zitiere nach dem neueren Abdruck bei Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 321–328. Ebd., S. 327. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 146.
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werden.«412 Die Tischgenossen hatten versucht, ihren Teil dazu beizutragen und einen bewaffneten Reiter finanziert (»Hoch lebe der deutsche Ritter und sein treues Roß«413, frohlockte Arnim noch 1815 über diese Aktion), der verwundet aus dem Krieg heimkehrte. Diesen Reiter auszustatten, war zugleich auch die einzige direkte politische Aktion der Tischgesellschaft; Nienhaus bezeichnet die Gruppe gleichwohl als »ein[en] ›Glücksfall‹ für die historische Forschung«414, spiegeln sich doch in den verschiedenen Phasen ihres Selbstverständnisses »nahezu alle Varianten des sich ausbildenden Nationalismus in Deutschland. Von einem kleinstaatlichen, preußischen Nationalismus über eine [...] gesamtdeutsche Orientierung bleibt am Ende die Hoffnung auf eine preußische Führungsrolle beim deutschen Einigungsprozeß: Ja, Preußen ist das engere Vaterland, aber es ist dazu bestimmt, die führende Kraft im Einigungsprozeß zur Bildung eines gesamtdeutschen Vaterlandes zu werden«415. Die differierenden nationalen Konzeptionen, die insbesondere die Realpolitiker um Staegemann und die romantische Fraktion, die in Arnim ihren Vordenker hatte, voneinander trennte – Staegemann ließ sich in einem Brief gar zu dem Verdikt hinreißen, daß »Herr v. Arnim [...] den Henker von der Lage der Angelegenheiten«416 verstehe –, bezeugt jedoch auch, wie wichtig die negative Folie des Selbstverständnisse für das Gruppenbewußtsein war. Die »Ausschlußklauseln«, insbesondere der Antisemitismus, sorgten für jene Integration, die die nationalpolitischen Vorstellungen nur bedingt zu leisten vermochten.
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Der »ernsthafte Krieg« gegen die Juden: Beckedorffs Abschiedsrede
Wie wichtig die gemeinsame Gegnerschaft zu den jüdischen Emanzipationsund Akkulturationsbemühungen für die Entwicklung eines Gruppengefühls war, dokumentiert insbesondere jene Rede, mit der sich Ludolph von Beckedorff im Juni 1811 von den Tischgenossen verabschiedete.417 Beckedorff, bis dahin Sprecher der Gruppe, will die Gelegenheit seines Weggangs aus Berlin dazu nutzen, »mit kurzen Worten die Geschichte dieser Tischgesellschaft zu berühren [und] an die Gesinnung und die Absicht derselben zu erinnern«418; er 412 413 414 415 416
417 418
Ebd., S. 148. Achim von Arnim: ‹Tischrede 1815›. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 346. Nienhaus, Vaterland (wie Anm. 376), S. 129. Ebd., S. 150. So in einem Brief an seine Frau vom 26. März 1809. In: Aus der Franzosenzeit. Ergänzungen zu den Briefen und Aktenstücken zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III., vorzugsweise aus dem Nachlass von F. A. Stägemann. Hg. von Franz Rühl. Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 131f., hier S. 131. Rede vom 18. Juni 1811. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390). Ebd., S. 232f.
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betont dabei ausdrücklich, daß »vor allen Dingen der halb scherz- [und] halb ernsthafte Krieg«419 gegen Philister und Juden der Tischgesellschaft »im Verlaufe weniger Wochen eine Menge neuer, sehr ehrenwerther Mitglieder«420 verschafft habe. Dabei muß nach Beckedorff der gegen die Philister geführte Krieg als »oberflächlich[], scherzhaft[] und ironisch[]«421 verstanden werden, während der gegen die Juden »gründlichen, ernsthaften und aufrichtigen«422 Intentionen folgt. Diese Intentionen verdanken sich Grundeinsichten der Politischen Romantik. Beckedorff, der als Mitarbeiter der Berliner Abendblätter schon länger mit Kleist, Müller und Arnim in regem Kontakt gestanden hatte,423 geht in der kulturkritischen Beurteilung der sozialpolitischen Umbruchphase nach 1800 mit seinen Freunden konform; so warnt er in seiner Rede davor, »heilig Altes mit dem geistlos Veralteten in dieselbe Gruft«424 zu werfen. »Was untergegangen muß nicht aus dem Grabe zitiert werden, aber was lebendig begraben muß auferweckt werden«425, hatte es in Arnims Essay Was soll geschehen im Glücke426 wenige Jahre zuvor dementsprechend geheißen. Beide Autoren räumen damit ein, daß sich die vorrevolutionären Zustände partiell überlebt haben; diese Konzession wird aber von dem Plädoyer für ein »ruhige[s] Anschließen an die Vergangenheit«427 und der Warnung vor dem »Zerstören aller historischen Verbindung«428 (Arnim) im Namen der »ephemeren Neuerungen der Tageswelt«429 (Beckedorff) überlagert. In den »neugierigen und neuerungssüchtigen«430 Juden sieht Beckedorff die treibenden Kräfte der als negativ und unheilvoll empfundenen Umbruchphase; daß ihnen der Weg aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft geebnet werden soll, empfindet der Arzt und Pädagoge als Symptom einer allgemeinen Dekadenz. »Der Antijudaismus der Aufklärung betrachtete das Judentum als einen Widersacher des Fortschritts, als ein Relikt des Mittelalters und demnach als Anachronismus; im deutschen Kaiserreich hingegen wurde das Judentum als Inkarnation eines zersetzenden intellektuellen Fortschritts denunziert. Die Philosophie der Aufklärung kritisierte das Judentum als unvernünftiges, rückständiges Prinzip; die Konservativen des Kaiserreichs warnten hingegen vor dem jüdischen Internationalismus und Liberalismus, der weder mit einem 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430
Ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 235. Ebd. Vgl. Hans Häker: Zu einigen Berliner Bekanntschaften Adam Müllers und Heinrich von Kleists in den Jahren 1810/11. In: Euphorion 84 (1990), S. 375. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 236. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 203. Vgl. ebd., S. 200–205. Ebd., S. 202. Ebd., S. 201. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 236. Ebd.
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nationalen noch mit einem konservativen Denken in Einklang zu bringen sei«431, erläutert Gudrun Hentges die Unterschiede zwischen dem Antijudaismus der Aufklärung und dem Antisemitismus moderner Prägung. Beckedorffs Attacken dokumentieren, daß dieses Raster allzu grobmaschig ausfällt – schon sechs Jahrzehnte vor den konservativen Kräften der wilhelminischen Ära polemisiert der Sprecher der Tischgenossen gegen Juden als Protagonisten und Profiteure einer negativ gesehenen gesellschaftlichen Modernisierung. Beckedorff, dessen bedeutsame Rolle als einer der Chefideologen der Tischgesellschaft erst durch die Monographie von Nienhaus erschlossen wurde,432 denunziert Juden als »ein Gezücht, welches mit wunderbarer Frechheit, ohne Beruf, ohne Talent, mit wenig Muth und noch weniger Ehre, mit bebendem Herzen und unruhigen Fußsohlen, wie Moses ihnen prophezeit hat, sich in den Staat, in die Wissenschaft, in die Kunst, in die Gesellschaft und letztlich sogar in die ritterlichen Schranken des Zweikampfes einzuschleichen, einzudrängen und einzuzwängen bemüht ist«433. Der Versuch der Juden, eine rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Bürgern zu erzielen, wird als ungebührliche »Einschleichung«434 denunziert; der deutschen Nationalgemein431
432
433 434
Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und »Wilden« in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Schwalbach/Taunus: Wochenschau-Verlag 1999 (Studien zu Politik und Wissenschaft), S. 110. Zuvor wurde die Rede im Anschluß an Heinz Härtl, der den Text 1971 erstmals zugänglich gemacht hatte, Adam Müller zugeschrieben. Vgl. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 289–293. In Rücksprache mit Heinz Härtl hat Stefan Nienhaus diese Zuschreibung nun korrigiert, da sowohl der Handschriftenvergleich als auch die einfache Tatsache, daß Müller am 18. Juni 1811 – als die Rede gehalten wurde – Berlin schon längst verlassen hatte, für die Zuschreibung des Textes an Beckedorff sprechen. Die Forschung wird sich daran, daß Beckedorff nunmehr als »eines der eloquentesten und für die Ideologie der Tischgesellschaft wichtigsten Mitglieder erscheint« [Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 81 Anm. 17], freilich erst noch gewöhnen müssen. Viele Beiträge aus jüngerer und jüngster Vergangenheit schreiben die Rede noch immer Adam Müller zu. Vgl. etwa Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 373f., Fischer, Wintergarten (wie Anm. 124), S. 43f., Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand Literaturverlag 2002 (Sammlung Luchterhand; 2028), S. 127 sowie Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. München: Fink 2003 (Uni-Taschenbücher; 2408), S. 89. Überraschenderweise unterliegt auch Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 61), S. 160 diesem Irrtum – obgleich ihm das Buch von Nienhaus vorliegt und er auch daraus zitiert. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 235f. Daß Beckedorff dieses ›Einschleichen‹ auch auf die »ritterlichen Schranken des Zweikampfes« bezieht, muß wohl als Solidaritätsadresse an Arnim gewertet werden. »Die[se] Bemerkung Beckedorffs [...] ist [...] mit ziemlicher Sicherheit auf den Fall Itzig zu beziehen«, schreibt Stefan Nienhaus. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 254.
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schaft würde eine Integration der Juden nichts nützen, da den »Beschnittene[n]«435 Talent und Beruf abgehe, aber viel schaden: Die Verweise auf Mutund Ehrlosigkeit der Juden sowie das auf den internationalen Charakter des Judentums verweisende Attribut der »unruhigen Fußsohlen« zielen darauf ab, die nationale Loyalität der jüdischen Minderheit in Frage zu stellen. In Abgrenzung zu diesen jüdischen Eigenschaften sieht Beckedorff das »deutsche Wesen« durch die in der Tischgesellschaft vertretenen Herren exemplarisch repräsentiert: »Also Männer [...] versammlen sich um diesen Tisch mit freier, heiterer, offener, also Deutscher Stirne, Brust und Zunge, und mit wohlwollendem, liebevollem, also christlichem Herzen; [...]. Was aber deutsch und christlich seyn will, das muß auch streitbar seyn«436, und so bezieht sich das zuvor betonte Wohlwollen denn auch nicht auf die jüdische Minderheit. Obwohl die Tischgesellschaft in Ermangelung eines politischen Einflusses das Emanzipationsbegehren der Juden nicht unterbinden kann, so bleibt ihr doch die Möglichkeit, mit der »Verbannung [...] dieses Erbfeindes der Christenheit«437 wenigstens im Kreise deutscher Geselligkeitskultur von den »Wiedersachern aller Ordnung«438 verschont zu bleiben; vor allem aber ist nach Beckedorff dieser Ausschluß des Judentums das deutlichste Zeichen für den Protest der Tischgenossen gegen die diagnostizierte »große Verwirrung und Vermischung Aller Dinge, Gesetze, Stände und Religionen«439 und den »allgemeine[n] plebejische[n] Zustand«440 der Gesellschaft. Freilich blieb dieser Paragraph nicht ohne Konsequenzen für die Geschicke der Gruppierung, wie Beckedorff deutlich macht; es wurde bereits erwähnt, daß der scheidende Sprecher die schnell wachsende Teilnehmerzahl der Gesellschaft aus der Attraktivität ihrer antijüdischen Gesinnung herleitete; die Größe der Gruppe machte jedoch einen Umzug »in den Saal der Börsenhalle«441 notwendig. »In die Börsenhalle, so dicht an die Spree sich zu wagen, jenseits welcher Juden und Philister schon einheimisch seyn dürfen, war ein gefährliches Unternehmen«442, erinnert sich der Redner; »auch bekams uns übel. Wir wurden von dort vertrieben, wie die traurige Geschichte davon Allen bekannt ist, und zogen nunmehr in’s Englische Haus, als in die letzte Freystatt für uns bedrängte Deutsche christliche Tischgenossen [...]. Indessen ist dies nicht die einzige Verfolgung, die wir haben erdulden müssen«443, beklagt Beckedorff und verweist auf »Stadtgeträtsch und Judengeklatsch«444, das die 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444
Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 236. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 233f. Ebd., S. 234.
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Tischgenossen verunglimpft und letztlich sogar in den »Mund der Journale«445 gebracht habe. »Der Angreifer gibt sich selbst bedroht und rechtfertigt mit der Reaktion seiner Aggressionsopfer nachträglich die eigene Tat«446, analysiert Stefan Nienhaus die Bemühungen des Sprechers, die Tischgenossen gleichsam zu Opfern des fatalen jüdischen Einflusses zu stilisieren. Doch das Schicksal der bedrängten und verfolgten Herrenrunde dient auch zur Verdeutlichung dessen, was den Deutschen insgesamt bevorstehen würde, sollten Juden tatsächlich die gleichen Rechte erhalten; sie würden an die Peripherie der Gesellschaft, in die »letzte Freystatt«447, gedrängt. Aus Beckedorffs Perspektive avanciert die »Freßgesellschaft«448 damit zu einem Hort des Widerstandes, in der sich Männer treffen, »die das Leben mit seinen wunderbaren Krümmungen auseinander zu führen scheint«449, um gemeinsam deutsche und christliche Werte in Zeiten der durch jüdische Umtriebe forcierten Umwälzungen zu verteidigen.
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»Rassenhass romantischer Faktur«: Ueber die Kennzeichen des Judenthums
Als Beckedorff noch als Sprecher amtierte, nämlich im Frühjahr 1811, hielt Achim von Arnim im Kreis der Tischgesellschaft die Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums, die als »frühes Dokument der Erfindung deutscher Identität«450 und als »schlimmste[r] antisemitische[r] Text der deutschen Romantik«451 zugleich gelesen werden muß. Wenn Josef Körners Verdikt von dem »Rassenhass romantischer Faktur«452, der sich mit der Tischgesellschaft verbinde, zutrifft, dann im Falle dieses Bericht[es] von einem der Mitglieder des gesetzgebenden Ausschusses.453 Das Motiv der Rede454 war politischer Natur. Die im Zuge der geplanten Reformen Hardenbergs und der jüdischen Assimilierungstendenzen fragil gewordene Differenz zwischen Juden und Deutschen sollte wieder stabilisiert werden. 445 446 447 448 449 450 451 452 453
454
Ebd. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 240. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 233. Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 95. Beckedorff, Tischrede (wie Anm. 390), S. 235. Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 147. Härtl, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 56), S. 1162. Körner, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 52), S. 145. So der Untertitel der Abhandlung. Vgl. Achim von Arnim: Ueber die Kennzeichen des Judenthums. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 170–203, hier S. 170. Vgl. zu diesem Text insbesondere die Interpretationen von Och, Imago Judaica (wie Anm. 60), S. 283–288, Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 377–383 sowie Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 216–237.
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Die Schärfe und Brutalität jener »Revue antisemitischer Bilder«455, die Arnim in dieser Rede inszeniert, kann der Schriftsteller nur über eine Bedrohungsphantasie rechtfertigen: Die Juden werden als Gefährdung für jenen Traum der ethischen und kulturellen Homogenität, den die romantische Fraktion der Tischgesellschaft zu befördern suchte, dargestellt. Dementsprechend beginnt Arnim seinen Vortrag mit dem Hinweis, daß die Problematik, die er nun darzulegen gedenkt, »nicht ohne dringende Gefahr noch vierzehn Tage [die Tischgenossen trafen sich alle zwei Wochen, M. P.] aufgeschoben werden konnte«456. Konkret besteht diese Gefahr nach Arnim in einer Unterwanderung der ehrbaren Tischgesellschaft durch »heimliche Juden«457, die sich »duch [sic!] Verstellung oder Wechselverhältnisse einschmuggeln könnte[n]«458 und dann »als bekannte vieljährige Feinde der Philister uns alle [also die Tischgenossen, M. P.], die wir ihnen in gleichem Grade verhasst sind, unter diesem Namen gesetzmässig heraus zu schaffen vermöchten«459. Arnim artikuliert damit die Befürchtung, daß jenes Gesetz, wonach ein Mitglied der Tischgesellschaft mit zwanzig Stimmen aus dem illustren Kreis gleichsam herausgewählt werden kann, sich bei einer »jüdischen Unterwanderung« der Gesellschaft gegen die Gründungsmitglieder selbst richten könnte. Die Konsequenz einer solchen Konstellation wäre, daß sich »an die Stelle dieser christlichen Tischgesellschaft eine Synagoge [...] versammelte, welche statt des frohen Gesangs auerte, statt der Fasanen Christenkinder schlachtete, statt der Mehlspeise Hostien mit Gabel und Löffel zerstäche, statt der grossen Wohltaten, die wir künftig noch wollen ausgehen lassen, die öffentlichen Brunnen vergiftete und dergleichen kleine Missethaten mehr verübte, um derentwillen die Juden in allen Ländern Europens bis aufs Blut geneckt worden sind«460. Wie schon in der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn wird damit auf die »alten Märchen von der Grausamkeit der Juden«461 (Brunnenvergiftung, Hostienschändung, Ritualmorde) angespielt und der klassische Kanon antijüdischer Klischees neuerlich reproduziert; die –zudem sehr verharmlosend dargestellte (›bis aufs Blut necken‹) – Verfolgung der Juden erhält somit ihre implizite Legitimation. Im zeitgeschichtlichen Kontext ist die Funktion dieses Bedrohungsszenarios, das Arnim für die Tischgesellschaft imaginiert, offenkundig: Wenn die preußische Regierung den Juden Bürgerrechte verleiht, implantiert sie sich den 455 456 457 458 459 460 461
Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 147. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 171. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Och, Alte Märchen (wie Anm. 60). Och behandelt in seinen Arbeiten die Gedichte Die Juden in Passau und Das Leiden des Herren. Vgl. ebd., S. 84–86 sowie Och, Imago Judaica (wie Anm. 60), S. 273–275.
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»natürlichen Feind« des deutschen Gemeinwesens bzw. des nationalen Organismus selbst ein. Gegenüber den Philistern, die »ihr Schneckenhaus sichtbar mit sich herum[tragen]«462 und daher leicht zu identifizieren sind, stellen Juden die größere Gefahr dar. Zwei zentrale Eigenschaften werden ihnen zugeschrieben: »Erstlich; eine seltene Kunst sich zu verstecken und ihre Eigenthümlichkeiten sind noch keineswegs wissenschaftlich bestimmt: Zweytens, haben sie eine teuflische Neugierde [...]«463. Diese Neugierde besitzt keineswegs konstruktiven Charakter, denn sie wollen das Gute nur kennenlernen, um es schlecht zu machen. Die erstgenannte Eigenschaft, die »Kunst[,] sich zu verheimlichen«464, wird wiederum von zwei Faktoren entscheidend begünstigt. Zum einen beweisen Juden in dem Bemühen, ihre eigenen Gesetze zu umschiffen, einen erstaunlichen Opportunismus. »Welcher Jude erschrickt jezt vor einem Stücke Schweinefleisch, wenn ihm hungert; die Beschneidung kann ja so beschnitten werden, daß es so wenig wird, wie man zuletzt von einem Apfel abhaut, der in Gesellschaften auf der Messerspitze herumgeht, um durch sein gänzliches Abfallen den zu bestimmen, der alle frey halten soll. [...] Wir alle wissen, wie leicht sie ihre übrigen Gesetze beseitigen und umgehen [...].«465 Zum anderen sind die durch »verständige Herrscher [... ] bey allen Völkerschaften«466 für notwendig erachteten Kennzeichnungspflichten für Juden – so etwa die spezielle Kleiderordnung, an die Arnim in einem nostalgisch gefärbten Rückblick erinnert467 – abgeschafft worden. Als Konsequenz daraus ist es dem Juden leicht geworden, »sich in allen Orten einzuschleichen«468, was Arnim für fatal hält. So ist es seiner Ansicht nach nicht unwahrscheinlich, daß Portugal »weniger Gefühl für Nationalehre in dem letzten Kriege zeigte«469, weil sich dort die »ersten Häuser [mit Juden, M. P.] gemischt hatten«470. Juden schleichen sich also unbemerkt ein und destabilisieren somit die zuvor homogene Gesellschaft, was in politischer Hinsicht katastrophale Konsequenzen zeitigen kann. Als »Quelle des Unbehagens in der christlich-deutschen Kultur«471 erweist sich folglich nicht der orthodoxe Jude, sondern der »Typus des akkulturierten, in der Welt der Literatur und Philosophie heimisch gewordenen Juden«472, wie Ethel Matala de Mazza zu Recht konstatiert. »Nicht weil er das 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472
Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 172. Ebd. Ebd. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 176. Vgl. ebd., S. 175–179. Ebd., S. 180. Ebd., S. 173. Ebd. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 378. Ebd.
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ganz Andere verkörpert, sondern weil er in der Maske des Eigenen begegnet, erscheint er Arnim als bedrohliche Gestalt mit unwägbarem Potential zur Subversion.«473 Bei der Erörterung der zweiten jüdischen Eigenschaft, der »teuflischen Neugierde«, geht es Arnim darum, sie von einer durchaus positiv besetzten Wißbegierde abzugrenzen. Der Redner konzediert, daß »beydes die gröste Aehnlichkeit mit einander [hat], bey den Juden aber hat es noch einen andern Zusatz[,] nämlich die Spekulazion, d. h. die merkantile«474, denn die jüdische Wißbegierde ist Arnim zufolge mit der »Lust dabey etwas zu gewinnen verbunden«475. Indem Arnim die »merkantile Spekulation aus einer als unrein bestimmten ›Wißbegierde‹ [...] herleitet und damit Sprache und Bildung dem Feld der inkriminierten ökonomischen Zirkulation unterwirft, verschließt sein Argument gerade jenen Bereich, auf den sich die Emanzipation der Juden in Deutschland [...] vor allem stützen wird«476, erläutert Birgit R. Erdle in ihrer wichtigen Interpretation von Arnims Rede diesen argumentativen Schachzug. Freilich aber kann auch der ›heimliche Jude‹ nicht gänzlich aus seiner Haut; im »zweyten Hauptabschnitte unserer Verhandlung«477 versucht Arnim deshalb seine Tischgefährten darüber zu belehren, wie denn dieser Feind »deutscher christlicher Gewissenhaftigkeit«478 zu enttarnen und mithin die »Krise der Zeichenordnung«479 (Birgit R. Erdle) aufzuheben sei. Die nun folgende Sammlung beobachtbarer Verhaltensweisen und physischer Indizien, die Arnim zur Identifizierung eines Juden angibt,480 trägt nach Birgit R. Erdle durchaus »fetischistische Züge«481. Er bezeichnet Juden als »rechte Speivögel«482, unterstellt ihnen »sonderbare[] Erbkrankheiten«483 und verweist auf vermeintliche hygienische Probleme: »[...] und wenn man in die Kammern sieht, sind sie mit Aussatz bedeckt; mag der Kerl [der Jude, M. P.] sich alle Tage baden, er bleibt doch schmutzig!«484 Die Rede hat damit ihren problematischsten Teil freilich noch nicht erreicht, denn nun erst spricht Arnim von jenen physikalischen und chemischen Experimenten, die, wie Gunnar Och betont, »nicht erst aus der Perspektive nach Auschwitz zynisch und zutiefst inhuman«485 anmuten. Der Jude wird zersto473 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485
Ebd.; vgl. auch Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 150, die von einer »Krise der Zeichenordnung« spricht. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 189. Ebd., S. 190. Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 150. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 191. Ebd., S. 171. Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 150. Vgl. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 192–194. Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 151. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 192. Ebd. Ebd., S. 194. Och, Imago Judaica (wie Anm. 60), S. 286.
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ßen und in seine Einzelteile zerlegt, ein Vorgang, den der einstige Naturwissenschaftler Arnim mit der adäquaten Terminologie zu beschreiben in der Lage ist.486 Er setzt dieses Vokabular ein, um »eine validierte Bestimmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Juden und Deutschen darzustellen: das heißt, er benutzt es für eine Darstellung von Dissimilation, Ent-Ähnlichung und für die Montage eines ›reinen‹ jüdischen Körpers«487, wie Birgit R. Erdle deutlich macht. Das »Ziel dieser Experimente«488 sieht Erdle vollkommen zu Recht in einer »säuberliche[n] Scheidung des ›Gleichartigen‹ vom ›Ungleichartigen‹«489, also in der »Herstellung [von] (ethnischer und nationaler) Homogenität, durch die eine als Kontamination gedeutete Akkulturation rückgängig gemacht wird«490. In Arnims Versuchsanordnung werden jene »vier Theile Christenblut«491, die sich in dem Körper des ›heimlichen Juden‹ befinden, durch »eben so viele Theile Geld«492 ersetzt, was den Juden nach erfolgter Wiederherstellung – auch dank der »Zugabe von Gold«493 – prompt »viel lebendiger«494 macht; aber eben auch durchschaubarer, denn die ohnehin nur zum Schein angenommene nationale Loyalität495 ist nun nicht mehr festzustellen. »Der Kerl hatte keinen Ernst als in seiner eignen miserablen Geschichte«496, weshalb ihn weder »das große Landesunglück von der Jenaer Schlacht«497 noch der Tod der Königin – gemeint ist freilich abermals Luise – sonderlich rührt. »Die Welt meinte er sey rings nur geschaffen, damit er wie David vor der Bundslade davor narrentanzen könnte.«498 Liebe zum »Vaterland« ist den Juden, die »an kein Vaterland gebunden jedes Landes Vortheile abschöpf[en]«499, gänzlich fremd, wie Arnim gegen Ende seines Vortrags noch einmal – nun, nach den makabren Übertreibungen bei den Experimenten, wieder in ernsterem Duktus – ausdrücklich betont. Fast »das gesammte Vermögen der Nazionen«500 sieht der Redner »in der Juden 486
487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500
Stefan Nienhaus diagnostiziert Begrifflichkeiten, die »auf den neuesten Stand der damaligen Physik und Chemie« verweisen. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 235. Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 151. Ebd. Ebd. Ebd. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 197. Ebd. Ebd., S. 198. Ebd. »[...] Sprache, Edelmuth, Politik haben sie [die Juden, M. P.] sich längst zum Scheine angenommen«; ebd., S. 191. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd. Ebd., S. 201. Ebd.
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Hände gekommen«501; er charakterisiert sie als ein reiches Geschlecht, das »beynahe allen Staatslasten entzogen in jedem öffentlichen Unglücke sein Gedeihen findet«502 und deswegen – was Arnim als ganz folgerichtig begreift und daher gleichsam als Notwehr darstellt – auch wieder seine Verfolgung erwarten muß. »Um nicht den Vorwurf auf mich zu laden, daß ich ähnliche Grausamkeiten veranlassen wollte«503, lenkt Arnim jedoch scheinbar ein und bittet schließlich, »indem ich allen Juden die beste Gesundheit wünsche, und viele darunter als meine edelsten Freunde preise, alle werthen Mitglieder dieses christlichen Tisches [...], die ihnen mitgetheilten Wahrheiten möglichst geheim zu halten«504. Freilich kann diese Beschwichtigung nur schwerlich eine Entlastung Arnims leisten. Ihre Funktion scheint weniger in einem »zurücknehmenden Ernst«505 zu liegen als in einer Parodie auf den philosemitischen Diskurs;506 zudem stärkt die von Arnim evozierte Vorstellung, gemeinsam Geheimnisträger zu sein, das Gruppenbewußtsein: »Der Geheimhaltungspolitik kommt wohl eine wesentliche Funktion für die Stiftung und Stärkung der Identität der ›Tischgesellschaft‹ zu – auch dann, wenn sie als rhetorische Geste intendiert ist«507, schreibt Birgit R. Erdle. Das allmähliche Zerbrechen der Tischgeselligkeit konnte indes auch dadurch nicht verhindert werden.
6
Ein Duell im Badehaus und seine »höhere Bestimmung«: Arnims Itzig-Referat
Es ist in der Forschung erst kürzlich wieder versucht worden, die Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums als »völlig mißlungenen Witz«508 zu interpretieren und damit ihre sozialpolitische Brisanz zu bagatellisieren. Arnim, so die These Theodore Ziolkowskis, sei »[i]m unmittelbaren Anschluß an Brentanos Philister-Rede und angefeuert durch deren Erfolg bei der Tischgesellschaft«509 gleichsam über das Ziel hinausgeschossen; sein Text müsse zwar wegen der »ahnungslose[n] und joviale[n] Brutalität, mit der der Redner aus traditionellen 501 502 503 504 505 506
507 508
509
Ebd. Ebd. Ebd., S. 202. Ebd. Härtl, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 56), S. 1162. So Och, Imago Judaica (wie Anm. 60), S. 287: »Ich komme nicht umhin, diese Passage satirisch zu lesen. Arnim imitiert den philosemitischen Diskurs der Aufklärung offenbar nur zu parodistischen Zwecken.« Erdle, Rhetorik (wie Anm. 65), S. 155. Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 236. Vgl. auch meine detailliertere Auseinandersetzung mit Ziolkowskis Untersuchung: Marco Puschner: [Rezension] Theodore Ziolkowski. Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. In: Aurora 63 (2003), S. 182– 185. Ziolkowski, Berlin (wie Anm. 508), S. 234.
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antijüdischen Stoffen seine Witze mühsam zusammenbastelt«510, verurteilt werden, der Antisemitismus-Vorwurf aber ginge vollkommen fehl; »[w]ir erkennen den Unterschied zwischen wirklichem Antisemitismus und Arnims mißglückter Rede am deutlichsten, wenn wir ihr die tatsächlich antisemitischen Ausfälle in Ludolph Beckedorffs Abschiedsrede vom 18. Juni 1811 gegenüberstellen.«511 Während Ziolkowski den Text Beckedorffs durch einen »ausgesprochen xenophobischen Nationalismus«512 motiviert sieht, folgen Arnims Ausführungen demnach ausschließlich einer »humoristische[n] Absicht«513; nach Ziolkowski handelt es sich letztlich um zwei »völlig verschiedenartige[] Reden«514. Nun ist die Abhandlung Arnims in der Tat im Gegensatz zu der Abschiedsrede Beckedorffs als Satire gekennzeichnet; der Unterschied hinsichtlich der Textsorte gibt jedoch keinen Anlaß dazu, auch von einer Differenz in der ideologischen Grundausrichtung der beiden Autoren auszugehen. Wie die obigen Analysen deutlich gemacht haben, rekurrieren beide Reden auf die zeitgenössischen Debatten um die Emanzipation der Juden, und beide imaginieren die mögliche Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit als eine Gefahr für die deutsche Nationalgemeinschaft. Arnim greift auf tradierte antijüdische Topoi zurück, aber er reaktiviert sie für die aktuellen Fragestellungen; daß er dies in »scherzhafter« Form versucht, unterminiert nicht die Ernsthaftigkeit des Anliegens, zumal auf Kosten einer Minderheit gelacht wird. Wer Arnim – wie Ziolkowski – »Ahnungslosigkeit« bei der Wahl seiner Motive unterstellt und ihn damit von der Verantwortung für die Problematik seines Textes entbinden will, muß notwendig ausblenden, daß der »Wunderhornmann« sich eben nicht »nur« als Dichter verstand, sondern vor allem auch als Journalist; Arnim war über die politischen Geschehnisse bestens im Bilde. Die Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums ist zudem nicht der einzige im Rahmen der Tischgesellschaft entstandene Text Arnims, der sich mit der Emanzipationsfrage auseinandersetzt. Sein ausführliches Referat über die Itzig-Affäre, das viele der in den Kennzeichen erhobenen Vorwürfe gegen Juden wiederholt, ohne dabei jedoch an die »humoristische Absicht« der früheren Rede anzuschließen, spielt in Ziolkowskis Ausführungen freilich keine Rolle, obwohl er die Habilitationsschrift von Stefan Nienhaus, in der Arnims Referat erstmals publiziert wurde, durchaus zur Kenntnis genommen hat. Hier 510 511 512 513 514
Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237. Ebd. Ebd. Ähnlich die Tendenz bei Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 65), S. 162, wenn er zwischen der – fälschlich Müller zugeschriebenen – Rede Beckedorffs und der Arnims den Unterschied darin erkennt, daß die eine »Teil eines ernst gemeinten Systems der politischen Wissenschaften«, die andere eine »Gelehrsamkeitssatire« sei. Auch Arnims politische Positionen sind ernst gemeint, und die Judenfeindschaft ist integraler Bestandteil seines politischen Weltbildes.
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soll der Text, der noch einmal deutlich macht, daß Arnim sich Juden weder als »Tischgenossen« noch als Mitglieder der deutschen Nationalgemeinschaft vorstellen konnte, kurz behandelt werden. Zuvor gilt es allerdings, die in der Forschung schon vielfach repetierte »Judengeschichte«515 Arnims in Erinnerung zu bringen. Im Frühjahr 1811 war Achim von Arnim anläßlich einer musikalischen Soiree im Salon Sarah Levys erschienen; er hatte eine eigentlich nur für seine Frau bestimmte Einladung aufgrund eines Mißverständnisses auch auf sich bezogen. Weil die Tischgesellschaft und die Rolle, die Arnim in ihr spielte, in den Berliner Gesellschaftskreisen durchaus bekannt waren, fühlte sich der Neffe Sarah Levys, Moritz Itzig, »[d]urch das Erscheinen Arnims und eventuell durch dessen provokantes Benehmen im Salon«516 beleidigt; der Konflikt mündete in eine Duellforderung durch Itzig, der seinem Widerpart unter anderem vorwarf, bislang nur mit »unritterlichen Waffen [...] gegen meine Glaubensgenossen [...] eifrig gekämpft [zu] haben«517. Gunnar Och sieht in dieser Formulierung die Möglichkeit einer Anspielung auf das in der Rede Ueber die Kennzeichen des Judenthums eingelagerte Spottgedicht vom reichen Frankfurter Juden Katz. Der als »anmaßende[r] jüdische[r] Assimilant«518 imaginierte Katz wagt sich aus Neugier auf ein christliches Ritterturnier, wird dort enttarnt und vom Ritter von Falkenstein zum Duell aufgefordert, was der jüdische Kaufmann jedoch aus Angst verweigert;519 trifft Ochs Hypothese zu, »so würde Itzigs Verhalten einer vorgegebenen Partitur folgen und dabei nur das Vorzeichen ändern, indem es den ›feigen Juden‹ in einen mutigen Kämpfer transponiert, der sich seinem Gegner, dem christlichen Ritter, ebenbürtig erweist«520. Och betont jedoch zu Recht, daß – unabhängig davon, ob Itzig die »wunderliche[] Geschichte[]«521 über Katz kannte – das Verhalten des Juden als ein fremdbestimmtes definiert werden
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»Meine Judengeschichte hat seit Deiner Abreise eine Katastrophe erlebt«, schreibt Arnim in einem Brief vom 17. Juli 1811 – also nach dem Duell im Badehaus – an Brentano. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe II (wie Anm. 200), S. 604f., hier S. 604. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 243. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 263. Ich zitiere aus einem noch unveröffentlichten Vortrag, den Gunnar Och am 27. Mai 2003 auf der Kölner FAG-Konferenz zum Thema »Zwischen Sprachen« gehalten hat. Für die Aushändigung des Typoskriptes sei Herrn Professor Dr. Och auf diesem Wege noch einmal herzlich gedankt. Gunnar Och: Gespaltene Identitäten. Anmerkungen zum Beitrag von Thekla Keuck. Unveröffentlichtes Typoskript. Erlangen 2003, S. 5. Vgl. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 181–189. Och, Identitäten (wie Anm. 518), S. 8. Arnim, Kennzeichen (wie Anm. 453), S. 181.
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muß, das »im Geist trotziger Über-Anpassung fragwürdige Werte adaptiert«522. Dieser »Über-Anpassung« will Arnim freilich offensiv entgegentreten, und so folgt auch sein Verhalten weiterhin der Partitur der Katz-Geschichte: Er lehnt die Duellforderung selbstverständlich ab. Zuvor erkundigte er sich allerdings bei den adeligen »Männern von Ehre und Einsicht«523 Chasot, Quast, Bardeleben, Barnekow, Rothenburg, Moellendorff, Wilhelm von Röder, Hedemann und Friedrich Abraham von Arnim über die Zulässigkeit eines Zweikampfes mit einem Juden und erhielt allerorten die erwarteten Bescheide.524 Für ein Duell votierte keiner, eine Bestrafung Itzigs indes hielten die Herren für geboten, wobei hier die Konfliktlösungstrategien nur geringfügig divergierten: Barnekow präferierte »Maulschellen oder Ruhtenstreiche«525, Achim von Arnims Vetter empfahl Hiebe mit einem »derben Hesselstock«526, Möllendorff riet, dem »Bengel[] [...] einige hundert Eimer Wasser übers Haupt zu machen«527, und Bardeleben räsonierte grundsätzlich darüber, daß man »so einen lausigen Judenjungen nicht verächtlich genug behandeln«528 könne. Arnim übermittelte diese Antworten brieflich an Sarah Levys »wahnwitzigen Neffen«529 und hielt die Angelegenheit damit endgültig für erledigt. Am 16. Juli 1811 wurde er dann jedoch von seinem jüngeren Rivalen in einem Badehaus überfallen, worauf sich die beiden Herren doch noch ein Duell lieferten – und zwar mit ihren Spazierstöcken, was dem »Moritz Itzig langweiligen Briefandenkens«530 eine blutende Kopfwunde und später auch noch acht Wochen Gefängnis einbrachte.531 Arnims »Judengeschichte« sollte alsbald das 522
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Och, Identitäten (wie Anm. 518), S. 8. Klaus Günzel verweist darauf, daß das Duell damals schon als »ein archaisches Ritual [galt], das im Licht der klassischen Humanität keine positive Bedeutung mehr haben konnte«. Klaus Günzel: Ein Jude fordert Genugtuung. Turbulenzen um ein Duell, das 1811 nicht stattfand. In: Das Duell. Der tödliche Kampf um die Ehre. Hg. von Uwe Schultz. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1996 (Insel-Taschenbuch; 1739), S. 178. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 265. Vgl. den erstmals kompletten Abdruck der Antworten bei Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 251–253. Ebd., S. 251. Ebd., S. 253. Ebd., S. 252. Ebd. Arnim berichtet, daß er nach Itzigs erstem Brief zu Sarah Levy geeilt sei, um sich zu erkundigen, »was sie für einen wahnwitzigen Neffen habe«. Vgl. Arnim, ItzigSkandal (wie Anm. 370), S. 263. So Arnim, der angibt, nach der brieflichen Kontroverse »zu angenehm beschäftigt« gewesen zu sein, »um viel an ihn [also Itzig, M. P.] denken zu können«. An dieser Stelle des Referates marginalisiert er demonstrativ die für beide Seiten eminente Bedeutung der zunächst brieflichen und dann handgreiflichen Auseinandersetzung. Ebd., S. 271. Vgl. Hildegard Baumgart: Arnims »Judengeschichte«: Eine biographische Rekonstruktion. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Ber-
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journalistische ›Sommerloch‹ füllen, wobei »die Bewertung des skandalösen Vorfalls [...] keineswegs zu seinen Gunsten aus[ging]«532, wie Stefan Nienhaus anhand eines Berichtes deutlich macht, der am 31. August im Morgenblatt für gebildete Stände erschien: »Die soziale Deklassierung, die Itzig durch die Negation der Satisfaktionsfähigkeit zugedacht war, wird gegen die ›Adelichen‹ selbst gekehrt, die sich durch ihren ›nicht [...] anständigen, ja oft [...] empörenden Ton‹ außerhalb des gesellschaftlich Korrekten stellten.«533 Es ist eine besondere Ironie dieser »Skandalhistorie«534, daß sie auf der einen Seite das Ende für Arnims politische und diplomatische Ambitionen bedeutete,535 der Schriftsteller selbst sie jedoch als Möglichkeit interpretierte, seiner Nation nach etlichen gescheiterten Versuchen doch noch dienlich sein zu können, wie aus dem ausführlichen Rechtfertigungsreferat vor der Tischgesellschaft (Ende Juli 1811) hervorgeht. Das »Geschick«536, das ihm bislang »im Vaterlande eine ausgebreitetere Wirksamkeit versagt«537 habe, erläutert Arnim zu Beginn des Vortrags, »hat mich [nun, M. P.] wenigstens gewürdigt, einem zerstörenden Strome, dem Andrange der Juden, die ihrem Glauben nach noch ohne ein Vaterland sind, wie ein Damm entgegenzutreten«538, worin er prompt »die schönste Bestimmung [s]eines Lebens«539 zu erkennen glaubt. Der »grundsätzliche Charakter des Konflikts«540, der im Kontext der Emanzipationsdebatten allen Beteiligten deutlich vor Augen stand, wird von Arnim im Verlauf des Referates gleich mehrmals thematisiert. »Der Herr hat meinen Stab geführt«541, heißt es etwa in dem Gedicht, in dem Arnim die Auseinandersetzung im Badehaus beschreibt542: »Er hat den Streich mir ausparirt / Der meine Ehr sollt kränken.«543 Der Jude wird also mit göttlichen Weihen blutig geschlagen.
532 533 534 535
536 537 538 539 540 541 542 543
liner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 3), S. 86. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 260. Ebd., S. 261; vgl. auch Günzel, Genugtuung (wie Anm. 522), S. 178. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 260. Michael Ott: »Die Macht der Verhältnisse«. Judentum, Ehre und Geschlechterdifferenz im frühen 19. Jahrhundert. In: Differenzen in der Geschlechterdifferenz. – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Hg. von Kati Röttger und Heike Paul. Berlin: Schmidt 1999 (Geschlechterdifferenz und Literatur; 10), S. 253. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 260. Ebd. Ebd. Ebd. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 250. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 258. Vgl. ebd., S. 257–259. Ebd., S. 258.
IV Salon und Tischgesellschaft
293
Eigentlich hatte Arnim die Angelegenheit wesentlich früher und vor allem friedlicher beilegen wollen; doch als er nach Itzigs erstem Brief zu Sarah Levy eilte, war die Gastgeberin jener folgenreichen Soiree nicht zu Hause, so daß die Möglichkeit eines klärenden Gespräches verpaßt wurde. Eine zeitige Schlichtung der »ganze[n] Geschichte«544 wurde so womöglich durch einen Zufall vereitelt, was Arnim als Indiz für die »höhere Bestimmung in derselben«545 interpretiert.546 Daß sich der Gründer der Tischgesellschaft überhaupt noch einmal die wahrscheinlich gar nicht so »kleine Langeweile der Wiederholung«547 gestattet und jene – den meisten Tischgenossen ohnehin bekannten – Vorfälle bis ins Detail (und inklusive der Verlesung sämtlicher Briefzeugnisse) rekapituliert, kann er selbst nur legitimieren, indem er auf die »Grundsätze[]«548 verweist, aus denen die als »einzelner Fall«549 eigentlich bedeutungslose Geschichte ihre »Lebendigkeit«550 beziehe. Später beruft sich Arnim erneut auf das Vaterland, das ihn gleichsam dazu nötige, das »Geschmiere des Judenjungen [...] abzuschreiben«551, um es den Tischgenossen vorlesen zu können. Doch auch wenn Arnim permanent die Bedeutsamkeit des Vorgefallenen beteuert, so vermutet Hildegard Baumgart wohl nicht zu Unrecht, daß der Sprecher der insgesamt »zweitlängste[n] Rede«552, die vor der Tischgesellschaft gehalten wurde, bei den beteiligten Herren einen »höchst sonderbaren Eindruck«553 hinterlassen haben muß: »Die Versammelten, die während dieser langen Rede einigen Wein getrunken und wohl das Dessert schon hinter sich gebracht hatten, werden schließlich gelangweilt, aber jedenfalls spöttelnd und mit Kopfschütteln davongegangen sein.«554 Gleichwohl dürfen Baumgarts berechtigte Hinweise auf die »Verwirrung«555 und »Erschütterung«556 eines Redners, der »den versammelten Herren [...] immer merkwürdiger«557 erschienen sein muß, nicht darüber hinwegtäuschen, daß Arnim seine »eigne Judengeschichte«558 im Rahmen des Vortrags freilich auch instrumentalisiert: Noch einmal soll grundsätzlich über den Status der Juden und die Möglichkeit ihrer Einbürgerung reflektiert werden. In die544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558
Ebd., S. 263. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 260. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 262. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 256. H. Baumgart, »Judengeschichte« (wie Anm. 531), S. 83. Ebd., S. 84f. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 260.
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sem Zusammenhang sieht er die »Frechheit«559 Itzigs auch durch die »sonderbare[] Lage«560 seiner »Glaubensgenossen«561 motiviert, wie eine Stelle aus dem dritten Brief Arnims an Itzig dokumentiert: »Meine Beobachtung Ihres Volkes ist nicht etwa von heute oder gestern, es gab eine Zeit wo man fürchten muste, die Deutschen mögten durch die Gewalt ungeheurer Ereignisse gleich Ihrem Volke zerstreut und unterdrückt werden und schon fand sich unter ihnen wie unter den Ihren eine Art hypochondrischer Besorglichkeit [...] und so konnte man gar manchen unter Franzosen sehen, dem ein Paar Stunden Unterhaltung tagelangen Kummer machten, oder der auf die befremdenste Weise in Beleidigungen ausbrach, die niemand verdient hatte.«562 Wie Müller und Arndt parallelisiert also auch Arnim das »deutsche« und das »jüdische« Schicksal; die »Deutschen«, so Arnim, waren zeitweise von jener Zerstreuung und Unterdrückung bedroht gewesen, die die Juden schon über sich ergehen lassen mußten. Interessant ist neben dem »Akt projektiver Selbsterkenntnis«563, der sich in dieser »vorsichtige[n] Annäherung an die Position seines Gegenüber«564 artikuliert, vor allem zweierlei: Zum einen heißt es in Arnims Brief, daß es »eine Zeit«565 gegeben habe, in der die »Deutschen« von Zerstreuung und Unterdrückung bedroht gewesen seien; obwohl die Befreiungskriege zum Zeitpunkt der Rede noch keinesfalls geschlagen waren und Napoleon sich immer noch im Zenit seiner Macht befand, beschreibt Arnim die Gefahr des nationalen Untergangs seinem jüdischen Kontrahenten gegenüber demonstrativ als eine vergangene. Die »Deutschen« haben demnach bereits erfolgreich jene Schwierigkeiten gemeistert, mit denen die »Juden« noch immer kämpfen müssen. Zum zweiten wird freilich – wenn Arnim auf Ähnlichkeiten (Bedrohung des nationalen Zusammenhangs) und Unterschiede (für die »Deutschen« ist diese Bedrohung Vergangenheit) zwischen den beiden Völkern verweist, implizit auch noch einmal das Distinktionsbedürfnis deutlich: Die reine Möglichkeit eines Vergleichs zwischen »deutscher« und »jüdischer Nation« negiert freilich die Option, daß es auch »Deutsche jüdischen Glaubens« geben könnte. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Arnim im weiteren Verlauf seines Referates die Differenzen zwischen beiden »Völkern« eindringlich markiert. Die Juden werden in diesem Kontext innerhalb »Deutschlands« als »Fremdlinge«566 angesehen, da die »Einheit des Volkssinnes [...] nothwendig in Einheit des Glaubens sich äussern«567 müsse; die »innere Nationali559 560 561 562 563 564 565 566 567
Ebd., S. 268. Ebd. Ebd. Ebd., S. 269. Och, Identitäten (wie Anm. 518), S. 6. Ebd. Arnim, Itzig-Skandal (wie Anm. 370), S. 269. Ebd., S. 279. Ebd., S. 279f.
IV Salon und Tischgesellschaft
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tät«568 der Juden findet nach Arnim zudem in »widersprechende[n] [...] Gesetze[n]«569 und einer anderen »Sinnesart«570 ihren Ausdruck. Ihre Integrationsbemühungen denunziert Arnim als opportunistische Heuchelei. So weist er schon zu Beginn seines Referates darauf hin, daß die »literarische witzige Aussenseite der geselligen Judenschaft«571 nicht über die »innerliche und ursprüngliche Verkehrtheit dieses Volkes«572 hinwegtäuschen dürfe; später wird er diesbezüglich noch konkreter, wenn er Juden vorwirft, »unter Christen das Aeussere derselben nachzuahmen [...], innerlich aber die Verächter unseres Glaubens, unsrer Sitten und unsrer Anhänglichkeit an ein bestimmtes Vaterland [zu] bleiben«573. Die Eigenschaften, die in den Überlegungen Arnims den jüdischen Nationalcharakter konturieren, sind dementsprechend negativ: Er konstatiert, daß »kein Volk solche Leichtigkeit zum Lügen hat wie die Juden«574, beklagt die »Ekelhaftigkeit und Schändlichkeit des Lebens, welche aller Arten durch Juden ausgebrütet worden«575, und sieht in den Forderungen, zum Duell zugelassen zu werden, lediglich den einen Vorteil, daß dann »mancher unehrliche Gewinn zurückerkämpf[t]«576 werden könne. Damit ist freilich das »Schacherund-Wucher«-Motiv ins Spiel gebracht, das Arnim auf eine politische Ebene transferiert, indem er feststellt, daß viele Juden »mit den Reichthümern, die sie der Noth der Länder erwucherten auf mannigfaltige Art über Christen zu herrschen vermögen«577. Neben dieser Verschwörungsthese darf freilich auch der obligatorische Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der Juden nicht fehlen. In Kriegen, so Arnims Beobachtung, wechselten Juden aus Opportunismus und »mit überraschender Leichtigkeit«578 die Seiten, so daß sie sich stets auf der des Siegers wiederfinden würden; obendrein wären sie »überall [...] als Spione gebraucht [worden], oft von beyden Theilen«579. Das beste Beispiel für die Unmöglichkeit, Juden als Juden in die deutsche Gesellschaft mit allen Rechten und Pflichten zu integrieren, bietet in den Augen Arnims Frankreich. Selbst die Revolution, die danach trachtete, alle gesellschaftlichen Differenzen zu nivellieren, hätte vor dem »unauflösliche[n] Unterschied«580, der durch Volkssinn und Glaubenssinn zwischen Juden und 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580
Ebd., S. 278. Ebd., S. 279. Ebd. Ebd., S. 262. Ebd. Ebd., S. 278. Ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Ebd., S. 278. Ebd. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd., S. 282.
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den anderen europäischen Völkern konstituiert werde, kapitulieren müssen; der Versuch, »sie [die Juden, M. P.] sich durch Einbürgerung anzueignen«581, mündete Arnim zufolge für die Franzosen in einer nationalen Katastrophe, weil die jüdischen Bürger »die neuerworbenen Rechte«582 zumeist nur dazu gebraucht hätten, »alle Gerechtigkeitspflege zu untergraben«583: »Woher kommt es doch, daß in der langen Zeit der Revoluzion, die alle historischen Unterschiede zu vergessen strebte, kein einziger Jude zu einer recht ausgezeichneten Stelle emporgestiegen ist weder im Civil noch im Militärstande?«584 Was die Frage der Konversion angeht, so fällt Arnims Antwort ebenso ambivalent aus wie die der anderen Autoren der Politischen Romantik. Zum einen betont Arnim sein nachträgliches Einverständnis mit jenen Paragraphen, wonach auch getaufte Juden keine Tischgenossen werden dürfen; zum anderen denkt er aber über die Gründung einer »Gesellschaft zur Judenbekehrung«585 nach und überlegt dann, die geläuterten Juden als »eine unendliche Missionsanstalt des Christenthums durch die ganze Welt«586 zu schicken. »Was Arnim am Ende seiner Rede als Lösung der Judenfrage vorschwebt, ist im Kern nichts anderes als die Übertragung des literarischen Ahasverus-Motivs aus der antijüdischen Legendentradition auf die historische Realität. [...] Gleich diesem zur ruhelosen Wanderschaft verdammten Juden sollen nach Arnims Plan die bekehrten Israeliten ›in alle Welt ziehen und alle Heiden lehren.‹«587 Den – bekehrten – Juden wird hier also doch noch eine positive Funktion zugesprochen; allerdings – und das ist, wie Nienhaus zu Recht konstatiert, die überraschende Pointe der Überlegungen Arnims – eben nicht in den deutschen Ländern: »Die Juden sollen erst zum Christenthum konvertieren und müssen Deutschland (wie alle christlichen Länder) danach dennoch verlassen (um ihr büßendes Missionswerk zu beginnen)!«588 Die Differenz zwischen Deutschen und Juden bleibt für Arnim unüberbrückbar, und der antisemitische Ausschlußparagraph der Tischgesellschaft erhält durch seine Rede eine zusätzliche Legitimation.
7
Das Ende der Tischgesellschaft
Den gründlichen Recherchen von Stefan Nienhaus zufolge muß die Tischgesellschaft noch mindestens bis ins Jahr 1834 bestanden haben; freilich existieren aus den späten Jahren des Vereins kaum mehr Dokumente.589 Lediglich 581 582 583 584 585 586 587 588 589
Ebd., S. 281. Ebd., S. 282. Ebd. Ebd. Ebd., S. 284. Ebd., S. 283. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 258. Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S. 7f.
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zwei äußere Hinweise bezeugen die Existenz der Gesellschaft über das Jahr 1816 hinaus. Der als Zeitzeuge äußerst ergiebige Karl August Varnhagen von Ense590 verzeichnet in seinen Blättern aus der preußischen Geschichte für den 2. August 1820 ein Mittagessen »im Tiergarten in der christlich-deutschen Gesellschaft«591, und in einer Schrift über Ph. Buttmann und die Gesetzlosen von 1834 wird in einem Hinweis auf traditionsreiche Berliner Vereine darüber berichtet, daß die »von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano [sic!] gegründete christlich-deutsche Gesellschaft«592 noch immer bestehe. Ihren produktiven Höhepunkt hatte sie freilich schon weitaus früher überschritten. So bescheinigte Achim von Arnim, der »nach längerer Abwesenheit«593 – der Autor lebte mittlerweile vorwiegend auf seinem Gut in Wiepersdorf594 – wieder einmal einer Sitzung beiwohnte, der Versammlung am 18. (bzw. 24.) Januar 1815 denn auch »in Hinsicht der Zahl der Mitglieder ein bedeutendes Sinken ihres Credits«595. Der Kreis der Tischgenossen war seit dem ersten Zusammentreffen vier Jahre zuvor merklich kleiner geworden, und insbesondere die romantische Fraktion innerhalb der Gruppierung hatte im Lauf der Zeit einige Verluste hinnehmen müssen. Fichte und Reichardt waren 1814 gestorben (und von Arnim mit Nachrufen bedacht worden),596 Johann Heinrich Gentz schon 1811. Ebenfalls im Jahr 1811 hatte sich Adam Müller in Richtung Wien verabschiedet, während Beckedorff im gleichen Jahr nach Ballenstedt gegangen war. Der »prominenteste«597 unter den in der Tischgesellschaft vertretenen Offizieren, Ludwig August Graf von Chasot, ging 1812 nach Rußland und fiel im Jahr darauf. Auch Karl Ludwig Tiedemann (gefallen 1812), und die 1813 gefallenen Röder-Brüder Wilhelm und Ferdinand598 überlebten die Befreiungskriege nicht. Arnims älterer Bruder Carl Otto von Arnim war als preußischer Gesand-
590
591
592 593 594 595 596 597 598
Vgl. zu Varnhagen von Enses »Zeugenschaft«: Ralph-Rainer Wuthenow: Zeugenschaft: Varnhagen von Enses »Denkwürdigkeiten«. In: Verborgene Lesarten. Neue Interpretationen jüdisch-deutscher Texte von Heine bis Rosenzweig. In memoriam Norbert Altenhofer. Hg. von Renate Heuer. Frankfurt a. M., New York: Campus 2003 (Campus Judaica; 20), S. 158–172. Karl August Varnhagen von Ense. Werke in fünf Bänden. Hg. von Konrad Feilchenfeldt. Band V (1994), S. 24. Zit. n. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 7. [Clemens August Klenze]: Ph. Buttmann und die Gesetzlosen. Berlin 1834. S. 3. Zit. n. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 7. Arnim, Tischrede 1815 (wie Anm. 413), S. 336. Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 1254. Arnim, Tischrede 1815 (wie Anm. 413), S. 336f. Vgl. Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 468–471 bzw. S. 472–475. Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 63), S. 19. Ob er oder nicht vielmehr sein Bruder Eugen Mitglied in der Christlich-deutschen Tischgesellschaft war, ist allerdings unsicher. Vgl. Nienhaus, Textedition (wie Anm. 127), S. 374.
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ter 1812 nach Stockholm und später nach London gegangen; der Gutsherr Friedrich Abraham Graf von Arnim starb 1812.599 Mit den personellen Verlusten gingen die ideellen einher. Die Hoffnungen, die die Gründungsväter mit der Gruppe verbunden hatten, erfüllten sich nicht. Daß keine direkte politische Wirkung von der Tischgesellschaft ausgehen konnte, war zwar auch Arnim, Brentano und Müller von vornherein bewußt; aber »der Gefahr, nur eine Reihe neben einander essender Menschen vorzustellen«600, wollte man schon entgehen. Arnims Resümee verrät, daß er genau diesen Anspruch jedoch nicht eingelöst glaubte: »Aber zu bald bestätigte es sich [...], vor dem Essen war Hunger störend, nach dem Essen die Füllung, auch war die Gesellschaft zu mannigfaltig, als daß ein Gegenstand alle angesprochen hätte[.]«601 Nachdem der »mitgeborne Scherz über Philister und Juden seinen Kreislauf vollendet«602 hatte, also »vollständig belacht«603 worden war und als ausgereizt gelten mußte, fehlte der Gruppe das integrierende Element. Die Konzepte Arnims und Brentanos, im Sinne »allgemeine[r] deutsche[r] Bestrebungen [...], sey es für deutsche Geschichte, Kunst und Wissenschaft[,] für Sprache oder andre allgemeine Bedürfnisse [...]«604 zu wirken, stießen anscheinend auf wenig Gegenliebe bei den anderen Teilnehmern. Ein Beispiel für die Vergeblichkeit dieser Bemühungen ist Arnims Versuch, die Tischgesellschaft in Anlehnung an die Frankfurter Museumsgesellschaft und »in etwas anmaßender Konkurrenz zur königlichen Galerie, die freilich noch hauptsächlich aus Bildern der 599 600
601 602 603 604
Zu den Kurzbiographien der Mitglieder vgl. ebd., S. 360–378. So Clemens Brentano in einer Vorrede zu Schwänken, die er und Arnim den Herren in der zweiten Sitzung vortrugen: Achim von Arnim und Clemens Brentano: ‹Schwänke›. In: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 38–40, hier S. 39. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66) interpretiert diese Stelle falsch, wenn sie daraus den »Selbstzweck der Mahlgemeinschaft« (S. 372, Herv. i. O.) herleitet. Genau gegen die Option, »nichts weiter« (S. 372) zu sein als eine gemeinsam speisende Herrenrunde, richten sich Brentanos Vorrede und die anschließenden Schwänke. Matala de Mazzas Ansatz, die Tischgesellschaft in erster Linie als »Institution der kulinarischen Begegnung« (S. 367) zu begreifen, in der die »Idee des nationalen Körpers« (S. 368) über das »Experiment der Mahlgemeinschaft« (S. 368) seine Plausibilität bekomme, erscheint mir deshalb fragwürdig, zumal er neben den Klagen Arnims und Brentanos über die unproduktiven Mitglieder auch das Kulturprogramm und seine politischen Intentionen gleichsam negieren muß. Originell und interessant sind Matala de Mazzas Einsichten gleichwohl, würde es doch mit ihrer Hilfe gelingen, eine weitere Kontinuität zu Arnims Wunderhorn-Projekt herzustellen: Der Volksgeist konspiriert »hier wie dort mit sinnlichen Grunderfahrungen« (S. 373): »Ein weiteres Mal wird [...] die Zunge als nationales ›Selbstwahrnehmungsorgan‹ ins Feld geführt, das via Gemüt eine innige Fühlung mit der vitalen Substanz der Gemeinschaft aufzunehmen erlaubt.« (S. 373) Arnim, Tischrede 1815 (wie Anm. 413), S. 344f. Ebd., S. 344. Ebd. Ebd.
V Fiktion und Projektion
299
französischen Schule bestand und zudem die zeitgenössische Kunst ignorierte«605, zu einem umfassenden Kulturzentrum zu entwickeln, in dem – unter nationalen Vorzeichen – Ausstellungen, Konzerte und Lesungen Platz finden sollten. Der Plan scheiterte letztlich am Desinteresse der Tischgenossen. August Boeckhs häufig zitierter Kommentar, daß es in der Gruppe »recht Arnimisch«606 zuginge, bestätigt den Dissens zwischen denen, die die Tischgesellschaft nur der leiblichen Genüsse wegen besuchten und jenen, die sich von ihr auch einen gewissen kultur- und gesellschaftspolitischen Einfluß versprachen. Arnim jedenfalls moniert in seiner Bilanz ebenso vorsichtig wie deutlich, daß »[v]iele Mitglieder [...] zurückhaltend mit dem [waren], was sie der Gesellschaft hätten mittheilen«607 können. So zieht der Initiator der »Freßgesellschaft« – zumal »selbst das Essen [...] schlechter«608 wurde – schließlich ein ernüchterndes Fazit; am Ende seiner Rede vom 18. Januar 1815 schlägt er vor, sich nur noch in größeren Abständen zu treffen.609
V
Fiktion und Projektion
1
Juden und Zigeuner: Isabella von Ägypten
a) Die Leiden einer Minderheit Arnims Aktivitäten in der Tischgesellschaft veranschaulichen in ihrer Aggressivität und Kompromißlosigkeit die konstitutive Rolle, die der Antisemitismus im Rahmen von Arnims nationalpädagogischem Engagement einnahm. Wesentlich subtiler, letztlich aber eben nicht aus einer toleranteren Perspektive, setzte sich der Schriftsteller in seinen fiktionalen Texten mit dem Judentum auseinander. Sowohl in den Erzählungen Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe und Die Majorats-Herren als auch in dem eigentlich als Rahmenhandlung für die Novellensammlung von 1812 gedachten Erzählzyklus Die Versöhnung in der Sommerfrische, der freilich unveröffentlicht blieb und erst durch Heinz Härtls Dissertation von 1971 erstmals zugäng605
606
607 608 609
Stefan Nienhaus: Aus dem kulturellen Leben in der christlich-deutschen Tischgesellschaft. Mit zwei unveröffentlichten Reden Achim von Arnims. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1994), S. 128. So Boeckh an Johann Georg Zimmer. In: Johann Georg Zimmer und die Romantiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik nebst bisher ungedruckten Briefen. Hg. von Heinrich Zimmer. Frankfurt a. M. 1888, S. 303. Hier zit. n. Härtl, Arnim und Goethe (wie Anm. 54), S. 306 bzw. S. 492. Arnim, Tischrede 1815 (wie Anm. 413), S. 345. Ebd. Vgl. ebd., S. 348: »Gewiß ists, daß es besser wäre eine größere Periode sey es monatlich, oder Viertheljahre zum Zusammenkommen anzunehmen, als durch öfters Zusammenkommen in kleiner Zahl die Idee der grossen christlich deutschen Tischgesellschaft aussterben zu lassen.«
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lich gemacht wurde, läßt Arnim die jüdischen Protagonisten als Repräsentanten ganz bestimmter Charakteranlagen und Verhaltensweisen agieren, von denen sich die deutsche Nationalgemeinschaft in ihrem Selbstfindungsprozeß abzugrenzen hatte. Gleiches gilt zudem für das Doppeldrama Halle und Jerusalem, das Arnim ursprünglich den Juden hatte widmen wollen.610 Die Schuld für all jene Probleme, die der Autor im Zuge der epochalen Umbrüche für die deutschen Länder heraufziehen sah, projiziert Arnim auf eine Randgruppe, deren allmählich fortschreitende rechtliche Integration in die Gesellschaft ihm als Dekadenzsymptom erschien. Daß Arnim indes durchaus um die Nöte sozial ausgegrenzter und diffamierter Minoritäten wußte und diese auch literarisch zu gestalten vermochte, bezeugt ein Text, der neben den Erzählungen Die Majorats-Herren und Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau ebenfalls Eingang in den Kanon romantischer Pflichtlektüre gefunden hat. Gemeint ist die die Novellensammlung von 1812 eröffnende Erzählung Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe611, in der die verfolgte und verfemte Gruppe der Zigeuner mit sehr viel Sympathie dargestellt wird und der Autor gleichsam »Mitleid mit Verlierern«612 (Claudia Breger) demonstriert. Dabei knüpft Arnim jedoch keineswegs an den Aufklärer Moritz Heinrich Grellmann an, dem es in einer Studie aus dem Jahr 1783613 darum gegangen war, alte Mythen und Vorurteile bezüglich der Zigeuner zu widerlegen. Grellmann hatte nicht nur nachgewiesen, daß die Zigeuner keinesfalls aus Ägypten stammen konnten, er hatte sie auch von ihrer mythologischen Schuld – sie sollen der Heiligen Familie keine Unterkunft gewährt haben, so daß ihre Wanderung über die Erdteile als Bußgang und Wallfahrt gesehen werden muß – entlastet.614 Gemäß der romantischen Überzeugung, daß derlei »Gerüchte, 610 611
612 613
614
Vgl. Dorothea Streller: Arnim und das Drama. Phil. Diss. masch. Göttingen 1957, S. 108. Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band vier: Sämtliche Erzählungen 1802–1817. Hg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker; 55), S. 622–744. Zur Analyse epischer Texte und für die Terminologie vgl. grundlegend: Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1993 (Metzler Studienausgabe), vor allem S. 53–93. Breger, Ortlosigkeit (wie Anm. 43), S. 281. Heinrich Moritz Grellmann: Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksahle dieses Volks in Europa. Dessau, Leipzig 1783. Vgl. den Kommentar von Renate Moering: Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 1254. Grellmann (1756–1804) schreibt nicht nur dagegen an, er nimmt die Sinti auch vor weiteren verbreiteten abergläubischen Vorstellungen – etwa über ihre enge Verbindung mit dem Teufel – in Schutz. Dennoch hält er sie für »Menschen mit kindischer Denkart« und »einer Seele voll roher ungebildeter Begriffe«, die erst über staatliche Maßnahmen einen adäquaten bürgerlichen Lebenswandel würden erlernen müssen. In den gewaltsamen Methoden, die Grellmann hierfür vorschlägt, werden die Problematiken des aufklärerischen Erziehungskonzepts offensichtlich.
V Fiktion und Projektion
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Vorurteile und Legenden nicht zerstört, sondern nur umgelenkt werden können«615, setzt Arnim diese alten Geschichten wieder in ihr Recht – jedoch nur, um sie narrativ entkräften zu können. Denn schon auf den ersten Seiten der Isabella berichtet der Erzähler, daß das Gelübde der Zigeuner, »so weit zu ziehen, als sie noch Christen fänden«616, gelöst sei. »Das Zurückführen nach Ägypten war aber bei der zunehmenden Türkenmacht, bei der Verfolgung überall, bei dem Mangel an Gelde unendlich schwer.«617 Die mythologische Schuld wird durch vergleichsweise profane politische und soziale Gründe ersetzt und der Umgang der Gesellschaft mit den Zigeunern damit zugleich kritisierbar, wie das traurige Ende des Zigeunerherzogs Michael beweist. Michael, der Vater Isabellas, stirbt als Opfer eines Justizirrtums: Die Genter Bürger, die »wegen ihres Reichtums keinen Diebstahl«618 verzeihen, verurteilen ihn zum Tode, nachdem ein anderer Zigeuner beim Klauen erwischt worden war. »Uns geht es wie den Mäusen, hat eine Maus den Käse angenagt, so sagt man, die Mäuse sinds gewesen, da gehts an ein Vergiften, und Fangen aller, so sind wir Zigeuner jetzt nirgends mehr sicher als am Galgen!«619, läßt Arnim seinen Zigeunerherzog dieses Modell kollektiver Haftung problematisieren. Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, verstecken sich Isabella und ihre mütterliche Freundin Braka tagsüber in einem verlassenen Haus, in dem sie – um etwaige Eindringlinge zu verschrecken – Gespenst spielen. Nur nachts können sie sich relativ frei bewegen.620 Auch die zahlreichen Verkleidungen, die Isabella im Verlauf der Geschichte anzunehmen gezwungen ist, zeugen von der permanenten Gefährdung, der die Zigeuner ausgesetzt sind.621 Diese doch sehr genaue sozialgeschichtliche Konturierung des Schicksals dieser
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Zudem argumentiert der Aufklärer auch mit der Vorstellung einer fest verwurzelten »orientalische[n] Denkart«, die die Möglichkeiten des von ihm selbst vorgeschlagenen Erziehungskonzepts wieder einengt: »Rohen Menschen überhaupt, vorzüglich aber den Morgenländern ist es eigen, fest an dem zu hängen, wozu sie gewöhnt sind.« Vgl. Wolfgang Wippermann: »Wie die Zigeuner«. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997, S. 98–102. Die Zitate ebd., S. 99 bzw. 101. Ingrid Oesterle und Günter Oesterle: Die Affinität des Romantischen zum Zigeunerischen oder die verfolgten Zigeuner als Metapher für die gefährdete romantische Poesie. In: Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig, Bettina Knauer und Gunnar Och. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 96f. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 624. Ebd. Ebd., S. 625. Ebd. Vgl. ebd., S. 626. Isabella, so konstatiert Michael Andermatt, spielt »willentlich oder unwillentlich die verschiedensten Rollen: ein ›Gespenst‹, die alraun-gebärende Mutter, eine fremde reiche altadelige Tochter, die unglückliche Braut des Alrauns, eine französische Prinzeß, eine skrupellose Buhlerin, eine Prostituierte«. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 328.
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unterdrückten Minderheit läßt Michael Andermatts einseitig negative Evaluierung Brakas oberflächlich erscheinen; Andermatt sieht in Braka eine Intrigantin, die aus egoistischen Motiven und aus Gründen der »Staatsräson«622 den »Eros geringachtend als Mittel zum Zweck einsetzt.«623 Freilich versucht Braka als emsige Kupplerin die Verbindung Isabellas mit Karl V. zu forcieren, doch ist es für die Zigeuner – bedenkt man Michaels fürcherliches Ende – von existenzieller Bedeutung,624 daß Isabella ihrer Rolle als Hoffnungsträgerin gerecht wird; der schönen Tochter des erhängten Zigeunerherzogs war nämlich geweissagt worden, daß ein Kind, das aus einer Verbindung Isabellas mit einem künftigen weltlichen Herrscher hervorgeht, das Volk der Zigeuner nach Ägypten heimführen wird.625 Isabella liebt Karl, der ihr einmal im Gespensterhaus begegnet ist,626 aufrichtig; zudem will sie die von Braka beständig angemahnte historische Mission erfüllen. Um Karl jedoch abermals nahe zu kommen, braucht sie Geld. Ein Alraun, mittels esoterischen Geheimwissens aus einer Wurzel gezogen,627 verschafft ihr zwar einen im Gespensterhaus versteckten Schatz,628 wird aber fortan als »eine Art Kobold in der Mühle«629 auch die Liebe zwischen Karl und Isabella vor permanente Probleme stellen. b) Phantastische Figuren und Politische Romantik Neben dem Alraun betreten bald noch zwei weitere phantastische Figuren die gespenstische Szenerie. Arnim erweist der frühromantischen Ironiekonzeption
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Ebd., S. 191. Ebd. Dagegen reduziert Michael Andermatt die Problematik auf die Frage der »staatliche[n] Souveränität«; daß es für die Zigeuner zunächst einmal um das schlichte Überleben geht, ergibt sich aber aus dem Erzählgeschehen in aller Deutlichkeit. Vgl. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 191. »Du mußt von diesem künftigen Erben der halben Welt, ein Kind bekommen, das durch die Liebe seines mächtigen Vaters den zerstreuten Überbleib Deines Volkes in Europa sammelt und in die heiligen Wohnplätze unseres Ägypterlandes zurückführt«, berichtet Braka der Zigeunerprinzessin. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 670. Daß Isabellas Wohl Braka gleichwohl durchaus am Herzen liegt, zeigt sich am Ende nach Bellas Verschwinden, als sie – ungeachtet der persönlichen Nachteile, die ihr daraus entstehen könnten – dem Erzherzog die »bittersten Vorwürfe« macht und ihm unterstellt, seine »Grausamkeit, Bella mit dem Kleinen zu verheiraten«, habe Bella zur Flucht veranlaßt. Vgl. ebd., S. 735. Vgl. ebd., S. 631–634. Vgl. ebd., S. 635ff. Vgl. ebd., S. 649f. Peter Horst Neumann: Legende, Sage und Geschichte in Achim von Arnims »Isabella von Ägypten«. Quellen und Deutung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 300.
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seine Reverenz,630 wenn er den gerade von Braka in einer Geschichte zitierten Bärnhäuter mitten in seine erzählte Welt hineinplatzen läßt.631 Der Bärnhäuter, »der nicht ruhig ohne sein Geld im Grabe liegen kann«632, will jenen Schatz zurückhaben, den der Alraun gefunden hat, und schließt sich deshalb als »Toter auf Urlaub«633 der Gruppe mit Isabella, dem Kobold und Braka an. Auch Golem Bella, die aus Lehm konstruierte Doppelgängerin Isabellas, hat unmittelbar mit dem Alraun zu tun: Um den »garstigen Wurzelmann«634, der sich längst zu einem »handfeste[n] Ärgernis«635 entwickelt hat, von Isabella abzulenken und bei der schönen Zigeunerin freie Bahn zu haben, läßt Karl den Golem von einem jüdischen Gelehrten entwickeln.636 In allen drei Figuren finden zentrale Argumentationsfiguren der Politischen Romantik ihren Ausdruck. Bernd Fischer hat bereits darauf hingewiesen, daß die Geschichte des Bärnhäuters, die Arnim Braka in den Mund legt, als »Parabel zur Verdeutlichung seiner [also Arnims, M. P.] Geschichtsauffassung«637 zu lesen ist; freilich berührt diese Parabel über Arnims individuelle Sicht hinaus einen grundlegenden Konsens innerhalb der Denker der Politischen Romantik: Von einem Dämon vor die Wahl gestellt, entscheidet sich der Bärnhäuter für die jüngste und vermeintlich schönste von drei Töchtern des Papstes. Die beiden anderen Töchter – die eine heißt ›Vergangenheit‹, die andere ›Gegenwart‹ – fallen dem Dämon anheim, dem Bärnhäuter bleibt die ›Zukunft‹ und ein großer Schatz.638 Die Geschichtsvergessenheit des Bärnhäuters, die sich in seiner Entscheidung für die Zukunft artikuliert, macht sein Versagen aus – wer sich gegen die Vergangenheit entscheidet und so seine Wurzeln negiert, verspielt auch die Gegenwart. Dies war einer der Kernvorwürfe, den die Politische Romantik gegen die Französische Revolution erhoben hatte; dieser Vorwurf war auch von Arnim – etwa in seinem Essay Was soll geschehen zum Glücke (1806), in dem er das »ruhige Anschliessen an die Vergangenheit, um zur Zukunft zu gelangen«639, postuliert hatte – bereits thematisiert worden. Nun erfährt diese geschichtsphilosophische Invektive gegen den revolutionären Umsturz eine literarische Gestaltung. 630
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Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die romantische Ironie. In: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen, Motive. Hg. von Hans Steffen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1989 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1250), S. 75–97. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 656. W. Freund, Literarische Phantastik (wie Anm. 51), S. 49. Ebd. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 327. Gottfried Knapp: Groteske, Phantastik, Humor und die Entstehung der polyphonen Schreibweise in Achim von Arnims erzählender Dichtung. Phil. Diss. masch. München 1972, S. 111. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 686–689. Fischer, Literatur und Politik (wie Anm. 46), S. 100. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 651–656. Vgl. noch einmal Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 200–205, hier S. 202.
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Bezeichnend ist auch, daß Chievres, ein Opportunist aus Karls Hofstaat, gegen Ende der Erzählung den Alraun als »Seele des Staates«640 bezeichnet. Daß der Sinn des politischen Gemeinwesens sich nicht in der Funktionstüchtigkeit einer ›seelenlosen‹ Maschine erschöpfen darf, bildete stets die Kernthese der Politischen Romantik. Wenn das Materielle, der »Allraun schnöder Geldlust«641, indes jenen ideellen Zusammenhang stiftet, den die Romantik einfordert, und dieser Vorgang von den politischen Funktionsträgern auch noch als ein Akt der Versöhnung zwischen »göttliche[n] Rechte[n] und menschliche[n] Wünsche[n]«642 interpretiert wird, dann erweist sich die Gesellschaft als endgültig pervertiert. Die Bürger sind zwar, wie Bernd Fischer zu Recht bemerkt, »schon vor und unabhängig von Karl dem Geld verfallen. Erst der Alraun aber, das Prinzip der ökonomisch ungebundenen Kapitalbeschaffung, über das die handelstreibenden Bürger Gents nicht verfügen, vermag das Geld auch in der hohen Politik zum Prinzip zu machen.«643 Aber auch die Figur der Golem Bella, mit der Karl – nach einer anfänglichen Verwechslung – Isabella später bewußt betrügt, gewinnt im Kontext des romantischen Nationenverständnisses eine politische Dimension. Die familiäre Staatsauffassung der Romantik wurde bereits dargelegt; Adam Müller hat auf der Basis dieser Staatsauffassung in seinen Vorlesungen Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie (1810),644 die von der Forschung zu Unrecht mit »weitgehender Ignoranz«645 gestraft werden, noch einmal präzise die Rolle der Frau in der zu schaffenden Nation beschrieben. Wie überhaupt in dem in kritischer Abgrenzung zum aufgeklärten Absolutismus stehenden Werk, dient auch in diesem Aspekt das Regime Friedrichs als »Kontrastfolie für die angestrebte nationale Entwicklung«646. Friedrich, der »königliche[] Witwer«647, der nur »zum Scheine vermählt«648 war, hat die Rolle der Frau in der Gesellschaft zu Unrecht marginalisiert, wie Müller in der siebten Vorlesung seines Zykluses (Verhältnis der Frauen zum politischen Leben)649 moniert. Für den Staatsphilosophen reprä640 641 642 643 644
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Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 727. Ebd., S. 738. So Chievres, ebd., S. 727. Fischer, Literatur und Politik (wie Anm. 46), S. 99. Müller hielt diese zwölf Vorlesungen vom 11. Januar bis zum 29. März des Jahres 1810 einmal wöchentlich im großen Saal des Berliner Akademiegebäudes (Unter den Linden); als Buch erschienen sie wohl noch im Frühjahr 1810. Vgl. [Hans]Jochen Marquardt: »Ein Traum, was sonst?« Die Vision vom Nationalstaat in Adam Müllers Vorlesungen über Friedrich II. und Kleists vaterländisches Schauspiel. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (1992), S. 32. Ebd., S. 28. Ebd., S. 35. Adam Müller: Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie. Berlin: Sander 1810, S. 182. Ebd. Ebd., S. 180–209.
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sentieren die Frauen hingegen nach Hans-Jochen Marquardt »die idealen, auf Ewigkeit zielenden und damit den Gattungsanspruch verkörpernden Zwecke der Gesellschaft«650. Nur wenn »beide Geschlechter regieren«651, so Müller, »erhält die bürgerliche Gesellschaft jenes Maß, jene sichre, ruhige, ich möchte sagen rythmische Bewegung, welche schon im gemeinen Leben jede Gesellschaft der Anwesenheit der Frauen verdankt.«652 Wohlgemerkt: Müller plädiert nicht etwa für eine Gleichberechtigung der Geschlechter, denn »[e]ine Frau verliert an Macht genau in demselben Maße, als sie über die Weiblichkeit hinausgeht«653; die Frau soll daher nicht »direkt«654 in die politischen Belange eingreifen können, weil sie sonst – so Müller – unweigerlich »den Kürzeren ziehen würde«655. Aber der Herrscher benötigt, wie sich aus Müllers familiärem Staatsverständnis zwingend ergibt, eine Frau an seiner Seite, weil der König nicht nur mit dem »Kopf des Cölibatärs«656 (wie Friedrich II.), sondern auch mit dem »Herz des Familienvaters«657 regieren muß. Nur wenn der Regent selbst die »persönliche Wechselabhängigkeit«658 einer Ehe erlebt und empfindet, so Müllers Argumentation, vermag er auch das »Gesetz für die Familie aller Familien, für den Staat«659, zu erfassen. Auf diese Weise gibt die Frau auch »[o]hne unmittelbaren Antheil an der Gewalt [...] den Aeußerungen dieser Gewalt eine gewisse unsichtbare Zuthat mit«660, wie Müller bilanziert: »[E]s fließt eine beständige Rücksicht auf den Anstand, auf die Sitte, auf die Zukunft in die Gesetze ein.«661 Der »handgreiflich[e]«662 Nachweis hierfür kann, wie Müller selbst konzediert, nicht erbracht werden; dennoch zeigt er sich davon überzeugt, daß der Frau – angefangen von der Königin – die für die Nation unentbehrlichen Attribute wie »Sittlichkeit, Dauer, Werteorientierung, Leben und Schönheit, mithin ästhetischer Schein«663 zukommen; sie ist der »Garant fortwirkender Dauer eines Staatswesens«664.
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H.-J. Marquardt, »Ein Traum, was sonst« (wie Anm. 644), S. 42. Müller, Ueber Friedrich II (wie Anm. 647), S. 187. Ebd. Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. Ebd. Ebd., S. 184. Ebd. Ebd., S. 186. Ebd. Ebd. H.-J. Marquardt, »Ein Traum was sonst« (wie Anm. 644), S. 42. Ebd.
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Achim von Arnim war mit Müllers Theorien vertraut und hat dessen Vorlesungen in Berlin auch besucht;665 wenn er nun in der Erzählung Isabella von Ägypten den künftigen Herrscher Karl V. zwischen zwei Frauen stellt, so organisiert er damit nicht nur eine private Dreiecksgeschichte – vielmehr zeigt Arnim, wie Karl, der die nur sinnliche Beziehung zur charakterlich degenerierten Golem Bella der in erster Linie idellen Verbindung mit Isabella vorzieht, durch eben diese Entscheidung nicht weniger als seine politische Zukunft verspielt. Der Erzähler macht diesen Zusammenhang noch einmal ersichtlich, indem er am Ende jene »Launen, an denen seine [Karls, M. P.] wichtigsten Unternehmungen scheiterten«666, aus der Gleichgültigkeit herleitet, mit der Karl nach dem Verlust Isabellas die Regierungsgeschäfte führte; während der Herrscher »Chievres und die Seinen in der verächlichsten Bestechlichkeit Spanien verderben ließ«667, verbraucht der Kaiser seine Kräfte in sexuellen Abenteuern und wird letztlich Opfer seiner unerfüllten Jugendliebe. Mit den phantastischen Figuren Alraun, Bärnhauter und Golem Bella werden zentrale Positionen der Politischen Romantik wie der Antikapitalismus, die evolutionäre Geschichtsauffassung und das familiäre Staatsverständnis veranschaulicht; aber auch für die »Abwehr des Jüdischen«668 werden die gespenstischen Protagonisten in den Dienst genommen. Peter Horst Neumanns wegweisende Interpretation von 1968 bietet in diesem Zusammenhang noch immer wichtige Hinweise. So macht Neumann zu Recht darauf aufmerksam, daß unter dem »zerschlissenen Rock des Bärenhäuters«669 in der »Sekunde seines Abgangs [...] die Gestalt des Ewigen Juden sichtbar«670 werde; der Alraun jagt den zotteligen Gesellen davon, weil der vor jenem Gericht, von dem sich der Alraun seine menschliche Natur bestätigen lassen wollte, nicht die mit dem Wurzelmann verabredete »Lügengeschichte«671 zu Protokoll gegeben hatte. Der »alte tote geizige Bärnhäuter«672 hatte dem »kleinen Mann«673 unter anderem versprochen, auszusagen, daß er »des Allrauns Eltern gekannt [habe], die im Lande Hadeln als gute Christen und alter Adel bekannt 665
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Vgl. Arnims Brief an Wilhelm Grimm vom Februar 1810: »Ich erinnere mich nicht, ob Du Adam Müller kennen gelernt hast [...]? Er hält hier mit Beifall Vorlesungen über Friedrich II. mit Beziehungen auf Aenderungen unsrer Verfassung, die jetzt im Werke sind.« In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 53–55, hier S. 54. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 736. Ebd. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 406. Die sozialpolitische Brisanz dieser Konstellation wird bei Andrea Polaschegg: Genealogische Geographie – Achim von Arnim. In: Athenäum 15 (2005), S. 95–124, vor allem S. 101– 103, nicht ausreichend gewürdigt. Neumann, Legende, Sage (wie Anm. 629), S. 308. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 728. Ebd. Ebd.
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gewesen [wären]«674. Doch dann kommt ihm wieder seine ›doppelte Natur‹ in die Quere, die »einen Zwiespalt in seiner Meinung«675 darüber bewirkt, wem er eigentlich zu dienen hätte, wie der Erzähler bereits vorher berichtet hatte: »[S]ein verstorbener Leib rechnete sich zu Herren Cornelius [also dem Alraun, M. P.], sein neulebender war ganz der Frau Braka und der schönen Bella ergeben«676, heißt es über den permanenten Loyalitätskonflikt des »gute[n] Kerl[s]«677. Zwar »verriet er keinem den andern«678, aber eine echte Hilfe ist er für beide Seiten freilich auch nicht; im Rahmen der Verhandlung tritt dies deutlich zutage: »[E]r trat vor und begann die [mit dem Alraun, M. P.] verabredete Lügengeschichte. Wie aber Braka oder Bella ihn zur Rede setzten, so antwortetete der neuangefressene Teil seines Leibes, gleichsam die verbesserte Ausgabe seiner Natur ganz entgegengesetzt mit einer helleren Stimme«679 und seine Aussagen »durchkreuzte[n] sich so gewaltig, daß sein Zeugnis [...] in Null aufging«680. Unabhängig davon, daß Arnim, der abstrakten philosophischen Theorien gegenüber stets skeptisch blieb,681 mit der Szene des sich beständig selbst widersprechenden Bärnhäuters nebenbei wohl einen Seitenhieb auf die Gegensatzlehre seines Freundes Adam Müller intendierte (während der Alraun als »Fichteparodie«682 eingesetzt wird), scheint auch die antijüdische Implikation der Stelle offensichtlich: Den Juden Bürgerrechte zu geben, heißt, sie in einen Loyalitätskonflikt zu stürzen, der auch für die Gutgesinnten – der Bärnhäuter wird keinesfalls als negative Figur gezeichnet – letztlich unlösbar ist. Diese Interpretation der Verhandlungsszenerie erscheint auch deshalb plausibel, weil sie der von Neumann diagnostizierten Anspielung auf den AhasverMythos unmittelbar vorausgeht. Denn nun spricht der von der Wankelmütigkeit des Bärnhäuters entnervte Alraun seinen Fluch aus, mit dem er den Untoten zu ewiger Wanderschaft verdammt: »Der kleine Mann [...] jagte ihn mit Fußtritten zur Tür hinaus, und schwur ihm, daß er den Schatz jetzt statt ihn auszuliefern in alle Welt als Allmosen zerstreuen wolle; daß der Bärnhäuter umsonst bis zum jüngsten Tage von einem Herren zum andern sich verdingen solle, um ihn zusammenzubringen; daß er umsonst für einen alten Taler einen 674 675 676 677 678 679 680 681
682
Ebd. Ebd., S. 672. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 728. Ebd. Diese Animosität kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß er am philosophischen Leben der Zeit rege teilnahm. Vgl. zu Arnims »anti-theoretischer« Haltung Staengle, Arnims poetische Selbstbesinnung (wie Anm. 21), S. 32–35. Ralf Simon: Text und Bild. Zu Achim von Arnims Isabella von Ägypten. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 6/7 (1994/95), S. 184. »Ich stammelte der Allraun, das ist eine dumme Frage, ich bin ich und ihr seid nicht ich.« Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 658.
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Herren dem andern verraten werde; umsonst im Kriege von einem zum andern übergehe, um das Werbegeld zu stehlen; seine bessere frische Natur, werde das schändlich gewonnene Geld zur großen Qual seines alten Leibes verschenken und verschleudern, und so werde er am jüngsten Tage, noch so arm, abgerissen und trostlos wie im gegenwärtigen Augenblicke erscheinen.«683 Innerhalb des Bannspruches artikulieren sich die bekannten Topoi der Emanzipationsdebatte: Die Unzuverlässigkeit der Juden, ihr Opportunismus im Kriegsfall, die Bereitschaft zum Verrat, die Geldgier als ihr einziger wirklicher Antrieb: all das ist der assimilationswilligen Minderheit vorgeworfen worden. Auch wenn der pelzige Geselle nicht explizit als ›jüdische Figur‹ firmiert, so hat Arnim der Geschichte des »armen ganz in sich zerrissenen Bärnhäuter[s]«684 doch die zentralen antisemitischen Argumentationsfiguren der zeitgenössischen Diskurse eingeschrieben. Ganz ähnlich verhält es sich im Falle des Alrauns, denn die »persiflierte Menschenähnlichkeit des Kobolds«685 zielt offensichtlich »auf das Gleichheitsverlangen der deutschen Juden«686, wie Neumann anmerkt. Wird mit der Bärnhäuter-Geschichte die Möglichkeit, aufrichtiger und loyaler Diener zweier Herren sein zu können, durchgespielt und letztlich dementiert, so denunziert Arnim durch die Figur des ambitiösen Wurzelmannes die Emanzipationsbemühungen als groteske Anmaßung, die eigentlich nur verlacht werden kann. Dementsprechend reagieren die adeligen Herren, von denen sich der als Feldmarschall Cornelius Nepos firmierende und auf eine Anstellung im Staatsdienst erpichte Alraun attestieren lassen will, »daß er ein Mensch sei«687, mit Witz und Ironie, so daß der von der Lektüre der Gutachten sichtlich amüsierte Erzherzog lediglich die Position eines »Schalksnarren«688 für den Kobold vorsieht. Erst, als durch »Brakas Geschwätzigkeit an den Tag kommt, wie der Allraun alle verborgenen Schätze zu heben wisse«689, wird das Ansinnen des »kleine[n] Wurzelmann[s]«690 ernst genommen; der Erzherzog begrüßt ihn bei ihrer nächsten Begegnung denn auch »diesmal [...] sehr freundlich«691. Selbst die mißglückte Zeugenaussage des Bärnhäuters vermag nunmehr die Karriere des Alrauns nicht mehr zu vereiteln: Er avanciert zum Finanzminister und hat anschließend großen Anteil an der mißglückten und für die deutsche Nation verhängnisvollen Regentschaft Karls.
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Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 728. Ebd. Neumann, Legende, Sage (wie Anm. 629), S. 301. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 710. Ebd. Ebd., S. 727. Ebd. Ebd.
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Doch nicht nur die Geldgier Karls, auch seine überbordende »Sinnlichkeit, in der er sich oft zu vergessen suchte«692, trägt – so das Resümee des Erzählers – wesentlich dazu bei, daß die »wichtigsten Unternehmungen [dieses Herrschers, M. P.] scheiterten«693 – damit wäre das offensichtlichste Indiz für Arnims Judenfeindschaft in der Erzählung angesprochen, nämlich die Gestaltung von Golem Bella, der aus Lehm durch einen jüdischen Magier geschaffenen Doppelgängerin Isabellas. Golem Bella werden vom Erzähler ein »echtes Judenherz«694, »ein gemeines jüdisches Gemüt«695 und die Eigenschaften ihres jüdischen Schöpfers, nämlich »Hochmut, Wollust und Geiz«696 attestiert; für Isabella avanciert sie zur tödlichen Bedrohung, doch kann Karl den Mordanschlag der bösen Doppelgängerin – sie will Isabella mit einer »feilförmigen goldnen Haarnadel«697 erstechen – gerade noch rechtzeitig vereiteln und den Golem in einen Lehmhaufen verwandeln. Doch nicht nur ihr Verhalten gegenüber Isabella und der Einfluß, den sie zwischenzeitlich auf Karl ausübt, weist die »Schöne aus Tonerde«698 als die gefährlichste der phantastischen Figuren aus. Sogar ihr zeitweiliger Ehemann, der Alraun, selbst ein mehr als unerquicklicher Zeitgenosse, leidet unter dem strengen Regiment des Golems, wie sein späterer Bericht bezeugt: »Das Zusammenessen hat mir auch bei meiner vorigen Frau [...] niemals sonderlich behagt, ich mochte schreien, soviel ich wollte, sie nahm die besten Stücke, und wenn ich nicht ruhig sein wollte, schlug sie mir mit de[m] heißen Knochen, item mit dem Suppenlöffel ins Gesicht.«699 Rohheit und Brutalität, Geldgier und Geltungssucht, Unzuverlässigkeit und Geschichtsvergessenheit: Der implizit und explizit auf antijüdischen Stereotypien basierende Bereich der phantastischen Figuren repräsentiert jene Tendenzen, die der gedachten Ordnung einer »deutschen Nation«, wie sie die Romantiker imaginieren, zuwiderlaufen; mit diesen gegenläufigen Tendenzen haben der künftige deutsche Kaiser Karl und die Zigeunerprinzessin Isabella zu kämpfen. Die Bemühungen der beiden Protagonisten, auf der privaten Ebene des Textes ihr gemeinsames Glück zu finden und auf der politischen Ebene ihren jeweiligen nationalen Aufgaben gerecht zu werden, vollziehen sich mithin im »Schattenriß des anderen«, wobei das Andere einmal mehr als das »Jüdische« figuriert. Der Alraun und Golem Bella stellen eine ernsthafte Herausforderung, jedoch kein unlösbares Hindernis für Karl und Isabella dar. Im Verhalten der beiden zu diesem Bereich der »niederen Geister« erweist sich, wie es um die charakterlichen Qualitäten der künftigen Herrscher bestellt ist. 692 693 694 695 696 697 698 699
Ebd., S. 736. Ebd. Ebd., S. 701. Ebd., S. 705. Ebd., S. 689. Ebd., S. 719. Ebd., S. 691. Ebd., S. 730.
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c) Jüdische Prüfsteine Sowohl Karl als auch Isabella lassen sich auf die »Gegenwelt der niederen Geister«700 ein, um diese für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können; beide unterschätzen dabei die Gefahr, die von den grotesken Gestalten ausgeht. Nicht nur Karl »verfängt sich in seiner eigenen List«701, indem er Golem Bella zunächst mit Isabella verwechselt702 und später sogar die rein körperliche Verbindung mit dem Lehmgeschöpf der geistig-ideellen Liebesbeziehung zu Isabella vorzieht;703 auch Isabella wird das Mittel zum Zweck, wenn sie mütterliche Gefühle für den Alraun entwickelt und dabei ihr eigentliches Ziel, nämlich in die Nähe Karls zu gelangen, vergißt.704 Es wäre aber falsch, daraus nun – wie Michael Andermatt – zu schließen, daß die Menschen jenen »Erdkräften« der phantastischen Figuren »nicht gewachsen«705 wären. Der Bärnhäuter, der ohnehin keine handlungstragende Funktion gewinnt, ist – von seiner unerfreulichen Geldgier einmal abgesehen – ein »herzensguter Mann«706. Er wird selbst ein Opfer des Alrauns, der in pedantischer Geschäftigkeit mit ihm einen unangenehmen Arbeitsvertrag abschließt,707 und fungiert später als Trostspender für Isabella.708 Aber auch die beiden anderen Gestalten aus der Halbwelt haben beileibe nicht jene Macht, die ihnen in Andermatts Analyse attestiert wird. Für den Golem, der alle seine Eigenschaften seinem Schöpfer und sein Wissen dem Original verdankt,709 gibt es eine regelrechte Gebrauchsanweisung; man muß nur ein Wort auf der Stirn auslöschen, und schon fällt die intrigante Lehmfigur in sich zusammen.710 Karl hat denn auch keine Mühe, die Ermordung Isabellas durch den mit einer Haarnadel bewaffneten Golem zu verhindern und die Doppelgängerin gleichsam »abzuschal700 701 702 703
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Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 320. Neumann, Legende, Sage (wie Anm. 629), S. 303. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 705f. »Der Erzherzog fühlte, trotz der unbefriedigten Nacht, trotz der Vermutung, eine Zaubergestalt treibe ihren Spott mit seiner Liebe, eine unwiderstehliche Begierde zu diesem Golem.« Vgl. ebd., S. 711. »Zärtlicher kann eine Mutter, ihr Kind, [...] nicht wieder begrüßen [...] als Bella den kleinen Allraun aus dem letzten Erdenstaube an ihre Brust hob, und ihn von allem Anflug reinigte.« Vgl. ebd., S. 641. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 343. Fischer, Literatur und Politik (wie Anm. 46), S. 107. »In diesem Vertrag scheint die Fatalität der Lohnform auf märchenhafte Weise durch. Der Bärenhäuter tauscht nicht nur Arbeit gegen Lohn, er verkauft seine Arbeitskraft und mit ihr seine ganze Person, so daß er zum Arbeitstier (Bären) verkümmert«, schreibt Bernd Fischer, der zu Recht darauf hinweist, daß sich dieses Arbeitsverhältnis sogar noch ins Jenseits verlängert, weil der Bärnhäuter »selbst seine Totenruhe noch verkaufen muß«. Vgl. ebd., S. 99 sowie Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 657. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 711f. Vgl. ebd., S. 688f. Vgl. ebd., S. 686.
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ten«.711 Auch der Alraun verdankt die Fähigkeiten, die er besitzt, seiner Schöpferin, die ihm in einer rührigen Bastelarbeit etwa zu einem zweiten Augenpaar verhilft;712 zudem profitiert er von der Geldgier der Gesellschaft, die seine unangenehmen Eigenschaften akzeptiert, um ihn als Kapitalquelle behalten zu können.713 Daß der Einfluß des Alrauns aber durchaus Grenzen hat, beweist das Erzählgeschehen mehrfach; schließlich gelingt es den anderen Figuren immer wieder, ihn auszutricksen,714 und die »leitmotivisch wiederkehrenden Bemühungen des Alrauns, seine Menschmännlichkeit unter Beweis zu stellen, sind [...] von Vergeblichkeit und Lächerlichkeit bereits vorweg gezeichnet«715. Nicht einmal den Lehmhaufen, den der »arme Kleine«716 am Ende in liebevoller Detailarbeit als Andenken an Golem Bella zusammenbastelt, darf er behalten – als Karl sich diese Kunstarbeit holt, zerplatzt der wutentbrannte Alraun und löst sich in Rauch und Schwefel auf.717 Der Alraun und Golem Bella sind, wie Gottfried Knapp zu Recht bemerkt, zwar »bösartig begabt, aber keineswegs dämonisch mächtig«718. Wieviel Einfluß sie haben, liegt an den Menschen – die »defizitäre Seinsform [...] der niederen Geister«719 ist in diversen älteren Interpretationen der Isabella daher zu Recht als »Prüfstein« für die moralische Integrität der Protagonisten verstanden worden: »[E]ben die Fremdartigkeit [der phantastischen Figuren, M. P.] sollte es uns ermöglichen«, schreibt etwa Gottfried Knapp, »daß wir uns distanzieren von dem Fremdkörper und eine angemessene Haltung zu ihm
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Vgl. ebd., S. 719. Vgl. ebd., S. 642. Vgl. noch einmal Chievres’ Plädoyer dafür, den Alraun zum Finanzminister zu machen. Ebd., S. 727. So fällt er auf die Schmeicheleien der Edelleute ebenso herein wie auf den »falschen Doktor« – der Erzherzog gibt sich als Arzt aus, um bei Bella sein zu können – und dessen Diagnose. Vgl. ebd., S. 674f. sowie S. 682f. Breger, Ortlosigkeit (wie Anm. 43), S. 286. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 729. Vgl. ebd., S. 728–730 sowie S. 736f. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 111. Vgl. auch die Analyse von Winfried Freund: »Beide [der Bärnhäuter und der Alraun, M. P.] sind phantastische Figuren des Materiellen und Toten, verbunden mit der Dumpfheit der Erde, weniger grauenvoll als grotesk, im Grunde mehr Spott und Abscheu als Angst hervorrufend.« W. Freund, Literarische Phantastik (wie Anm. 51), S. 49. Ludwig Völker charakterisiert die phantastischen Gestalten als lediglich »potentielle Schreckensfiguren«, deren »Anlage zum Zerstörerischen nur angedeutet [wird], um dann zurückgenommen oder humoristisch gebrochen zu werden«. Ludwig Völker: Naturpoesie, Phantasie, Phantastik. Über Achim von Arnims Erzählung Isabella von Ägypten. In: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hg. von Ernst Ribbat. Königstein/Taunus: Athenäum 1979 (Athenäum-Taschenbücher; 2149), S. 128. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 322.
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finden.«720 In diesem Sinne »könnte hier in der Erzählung das Phantastische den Personen ein Gefühl geben, wie sie sich (anders) verhalten müßten«721. Der Erzherzog indes begreift seine Lektion nicht. Als er zwischen beiden Bellas wählen muß, entscheidet Karl sich zwar für die richtige Isabella und gegen das Lehmwesen – letztlich aber verfällt er doch den materiellen Versuchungen, die von den phantastischen Figuren ausgeht. Er macht den Alraun zum Finanzminister und verheiratet Isabella mit ihm.722 Isabella selbst war den besagten Versuchungen zwischenzeitlich auch erlegen; Christof Wingertszahn723 und Michael Andermatt724 protestieren daher mit Recht gegen eine einseitig positive Wertung der Figur, wie sie etwa Ludwig Völker vornimmt, wenn er der Zigeunerprinzessin bescheinigt, »ihre ursprüngliche Reinheit und Unschuld [...] bewahr[t]«725 zu haben. Genau das
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Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 112. Ähnlich argumentiert Hans-Georg Werner: »Über seine Wirkung [über die des Zauberisch-Gespenstischen, M. P.] entscheidet der Mensch gemäß seinem vor allem in der Liebe offenbar werdenden inneren Wert.« H.-G. Werner, Wirkungsfunktion (wie Anm. 46), S. 23. Vgl. auch Winfried Freunds Analyse, der konstatiert, daß Arnim dem Phantastischen eine ethische Dimension zuschreibe, »indem er im literarischen Zerrspiegel die selbstverschuldete Entstellung des Menschen entlarvend zurückwirft«. W. Freund, Literarische Phantastik (wie Anm. 51), S. 52. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 112. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 730f. »Isabella selbst ist nicht von dem romantisch-ironischen Verfahren, jede These mit einer Antithese zu konfrontieren, ausgenommen«, schreibt Wingertszahn, der in seiner Analyse daher auf einer »Ambiguität der Hauptfigur« insistiert. Vgl. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 84–120, hier S. 107. Andermatt betont insbesondere die »Passivität und Ahnungslosigkeit« der Zigeunerprinzessin und konstatiert in der »Charakterzeichnung Isabellas ein[en] widersprüchliche[n] oder ambivalente[n] Grundzug«. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 335 bzw. S. 167, Anm. 12. Völker, Naturpoesie (wie Anm. 718), S. 119. Freilich ist die einseitige Idealisierung Isabellas in der Forschung sehr ausgeprägt. Helene M. Kastinger Riley sieht in der »kindlich-unschuldigen« Bella jenes »ätherische Wesen der Kunst [...], dessen erzieherischem Einfluß sich Karl überlassen sollte« und welches »das Element des Aesthetischen, Geistigen und Ideellen« repräsentiert; Ernst Schürer konzediert zwar, daß Isabella »auch ein Mensch« sei, der den »Sündenfall« erlebe, legt das Gewicht aber ebenfalls auf die »innere Reinheit« Isabellas, die durch ihre äußere Schönheit hervorleuchte. Winfried Freund hält Isabella ebenfalls für die »Repräsentation seelischer Reinheit«; ihre »Unschuld und ihre reine Liebe, ihre Orientierung an den Sternen, verhindern jegliche Verbindung mit dem Phantastischen und nur Erdhaften«; Hans-Georg Werner konstatiert, daß Bella »ihrer Liebe treu [bleibt] und [daher] [...] seelisch unbeschädigt aus ihrem Umgang mit den gespenstischen Mächten hervor[geht]«. Nach Ethel Matala de Mazza wird Isabella »durchgängig als Postfiguration der idealen Jungfrau und Gottesmutter gezeichnet«. Vgl. Kastinger Riley, Idee (wie Anm. 46), S. 96 und 98, Schürer, Quellen und Fluß (wie Anm. 24), S. 202, W. Freund, Literarische Phantastik (wie Anm.
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gelingt Isabella nicht – im Umgang mit dem Alraun wird ihre moralische Integrität vielmehr nachhaltig erschüttert: Schon die Opferung des treuen Hundes Simson kann sie nur schwerlich vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigen;726 um sein Verschwinden zu erklären, begeht sie Braka gegenüber die erste Lüge ihres Lebens.727 Schließlich ertränkt Isabella auch noch ein Katzenjunges, das dem kleinen Alraun wertvolle Milch abspenstig zu machen scheint.728 In der intensiven Beschäftigung mit dem Alraun droht sie danach – wie bereits erwähnt – sowohl ihre aufrichtige Liebe zu Karl als auch ihre historische Mission zu vergessen: »[S]o war der Allraun und wunderbar ist es zu nennen, wie sie auf der einen Seite des Prinzen gar nicht mehr denken konnte, der eigentlichen Ursache, warum sie den Allraun aufgesucht, ganz vergessen hatte, so liebte sie diesen auf der andern Seite mit jener ersten Zärtlichkeit, welche zart durchdringend seit jener Nacht, wo sie den Prinzen gesehen, in ihr zur Erscheinung gelangt war.«729 Es ist also falsch, wenn Winfried Freund behauptet, daß Isabella »gleichsam immun«730 gegen eine »Verbindung mit dem Phantastischen und nur Erdhaften«731 sei, und sie »immer nur sich selbst und ihrem Ideal treu«732 bleibe. Am Ende aber – und dieser Aspekt wird wiederum von Wingertszahn und Andermatt marginalisiert – besteht Isabella die Prüfung. Was den Alraun betrifft, so wünscht sich die Prinzessin schon bald, daß sie ihn »oben [hätte] stehen lassen beim Merrettich«733: »[E]r scheint mir jetzt recht unmenschlich, ich weiß nicht warum?«734 Sie löst sich im Unterschied zu Karl von den phantastischen Figuren und kann daher auch ihre politische Aufgabe erfüllen. Daß sie ihren Geliebten verläßt, um das Volk der Zigeuner nach Ägypten heimzuführen, wertet Michael Andermatt freilich nicht als bewußte Entscheidung der in seinen Augen »vom Text immer wieder als unwissend und eher als erleidend denn als handelnd«735 dargestellten Isabella: »Völlig passiv erfolgt
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51), S. 52, H.-G. Werner, Wirkungsfunktion (wie Anm. 46), S. 23 und Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 406. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 638: »[...]; sie gewährte ihm gerne die leckersten Bissen, weil sie wußte, was er für sie tun müsse, ja zuweilen, ungeachtet ihres Widerwillens gegen das Tier, kamen ihr bei seinem Anblicke Tränen in die Augen, doch tröstete sie sich immer mit dem Zusatze im Zauberbuche, daß treue Hundeseelen, die in solchem Geschäfte blieben, zur Seele ihrer Herren gelangen, und sie war gewiß, daß sich der Hund beim Vater Michael besser als bei ihr gefallen müsse.« Vgl. ebd., S. 643. Vgl. ebd., S. 645. Ebd., S. 641. W. Freund, Literarische Phantastik (wie Anm. 51), S. 52. Ebd. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 670. Ebd. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 329.
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ihre Machtübernahme und [die] Trennung von Karl; nach dem Sprung aus dem Fenster [des Schlafzimmers, in dem sie zuvor mit Karl eine letzte Nacht verbracht hatte, M. P.] fällt sie in die Arme des fahrenden Schülers Sleipner«736. Isabellas Rückkehr nach Ägypten verdankt sich Andermatt zufolge nicht einem rationalen Entschluß, sondern einem »momentanen Gefühl«.737 Da allerdings die Frage nach nationaler Zugehörigkeit in der romantischen Konzeption ohnehin keine Frage des Verstandes oder gar der Berechnung sein darf, muß diese emotionale Komponente Isabellas Entscheidung nicht entwerten; zudem ist es in letzter Instanz der »wunderbare[] Klang«738 eines Liedes, der sie an das Fenster des Schlosses lockt und ihre Entscheidung treffen läßt: »Sie hörte die Sprache ihres Volkes, dessen zerstreute Führer [...] zu der anerkannten Fürstin ihres Volkes geeilt waren, sie mit einem Gesange nächtlich zu begrüßen, ihr Treue und Liebe bis in den Tod zu schwören.«739 Diese Wendung des Erzählgeschehens verweist indirekt auf Arnims Volkslieder-Essay, wie Ethel Matala de Mazza bemerkt: »Indem [...] die Volksmusik das Medium ist, das ihre volle Verständnisinnigkeit mit [...] den eigenen Landsleuten bezeugt, findet sogar Arnims Wunderhorn-Mission in der Erzählung einen späten Widerhall.«740 Das Lied verbürgt sowohl Isabellas nationale Verbundenheit mit den singenden Zigeunern vor dem Schloß als auch die Verantwortung, die ihr als »Oberhaupt und Integrationsfigur eines zusammenzuführenden Volkes«741 zukommt. »Die Nacht ihres [Isabellas, M. P.] höchsten Glückes ist nicht die ihrer Liebesvereinigung mit Karl, sondern als die Zigeuner kommen, um sie als Fürstin zu begrüßen«742, bilanzierte Ernst Schürer bereits 1970; seine These ist meines Erachtens durch Andermatts Einwände nicht zu erschüttern.743 Die Figur Isabellas ist nicht statisch angelegt, weder als positive Verkörperung der Naturpoesie,744 wie etwa Völker argumentiert, noch als ambivalenter Charakter, wie es die Interpretationen Wingertszahns und Andermatts nahelegen. Sie durchläuft vielmehr eine Entwicklung, die dem Konzept der triadisch angelegten romantischen Geschichtsphilosophie nachgebildet ist.745 Trotz 736 737 738 739 740 741 742 743
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Ebd., S. 336. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 732. Ebd. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 411. Ebd., S. 410. Schürer, Quellen und Fluß (wie Anm. 24), S. 202. Auch Bernd Haustein argumentiert, daß Isabella »ihrer Natur gemäß« handele, »indem sie ihr Volk nach Ägypten zurückführt.« Haustein, Romantischer Mythos (wie Anm. 142), S. 44. Mit der Naturpoesie verknüpft Arnim die »Idee ursprünglicher Reinheit im Menschen«, wie Völker, Naturpoesie (wie Anm. 718), S. 125 darlegt. So auch Friedrich Strack: Das »Wunder« der Geschichte und die »Wahrheit« der Sagen. Isabella von Ägypten als poetisches Experiment. In: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Hg. von Gerhard Hahn und Ernst Weber. Regensburg: Pustet 1994, S. 299f.
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erheblicher Probleme gewinnt Isabella ihre zwischenzeitlich beschädigte Integrität zurück und wird letztlich der Verpflichtung ihrem Volk gegenüber gerecht. Insofern ist sie für Karl und den Bereich der Geschichte, den er repräsentiert, in der Tat »eine Art Korrektiv, ein Maßstab, an dem sich die Idealität des Anspruchs und die Realität des Scheiterns ablesen lassen«746 (Ludwig Völker). Denn während in Karls Amtszeit die deutschen Staaten derart auseinanderdividiert werden,747 daß es Napoleon später leicht fallen wird, sie gegeneinander auszuspielen, erfüllt Isabella ihre Aufgabe und führt das Volk der Zigeuner nach Ägypten heim. d) Isabella als »fremde Blume«: Die Stabilisierung kultureller Differenz »Sie war doch in Europa wie die fremde Blume, die sich nächtlich nur erschließt, weil dann in ihrer Heimat der Tag aufgeht. Ihre Sehnsucht, ihre Wehmut überströmten sie grenzenlos, sie konnte nicht bleiben und wußte doch nicht warum [...]«748, berichtet uns der Erzähler unmittelbar vor der oben thematisierten Entscheidung Isabellas, Karl zu verlassen und das Volk der Zigeuner nach Ägypten zurückzuführen. Die anfangs aus sozialpolitischen Ursachen – sie hatte sich vor möglichen Verfolgungen schützen müssen – heraus begründete »Nachtexistenz« Isabellas wird nun, am Ende der Erzählung, als Resultat einer prinzipiellen kulturellen Differenz gewertet. Die Zigeunerprinzessin wird erst nachts aktiv, weil dann in ihrer Heimat – angeblich – der Tag anbricht.749 Ein »normales« Leben in den europäischen Ländern ist vor diesem Hintergrund ebenso unmöglich wie eine Fortsetzung der Liebesbeziehung zu Karl. Insofern grenzt Arnim in seinen Bemühungen um narrative Konstruktion kultureller und nationaler Identitäten nicht nur die Juden, sondern auch die Zigeuner von den Deutschen ab. Indem er sie im Hinblick auf die nationale Einheitsstiftung als vorbildlich für die deutschen Länder deklariert, gelingt es 746 747
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Völker, Naturpoesie (wie Anm. 718), S. 119. Daß der historisch Karl V. freilich »ein letztes Mal« versuchte, »den Spaltungsbewegungen der Neuzeit eine Vision von Einheit entgegenzustellen«, ließ ihn für die romantische Geschichtsbetrachtung zu einer zentralen Figur werden. Vgl. hierzu Mathias Mayer: Geschichte und Geschichten. Zum Nachleben Karl des Fünften. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 229–240, Zitat S. 229, der insbesondere auf Friedrich Schlegels diesbezügliche Überlegungen eingeht. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 734. Dies ist freilich keineswegs so. Nach Claudia Breger läßt sich diese These »möglicherweise auf das Morgenland oder den Orient im allgemeinen [beziehen], Größen, deren undifferenzierte Behandlung zu den Selbstverständlichkeiten abendländischer Interpretation zu rechnen ist. Eine andere Interpretationsmöglichkeit besteht darin, hier die Assoziation ›Indien‹ versteckt zu sehen, die einer philologisch korrekten Grellmann-Lektüre durch Arnim entspräche«. Breger, Ortlosigkeit (wie Anm. 43), S. 294.
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ihm, sie – verglichen mit der antijüdischen Argumentation – »auf ›zivilisiertere‹ Weise aus der Geschichte Europas zu verbannen«750. Gleichzeitig freilich stabilisiert Arnim damit die kulturelle Differenz – nicht nur im Hinblick auf die Juden, sondern eben auch mit Bezug auf die Zigeuner: »Im Spannungsfeld von Analogie und Opposition kristallisieren sich die Orte und Funktionen heraus, die jene zwei staatenlosen, nun aber ethnischen Minderheiten in den Diskursen einer Welt sich etablierender Nationalismen spielen sollen – und werden.«751 Claudia Breger führt Arnims respektvolleren Umgang mit den Zigeunern vor allem auch darauf zurück, daß sie zur Entstehungszeit der Isabella politisch kein Thema waren: »Die ›Zigeuner‹, in denen sich in den 1780er Jahren auf ähnliche Weise die gesellschaftlichen Ängste verdichteten [wie hinsichtlich der Juden drei Jahrzehnte später, M. P.] sucht man um 1810, während die Literatur sie wieder und wieder imaginiert, auf der Bühne der Politik vergeblich: Ihre ›Verbesserung‹ steht nicht zur Debatte.«752 Die Verbesserung der jüdischen Minderheit dagegen war durchaus Bestandteil der politischen Tagesordnung; deshalb konnten die Juden – so die Bedrohungsphantasie – Karriere machen, während zugleich der alteingesessene Adel ein Opfer der napoleonischen Umbruchphase wurde und die Intellektuellen nicht ihrem Anspruch gemäß zu reüssieren vermochten, sondern vielmehr vor einer ungewissen Zukunft standen. Mit den am Rande der Gesellschaft verorteten Zigeunern konnten sich die Romantiker, die sich gleichfalls »ortlos« fühlten, identifizieren, gegenüber den vermeintlichen Emporkömmlingen jüdischer Herkunft erfolgte dagegen die aggressive Abgrenzung. Deshalb illustriert Arnim sein nationales Ideal am Beispiel der Zigeuner, die freilich mit auffälligen christlichen Ingredienzen versehen werden, um sie von der religiösen Basis her mit dem deutschen Nationalmythos vermitteln zu können.753 Die Bemühungen der Juden werden dagegen durch Arnim einerseits lächerlich gemacht – man denke noch einmal an die Versuche des Alrauns, sich als Mensch auszuweisen –, andererseits aber als große Gefahr der politischen Stabilität dargestellt, wie die negative Bewertung der Regierungszeit Karl V. zeigt. Karl scheitert nicht zuletzt daran, daß er den falschen Beratern vertraut und dem Einfluß dubioser Günstlinge – wie auch dem Alraun und Golem Bella – ausgesetzt bleibt. 750 751 752 753
Ebd., S. 272. Ebd. Ebd., S. 271. Ethel Matala de Mazza verweist auf das »genuin christliche[] Modell[] von Mutterschaft«, auf das die Figur der ›Maria‹ Isabella verweise. Arnims Erzählung setzt folglich »alles daran, [...] den Zigeunern [...] eine solidarische Gesinnung mit dem Christentum anzudichten, die sie als das bessere Andere, das christliche Alter Ego der Juden kenntlich werden läßt«. Vgl. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 406f.
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Die andere Hauptfigur der Erzählung, Isabella, ist gleich in doppelter Hinsicht ein Opfer der Juden. Auf der privaten Handlungsebene kann sie – wie bereits erwähnt – dem Mordanschlag Golem Bellas nur knapp entkommen, und auf der politischen Ebene leidet sie unter den Verstellungskünsten der Juden, die sich als Zigeuner ausgeben und so maßgeblich die Verfolgung ihres Volkes verursacht haben.754 e) »Ein Traum – was sonst?«: Die finale Harmonie als ästhetische Utopie Während Karl für seine mißglückte Amtszeit von dem gnädigen Erzähler mit dem Argument in Schutz genommen wird, daß »nur ein Heiliger auf dem Throne jene Zeit hätte bestehen können«755, erfährt die sterbende Isabella in dem die Erzählung abschließenden Bericht eine regelrechte Apotheose. »Auf dem Zigeuner-Thron [...] sitzt eine Heilige, heilig durch Arnims romantische Sakrifikation«756, konstatiert Peter Horst Neumann in seiner Interpretation der Schlußpassage, und Bernd Fischer verweist darauf, daß es Arnim stets darum gegangen sei, »eine Perspektive für die eigene Zeit«757 aufzuzeigen; folglich könne die Erzählung nicht mit dem traurigen Scheitern Karls enden, sondern »die dem menschlichen Geist verschlossene Teleologie der Geschichte«758 müsse »in großen Bildern«759 beschworen werden: »Isabella [...] ist eine ›Heilige‹, die schon auf Erden in Harmonie mit der ›anderen Welt‹ zu wirken vermag und darum sich auch dem ›Totengericht‹ schon auf Erden stellen kann. Ihr Tod ähnelt der Himmelfahrt Mariens, und so wird sie [...] geradezu als Schutzheilige des Gewissens angerufen.«760 In den Positionen Neumanns und Fischers artikuliert sich der weitgehende Forschungskonsens, die Apotheose Isabellas am Ende der Erzählung ernst zu nehmen. Michael Andermatt hat dagegen Widerspruch angemeldet. Er glaubt eine »kunstvolle Verundeutlichung«761 erkennen zu können, die sich daraus ergebe, daß Arnims Erzähler die Verantwortung für die Schilderung des Geschehens in Ägypten an einen höchst fragwürdigen Gewährsmann weiterreicht: Dadurch, daß der »berühmte[] Reisende[] Taurinius«762 den belesenen Zeitgenossen Arnims als »berüchtigter Hochstapler«763 bekannt gewesen sei, verkehrt sich nach Andermatt der »im Anschein des Dokumentarischen erweckte Wahrheitsanspruch des Textes«764 in sein Gegenteil; die Anspielung 754 755 756 757 758 759 760 761 762 763 764
Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 624. Ebd., S. 738. Neumann, Legende, Sage (wie Anm. 629), S. 309. Fischer, Literatur und Politik (wie Anm. 46), S. 107. Ebd., S. 107f. Ebd., S. 108. Ebd. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 419. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 740. Andermatt, Verkümmertes Leben (wie Anm. 13), S. 418. Ebd., S. 419.
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auf den von Clemens Brentano als »Philister« denunzierten Erdmann Uhse wiederum »macht den Bericht von Isabellas Vision letztlich als Witz erkennbar«765. Andermatt bilanziert deshalb: »Wieder ist also der Text doppelt. Was er postuliert, widerruft er zur gleichen Zeit. Die Position, die schließlich gelten soll, ist nicht auszumachen.«766 Die wesentliche Basis für diesen Befund Andermatts bildet seine Beurteilung Isabellas, die er eben nicht als Gegenentwurf zu Karl, sondern als ebenso unheilvoll in die Zeitläufte verstrickte Protagonistin versteht; deshalb kann er ihr auch die finale Apotheose nicht zubilligen. Wie bereits gezeigt wurde, ist Isabella aber durchaus als positiver Charakter gezeichnet, denn sie löst sich – im Gegensatz zu Karl – von dem Bereich der niederen Geister. Wenn Arnim die Heiligung Isabellas am Ende mit offensichtlich fingiertem dokumentarischen Material »belegt«, so geht es ihm mit dieser »Ausstellung der Gemachtheit des Kunstprodukts«767 (Christof Wingertszahn) meines Erachtens nicht um die Denunziation seiner weiblichen Hauptfigur, sondern um die Kenntlichmachung der harmonischen Lösung als einer ästhetischen Utopie. In der Beziehung zwischen dem Kaiser Karl und der Zigeunerprinzessin Isabella durchdringen sich »Legendenhaftes und Historisches [...] auf weite Strecken untrennbar«768, schreibt Neumann; am Ende freilich werden die Bereiche kontrastiv aufeinander bezogen: Isabellas legendenhaftes Ende steht in deutlicher Distanz zu einer als hochproblematisch empfundenen Realgeschichte, in der nur ein »Heiliger auf dem Throne«769 bestehen kann. Karls Scheitern wird aus einer deutlich geschichtsskeptischeren Position heraus, als sie etwa noch im Volkslieder-Aufsatz zur Geltung gekommen war, auch zu einem Gutteil der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«770 zugeschrieben; der Gegenentwurf wird aufgezeigt, aber in ihm ist die Realgeschichte suspendiert – er ist nicht von dieser Welt, er bleibt ein Traum. »Ein Traum – was sonst?«771, läßt auch Kleist »ausgerechnet de[n] militärischen Haudegen«772 Kottwitz das versöhnliche Ende seines letzten Dramas Prinz Friedrich von Homburg kommentieren. Hier wird der wegen Insubordination zum Tode verurteilte Homburg nicht nur im letzten Moment begnadigt, er bekommt auch noch die Nichte des Kurfürsten zur Frau. Dieses harmoni765 766 767 768 769 770
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Ebd., S. 421. Ebd., S. 430. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 101. Neumann, Legende, Sage (wie Anm. 629), S. 299. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 738. Zitat aus Kleists Die Marquise von O... (1808). Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 2. Siebte Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 104–143, hier S. 143. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hermann Sembdner. Band 1. Siebte Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 709. Hans-Georg Werner: Geschichtlichkeit in Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Kleist-Jahrbuch (1992), S. 93.
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sche Finale kann vom Dramatiker freilich nur mit »äußerste[r] Anstrengung«773 bewerkstelligt werden; Jürgen Schröder hat deshalb in diesem Kontext festgestellt, daß die »schöne Kunstwahrheit [...] sich am Ende der eigenen Vergeblichkeit gegenüber der herrschenden Geschichtswahrheit [...] bewußt«774 werde; eine Versöhnung »zwischen d[en] Glücksansprüche[n] des Einzelnen und d[en] Forderungen der Gesellschaft«775 ist auch hier nur in der »Utopie des ästhetischen Scheins zu leisten«776 – so signalisiert Kleists Text nicht zuletzt die »Geschichtsverzweiflung des Dramatikers«777. Auch in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795)778 erweist sich die Kunst als »Fluchtraum«779: Hier tröstet ein Märchen780 am Ende über die Wirrnisse einer im Gefolge der Französischen Revolution aus den Fugen geratenen Zeit hinweg. In diesem Märchen opfert sich eine Schlange,781 um es den Menschen zu ermöglichen – wie Sigrid Bauschinger schreibt – »mit- und füreinander zu leben«782. Daß ein solcher gesellschaftlicher Zustand der allseitigen Harmonie weder in der Rahmenhandlung, die Goethe in seiner zeitgenössischen Gegenwart situiert hat, noch in den anderen Binnengeschichten des Textes möglich wird, sondern erst in einem Märchen am Ende der Unterhaltungen, verweist auf den utopischen Gehalt des »überwältigenden Schlußtableau[s]«783; die Protagonisten sind für Bauschinger dementsprechend »Figuren einer grandiosen Illusion«784. In dieser Tradition bewegt sich auch Arnims Isabella. Wie Goethe und Kleist setzt er sich mit der als hochproblematisch empfundenen Umbruchphase nach der Französischen Revolution auseinander, und wie die beiden anderen Autoren versucht er, auf fiktionalem Wege eine Harmonisierung der gesellschaftlichen Konflikte zu etablieren. Die Sorge, daß eine solche Versöhnung auf das Feld des Ästhetischen würde beschränkt bleiben, einte die drei Autoren; so kennzeichneten sie ihre Bewältigungsversuche dezidiert als Kunstpro773
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Jürgen Schröder: Geschichtsdramen. Die »deutsche Misere« – von Goethes Götz bis Heiner Müllers Germania? Eine Vorlesung. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1994 (Stauffenburg-Colloquium; 33), S. 136. Ebd. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 127. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Band 6: Romane und Novellen I. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese. 14. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 125–241. Schröder, Geschichtsdramen (wie Anm. 773), S. 136. Vgl. Goethe, Werke VI (wie Anm. 778), S. 209–241. Vgl. ebd., S. 233 bzw. S. 238. Sigrid Bauschinger: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Hg. von Paul Michael Lützeler und James E. McLeod. Stuttgart: Reclam 1985 (Reclams Universal-Bibliothek; 8081), S. 164. Ebd. Ebd., S. 165.
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dukte. Das unterminiert aber zum einen nicht – wie Andermatt im Falle Arnims insinuiert – die Ernsthaftigkeit des Anliegens und die didaktische Komponente der Texte; zum anderen dürfen die besagten Gemeinsamkeiten nicht über die Unterschiede zwischen den klassizistischen und den romantischen Konzeptionen hinwegtäuschen. Im Gegensatz zu den Träumen Arnims und Kleists unterliegt Goethes soziale Utopie keinen nationalen Verengungen.
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Der fremde Jude: Die Versöhnung in der Sommerfrische
a) Die mißglückte Integration Wenn man Literatur im Sinne Dieter Wellershoffs kraft ihrer antizipatorischen Möglichkeiten als ein »Spielfeld«785 begreift, als »ein[en] der Lebenspraxis beigeordnete[n] Simulationsraum«786, dann macht Achim von Arnim mit der Rahmenerzählung Versöhnung in der Sommerfrische787 die Probe aufs Exempel. In einer literarischen Versuchsanordnung spielt Arnim durch, ob die Integration eines Juden in die »gedachte Ordnung« der deutschen Nation gelingen kann. Mit Tirol wählt der Autor hierfür einen in den patriotischen Diskursen als »deutschen Erinnerungsort«788 stets präsenten Schauplatz für eine Handlung, in der das Verhältnis des zugezogenen Juden Raphael Rabuni zu der dortigen Dorfgemeinschaft im Mittelpunkt steht. Unterstützt wird Rabunis Integrationsversuch durch den Ich-Erzähler, der Rabuni von früher her kennt und den es nun als Besucher ebenfalls nach Tirol verschlagen hat, sowie von Therese, der Schwägerin des »ehrlichen Tyrolers«789 Sebastian, die mit Rabuni zum Ärger ihrer Familie eine Liebesbeziehung begonnen hat. Rabunis Scheitern ist freilich vorprogrammiert – in allen Punkten, die seit Herder die nationale Zusammengehörigkeit einer Gemeinschaft beglaubigen, erweist sich der Jude als Gegenentwurf zu den Dorfbewohnern. So spricht Raphael zum Beispiel Hochdeutsch, und was er mit Therese redet, konnte Sebastian »nie verstehn«790: »[E]s ist mir zu hoch und läßt sich 785
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Dieter Wellershoff: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1971 (Sonderreihe/dtv; 100), S. 18. Ebd.; Wellershoff sieht in seinem Verständnis von Literatur als einer »Simulationstechnik« (ebd.) eine Möglichkeit, den »scheinbaren Widerspruch von autonomer und realitätsbezogener Literatur in einen funktionalen Zusammenhang um[zu]deute[n]« (ebd.). Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 541–609. Unter Andreas Hofer hatten die Tiroler im April 1809 einen blutigen Aufstand gegen die mit Frankreich im Bunde stehende bayerische Besatzungsmacht entfacht, der jedoch niedergeschlagen wurde. Vgl. Arnims späteren Aufsatz ‹Tirol ist frei!› aus dem Preußischen Correspondenten (1813). In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 422–424 sowie den Kommentar S. 1240f. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 542. Ebd., S. 550.
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nicht einmal auf gut Tyrolisch sagen, ich habe viel heimlichen Verdruß darüber [...].«791 Indem Rabuni sich von der Mundart der Dorfbewohner abgrenzt und vielmehr eine Diskursform wählt, die in seiner Wahlheimat auf Unverständnis stößt, zeigt er sich als elitärer Bildungsbürger, der keinen Sinn hat für das »eigentliche Deutsche«792, das es – wie Adam Müller in seinen im Jahr 1812 in Wien gehaltenen Zwölf Reden über die Beredsamkeit793 schreibt – aus den »verschiedenartigsten Dialekten«794 herauszuhören und herauszufühlen gilt. Arnims Berliner Weggefährte versucht in diesen Vorlesungen unter anderem, das Verhältnis der Dialekte zu einer deutschen Hoch- und Schriftsprache hinsichtlich der nationalen Frage zu klären; ein Seitenblick auf seine Überlegungen erweist sich für die Analyse der Erzählung Arnims daher als lohnenswert. Müller sieht in dem »Wegwerfen des Besonderen«795 und dem »Reinwaschen und Abfeilen«796 der Dialekte einen folgenschweren Fehler, der die kulturelle Vielfalt Deutschlands untergräbt: »Ich habe mich seit vielen Jahren um die deutsche Aussprache bekümmert, aber noch heut weiß ich keinen Ort in Deutschland anzugeben, wo die Sprache gut gesprochen würde oder nur besser als anderswo. [...] [K]ein Ort hat dieses Privilegium für sich. Die Örter sind, was die Sprache angeht, gleich gut: sie müssen echt republikanisch alle gelten, sie müssen alle ihre Stimme hergeben, wenn ein guter deutscher Sprecher werden soll, – und so habe ich auch immer gefunden, daß die, welche gut sprachen, an recht verschiedenartigen Stellen von Deutschland gelebt und gesprochen hatten.«797 Dementsprechend soll weder einer der Dialekte zum »Hochdeutschen« erklärt noch »[e]in Wörterbuch [] aus lauter solchen guten und lebendigen Sprachen abgezogen«798 werden. Vielmehr lassen sich »Kraft und [...] Charakter der Sprache«799 – gemäß Müllers Gegensatzphilosophie – nur durch einen beständigen Austausch zwischen der Bildungssprache und den regionalen Varianten des Deutschen gewinnen. Die »einsamsten Bergtäler, die entlegensten Küsten und alle die Stellen, auf denen sich der Mensch mit seiner Stimme der Natur gemäß ausdrückt«800 sollen »unaufhörlich einwirken [...] auf den Mittelpunkt«801; auf diese Weise wird nach Müller die Bildung 791 792
793 794 795 796 797 798 799 800 801
Ebd. Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. Hg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Band 1: Kritische Schriften. Neuwied: Luchterhand 1967, S. 381. Vgl. ebd., S. 293–451. Ebd., S. 381. Ebd., S. 379. Ebd., S. 380. Ebd., S. 381. Ebd. Ebd., S. 380. Ebd. Ebd.
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»an[ge]frisch[t] [...] durch die Unschuld«802: »Besser ist es, daß solche gebildete Sprache wieder zurückströmt in die Dialekte, sich wieder unaufhörlich erfrischt in dem Bade der Natur, daß, was Mühe, Fleiß und Geschick erreicht haben, sich immer wieder anschließe an jene alte Naturstimme der Gebirge und Täler; daß dieses echte und lebendige Hochdeutsch sich beständig wieder nicht auf unedle Weise vermische, aber – vermähle mit den Dialekten.«803 Gemäß dieser Programmatik fordert Müller die Intellektuellen auf, sich in den deutschen Ländern umzusehen und den Dialekten gegenüber offen zu sein. Ein »guter deutscher Sprecher«804 muß »unter der Rauhigkeit der Gebirgstöne und unter den weichen platten Klängen, die das deutsche Niederland spricht, in Städten und auf dem Lande, an den südwestlichen Grenzen, wo die romanischen Sprachen, und an den nordöstlichen, wo die slawischen Sprachen Deutschland berühren«805, das besagte »eigentliche Deutsche«806 heraushören und -fühlen. Arnims Ich-Erzähler scheint diesem Postulat zu gehorchen, denn er redet – wie Sebastians Sohn Wastel respektvoll bemerkt – »beinah unsre Sprache«807. »Ich bin so kreuz und quer durch euer Land gezogen[,] daß ich die Sprache wohl nachmachen mußte, um aller Orten verstanden zu werden«808, erläutert der Erzähler, der sich damit freilich weitaus integrationswilliger zeigt als der für die Einheimischen oft unverständlich parlierende Rabuni. Es fällt dem Erzähler sogar schwer, die Geschichte von der Versöhnung in der Sommerfrische den Lesern »in unsre[r] Schriftsprache«809 hinterlassen zu müssen; schließlich sei mit der Vernachlässigung der »Tyroler Mundart«810 auch die »Aufopferung mancher Treuherzigkeit, die nur die Mundart[,] nicht die Schriftsprache mehr gestattet«811, verbunden. Rabuni, der frühzeitig »seine Rede zu einer seltenen Dialektik und Besonnenheit ausgebildet hatte«812, kümmert sich um derlei Bedenken freilich nicht und bleibt den Einheimischen durch seinen elaborierten Code fremd. Fichte hatte in seinen Reden an die deutsche Nation das »ächt Deutsche«813 als eine für Ausländer gleichsam nicht erlernbare Sprache dargestellt. Arnim 802 803 804 805 806 807 808 809 810 811 812 813
Ebd. Ebd., S. 381. Ebd. Ebd. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 545. Ebd. Ebd., S. 552. Ebd., S. 551. Ebd., S. 552. Ebd., S. 550. Johann Gottlieb Fichte: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Fotomechanischer Nachdruck Berlin: de Gruyter 1971, S. 326.
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demonstriert die Fremdheit des Judentums in seinen Werken konsequent damit, daß sich die jüdischen von den deutschen Protagonisten durch eine andere Sprechweise unterscheiden. Nathan und seine Familie (Halle und Jerusalem) »mauscheln«814, Vasthi (Die Majorats-Herren) verflucht ihre Stieftochter mittels »halb hebräische[r] Schimpfreden«815 und »im verzerrtesten Judendialect«816, der Alraun (Isabella von Ägypten) besitzt gar »keine eigne Sprache«817, sondern kann nur »den meisten Leuten in ihrer Sprache geschickt nachreden«818, und Golem Bella (Isabella von Ägypten) erwirbt im Augenblick ihrer Schöpfung das Wissen des Originals, Isabella, so daß auch der Spracherwerb nicht in ihrer Macht steht – Isabellas Grenzen limitieren in dieser Hinsicht die Entfaltungsmöglichkeiten der Kopie.819 Der »Makel des Unbehaustseins in einer ›natürlichen‹, gewachsenen Sprache«820, den Ethel Matala de Mazza für die beiden Kunstgeschöpfe und Rabuni konstatiert, gilt für alle jüdischen Figuren Arnims; daß sie dadurch »unweigerlich auf eine gesellschaftliche Randständigkeit fest[ge]legt [werden]«821, stimmt freilich nur zum Teil. Arnim illustriert über das besagte »Unbehaustsein« in der deutschen Sprache die prinzipielle Fremdheit und Andersheit seiner jüdischen Protagonisten; manchen Figuren gelingt es dennoch, sozial aufzusteigen bzw. eine gesellschaftliche Funktion zu erlangen (Vasthi, Nathanael, zeitweise auch Nathan, der Alraun und Golem Bella als Geliebte des künftigen Herrschers), was aber als bedrohliche Verfallserscheinung der in die Krise gekommenen althergebrachten Werteordnungen gewertet wird. Rabuni bleibt nicht nur hinsichtlich seines Sprachgebrauchs ein Fremder in Tirol, für die örtliche Kultur, das Brauchtum und die Schönheiten der Landschaft ist der Jude ebenfalls nicht zu gewinnen. Auch diesbezüglich steht er in deutlichem Kontrast zum Erzähler, der dem rustikalen Charme der Tiroler 814
815 816 817 818 819 820 821
Gerhard Scheit weist freilich zu Recht darauf hin, daß Arnims Gestaltung der Handelsfamilie im Vergleich zu zeitgenössischen szenischen Judenkarikaturen eines Voß oder Sessa »im Stil etwas von der Jargonimitation zugunsten der Schriftsprache abweich[t]«. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 257. Vgl. zu den unter dem Stichwort »Judenmauschel« fest zum antijüdischen Repertoire gehörenden Angriffen auf die Alltagssprache des aschkenasischen Judentums den Essay von Elvira Grözinger, die auch kurz auf Arnims Majorats-Herren eingeht. Elvira Grözinger: »Judenmauschel«. Der antisemitische Sprachgebrauch und die jüdische Identität. In: Sprache und Identität im Judentum. Hg. von Karl E. Grözinger. Wiesbaden: Harrassowitz 1998 (Jüdische Kultur; 4), S. 173–198, besonders S. 185. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 122. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 666. Ebd. Vgl. ebd., S. 688f. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 411. Ebd.
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Bergbauernwelt regelrecht verfallen zu sein scheint. Es ist beinahe eine logische Konsequenz aus dieser Konstellation, daß sich der Erzähler auch dem »dramatische[n] Spiel«822, das der einheimische Fähnrich vorliest, wesentlich aufgeschlossener zeigt als der kritische Rabuni, der sich mit seiner »unzeitige[n] heimliche[n] Kritik«823 als einer jener Gelehrten erweist, denen Arnim in seinem Volkslieder-Essay vorgeworfen hatte, sich »[h]inter der vornehmen Sprache«824 zu verstecken und mit der selbstgewählten Isolation vom einfachen Volk die Spaltung der Nation zu forcieren. Wenn es nur »ein Volk«825 gäbe, die intendierte nationale Integration also geleistet wäre, so Arnim ebenfalls in diesem Essay, dann wäre »Kritik«826 ohnehin »ganz unmöglich«827: »[E]s giebt nur Bessermachen und Anerkennen, nichts ganz Schlechtes [...].«828 Der jüdische Literaturkritiker Rabuni, der zu jenen gehört, »die übrigens keine Verse lesen, sondern sie nur beurteilen«829, torpediert mit dieser unproduktiven Kritik an den künstlerischen Bemühungen des Fähnrich freilich ein solches Programm.830 Für den »Reichtum der ganzen Landschaft«831 hat Rabuni im Gegensatz zum begeisterten Erzähler, der sich an Bergwind, Bergmilch, Alpenluft und Heuduft832 ergötzt, ebenfalls keinen Sinn. Daß er zudem das örtliche Brauchtum nicht versteht, hätte für den »lustige[n]«833 Sänger eines Volksliedes beinahe unangenehme Konsequenzen gezeitigt: Raphael, der sich durch den »ver822 823 824 825 826 827 828 829
830
831 832 833
Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 586. Ebd. Arnim, Von Volksliedern (wie Anm. 210), S. 412. Ebd., S. 423. Ebd. Ebd. Ebd. So der Vorwurf Arnims an die Literaturkritik in einer Rezension zu August Wilhelm Schlegel’s poetische[n] Werken (1811). In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 388–398, hier S. 388. Die Polemik gegen die Literaturkritik zieht sich wie ein roter Faden durch Arnims Werk. »[W]ir denken daran, endlich einmal wieder die eigentümlichen Schriftsteller statt ihrer Rezensenten und Parodierer zu lesen« heißt es in einer 1810 erschienenen Rezension zu dem Roman Die Versuche und Hindernisse Karls, den vier Mitglieder des sog. »Nordsternbundes« (Johann Christian August Ferdinand Bernhardi, Friedrich de la Motte Fouque, Friedrich Wilhelm Neumann, Carl August Varnhagen von Ense) im Kollektiv verfaßt hatten, und in der bereits erwähnten Besprechung von Friedrich Schlegels Gedichte[n] schreibt Arnim (1810), daß »die weitschichtige beschränkende Kunstrichterei, wozu sich jeder gleich berufen fühlte, [...] längst allen Bessern ein herzlicher Überdruß« sei. Vgl. ebd., S. 352–355, hier S. 352 bzw. S. 301–309, hier S. 303. Die Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Vgl. zu Arnims Verständnis von positiver und aufbauender Kritik Burwick, »Der Kreis des Wissens« (wie Anm. 73), S. 20. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 543. Vgl. ebd., S. 552. Ebd., S. 565.
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ruchten Kerl«834 persönlich angegriffen fühlt, will mit einer Wasserflinte auf ihn schießen, damit »er im ersten Schreck dem Singen auf immer absagt«835. Der Erzähler, der sich freilich auch mit dem lokalen Liedgut bereits auskennt, weiß das Schlimmste zu verhindern und weist den Juden darauf hin, daß »der gute Kerl«836 ein Lied singe, »was ich von einem Ende Tirols bis zum andern gehört habe, wo kein Mensch von ihrem Dasein etwas ahndet, sondern sie für ganz Überflüssig in der Welt erklären würde«837. »Arnim«, so Hildegard Baumgart in ihrer Analyse der Versöhnung in der Sommerfrische, »wollte Judenfeind sein, aber er konnte es nicht, weil er ein Dichter war – und die kommen ohne Empathie nicht aus«838. Die Sorgfalt und Präzision, mit der Arnim seinen Juden als das genaue Gegenbild zu der Dorfbevölkerung konzipiert und vor allem auch in Opposition zu dem integrationsfähigen und -willigen Erzähler stellt, bezeugt indes, daß kompositorische Könnerschaft durchaus in den Dienst fragwürdiger und problematischer politischer Botschaften treten kann; der Jude, so suggeriert uns Arnims Text, bleibt trotz aller Hilfsangebote der gutmütigen Deutschen doch für immer ein Fremder. b) Die deutsch-jüdische Differenz als »Naturwahrheit« Dabei muß hinsichtlich der von Baumgart in die Debatte eingebrachten »Empathie« freilich konzediert werden, daß Rabuni kein einseitig negativ gezeichneter Charakter ist; er stellt zwar wegen seines »hypochondrischen Auf[s]ichbeziehen[s]«839 und seiner Unkenntnis der regionalen Gepflogenheiten für die Dorfgemeinschaft eine latente Gefahr dar – so bedroht er zunächst den Erzähler mit einem Säbel,840 dann den besagten Sänger mit einer Wasserflinte und schließlich Sebastian mit einer Windbüchse841 –, aber Raphael entspricht nicht in allen Belangen den klassischen antijüdischen Stereotypen. Das traditionelle »Schacher und Wucher«-Motiv etwa wird nur gegen Rabunis Vater, nicht gegen ihn selbst mobilisiert – von dessen »Erwerbungslist«842 hatte er »nur die Klugheit in der Bewahrung seines Vermögens behalten«843, berichtet der Erzähler; und selbst der skeptische Sebastian muß einräumen, daß Rabuni »[f]ür einen Juden [...] recht gut, fast zu gut«844 sei. Dies ist in der Forschung teilweise als Beleg für eine differenziertere Einschätzung der Emanzipationsfrage, die 834 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 565f. H. Baumgart, »Judengeschichte« (wie Anm. 531), S. 89. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 566. Vgl. ebd., S. 552. Vgl. ebd., S. 571. Ebd., S. 551. Ebd. Ebd., S. 546.
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Arnim mit diesem Text geleistet habe, gesehen worden;845 indes belegt ja gerade die Tatsache, daß sogar der selbstkritische Rabuni – als ein gewissermaßen »besseres Exemplar« der »jüdischen Nation« – keinen Weg in die Tiroler Welt findet, die Unüberbrückbarkeit des deutsch-jüdischen Unterschieds. Ein Unterschied, der auch dann bestehen bleibt, wenn gutwillige Deutsche wie der Erzähler, der bei den erwähnten aggressiven Attacken Rabunis stets das Schlimmste zu verhindern weiß und schließlich sogar die Versöhnung Rabunis mit Sebastian und dessen Familie arrangiert,846 ihn aufheben wollen. »[D]er Besitz des adligen Schlosses durch den Juden, der zudem unpassende altdeutsche Kleidung trägt und im Stil romantischer Maler dilettiert«847 muß nach Michael Ott als »Allegorie der ›Vermessenheit‹ jenes ›Einschleichens‹«848 gelesen werden, »das zeitgenössisch Assimilation heißt«849. Rabuni bezeugt diesen Sachverhalt selbst, indem er in dem eingelagerten Gespräch über die Einbürgerung der Juden seine charakterlichen Schwächen auf die Gebundenheit an das Judentum und die Defizite dieses »Volks« zurückführt: »Wie soll ich meine Scham verbergen, [...] am heftigsten ergreift mich aber jetzt noch solche Grille, als ob meiner gespottet werde – sie werden das häufig bei meinem Volke finden, es ist eine Folge des Eindrängens in Gesellschaftskreise, zu denen sie nicht gehören«850, denunziert Rabuni hier seine eigene Integrationsbemühung und macht unmißverständlich deutlich, daß er auch gegen seinen Willen dem Judentum unwiderruflich verhaftet bleibt: »[...] dieser Unterschied sei recht, daß ich mein Volk verachten und auch in mir noch fühlen mußte, daß ich dieses Grundübel mit ihm teile, o wer kennt die Verzweifelung dessen, der aus sich heraus treten möchte und immer enger und enger wie eine Schnecke an die Last ihres Hauses an seine Natur gebunden findet.«851 Daß uns mithin die deutsch-jüdische Differenz einserseits als »›Naturwahrheit‹«852 und andererseits als »unbezwingliche[r] Scheiternsgrund«853 für die versuchte Überwindung der Kluft zwischen dem zugezogenen Juden Rabuni und der christlich-deutschen Dorfgemeinschaft präsentiert wird, impliziert nach Ethel Matala de Mazza gegenüber den Bestrebungen in der Tischgesell845
846 847 848 849 850 851 852 853
Vgl. noch einmal H. Baumgart, »Judengeschichte« (wie Anm. 531), S. 87 sowie Henckmann, Problem (wie Anm. 55), S. 55f. Zuletzt betonte auch Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 61), S. 184, daß Rabuni »starke Sympathie« auf sich lenke. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 572–579. M. Ott, »Die Macht der Verhältnisse« (wie Anm. 535), S. 255. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 546 bzw. 553. M. Ott, »Die Macht der Verhältnisse« (wie Anm. 535), S. 255. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 566. Ebd., S. 554. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 387. Ebd.
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schaft eine bemerkenswerte Akzentverschiebung: War es dort in Arnims Rede um ein chemisches Experiment zur Entdeckung heimlicher, bis zur Unkenntlichkeit assimilierter Juden gegangen, »so ›entdeckt‹ das literarische Experiment nun etwas viel Grundlegenderes: die Unmöglichkeit einer wirklichen Assimilation«854. Die Erzählung leistet daher auch die »seit den frühromantischen Sozialutopien notorisch[e] [...] Überwindung des Gesetzes«855, denn indem sich die naturale Differenz zwischen Deutschen und Juden als unhintergehbar erweist, werden – wie Matala de Mazza konstatiert – neben den Edikten zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden auch die Statuten der Christlichdeutschen Tischgesellschaft, die eine jüdische Subversion hatten abwehren sollen, obsolet: »Die Inkommensurabilität von jüdischer Körperidolatrie und christlicher Spiritualität bewahrt die christlich-deutsche Leibeinheit eo ipso in ihrer ›Reinheit‹ und Integrität.«856 Sebastian, als »ehrlicher Tyroler[]«857 die verläßliche Stimme des Volkes in Arnims Text, hatte das Ergebnis der literarischen Versuchsanordnung schon zu Beginn des Textes antizipiert: »[A]ber es bleibt doch immer ein Jude«858, wußte er über Rabuni zu berichten. Der Erzähler dagegen zeigte sich in diesem Punkt von seiner Intuition verlassen und muß am Ende die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingestehen: »War es nicht gut gemeint, daß ich zu Raphael ging, [...] aber der Mensch soll nicht binden, was der Himmel zertrennt hat Juden und Christen. Jahrelang habe ich magnetisiert, warum kann ich nicht am Menschen unterscheiden die Pole, die einander vernichten, jahrelang haben mich die Menschen belogen und ich glaube ihnen doch noch mehr, als sie versichern, nun ist er tot [,] Raphael [,] von den Toten nur das Gute, er ist als Christ gestorben, wohl ihm, aber er war ein verruchter Jude vorher.«859 Hildegard Baumgart wertet dieses Schuldeingeständnis des Erzählers als »aufgesetzt«860, also als inkompatibel mit dem vorangegangenen Erzählgeschehen. Diese ästhetische Kritik soll deutlich machen, daß die reaktionären politischen Ansichten Arnims in der literarischen Praxis – wenn sie sich schon nicht zwangsläufig entschärfen – zumindest kompositorische Schwächen zeitigen. Doch wie die bisherige Analyse gezeigt hat, erscheint die finale Selbstanklage des ernüchterten Erzählers im Horizont des Textes keineswegs »aufgesetzt«, sondern vielmehr konsequent und folgerichtig; Rabuni paßt nicht nur nicht in die altdeutsche Tracht, in der ihn der Erzähler zu Beginn antrifft,861 er paßt auch nicht in die heile Bergwelt Tirols. 854 855 856 857 858 859 860 861
Ebd., S. 388. Ebd., S. 402. Ebd. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 542. Ebd., S. 546. Ebd., S. 587. H. Baumgart, »Judengeschichte« (wie Anm. 531), S. 89. Vgl. noch einmal Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 553.
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Genau wie Rabuni bleibt auch Esther eine Fremde; allerdings wird in ihrem Fall die Konstellation umgekehrt, denn die Tochter eines deutschen Adeligen wächst in der Erzählung Die Majorats-Herren bei jüdischen Pflegeeltern auf, ohne sich den dortigen Gepflogenheiten des »Schachern[s] und Zänken[s]«862 anpassen zu können; sie bewahrt sich ihre persönliche Integrität und repräsentiert Tugenden, die Arnim als genuin christliche zu begreifen scheint, wie Ehrlichkeit, Mitleid und Nächstenliebe. Nicht nur, daß sie dem Majoratsherren – was in der Judengasse, wie sie Arnim inszeniert, einen einmaligen Sonderfall darstellt – zuviel bezahltes Geld zurückgibt, was von ihrer bösartigen Stiefmutter denn auch prompt mit hebräischem Gekeife quittiert wird.863 Eben dieser Stiefmutter, die sie förmlich tyrannisiert, begegnet Esther mit Wohlwollen und wünscht ihr »ein langes Leben«864; und einen verarmten Juden will sie aus karitativen Gründen – und nicht etwa aus Liebe – heiraten.865 Es wird ihr nicht gedankt, denn am Ende der Erzählung ermordet die alte Jüdin Esther, und der Verlobte kommt ihr nicht zu Hilfe.866 Esther kann als »Fremde in d[er] Judenstadt«867 ebensowenig überleben wie Rabuni in der deutschen Bergbauernwelt. Wie durch die oben zitierten Selbstanklage des Ich-Erzählers aus der Versöhnung in der Sommerfrische allerdings bereits deutlich wurde, stirbt Rabuni als Christ. Durch eine Nottaufe war Raphael kurz vor seinem Tod noch konvertiert. In theologischer Hinsicht war er seinem Judentum allerdings zuvor schon distanziert gegenübergestanden, was freilich zunächst noch keine Hinwendung zum Christentum implizierte, auch wenn er in dem Gespräch über die Einbürgerung der Juden Jesus Christus als die »Krone«868 der »wunderbaren Geschichte«869 des Judentums begriff. Arnim zeichnet seinen Protagonisten vielmehr als einen jener »assimilierenden Juden«870, die in den zeitgenössischen Debatten »als Gleichnis der Entsittlichung des modernen, seinem Glauben entfremdeten oder ganz verlorenen Menschen«871 herhalten mußten; der stets nervöse und unberechenbare Rabuni, der »[a]ls überfeinerter, wurzelloser, kopflastiger Stadtmensch [...] in schroffem Gegensatz zu seiner bodenständigen, bäuerlichen Umwelt«872 steht, 862 863 864 865 866 867 868 869 870
871 872
Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 113. Vgl. ebd., S. 124. Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 132f. Vgl. ebd., S. 141–143. H. Guenther Nerjes: Symbolik und Groteske in Achim von Arnims Majoratsherren. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 3 (1967), S. 131. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 556. Ebd. Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz: Matthias Grünewald Verlag 1992 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte; 59), S. 56. Ebd. Moßmann, Das Fremde (wie Anm. 64), S. 137.
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findet seinen inneren Frieden erst nach der Nottaufe und im Tod, als »sein Gesicht den Ausdruck einer unendlichen Seligkeit«873 annimmt: »Alle waren gerührt von diesem Anblicke, nie war Raphael so glücklich und heilig in seinem Leben erschienen [...].«874 Die narrativ dargestellte naturale Differenz zwischen Juden und Christen, zwischen jüdischer Hypochondrie und »freudige[m] deutsche[n] Gemüt«875, erweist sich im Leben als unüberwindlich; nur im Tode, unter Aufgabe des jüdischen Körpers, wird für den Fremden der Eingang in die christliche Glaubenswelt möglich. c) »Besetzte Weiblichkeit«: Juden und Franzosen als Verführer Auch wenn Raphael Rabuni letztlich in der Tiroler Dorfgemeinschaft nicht heimisch werden kann, so hat er sich doch das Verdienst erworben, Sebstians Schwägerin Therese von ihrer Schwermut, in die sie wegen der Trauer um ihren verschollenen und totgeglaubten Verlobten gefallen war, zu kurieren.876 Indes bedarf die Beziehung Raphaels zu Therese einer näheren Beleuchtung, wobei ein Blick auf eine diskursanalytisch angelegte Untersuchung Wolfgang Müller-Funks über das Verhältnis zwischen Nationalismus und Romantik hilfreich sein kann. Müller-Funk hat die wesentlichsten Merkmale des »nationalistischen Narrativs« zusammengestellt und in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen, daß die Nation »[g]anz offenkundig [...] weiblich imaginiert«877 werde: »Der von Fremden verletzte und geschundene, unschuldige und wehrlose Volkskörper ist feminin. Die der Wollust der Barbaren preisgegebenen ›Töchter‹ stehen für diese real wirksame, kollektive Imagination des Politischen. Ins Zentrum rückt das Phantasma, daß der wollüstige Fremde es ist, der den Körper der eigenen Frau nimmt und vergewaltigt«878, führt MüllerFunk aus. »Der Fremde ist derjenige, der den eigenen Körper, die Frau, die Erde und das fruchtbare Feld besetzt hält. Diese Okkupation ist allein schon als barbarischer ›Akt‹ zu werten.«879 Die dabei vorausgesetzte Überlegenheit des Fremden kann nach MüllerFunk verschiedene Gründe haben. Entweder die »Zuschreibung des Barbarischen«880, die den moralisch und kulturell Unterlegenen eine – freilich nur zeitweilige – Dominanz ermöglicht. »Oder aber – und das wäre die durchgängig deutsche Variante, der bedrohliche Fremde wird als zivilisatorisch überle873 874 875 876 877
878 879 880
Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 599. Ebd. Ebd., S. 585. Vgl. ebd., S. 546–550. Wolfgang Müller-Funk: »Sauget, Mütter und Weiber, das schöne Blut der Schlacht!« Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur, Mythos und Nation. In: Nationalismus und Romantik. Hg. von Wolfgang Müller-Funk und Franz Schuh. Wien: Turia und Kant 1999, S. 31. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd.
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gen angesehen; doch diese Eigenschaft wird gegen ihn gekehrt: er ist wollüstig, dekadent, ohne Ideale, künstlich, luxuriös, zynisch, ohne wahre Religion«881 – alles Eigenschaften, die auch Raphael Rabuni adäquat charakterisieren. So wird uns Rabuni gleich zu Beginn als »wollüstig« und religiösen Gesinnungen gegenüber respektlos vorgestellt – bei einem Gewitter hält er die fromme Therese von dem eigentlich obligaten Gebet ab.882 Auch die magnetische Kur, mit der Raphael, ein profunder Kenner der Methoden des Franz Josef Mesmer, seine spätere Geliebte heilt, verläuft im sexuellen Zwielicht: Rabuni greift dabei auf jene Heilverfahren zurück, die im Rahmen des tierischen Magnetismus längst erotisch unverdächtigeren Methodiken gewichen waren.883 Zudem hat die erfolgreiche Therapie einen hohen Preis, denn Therese wird durch seine »fremdartige[] Einwirkung«884 systematisch der geborgenen Atmosphäre der Bergbauernwelt entzogen. »Du vergißt doch alles über deinen Juden«885, klagt ihre Schwester schon zu Beginn, und in der Tat vernachlässigt Therese nicht nur ihre Familie, sondern sie entfernt sich auch von den lokalen Traditionen; dafür erhält sie von Rabuni Klavier- und Malunterricht.886 Sebastian vermutet denn auch eine »geheime Kunst«887, mit der Rabuni seiner Schwägerin »etwas angetan«888 habe; »[a]us [der] Sicht der Tiroler Bergbauern ist Thereses Bildung [...] kein Gewinn, sondern ein Verlust«889, wie Matala de Mazza bemerkt. »Ihre kultivierte Lebensart stellt sich als Absonderung und Entfremdung von einer Gemeinschaft dar, der sich aller soziale Sinn im vorhandenen Potential des regionalen Dialekts erschöpft.«890 Therese indes spricht nun hochdeutsch und findet Eingang in eine bildungsbürgerliche Welt, die den Tirolern verschlossen bleiben muß und die bekanntlich schon im Volkslieder-Essay als Ursache der nationalen Entfremdung denunziert worden war. Der Jude vergewaltigt die deutsche Frau nicht, wie dies in Müller-Funks Thesen aufscheint, aber er manipuliert sie durch »die schauerliche Geisterhand 881 882 883
884 885 886 887 888 889 890
Ebd. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 542. Ethel Matala de Mazza weist darauf hin, daß die Verfahren des Mesmer-Schülers Puysegur von 1787 an die magnetischen Kuren Franz Josef Mesmers zu verdrängen begannen. Puysegur präferierte genuin psychische Verfahren zur Herstellung des Rapports zwischen Magnetiseur und Patientin, während Mesmer auf die auch von Rabuni zur Behandlung Thereses herangezogenen »magnetischen Striche«, also gleichsam eine behutsame Massagetechnik, setzte. Vgl. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 395–399. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 596. Ebd., S. 544. Vgl. ebd., S. 549. Ebd., S. 547. Ebd. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 400. Ebd.
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der magnetischen Berührung«891 und sorgt so dafür, daß die Idee der Assimilation gleichsam auf den Kopf gestellt wird: »Denn während Rabuni offensichtlich keine Anstalten macht, sich den Umgangsformen und Gepflogenheiten seiner Wahlheimat anzupassen [...], ist es Therese, die sich in seinem Bann von ihrer ›vaterländischen Natur‹ [...] entfernt«892, wie Matala de Mazza analysiert. Arnim hatte kurz zuvor schon einmal den schädlichen Einfluß des Fremden auf die ›deutsche Frau‹ zum Thema gemacht; in seinem Zeitroman Gräfin Dolores ist es ein südländischer Marchese, der die labile Titelheldin dazu bringt, ihrem honorigen Ehemann untreu zu werden.893 Dieser Marchese erscheint als ein ausgesprochener Opportunist, der »sich alle Geheimnisse der Rosenkreuzer angeeignet [hat], um sie, vermischt mit dem Mesmerschen Magnetismus als eine furchtbare Geisterhand in das Innerste der Gemüter auszustrecken«894. Er schmeichelt der Gräfin, indem er ihr politisches Interesse zum Schein ernst nimmt, und er indoktriniert sie mit ›französischem‹ Gedankengut. Als der Graf für längere Zeit verreist, gelingt es dem Marchese, der seine Mitmenschen aus »neugierigen Bestrebungen«895 heraus nach Belieben manipuliert,896 die schöne Dolores zu verführen; schon kurz darauf läßt der vermeintliche Edelmann, der auch dem Grafen seine Freundschaft nur vorheuchelt, die gedemütigte Gräfin wieder fallen.897 891
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In einer Rezension (1809) von Ernst Wagners Roman Willibalds Ansichten des Lebens vergleicht Arnim die Situation »Deutschlands« im kulturellen und politischen Sinne mit dem Zustand eines Patienten, der in der Hand seines Magnetiseurs vollkommen willenlos sei. In: Arnim, Werke VI (wie Anm. 76), S. 266–276, Zitat S. 276. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 399f. In diesem Zusammenhang ist an die Mahnungen von Adam Müller und Friedrich Rühs zu erinnern. »Man will die Juden reformiren [...] und richtet alle Dinge so ein, auf daß es baldigst nur dahin komme, daß sie uns reformiren«, schreibt Müller. Adam Müller: Anmerkungen von der Souveränität und vom Lehnsrechte bey Gelegenheit der heiligen Allianz. In: Deutsche Staatsanzeigen 1 (1816), H. 3, S. 298. Rühs sieht das Emanzipationsprojekt in eine »Accomodation nach ihren Gesetzen und Sitten« münden. Fri[e]drich Rühs: Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Zweiter, verbesserter und erweiterter Abdruck. Mit einem Anhange über die Geschichte der Juden in Spanien. Berlin: Realschulbuchhandlung 1816, S. 28. Vgl. zum Zusammenhang der Figuren des Marchese und des Juden Rabuni – mit anderen Akzentsetzungen – auch Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1995, S. 171–183. Arnim, Werke I (wie Anm. 132), S. 381. Ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 374: »Ohne lange Beratung mit sich, fast unbewußt traf er stets, ob er sich einem Manne von Bedeutung, oder einer schönen Frau mehr durch Lob oder Tadel nähere, mehr durch allgemeine praktische Gesinnung oder durch Sonderbarkeit, ob er besser imponierte oder sich belehren lassen müsse, ob Bewunderung oder Mitleid ihm wesentlicher diene«. Vgl. ebd., S. 373–384.
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In einem Brief an Wilhelm Grimm insistiert Arnim darauf, daß die nationale Zuordnung des Marchese konstitutiven Charakter für die Konzeption der Figur gehabt habe: »Der Markese ist mir durch südliche Franzosen entstanden, die so zerstörend durch ganze deutsche Familienkreise und Städte wirkten, daß sie bei uns Würgeengel vorstellen konnten, während sie in sich durch die Richtung ihrer Natur nicht verdammlicher waren, als ein junger Mensch bei uns, der sich begnügt bei einer andern H-re sich umsonst zu vergnügen. Er ist sowie die meisten Franzosen sind wahre Probiersteine; viele Weiber, die in sich falsch, aber aus Mangel an dringender Gelegenheit sich gehalten, fallen bei solchen ganz unerwartet.«898 Die destruktive Wirkung, die die fremde Kultur in »Deutschland« entfaltet, erscheint mit der Darstellung des Ehebruchs, den die Gräfin am Jahrestag der Französischen Revolution mit dem Marchese begeht, in symbolischer Verdichtung; zudem werden mit dem Marchese auch dessen kosmopolitische Vorstellungen desavouiert, macht er sich dem Grafen gegenüber doch für einen permanenten Austausch der Kulturen und mithin für jene »Vermischung« stark,899 die Arndt und Fichte stets als »ungebührlich« und bedrohlich angesehen hatten. Ob in der Gräfin Dolores oder in der Versöhnung in der Sommerfrische, ja auch in den Majorats-Herren, wo Esther durch eine Intrige in der Judengasse untergebracht wird und dort schließlich zu Grunde geht – in den nationalistisch motivierten Texten Arnims gilt, was Wolfgang Müller-Funk als konstitutives Merkmal für die »Hermannsdramen« konstatiert hatte: »Stets ist der weibliche Körper in Gefahr, in die Hände der Gegner zu fallen.«900 Im Gegensatz zu den Majorats-Herren wendet sich jedoch in den beiden anderen Texten dann doch noch rechtzeitig das Blatt. Von Dolores’ Wandlung war bereits die Rede; und auch Therese findet »ganz in ihre vaterländische Natur«901 zurück, als ihr totgeglaubter Verlobter überraschend heimkehrt. Die Rückkehr des »wunderbar schön[en] und ernst[en]«902 Joseph, der in seiner »Größe und Stärke«903 auch optisch besser zu Therese paßt als das »kleine Männlein«904 Rabuni – »es lachten einem die Augen im Kopfe, wenn man sie beide zusammen sah«905, hatte Sebastian schon zu Beginn Joseph und Therese als ein ideales Paar beschrieben – sorgt dafür, daß Therese ihren jüdischen Freund und auch alles, was er ihr beigebracht hat, schlichtweg vergißt.906 Erst 898
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Achim von Arnim an Wilhelm Grimm, Brief vom 2. November 1810. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 84–87, hier S. 86. Vgl. Arnim, Werke I (wie Anm. 132), S. 368f. Müller-Funk, »Sauget, Mütter« (wie Anm. 877), S. 34. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 596. Ebd., S. 595. Ebd. Ebd., S. 548. Ebd., S. 545. Vgl. S. 596 und S. 603: »[I]ch fragte Theresen nach ein paar Büchern, die sie bei Raphael gelesen, sie hatte alles daraus vergessen«, berichtet der Erzähler.
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die Ermahnung des Erzählers erinnert Therese wieder an jenen »Fremdling«907, den sie eigentlich zu heiraten beabsichtigte. Insofern ist Ethel Matala de Mazza zuzustimmen, wenn sie von einem »doppelten Akt[] der Auslöschung«908 Rabunis spricht; bevor Rabuni selbst ausgelöscht wird, stirbt bereits die Erinnerung an ihn. d) Ein deutsches Volksfest »[S]o bin ich euer Landsmann geworden und weiß selbst nicht wie«909, zeigt sich der preußische Erzähler gleich zu Beginn der Erzählung überrascht; den Worten läßt er Taten folgen: Er konvertiert zum katholischen Glauben, heiratet das einheimische Fräulein Antonie und wird in Tirol seßhaft.910 Doch nicht nur die Unterschiede zwischen dem Preußen und den Tirolern nivellieren sich, auch zwischen Max aus Bayern und dem Bauern Joseph wird der – immerhin mit kriegerischer Waffengewalt ausgetragene – Konflikt beigelegt.911 So versöhnt das »Schlußtableau der Erzählung«912 alle Beteiligten, mit Ausnahme des Juden Rabuni, »zu einer großen deutschen Volks-Familie«913, wie Susanna Moßmann feststellt. Allerdings wird die Symbolkraft dieses harmonischen Endes nur unzureichend erfaßt, wenn man sie alleine auf den Ausschluß des jüdischen Störfaktors hin kapriziert. Vielmehr wird das Zusammenwachsen der Nation hin zu einer deutschen Volksfamilie nicht nur durch die Abwehr der Ansprüche der jüdischen Minderheit, sondern auch durch die narrative Bewältigung und Harmonisierung der zahlreichen Spaltungen und Spannungen politischer, sozialer und konfessioneller Provenienz innerhalb des vorgestellten Kollektivs ermöglicht. In den zeitgenössischen Debatten war die Frage nämlich von großer Brisanz, ob denn das »kulturell so tief gespaltene deutsche ›Volk‹ wirklich zu einer politischen ›Nation‹ gebildet werden«914 könne, und ob eine solche Einheit denn auch wirklich wünschenswert sei. Ein prominenter Gegner der Visionen eines geeinten Deutschlands kam – wie Arnims Max – aus Bayern: Johann Christoph Freiherr von Aretin veröffentlichte 1809 seine Streitschrift Die Pläne Napoleons und seiner Gegner, in der er nicht nur Napoleons »Universalmonarchie der Talente und Verdienste«915 verteidigte, sondern auch die 907 908 909 910 911 912 913 914 915
Ebd., S. 596. Matala de Mazza, Der verfaßte Körper (wie Anm. 66), S. 413. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 545. Vgl. ebd., S. 606f. Vgl. ebd., S. 594–596. Moßmann, Das Fremde (wie Anm. 64), S. 140. Ebd. Altgeld, Katholizismus (wie Anm. 870), S. 128. Johann Christoph Aretin: Die Pläne Napoleon’s und seiner Gegner besonders in Teutschland und Oesterreich. München 1809, S. 65. Vgl. zu Aretin Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 201–208.
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nationalen Einheitsbestrebungen als das Produkt einiger »irregeleiteter Biedermänner«916 denunzierte, die in der napoleonischen Umbruchphase Rechte und Einkünfte verloren hätten und die sich deshalb nun mit vollem Engagement gegen Napoleon und für die Idee des »Vaterlandes« einsetzten: Hinter der »Maske des Germanismus«917, so Aretin in seinem schwungvollen Plädoyer für den »Kosmopolitismus«918, verbirgt sich der »Unwille über gelittenen Verlust«919. Aretin entlarvt in diesem Kontext das imaginierte »Deutschland« als ein Konstrukt, wenn er die Frage, ob »die Teutschen [je] eine Nation«920 gewesen waren, entschieden verneint: »Teutschland ist von Völkern bewohnt, deren viele schon ihrem Ursprunge nach sich fremd sind, und die zu keiner Zeit [...] durch ein festes Band vereinigt waren.«921 Zudem deckt Aretin die Widersprüche in der Politik Preußens und Österreichs auf. Früher, so Aretin, haben die beiden Großmächte ihre Partikularinteressen stets auf Kosten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation durchgesetzt; nun »erheben jetzt eben die das größte Geschrey über Teutschheit, welche vormals alles angewendet, um sie zu unterdrücken. Was man uns jezt aufdringen möchte, ist nur Nord-Teutschheit, eigentlich Borussismus und Anglicismus!«922 »So ist es also ausgesprochen, das größte aller Verbrechen, die Norddeutschheit!«923, entgegnete Friedrich Jacobs dieser Argumentation des »gefährlichen Mann[es]«924 Aretin, dessen Flugschrift auch deshalb so weite Kreise zog, weil er Friedrich Jacobs, Friedrich Jacobi, Friedrich Schlichtegroll und andere norddeutsche Gelehrte, die nach Bayern berufen worden waren, der Verschwörung gegen den Rheinbund bezichtigte; sie waren für ihn die »thätigsten Agenten Österreichs«925. Der »mit Aretins Schrift entbrannte, süddeutsche Gelehrtenstreit hob noch einmal den Gegensatz zwischen den katholischen und evangelischen Konfessionen hervor, der einer Verbreitung des Mythos von einer deutschen Nation energisch entgegenwirkte«926, bemerkt Otto W. Johnston. »Der Grundzug des süddeutschen Charakters ist Kraft, der des norddeutschen Schwäche [...]. Komischer ist in der Welt nichts anzusehen als
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J. C. Aretin (wie Anm. 915), S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 33. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd.; Herv. i. O. Ebd., S. 60. Friedrich Jacobs: Über Sinn und Absichten einiger Stellen der zu München erschienenen Flugschrift ›Die Pläne Napoleons und seiner Gegner‹. München 1809, S. 22. Zit. n. Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 206. Ebd. So Aretin in einem Verhör. Zit. n. Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 204. Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 206.
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ein verliebter oder deutschtanzender Lutheraner«927, heißt es in einem Artikel, der Ende 1809 in der österreichischen Zeitschrift Morgenbote erschien. Angesichts dieser tiefen Risse zwischen Nord- und Süddeutschland, zwischen Stadt und Land sowie zwischen den Konfessionen hegten selbst die Befürworter einer »politischen Nation« große Zweifel, ob ein solches Projekt wirklich realisierbar wäre. Dem aufgeklärten Theologen und späteren Gothaer Generalsuperintendenten Karl Gottlieb Bretschneider928 erschien die »Auseinanderentwicklung der deutschen Volksteile [...] so weit gediehen«929, daß er es für fragwürdig hielt, überhaupt von »einem Volk« zu sprechen, wie seine Schrift Teutschland und Preußen (1806) deutlich macht: »Unendlich groß ist die Verschiedenheit zwischen dem Norden und dem Süden Teutschlands; auffallend der Unterschied in Sitten und Geisteskultur.«930 Deshalb kann sich der »Patriotismus«931 jeweils nur auf Teilstaaten beziehen, nicht auf »ganz Teutschland«932: »Denn was die Natur getrennt hat, kann der Mensch nicht einigen.«933 Bretschneider bezieht sich in seiner Nationalkonzeption durchaus auf den romantischen Kriterienkatalog (Sprache, Abstammung, Kultur, Sitten, Nationalcharaktere, Religion, politische Einheit),934 gelangt aber zu einem anderen Fazit: »[E]s giebt kein teutsches Reich mehr; sondern nur noch teutsche Staaten.«935 Der »teutscheste« dieser »teutschen Staaten« ist für Bretschneider Preußen, das »alle Eigenschaften hat, die ein Vereinigungspunkt der teutschen Völker haben muß«936. Angesichts dieser Debatten und der Rivalitäten zwischen den nördlichen und den südlichen Teilstaaten spottete der spätere Präsident der Akademie der Wissenschaften, Friedrich Thiersch,937 über die »vierfache[] Deutsch927
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Der Morgenbote. Eine Zeitschrift für die österreichischen Staaten. Hg. von Franz Xavier Huber. Wien 1809, S. 270. Zit. n. Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 207. Zu Bretschneiders Biographie vgl. Axel Lange: Von der fortschreitenden Freiheit eines Christenmenschen. Glaube und moderne Welt bei Karl Gottlieb Bretschneider. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1994 (Kontexte; 15), S. 9–33. Altgeld, Katholizismus (wie Anm. 870), S. 129. Karl Gottlieb Bretschneider: Teutschland und Preußen oder das Interesse Teutschlands am preußischen Staate. Von einem Nicht-Preußen. Berlin 1806, S. 7. Vgl. auch Lange, Christenmensch (wie Anm. 928), S. 20. Bretschneider, Teutschland (wie Anm. 930), S. 16. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 17–26. Was die Einheit der Religion angeht, macht Bretschneider freilich Abstriche: Verschiedene »Art[en] der Gottesverehrung« können demnach durchaus in einer Nation miteinander koexistieren, solange sie sich nicht gegenseitig bekämpfen. Ebd., S. 25. Ebd., S. 13. Ebd., S. 69. Eine solche Vereinigung kann – wenn sie denn überhaupt realisierbar ist – aber ohnehin nur den »Norden Teutschlands« betreffen. Zu Thiersch vgl. Josef Winiger: Ludwig Feuerbach. Denker der Menschlichkeit. Biographie. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2004, S. 24f.
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heit«938, die durch die wechselseitigen Bezichtigungen gleichsam als »unschätzbare[s] Nationalgut[]«939 der Deutschen etabliert werde. Gerade die »kulturnationale Entgegensetzung des protestantischen und katholischen Deutschlands«940 konstituierte in dieser Sichtweise ein nahezu unüberwindliches Hindernis für die – wohlgemerkt auch von Bretschneider erwünschte – deutsche Einheit; die wechselseitigen Angriffe und Streitschriften – die Wolfgang Altgelds Studie souverän zusammenstellt – schienen zudem die Kluft immer weiter zu vertiefen, obgleich in dialektischer Ambivalenz gerade die »unablässige[] Polemik«941 zur Herstellung jenes »deutschen Kommunikationszusammenhangs«942 erheblich beitrug, der für die Idee des Nationalismus konstitutive Funktion gewinnen sollte. Auch Joseph Görres sah später im Rheinischen Merkur die Problematik der »zwey verschiedene[n] Völkersysteme in Teutschland«943, jedoch unterschied er sich von Bretschneider in den Konsequenzen, die er aus diesem Befund zog. Während Bretschneider, wie bereits dargestellt, »Zweifel an der Wirklichkeit eines deutschen Volkstums«944 anmeldete und auf diese Weise sogar die bislang als ›objektiv‹ geltenden Nationsmerkmale gegen eine potentielle Einigung ausspielte, wollte Görres die Differenzen überbrücken und die »weit klaffende Wunde«945 heilen. In diesem Sinne kritisierte er bereits in der Zeitschrift Aurora (1804/05) »jenen schroffen Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschland«946, der immer wieder hervorgerufen werde: Nach Görres bilden vielmehr beide Teile eine »Totalität«947 und bringen so »Bindung und Zusammenhang«948 in die »bunte Mannigfaltigkeit«949 des »Vaterland[es]«950. 938
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Friedrich Thiersch: Betrachtungen über die angeblichen Unterschiede zwischen Süd- und Norddeutschland. Leipzig 1810, S. 5f. Hier zit. n. Johnston, Nationalmythos (wie Anm. 110), S. 207. Ebd. Altgeld, Katholizismus (wie Anm. 870), S. 129. Ebd., S. 160. Ebd. So im Artikel Österreich, Preußen und Bayern in der 124. Nr des Rheinischen Merkur (27. September 1814). Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 6–8: Rheinischer Merkur. 1. Band 1814. Hg. von Karl d’Ester, Hans A. Münster u. a. Köln: Gilde-Verlag 1928, o. Pag. Altgeld, Katholizismus (wie Anm. 870), S. 131. Im Artikel Österreich, Preußen und Bayern. Rheinischer Merkur 124 (17. September 1814). In: Görres, Schriften VI/VIII (wie Anm. 943), o. Pag. Im Artikel Nord- und Süddeutschland in der Aurora vom 17. Oktober 1804. In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg. Band 3: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803–1808). Hg. von Günther Müller. Köln: Gilde-Verlag 1926, S. 97. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Arnims Erzählung muß als Beitrag zu diesen kontroversen Debatten gelesen werden, harmonisiert sie doch – im Sinne der einschlägigen Artikel von Görres – jene Konflikte, die in Bretschneiders Augen die politische Einheit unmöglich erscheinen ließen; was freilich in Görres’ Texten immerhin noch ein – wenn auch lösbares – Hindernis darstellt, wird bei Arnim regelrecht marginalisiert. So erklärt der protestantische Erzähler, »daß die Unterschiede in den Lehrmeinungen uns fast nicht berühren«951 – sein Übertritt zum katholischen Glauben erfolgt so ohne jedwede dogmatische Motivation;952 und das nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches politisch dreigeteilte »Deutschland« ist mit den Tiroler Bergbauern, dem Bayern Max und dem preußischen IchErzähler komplett repräsentiert, wobei sich die früheren Kriegsgegner Max und Joseph alsbald wie »Zwillingsbr[ü]der«953 erscheinen. Die Motive ihrer einstigen Feindschaft sind nicht einmal mehr der Erwähnung wert. »Euer Unterschied zwischen Norddeutschland und Süddeutschland ist nirgends als in euren bösen Herzen«954, wird es 1815 in einem Text Ernst Moritz Arndts Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen955 heißen, in dem Arndt behauptet, daß Aretin und andere süddeutsche Publizisten in Organen wie der Allgemeinen Zeitung oder dem Nürnberger Korrespondenten eine Differenz erst geschaffen hätten, die so nie existiert habe: »Nie ist der deutsche Geist und die deutsche Liebe getrennt gewesen, wie ihr sie trennen wollt [...]. Es gibt keine Süddeutsche und keine Norddeutsche, und es soll keine geben, wo es darauf ankommt, das Vaterland zu stärken und zu verteidigen.«956 Wer Arnims Versöhnung liest und die zeitgenössische Publizistik gänzlich ausblendet, könnte das fast glauben.
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Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 606. Obgleich orthodoxer Lutheraner, bemühte sich Arnim auch weiterhin um eine publizistische und narrative Bewältigung konfessioneller Differenzen, wie seine späte Erzählung Die Kirchenordnung (1821) belegt. In: Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 189–258 sowie zur Interpretation Hermann F. Weiss: Achim von Arnims ›Kirchenordnung‹ und die religiöse Situation zu Beginn der Restaurationsepoche. In: Orbis Litterarum 31 (1976), S. 30–42. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 595. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Neunter Band: Geist der Zeit. Erster Teil. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 19f. Vgl. ebd., S. 5–70. Ebd., S. 20. Auch die konfessionellen Differenzen versucht Arndt zu nivellieren. Vgl. Johannes Krogoll: Reflexion – Utopie – Ideologie. Wandel romantischen Denkens zwischen 1795 und 1815. In: Zagreber germanistische Beiträge 1 (1993), S. 21–38, S. 35.
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Der Jude als Kapitalist: Halle und Jerusalem und Die Majorats-Herren
a) Cardenios Erlösungswerk »Sie rathen ihm die Ehre aufzugeben um das Geld?«957, fragt Pamphilio den reichen jüdischen Handelsmann Nathan in Halle, dem ersten Teil von Arnims »uferlose[m]«958 und »eigentlich nicht aufführbare[m]«959 Doppeldrama Halle und Jerusalem.960 Für Nathan versteht sich die Antwort gleichsam von selbst: »Was ist die Ehre, lieber Gott, wen hat sie satt gemacht, getränkt, gekleidet? Wer kann mich hindern, wenn ich sitz in meinem Hause, [...] zu glauben, ich hätte alle Ehre wie der König Salomo. Geld aber, mein gelehrter Herr, vom Gelde lebt man, vom Leben kommen Jahre, jedes Jahr trägt Zinsen, ich wollt es gäb zehn Jahr in einem, da wollt ich recht leben.«961 Diese eigenwillige Hierarchie der Werte, in der die materielle Sphäre Vorrang vor der dem subjektiven Belieben anheim gestellten moralischen Ebene bekommt, demonstriert Nathan im sechsten Auftritt des zweiten Aktes anschaulich:962 Von dem 957 958
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Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 99. Detlef Kremer: Durch die Wüste. Achim von Arnims uferloses Drama Halle und Jerusalem. In: Das romantische Drama. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 103), S. 137. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 257. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 1–400. Ich zitiere nach dem achten Band der von Wilhelm Grimm und Bettine von Arnim herausgegebenen Sämmtliche[n] Werke (1857), die 1982 nachgedruckt wurden. In der von dem Deutschen Klassiker-Verlag veranstalteten sechsbändigen Werkausgabe Arnims wurde die dramatische Produktion »entgegen dem ursprünglichen Plan« – so Gerhard Schulz: Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 103), S. 2 – nicht berücksichtigt. Die Arnim-Forschung der jüngsten Vergangenheit richtete ihr Augenmerk aber wieder stärker auf den Dramatiker Arnim. Zu Halle und Jerusalem vgl. Ricklefs, Arnims Städtedrama (wie Anm. 36), S. 143–243 und Kremer, Durch die Wüste (wie Anm. 958), S. 137–157. Aus der etwas älteren Forschung ragt der Beitrag Lothar Ehrlichs heraus: Ehrlich, Arnim als Dramatiker (wie Anm. 47), S. 88–138. Vgl. auch Roger Paulin: Gryphius ›Cardenio und Celinde‹ und Arnims ›Halle und Jerusalem‹. Eine vergleichende Untersuchung. Tübingen: Max Niemeyer 1968 (Studien zur deutschen Literatur; 11); Gerhard Falkner: Die Dramen Achim von Arnims. Ein Beitrag zur Dramaturgie der Romantik. Zürich: Atlantis 1962 (Züricher Beiträge zur Geistesgeschichte; 20); D. Streller, Arnim und das Drama (wie Anm. 610) sowie Heinz Wolff: Die Dramen »Halle und Jerusalem« und »Die Gleichen« im Zusammenhang der religiösen Entwicklung Ludwig Achim von Arnims. Göttingen 1936, S. 31–81. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 99f. Vgl. ebd., S. 93–99.
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Grafen Lysander, der einen kurzfristigen Kredit braucht, um die Heirat mit der schönen Olympie finanzieren zu können, verlangt er stattliche neun Prozent Zinsen. Lysander akzeptiert jedoch die horrenden Forderungen des Juden; als der künftige Ehemann dann frohlockt, ohnehin durch Olympies Liebe reich zu werden, schließt Nathan in einem signifikanten Missverständnis auf eine üppige Mitgift der Braut.963 Der Händler, für den die Vermehrung seines Reichtums oberste Priorität besitzt, hat damit jedoch sein letztes großes Geschäft abgeschlossen. Der Privatdozent Cardenio nimmt dem betrunkenen Handelsmann – Nathan hatte seinen vermeintlichen geschäftlichen Erfolg kräftig begossen – die für Lysander gedachten 1000 Taler ab; daraufhin glaubt sich der Jude ruiniert und stirbt prompt.964 Für die Haupthandlung von Halle besitzt die Judensatire nur eine retardierende Funktion. Im Mittelpunkt der drei Akte und der 49 Auftritte steht eine Liebesgeschichte. Gemeinsam mit Cardenio buhlt Lysander um Olympies Gunst und bekommt nach einigen Turbulenzen schließlich den Vorzug. Der geschmähte Cardenio darf sich im zweiten Teil des Doppeldramas damit trösten, als unwissentlicher Halbbruder seiner Angebeteten einem möglichen Inzest nur knapp entgangen zu sein.965 Gleichwohl würde eine Interpretation, die die judenfeindlichen Szenen nur als eine unerfreuliche Begleiterscheinung des Stückes wertet,966 zu kurz greifen. Nathan ist nämlich nicht der einzige, der im Handlungsverlauf von Halle nach einer Konfrontation mit Cardenio auf der Strecke bleibt. Der Aufklärungsphilosoph Wagner findet ein ähnlich kurioses Ende wie Nathan,967 der kriminelle Hauptmann Volte und der Prediger Lyrer fallen durch das Schwert des Privatdozenten. Lyrer, der mit einer Schutzbefohlenen schläft und damit die Doppelbödigkeit bestimmter kirchlicher Kreise repräsentiert,968 und der Falschspieler Volte969 haben die mit ihren Positionen verbundene Verantwortung nicht erkannt und damit ihren Teil zu der moralischen Degeneration in Kirche und Militär beigetragen. Der rationalistische Aufklärer Wagner stirbt im Disput mit Cardenio unter grotesken Umständen, nämlich »an seiner Schlüsse ungeheurer Folge, an einem Untersatz [...], der alles schließen sollte«970. Daß er die Bedeutung der Religion und damit die transzendente Bezogenheit des irdischen Lebens negiert, wird ihm zum Verhängnis: »[D]as Den963 964 965 966
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Vgl. ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 100–109. Vgl. ebd., S. 336–340. Detlef Kremer spricht von einem »faden Nachgeschmack«, den der »antijudaistische[] Affekt« des Textes hinterlasse. Kremer, Durch die Wüste (wie Anm. 958), S. 144. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 22–32. Vgl. ebd., S. 143–148. Vgl. ebd., S. 102. Ebd., S. 29.
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ken ist ein Tanzen auf dem Seile, das zwischen Gott und Menschenleben ist gespannt, er spannte dies von einer Seite nur, sein Menschenleben suchte er mit stark erregenden Potenzen mehr zu stärken und Gott verließ er, so verließ ihn Gott, da stürzt er über«971, kommentiert Becker, einer der umstehenden Studenten, das seltsame Ende des Philosophen. Wie Lothar Ehrlich in seiner Dissertation über Arnim als Dramatiker gezeigt hat, wollte der Autor mit dem ersten Teil von Halle und Jerusalem durch die »Reproduktion zeitgeschichtlicher Probleme in einem Gegenwartsstück«972 zu einem neuen romantischen Dramentyp gelangen.973 Deshalb situiert Arnim die Handlung in einer Szenerie, die die Atmosphäre einer Universitätsstadt um 1800 einzufangen vermag;974 deshalb aber auch läßt er jene Figuren, die gesellschaftliche Fehlentwicklungen repräsentieren sollen, sowohl im eloquenten Wortgefecht als auch im handfesten Schwertkampf von seinem als »besonderes Ingenium«975 charakterisierten Helden aus dem Weg räumen. Insofern geht es – hier ist Gerhard Scheit zuzustimmen – nicht nur dem »Ewigen Juden« Ahasverus um ein »Erlösungswerk«976, sondern auch seinem Sohn Cardenio; allerdings will der von einer leitmotivisch wiederkehrenden »Todessehnsucht«977 heimgesuchte Privatdozent nicht nur »die ganze Welt von sich selbst erlösen«978, sondern er erlöst zunächst einmal die deutsche Gesellschaft von ihren Feinden. Es ist das Erlösungswerk der Politischen Romantik, für das Cardenio eintritt. Er kämpft gegen die Philosophie der Aufklärung (Wagner), gegen den Kapitalismus (Nathan), gegen die Entehrung der Stände durch kor971 972 973
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Ebd., S. 31f. Ehrlich, Arnim als Dramatiker (wie Anm. 47), S. 90. Auf die wirkungsästhetischen Aspekte von Arnims dramatischer Produktion verweisen neuerdings auch Edi Spoglianti: Arnims Plan eines nationalen Volkstheaters. In: »Frische Jugend, reich an Hoffen«. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 2), S. 189–199 und Lothar Ehrlich: Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt und die »Schaubühne« von 1813. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809–1814). Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Ulfert Ricklefs. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 1), S. 101–115, die freilich nicht explizit auf Halle und Jerusalem eingehen. Der gewohnt kritische Jacob Grimm monierte freilich in einem Brief vom 22. Januar 1811, daß Arnim genau dies eben nicht gelungen sei: »In den Studentenscenen hätte ich mehr Treue, womit Du doch einst darin gelebt, erwartet: aus Deinen Studenten, die Du alle gegen den Cardenio schlecht machst, kann man das Herrliche und Gute dieses Lebens nicht sehen.« In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 97–101, hier S. 99. So der Student Suppius. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 37f. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 260. Ebd., S. 261. Ebd., S. 260.
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rumpierte Vertreter (Volte, Lyrer) und gegen die Dechristianisierung der Gesellschaft (Wagner, Nathan, Lyrer).979 In diesem Kontext gewinnt freilich auch die Judensatire zeitdiagnostischen und mithin politischen Gehalt; dieser Gehalt verstärkt sich noch, indem Nathan ein weit über seinen Geldverleih hinausreichender Einfluß bescheinigt wird. »Du mußt bald fort von hier, nothwendig ist es dir, wenn auch des Philosophen Tod dir nicht kann zugerechnet werden, des Spielers Tod verheimlicht bleibt; der Streich mit Nathan macht zu vielen Lärm, der Nathan ist der beste Freund von dem Minister, gewissermaßen hilft er ihm regieren, der Streich kann dir nicht gut bekommen«980, warnt Pamphilio seinen Freund Cardenio vor dem mächtigen Umfeld des Handelsmannes. Der Jude mit den fragwürdigen Moralvorstellungen hat demnach einflußreiche Freunde auf höchster Ebene und zieht sogar im Hintergrund die Fäden der Regierungspolitik. Auch ist durch seinen Tod die Problematik keineswegs ausgestanden: Nathanael, dem Sohn Nathans, gelingt es, in die gesellschaftliche Elite aufzusteigen. Er legt sich »einen Grafentitel«981 zu und ersteht zudem für »einen Spottpreis«982 das große Stammhaus von Baron Viren, dem Bruder Olympies. Damit führt Nathanael das Erbe seines Vaters in dessen Sinne weiter. Der literarische Topos vom »Wucher- und Schacherjuden« wird in Halle nicht nur reaktiviert, sondern im Rahmen einer umfassenderen Gesellschaftskritik gleichsam für die aktuellen politischen Auseinandersetzungen dienstbar gemacht. Der erste Teil von Arnims Doppeldrama gehört daher ebenfalls zu jenen romantischen Texten, in denen nach Wolfgang Frühwald »der Jude wie selbstverständlich zum Inbegriff des die Welt verdinglichenden Kapitals wurde, zum Bild eines Geldwesens, welches wie in Sparta zum zerstörenden Gift der festgefügten Gesellschaftsstrukturen wurde«983. Als bekannteste Beispiele für diese »Verbildlichung ökonomischer Prozesse«984 nennt Frühwald neben Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, Clemens Brentanos Kaufmannsmärchen und diversen Satiren Joseph von Eichendorffs mit Die Majorats-Herren auch jene Erzählung Achim von Arnims, die in der Forschung zuweilen – mit Recht – als die »beste und dichteste«985 des Romantikers gerühmt wird.
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Wenn hier auf diese Sachverhalte hingewiesen wird, so geschieht dies in kritischer Abgrenzung zu Detlef Kremer, der kürzlich politische Lesarten von Halle und Jerusalem und ihre Ergebnisse pauschal als »langweilig« denunziert hat. Vgl. Kremer, Durch die Wüste (wie Anm. 958), S. 138. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 110. Ebd., S. 376. Ebd. Frühwald, Antijudaismus (wie Anm. 57), S. 85. Ebd. So Härtl, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 56), S. 1167.
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b) Juden als Profiteure einer Zeitenwende In den Majorats-Herren findet sich eine bezeichnende Parallele zu Halle: »[W]er mir mein Vermögen nimmt, der nimmt mir mein Leben«986 hatte Nathan gesagt und war dann tatsächlich an dem Verlust von 1000 Talern gestorben.987 Über einen jüdischen Pferdehändler in den Majorats-Herren wird nun berichtet, daß er durch den Betrug eines Handelsgenossen sein Vermögen verloren habe. »Da gings ihm knapp; das konnte er nicht vertragen, und starb.«988 Das Stereotyp vom Juden, für den Geld im wahrsten Sinne des Wortes die Bedeutung eines Lebenselixiers besitzt, findet also neuerlich Verwendung. Obwohl der schon vor Beginn der eigentlichen Handlung verstorbene Pferdehändler nur noch in den Erinnerungen der Protagonisten präsent ist, spielt er eine wichtige Rolle, sind die erzählten Geschehnisse doch letztlich durch eine dreißig Jahre zurückliegende Begebenheit, die in der Erzählung allmählich enthüllt wird, determiniert.989 Der alte Majoratsherr hatte damals, um seinen ungeliebten Neffen – er wird in der Erzählung entweder als »Vetter« oder als »Leutnant« bezeichnet – aus der Erbfolge um das Majorat ausschließen zu können, mit dem besagten Pferdehändler ein fatales Geschäft abgeschlossen. Er überließ seine nicht erbberechtigte Tochter dem Juden und gab stattdessen den Sohn einer Hofdame als sein Kind aus. In der Gegenwartshandlung erfährt der nach langen Jahren in Paris zurückgekehrte Majoratsherr, der sich – aus Scheu vor dem Majoratshaus – gegenüber der Judengasse bei dem seinerzeit ausgebooteten Vetter einquartiert hat, im Laufe von vier Nächten durch Esther das Geheimnis seiner Herkunft. Am Ende der Erzählung stirbt der Majoratsherr unter mysteriösen Umständen am Bett Esthers, die zuvor von ihrer Stiefmutter Vasthi erwürgt worden war. Das Majorat bekommt danach zunächst die ältere Generation, bevor es zum Schluß Vasthi in die Hände fällt, die es zu einer Salmiakfabrik umbaut. Die Bezugnahme des Textes auf die Debatten um die Assimilation und Emanzipation der Juden wird schon am Schicksal Esthers offenkundig: Die Christin wächst bei einem jüdischen Pflegevater auf – sie befindet sich also in der gleichen Situation wie Recha, die in christlichem Glauben geborene Waise aus Lessings Nathan der Weise (1779), einem Text, der in Arnims Erzählung auch erwähnt wird.990 Doch während bei Lessing die Adoption als ein Akt großer Humanität erscheint – zumal Nathans eigene Kinder und seine Frau
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Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 98f. Vgl. noch einmal ebd., S. 105–109. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 113. Zu den Majorats-Herren als Detektivgeschichte vgl. Rainer Schönhaar: Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800. Bad Homburg, Berlin, Zürich: Gehlen 1969, S. 103–105. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 128.
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einem Pogrom der Christen zum Opfer gefallen waren991 – handelt Esthers Pflegevater zunächst einmal aus rein materiellen Motiven. Daß er Esther besser behandelt, als es ihr christlicher Vater getan hatte, bleibt unbestritten, geschieht aber ebenfalls aus nicht ganz uneigennützigen Erwägungen, ist die schöne Esther doch gut für das Geschäft, »[w]eil sie mit ihrem Wesen dem Vater gute Käufer anlockte«992. Arnim betreibt mit der Anspielung auf Lessings Stück offenkundig Aufklärungskritik. Es geht ihm nicht darum, »den Humanitätsgehalt dieser Dichtung assoziierbar zu machen«993, wie Heinz Härtl vermutet, sondern um kritische Distanz zu den toleranten Ideen, die im Nathan vertreten werden. Dies belegt auch der Kontext, in dem Lessings Text in den Majorats-Herren Erwähnung findet. In jener nächtlichen, geisterhaften Unterredung,994 in der Esther den Majoratsherren über seine und ihre Herkunft aufklärt, fragt sie, ob er den Nathan gelesen habe: »Nun gut, Sie werden der Mutter an die Brust gegeben, wie die Nachtigall auch Kuckuckseier ausbrütet; doch es versteht sich, ohne etwas Böses damit sagen zu wollen.«995 Durch den despektierlichen Vergleich mit dem Kuckucksei wird die ehrenvolle Haltung, die Lessings Protagonist demonstriert hatte, indem er nach der Ermordung seiner sieben Kinder dem aufgenommenen Christenkind die »siebenfache Liebe« (IV, 7) zukommen ließ,996 noch einmal konterkariert. Auch die Tatsache, daß der üble Wucherer im Drama Halle den gleichen Namen trägt wie Lessings »Weiser«, spricht dafür, daß getrost von einer kritischen Lessing-Rezeption durch Arnim ausgegangen werden darf. Arnims Darstellung des Pferdehändlers fällt zwar etwas differenzierter aus als die seines Nathan, aber letztlich bleibt auch sie dem Stereotyp des »Scha-
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Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Zweiter Band: Trauerspiele. Nathan. Dramatische Fragmente. Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 205–347, hier S. 316f. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 113. Härtl, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 56), S. 1167. Zwischen Esther und dem Majoratsherren herrscht eine telepathische Verbindung. Bei der Gestaltung des Verhältnisses seiner beiden Liebenden hat der mit den Ideen des Mesmerismus bestens vertraute Arnim diese »romantische Wissenschaft« gleichsam literarisiert, »[...] um getrennte Seelen in Sehnsucht miteinander zu verbinden und die Perspektive auf die geistige Welt zu öffnen«, wie Gerhard Kluge: Gotthilf Heinrich Schuberts Auffassung vom tierischen Magnetismus und Achim von Arnims Erzählung Die Majoratsherren. In: Aurora 46 (1986), S. 169 schreibt. Vgl. zum »telepathische[n] Rapport« zwischen Esther und dem Majoratsherren vor allem auch Barkhoff, Magnetische Fiktionen (wie Anm. 893), S. 185– 191, Zitat S. 186, der gegenüber anderen Forschungsmeinungen auch sehr plausibel begründet, daß sich Esther der »mitfühlenden Präsenz« des Majoratsherren durchaus bewußt ist. Zitat ebd. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 108. Lessing, Werke II (wie Anm. 991), S. 317.
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cherjuden« – und nicht dem des »Ehrenmann[es]«997, wie Helene M. Kastinger Riley annimmt – verpflichtet; von einer individuellen Motivierung des Charakters kann nicht gesprochen werden. Daß der Pflegevater Esthers als »großer Roßtäuscher«998 bezeichnet wird, muß zwar Peter Philipp Riedl zufolge nicht unbedingt pejorativ verstanden werden999 – die wertneutrale Variante »Roßhändler« hätte Arnim gleichwohl zur Verfügung gestanden, und er verwendet sie später ja auch.1000 Geradezu harmlos nimmt sich der Geschäftssinn des Pferdehändlers freilich gegenüber dem dunklen Treiben seiner Frau aus. Vasthi, die nach Heinrich Henel in Arnims Erzählung als »Prototyp de[s] Juden«1001 fungiert, ist »gierig, geizig und gemein«1002. Da sie als »ein grimmig Judenweib, mit einer Nase wie ein Adler, mit Augen wie Karfunkel, einer Haut wie geräucherte Gänsebrust [und] einem Bauche wie ein Bürgermeister«1003 in die Handlung eingeführt wird, entspricht auch ihr äußeres Erscheinungsbild ihrem bösartigen Charakter. Dem jungen Majoratsherren, der kraft eines besonderen Erkenntnisvermögens die tiefere Wahrheit hinter der bloßen Oberfläche der Erscheinungen zu erfassen vermag, wird die Gefährlichkeit Vasthis sofort bewußt: Er hält ihr Kopftuch für einen »schwarzen Raben«1004 und erschrickt. Weil er bei Esther und nicht bei ihr einkaufen will, bekommt Vasthi – gleichsam als Repräsentantin jüdischen Geschäftsgebarens1005 – einen Tobsuchtsanfall, »[...] und nun erschallte hinter ihm ein fürchterliches Rabengekrächze aus dem Munde der alten Jüdin. In halb hebräischen Schimpfreden, und im verzerrtesten Judendialect, zeihte sie die arme Tochter der Unkeuschheit, mit der sie Christen in ihren Laden locke, um ihrer eigenen Mutter den Verdienst zu rauben, und verfluchte sie dabei zu allen Martern«1006. Damit aber freilich nicht genug: »Endlich ließ der Atem des wütenden Weibes nach, der trotz der warmen Luft, wie im Winter geraucht hatte, und sie hetzte vergeblich ein Paar vorübergehende kleine Buben auf, daß sie ihr sollten schimpfen helfen, wofür sie ihnen Kuchen versprach.«1007 Weil ein Kunde zu Vasthi will, ist der wüste Auftritt der alten Frau zwischenzeitlich beendet; als Esther jedoch später dem Majo997
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Kastinger Riley, Politik einer Mythologie (wie Anm. 49), S. 31; vgl. auch Ulfert Ricklefs, der vom »edlen jüdischen Handelsherren« spricht: Ulfert Ricklefs: Sprachen der Liebe bei Achim von Arnim. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. von Walter Hinderer. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997 (Stiftung für Romantikforschung; 3), S. 242. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 113. Vgl. Riedl, Schachern (wie Anm. 58), S. 77. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 127. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 168. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 151. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 122. Ebd. Vgl. Riedl, Schachern (wie Anm. 58), S. 78–80. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 122f. Ebd., S. 123.
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ratsherren zu viel bezahltes Geld zurückgibt, kommentiert Vasthi das erneut mit bösartigem, hebräischem Gekeife.1008 Nach einer bei Christof Wingertszahn erstmals dokumentierten Textvorstufe1009 sollte bei dieser Szene im Laden eigentlich ein direkter Verweis auf das biblische Buch Esther erfolgen, wenn der von Esther faszinierte Majoratsherr sich denkt, »daß sie [Esther, M. P.] den Thron besteigen und die Judengasse eröffnen werde, um die ungläubigen Christen hineinzusperren«1010. Am Ende der Erzählung werden die Juden tatsächlich »aus der engen Gasse befreit«1011, aber eben durch Vasthi, und – wie Wingertszahn formuliert – »nach der antijüdischen Tendenz der Erzählung auf eine unbiblische, kapitalistische Weise«1012. Arnim kritisiert das durch die Regierung Hardenbergs ermöglichte Edikt vom 11. März 1812 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate unverblümt, indem er die Judenbefreiung mit der Einsperrung des Kontinents kontrastiert. Als Nutznießerin der durch die »Herrschaft der Fremden«1013 eingeleiteten Entwicklungen, die »de[n] Credit an die Stelle des Lehnrechts«1014 treten lassen, figuriert ausgerechnet die unsägliche Vasthi, die in die »Gunst der neuen Regierung«1015 kommt und als clevere Geschäftsfrau alle anderen Figuren der Erzählung überlebt. Zugleich denunziert Arnim Juden als Kriegsprofiteure, wenn er seinen Erzähler berichten läßt, daß Vasthi die revolutionäre Umbruchphase mit »viel heimliche[m] Handelsverkehr auf Schleichwegen«1016 zu nutzen gewußt hätte. Indem Vasthi und mit ihr das Judentum auf diese Weise als Triumphator einer historischen Entwicklung erscheinen, die zu Lasten der deutschen Länder geht, bekommt auch hier – wie schon in Halle – die Darstellung des »Schacherjuden« politischen Gehalt. Die unheilvolle Allianz zwischen Antikapitalismus und Antisemitismus ist geschlossen; Arnims Juden sind rücksichtslose Kapitalisten und daher Repräsentanten einer gesellschaftlichen Entwicklung, die der Autor als fatal begreift und daher einer schonungslosen Kritik unterzieht. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Argument Friedrich Stracks zumindest heuristischen Wert. Strack versucht in seiner Interpretation der MajoratsHerren durch eine Rehabilitation Vasthis den gegenüber Arnim in der Forschung erhobenen Antisemitismus-Vorwurf zu entkräften. Er konzediert, daß 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016
Vgl. ebd., S. 124. Vgl. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 609f.; auch in Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 1042f. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 609 bzw. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 1042. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 146. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 233. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 146. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd., S. 146.
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Vasthi rein materiell eingestellt und nur auf ihren Vorteil bedacht sei; »gegenüber den Lastern des Adels jedoch fällt dies kaum ins Gewicht«1017. Genau umgekehrt indes scheint es zu sein. Freilich, das Ancien Regime, in der Erzählung vertreten durch die Hofdame, den Leutnant und die Einrichtung des Majorates selbst, wird ebenfalls wenig schmeichelhaft gezeichnet. So ist es der einzige Lebenszweck der Hofdame, sich an dem Leutnant zu rächen, der einst ihren Geliebten im Duell getötet hatte. Deshalb hat sie den Vetter, der seit dreißig Jahren um sie wirbt, weder erhört noch freigegeben und obendrein seine berufliche Karriere hintertrieben.1018 Über die Intrigen gegen den beharrlichen Verehrer ist die einstmals schöne Frau zu einem »grotesk aufgeputzte[n] Popanz«1019 verkommen, der von dem Erzähler mal mit einem Wirtshausschild,1020 mal mit einem »chinesische[n] Feuerwerk«1021 verglichen wird. Der pedantische Leutnant wiederum repräsentiert einen korrupt gewordenen Adel, weil er immer wieder Teile seiner Wappensammlung »zu hohen Preisen«1022 verkauft;1023 zudem hat er den Tod zweier Menschen mitzuverantworten, denn ihn trifft auch eine große Mitschuld am Selbstmord eines Dragoners, der Esther aus dem Ghetto führen wollte.1024 Doch im Unterschied zu Vasthi erscheinen der Vetter und die Hofdame als Opfer und Täter zugleich; die Schrulligkeit und Bösartigkeit dieser Figuren ist – im Gegensatz zur Niederträchtigkeit Vasthis – durch ihre Vorgeschichte motiviert. Die Hofdame hat ihre große Liebe verloren; der »antiquarische[] Ancien-regime-Leutnant[]«1025 wiederum ist der Hofdame nach wie vor verfallen und leidet unter ihren Intrigen. Daß der namenlose Protagonist wechselweise als »Vetter« oder »Leutnant« bezeichnet wird, verweist auf seine beiden gescheiterten Lebensentwürfe; als ausgebooteter Verwandter gehört dieser »ausgesprochene Pechvogel«1026 (Gerhart von Graevenitz) auch zu den Opfern der unbeweglichen Institution des Majorates. Die Problematik dieser Einrichtung erkennt der junge Majoratsherr, als er vor dem Gebäude steht, dank seiner seherischen Gabe sofort: »Bewahre der 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 1026
Strack, Phantasie (wie Anm. 7), S. 68. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 131. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 144. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 111. Ebd., S. 130. Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 137. Ricklefs, Sprachen der Liebe (wie Anm. 997), S. 240. Gerhart von Graevenitz: Die Majoratsherren der Juden oder Achim von Arnims antisemitische querelle des anciens e de modernes. In: Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. Hg. von Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke. München: Fink 2003, S. 210–229, hier S. 217. Gerhart von Graevenitz beschreibt ebd. die Misere des Pechvogels wie folgt: »[O]hne Besitz, denn das den Titel gebende Majorat hat ein Vetter geerbt, ohne Frau, denn seine Angebetete liebte einen anderen, und ohne Karriere.«
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Himmel [...]; ich wollte, daß ich es nie gesehen hätte; die großen Steine scheinen mit Hunger und Kummer zusammengemauert. [...] Gott, das ist hart, [...] das kann den Erben keinen Segen bringen!«1027 Schon zu Beginn hatte der Erzähler in pointierten Einlassungen die Institution als »stiftungsgemäß weiterwachsende[s] Monument einer völlig unnütz, ja grotesk gewordenen Tradition«1028 (Gottfried Knapp) enttarnt; selbst die soziale Funktion, die dem Majorat noch zugesprochen werden muß, weil der Haushofmeister »jeden Sonnabend eine gewisse Zahl von Pfennigen an die Armen im Hofe aus[teilt]«1029, wird dadurch relativiert, daß sich »unter diesen Armen«1030 durchaus auch »die Verwandten dieses Hauses [hätten] einfinden können, dessen jüngere Linien bei der Bildung des großen Majorats völlig vergessen worden waren«1031. »Das Alte selbst ist wurmstichig geworden«1032, konstatiert Luciano Zagari zu Recht; daß jedoch die Defizite der alten Welt harmlos erscheinen im Vergleich zu dem von Vasthi repräsentierten Kapitalismus, offenbart sich spätestens, als nach dem Tod der jungen Generation der Leutnant doch noch das 1027 1028
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Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 130. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 142. Dem Forschungskonsens bezüglich der negativen Einschätzung der Einrichtung des Majorats widerspricht Patricia Hallstein, die betont, daß primär die durch den Kindertausch herbeigeführte »Störung« der »überlieferten Ordnung« für die Entwurzelung der jungen Generation sorgt. »In Arnims ›Majoratsherren‹ [...] ist es nicht das Majorat, von dem das Unglück [...] ausgeht, sondern die persönliche Schuld der älteren Generation [...].« Ohne die Intrige des alten Majoratsherren und der Hofdame hätte vielleicht eine Nebenlinie den »Fortbestand der Familie« garantieren können; Hallstein stützt ihre Argumentation mit dem Verweis auf den einwandfreien Zustand des Hauses, das im Vergleich zu Hoffmanns »Schloß von R...sitten« in der Erzählung Das Majorat »keinerlei Verfallserscheinungen« aufweist. Patricia Hallstein: Die Zeitstruktur in narrativen Texten. Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns »Das Majorat« und Achim von Arnims »Die Majoratsherren«. München: Belville o. J. [1997] (Reihe Theorie und Praxis der Interpretation; 3), S. 160. Hallsteins Überlegungen sind bedenkenswert, und sicherlich betont Arnim die persönliche Schuld stärker als die institutionelle; gleichwohl kann m. E. nicht von einer positiven Bewertung dieser Tradition durch Arnim ausgegangen werden. Bereits erwähnt wurde, daß der Autor den jungen Majoratsherren, der auch sonst in seinen Einsichten unwiderlegt bleibt, den Bannspruch über diese Institution sprechen läßt, und daß die Erzählung das Schicksal der unberücksichtigt gebliebenen Nebenlinien thematisiert. Dazu kommt noch Arnims persönliche Lage, litt er doch selbst unter der mangelnden Flexibilität dieser Einrichtung. Vgl. Kastinger Riley, Arnim (wie Anm. 77), S. 76f. und Peter Philipp Riedl: Die Zeichen der Krise. Erbe und Eigentum in Achim von Arnims Die Majoratsherren und E.T.A. Hoffmanns Das Majorat. In: Aurora 52 (1992), S. 17–50, hier S. 23f. Riedl erläutert auch ausführlich die Geschichte dieser Institution. Vgl. ebd., S. 19–23. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 108. Ebd. Ebd. Zagari, Revolution (wie Anm. 116), S. 33.
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Majorat und die Hand der Hofdame erlangt.1033 Die Hofdame erhört ihren langjährigen Verehrer nur, um ihn anschließend noch mehr demütigen zu können; letztlich muß der glücklose Vetter sogar dem »Lieblingshund«1034 seiner Angetrauten aufwarten, was Günter Oesterle als eine weitere antirevolutionäre Pointe der Erzählung begreift: »Parallel zum Zerfall der Ständeordnung in der Revolution wird hier die Mensch-Tierhierarchie karikaturesk auf den Kopf gestellt.«1035 Die Herrschaft des kuriosen Duos bleibt jedoch ein groteskes Intermezzo, das ein baldiges Ende findet: »Es war eine so unruhige Zeit, daß die alten Leute gar nicht mehr mitkommen konnten, und deswegen unbemerkt abstarben«1036, berichtet der Erzähler lakonisch. Während die Alten in einer »für sie fremden Welt, der auch sie fremd [geworden] sind«1037, keinen gesellschaftlichen Einfluß mehr erlangen, nutzt Vasthi die Gunst der Stunde: Sie erwirbt das Majoratshaus und baut es in eine Salmiakfabrik um.1038 Die gesellschaftliche Funktionslosigkeit des Majorates war – wie erwähnt – durch den Erzähler gleich zu Beginn des Textes schonungslos enttarnt worden. Nun jedoch mutiert das alte Anwesen, das vorher »zu Niemands Gebrauch«1039, aber immerhin noch »zu Jedermanns Anschauen«1040 herumgestanden hatte, von einer bestaunten Merkwürdigkeit zu einer – wegen des üblen Salmiakgeruches1041 – konkreten Belästigung für die Bürger. Initiator dieses fatalen Wandels ist die gräßliche Vasthi, die als jüdische Fabrikbesitzerin eine düstere Zukunftsperspektive verkörpert und die damit weitaus gefährlicher erscheint als die Vertreter des Ancien Regime, die als schrullige Sonderlinge von den Zeitläuften geradezu überrollt werden. Fassen wir zusammen: Strack hat fraglos Recht, wenn er darauf verweist, daß Vasthi nicht als einzige negativ gezeichnete Figur in den Majorats-Herren auftritt. Seine These, daß sie an Bösartigkeit ihre adeligen Gegenspieler »um keinen Deut«1042 übertreffe, ist jedoch aus zwei Gründen zurückzuweisen. Zum einen werden die absonderlichen und makabren Verhaltensweisen der 1033 1034 1035
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Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 144–146. Ebd., S. 146. Günter Oesterle: »Illegitime Kreuzungen«. Zur Ikonität und Temporalität des Grotesken in Achim von Arnims »Die Majoratsherren«. In: Etudes Germaniques 43 (1988), S. 34. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 146. Konrad Kratzsch: Untersuchungen zur Genese und Struktur der Erzählungen Ludwig Achim von Arnims. Phil. Diss. masch. Weimar 1960, S. 112. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 147. Ebd., S. 108. Ebd. Vgl. ebd., S. 147. Strack, Phantasie (wie Anm. 7), S. 67. Ähnlich urteilt Renate Moerings Kommentar in Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 1030–1057, hier S. 1038: »Vor allem aber sind die Verwandten des Majoratsherren in keiner Weise bessere Menschen [als Vasthi, M. P.]«, schreibt Moering, die die Erzählung auch deshalb als »nicht antisemitisch« einstuft.
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Hofdame und des Leutnants aus ihren persönlichen Schicksalen heraus erklärt, was zwangsläufig zu einer milderen Beurteilung dieser beiden Protagonisten führen muß. Zum anderen haben die Vertreter des Ancien Regime auf die gesellschaftliche Entwicklung keinen Einfluß mehr. Die grundlos böse Jüdin Vasthi dagegen überlebt alle anderen Figuren der Erzählung und prägt jene Zeit, in der »der Credit an die Stelle des Lehnrechts«1043 tritt, an maßgeblicher Stelle mit. c) Der Jude und die Familie Vasthi zeichnet in doppelter Hinsicht für das »gallig bitter[e]«1044 Ende der Majorats-Herren verantwortlich. Auf der politischen Ebene repräsentiert sie in der ausführlich beschriebenen Weise den kalten Erwerbsgeist des beginnenden Kapitalismus, der die in der Einleitung noch wehmutsvoll beschworene frühere »Höhe geistiger Klarheit«1045 und jene mit einem »Reichtum [an] [...] Erscheinungen«1046 gesegnete »Fabelwelt«1047 verdrängte; auf der privaten Ebene der Erzählung führt sie mit dem Mord an Esther ebenfalls die Katastrophe herbei. Es ist in der Forschung bisweilen versucht worden, Vasthis Tötungsdelikt als »eine Art Sterbehilfe«1048 zu interpretieren und damit ihr Verbrechen zu mildern. Die Rolle des Todesengels nimmt Vasthi freilich nur in der Vision des Majoratsherren ein, der den Mord von seinem Fenster aus beobachtet und Esther erst sehr spät – letztlich zu spät – zu Hilfe eilt.1049 Wie alle Visionen des Majoratsherren, so spricht auch diese wahr; entlasten kann sie Vasthi gleichwohl nicht. Der Tod ist für die schon lange leidende Esther in der Tat eine Erlösung, doch an ihrer mißlichen Situation in der Judengasse hatte die bösartige Stiefmutter ja einen gehörigen Anteil. Gottfried Knapp beschreibt das häusliche Zusammenleben der beiden Frauen trefflich: »Esther ist völlig verschreckt und eingeschüchtert, ganz pflanzenhaft leidend neben der tierisch keifenden Vasthi und ständig auf dem Rückzug vor ihr.«1050 Vasthi hatte zudem Esthers letzte Möglichkeit, der bedrückenden Judengasse zu entkommen, vereitelt, indem sie gemeinsam mit anderen Juden einen jungen Dragoner verprügelte, der Esther heiraten und ihr damit eine Perspektive außerhalb des Ghettos bieten wollte. Der Soldat, wegen des Vorfalls vor seinem Regiment kompromittiert und deshalb auch in Unehren entlassen, wählte auf Anraten des unbarmherzigen Leutnants den Freitod.1051 Als Vasthi 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051
Ebd., S. 147. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 139. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 107. Ebd. Ebd. Strack, Phantasie (wie Anm. 7), S. 67. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 141–144. Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 152. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 136f.
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nun fürchten muß, durch die Hochzeit Esthers mit einem verarmten Juden den Anspruch auf das Erbe der schon lange kränklichen und von Todesahnungen heimgesuchten jungen Frau – »meine Bahn ist bald durchlaufen«1052, sagt sie dem Majoratsherren – einzubüßen,1053 erwürgt sie ihre Stieftochter heimtückisch. Arnims Erzählung zeichnet nicht zuletzt auch das Porträt einer zerrütteten Familie. Wie bereits ausführlich dargestellt, ist für den romantischen Nationalismus die familiäre Sphäre nicht strikt von der politischen Ebene getrennt, im Gegenteil: die dort geübte zwischenmenschliche Solidarität bildet geradezu das Fundament für jenen solidarischen Gemeingeist, der die nationale Gemeinschaft erst ermöglicht. Nicht nur die ohnehin allein auf ihren eigenen materiellen Vorteil bedachte Vasthi, die in der Figurenkonstellation der Majorats-Herren als skurriler Einzelgänger inmitten zweier »sehr merkwürdige[r] Liebesgeschichten«1054 steht, scheint für so ein Konzept wenig tauglich – auch allen anderen jüdischen Figuren mangelt es an sozialer Kompetenz. Sie helfen Esther entweder gar nicht, oder aber ihre Hilfe erweist sich als nutzlos, wenn nicht sogar als kontraproduktiv. Das wird in der Forschung nicht selten übersehen, wenn durch den Verweis auf vermeintlich positiv oder zumindest neutral gezeichnete jüdische Nebenfiguren die insbesondere durch Vasthi aufgeworfene Problematik des Antisemitismus in den Majorats-Herren entschärft werden soll.1055 Hartwig Schultz etwa belegt seine These von der »untergeordnete[n] Rolle«1056, die »antijudaistische Elemente«1057 seiner Ansicht nach bei Arnim spielen, mit dem »versöhnlich gestimmte[n] Rabbi«1058, der Vasthi zur Seite gestellt werde. Dieses Argument überzeugt schon deshalb nicht, weil der Rabbi als orthodoxer Jude, der keine Ambitionen hat, das Ghetto zu verlassen, kein Angriffsziel für Arnim darstellt; ganz im Gegensatz zu Vasthi, die sich am Ende als Fabrikbesitzerin in der bürgerlichen Gesellschaft etabliert und daher – auf ihre Weise – den Typus des assimilationswilligen Juden verkörpert. Zudem unterschlägt Schultz, daß der Rabbi, der nur einen kurzen Auftritt hat,1059 schon alleine wegen seiner mangelnden Präsenz in der Erzählung keinen Ausgleich zu Vasthi schaffen kann; obendrein bleibt der Versuch des Geistlichen, Esther gegenüber Vasthi in Schutz zu nehmen, auch noch ohne Erfolg.
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Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 133. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 154. Das jüngste Beispiel hierfür bietet Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 61), S. 195. Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano. Berlin: Berlin Verlag 2000, S. 259. Ebd. Ebd. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 126.
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Immerhin, der Rabbi bemüht sich wenigstens. Der Verlobte Esthers dagegen ist in der entscheidenden Szene zu feige, Vasthi von dem Mord an seiner Braut abzuhalten: »Es ist gewißlich wahr, ich sah sie [Vasthi, M. P.] hinauf schleichen und sah sie herunter schleichen, aber ich fürchtete mich vor ihr!«1060 Der Roßhändler wiederum denkt zwar durchaus an das Wohl seiner Pflegetochter und hinterläßt ihr deshalb »ein kleines Kapital, damit sie von der Stiefmutter nicht zu Tode gequält würde«1061 – damit aber erweist er Esther einen Bärendienst, denn letztlich wird sie genau dieses Geldes wegen umgebracht. Weil sich mit Geld nicht alles regeln läßt, ist der Pferdehändler trotz guter Absichten gleichsam posthum noch einmal Opfer seiner eigenen Wertmaßstäbe geworden. Wolf-Daniel Hartwich simplifiziert das Textgeschehen, wenn er sowohl den Verlobten als auch den Roßhändler undifferenziert als »überaus sympathisch gezeichnet«1062 sieht. Auch in seinem Drama Halle gewährt Arnim Einblicke in das Zusammenleben einer jüdischen Familie, führt er uns doch in die Wohnstube des Handelsmannes Nathan, wo freilich auch das allen gemeinsame Besitzstreben maßgeblich das familiäre Miteinander bestimmt. Schon die Kinder spielen »Wechselche«1063, was dem Familienoberhaupt Nathan Freudentränen in die Augen treibt; eben hatte er noch moniert, wozu die Kinder überhaupt »ihre menschliche Seele [hätten], wenn sie nicht einmal so einträglich sind wie die unvernünftigen Tiere«1064 – jetzt realisiert er am Beispiel seiner Enkel, daß die Kinder, obgleich getauft, eben doch Juden bleiben: »[D]u gnädiger Gott unsrer Väter, dein Segen ruht auf dem Samen deines Volkes, abwaschen kann ihn nicht die Taufe.«1065 Als Lysander kommt, um sich seinen Kredit zu verschaffen, jagt er den Nachwuchs freilich schnell davon.1066 Nathans ausschließlich an finanziellen Belangen orientierte Haltung zum familiären Nahbereich korrespondiert mit einer wenig solidarischen Haltung gegenüber seinen Glaubensgenossen: »Es soll sein ein Abgeordneter von den Juden in Jerusalem, daß wir ihnen geben Geld, damit sie kaufen los ihre Juden, die da schmachten in der Gefangenschaft von den Türken [...], aber was gehts mich an, schickt mir einer aus Jeru-
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Ebd., S. 143. Diese ›Zeugenaussage‹ läßt auch die etwa von Christof Wingertszahn und Frauke Hoss vertretene These, daß es offen bleibe, ob Esther »an ihrer Krankheit oder durch die Hand ihrer Stiefmutter [stirbt]« (Hoss), wenig plausibel erscheinen. Vgl. Frauke Hoss: Wahrnehmung und Wirklichkeit. Achim von Arnims Majorats-Herren. In: Welfengarten 11 (2001), S. 77 sowie Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 227. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 113. Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 61), S. 195. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 93. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 93f.
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salem ein Geld, wenn ich meine Wechsel nicht bezahlen kann und komm in die Gefangenschaft von den Christen [...].«1067 Nathans Angehörige stehen dem rüden Patriarchen in nichts nach; keiner aus der Familie zeigt sich an einem harmonischen Miteinander interessiert. Als der Handelsmann bereits im Sterben liegt, wird er von seiner Frau und den Kindern »in einer gräßlich grotesken und besonders widerwärtigen Szene«1068 noch verprügelt, »da sie ihr Vermögen mit ihm hinscheiden sehen«1069: »Schelm, willst du aufwachen, ich will mein Eingebrachtes«1070, ruft die Ehefrau, die das Ableben ihres Gatten anschließend lakonisch zur Kenntnis nimmt: »So will ich keinen andern Mann mehr nehmen, das war der fünfte und der ist schon wieder todt, das war auch schnell.«1071 Ahasver dagegen, der als Ewiger Jude durch das Doppeldrama »geistert«1072, steht seinem Sohn durchaus bei, erscheint er doch »an allen Krisenpunkten der Entwicklung Cardenios«1073. Allein, auch hier ist Gewalt im Spiel: Anthea, eine griechische Pilgerin, »ward [...] das Opfer meiner wilden Lust«1074, wie Ahasver seinem Sohn am Ende gesteht. Cardenio ist das Ergebnis einer brutalen Vergewaltigung, und die Wanderschaft des im Drama gutmütig erscheinenden Ahasver wird mithin durch eine mythologische und eine persönliche Schuld motiviert.1075 Die Familie war von den Romantikern als die Keimzelle des Staates gesehen worden. Die Rohheit und Brutalität, die das tragische Ende Esthers in der Judengasse ebenso kennzeichnet wie die satirisch überzeichneten Vorgänge in Nathans Wohnzimmer, demonstriert eindringlich, daß Arnim es Juden nicht zutraute, diese Unterfütterung des nationalen Wir-Gefühls zu leisten. So ist die dichterische Gestaltung sozialer Inkompetenz bei jüdischem Personal auch als ein subtiler Beitrag zu der Assmilations- und Akkulturationsdebatte jener Tage zu lesen.
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Tod und Taufe: Arnims Verhältnis zur jüdischen Religion
Gegenüber jüdischem Personal verhält sich Arnim also unnachsichtig. Er konturiert seine jüdischen Protagonisten als detailgetreuen Gegenentwurf zu einem 1067 1068 1069 1070 1071 1072
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Ebd., S. 91. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 259. Ebd. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 109. Ebd. Hemstedt, Symbolik der Geschichte (wie Anm. 24), S. 93. Zum antisemitischen Stereotyp des »Ewigen Juden« vgl. Avram Andrei Baleanu: Der »ewige Jude«. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps und Joachim Schlör. Augsburg: Bechtermünz 1999, S. 96–102. Hemstedt, Symbolik der Geschichte (wie Anm. 24), S. 93. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 339. Vgl. Paulin, Gryphius (wie Anm. 960), S. 69–72.
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vorgestellten »deutschen Wesen«. Daher vermag es durchaus zu überraschen, daß der christlich-deutsche Tischgenosse der jüdischen Religion gegenüber mehrfach seinen Respekt bezeugt. »Aller Glaube, der geglaubt wird, kommt von Gott, und ist wahr«1076, erläutert der Majoratsherr dem Vetter, und später wird er »mit ganzer Seele über die [jüdischen, M. P.] Sagenbücher«1077 herfallen. Als eine der wichtigsten Quellen für Die Majorats-Herren diente Arnim ein »Klassiker der Judenfeindschaft«1078, nämlich Johann Andreas Eisenmengers zweibändiges Werk Entdecktes Judenthum (1700)1079 – dennoch beschränkt sich Arnims Auswahl aus Eisenmengers Buch »auf solche Stellen, die für Esthers Sterben von Bedeutung sind, und [er] verrät weder Neigung zu Kuriositäten noch die geringste Spur von Gehässigkeit«1080, wie Klaus J. Heinisch konstatiert. Peter Philipp Riedl pflichtet dem bei, wenn er Arnim attestiert, die jüdischen Riten und Bräuche oder Motive wie das des Todesengels »sorgfältig in den Gang des Geschehens eingearbeitet und dafür gesorgt [zu haben], daß die Sagenwelt des Talmud ihren Zauber entfaltet«1081. Auch in der Versöhnung in der Sommerfrische wird der jüdischen Religion Respekt gezollt, wenn der Erzähler gegenüber Raphaels antijüdischen Attacken darauf insistiert, daß »seine frühe Geschichte [die des jüdischen Volkes, M. P.] der Gipfel aller Europäischen Mythen und Geschichte«1082 gewesen wäre. Die Einschränkung erfolgt freilich sofort, denn Raphael Rabuni erhebt Jesus Christus zur »Krone«1083 dieser »wunderbaren Geschichte«1084 und macht damit deutlich, daß der »entschiedne Protestant«1085 Arnim in seinem 1076 1077
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Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 114. Ebd., S. 124. Wegen dieser Sympathie des Majoratsherren für die jüdische Mythologie hält Ritchie Robertson den Antisemitismus-Vorwurf im Falle dieser Erzählung für unangebracht. Ritchie Robertson: Antisemitismus und Ambivalenz: Zu Achim von Arnims Erzählung »Die Majoratsherren«. In: Romantische Identitätskonstruktionen. Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hg. von Sheila Dickson und Walter Pape. Glasgower Kolloquium der Internationalen ArnimGesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 4), S. 63. Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 (rowohlts enzyklopädie; 498), S. 140. Eisenmengers Konvolut war 1700 erstmals in Heidelberg erschienen und wurde nach seiner Konfiszierung durch den Kaiser 1711 in Königsberg neu aufgelegt. Vgl. Riedl, Schachern (wie Anm. 58), S. 85 sowie den Kommentar von Renate Moering in Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 1035f. Klaus J. Heinisch: Deutsche Romantik. Interpretationen. Paderborn: Schöningh 1966 (Wort, Werk, Gestalt), S. 57. Riedl, Schachern (wie Anm. 58), S. 84f. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 556. Ebd. Ebd. Im Dezember 1819 nimmt Arnim in einem Brief an die Grimm-Brüder Friedrich Leopold Graf zu Stolberg in Schutz; Stolberg mußte wegen seines Übertritts zum
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Verhältnis zur jüdischen Religion der klassischen Linie christlicher Judenfeindschaft folgt. Das Judentum hat demzufolge eine historische Berechtigung, die allerdings mit der Botschaft Christi endet. Daß die Juden das Neue Testament nicht annehmen und sich nicht aus den »Schlingen des alten Bundes [...] lösen«1086, begreift auch Arnim – dem tradierten theologischen Argumentationsmuster gemäß – als Bosheit, Verstocktheit und Verblendung. Die Möglichkeit einer Konversion, die aus nicht opportunistischen Motiven erfolgt und die zugleich die Voraussetzung für die Aufnahme in die deutsche Nationalgemeinschaft darstellt, zweifelt Achim von Arnim jedoch an. Nur der höchste Einsatz, nämlich der des Lebens, bezeugt die Aufrichtigkeit des Übertritts. Der schwer verletzte Raphael Rabuni, der zuvor noch zum Christentum konvertierte Juden als »Gesellschaftschristen«1087 denunziert hatte, die »die Lasten beider Völker [!]«1088 vereinen würden, erhält kurz vor seinem Tod eine Nottaufe.1089 Dieses Ende hatte er zuvor selbst antizipiert, als er die Geschichte von jenem dänischen Matrosen erzählte, »der den Juden aus dem Wasser holte[,] ihn taufte und dann hineinschmiß, damit er selig stürbe«1090. In den Majorats-Herren wiederum ist der junge Majoratsherr fasziniert von dem Lied über die schöne Tochter einer »alte[n] Jüdin«1091: »[...] Gut Nacht! / Gut
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Katholizismus heftige Attacken seines früheren Freundes aus Zeiten des Göttinger Hainbundes, Johann Heinrich Voß, über sich ergehen lassen: »Seltsam ist es mir, wie Ihr so ernsthaft von der Wahrheitsliebe des niederträchtigen Voß reden könnt. Ich habe seine frevle Klatscherei über Stolberg nicht gelesen, aber ich habe ihn darüber reden hören, und ich hatte dabei immer ein Lusten, ihm ins Gesicht zu spucken. Von allen edlen Bewegungen des Herzens, von Hingebung in Freundschaft und von Treue, [...] kurz von allem, was eigentlich Stolberg seinen Werth aufstempelt, auch wenn wir entschiedne Protestanten sind, davon hat dieser dünne, flache, aufgeblasene Sylbenschinder nie eine Ahndung gehabt.« In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 458–461, hier S. 459. Vgl. hierzu Thomas Sternberg: »Und auch wenn wir entschiedne Protestanten sind.« Achim von Arnim zu Religion und Konfession. In: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation; mit unbekannten Dokumenten. Hg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer. Bern, Frankfurt a. M., New York, Paris: Peter Lang 1990 (Germanic Studies in America; 60), S. 25–59. So Arnim in seiner Rede vor der Tischgesellschaft vom 18. Januar 1815. Vgl. Arnim, Tischrede 1815 (wie Anm. 413), S. 343f. Der Versuch, Arnim vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu schützen, treibt mitunter skurrile Blüten. So glaubt Helene M. Kastinger Riley unter Bezugnahme auf die zitierte Stelle, daß mit den »Schlingen des alten Bundes« nicht nur das Alte Testament, sondern »auch die Unterdrückung der Juden unter dem ancien regime« gemeint sei. Aus dieser eigenwilligen Perspektive avanciert Arnim zum Vorkämpfer der Judenemanzipation. Vgl. Kastinger Riley, Zeit im Umbruch (wie Anm. 49), S. 105. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 557. Ebd. Vgl. ebd., S. 599f. Ebd., S. 564. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 139.
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Nacht Herz Mutter / Du siehst mich nimmermehr; / Zum Meere will ich laufen / Und sollt ich auch ersaufen; / Es muß mich heute taufen; / Es stürmet gar zu sehr!«1092 In der Szene Das Thor1093 aus Arnims Dramenfragment Die Wiedertäufer1094 meint der Jude, der seinen Glauben für eine Goldkette verkauft hat, an der Konversion zugrunde gehen zu müssen: »Ich sterbe davon. Aber ich bin getauft[,] ich kann nicht sterben.«1095 Der Jude geht »murrend«1096 ab; in einer gestrichenen Vorstufe des Textes stirbt er indes tatsächlich.1097 Die spektakulärste Konversion freilich gelingt Ahasverus im zweiten Teil von Arnims Doppeldrama Halle und Jerusalem; obgleich schon lange Christ, steht er noch immer unter dem Bann der »unheilige[n] Gesinnung des alten Judenthums«1098, das »in zweifelhaften Augenblicken den Christus in mir kreuziget«1099. Diese innere Disposition hält ihn auch vom »heilgen Grabe«1100 ab. Erst als er den Brandanschlag einiger Juden auf eben diese Stätte mit Hilfe eines göttlichen Wunders vereitelt, findet Ahasver seinen Frieden: »Hier meine Kinder laßt mich ruhen, ich finde Ruhe wieder in dem Herzen, seit mich der Herr zur Rettung seines Heiligthums bestimmte. [...] Cardenio geliebter Sohn, du bist zu einer hohen Freude noch bestimmt; mich lasse hier in höhrer Hand, ich habe alles überlebt, ich sterbe.«1101 Daß Arnim damit die mythologische Figur des Ewigen Juden von der Last der ewigen Wanderschaft befreite, provozierte freilich sofort eine Reaktion des gestrengen Jacob Grimm, der sich den »Juden [noch immer, M. P.] über Berg und Tal trappelnd«1102 vorstellen wollte: »[...], Du hattest kein Recht, den Urtheilsspruch der ewigen Sage zu mildern«1103, schrieb Grimm und bereicherte mithin die Debatte bezüglich der Differenz zwischen Natur- und Kunstpoesie um ein weiteres Kapitel. Für unsere Belange ist indes entscheidender, daß auch im Falle Ahasvers die endgültige Überwindung des Judentums mit dem Tod einhergeht bzw. erst mit dem Tode 1092 1093
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Ebd. Abdruck bei Friederike Schaible: Die Geschichte zur Wahrheit läutern: Arnims »Wiedertäufer«-Fragment. In: »Frische Jugend, reich an Hoffen«. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Roswitha Burwick und Heinz Härtl. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft; 2), S. 212–215. Arnim hat die Arbeit an diesem Stoff vermutlich Ende 1809 abgebrochen. Vgl. ebd., S. 209. Ebd., S. 214. Ebd. Vgl. ebd., S. 209. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 340. Ebd. Ebd. Ebd., S. 362. Jacob Grimm an Achim von Arnim, Brief vom 22. Januar 1811. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 97–101, hier S. 99. Ebd.
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möglich wird. »Wenn bei Arnim von Taufe in Hinblick auf Juden die Rede ist, so bedeutet dies stets den baldigen Tod der Juden. Getauft zu werden, heißt hier: zu sterben«1104, bilanziert Gerhard Scheit, der dieses Phänomen als die »Quintessenz der Erlösung des Judentums, wie Arnim sie versteht«1105, begreift. Damit ist Arnims Position »in der Mitte zwischen altem und modernem Judenhaß«1106 zu verorten; ein Abschied vom Judentum aus innerer Überzeugung wird zwar noch für möglich gehalten, aber nur unter der Bedingung des denkbar höchsten Preises. »[S]o ein Jude geht wie [ein] Räthsel umher für uns ehrliche Christen«1107, heißt es etwas kryptisch in der Szene Das Thor – ein Rätsel, das nicht einfach mit dem Akt der Taufe zu lösen ist, wie Arnim immer wieder deutlich macht. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Autor auch in seinem Itzig-Referat vor der Tischgesellschaft die Bekehrung der Juden ausdrücklich begrüßt – nicht ohne jedoch die konvertierten Juden als Missionare auf die Reise in ferne Länder zu schicken und sie somit doch weiterhin aus der deutschen Gesellschaft verbannen zu können. Dementsprechend haben konvertierte Juden auch in den Gesellschaften seiner Dramen und Erzählungen keine Zukunft – im Moment ihres Übertritts scheiden die betreffenden Protagonisten vielmehr aus den Texten aus. Das gilt im übrigen auch – wie Scheit völlig zu Recht deutlich macht – für Ahasvers Sohn Cardenio, der allerdings im Gegensatz zu seinem Vater durchaus zum heiligen Grab gelangt. »Die unter dem Heiligenschein durchschimmernden Rassengesetze des Stücks erlauben [...] de[m] ›Halbjuden‹ Cardenio und Celinde, bis ins Innerste des Christentums vorzudringen, sie werden dort aber von rasenden Pilgern zertreten – und dies ist ihre Erlösung.«1108 In der Tat finden sowohl Celinde1109 (»[I]ch fühl mich glücklich in dem neuen Lichte.«1110) als auch Cardenio (»Fahr wohl du Mitgenossin schwerer Prüfungszeit, hier sterb auch ich, hier bin ich nah dem Paradiese [...].«1111) erst im Tod ihren Seelenfrieden:1112 »Die tödliche Taufe, die hier an Cardenio und Celinde voll1104 1105 1106 1107 1108 1109
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Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 259. Ebd. Ebd. Schaible, Die Geschichte (wie Anm. 1093), S. 215. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 262. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 387–393. Scheit geht irrtümlich davon aus, daß auch Celinde durch Ahasvers Vergewaltigung gezeugt wurde; ihre Mutter ist aber nicht Anthea, sondern die mit finsteren Mächten im Bunde stehende Kriegsrätin Tyche. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 195. Ebd., S. 390. Ebd., S. 392. Als komplementäre Figuren zu den »Sündern« Cardenio, Celinde und Ahasverus müssen Olympie, Lysander und Sidney verstanden werden, bei denen »der entscheidende Akzent auf die Verwandtschaft von tiefer Religiosität und gemein-
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zogen wird, ist zugleich Weihe der Ritter vom heiligen Grab, die schwören, die ›Unwürdigen‹ mit ihrem Schwert zu töten«1113, bemerkt Scheit zum versöhnlichen Finale von Jerusalem.1114
VI
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1
Kein Ende in Harmonie: Die Majorats-Herren als Arnims bitterste Erzählung
In seiner Studie über die Gestaltung der Randgruppen in Arnims Erzählungen Die Majorats-Herren und Isabella von Ägypten insistiert Michael Klees – in kritischer Abgrenzung zu Peter Philipp Riedl – darauf, daß Arnims Haltung zum Judentum auch in seiner Entwicklung untersucht werden müsse. Während Riedl »nur die Bandbreite seiner [Arnims, M. P.] Äußerungen kritisch«1115
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schaftlich-nationalem Anliegen gelegt« wird, wie Ehrlich überzeugend darlegt. Ehrlich, Arnim als Dramatiker (wie Anm. 47), S. 123. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 262. Vgl. Arnim, Halle und Jerusalem (wie Anm. 288), S. 395f. Scheit verweist darauf, daß die Figur des zu ewiger Wanderschaft verdammten Ahasver einiges Identifikationspotential für die romantischen Intellektuellen bot, »die selbst den Halt in der christlichen Religion und in der deutschen Adelskaste verloren hatten und darüber so leicht nicht hinwegkamen«; aber auch der Nihilist Cardenio steht dem Naturwissenschaftler Arnim sehr nahe, zumal Cardenios Verhältnis zu Celinde nach Scheit an Arnims Beziehungen zu den BrentanoGeschwistern Clemens und Bettina erinnert. Scheit folgert aus dieser Nähe Arnims zu Cardenio und Ahasver, daß der Autor mit Halle und Jerusalem eine tiefe persönliche Krise überwinden wollte: »Er überwand sie, indem er alle krisenhaften Momente seiner Existenz, von der prekären finanziellen Lage als abgewirtschafteter Landjunker bis zu den homo- und heterosexuellen Problemen, in Gestalten des Judentums zusammenfaßte (und zwar in der ausdifferenzierten Form von Nathan / Ahasverus, Cardenio / Celinde) und gleichsam gewaltsam von sich schied – sich selbst erlöste von seinen eigenen ›dunklen‹ Seiten. So lauert in der romantischen Identifikation mit dem Judentum offenkundig eine besonders gefährliche Möglichkeit des Antisemitismus: Der Haß auf das Judentum ist ein nach außen gewendeter Selbsthaß.« Vgl. Scheit, Verborgener Staat (wie Anm. 123), S. 257–266, hier S. 263, 265. Zur literarhistorischen Wirkungsgeschichte der Ahasver-Figur vgl. Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a. M., New York: Campus 2000 (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung; 6). Michael Klees: Gesellschaftliche Randgruppen im Werk Achim von Arnims. Zur Funktion von Zigeunern und Juden in Isabella von Ägypten und Die MajoratsHerren. In: Fremde und Fremdes in der Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Erwin Leibfried. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1996 (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft; 16), S. 77.
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aufzeige, unterstellt Klees einen »prozeßhaften Zusammenhang«1116 zwischen den beiden Erzählungen, der sich dadurch definiere, daß in dem späteren Text »jüdische Figuren und Kultur nicht mehr zur generellen Polarisierung und positiven Hervorhebung einer anderen Gruppe«1117 dienten. Klees sieht das jüdische Personal in den Majorats-Herren nunmehr individuell und nicht mehr stereotyp motiviert und glaubt daher in Arnims »Sichtweise des Jüdischen«1118 eine »relative Toleranz«1119 konstatieren zu dürfen, wobei er die Figur der Vasthi freilich aus dieser Argumentation ausschließt.1120 Wie die nähere Betrachtung der Majorats-Herren ergab, kann die These von der individuellen Motivierung des jüdischen Personals in dieser Erzählung keineswegs aufrecht erhalten werden. Der Blick des Majoratsherren auf das Zusammenleben in der Judengasse illustriert dies eben so eindringlich wie die verschiedenen Bewohner des Ghettos, die uns im Verlauf der Erzählung begegnen. Esthers Pflegevater mag eine mildere Variante des »Schacher- und Wucherjuden« sein, letztlich aber entspricht sein rein von materiellen Interessen bestimmter Lebensweg eben doch diesem Stereotyp; und auch der spätere Verlobte Esthers wird maßgeblich über seinen Bezug zu finanziellen Fragen definiert. Er ist eben nicht der Prototyp des »armen, überall herumgestoßenen Juden«1121, sondern er besaß durchaus ein Vermögen, das er während seiner Reise nach England verlor.1122 Esther, die die Verlobung eigentlich auflösen wollte, will ihn nun aus purem Mitleid heiraten und bedeutet ihm das auch unmißverständlich.1123 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Verlobte ihr diese Großherzigkeit nicht dankt und sie aus Feigheit am Ende nicht vor Vasthi schützt. Aus der Gestaltung der jüdischen Nebenfiguren kann die von Klees diagnostizierte differenziertere und mithin auch wohlwollendere Beurteilung des Jüdischen also nicht abgeleitet werden. Daß das Judentum nicht mehr – wie noch in der Isabella oder auch in der Versöhnung in der Sommerfrische – als negativer Pol in einem dualen Schematismus Verwendung findet, konstatiert Klees indes vollkommen zu Recht; 1116 1117 1118 1119 1120
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Ebd. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd. Vgl. ebd., S. 73: »Der Umstand, daß ausgerechnet das alte Judenweib Vasthi den größten Gewinn aus diesen Veränderungen [den Veränderungen, die die Herrschaft der Franzosen nach sich zog, M. P.] zieht, kann hier nicht übergangen werden. Zu deutlich ist das Motiv des ›Schacherjuden‹«, schreibt Klees. Henckmann, Problem (wie Anm. 55), S. 55. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 132f. Vgl. ebd., S. 133f.; in ihrer Phantasie erscheint er in unvorteilhafter Position: »Zuletzt sprang er [...] und versicherte, mit seinem Körper seltsame Kunststücke machen zu wollen, legte sich auf den Bauch und drehte sich wie ein angestochener Käfer umher.« Ebd., S. 135. Renate Moering deutet dieses »widerlichste der ›Kunststücke‹ des Bräutigams« als »ein sprechendes Bild ihrer Angst vor seiner Sexualität.« Ebd., S. 1054.
VI Resignation und Rückzug
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allerdings muß dieser Aspekt mitnichten eine Aufwertung des Jüdischen oder gar eine späte Revision früherer Irrwege implizieren. Die Juden sind weiterhin als sehr fragwürdige oder – im Falle der gräßlichen Vasthi – gar als zutiefst bösartige Charaktere gezeichnet. Aus der dualen Anordnung wird nicht der negative, sondern der positive Pol, den in dem früheren Text die durch die Prinzessin Isabella repräsentierten Zigeuner bekleidet hatten, gestrichen. Die Erzählung endet dementsprechend so düster wie kaum eine andere in Arnims Werk;1124 der von Klees zu Recht eingeklagte Blick auf die Entwicklung Arnims in den Jahren zwischen 1812 und 1819 führt deshalb nicht zu der Erkenntnis, daß der Autor gegenüber dem Judentum toleranter geworden wäre – vielmehr scheint die Enttäuschung des Schriftstellers über die Zeitläufte dazu geführt zu haben, daß er diesmal der kritischen Bestandsaufnahme keine hoffnungsspendende Perspektive beifügte und seine Erzählung in die resignative – den Sieg der jüdisch-kapitalistischen Mentalität anzeigende – Schlußsentenz »[...] und es trat der Credit an die Stelle des Lehnrechts«1125 münden ließ.
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Der Abschied der Hoffnungsträger
Eigentlich hatte Arnim auch für die Majorats-Herren ein versöhnliches Ende konzipiert. Wie eine von Christoph Wingertszahn erstmals publizierte Textvorstufe bezeugt,1126 sollte dabei wieder einmal das bereits explizierte »Prinzip der Doppelung« greifen. Dem Majoratsherren wird in dem Entwurf – neben Esther – noch eine zweite Frau zur Seite gestellt, die er am Ende nach Esthers Tod heiratet. Während sich der seltsame Leutnant erschießt, hätte der Majoratsherr in diesem Konzept überlebt. Arnim verwarf den Entwurf und verweigerte so das eigentlich anvisierte Happy End. »[W]ir wünschten mit diesem Bild der Unschuld die Geschichte schließen zu können: die Geschichte aber begnügt sich nicht mit schönen Bildern des Glücks«1127, heißt es in der Erzählung Melück Maria Blainville (1812),1128 in der aber zumindest einige Sympathieträger überleben, während in den Majorats-Herren – mit Ausnahme der unsäglichen Vasthi, die als weiblicher Ahasver alle anderen Figuren überdauert – alle Protagonisten auf der Strecke bleiben, einschließlich der beiden positiven Figuren, nämlich Esthers und des Majoratsherren.
1124 1125 1126 1127 1128
So auch Knapp, Groteske (wie Anm. 635), S. 139. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 71. Vgl. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 607f. bzw. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 1040f. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 766. Vgl. ebd., S. 745–777. Vgl. zu dieser Erzählung die Interpretation von Roland Hoermann: Achim von Arnims Erzählung »Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien«. Eine romantische Heldin als Schauspielerin, Geliebte und Heilige. In: Aurora 44 (1984), S. 178–195.
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Der gemeinsame Tod der beiden Geliebten – der Majoratsherr bricht nach Esthers Ermordung an ihrem Bett tot zusammen1129 – erinnert an die Isabella, in der die Titelheldin und Kaiser Karl, der zuvor seine einstige Geliebte in einer Vision noch ein letztes Mal gesehen hatte, am gleichen Tag sterben.1130 Freilich sind die Voraussetzungen unterschiedliche: Isabella hatte ihr Volk heimgeführt und damit ihr Lebenswerk erfüllt; Karl war zwar gescheitert, hatte aber durch den Erzähler ein mildes Urteil bekommen, wenn es heißt, »daß nur ein Heiliger auf dem Throne jene Zeit hätte bestehen können«1131. In jener Zeit, die uns die Majorats-Herren präsentieren, haben jedoch selbst Heilige keine Chance, gleichsam therapeutischen Einfluß auf ihre depravierte Umwelt zu nehmen. Esther, eine »ursprünglich hochgesinnte[] Frau«1132, zeigt nach Hans-Georg Werner jene »Lebensmöglichkeiten«1133 auf, die nunmehr »verschüttet«1134 sind und um die sich das Ancien Regime selbst gebracht hat. Von einer brutalen Umwelt zu einer nächtlichen Existenz gezwungen – nachts spielt sie in ihren Phantasien jenes Leben nach, um das sie durch die Intrige des Vaters betrogen worden war –, muß Esther erkennen, daß »diese Welt [...] mich mit all ihrer Torheit zerstört [hat]«1135. Der Majoratsherr, der den materiellen Belangen im Gegensatz zu Vasthi und dem Leutnant ebenso desinteressiert gegenübersteht wie Esther, trägt dagegen eine Teilschuld an seinem Scheitern, weil er seine besonderen Fähigkeiten nicht in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Mit Hilfe seines unbetrüglichen »zweiten Augenpaar[s]«1136 entdeckt der Majoratsherr nämlich die tiefere Wahrheit hinter der oberflächlichen Wirklichkeit und diagnostiziert auf diese Weise trefflich die gesellschaftlichen und politischen Mißstände; dem Leser kommt dabei zustatten, daß der Vetter als Vertreter des »nüchternen und kritischen Verstandes«1137 gleichsam eine Dolmetscher-Funktion ausfüllt und die Visionen seines vermeintlichen Verwand1129 1130 1131 1132
1133 1134 1135 1136 1137
Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 141–144. Vgl. Arnim, Werke III (wie Anm. 611), S. 737–744. Ebd., S. 738. Hans-Georg Werner: Zur Technik des Erzählers Achim von Arnim. In: HansGeorg Werner: Literarische Strategien. Studien zur deutschen Literatur 1760– 1840. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1993, S. 217. H. Guenther Nerjes beklagt dagegen, daß die Figur der Esther »blutlos und wenig greifbar erscheint«. Seiner Ansicht nach »versagt [Arnim, M. P.] nämlich, sobald er Personen in einem sympathischen Licht zeigen will und so seinen bizarren Ideen keinen freien Lauf lassen kann«. Diese Auffassung konnte sich in der jüngeren Literaturwissenschaft zu Recht nicht durchsetzen. Nerjes, Symbolik (wie Anm. 867), S. 130. H.-G. Werner, Zur Technik (wie Anm. 1132), S. 217. Ebd. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 129. Ebd., S. 114. Josef Kunz: Die deutsche Novelle zwischen Klassik und Romantik. 3. Aufl. bibliographisch ergänzt von Rainer Schönhaar. Berlin: Schmidt 1992 (Grundlagen der Germanistik; 2), S. 104.
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ten stets mit rationalen Erklärungen der Vorgänge konfrontiert.1138 Die originellen Einsichten des Majoratsherren werden dabei jedoch – wie bereits erwähnt – zu keinem Zeitpunkt desavouiert;1139 die »Klarstellung[en]«1140 des Vetters sorgen eher dafür, »daß der Geisterseher so etwas wie Seriosität erhält«1141, da er »in seiner skurrilen Erfahrungswelt[] die Wahrheit der Dinge zu erblicken«1142 vermag und damit das »wenig idealische Wesen [...] der Wirklichkeit«1143 enttarnt, wie Andrea Jäger feststellt. Wenn der Majoratsherr Vasthis Kopftuch für einen schwarzen Raben hält1144 und die Haube Ursulas für einen Heiligenschein,1145 dann zeigt das, daß Arnims Protagonist die Bösartigkeit der alten Jüdin ebenso intuitiv erkennt wie das gutmütige Wesen der alten Dienerin. Auch die Gefahr, in der sich der Adel im Vorfeld der Französischen Revolution befindet, wird dem Majoratsherr sofort bewußt, als ihm der Leutnant seine Wappensammlung zeigt: »Gott! welch ein Lärmen! Wie die alten Ritter nach ihren Helmen suchen, und sie sind ihnen zu klein, und ihre Wappen sind mottenfräßig, ihre Schilde vom Rost durchlöchert; das bricht zusammen, ich halte es nicht aus, mir schwindelt, und mein Herz kann den Jammer nicht ertragen!«1146 Nicht zuletzt gelingt es ihm auch dank seines »phantastischen Sinn[s]«1147 im telepathischen Rapport mit Esther das Geheimnis seiner Herkunft zu ergründen und die dreißig Jahre alte Intrige aufzudecken.1148 Aus den zutreffenden Diagnosen und Erkenntnissen vermag er jedoch nicht die adäquaten Konsequenzen zu ziehen. Die Passivität des Majoratsherren und seine mangelnde Entschlußkraft, auf die immer wieder variantenreich angespielt wird,1149 sind allerdings im Vergleich zu den Defiziten der Juden und 1138 1139
1140
1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148
1149
Vgl. hierzu Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 155f. bzw. S. 160f. Dieser Aspekt wird bei Helene M. Kastinger Riley zu wenig deutlich, wenn sie einseitig die »krankhafte psychische Verfassung« des Majoratsherren behandelt. Zu Recht hat Hans-Georg Werner deshalb gegen diese Interpretation Widerspruch angemeldet. Vgl. Kastinger Riley, Idee (wie Anm. 46), S. 79–89, hier S. 81 sowie H.-G. Werner, Wirkungsfunktion (wie Anm. 46), S. 33. Andrea Jäger: Groteske Schreibweise als Kipp-Phänomen der Romantik. In: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Hg. von Bettina Gruber und Gerhard Plumpe. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 82. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 122f. Vgl. ebd., S. 117. Ebd., S. 116. H.-G. Werner, Wirkungsfunktion (wie Anm. 46), S. 33. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 127–129. Die Inhalte des geisterhaften Gesprächs zwischen Esther und dem Majoratsherren werden anschließend durch das Geständnis der Hofdame beglaubigt. Vgl. ebd., S. 130–132. »Aber das Springen war nicht seine Sache«, heißt es signifikant, als die mit einem »kühnen Sprunge« überbrückbare Distanz zwischen den Fenstern Esthers und des
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der älteren Generation gleichsam läßliche Sünden. Durch den Erzähler wird er denn auch ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt rehabilitiert, an dem seine mangelnde Lebenstauglichkeit »in den grellsten Farben«1150 aufscheint. Als der Majoratsherr Esther in der Nacht vor ihrem Tod schon einmal zu Hilfe eilen will, verirrt er sich nämlich heillos im kleinen Haus des Vetters; zweimal verfehlt er den Ausgang und landet so zunächst im Hühnerstall und dann im Taubenschlag.1151 Jedoch wird seine »Lächerlichkeit bei weitem überboten«1152 durch den Vetter, der sich ihm auf der Treppe als »leibhaftiger Truthahn«1153 (Heinrich Henel) entgegenstellt. Die Erscheinung des rationalistischen Leutnants, der »mit spitzer Nachtmütze, einen [!] bunten Band darum gebunden, eine Brille auf der roten Nase, einen japanischen bunten Schlafrock am Leibe [und] mit bloßem Schwerte«1154 den merkwürdigen Geräuschen in seinem Haus nachgeht, macht selbst das »kläglichste[] Versagen«1155 des Majoratsherren »verzeihlich«1156, wie Heinrich Henel konstatiert. Für den Majoratsherren ist sein fatales Missgeschick jedoch der unmißverständliche Beweis dafür, »daß es seiner auf Erden nicht mehr bedürfe«1157. In der Tat stirbt er in der Nacht darauf neben Esther, deren Ermordung er nicht hatte verhindern können, weil ihm – einmal mehr – zu spät eingefallen war, »daß etwas Wirkliches auch für diese Welt an allem dem sein könne, was er gesehen«1158. Als er vor ihrem Bett zusammenbricht, holt der Leutnant ausgerechnet jenen »beste[n] Arzt und Chirurgus«1159 ins Haus, den der Majoratsherr schon zu Beginn als einen Scharlatan entlarvt hatte: »Seine Ankläger laufen mit Geschrei hinter ihm drein; es sind die Seelen, die er vorzeitig der
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Majoratsherren beschrieben wird. Ebd., S. 118. Weitere Belegstellen für die mangelnde Entschlußkraft des Majoratsherren folgen in kurzen Abständen: »Seine Sinnesart überwog für das Abwarten.« Ebd., S. 120. »Auch hier war er wie gewöhnlich zu spät zu einem Entschluß gekommen [...].« Ebd., S. 126. »Der Majoratsherr war froh, daß er in vier und zwanzig Stunden zu keinem Entschluß zu kommen brauchte [...].« Ebd., S. 132. »Aber ehe er entschlossen, ob er sich einem kühnen Sprunge hingeben, oder durch ein Brett beide Fenster in aller Sicherheit vereinigen könnte, hörte er, wie alle Abende, einen Schuß, und es überfiel der gesellige Wahnsinn die schöne Ester schon wieder.« Ebd., S. 134. »[D]er Majoratsherr wird sich immerdar zu lange in Unschlüssigkeit bedenken, ehe er etwas für mich tut [...].« Ebd. »[A]ber Wille und Entschluß lagen ihm wie immer fern [...].« Ebd., S. 141. »Erst jetzt fiel dem Majoratsherrn ein, daß etwas Wirkliches auch für diese Welt an allem dem sein könne, was er gesehen [...].« Ebd., S. 142. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 162. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 135f. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 163. Ebd. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 136. Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 163. Ebd. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 135. Ebd., S. 142. So die Meinung des Leutnants. Ebd., S. 116.
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Welt entriß [...]«.1160 Folgerichtig kann der fragwürdige Mediziner dem Majoratsherren dann auch nicht mehr helfen, vielmehr »beschleunigte [er] nur seinen Tod«1161. Der Kampf um das Majorat wird mit allen Mitteln geführt, und er zerreibt mit Esther und dem Majoratsherren auch die beiden Protagonisten, die von der charakterlichen Disposition her jene Utopie hätten verkörpern können, die Isabella in der früheren Erzählung repräsentiert hatte. Arnim erteilt seinem von Hermann F. Weiss trefflich so bezeichneten, didaktischen Motiven verpflichteten »Harmonisierungsbedürfnis«1162 diesmal eine Absage und modifiziert mithin in den Majorats-Herren seine poetologische Position, obgleich er sie in jenen kursiv gedruckten Sätzen, die sich an Esthers Tod anschließen, scheinbar noch einmal zur vollen Geltung bringt: »[...], und es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere, welche den Sinnen nur in der Phantasie erkenntlich wird: in der Phantasie, die zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht und immer neu den toten Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere verkörpert.«1163 Diese Sätze sind in der Forschung nahezu obligatorisch als »poetologisches Glaubensbekenntnis«1164 Arnims gelesen und durch Alexander von Bormann in einem 22-seitigen Lexikonbeitrag über die Romantik als exemplarisch für das Selbstverständnis der Hochromantik zitiert worden. Die Hochromantik, so von Bormann, verstehe sich als eine »›positive[] Romantik‹«1165, die die Auf1160 1161 1162
1163 1164 1165
Ebd. Ebd., S. 144. Vgl. H.F. Weiss, Harmonisierungsbedürfnis (wie Anm. 46). Gegen Weiss hat Michael Andermatt: Happy-End und Katastrophe. Die Erzählschlüsse bei L. Achim von Arnim als Form romantischer Ironie. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt.Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 11–33 Einspruch erhoben, die Textbefunde bestätigen aber m. E. die ältere Analysen von Weiss und Bernd Fischer, der in diesem Zusammenhang von Arnims »idealistische[r] Versöhnungsästhetik« spricht. Vgl. Fischer, Geschichtssschreibung (wie Anm. 150), S. 191. Vgl. auch Thomas Paul Bonfiglio: Ironie und Modernität bei Arnim. In: Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. Hg. von Michael Andermatt. Bonn: Bouvier 1994 (Modern German Studies; 18), S. 35–56. Bonfiglio, dem es eigentlich wie Andermatt darum geht, Arnims Oeuvre in die Traditionslinie des »heutigen postmodernen Diskurs[es]« (S. 54) zu stellen, muß in Andermatts Sammelband dem Herausgeber indirekt widersprechen, wenn er »gesteh[t]« (S. 51), daß Arnims Erzählschlüsse den Autor von der Postmoderne trennen: Die Frage, ob die »Arnimsche Ästhetik wirklich auf den Trost schöner Form oder auf den Geschmackskonsens, der kommunal die Sehnsucht nach dem Unwirklichen spüren läßt, verzichtet« (S. 54), muß nach Bonfiglio nämlich »größtenteils mit einem Nein« (S. 54) beantwortet werden. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 142. Vgl. etwa Henel, Arnims ›Majoratsherren‹ (wie Anm. 24), S. 160f. Alexander von Bormann: Romantik. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. von Ulfert Ricklefs. Band 3: N-Z. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996 (Fischer-Taschenbücher; 4567), S. 1720.
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gabe der Dichtung darin sehe, das »Ursprungszeichen«1166, also die »›verhüllte Schönheit‹«1167 oder »paradiesische Herkunft«1168 aller Dinge, offen zu legen und die gegenständliche Welt somit auf ihre höheren Zusammenhänge zu verweisen: »Es geht um das Finden, das Erfassen und Lösen der ›ursprünglich‹ gemeinten Bedeutungen – so wird die Bedeutung der Dichtung an einen Zusammenhang geknüpft, der sie selbst übersteigt.«1169 Die Ausführungen von Bormanns sind ebenso richtig wie wichtig und sollen deshalb an dieser Stelle keinesfalls in Zweifel gezogen werden – die Majorats-Herren scheinen jedoch ein fragwürdiger Belegtext zu sein, stellt Arnim doch genau hier die besagten poetologischen Prämissen zur Disposition. Die zitierte Kursivstelle wird nämlich durch den Fortgang des erzählten Geschehens relativiert, wie Christof Wingertszahn überzeugend darlegt. Folgt man dem ›Glaubensbekenntnis‹, so kommt der Phantasie die Aufgabe zu, der Alltagswelt den Blick auf die höhere, geistige Dimension der Zeitläufte zu vermitteln – »[d]er Nachsatz aber distanziert bezeichnenderweise von dieser ›höheren Welt‹«1170. Wenn Vasthi »von all’ der Herrlichkeit nichts zu erkennen«1171 scheint und das Bild von Adam und Eva fortschleppt, um es zu Geld zu machen, dann »ereignet sich eine ironische Bedeutungskollision: die Meinung der erzählten Figur (Vasthi) relativiert die kursivierte Kompetenz des Erzählers.«1172 Damit verweist Arnim zugleich auf die Kunstfeindlichkeit der neuen Zeit und auf die Fragwürdigkeit seines früheren Selbstverständnisses als Schriftsteller: Der Autor, der 1819 bereits zurückgezogen auf seinem Gut in Wiepersdorf lebte, zweifelte wohl zunehmend an der Möglichkeit, mit Kunst gestaltend in die Widersprüche der Zeit eingreifen zu können.1173
1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1721. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 226. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 142. Wingertszahn, Ambiguität (wie Anm. 21), S. 226. Andrea Jäger, die sich nicht auf Wingertszahns Analyse bezieht, gelangt zu ähnlichen Resultaten. Sie betont, daß die »höhere Welt«, die sich dem Majoratsherr eröffnet, nicht durch dritte Personen beglaubigt wird. »Die Existenz der höheren Welt bleibt allerdings gebunden an das Subjekt, das die Phantasie besitzt, sie zu schauen. [...] Mit ihm [dem Majoratsherren, M. P.] jedoch stirbt die einzige Figur, die fähig ist, das Zeichen auf das höhere Absolute hin zu deuten.« A. Jäger, Groteske Schreibweise (wie Anm. 1140), S. 85f. Gerhart von Graevenitz mag sich nicht entscheiden, ob die Kursivstelle 1819 noch »als Romantik-Routine hinzunehmen ist oder ob der ironische Gestus der Romantik ein romantisches Ideal vor seiner kursivierten Befestigung bewahren soll«. Graevenitz, Die Majoratsherren (wie Anm. 1026), S. 222.
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»Doch genug vom poetischen Firlefanz«: Der verhinderte Volksdichter Arnim
In seinen späten Jahren kam Arnim zunehmend zu der Erkenntnis, »daß die schöne Literatur keinen Einfluß auf die politischen Geschicke nehmen konnte«1174, wie Jürgen Knaack berichtet, und er hatte zudem »am eigenen Leibe erfahren müssen, wie wenig Beachtung engagierte Literatur allgemein fand«1175. Die persönlichen Mißerfolge bestärkten seine Distanzierung von der früheren, idealistischeren Position. »Doch genug vom poetischen Firlefanz, meine Werke haben das mit dem Himmelreiche gemeinschaftlich, daß die Wenigsten hinein mögen«1176, schrieb er 1819 an die Brüder Grimm, als diese sich auch über das Drama Die Gleichen und die Erzählung Die MajoratsHerren nicht gerade begeistert gezeigt hatten.1177 Nicht nur die Freunde fanden indes keinen Zugang zu Arnims Dichtung. »[...] aber so hast Du Deinen eigenen Blick, den kein anderer so haben wird, darum glaub ich auch, daß Du eine große Geschichte, wovon Du sagst, vortrefflich schreibst, auch eine Menge damit erfreust, aber kein Volksbuch machst«1178, urteilte Wilhelm Grimm im Kontext der Diskussion um die Isabella (1812), und in der Tat war selbst die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, die Arnim bis zu seiner Wiederentdeckung in den 1950er Jahren beinahe ausschließlich seinen Platz in der Literaturgeschichte sichern sollte, kein »allzu großer buchhändlerischer Erfolg«1179 (Hans-Günther Thalheim). Die Hoffnungen des Autors, beim Lese1174 1175 1176 1177 1178 1179
Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 76. Ebd. Brief vom 11. November 1819. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 452f., hier S. 453. Vgl. den Brief der Brüder vom 3. November 1819. Ebd., S. 449–452. Brief vom 21. Juni 1812. Vgl. ebd., S. 204–208, hier S. 205. Thalheim, Goethezeit (wie Anm. 236), S. 315. Vgl. die Angaben Bernhard Gajeks, der darauf verweist, daß die Sammlung »nicht volksläufig« wurde: »Nur der erste Band [...] wurde nachgedruckt [...]. Die beiden anderen Bände bot der Verleger schon 1816 mit einer Gratiszugabe von vierundzwanzig Liedern zu herabgesetztem Preis an. 1878 waren sie immer noch für je eine Mark fünfzig zu haben. Und um 1900 brauchte man nur wenig mehr zu zahlen, um ein verlagsfrisches Exemplar aller drei Bände zu erwerben.« Bernhard Gajek: Achim von Arnim. Romantischer Poet und preußischer Patriot (1781–1831). In: Sammeln und Sichten. Festschrift für Oscar Fambach zum 80. Geburtstag. Hg. von Joachim Krause, Norbert Oellers und Karl Konrad Polheim. Bonn: Bouvier 1982 (Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit; 4), S. 270. In seiner anläßlich der Neuauflage von 1818 verfaßten Zweite[n] Nachschrift an den Leser wundert sich Arnim denn auch selbst über den Wunsch der Verleger nach einem »neuen Abdruck«, da doch die erste Auflage »überall vergessen schien«. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Band 8: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Teil III. Hg. von
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publikum erfolgreich und populär zu werden, »waren bei Lebzeiten schon gestrandet«1180, wie Peter Staengle bilanziert. Zu den Rückschlägen in seiner Laufbahn als Schriftsteller gesellte sich eine für Arnim spätestens mit dem Wiener Kongreß von 1815 auch politisch enttäuschende Entwicklung, die – neben ökonomischen Hintergründen1181 – dazu beitrug, daß der Autor beinahe nur noch auf seinem Gut in Wiepersdorf lebte.1182 »Damals, während der euphorischen Reform- und Befreiungszeit, war Arnim in das literarische und politische Leben der Hauptstadt integriert gewesen. [...] Mit Einsetzen der repressiven Restaurationszeit zieht Arnim sich aus dem Berliner Gesellschaftsleben zurück. [...] Statt der ehedem hochgemuten Diskussion über den zu schaffenden deutschen Nationalstaat im Berliner Freundeskreis mit Clausewitz, Savigny, Stägemann, Zelter und Fichte waren jetzt Hausdurchsuchungen – etwa bei Schleiermacher – und Bespitzelungen an der Tagesordnung«1183, kommentiert Paul Michael Lützeler das veränderte Klima in Berlin. Der Wiener Kongreß hatte den nationalen Hoffnungen Arnims und seiner Freunde ein vorläufiges Ende bereitet, und der Dichter fühlte nun, wie er an seinen alten Mitstreiter Friedrich Carl von Savigny schrieb, »daß ich mir an meinem lieben Vaterlande, das ich einst übergötterte, einen Ekel fressen soll«1184.
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Heinz Rölleke. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1977, S. 370–379, hier S. 370. Staengle, Arnims poetische Selbstbesinnung (wie Anm. 21), S. 7. Vgl. Knaack, Nicht nur Poet (wie Anm. 49), S. 66–68 und Hartwig Schultz: Berliner und Wiepersdorfer Romantik. Themen und Formen einer erneuerten, kritischen Romantik bei Arnim und Bettina. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 8: »[...] Achim von Arnim und Bettina gehorchten zweifellos der Not – nämlich ökonomischen Zwängen –, wenn sie ihren Lebensschwerpunkt in das Ländchen Bärwalde und das damals äußerst bescheidene Gutshaus von Wiepersdorf verlegten.« Renate Böschenstein-Schäfer spricht in diesem Kontext von Arnims »allmähliche[m] Übergang in das ›geheime‹ Dasein eines unbemittelten märkischen Gutsbesitzers«. Renate Böschenstein-Schäfer: Das literarische Leben. 1800–1850. In: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Hans Herzfeld und Gerd Heinrich. Berlin: de Gruyter 1968 (Geschichte von Brandenburg und Berlin; 3), S. 681. Paul Michael Lützeler: Genieästhetik und Reformideen. Bettina und Achim von Arnim. In: Paul Michael Lützeler: Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation. Berlin: Schmidt 1997 (Philologische Studien und Quellen; 145), S. 55. Achim von Arnim an Friedrich Carl von Savigny, Brief vom 5. Dezember 1815. In: Arnims Briefe an Savigny. 1803–1831. Mit weiteren Quellen als Anhang. Hg. von Heinz Härtl. Weimar: Böhlau 1982, S. 131f., hier S. 131. Vgl. Paul Noacks Kommentar zum späten Arnim: »Die neue Zeit gilt ihm wohl als unabänderlich; aber Sympathie vermochte er für sie – je älter er wurde, desto weniger – nicht zu empfinden.« Paul Noack: Achim von Arnims »Kronenwächter« – Politik in der
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Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau und die Versöhnung mit Frankreich
Die Entwicklung in der Restaurationszeit mag dazu beigetragen haben, daß Achim von Arnim in der Erzählung Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau (1818)1185 gegenüber den Franzosen zu einer versöhnlicheren Einstellung fand. Zwar reproduziert Arnim in dieser Geschichte einer »seltne[n] Liebe«1186 zwischen der Leipzigerin Rosalie und dem französischen Kriegsgefangenen Francoeur die gängigen nationalen Stereotypen, aber er demonstriert auch die Gefährlichkeit nationaler Feindschaft für das individuelle Glück. Rosalies Mutter ist »blind für die Echtheit dieser Liebe«1187 und wertet Rosalies Verhalten als »Verrat am Vaterland«1188; analog hierzu wird Francoeur bei der Hochzeit der beiden durch den Priester mit Schuldgefühlen geradezu überfrachtet: »Ein alter Geistlicher hielt eine feierliche Rede, in der er meinem Francoeur alles ans Herz legte, was ich für ihn getan, wie ich ihm Vaterland, Wohlstand und Freundschaft zum Opfer gebracht, selbst den mütterlichen Fluch auf mich geladen, alle diese Not müsse er mit mir teilen, alles Unglück gemeinsam tragen«1189, berichtet Rosalie. Die Liebenden werden durch die Vorurteile ihrer Umgebung nachhaltig verunsichert; nicht eine unüberbrückbare nationale Differenz trennt die beiden Protagonisten (wie Therese und Rabuni bzw. Dolores und den Marchese), sondern die national motivierte Intoleranz Dritter, die letztlich beinahe eine Katastrophe verschuldet. Der an einer kontinuierlich schlimmer werdenden Kopfverletzung leidende und daher psychisch labile Francoeur glaubt zu Unrecht, daß Rosalie ihn betrügt; von dem Fort Ratonneau aus, über das ihm der Oberbefehl übertragen worden war, droht er am Ende, Marseille in die Luft zu sprengen. Rosalie jedoch geht ihm ungeachtet der Kugeln, die an ihr vorbeifliegen, entgegen und verursacht so indirekt, daß die Kopfwunde aufplatzt und Francoeurs Wahn verfliegt.1190 So ist die Bahn für das harmonische Finale geebnet, obschon beide – wie der Erzähler zu berichten weiß – »erst in [...] ruhigeren Jahren den ganzen Umfang des gewonnenen Glücks erkannten«1191. Gerhard Möllers konstatiert mit Bezug auf das durch Rosalies mutiges Handeln bewirkte Happy End, daß der »feste Glaube an die totale Einheit von
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Spätromantik. In: Perspektiven der Romantik mit Bezug auf Herder, Schiller, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Arnim, die Brüder Grimm, Gottfried Keller, Rilke und den Avantgardismus. Beiträge des Marburger Kolloquiums zum 80. Geburtstag Erich Ruprechts. Hg. von Reinhard Görisch. Bonn: Bouvier 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 377), S. 73. Vgl. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 32–55. Ebd., S. 34. Moering, Offene Romanform (wie Anm. 45), S. 108. Ebd. Arnim, Werke IV (wie Anm. 10), S. 37. Vgl. ebd., S. 46–55. Ebd., S. 55.
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irdischem Unternehmen und göttlicher Hilfe bei einer Tat, die ihr [Rosalie, M. P.] die Liebe diktiert, ein Scheitern aus[schließen]«1192. Günter Oesterle, der in seiner gattungstheoretischen Untersuchung der Erzählung eine »Gegenläufigkeit der beiden Gattungen Novelle und Legende«1193 diagnostiziert, betont ebenfalls, daß »Rosalie, der Legende gemäß ohne Bängnis ihrer inneren Stimme folgt«1194 und so schließlich die »heilende[] Befreiung«1195 ermöglicht. »Arnim setzt genre- und genderbewußt Legende und Frau als tableauartiges Gegengewicht zur Hyperdynamik und Novität von Novelle und Mann ein«1196, schreibt Oesterle, dessen Analyse in diesem Kontext freilich die Tatsache deutlicher hätte markieren können, daß es die »Glaubensgewißheit«1197 der aus dem einfachen Volk stammenden deutschen Frau ist, die den Wahnsinn des französischen Soldaten heilt.1198 Auch wenn auf diese Weise die nationalen Zugehörigkeiten noch einmal gegeneinander ausgespielt werden1199, ist doch der versöhnliche Aspekt dominierend. Schließlich war der Franzose in erster Linie durch seine Verletzung und die Bösartigkeit des Priesters zu einer Bedrohung geworden und nicht durch jene Eigenschaften, die der romantischen Vorstellung gemäß aus dem französischen Nationalcharakter resultieren, auch wenn diese im Text durchaus präsent sind und Francoeur in seinem Denken, Handeln und Aussehen von ihnen geprägt ist. Dieser kurze Seitenblick auf den Tollen Invaliden, der lange als Arnims »bekannteste Erzählung«1200 galt, belegt, daß Arnim nach dem Wiener Kon1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198
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Möllers, Wirklichkeit und Phantastik (wie Anm. 24), S. 115. G. Oesterle, Der tolle Invalide (wie Anm. 44), S. 26. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd.; zur gattungstheoretischen Fragestellung vgl. auch Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1993, S. 230–232. G. Oesterle, Der tolle Invalide (wie Anm. 44), S. 37. Bei Möllers, Wirklichkeit und Phantastik (wie Anm. 24), S. 107–116 wird diese Problematik allerdings gänzlich ausgespart. Günter Oesterle geht nur kurz darauf ein, daß sich die »narrative und sprachliche Vitalität der Erzählung« nicht nur aus der Geschlechterdifferenz, sondern auch aus »dem Kontrast französischer und deutscher Mentalität [...] speist«. G. Oesterle, Der tolle Invalide (wie Anm. 44), S. 32. Vgl. zu diesem Aspekt die wichtige Interpretation von Moering, Offene Romanform (wie Anm. 45), S. 101–115. Vgl. zudem Kratzsch, Untersuchung (wie Anm. 1037), S. 54–68 sowie H.-G. Werner, Zur Technik (wie Anm. 1132), S. 207– 214. Moering hat Recht, wenn sie darauf insistiert, daß Arnim mit seiner Erzählung gegenüber Lessing auf der Verschiedenheit der Nationen insistiert; ihr ist auch in dem Punkt zuzustimmen, daß der Text einen Beitrag zur Versöhnung dieser verschiedenen Nationen leisten will. Ob wirklich eine Gleichwertigkeit der Nationen behauptet wird, erscheint indes fraglich, weil die christliche deutsche Frau letztlich für das positive Ende verantwortlich zeichnet, während der Franzose beinahe – wenn auch unverschuldet – eine Katastrophe herbeigeführt hätte. Vgl. Moering, Offene Romanform (wie Anm. 45), S. 114f. Möllers, Wirklichkeit und Phantastik (wie Anm. 24), S. 107.
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greß durchaus zu einer gelasseneren Haltung gegenüber Frankreich fand. Dem Judentum hingegen, das – genau wie die national denkenden Romantiker – zu den Verlierern der Jahre nach 1815 gehörte, begegnete er – wie die Analyse der Majorats-Herren gezeigt hat – weiterhin unversöhnlich.
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Ein gescheiterter Autor und die Imagination eines »jüdischen Literaturbetriebes«
Diese unversöhnliche Haltung des späten Arnim wird auch durch ein Briefdokument aus dem September des Jahres 1830 belegt.1201 In einem Schreiben an Wilhelm Grimm beschwert er sich zunächst über die »französischen Geschichten«1202 – gemeint ist die Pariser Julirevolution – und kommt dann auf die Folgen der dortigen Unruhen in verschiedenen deutschen Ländern und Städten zu sprechen. In Hamburg etwa, so Arnim, sei »[a]uch [...] ein Revolutiönchen gewesen, die Juden wurden an einem Tage aus allen Kaffeehäusern herausgeschmissen. Wie mag dem Heine mit seinen Reisebildern dabei zu Muthe gewesen sein? Uebrigens ist es eine Seltsamkeit, daß Juden sich jetzt der meisten periodischen Blätter bemächtigen, am Ende haben sie wirklich etwas vor«1203. Arnim imaginiert damit am Ende seines Lebens noch einmal die »Gefahr« einer jüdischen Verschwörung; doch es wird noch eine weitere Kontinuität zu seinem früheren Oeuvre hergestellt, die darin besteht, daß der sich immer schneller kapitalisierende kommerzielle Literaturbetrieb als »jüdisch« konnotiert wird. Zum Inventar dieses Literaturbetriebs gehört der selbst nicht schöpferisch tätige Kritiker: Raphael Rabuni wurde – wie bereits erläutert – in der Versöhnung in der Sommerfrische als ein unproduktiver Rezensent denunziert, der der volksverbundenen Kunst des jungen Fähnrich nur mit einer vollkommen deplacierten Kritik zu begegnen weiß. Drei Jahre zuvor war in der Zeitung für Einsiedler die Nacherzählung der Golem-Sage durch Jacob Grimm erschienen1204, die später für Arnims Gestaltung des »lehmgeborenen Wollustteufel[s] Golem«1205 in der Isabella von Ägypten konstitutive Bedeutung bekommen sollte. Arnim stellte den Text unter die Überschrift »Entstehung der Verlagspoesie«1206, was die Interpreten nachhaltig irritierte und erst durch Gunnar Och befriedigend entschlüsselt werden konnte: »Die Golem-Mythe der Einsiedler-Zeitung ist das letzte Glied 1201 1202 1203 1204 1205 1206
Brief vom 19. September 1830. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 609–611. Ebd., S. 609. Es sei bei dieser Revolution ohne »Maß« und »Verstand« vorgegangen worden, so Arnim. Ebd., S. 611. Vgl. Zeitung für Einsiedler (wie Anm. 256), S. 55. Ricklefs, Sprachen der Liebe (wie Anm. 997), S. 275. Vgl. Zeitung für Einsiedler (wie Anm. 256), S. 55.
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in einer Kette«1207, schreibt Och, der auf die Texte Entstehung der indischen Poesie (Friedrich Schlegel), Entstehung der neupersischen Poesie (Friedrich Wilken) und Entstehung der heiligen Poesie (Achim von Arnim) hinweist, die Grimms Beitrag vorausgehen.1208 Die – jüdisch konnotierte – kommerzielle Verlagspoesie wird gegenüber den hoch geschätzten außereuropäischen Literaturen und der »heiligen Poesie« nicht nur als Produkt des Verfalls, sondern vor allem auch als »nicht-ursprüngliches, künstliches, seelenloses und den eigentlichen Schöpfungsakt frevlerisch kopierendes Produkt«1209 charakterisiert; der Golem lebt nur durch die Buchstaben auf seiner Stirn, nicht etwa durch einen Geist, der ihn beseelen würde. Arnim wahrt in seinen Werken also eine dezidierte Distanz zu dem sich kapitalisierenden Buchmarkt, in dem er gleichwohl gerne eine größere Rolle gespielt hätte, wie ein auf den eben erschienenen Roman Die Kronenwächter (1817)1210 rekurrierender Brief an die Grimm-Brüder aus dem Jahr 1817 dokumentiert: »Für Lob und Tadel über die Kronenwächter sage ich Euch meinen Dank, das Buch hat im Ganzen gute Aufnahme gefunden und wird stark gelesen. Neulich hat eine Köchin darüber das Essen ihrer Herrschaft anbrennen lassen, bei Frau von Halle; als diese endlich kommt und sagt, sie wolle ihr das verfluchte Buch nehmen, antwortet die Köchin, sie lasse sich das Buch nicht schimpfen, das sei ein schön Buch. So etwas thut einem Autor sehr wohl, mag aber freilich dem [August] Lafontaine unendlich viel öfter geschehen sein.«1211 Daß seine Texte im Regelfall eben nicht »stark gelesen« wurden – im übrigen blieb auch der Roman Die Kronenwächter entgegen Arnims Aussagen »ein unpopuläres [...] Buch«1212 – und ihn von der Publikumsresonanz eines Lafon1207 1208 1209 1210
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Och, Zauberbilder (wie Anm. 60), S. 187. Vgl. Zeitung für Einsiedler (wie Anm. 256), S. 54f. Och, Zauberbilder (wie Anm. 60), S. 188. Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band zwei: Die Kronenwächter. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker; 42), S. 9–328. In einem am 21. Oktober 1817 beendeten Brief an die Grimm-Brüder. In: Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 400–404, hier S. 400. Vgl. zum Roman u. a. Haustein, Romantischer Mythos (wie Anm. 142), S. 60–102 sowie Noack, Achim von Arnims »Kronenwächter« (wie Anm. 1184), S. 63–76. Daß Arnim die Fortsetzung des düster endenden Romans nicht vollendete, ist – m. E. zu Recht – ebenfalls als Indiz für die Resignation des späten Arnim gedeutet worden. Vgl. Noack, Arnims »Kronenwächter«, S. 69. So Paul Michael Lützeler in seinem Kommentar. Vgl. Arnim, Werke II (wie Anm. 1210), S. 617–765, hier S. 628. Vgl. zudem zur Rezeption der Kronenwächter Paul Michael Lützeler: Achim von Arnim: Die Kronenwächter (1817). In: Paul Michael Lützeler: Geschichte in der Literatur. Studien zu Lessing bis Hebbel. München: Piper 1987 (Serie Piper; 758), S. 173–186 sowie Thomas Paul Bonfiglios interessante Interpretation der zitierten Briefstelle: »Bemerkenswert ist, daß Arnim selbst, wie die Köchin, unter den Erwartungen einer Herrschaft stand, indem er die Unterstützung der literarisch-geistigen Herrschaft der Brüder Grimm genoß und davon
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taine Welten trennten,1213 hat den Autor zunehmend verbittert;1214 indem er den herrschenden Literaturbetrieb als von jüdischen Kräften unterwandert und manipuliert imaginiert, kann er sich von einem System distanzieren, in dem er selbst nicht zu reüssieren vermochte. Doch Arnims These, daß sich Juden »jetzt der meisten periodischen Blätter bemächtigen«1215 würden, verweist nicht nur auf entsprechende Passagen in dem früheren Oeuvre des Schriftstellers, die einen jüdisch besetzten Literaturbetrieb imaginieren; sie antizipiert vielmehr auch eine Polemik des einflußreichen Literaturkritikers Wolfgang Menzel, der fünf Jahre später in den hektischen Debatten um Karl Gutzkows Skandalroman Wally, die Zweiflerin (1835)1216 gegen die Autoren des Jungen Deutsch-
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profitierte. Der Witz wirkt metonymisch als Verschiebung von Arnims Problem: jemand vermag Erwartetes nicht zu liefern und wird mit der Kritik bzw. Enttäuschung einer Autorität rechnen müssen.« Bonfiglio, Ironie und Modernität (wie Anm. 1162), S. 41. Werner Vordtriede: Achim von Arnims »Kronenwächter«. In: Die neue Rundschau (1962), S. 140 schreibt von der »Feindschaft und Gleichgültigkeit« der Leserschaft Arnim gegenüber, der »um 1822, mit einundvierzig Jahren, schon ein Vergessener war«. Vgl. hierzu auch Peter Härtling: Ein schöner Geist, dem Flügel wuchsen. Geliebt, aber nicht gefördert: Vor einhundertfünfzig Jahren starb der Dichter Ludwig Achim von Arnim. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Januar 1981, S. 25. Steig/Grimm, Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 163), S. 611. Vgl. Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Roman. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit. Hg. von Günter Heintz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek; 9904); für die Literaturwissenschaft wurde der Roman vor allem wegen seiner Wirkungsgeschichte interessant, während seine »literarische[n] Qualitäten [...] nicht allzu hoch veranschlagt« (Jansen, S. 133) wurden: »In der Tat hätte eine besonnene Überarbeitung dem Roman gutgetan« (S. 134) urteilt – stellvertretend für viele – Josef Jansen, der auch von »literarische[r] Insuffizienz« (S. 134) und einem »künstlerisch anzweifelbare[n] Buch« (S. 145) spricht, das als »Manifest der literarischen Programmatik der Jungdeutschen« (S. 133) gleichwohl bedeutsam sei. Vgl. Josef Jansen u. a.: Einführung in die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Band 1: Restaurationszeit (1815–1848). Opladen: Westdeutscher Verlag 1982 (Grundkurs Literaturgeschichte). Um eine Rehabilitation des Textes in ästhetischer Hinsicht bemühen sich Udo Köster: Literatur und Gesellschaft in Deutschland 1830– 1848. Die Dichtung am Ende der Kunstperiode. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1984 (Sprache und Literatur; 120), S. 158–167 sowie David Horrocks: Maskulines Erzählen und feminine Furcht. Gutzkows Wally, die Zweiflerin. In: Karl Gutzkow. Liberalismus – Europäertum – Modernität. Hg. von Roger Jones und Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis 2000 (Vormärz-Studien; 6/GutzkowStudien; 2), S. 149–163, die die »unerhörte Modernität« (Horrocks, Maskulines Erzählen, S. 152) des Buches betonen und Wally, die Zweiflerin als »experimentellen Roman« (Köster, Literatur und Gesellschaft, S. 158) interpretieren. Wesentlich skeptischer urteilt Herbert Kaiser, dessen Studie – nach vielen Darstellungen des literaturpolitischen Skandals – aber ebenfalls in erster Linie am Text orientiert ist. Vgl. Herbert Kaiser: Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. In: Romane und Erzäh-
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land1217 mit dem Argument agitiert, daß sie »alle einflußreichen Organe in Berlin, Leipzig und was weiß ich noch bereits für sich gewonnen«1218 und damit womöglich »die Leitung der deutschen Jugend usurpiert«1219 hätten.1220 Wenn Gutzkow und sein Mitstreiter Ludolf Wienbarg tatsächlich – wie angekündigt – das Journal Deutsche Revue gründen sollten, würden sie – so Menzels Schreckensvision – »als eine kritische Macht [...] die gesamte deutsche Literatur [...] beherrschen«1221 und mithin einen fatalen Einfluß auf die deutsche Gesellschaft gewinnen; Menzels Hauptvorwurf gegen die Jungdeutschen gilt – neben ihrer Indifferenz in religiösen Fragen – ihrer Haltung zur Nation: »Unter der Maske des Weltbürgertums verhöhnen sie alles, was in unsrer an Vaterlandsliebe ohnehin nicht reichen Zeit noch an der deutschen Nationalität hängt, nennen jeden Ehrenmann, der nicht wie sie franzosenvoll und franzosentoll ist, einen Philister und spotten über das Gefühl der Nationalehre, über den Patriotismus als über einen tierischen Trieb des Blutes.«1222 Nachdem Menzel die »literarische[n] Freibeuter«1223 Gutzkow und Wienbarg ihre Illoyalität gegenüber »Deutschland«, ihre »soziale Immoralität«1224
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lungen zwischen Romantik und Realismus. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1983, S. 183–201, vor allem S. 187–199. Ich teile die Auffassung Udo Kösters, daß die Autoren des Jungen Deutschland in soziologischer und theoretischer Hinsicht sowie bezüglich ihrer Schreibstrategien als einheitliche Gruppe verstanden werden können. Vgl. Köster, Literatur und Gesellschaft (wie Anm. 1216), S. 166f.; Helmut Koopmann: Das Junge Deutschland. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993 vertritt die gegenteilige Ansicht, doch seiner Auffassung liegt eine Überbewertung der Distanzierungsversuche einzelner Jungdeutscher von dieser Bewegung nach dem Verbotsbeschluß von 1835 zugrunde. In seinem Artikel Unmoralische Literatur, der am 23./26. 10. 1835 in den Nummern 109 und 110 des Literatur-Blattes in Stuttgart erschien. Wolfgang Menzel: Unmoralische Literatur. In: Karl Gutzkow. Wally, die Zweiflerin. Roman. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit. Hg. von Günter Heintz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek; 9904), S. 344. Ebd. Zu diesem »Literaturskandal« vgl. die detaillierte Darstellung von Erwin Wabnegger: Literaturskandal. Studien zur Reaktion des öffentlichen Systems auf Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (1835 bis 1848). Würzburg: Königshausen & Neumann 1987 (Poesie und Philologie; 1) und die Dokumentation: Dokumente zum zeitgenössischen Literaturstreit. In: Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Roman. Studienausgabe. Hg. von Günter Heintz. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1998 (Reclams Universal-Bibliothek; 9904), S. 259–435. Vgl. zudem die Überblicke bei H. Kaiser, Gutzkow (wie Anm. 1216), S. 183–187 und Koopmann, Das Junge Deutschland (wie Anm. 1217), S. 96–109. Menzel, Unmoralische Literatur (wie Anm. 1218), S. 344. Ebd., S. 345. Ebd., S. 346. Ebd.
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und ihre ausschließliche Konzentration auf das »irdische[] Glück«1225 ausführlich vorgehalten hat, gelangt er »zum Schluß«1226 seiner Einlassungen zu der Frage, »was sich die Judenschaft bei der etwas delikaten Frage ihrer Emanzipation von solchen literarischen Lakaien für Vorteile verspricht, da man überall hören muß, das sogenannte junge Deutschland sei eigentlich ein junges Palästina«1227. Die »Franzosensucht«1228 und der »Deutschen- und Christenhaß«1229 der Jungdeutschen, so Menzel, lasse in der öffentlichen Meinung eine Verbindung dieser Autoren mit dem »Judaismus«1230 plausibel erscheinen. Menzel suggeriert, daß jüdische Hintermänner1231 die »franzosentollen« Jungdeutschen steuern würden und verknüpft – wie zuvor schon die Romantiker – mit diesem »demagogische[n] Kunstgriff«1232 zwei Elemente, »die beide als wesensfremd und bedrohlich empfunden wurden und infolgedessen geeignet waren, Affektreaktionen auszulösen – französischer Nationalcharakter und jüdische Mentalität«1233. Auf diese Weise wird – wie Bernd Wegener zu Recht konstatiert – »eine verhaßte Tendenz des zeitgenössischen Literaturbetriebes jüdischer Kollektivverantwortung«1234 überantwortet; hier ähnelt die – freilich weitaus aggressivere – Argumentation Menzels durchaus den Überlegungen Arnims.1235 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231
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Ebd., S. 348. Herv. i. O. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 349. Ebd. Daß Carl Löwenthal, der Verleger der Wally, Jude war, wurde dabei aus dem Kontext isoliert und überbewertet. Vgl. Bernd Wegener: Gutzkows Wally und die Folgen. Anmerkungen zu antisemitischen Elementen in der Literaturkritik des Vormärz. In. Mannheimer Hefte 1 (1977), S. 51–59, vor allem S. 54. Vgl. zu Gutzkows Haltung zum Judentum Hartmut Steinecke: Gutzkow, die Juden und das Judentum. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung. Zweiter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Max Niemeyer 1989, S. 118–129. Wegener, Wally (wie Anm. 1231), S. 55. Ebd.; vgl. hierzu auch H. Kaiser, Gutzkow (wie Anm. 1216), S. 185. Wegener, Wally (wie Anm. 1231), S. 56. Ernst Moritz Arndt geht mit Arnims und Menzels Verschwörungstheorien konform, wenn er in einem Brief an D. A. Benda vom 14. Januar 1843 konstatiert, daß »Juden oder getaufte und [...] eingesalbte Judengenossen [...] sich der Literatur, der fliegenden Tagesblätter wohl zur guten Hälfte bemächtigt« hätten, »wodurch sie [...] jede heilige und menschliche Staatsordnung als Lüge und Albernheit in die Luft blasen möchten«. In: Ernst Moritz Arndt: Briefe. Hg. von Albrecht Dühr. Dritter Band. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 (Texte zur Forschung; 10), S. 99f., hier S. 100. In den Reden und Glossen (1848) wirft er Juden ebenfalls vor, durch ihre journalistischen Tätigkeiten ein »gar nicht ungefährlicher Gährungsstoff [...] in unserm sittlichen und öffentlichen Leben« zu sein:
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In der Flut von Publikationen aus den Jahren 1835 bis 1837, die sich mit Gutzkows Buch und Menzels Polemiken beschäftigen, ragt sicherlich ein Beitrag von Jakob Weil von 1836 heraus, der Menzels Konstruktion eines deutsch-jüdischen Gegensatzes erkennt und sie – nach Hinweisen darauf, daß kein Jude dem engeren Kreis der Jungdeutschen angehört – pointiert ironisiert: »Daß die Juden Deutsche seyn können, das will gewissen Leuten durchaus nicht in den Kopf. Junge Deutsche aber müssen sie nothwendig seyn – sie mögen wollen oder nicht. Nun frage ich: wie kann man ein junger Deutscher seyn, wenn man gar kein Deutscher ist?«1236 Als Weil seine differenzierten Einschätzungen vorlegte, hatte der Verbotsbeschluß des Deutschen Bundes vom 10. Dezember 1835, der die Verbreitung der Schriften von Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Theodor Mundt, Ludolf Wienbarg und Heinrich Heine untersagte, das Junge Deutschland praktisch schon zur Bedeutungslosigkeit verurteilt; daß die Angst vor staatlichen Repressalien eine »massive Desolidarisierung«1237 unter den Protagonisten der Bewegung zeitigte, forcierte ihr Ende noch zusätzlich. Auf der anderen Seite verlor jedoch auch Menzel an Einfluß; insbesondere die massiven Gegenangriffe von Ludwig Börne1238 und Heinrich Heine1239 beschädigten nachhaltig die Reputation des Rezensenten, der maßgeblich dazu beigetragen hatte, daß in den Auseinandersetzungen um Gutzkows Wally die Literaturkritik »zu einer raffinierten Variante antisemitischer Agitation degenerierte«1240. Dieser kurze Exkurs zeigt, daß Arnims Argumentationsmuster bei Menzel – freilich in merklich verschärfter Form – wiederkehrt: Beide Schriftsteller etablieren die Vorstellung eines von Juden beherrschten kommerziellen Literaturbetriebes, der einen fatalen Einfluß auf die Gesellschaft hat und die hehren Werte christlicher Deutschheit systematisch untergräbt. Als Menzel seinen »exterminatorischen Feldzug«1241 gegen die Jungdeutschen startete, weilte
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»Indem sie sich der guten Hälfte der Tagesliteratur bemächtigt haben, spielen sie Hohn, Haß und radikalste Lüge in alles Spiel des Tages hinein, und schauen und lauschen ringsum, wo im Vaterland noch eine Kraft gesund und stark ist, sie zu mindern und aufzulösen.« Ernst Moritz Arndt: Reden und Glossen. Leipzig: Weidmann 1848, S. 37. Jakob Weil: Das junge Deutschland und die Juden. In: Politische Avantgarde. 1830–1840. Eine Dokumentation zum »Jungen Deutschland«. Hg. von Alfred Estermann. Band 1. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, S. 298. Köster, Literatur und Gesellschaft (wie Anm. 1216), S. 165. Vgl. Börnes Schrift Menzel der Franzosenfresser (1836/37). In: Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Dritter Band. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 871–984. Zum Konflikt zwischen Börne und Menzel siehe Jost Hermand: Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996, S. 25–39. Vgl. Heines Schrift Über den Denunzianten (1837). In: Heine, Werke IV (wie Anm. 1), S. 301–316. Wegener, Wally (wie Anm. 1231), S. 52. Köster, Literatur und Gesellschaft (wie Anm. 1216), S. 165.
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Arnim freilich schon nicht mehr unter den Lebenden. Der Autor, der am Ende als »Schafzüchter und bäuerlicher Gutsherr«1242 zurückgezogen sein Gut in Wiepersdorf bewirtschaftete, war am 21. Januar 1831 als knapp 50jähriger einem Schlaganfall erlegen. Die Frage, ob und wie sich Ludwig Achim von Arnim in dem »literarischen Bürgerkrieg«1243 zwischen Menzel und den Jungdeutschen positioniert hätte, muß daher eine müßige Spekulation bleiben.
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Vordtriede, Arnim (wie Anm. 25), S. 318. Ingrid Oesterle und Günter Oesterle: Der literarische Bürgerkrieg. Gutzkow, Heine, Börne wider Menzel. Polemik in der Kunstperiode und in der Restauration. In: Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland: Vormärz. Hg. von Gert Mattenklott und Klaus R. Scherpe. Kronberg/Taunus: Scriptor 1974 (Scriptor-Taschenbücher; 29/Literatur im historischen Prozeß; 3/2), S. 151–185.
G
»Dumoulin war ein Jude gewesen....« – Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
I
Der politische Brentano
Achim von Arnims reges Engagement für Preußen und sein Ansinnen, notfalls auch gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen, stieß bei Clemens Brentano in den Jahren 1805 und 1806 auf Unverständnis. »Die Lage Deutschlands ist so, daß sie kaum verdient dir am Herzen zu liegen«1, schreibt er dem »[l]iebe[n] Bruder«2 am 23. Dezember 1805, und im Januar 1806 wird der Ältere der beiden Freunde unter Bezugnahme auf Arnims Freundschaft mit Goethe noch deutlicher: »[W]enn ich auf unsre neue poetische Kunst sehe, so muß ich immer dein gedenken, du bist so menschlich, gefällig, gütig, gedankenvoll, überschwenglich produktiv, [...] hast solche Liebe an unerkannter Kunst, [...] und kaum betritst du die Dichterbahn, so begegnet dir der beste lebendige Meister auf der Chaussee, wollt ich sagen Kunststraße, und bietet dir tröstend und freundlich die Hand, dir [...] ist Göthe befreundet [...].«3 Brentano interpretiert damit Arnims Verbindung mit dem »Herr[n] in der Loge«4 (Joseph Görres), »von dem kein Jüngling dieser Zeit sich des Vertrauens rühmen kann«5 und »den selbst die verehrende Lesewelt stolz nennt«6, als Verpflichtung für den Freund, seine Energien nicht in politischen Angelegenheiten zu verbrauchen: »[L]ieber Arnim, sei doch eine Minute eitel, und bleibe ein Dichter«7. Während Arnim seine historische Mission darin sieht, sich im Umkreis des Freiherren Karl vom und zum Stein um die Zukunft des »Vater1
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In: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe I. 1801 bis 1806. Vollständige kritische Edition. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), S. 318–324, hier S. 323. Ebd., S. 318. Clemens Brentano an Achim von Arnim, Brief vom 1. Januar 1806. In: Ebd., S. 325–332, hier S. 327. So Görres über Goethe in seiner 1809 in den Heidelbergische[n] Jahrbücher[n] erschienenen Rezension der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn. In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Wilhelm Schellberg und Adolf Dyroff. Fortgeführt von Leo Just. Band 4: Geistesgeschichtliche und literarische Schriften II (1808–1817). Hg. von Leo Just. Köln: J. P. Bachem 1955, S. 24–45, hier S. 25. Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 1), S. 327. Ebd. Ebd.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
landes« zu bemühen, billigt ihm sein Freund lediglich eine literarhistorische Mission zu: »Göthe hat einstens zu Friedrich Tieck gesagt, er wundre sich, daß Preußen keinen Dichter habe, als Rammler, Gott segne dich, lieber, rette doch dein Vaterland, steige auf dein Flügelroß, und mach eine Bresche in Göthens Litterairgeschichte.«8 Der Ruhm, der auf dem literarischen Gebiet erreicht werden kann, muß nach Brentano ohnehin höher eingeschätzt werden als der auf dem Schlachtfeld errungene, denn »Göthens Dasein [...] ist [...] herrlicher, größer, ewiger, ich möchte sagen tapferer, als jenes des herrlichsten Siegers«9. Solche Passagen sind in der Forschung oft als Beleg für den »unpolitischen Brentano« interpretiert worden; ein Beitrag Hans Magnus Enzensbergers, der den Autor als »politisch unzurechnungsfähig«10 und »den Katastrophen der Geschichte gegenüber ahnungslos«11 bezeichnet, kann noch immer als exemplarisch für diese Einschätzung gesehen werden.12 Indes dokumentiert schon der oben zitierte Brief, daß die These vom politisch desinteressierten und inkompetenten Brentano zu kurz greift. Der Mitherausgeber des Wunderhorns begründet seinen Einspruch gegen Arnims »An8 9
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Ebd., S. 327f. Ebd., S. 326. Zu Brentanos poetologischen Überlegungen vgl. Hartwig Schultz: Von Jena nach Heidelberg. Die Entfaltung von Brentanos Poetik. In: Clemens Brentano. 1778–1842; zum 150. Todestag. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1993, S. 11–30 sowie Hwa-Jeong Kang: Die Vorstellung von Künstler und Genie bei Clemens Brentano. Bern, Berlin, Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Peter Lang 1996 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft; 63). Zu seiner Biographie siehe Hartwig Schultz: Clemens Brentano. In: Deutsche Dichter. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Band 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8615), S. 180–198 sowie Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano. Berlin: Berlin Verlag 2000. Hans Magnus Enzensberger: Nachwort. In: Clemens Brentano: Gedichte, Erzählungen, Briefe. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M.: Insel 1981 (InselTaschenbücher; 557), S. 321. Eine These, die noch bei Manfred Frank Beifall findet: Manfred Frank: Wie reaktionär war eigentlich die Frühromantik? (Elemente zur Aufstörung der Meinungsbildung.) In: Athenäum 7 (1997), S. 141–166, hier S. 157. Ebd.; vgl. auch die Grolles, die noch den Brentano der Rheinmärchen als »unbekümmert um Politik« bezeichnen: Joist Grolle und Ingeborg Grolle: »Der Hort im Rhein«. Zur Geschichte eines politischen Mythos. In: Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur europäischen Geschichte. Hg. von Ernst Schulin. Wiesbaden: Steiner 1968 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; 50), S. 216. Gerhard Schaub hat gegen diese Position zu Recht Einspruch erhoben. Vgl. Gerhard Schaub: »Die Schachtel mit der Friedenspuppe«. Clemens Brentanos RestaurationsErzählung. In: Clemens Brentanos Landschaften. Beiträge des ersten Koblenzer Brentano-Kolloquiums. Hg. von Hartwig Schultz. Koblenz: Görres-Verlag 1986 (Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur), S. 83.
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wandlung[,] dem Prinzen ins Feld zu folgen«13, nämlich nicht nur mit den Ansprüchen, die eine als autonom gedachte Kunst an einen talentierten Autor wie Arnim stellt, der sich auf seine eigentliche Begabung besinnen soll, anstatt seine Kräfte in gleichsam fachfremden Unternehmungen zu verschwenden; Brentano erhebt vielmehr noch einen zweiten Einwand gegen Arnims Ambitionen, und dieser zweite Einwand ist ein genuin politischer. Ich zitiere etwas ausführlicher: »Wem thut dann Frankreichs Sieg weh, schönen Seelen, die nach dem Ideal eines Staates schmachten, du glaubst doch nicht, daß sie dem deutschen Kaiser, oder irgend einem andern Herrn wehe thäten, denen ist sie wo nicht gesund, doch angemessen, und ich versichere dich, wenn das Schwanken deines Vaterlandes zwischen Krieg und Frieden gleich nicht aus ideellen Ansichten hervorgehen mag, so geht es doch hervor aus dem waß einen Staat in dieser Zeit allein charakterisirt und hält, aus dem richtigen Bewustsein seiner Kräfte, und der Erkentniß, sie da und dann zu Gebrauchen, wo es sich geziemt.«14 Der Frankfurter Kaufmannssohn analysiert präzise, daß die nach wie vor absolutistisch organisierten Staaten ihr Handeln eben nicht nach humanen Grundsätzen oder idealistischen Triebfedern ausrichten, sondern den Maximen einer nüchternen und rationalistischen Machtpolitik folgen. »Die Staaten sind in dieser Zeit Egoisten«15, schreibt Brentano, der damit offensichtlich auf Arnims Hoffnung anspielt, daß sich in Zeiten der Krise unter dem gemeinsamen Motiv der »Vaterlandsliebe« ein Zusammenschluß der fürstlichen Dynastien »Deutschlands« ergeben kann und auch die Interessen der einfachen Bevölkerung künftig ernster genommen werden. Ein solches »Ideal eines Staates« ist in den Augen Brentanos pure Illusion, eine Vorstellung »schöner Seelen«, die mit der normativen Kraft der faktischen Realpolitik nichts zu tun hat. Das Gemeinwesen erscheint Brentano lediglich als »Objekt einer kühl kalkulierenden Staatsräson«16. Wenn er fragt, wen denn eigentlich Frankreichs Sieg schmerzen würde, thematisiert Brentano das für den Kreis um Stein grundlegende Problem, daß es der von jeglicher politischer Mitverantwortung ausgeschlossenen Bevölkerung zunächst einmal gleichgültig sein konnte, ob Napoleons Regime die bisherigen Machthaber verdrängt oder nicht. Daß Brentano sich »gegen jede Art der direkten [politischen, M. P.] Intervention verwahrt«17, 13 14 15 16
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Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 1), S. 325. Ebd., S. 326. Ebd. Caroline Pross: Kunstfeste. Drama, Politik und Öffentlichkeit in der Romantik. Freiburg/Breisgau 2001 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 91), S. 246. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Roman Polsakiewicz: Zwischen Revolution und Restauration. Clemens Brentanos politische Ansichten bis 1815. In: Deutsche Romantik und Französische Revolution. Internationales Kolloquium Karpacz 28. September – 2. Oktober 1987. Hg. von Gerard Kozielek. Wroclaw: Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego 1990 (Germanica Wratislaviensia; 80), S. 240. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 247.
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ist also nicht Resultat von Desinteresse oder »Ahnungslosigkeit«, sondern vielmehr – wie Caroline Pross zu Recht konstatiert – die Konsequenz aus den Vorbehalten des Autors »gegenüber dem wenig ›idealen‹ Fürstenstaat alter Prägung«18. In dem von Stein zeitgleich forcierten Versuch der Politik, Intellektuelle wie Arnim oder Schleiermacher für ihre Zwecke zu gewinnen,19 kann Brentano denn auch nur eine offensichtliche Instrumentalisierung der »freie[n] herrliche[n] Seelen«20 erkennen; so rät er Arnim dringend an, sich nicht in den Dienst des »Egoisten«21 Staat zu stellen. Arnim vermag Brentanos Skepsis freilich nicht zu teilen; gleichwohl beruhigt er den Freund zunächst damit, daß er sich vorgenommen habe, die »Zeitgeschichte von [sich] abzublasen wie den Dampf einer fremden Pfeife«22; als er dann einige Monate später den kommenden Krieg zwischen Preußen und Frankreich voraussieht,23 erreicht ihn erneut ein eindringlicher Appell Brentanos: »O Laße den Königen waß der Könige ist. Arnim [...] es ist wunderbar, so an einem nur zu hängen, deine ganze Nation hat mir eine Ehre, weil du dich ihrer annimmst, aber du gehörst der Welt an, [...] halte dich um Gotteswillen frei von gräßlichem in deinem Leben, werde kein Soldat in einer Zeit, wo es keine giebt, o bleibe der unsichtbaren Kirche der Kunst angehörig, damit ich nicht verliere, worum ich so unsäglich gern lebe, dein Dasein.«24 Brentano pocht einmal mehr auf die Rechte der »unsichtbaren Kirche der Kunst«, aber ihn bewegt freilich auch die Sorge um das Wohl des »schreckliche[n] Freund[es]«25, wenn dieser wirklich aktiv am Krieg teilnehmen sollte. Nicht zuletzt befürchtet Brentano zudem, daß sich die beiden »Liederbrüder« auf unterschiedlichen Seiten gegenüberstehen könnten, ist er doch »Unterthan des [Rhein-]Bundes«.26 Arnim nahm letztlich am Krieg nicht teil; ein Lebensentwurf als »Mensch hoch über der Zeit«27, wie er ihm von Brentano empfohlen
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Ebd. Stein hatte sich schon vor dem Zusammenbruch Preußens darum bemüht, »das schlummernde Interesse der Literaten [für die Belange der Politik und der ›Nation‹, M. P.] zu wecken«, wie Otto W. Johnston schreibt. Vgl. Otto W. Johnston: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms. Stuttgart: J. B. Metzler 1990, S. 27–48, Zitat S. 27. Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe I (wie Anm. 1), S. 326. Ebd. Achim von Arnim an Clemens Brentano, Brief vom 26. Januar 1806. In: Ebd., S. 332–338, hier S. 338. Vgl. den Brief vom 16. August 1806. Ebd., S. 415–420, vor allem S. 415–417. Clemens Brentano an Achim von Arnim, Brief vom 20. August 1806. Ebd., S. 421f., hier S. 421. Ebd. Ebd. Ebd.
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wurde, blieb dem jüngeren Wunderhorn-Herausgeber indes fremd: »Wer des Vaterlandes Noth vergist, den wird auch Gott vergessen in seiner Noth!«28 Die »Not des Vaterlandes« spielte für Clemens Brentano jedoch in diesen Jahren noch keine herausragende Rolle, was sich auch darin dokumentiert, daß die nationale Programmatik, die Arnim mit der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1805/1808) verband, »außerhalb der Intention Brentanos«29 lag. »Der junge Brentano«30, berichtet Hans-Georg Werner, »der die Freie Reichsstadt Frankfurt als seine Heimat ansah, dessen Vater nie richtig Deutsch gelernt hatte, der unendlich viel den romanischen Kulturen verdankte, konnte sich nicht für einen deutschen Patriotismus erhitzen.«31 Wenige Jahre später sollte sich die Situation freilich vollkommen anders darstellen: Mitte September 1809 erreicht der Schriftsteller Berlin, und »[d]er rege Verkehr in den politischen und literarischen Salons Berlins versetzt Clemens Brentano in einen patriotischen Taumel von bisher nicht gekanntem Ausmaß«32. In Berlin, so Brentano in einem Brief an Friedrich Carl von Sa28
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Vgl. Arnims Brief an Brentano vom 8. September 1806. Ebd., S. 422–427, hier S. 422. Vgl. auch die Analyse des Briefwechsels der beiden Freunde von Holger Schwinn: Kommunikationsmedium Freundschaft. Der Briefwechsel zwischen Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano in den Jahren 1801 bis 1816. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften; 1635). Wolfgang Frühwald: Clemens Brentano. In: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Hg. von Benno von Wiese. 2., überarbeitete und vermehrte Aufl. Berlin: Schmidt 1983, S. 353. Auch Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815. Fünfter und sechster Teil. Anhang. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 4/2), S. 751 verweist darauf, daß die nationalerzieherische Intention der Sammlung und die damit verbundene Beschränkung auf deutsche Volkslieder ausschließlich von Arnim ausging. Dies sieht Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 239f. allerdings anders. Hans-Georg Werner: Einleitung. In: Clemens Brentano: Gedichte und Erzählungen. Eingeleitet und hg. von Hans-Georg Werner. Darmstadt: Wissenschatliche Buchgesellschaft 1986, S. 40. Ebd. Brentanos Verhältnis zu seiner Heimatstadt ist freilich ambivalent, wie Wolfgang Frühwald deutlich macht: »Seine [Brentanos, M. P.] Klagen über den Geist Frankfurts sind Legion.« Wolfgang Frühwald: Brentano und Frankfurt. Zu zeittypischen und zeitkritischen Aspekten im Werke des romantischen Dichters. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1970), S. 227. Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 242; vgl. auch die Ausführungen Carol Lisa Tullys: »In contrast to the livelong conviction of the Grimms (and the relative political disinterest of Tieck), Brentano, like Kleist, is caught up in the whirlwind of anti-French, anti-Napoleonic feeling which occupied the German public consciousness in the years immediately prior to an during Wars of Liberation.« Carol Lisa Tully: Creating a National Identity. A Comparative Study of German and Spanish Romanticism with particular reference to the Märchen of Ludwig Tieck, the Brothers Grimm, and Clemens Brentano, and the costumbrismo of Blanco White, Estebanez Calederon, and Lopez Soler. Stuttgart: Heinz 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 347), S. 205. Tully konstatiert einen »plötzli-
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vigny, dürfe sich kein »elender Mensch [... ] blicken laßen, der das Schicksal seines Vaterlands nicht betrauerte und dessen Feinde nicht haßte«33. Fortan stellt der Autor seine »literarische Produktion in den Dienst des politischen Ringens«34: Er beteiligt sich mit der Kantate auf den Tod Ihrer Königlichen Majestät, Louise von Preußen (1810)35 an der posthumen Apotheose der freilich schon lange vor ihrem plötzlichen Tod im Sommer 1810 als »Königin der Herzen«36 (August Wilhelm Schlegel) gefeierten Gemahlin von Friedrich Wilhelm III. und hilft mit, sie zu einer »Märtyrerin der napoleonischen Grausamkeit«37 zu stilisieren; ein halbes Jahr später avanciert Brentano zu einem der aktivsten Mitglieder in der Christlich-deutschen Tischgesellschaft. An sein früheres »Bekenntnis zur Abstinenz«38 vermag sich der Autor nun nicht mehr zu halten; stattdessen entstehen Texte, die vom »Bestreben nach [...] gesellschaftlicher Einflußnahme«39 zeugen und die deutlich »vom Wunsch inspiriert [sind], eine breite Öffentlichkeit zu erreichen«40. Gerade vor dem Hintergrund der Berliner Aktivitäten Brentanos wirkt es plausibel, wenn Josef Zierden im Jahr 1985 darauf verweist, daß es »lohnender Gegenstand einer gesonderten Arbeit sein«41 könnte, »die literarische Verar-
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chen und dramatischen Umschwung« in Brentanos Denken, der wenige Jahre später – nach der Enttäuschung der nationalen Hoffnungen – wieder rückgängig gemacht wird. Vgl. ebd. Clemens Brentano an Friedrich Carl von Savigny, Brief vom 14. Februar 1810. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald u. a. Band 32: Briefe IV. 1808–1812. Hg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, S. 225–228, hier S. 225. Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 242. Vgl. Clemens Brentano: Werke. Erster Band. Hg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. 2. Aufl. München 1978, S. 204–217. Und zwar in einem Gedicht von 1798. Hier zit. n. Günter de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2002, S. 44. Vgl. zum Mythos um »Preußens Luise« neben der Arbeit Günter de Bruyns insbesondere Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798–1918. München: Fink 1991, S. 59–111 und Theodore Ziolkowski: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 45–93. Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 243. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 247. Ebd. Ebd.; zu den Bemühungen Brentanos, durch die Kunst auch didaktische Wirkungen zu erzielen, vgl. Dieter Dennerle: Kunst als Kommunikationsprozeß. Zur Kunsttheorie Clemens Brentanos. Dargestellt an Hand seines außerdichterischen Werkes (Briefe, Theaterrezensionen, Schriften zur Bildenden Kunst). Peter Lang: Bern, Frankfurt a. M. 1976 (Regensburger Beiträge zur Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft; 9), vor allem S. 91–94 und S. 127f. Josef Zierden: Das Zeitproblem im Erzählwerk Clemens Brentanos. Frankfurt a. M., Bern, New York, Nancy: Peter Lang 1985 (Trierer Studien zur Literatur; 11), S. 161, Anm. 29.
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beitung des nationalen Erwachens in Deutschland und Europa im Werk Brentanos nachzuzeichen«42. Eine solche Studie existiert jedoch auch zwei Jahrzehnte nach Zierdens Anregung noch nicht.43 Die Forschung tut sich mit Brentanos nationalem Engagement, das auch für seine Stationen in Bukowan (1811/1812), Prag (1813), Wien (Juli 1813 – April 1814) und Wiepersdorf (ab Herbst 1814) charakteristisch bleiben sollte, trotz einiger richtungweisender Arbeiten (etwa von Roman Polsakiewicz,44 Erika Tunner,45 Helene M. Kastinger Riley46 und nun Caroline Pross47) nach wie vor sehr schwer; als exemplarisch für die Tendenz, Brentanos Nationalismus zu nivellieren, kann die jüngste Brentano-Biographie von Hartwig Schultz betrachtet werden, die der Christlich-deutschen Tischgesellschaft – trotz der »tonangebende[n] Rolle«48, die Brentano in ihr spielte – eines der kürzesten der insgesamt 20 Kapitel widmet.49 Auch die in Bezug auf Brentanos Einstellung zum Judentum durchaus kritische Arbeit von Martina Vordermayer wird dem Einsatz des Autors für »Preußen« bzw. »Deutschland« nicht gerecht, wenn sie dieses Phänomen alleine auf die Beeinflussung durch die Berliner Kreise zurückführt.50 Eine sol42 43
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Ebd. Christina E. Brantner: Zur Problematik des vaterländischen Freiheitsgedankens in Brentanos Die Schachtel mit der Friedenspuppe. In: German Life and Letters 46 (1993), S. 12–24 thematisiert freilich den Nationalismus Brentanos in seiner Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe (1815), während Tully, Creating a National Identity (wie Anm. 32), S. 197–226 sich unter dieser Perspektive den beiden Rheinmärchen Das Märchen von dem Rhein und dem Müller Radlauf sowie Das Märchen von dem Hause Staarenberg und den Ahnen des Müllers Radlauf (1810/12) nähert. Polsakiewiecz analysiert Brentanos politisches Denken bis 1815. Vgl. Roman Polsakiewicz: Weltgeschichte als Heilsgeschichte. Untersuchungen zur Geschichtsauffassung Clemens Brentanos. Frankfurt a. M., Bern, New York: Peter Lang 1986 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft; 31), S. 72–87 und Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 233–259. Tunners Studie beschäftigt sich mit Brentanos Haltung zur Französischen Revolution. Vgl. Erika Tunner: Clemens Brentano und die Französische Revolution. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3). S. 209–225. Kastinger Riley gibt einen guten Überblick über Brentanos kritische Schriften. Vgl. Helene M. Kastinger Riley: Clemens Brentano. Stuttgart: J. B. Metzler 1985 (Sammlung Metzler; 213), S. 145–153. Pross legte jüngst die erste ausführliche Interpretation von Brentanos nationalem Festspiel Viktoria und ihre Geschwister (1813/17) vor. Vgl. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 245–286. H.-G. Werner, Einleitung (wie Anm. 30), S. 41. Vgl. Schultz, Schwarzer Schmetterling (wie Anm. 9), S. 255–271. Vgl. Martina Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano. Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Peter Lang 1999 (Forschungen zum Junghegelianismus; 4), S. 110f.; auch »die negative populärtheologische Wertung, die Brentano generell der jüdischen Tradition und speziell der Kabbala zukommen läßt«, lastet Vorder-
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che Argumentation, die – genau wie die frühe Einschätzung Enzensbergers – auf die Entmündigung des Autors in gesellschaftspolitischen Fragestellungen abzielt,51 verfehlt jenen »ungeheuren politischen Scharfblick«52, der Brentano im oben behandelten Briefwechsel mit Arnim auch und gerade dann auszeichnet, wenn er für eine Existenz als »totaler Künstler« optiert. Wesentlich plausibler dagegen erscheinen jene Überlegungen, die Wolfgang Frühwald unter Bezugnahme auf das für Brentanos Poetologie konstitutive Motiv des »verlorenen Paradieses«53 anstellt; sie können meines Erachtens auch Brentanos politisches Engagement erklären: »Regeneration des verlorenen Paradieses, das heißt Wiederherstellung eines von Rationalität und Bewußtheit nicht gebrochenen Zustandes innerer Harmonie und ideeller Einheit des Seins, ist, im Anschluß an die Poetik des Novalis, das ästhetische Postulat Brentanos; nur die Medien der Einheitsfindung, wie Liebe, Freundschaft, Kunst, Religion oder sozialer und politischer Aktivismus, sind variabel und austauschbar.«54 In den Jahren vor und während der Befreiungskriege kapriziert Brentano sein Ideal der »Einheit«55 auf die im Kampf gegen die französische Bedrohung geeinte Nation.56 Die Ideen der Französischen Revolution hatte der Autor – genau wie Arnim und Müller (doch im Unterschied zu den zeitweiligen Parteigängern des Umsturzes wie Friedrich Schlegel, Görres und Fichte) – schon immer als »einen gewaltsamen Einbruch in das Natürliche, Humane und der traditionellen Norm Entsprechende«57 gedeutet, der durch – hier geht Brentano mit einer Grundüberzeugung der Politischen Romantik konform – sittliche Verfehlungen (und nicht durch institutionelle Mängel) möglich geworden war.58
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mayer den »Ansichten Achim von Arnims und wohl auch denjenigen seines Berliner Freundeskreises« an, denen Brentano »offensichtlich« folge. Vgl. ebd., S. 130. Auch die ansonsten sehr anregende Arbeit Carol Lisa Tullys führt Brentanos nationalpolitische Aktivitäten vor allem auf einen Versuch der Anpassung an Achim von Arnim zurück. Vgl. Tully, Creating a National Identity (wie Anm. 32), S. 197 bzw. 200. Eine solche These widerspricht aber der Tatsache, daß Brentano sich in den Vorjahren gerade in der Frage des politischen Engagement von dem Freund distanziert und emanzipiert hatte. Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 240. Vgl. hierzu auch Polsakiewicz, Weltgeschichte als Heilsgeschichte (wie Anm. 44), S. 129–170. Frühwald, Brentano (wie Anm. 29), S. 350; vgl. auch Wolfgang Frühwald: Das verlorene Paradies. Zur Deutung von Clemens Brentanos ›Herzlicher Zueignung‹ des Märchens ›Gockel, Hinkel und Gackeleia‹ (1838). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 3 (1962), S. 113–192. In der Wiederherstellung von »Einheit« sieht auch Josef Zierden den Schlüssel für »Brentanos konservatives Zeitverständnis«, das er im Kontext von Müllers Gegensatzlehre analysiert. Vgl. Zierden, Zeitproblem (wie Anm. 41), S. 155–164. Vgl. auch Tully, Creating a National Identity (wie Anm. 32), S. 206. Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 235. Vgl. Tunner, Brentano und die Revolution (wie Anm. 45), S. 213 sowie Polsakiewicz, Zwischen Revolution und Restauration (wie Anm. 16), S. 237.
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In den Jahren um 1809 gewinnt diese politische Grundüberzeugung auch für seine Arbeit als Schriftsteller konstitutive Bedeutung. Es gilt, die durch die Revolution gewaltsam unterbrochene Linie der deutschen Tradition wiederherzustellen. Für dieses Ziel ist der Autor, der sich 1806 noch entschieden gegen potentielle militärische Ambitionen Arnims gewandt hatte, nunmehr anscheinend sogar bereit, tiefgreifende persönliche Konsequenzen zu ziehen: In Prag begeistert sich die eigentlich »gänzlich unmilitärische Persönlichkeit«59 (Nicholas Saul) für Arnims »Landsturmscompagnie«60 (»gern wäre ich drunter gewesen«61), und von Wien aus schreibt Brentano seiner Schwester Kunigunde von Savigny Ende Juli des Jahres 1813: »[...] waß steht uns bevor? Das beste ist, der Krieg vor der Thür, und wenn keine Hülfe mehr, bin ich fest entschlossen auch die Muskete zu ergreifen. Hier zweifelt man nicht am Krieg«62. Ob Brentano den Dienst an der Waffe wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen hat, ist wohl eher fraglich; »[a]uf dem ihm ungleich vertrauteren Feld der Literatur«63 stellt er sich indes mit aller Entschiedenheit in den Dienst der nationalen Sache. Brentanos »verlorenes Paradies« bekommt auf diese Weise einen politischen Ort: Er heißt Deutschland.
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Im Kampf gegen die »Pole des Verkehrten«: Brentanos »Philister«-Satire
Brentanos politische Vorstellungen in den Jahren um 1810 erhellt vor allem ein Text, den der Autor 1811 unter dem Jubel der Zuhörer64 vor der Christlichdeutschen Tischgesellschaft vortrug: Die Satire Der Philister vor, in und nach 59
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Nicholas Saul: Leiche und Humor. Clemens Brentanos Schauspielfragment ›Zigeunerin‹ und der Patriotismus um 1813. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1998), S. 130. Clemens Brentano an Achim von Arnim, Brief von Ende Juni bis 5. Juli 1813. In: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe II. 1807 bis 1829. Vollständige kritische Edition. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), S. 675–677, hier S. 675. Ebd. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Ulrike Landfester u. a. Band 33: Briefe V. 1813–1818. Hg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 2000, S. 38–41, hier S. 38f. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 251. »Als Brentano seinen Philister vortrug, mit aller Kraft seines Talents, geriet die Gesellschaft außer sich, jubelte und schrie vor Vergnügen«, erinnerte sich Karl August Varnhagen von Ense später: »Es war sein größter Triumph. Er schwamm in Wonne.« Zit. n. Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen: Max Niemeyer 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 115), S. 202.
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der Geschichte (1811),65 die später aufgrund der vielfachen Nachfrage gedruckt wurde, soll als Kontrafaktur einer wissenschaftlichen Abhandlung darüber »aufklären«, weshalb für Philister gemäß den Statuten kein Platz in der ehrenwerten Runde der Tischgenossen sein darf. Die Satire enthält allerdings auch antisemitische Passagen, die auf spätere Texte des Schriftstellers vorausweisen. Für Brentano sind Philister und Juden »die beiden Pole des Verkehrten«66, die »sich ihren in einander verliebten Wiederwillen gegen einander [...] bezeigen«67. Die Konstruktion eines Bündnisses der beiden Gruppierungen verlangt freilich »besondere[] argumentative[] Anstrengungen«68, da Philister und Juden nach der Bibel als verfeindete Stämme zu gelten haben. Brentano löst dieses Problem, indem er die Kreuzigung des »verhießenen Erlöser[s]«69 durch die Juden als Endpunkt des alten Streites interpretiert; nun haben Juden und Philistern nicht nur das Schicksal gemein, über die Welt verstreut zu sein,70 sie gleichen sich vielmehr auch darin, daß sie eben diese »Welt mit Füßen«71 treten. Als den grundlegenden Verbindungspunkt zwischen den ehemaligen Opponenten macht Brentano jedoch ihre Verwurzelung in der Denktradition der Aufklärung explizit;72 in Fortführung der romantischen Aufklärungskritik 65
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Ich zitiere nach dem neuen Abdruck in der Monographie der Christlich-deutschen Tischgesellschaft von Stefan Nienhaus: Clemens Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte. In: Stefan Nienhaus. Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 61–142. Vgl. auch den Abdruck in Clemens Brentano: Werke. Zweiter Band. Hg. von Friedhelm Kemp. Zweite Auflage. München: Hanser 1973, S. 961–1016. Vgl. zu diesem Text die Analysen von Estelle Morgan: ›Angebrentano‹ in Berlin. In: German Life and Letters 28 (1974/75), S. 314–326; Ulla Hofstaetter: »Das verschimmelte Philisterland.« Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine. In: Romantik im Vormärz. Hg. von Burghard Dedner und Ulla Hofstaetter. Marburg: Hitzeroth 1992 (Marburger Studien zur Literatur; 4), S. 107–127; Robert E. Sackett: Brentano in Berlin: the attack on the Philistines. In: Oxford German Studies 24 (1995), S. 60–79; Hartwig Schultz: Clemens Brentano. Stuttgart: Reclam 1999 (Reclams Universal-Bibliothek; 17614), S. 126– 131; Dieter Arendt: Brentanos Philister-Rede am Ende des romantischen Jahrhunderts oder Der Philister-Krieg und seine unrühmliche Kapitulation. In: Orbis Litterarum 55 (2000), S. 81–102; Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 64), S. 182–203. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 87. Ebd., S. 127. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 129. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 87. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 127. Juden bezeichnet Brentano als »von den egyptischen Plagen übrig gebliebene[] Fliegen« – die Ungeziefermetaphorik ist ebenso erschreckend wie bezeichnend –, die man »an seinem Theetische mit Theaterzetteln und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen, und überall mit Ekel, und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weisfischen genugsam einfangen« könne. Ebd., S. 71 [Herv. M. P.]. Philister wiederum brennen am »Zündstrick der Aufklärung [...] ihre Köpfe« an. Ebd., S. 106.
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werden sie daher als »Feind[e] aller Idee, aller Begeisterung, alles Genies und aller freien göttlichen Schöpfung«73 denunziert. Indem Brentano verschiedene Ideen namhaft macht, zu denen seiner Ansicht nach die Philister als verkörpertes »Prinzipe des Neins«74 in Opposition stehen, gewinnt sein politisches Weltbild Kontur.75 So sieht er das Ideal der Liebe durch die »Hurerei«76 gefährdet, »weil der herrlichste Trieb im Menschen, ohne Leidenschaft, ohne Heiligung durch den Priester oder ohne Heiligung durch Kühnheit [...] ekelhaft und bequem befriedigt, eine Philisterei ist«77. Brentanos Hinweis, daß »Anerkennung«78 und »Schutz solcher Sünderinnen nur durch eine Philister-Gesinnung in einem Staat [...] eingeführt werden«79 könne, muß als ein Seitenhieb auf die Regierung Hardenberg verstanden werden, die das Bordellwesen auf eine gesetzliche Grundlage gestellt hatte.80 Ein zentralerer Gesichtspunkt in Brentanos Philisterschelte ist freilich die philiströse Indifferenz in Fragen der Religion; der Philister geht demnach »nur des Credits halber in die Kirche, wo er schläft«81 und hält vor seinen Kindern ebenfalls nur zum Schein »Abhandlung[en] vom Gebet«82, denn »[...] sie werden früh genug den Aberglauben einsehen«83. Für eine christliche Tischgesellschaft ist indes eine Haltung, die »[a]lle Begeisterten«84 zu »verrückte[n] Schwärmer[n]«85 erklärt und keinen Sinn für das christliche Abendmahl hat,86 völlig untragbar. 73 74 75
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Ebd., S. 73. Ebd., S. 93. Dagegen insistiert Nienhaus, Tischgesellschaft (wie Anm. 64) darauf, daß Brentanos Text »auch dort, wo [er] moralisch zu werten scheint, kein Interesse an diesem Urteil selbst« (S. 201) habe. Die Intention der »Scherzrede« (ebd.) sei demnach nur das »herzhafte Lachen« (S. 202) gewesen; Nienhaus konzediert zwar, daß diese ausschließliche Konzentration auf den »ästhetischen Wirkungseffekt« (S. 203) den Text für »Ungeheuerlichkeiten, für Bilder des Schreckens und der Gewalt« (ebd.) geöffnet habe und die »außerästhetische, ethisch gegründete Zensur« (ebd.) der »Freiheitslizenz des Komischen« (S. 187) geopfert worden sei; eine außerästhetische Wirkungsabsicht aber spricht er der Philister-Satire ab, wodurch er letztlich ihre politische Brisanz verfehlt. Weitaus weniger differenziert, aber mit ähnlicher Stoßrichtung argumentiert Ziolkowski, Berlin (wie Anm. 36), S. 231–234, hier S. 233: »Auch der heutige Leser kann leicht nachempfinden, warum Brentanos brillante Rede, die vor Witz, Wortspielen und gelehrten Anspielungen geradezu sprudelt, von seinen Hörern mit solcher Begeisterung aufgenommen wurde.« Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 90. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Morgan, ›Angebrentano‹ in Berlin (wie Anm. 65), S. 320. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 104. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 107. Ebd. Ebd., S. 105.
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Unvereinbar mit den durch Brentano propagierten Idealen der Tischgenossen sind zudem die literarischen Präferenzen der Philister, die der Romantiker auch in dieser Hinsicht »am Zündstrick der Aufklärung«87 baumeln sieht: »Voltaire ist ihnen lieber als Shakespeare, Wieland als Göthe, Ramler als Klopstock, Voß der allerliebste«.88 Brentano – und das ist signifikant für das sich allmählich entfaltende operative Literaturverständnis des Dichters – »kann [sich] nicht denken, daß ein Volk ein treffliches Theater haben könne, ohne selbst auf der schönsten Höhe seiner historischen Entwickelung zu stehen«89; in »Deutschland«90 dagegen tritt gerade im Theater die »Philisterei der modernen Zeiten mehr zu Tage«91 als in anderen Bereichen. Die kulturelle Krise, die Brentano diagnostiziert, korrespondiert mit der politischen Situation der besetzten deutschen Länder. Als Urheber beider Übel figurieren die Philister, die »[m]it dem [Brentano zufolge desaströsen, M. P.] Zustand des Theaters in Deutschland [...] vollkommen zufrieden«92 sind und die die romantischen Bemühungen um »alte Volksfeste und Sagen«93 verachten. Daß diese Bemühungen der Romantiker um die kulturellen Traditionen nationalpolitisch konnotiert waren, wurde bereits mehrfach erläutert; folglich ist – neben der Liebe, der Religion und der Kunst – auch die Idee des »Vaterlandes« eine Vorstellung, die durch die Philister nachhaltig beschädigt wird. Wenn Brentano den Philistern vorwirft, immer von »Deutschheit«94 zu reden, so kritisiert er damit keineswegs einen bornierten Nationalismus, wie dies die Analyse von Hartwig Schultz insinuiert;95 der Romantiker attackiert den philiströsen Diskurs über das Vaterland vielmehr, weil er davon ausgeht, daß hier im Sinne eines aufgeklärten Kosmopolitismus die nationalen Unterschiede nivelliert werden sollen – nach einem für den Autor charakteristischen Wortspiel besteht die Weisheit der Philister nämlich darin, »alles weiß zu übertünchen«96. Dagegen wehrt sich Brentano aus der Perspektive eines romantischen Nationalisten.97 87 88 89 90 91 92 93 94 95
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Ebd., S. 106 Ebd., S. 105. Ebd., S. 112. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108. Ebd., S. 107. Ebd., S. 116. Ebd., S. 106. Vgl. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 126–131. Auch Sackett, Brentano in Berlin (wie Anm. 65) bemüht sich vor allem um die progressiven Aspekte von Brentanos Philisterschelte. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 117. Insofern ist Mario Krammers These, wonach die »Philister-Abhandlung Brentanos [...] in einer Reihe mit Fichtes Reden, Schleiermachers Predigten und Körners Liedern« stehe und den »wohl [...] stärksten politischen Vorstoß der Romantik gegen Rationalismus und Liberalismus« bedeute, so falsch nicht. Vgl. Mario Krammer: Clemens Brentano und Berlin. Bilder aus den Tagen der Romantik. In: Jahrbuch für
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Die Philister, so Brentano, »gestehen gern ein, daß sie ewig damit umgehn, alles, was ihr Vaterland zu einem bestimmten individuellen Lande macht, zu vernichten, und sie arbeiten dahin, daß der Gukuk, der in fremde Nester baut, das ihrige mit dem Lobe begrüße, par tout, comme chez nous«98; für sie ist der französische »Gukuk« kein Feind, wie für die nationalistischen Tischgenossen, sondern ein Vorbild: »Sie glauben, die Deutschen seien kein herrliches Volk, sie müsten von den Franzosen gebildet werden [...]. Sie würden gar nichts gegen die Franzosen haben, wenn ihnen nur die Einquartierung nicht so viel kostete«.99 Lediglich der materielle Aspekt, nicht das höhere Ideal der Vaterlandsliebe, weckt – wenn überhaupt – bei den Philistern antifranzösische Affekte. Die Notwendigkeit dieser Affekte wird – dem romantischen Nationalgedanken gemäß – verteidigt, wenn Brentano den philiströsen Kampf gegen die Vorurteile inkriminiert: »Alles Vorurtheil muß weg, das heißt alles was die Vor- und Urwelt getheilt oder verbunden hat. Diese Narren radiren an Gottes Namen selbst die ihnen überflüssig scheinenden Buchstaben aus.«100 Vorurteile, so Brentanos Überlegung, garantieren Verbindung und Trennung, also Einheit und Differenz, mithin Identität. Eine Identität, die durch die Ambitionen der Philister stark gefährdet wird. »Ganz im Sinne der Ziele der christlichdeutschen Gesellschaft werden als Philistertum auch aufklärerische und kosmopolitische Bestrebungen diskriminiert und jegliche franzosenfreundliche revolutionäre Haltung als Vaterlandsverrat hingestellt.«101 Diesen Aspekt übergeht die Analyse von Hartwig Schultz, der mit der Philister-Satire erstmals »eine scharfe Kritik am deutschen (Klein-)Bürgertum formuliert [sieht], die seither zu den Topoi deutscher Literatur gehört und an Aktualität wenig eingebüßt hat. Obwohl Kapitalismus und Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts noch kaum spürbar sind [...], deckt Brentano [...] die Gefahren der Entwicklung auf, indem er den Typus des ›deutschen Spießers‹ entdeckt und karikierend darstellt, der für die Entwicklung Deutschlands
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brandenburgische Landesgeschichte 7 (1956), S. 52–71, hier S. 62f. Krammers Studie leidet freilich darunter, dass sie dem ontologischen Nationenverständnis verpflichtet ist und zudem die romantische Selbstdarstellung als Überwindung der Aufklärung allzu unkritisch adaptiert. Vgl. auch Mario Krammer: Clemens Brentano und Berlin. Bilder aus den Tagen der Romantik. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 6 (1955), S. 26–43. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 116. Ebd., S. 106. Nach Brentano wird der Philister im Verlauf seiner Geschichte »immer materieller«. Ebd., S. 93; deshalb muß die These Alfred Riemens relativiert werden, daß Brentanos Satire auf eine »Erscheinungsform« abziele, »die seit Urbeginn als eine Möglichkeit im menschlichen Wesen angelegt ist« und deshalb »keineswegs [als] ein Produkt sozialer Verhältnisse und geltender Herrschaftsstrukturen« zu begreifen sei. Alfred Riemen: Die reaktionären Revolutionäre? oder Romantischer Antikapitalismus? In: Aurora 33 (1973), S. 81. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 117. So Ulla Hofstaetter in ihrer ausgezeichneten Analyse der Satire. Hofstaetter, Philisterkritik (wie Anm. 65), S. 110.
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im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert (mit der Entwicklung von Nationalimus, Militarismus und Kapitalismus) wesentlich ist«102. Wie gezeigt wurde, kritisiert Brentano an den Philistern jedoch nicht, daß sie von »Deutschheit« sprechen, sondern wie sie es tun. Insofern erscheint es wenig plausibel, wenn Schultz Brentanos Text in eine Traditionslinie stellt, die zu Heinrich Manns Der Untertan (1918)103 führt; in diesem Roman wird die Kritik am »deformierten deutschen Untertanen«104 mit seinem »Faible für Uniformen und ›Deutschheit‹«105 tatsächlich formuliert, in Brentanos Satire dagegen erscheint das »Vaterland« als eine Instanz, die zu Recht Treue und Hingabe einfordert. Doch noch ein anderer Aspekt läßt die von Schultz angenommene Traditionslinie fragwürdig erscheinen. Es ist richtig, daß Brentanos Texte im Bewußtsein einer Zeitenwende geschrieben wurden. »Das neue Gefühl einer unaufhaltsamen Beschleunigung der Zeit ergriff die Zeitgenossen der Romantik, das Alte wich dem Neuen mit Staunen erregender Geschwindigkeit«106, bemerkt Wolfgang Frühwald, der den beschleunigten Erfahrungswandel an der Entwicklung des späten Brentano anschaulich beschreibt: »[D]er Autor, der noch in den zwanziger und dreißiger Jahren über die Martern der stinkenden 102
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Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 131. Ähnlich argumentiert Dieter Arendt, der in Brentanos Satire einen »zeitlosen Typus des Philisters karikiert und charakterisiert« sieht, dem »[s]chließlich [...] der Aufstieg in die bürokratische Elite der europäischen Gesellschaft und am Ende auf verhängnisvolle Weise die Machtergreifung« gelinge. Im Unterschied zu Schultz bewertet Arendt jedoch auch die Philisterkritik – die von ihm diagnostizierte Traditionslinie führt von Brentano über Sören Kierkegaard, Nietzsche, Wilhelm Raabe zu Martin Heidegger – ambivalent. Wenn etwa Friedrich Nietzsches Übermensch als Überwindung des Philistrismus verstanden wird, bleibt die Gefahr nicht aus, daß sich dieser Typus »zum Herrscher aufwirft über das Herden-Volk der Philister«. Arendt, Brentanos Philister-Rede (wie Anm. 65), S. 81 und 97. Ulla Hofstaetter wiederum stellt am Beispiel Brentanos, Heines und Eichendorffs die Möglichkeit einer Konstruktion solcher Traditionslinien in der Philisterkritik generell in Frage: Als geistlos, prosaisch und langweilig werden die Philister demnach zwar generell verspottet, doch die politische Perspektive, aus der das geschieht, ist bei den genannten drei Autoren jeweils eine andere: »Überdenkt man das Gesagte, so lassen sich unter dem Begriff des Philisters offensichtlich all diejenigen Menschen und Gruppen subsumieren, die man diffamieren möchte«, schreibt Ulla Hofstaetter am Ende ihrer Studie. »[Z]um Philister wird offensichtlich stets derjenige, der nicht mit den eigenen Ideen übereinstimmt, der sich nicht für die eigenen Vorstellungen begeistern läßt.« Hofstaetter, Philisterkritik (wie Anm. 65), S. 121 und S. 124. Vgl. Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. 34. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 128. Ebd., S. 131. Wolfgang Frühwald: Das Wissen und die Poesie. Anmerkungen zu Leben und Werk Clemens Brentanos. In: Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978. Hg. von Detlev Lüders. Tübingen: Max Niemeyer 1980 (Reihe der Schriften des Freien Deutschen Hochstifts; 24), S. 50.
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und schleichenden Postkutschen gejammert hatte, saß 1840 im Dampfwagen, der mit einer Geschwindigkeit von 40 km pro Stunde von München nach Augsburg fuhr und die normale Reisezeit um mehr als das Fünffache verkürzte.«107 Auch der junge Brentano thematisiert die Problematik der »reißenden Zeit«108; allerdings tut er dies aus einer dezidiert modernitätskritischen Perspektive heraus. Der »reine rohe Bauer«109, so Brentanos Bekenntnis zur agrarischen Lebenswelt, könne nie ein Philister werden. Die Philister, denen eine »ungemeine Neugierde«110 unterstellt wird (was mit Arnims Vorwurf gegenüber den Juden korrespondiert), erkühnen sich einer »moderne[n] Frechheit«111, die mit »alte[n] Sitten und Herkömmlichkeiten«112 ohne Rücksicht auf Verluste bricht. Indem Brentano die Philister folglich als Symptom einer depravierten Moderne begreift, argumentiert der Romantiker dezidiert zivilisationskritisch.113 Dieser Gestus trennt ihn deutlich von Heinrich Mann und verbindet ihn mit dessen Gegnern, die den älteren der MannBrüder ein gutes Jahrhundert später bekanntlich als »Zivilisationsliteraten«114 denunzieren sollten.115 Es ist richtig und in der Forschung ja auch ausführlich dargestellt worden, daß die romantische Philisterkritik als Konsequenz aus einem »Ungenügen an der Normalität«116 entstanden ist; mit ihr wird sicherlich auch gegen die »Maschinisten und [...] Aparatschiks«117 und für die »Freiheit der Ausnahme«118 plädiert. Dieser Aspekt soll nicht vergessen sein, er darf die Problematiken eines solchen Engagements jedoch nicht überdecken. Im Falle von Clemens 107 108 109 110 111 112 113
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Ebd. Vgl. Zierden, Zeitproblem (wie Anm. 41), S. 31–67. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 135. Ebd., S. 120. Ebd., S. 116. Ebd. »The essence of Philistinism is abstraction, negation, sophistication. [...]; no one is further removed from Philistinism than the simple peasant, but the moment he takes a step into civilization he is in danger of falling into its snare an turning into a Philistine«, bemerkt Estelle Morgan. Morgan, ›Angebrentano‹ in Berlin (wie Anm. 65), S. 319. Vgl. Bernhard Weyergraf: Konservative Wandlungen. In: Literatur der Weimarer Republik. 1918–1933. Hg. von Bernhard Weyergraf. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 8), S. 266–308, vor allem S. 275–279. Vgl. auch Alexander von Bormann: Vom Traum zur Tat. Über völkische Literatur. In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hg. von Wolfgang Rothe. Stuttgart: Reclam 1974, S. 304–333. Wie Hofstatters Analyse zeigt, liegt hier auch die Differenz zu Heinrich Heine, der in den Philistern gleichsam »Hemmschuh[e] des Fortschritts« gesehen hatte. Vgl. Hofstaetter, Philisterkritik (wie Anm. 65), S. 113. Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Arendt, Brentanos Philister-Rede (wie Anm. 65), S. 97. Ebd.
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Brentano liegen diese in der Virulenz, mit der sein »bösartiges Pamphlet«119 (Ulla Hofstaetter) eine unüberbrückbare Trennlinie erzeugt: Auf der einen Seite dieser Linie stehen die honorigen Repräsentanten der »edlen deutschen Tisch-Gesellschaft«120, auf der anderen jene vermeintlichen »Feinde« eines echten Deutschtums, die von eben dieser Gesellschaft ausgeschlossen bleiben müssen.
III
Antisemitismus und Nationalismus: Drei Texte im Schatten der Forschung
Clemens Brentano begegnet uns – wie die Philister-Satire bereits deutlich macht – in den Jahren zwischen 1809 und 1815 nicht nur als ein »begeisterter Verfechter einer deutschen Nation«121 (Christina E. Brantner), sondern auch als ein »rabiater Antisemit«122 (Micha Brumlik). Ein Zusammenhang beider Phänomene steht zu vermuten, zumal eine gleichsam zufällige Koinzidenz schon alleine deshalb unwahrscheinlich erscheint, weil Brentano in früheren Jahren kaum mit judenfeindlichen Texten hervorgetreten war.123 Im folgenden wird es darum gehen, diesen Zusammenhang innerhalb von drei Texten Brentanos zu untersuchen. Zur Debatte stehen Gockel und Hinkel (1815/16), die unveröffentlicht gebliebene Urfassung seines erst 1838 publizierten Märchens Gockel, Hinkel und Gackeleia; das Drama Viktoria und ihre Geschwister, das Brentano 1814 in Wien vergeblich aufzuführen versuchte; und die Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe, die im Januar 1815 in den Wiener Friedensblättern als Zwölfteiler erschien. Den drei Texten ist eines gemeinsam: In der Forschung fristeten sie lange Zeit ein Schattendasein. Im Falle des patriotischen Festspiels Viktoria und ihre Geschwister mag dies auch an jenem bis heute weithin gültigen literaturwissenschaftlichen Forschungskonsens liegen, den John Fetzer 1994 lapidar zusammenfaßte: »Daß die deutschen Romantiker im Drama keine Glanzleistun119
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Hofstaetter, Philisterkritik (wie Anm. 65), S. 111. Zu Recht verweist Hofstaetter jedoch auch darauf, daß die Satire »streckenweise äußerst witzig geschrieben« sei. Vgl. ebd. Brentano, Philister (wie Anm. 65), S. 138. Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 12. Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand Literaturverlag 2002 (Sammlung Luchterhand; 2028), S. 165. »Insgesamt werden aber in seinen [also Brentanos, M. P.] Werken und Briefen bis zum zweiten Berlin-Aufenthalt, von Herbst 1809 bis Mitte 1811, Juden und Jüdinnen nur wenig erwähnt«, bilanziert Heinz Härtl. Vgl. Heinz Härtl: Clemens Brentanos Verhältnis zum Judentum. In: Clemens Brentano. 1778–1842; zum 150. Todestag. Hg. von Hartwig Schultz. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1993, S. 189f.
III Antisemitismus und Nationalismus: Drei Texte im Schatten der Forschung
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gen vollbracht haben, ist kein Geheimnis.«124 So wurde, wie Nicholas Saul moniert, ein »generelle[s] Schweigegebot«125 über das romantische Drama verhängt, das »u. a. zum Verschwinden Zacharias Werners aus germanistischen Lehrangeboten sowie Forschungsarbeiten geführt hat«126; und auch Brentanos dramatische Produktion fand eine »erstaunlich«127 geringe Würdigung.128 Die wenigen Arbeiten hierzu widmen sich zumeist den frühen Dramen Gustav Wasa (1800) oder Ponce de Leon (1801), bisweilen steht auch Die Gründung Prags (1813) im Mittelpunkt des Interesses.129 Daß die erste Einzeluntersuchung zur Viktoria erst im Jahr 2001 vorgelegt wurde130 und eine adäquate Edition dieses Tendenzstückes, dessen letzter Druck von 1852 (!) datiert,131 noch immer nicht geleistet wurde, scheint jedoch in erster Linie der politischen Brisanz des Textes geschuldet zu sein. Im vierten Band der von Friedhelm 124
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John [Francis] Fetzer: Das Drama der Romantik. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Alfred Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 289; vgl. hierzu auch Gerhard Schulz: Romantisches Drama. Befragung eines Begriffes. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 103), S. 1–19. Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 112. Ebd. Ebd. Freilich versucht ein jüngerer Sammelband, die schlimmsten Versäumnisse bezüglich des romantischen Dramas aufzuarbeiten: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 103). So zuletzt bei John Francis Fetzer: Clemens Brentano: Die Schwelle als Schwäche oder Stärke des romantischen Dramas? In: Das romantische Drama. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 103), S. 119–136 und Udo Köster: Frauenherrschaft, Zeitenwende. Über das Verhältnis von Mythos und Geschichte in Romantik und Vormärz am Beispiel der Bearbeitungen des LibussaStoffes bei Brentano, Ebert, Mundt und Grillparzer. In: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen. Bielefeld: Aisthesis 2003 (Vormärz-Studien; 10), S. 392–398. Vgl. zu Brentanos dramatischer Produktion den Überblick bei Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 150–186 sowie die Bibliographie ebd., S. 214f. Vgl. auch Kastinger Riley, Brentano (wie Anm. 46), S. 125–141. Nämlich durch Caroline Pross. Vgl. noch einmal Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 245–286. Vgl. auch die Untersuchung von Sprengel, die dem Text immerhin einige flüchtige Zeilen widmet: Peter Sprengel: Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813–1913; mit ausgewählten Texten. Tübingen: Francke 1991, S. 43–47. Nach dem Erstdruck 1817 wurde das Festspiel im siebten Band der von Christian Brentano herausgegebenen Gesammelten Schriften zum zweiten und bislang letzten Mal veröffentlicht. Vgl. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 254, Anm. 30.
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Kemp veranstalteten vierbändigen Werkausgabe etwa verweist der Herausgeber darauf, »sämtliche vollendete Stücke, mit Ausnahme zweier politischer Spiele«132, aufgenommen zu haben; »[d]ie Klassifikation als ›politische Spiele‹ fungiert als keiner weiteren Begründung bedürftiges Auschlußkriterium für die beiden genannten Texte«133, kommentiert Caroline Pross diese fragwürdige editorische Entscheidung. Wolfgang Frühwalds Verdikt von 1973, daß die »patriotischen Spiele Brentanos [...] von der Forschung bisher völlig mißachtet worden«134 seien, gilt im Falle von Viktoria und ihre Geschwister noch immer; und auch die von Frühwald diagnostizierte Diskrepanz zwischen dem Forschungsinteresse und Brentanos »eigener Beurteilung«135 muß nach wie vor zur Kenntnis genommen werden – immerhin steht fest, daß Brentano die Viktoria »besonders geschätzt«136 hat. Da Clemens Brentano durch die Literaturwissenschaft lange Zeit vor allem als Lyriker wahrgenommen wurde und seine Gedichte als die »echtesten und eigentlichsten [...] Schöpfungen«137 (Friedrich Wilhelm Wollenberg) des Schriftstellers galten, geriet jedoch neben den szenischen Texten auch die narrativ organisierte Werkgruppe aus dem Blick. »Es soll als vereinbart gel-
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Clemens Brentano: Werke. Vierter Band. Hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. Zweite Auflage. München: Hanser 1978, S. 885. Der Bannstrahl traf neben Viktoria und ihre Geschwister auch noch das Stück Am Rhein, am Rhein!, das mittlerweile im Rahmen der Arbeit von Peter Sprengel wieder zugänglich gemacht wurde. Vgl. Sprengel, Die inszenierte Nation (wie Anm. 130), S. 107–124. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 254, Anm. 30. Auch Wolfgang Frühwald kann diese Editionspraxis nicht nachvollziehen: »Friedhelm Kemp schienen sie [die Viktoria und die anderen patriotischen Schauspiele Brentanos, M. P.] nicht wert, in den vierten Band der Werke aufgenommen zu werden«, heißt es in seinem Forschungsbericht. Vgl. Wolfgang Frühwald: Stationen der Brentano-Forschung 1924–1972. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Sonderheft 1973), S. 258, Anm. 311. Kurioserweise wird sich Frühwald fünf Jahre später an der zweiten Auflage des betreffenden Bandes selbst als Co-Herausgeber beteiligen, ohne den diagnostizierten Mißstand zu beheben. Frühwald, Stationen (wie Anm. 133), S. 258. Ebd. Ebd.; nach Wolfgang Frühwald: Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815–1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration. Tübingen: Max Niemeyer 1977 (Hermea; 37), S. 158 verhalf die Deklamation des Textes dem Autor »zu bescheidenen Gesellschaftserfolgen«. Brentano, mittlerweile wieder in Berlin, hat 1816 als »geistreiche[r] Gast« des Hauses Staegemann aus der Viktoria vorgelesen und war bei seinem Publikum, zu dem auch Luise Hensel zählte, auf großen Beifall gestoßen. Vgl. Schultz, Schwarzer Schmetterling (wie Anm. 9), S. 363f., das Zitat S. 364. Für die Publikation des Textes setzte er sich 1817 »mit großem Nachdruck« – Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 255 – ein. Friedrich Wilhelm Wollenberg: Brentanos Jugendlyrik: Studien zur Struktur seiner dichterischen Persönlichkeit. Hamburg 1964. S. 73. Zit. n. Frühwald, Stationen (wie Anm. 133), S. 241.
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ten«138, insistiert etwa Hans Magnus Enzensberger, daß nur die lyrischen Texte gemeint sind, wenn in seiner »Untersuchung von Brentanos Werk die Rede ist«139 – vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, daß Brentanos Märchen und Erzählungen lange ein »Geheimtip«140 blieben. Von den Erzählungen fand zunächst nur die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817)141 eine adäquate wissenschaftliche Würdigung; die 1922 wiederentdeckte Schachtel mit der Friedenspuppe dagegen,142 die lange ein »stiefmütterlich behandelte[r] Findling«143 der Forschung blieb, stieß erst in der Folge von Gerhard Schaubs wegweisender Analyse aus dem Jahr 1986 auf ein etwas stärkeres Forschungsinteresse.144 Im Falle der Urfassung des Gockel138 139 140 141
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Hans Magnus Enzensberger: Brentanos Poetik. München: Hanser 1961 (Literatur als Kunst), S. 11. Ebd. Gerhard Schaub: Nachwort. In: Clemens Brentano: Sämtliche Erzählungen. 2. Aufl. München 1991. S. 263. Vgl. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 87–89 sowie Gerhard Schaub: Clemens Brentano. Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1990 (Reclams Universal-Bibliothek; 8186). Der Text ist in den zwölf Ausgaben der Werke Brentanos, die von 1852 bis 1914 erschienen, nicht abgedruckt. Josef Körner stieß 1922 bei der Durchsicht der Wiener Friedensblätter – von dieser kurzlebigen Zeitschrift, die sich »kläglich« verkaufte (Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald u. a. Band 19: Prosa IV. Erzählungen. Hg. von Gerhard Kluge. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1987, S. 701) und die nur vom 16. Juni 1814 bis zum 30. November 1815 existierte, hat sich in der Wiener Nationalbibliothek ein vollständiges Exemplar erhalten – auf die Erzählung und machte sie wieder zugänglich. Maßgeblicher Redakteur der »Friedensblätter« war mit Johann Karl Christian Fischer (1765–1816) ein Mitglied der Christlich-deutschen Tischgesellschaft. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX, S. 700f. sowie Heinz J. Gartz: Brentanos Novelle »Die Schachtel mit der Friedenspuppe«. Eine kritische Untersuchung. Phil. Diss. masch. Bonn 1955, S. 41. Gartz, Brentanos Novelle (wie Anm. 142), S. 44. Vgl. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12). Zu erwähnen sind hier die Beiträge von Reinhard Hosch: Immanente Reflexion und Binnen-RahmenStruktur. Zum formalen und stofflichen Zusammenhang von Clemens Brentanos Erzählungen. Phil. Diss. masch. Tuttlingen 1988; Gerhard Kluge: Namen und Bilder. Ergänzungen zur Edition von Brentanos Erzählungen mit Motiven aus der Französischen Revolution. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1992), S. 205–212; Nicholas Saul: Die Kunstthematik in Clemens Brentanos Novelle »Die Schachtel mit der Friedenspuppe«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 117–128; Gerhard Kluge: Wiepersdorfer Friedensdichtungen. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin, New York: de Gruyter 1994, S. 117–125; Brantner, Problematik (wie Anm. 43) sowie der Kommentar von Gerhard Kluge im betreffenden Band der Historischkritischen Ausgabe. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142),
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Märchens, dem die folgende Analyse gelten soll, ist ein solches Interesse bislang ausgeblieben; Untersuchungen in der jüngeren Forschung, die sich mit Brentanos Märchen befassen, präferieren die Spätfassung dieses Textes145 oder konzentrieren sich auf die Rheinmärchen.146
IV
Juden als Wurzel des nationalen Unglücks: Gockel und Hinkel
In dem Märchen Gockel und Hinkel147 läßt Clemens Brentano seinen Protagonisten Gockel von Hennegau gleich dreimal ins Unglück stürzen. Schon zu Beginn erlebt der Leser Gockel mit seiner Frau Hinkel von Hennegau und der
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S. 697–752. Neben der Dissertation von Gartz, Brentanos Novelle (wie Anm. 142) beschäftigten sich zuvor folgende Studien etwas ausführlicher mit der Erzählung: Vickie L. Ziegler: Justice in Brentanos »Die Schachtel mit der Friedenspuppe«. In: Germanic Review 53 (1978), S. 174–179; Helene M. Kastinger Riley: Kontamination und Kritik im dichterischen Schaffen Clemens Brentanos und Achim von Arnims. In: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 350–358; Gerhard Kluge: Clemens Brentanos Erzählungen aus den Jahren 1810–1818. Beobachtungen zu ihrer Struktur und Thematik. In: Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978. Hg. von Detlev Lüders. Tübingen: Max Niemeyer 1980 (Reihe der Schriften des Freien Deutschen Hochstifts; 24), S. 102–134 und Wolfgang Frühwald: Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf: Bagel 1981, S. 154f. Vgl. etwa die Untersuchungen von Frühwald, Paradies (wie Anm. 54); HansWalter Schmidt: Erlösung der Schrift. Zum Buchmotiv im Werk Clemens Brentanos. Wien: Passagen-Verlag 1991 (Passagen Literatur), S. 129–160; Ralf Simon: Autormasken, Schriftcharakter und Textstruktur in Brentanos Spätfassung des »Gockel«-Märchens. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992), S. 201–231; Bettina Knauer: Allegorische Texturen. Studien zum Prosawerk Clemens Brentanos. Tübingen: Max Niemeyer 1995 (Hermaea; 77), S. 54–70 und Waldemar Fromm: Bilderbuch der Wünsche. Clemens Brentanos »Gockel Hinkel Gackeleia«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 517– 544. Eine Ausnahme bildet Hartwig Schultz: Die erste Fassung von Brentanos »Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia«. In: Formes du Recit. Dans la Moitie du XIX Siecle. Grimm – Brentano – La Motte Fouque. Hg. von JeanLouis Bandet und Erika Tunner. Paris: Ed. du Temps 2001 (Lectures d’une oeuvre), S. 149–162, der seine knappe Analyse explizit der Urfassung widmet. Die wesentlich erweiterte Spätfassung findet sich in Clemens Brentano: Werke. Dritter Band. Hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. Zweite Auflage. München: Hanser 1978, S. 617–930. Vgl. zu den Märchen ebenfalls die Forschungsüberblicke bei Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 90–126 sowie S. 212f. und Kastinger Riley, Brentano (wie Anm. 46), S. 108–125. Vgl. generell zur Brentano-Forschung auch den Überblick in: Clemens Brentano. 1778–1842; zum 150. Todestag. Hg. von Hartwig Schultz. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1993, S. 270–341. Vgl. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 484–565.
IV Juden als Wurzel des nationalen Unglücks: ›Gockel und Hinkel‹
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gemeinsamen kleinen Tochter Gackeleia in einem armseligen Hühnerstall, »woran nichts auszusetzen war, denn es war nichts drin, aber viel einzusetzen, nämlich Tür und Tor und Fenster«148. Gockel, so läßt uns der Erzähler wissen, war freilich nicht immer arm: Als Hühner- und Fasanenminister hatten er und seine Vorfahren dem Kabinett des Königs von Gelnhausen angehört, bis er dort in Ungnade gefallen war, weil er den übermäßigen Eierverzehr seiner Majestät Eifraßius moniert hatte.149 Die Hoffnungen des geschaßten Ministers ruhen nun auf seinen beiden letzten verbliebenen Hühnern, nämlich dem stolzen Stammhahn Alektryo und dessen Weibchen Gallina – mit ihnen will Gockel eine Hühnerzucht beginnen und somit seine miserable ökonomische Situation verbessern. Daraus wird jedoch nichts, weil Gallina und ihre 30 Küken der Katze Schurimuri und ihren sieben Jungen zum Opfer fallen150 – Gockel steht ein weiteres Mal vor den »Trümmern seiner vielversprechenden Hoffnungen«151, die »Planung für eine stabile Zukunft«152 scheint mit einem Schlag zerstört. Dann jedoch offenbart Alektryo, der zu Gockels Überraschung sprechen kann, seinem Herrn die wundersame Tatsache, daß er einen sagenhaften Ring im Hals trägt, der seinem Träger jeden Wunsch erfüllt. Gockel erhält diesen Zauberring, nachdem er sich schweren Herzens dazu hatte entschließen können, den nach der »Totalvernichtung seiner [Alektryos, M. P.] Familie«153 lebensmüden gefiederten Gefährten zu enthaupten.154 Der Ring beschert Gockel und seiner Familie Schönheit, Reichtum, ein wunderschönes Schloß und eine einflußreiche Stellung im Hofstaat des Eifraßius, womit die Geschichte eigentlich – gemäß den »textstrukturellen Vorgaben für Märchen«155 – an ihr Ende gekommen wäre.156 Doch Brentano will es anders: Gockel verliert zum dritten Mal alles. Seine Tochter Gackeleia, die schon unfreiwillig das Massaker im Hühnerstall verschuldet hatte, ermöglicht es drei jüdischen Petschierstechern, an den Ring zu gelangen. Gockel und Hinkel werden in arme, alte Leute zurückverwandelt und vom ungnädigen Eifraßius verjagt.157 Mit Hilfe eines – adeligen – Mäusepaars, welches Gockel einst vor Schurimuri gerettet hatte, gelingt es Gackeleia jedoch, ihren Fehler 148 149 150 151
152 153 154 155 156 157
Ebd., S. 484. Vgl. ebd., S. 486. Vgl. ebd., S. 502f. Oskar Seidlin: Wirklich nur eine schöne Kunstfigur? Zu Brentanos GockelMärchen. In: Texte und Kontexte. Studien zur deutschen und vergleichenden Literaturwissenschaft. Festschrift für Norbert Fuerst zum 65. Geburtstag. Hg. von Manfred Durzak, Eberhard Reichmann und Ulrich Weisstein. Bern, München: Francke 1973, S. 237. Ebd., S. 238. Ebd., S. 237. Vgl. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 510–519. Fromm, Bilderbuch (wie Anm. 145), S. 528. Vgl. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 520–530. Vgl. ebd., S. 531–538.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
wiedergutzumachen. Sie erobert den Ring zurück, die Petschierstecher werden in drei Esel verwandelt, und Gockels Familie übernimmt anstelle des inzwischen verstorbenen Eifraßius die Herrschaft über Gelnhausen.158 Am Ende heiratet Gackeleia zunächst Kronovus, den gutmütigen Sohn des Eifraßius, und sorgt dann für die »Stillegung«159 des Geschehens, wie Waldemar Fromm trefflich feststellt. Die Tochter Gockels wünscht sich nämlich, daß die Hochzeitsgesellschaft aus lauter Kindern bestünde und die Geschichte ihrer Familie nur ein Märchen sei, daß der kraft des Ringes revitalisierte Alektryo eben diesen Kindern erzähle. »Kaum hatte sie dies gesagt, als Alektryo, [...] mit dem Schnabel nach dem Ring zuckte und ihn verschluckte, und in demselben Augenblick waren alle Anwesende in lauter schöne, fröhliche Kinder verwandelt, die auf einer grünen Wiese um den Hahn herumsaßen, der ihnen die Geschichte erzählte, worüber sie dermaßen in die Hände patschten, daß mir meine Hände noch ganz brennen; denn ich war auch dabei, sonst hätte ich die Geschichte niemals erfahren.«160 Die »Infantilisierung aller Teilnehmenden«161 (Waldemar Fromm) verhindert am Ende des Märchens einen möglichen erneuten Umschwung zu Ungunsten Gockels; dreimal jedoch stürzt er mitsamt seiner Familie ins Unglück – als die eigentlichen Verursacher von Gockels Tragik müssen freilich in allen Fällen die Juden gelten, denn sie haben nicht nur Gackeleia übertölpelt und somit den Ring erobert, sondern sie hatten zuvor schon – wie sich im Verlauf der Handlung herausstellt – die Entlassung Gockels am Hof von Gelnhausen betrieben und zudem die mordlustige Katze auf Alektryos Familie angesetzt.162 So geht »[v]on den drei Juden [...] alles Unglück der Titelhelden [...] aus«163, wie Ruth K. Angress zu Recht konstatiert. Sie übernehmen in einem Märchen, das im Zeichen der genretypischen Deutlichkeit einer »strenge[n], zwischen gut und böse polarisierende[n] Ethik«164 steht, den negativen Part. Gockel bekommt es nicht, wie die Helden anderer Märchen, mit »Alraunen, bösen Schwiegermüttern oder Königen«165 zu tun, die »gegen das Glück der Welt zu Felde ziehen«166, und auch keine »Teufel, böse Stiefmütter oder Hexen treiben ihr Unwesen«167: Als »Schadenstif158 159 160 161 162 163 164 165 166 167
Vgl. ebd., S. 552–564. Fromm, Bilderbuch (wie Anm. 145), S. 525. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 565. Fromm, Bilderbuch (wie Anm. 145), S. 529. Vgl. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 508f. Ruth K. Angress: Die Leiche unterm Tisch: Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Neue Sammlung 26 (1986), S. 221. Stefan Greif: Märchen/Volksdichtung. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 1994 (Kröners Taschenausgabe; 363), S. 267. Ebd., S. 271. Ebd. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Res-
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ter«168 (Wladimir Propp) in Brentanos Text figurieren vielmehr drei Juden, gegen die das einschlägige Arsenal antijüdischer Stereotypen ausgespielt wird. Sie erscheinen als skrupellose, geldgierige und geizige Handelsleute. Schon, als das Terzett jüdischer Naturphilosophen erstmals die Szenerie betritt, versucht es mit sehr viel Heimtücke, Gockel seinen wertvollen Hahn für einen Spottpreis abzukaufen.169 Ihre Geldgier wird den Juden, als sie den Ring schließlich doch in ihren Besitz bringen, denn auch zum Verhängnis: Der letzte verbliebene Petschierstecher – er hatte seine beiden Gefährten bereits in Esel verwandelt, damit sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnten – legt den Ring ab, um besser »nach all den schönen Sachen«170 greifen zu können, von denen ihm die mit Gackeleia verbündete Mäuseprinzessin Sissi als Ablenkungsmanöver im Schlaf erzählt. So kommt Gackeleia wieder in den Besitz des Schmuckstücks und kann auch den dritten Juden in einen Esel verwandeln.171 Doch Brentanos 1811 verfaßter Text gewinnt über die Aufnahme tradierter antijüdischer Klischees hinaus sozialpolitische Brisanz: Nicht nur, weil der in den Debatten der Zeit sehr gravierende Vorwurf der »Verstellungskunst« erneut akzentuiert wird, wenn einer der Petschierstecher sich als gütiger, alter Mann ausgibt und so der ebenso arglosen wie naiven Gackeileia heimtückisch den Ring abjagt.172 Wichtiger erscheint, daß die Juden als handlungsfähiges Kollektiv vorgestellt werden, das über primäre finanzielle Vorteile hinaus auch gesellschaftliche Macht erheischen will. Sie wünschen sich neben »Gold und Ehr und Glanz«173 eine höfische Laufbahn und den damit verbundenen Einfluß: »Mache uns zu Hofagenten, / Hoffaktoren, Konsulenten, / Rittern und Kommerzienräten, / Kommissaren und Propheten! [...] Mach uns glücklich ganz enorm, / Orden gieb und Uniform!«174 Auch jene – für den Petschierstecher letztlich verhängnisvollen – Wünsche, die Sissi am Ende dem verbleibenden Juden einflüstert, verheißen ihm unter anderem eine gesellschaftliche Führungsposition: »[...] Ritterorden, Ihro Gnaden, / Hohe Bildung, Ordensband, / Witz und Wesen, scharf und zart, / Gänsefett und Backenbart.«175 Die
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tauration: 1806–1830. München: C. H. Beck 1989 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 7), S. 320. Wladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher. München: Hanser 1972 (Literatur als Kunst), S. 33. Vgl. zum »automatisierten und rituellen Handlungsgerüst« von Märchen auch Simon, Autormasken (wie Anm. 145), S. 207f., hier S. 208. Weil sich der Fokus der Narration seiner Analyse nach auf die Entwicklung Gackeleias einstellt, sieht Ralf Simon Brentanos Text vom Gattungsparadigma abweichen. Vgl. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 500. Ebd., S. 561. Vgl. ebd., S. 562. Vgl. ebd., S. 531–534. Ebd, S. 536. Ebd. Ebd., S. 561.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
drei Juden wollen also nicht nur finanziell saturiert sein, sie wollen als »moderne[] Karrieremacher«176 auch die Entwicklung der Gesellschaft in ihrem Sinne mitgestalten. Dafür arbeiten sie produktiv zusammen – und zwar trotz der ständigen Streitigkeiten untereinander: »Sie [die Juden, M. P.] sind untereinander uneins, aber haben sich gegen die ganze Welt verschworen«177, benennt Klaus Holz eine gängige antisemitische Vorstellung, die das Verhalten der jüdischen Protagonisten Brentanos exakt beschreibt. Die Bedeutung, die der Machthunger der Juden für die gemeine Bevölkerung gewinnt, macht Brentano ebenfalls deutlich: Er läßt seine negativen Protagonisten nämlich zwischenzeitlich tatsächlich zum Hoffaktor, zum Hoflieferanten und zum Kommerzienrat avancieren, was für die Bürger verhängnisvolle Konsequenzen zeitigt. »Einmal an der Macht«178, schreibt Ruth K. Angress, »ruinieren die Juden die Wirtschaft des Landes«179. Das stimmt so nicht ganz – vielmehr sorgen die Juden dafür, daß die herrschende Klasse auf Kosten der einfachen Bevölkerung ihren Wohlstand immer weiter ausbauen kann. Gackeleia hört denn auch in der Kirche, wie »mancherlei Leute«180 ihr Leid über die Methoden der Petschierstecher klagen: »[...] und alle beteten, Gott möge doch die Stadt von dem bösen Hoffaktor befreien, er sei schuld, daß der Fürst die Semmeln so klein backen lasse. Ein andrer betete, Gott möge doch den geizigen Kommerzienrat vertreiben, er sei schuld, daß der Fürst das Salz so teuer verkaufe. Ein dritter betete, Gott möge die Stadt doch von dem habsüchtigen Hoflieferanten befreien, er sei schuld, daß der Fürst das Fleisch so teuer werden lasse.«181 Gackeleia hofft nun umso mehr, den Ring wieder zurückerobern zu können, »weil sie [die Petschierstecher, M. P.] doch niemand dadurch glücklich machten«182. Kurz zuvor hatte uns Brentano eine ganz andere Verwendungsweise des wundersamen Schmuckstücks gezeigt. Als Gockel die Möglichkeit erhält, durch den Ring seine persönliche Misere zu beenden, denkt er ebenfalls in überindividuellen Kategorien. Gockel und seine Familie verfallen nämlich nicht nur in private »Konsumexzesse[]«183, wie dies von Martina Vordermayer behauptet wird, die das Verhalten der Familie Gockels nach dem Ringerwerb sogar mit dem der Petschierstecher auf eine Stufe stellt;184 die Hennegaus 176 177
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Angress, Leiche unterm Tisch (wie Anm. 163), S. 220. Klaus Holz: Gemeinschaft und Identität. Über den Zusammenhang nationaler und antisemitischer Semantiken. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 23 (1998), H. 3, S. 15. Angress, Leiche unterm Tisch (wie Anm. 163), S. 221. Ebd. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 559. Ebd., S. 560. Ebd. Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 120. Sie schreibt von »anfänglichen Konsumexzessen, wie sie auch die Petschierstecher begehen«. Vgl. ebd.
IV Juden als Wurzel des nationalen Unglücks: ›Gockel und Hinkel‹
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sorgen vielmehr auch für einen ökonomischen Aufschwung und lassen die Gesellschaft, die von den Juden später ausgebeutet wird, an ihrem Glück teilhaben. Gockel, der ja schon in seiner Amtszeit als Hühnerminister im Sinne des Allgemeinwohls handelte, als er Eifraßius der Verschwendungssucht bezichtigt und somit gegen die »Ordnung der Begierde«185 Einspruch erhoben hatte, bezieht seine »Familienethik«186 (Waldemar Fromm) – ganz im Sinne der romantischen Staatstheorie – nicht nur auf die nächsten Angehörigen, sondern auf das soziale Gemeinwesen. Der wunderbare Ring ermöglicht daher in Gelnhausen dank seiner mildtätigen Verwendung gleichsam ein »Wirtschaftswunder«, und auch der vormals so mißgünstige Eifraßius entfaltet durch Gockels finanzielle Zuwendungen gute Seiten: »So lebten Gockel und die Seinigen beinah ein Jahr in einer ganz ungemeinen irdischen Glückseligkeit zu Gelnhausen, und der König war so gut Freund mit ihm und seiner vortrefflichen Küche und seinem unerschöpflichen Geldbeutel, und alle Einwohner des Landes hatten ihn seiner großen Freigebigkeit wegen so lieb, daß man eigentlich gar nicht mehr unterscheiden konnte, wer der König von Gelnhausen war, Gockel oder Eifraßius.«187 Während also unter dem Einfluß der Juden der Fürst roh und unbarmherzig regiert und die Einwohner leiden, herrscht mit Gockel – dem Vertreter eines alten Adelsgeschlechts – als Mäzen allenthalben Wohlstand und Zufriedenheit. »Ein Brentanosches Märchen«188, schreibt Claude David, »will für sich, als reine Fiktion, als willkürliche Arabeske, gelesen werden: man darf in dieser flächenhaften oder linearen Kunst nach keinem Hintergrund suchen, nach keinen ›Hintergedanken‹ fragen.«189 Die demonstrierten Bezugnahmen Brentanos auf die zeitgenössischen Diskurse lassen eine solche werkimmanente Rezeption – wie sie auch Jens Tismar und Mathias Mayer vorschlagen, wenn 185 186
187 188
189
Fromm, Bilderbuch (wie Anm. 145), S. 526. Ebd., S. 543. Hartwig Schultz macht in seiner ansonsten für unsere Thematik wenig ergiebigen Analyse, in der einmal mehr die poetologischen Differenzen zwischen den Grimm-Brüdern und Brentano behandelt werden, darauf aufmerksam, daß jenes »Bild idyllischen Familienlebens«, das Brentano seinen Lesern darbietet, keine Entsprechung im Text der Vorlage – der sich in Giovanni Batista Basiles neapolitanischer Märchensamlung Pentamerone (1634/36) findet – besitzt. Schultz motiviert diese Aktzentuierung jedoch lediglich mit dem Versuch Brentanos, »den Leser – und besonders zuhörende Kinder – in das Geschehen hineinzuziehen«; auf die politische Dimension des Märchens geht Schultz, der dem Text »aufklärerische[] Elemente [...] gänzlich« abspricht, nicht ein. Vgl. Schultz, Die erste Fassung (wie Anm. 145), S. 157, Zitate ebd. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 530. Claude David: Clemens Brentano. In: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Hg. von Hans Steffen. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1989 (Kleine Vandenhoek-Reihe; 1250), S. 164. Ebd., S. 164f.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
sie vom »spielerischen Unernst«190 der frühen Märchen Brentanos sprechen – freilich defizitär erscheinen.191 Gerhard Schulz geht zu Recht davon aus, daß diese Texte nur »unter den Voraussetzungen einer Zeit großer gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Veränderungen«192 in dieser Weise entstehen konnten und daher auch »von diesem überpersönlichen Hintergrund ein gut Teil in sich aufgenommen«193 hätten. Brentano wagt mit Gockel und Hinkel nicht »den Schritt in die reine Willkür«194 (Claude David), sondern er bezieht Position, und zwar in Form eines rigorosen Antikapitalismus und eines ebenso entschiedenen Antisemitismus.195 Es konnte gezeigt werden, daß die Gestaltung der jüdischen Figuren in der Urfassung des Gockel-Märchens jene Argumentationsfiguren aufgreift, die in den zeittypischen Debatten gegen eine Emanzipation der jüdischen Bevölkerung angeführt wurden. Doch noch in einer weiteren Hinsicht erhält das Märchen eine sozialpolitische Signatur: Es wird nämlich gleich zu Beginn berichtet, daß Gockels Ahnen einst in einem wunderschönen Schloß zuhause waren, einem »der herrlichsten in ganz Deutschland, aber die Franzosen, welche es so zu machen pflegen, zerstörten es ganz und gar [...]. Nach jenem Unfall haben die Vorfahren Gockels sich nie wieder erholt und waren meistens Fasanen- und Hühnerminister bei den benachbarten Königen von Gelnhausen gewesen«196. Um diese – immerhin doch respektable – Stellung wird Gockel dann durch die besagten Intrigen der Petschierstecher gebracht, so daß das Schicksal der Familie Gockels von zwei feindlichen Kollektiven unheilvoll bestimmt ist: Franzosen und Juden haben ihr Elend verschuldet.197 190 191
192 193 194 195
196 197
Mathias Mayer und Jens Tismar: Kunstmärchen. Dritte, völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1997 (Sammlung Metzler; 155), S. 82. Dagegen berücksichtigt Volker Klotz die sozialpolitischen Implikationen der Kunstmärchen Brentanos; seine Analyse konzentriert sich allerdings in erster Linie auf die Rheinmärchen. Vgl. Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. 25 Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. Stuttgart: J. B. Metzler 1985, S. 181–195. G. Schulz, Literatur zwischen Revolution und Restauration II (wie Anm. 167), S. 463. Ebd. David, Brentano (wie Anm. 188), S. 164. Siehe hierzu auch das knappe, aber instruktive Nachwort von Helmut Bachmaier in der Reclam-Ausgabe der Urfassung des Märchens: Helmut Bachmaier: Nachwort. In: Clemens Brentano: Gockel und Hinkel. Märchen. Stuttgart: Reclam 1986 (Reclams Universal-Bibliothek; 450), S. 109–112. Dagegen berücksichtigt Schultz, Die erste Fassung (wie Anm. 145), die antisemitischen Implikationen des Textes mit keinem Wort. Brentano, Werke III (wie Anm. 145), S. 486. Martina Vordermayer hat zuletzt eindringlich gezeigt, daß die antijüdischen Aspekte des Textes in der Spätfassung mitnichten zurückgenommen werden. Allerdings argumentiert Brentano hier nicht mehr aus nationalistischer Perspektive – weshalb auf eine Analyse des Textes in dieser Untersuchung verzichtet wird –, sondern als »militanter Katholik« [H.-W. Schmidt, Erlösung der Schrift (wie Anm.
V Eine unheilige Allianz
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Eine unheilige Allianz: Der jüdisch-französische Schulterschluß in Brentanos Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe
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Die Aufklärung eines alten Verbrechens
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Ein Franzose und ein Jude spielen auch die negativen Hauptrollen in Brentanos als Kriminalgeschichte angelegter Restaurationserzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe198, in der zwei Übeltäter durch die Bemühungen eines gerade aus den Befreiungskriegen heimgekehrten preußischen Barons am Ende überführt werden. Gerhard Schaub hat diesen Text in seiner wegweisenden Untersuchung aus dem Jahr 1986 als eine »realitätsgesättigte, politische ›Zeit‹Erzählung«199 charakterisiert, die »viele zeit-, real-, sozial- und militärgeschichtliche Bezüge und Anspielungen enthält und außerdem recht häufig auf den äußeren Zustand, die geographisch-politische Lage und das politischsoziale Alltagsleben des Arnimschen Gutes im Frühherbst 1814 zu sprechen kommt.«200 Ihre Entstehungszeit fällt in den Herbst 1814, »also ziemlich genau in die Zeitspanne zwischen dem inoffiziellen und dem offiziellen Beginn des Wiener Kongresses«201. Der französische Revolutionär Sanseau hatte in der Vorzeithandlung der Erzählung, die im revolutionären Paris der 1790er Jahre spielt, mithilfe des jüdischen Totengräbers Dumoulin seinen jüngeren Schwager Louis Frenel um Ansehen und Namen gebracht. Eine »Menge von Zufälle[n]«202, wie Brentano
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145), S. 130], wie Hans-Walter Schmidt und Ralf Simon dargelegt haben. »Kunst und Judentum«, repräsentiert durch die Petschierstecher, müssen demnach in dem Text von 1837 als »Häresie des Katholizismus« verstanden werden: »Während in der Immanenz des Märchens vom Christenthum als einer tätigen, am Mitmenschen orientierten Religion gehandelt wird, ist das Judentum für die Definition des metaphysischen Status dieser ganzen Kunstwelt zuständig«, die freilich eine negative Evaluierung erfährt. Simon, Autormasken (wie Anm. 145), S. 230. Daß die Verdammung der Kunstwelt innerhalb ihrer eigenen Grenzen geschieht, bezeugt indes die Ambivalenz der referierten Dichotomie: »Der Text, der das Ende literarischer Autorschaft [...] beschwört, verbleibt selbst dem verhaftet, was er verwirft. Daß in poetischer Form von der Aufhebung poetischen Schreibens geschrieben werden muß, ist aber genau die Garantie und keineswegs eine Infragestellung für den Fortbestand von Literatur«, erläutert Hans-Walter Schmidt die Paradoxie, in die sich Brentanos Versuch, »Dichtung nach dem Ende von Dichtung zu realisieren«, verfängt. Vgl. H.-W. Schmidt, Erlösung der Schrift (wie Anm. 145), S. 150f., hier S. 151. Zum Vergleich der beiden Fassungen des Märchens Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 80–85. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 315–356. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 94. Ebd. Ebd., S. 108. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 326.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
seinen Baron selbst einräumen läßt, ermöglicht auf der im Oktober 1814 situierten Gegenwartsebene des Textes die Aufdeckung des alten Verbrechens.203 Frenel hat mittlerweile nämlich die Adoptivtochter Dumoulins geheiratet, ohne freilich über seinen Schwiegervater Bescheid zu wissen, und die gesamte Familie begegnet auf ihrer Rückkehr nach Frankreich einem Trupp französischer Kriegsgefangener, der – wie auch Frenels Familie – am Anwesen des Barons vorbeizieht.204 Der Gutsherr überrascht anschließend Sanseau und Dumoulin bei einem Handgemenge, in dessen Verlauf Sanseau den Mitwisser erstechen will. Noch bevor der Baron eingreifen kann, trifft den Revolutionär der Schuß eines deutschen Korporals. Sowohl der schwer verletzte Sanseau als auch sein Gegenspieler werden daraufhin im Schloß des Barons arretiert.205 Der Baron und der angereiste Gerichtshalter wollen nun die Hintergründe dieses Zweikampfes erfahren und auch darüber Bescheid wissen, warum alle Beteiligten äußerst merkwürdig auf den Anblick jener titelgebenden Schachtel mit der Friedenspuppe reagieren, die der Baron unter ebenfalls sehr dubiosen Umständen in Paris einer Trödlerin als Geschenk für seine Frau abgekauft hatte.206 Brentanos auktorialer Erzähler läßt den Leser lange über die wahren Zusammenhänge innerhalb dieser verwickelten und »in ihren Einzelheiten nicht leicht durchschaubar[en]«207 Geschichte im Unklaren. Schließlich stellt sich durch das Geständnis des sterbenden Sansau heraus, daß Dumoulin sich einst dazu hatte verwenden lassen, der Witwe des reichen Chevalier de Montpreville, die gerade von Louis entbunden worden war, in eben jener verhängnisvollen Schachtel ein totes Kind unterzuschmuggeln.208 Auf Betreiben des mit Montprevilles Tochter aus erster Ehe verheiraten Sanseau, den der Chevalier mit der neuerlichen Heirat aus der Erbfolge hatte ausschließen wollen, wurde Louis nun vor Gericht um seinen Anspruch gebracht: »[...] man erklärte mich für untergeschoben, und das todte Kind für die Frucht meiner Mutter, Sanseau ward zum Erben eingesetzt«209, berichtet er dem Baron, dessen Bemühungen um Aufklärung letztlich nicht erfolglos bleiben: Die alte Intrige wird aufgedeckt und Frenel in seine Rechte als Chevalier de Montpreville eingesetzt. Dagegen sterben Sanseau und Dumoulin durch Selbstmord.210 Es mag an dem eminent politischen und daher nicht ins Bild der BrentanoForschung passenden Charakter der Erzählung gelegen haben, daß der von 203
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Vgl. zur Schachtel mit der Friedenspuppe als Detektivgeschichte Rainer Schönhaar: Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800. Bad Homburg, Berlin, Zürich: Gehlen 1969, S. 105–109. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 322. Vgl. ebd., S. 323f. Vgl. ebd., S. 335f. Hosch, Reflexion (wie Anm. 144), S. 55. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 344f. Ebd., S. 341. Vgl. ebd., S. 345–356.
V Eine unheilige Allianz
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Josef Körner erst 1922 wiederentdeckte Text in der Literaturwissenschaft lange keine Rolle spielte.
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Die kriminalisierte Revolution
Während in der Rahmenhandlung der Novelle die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände im Mittelpunkt steht, geht es Brentano bei der Binnengeschichte um die Denunziation der »Ideen von 1789«. Anders als etwa in Arnims Gräfin Dolores oder in seinen späteren Majorats-Herren, in denen die Revolution zwar auch verurteilt, aber doch auch aus den Verfehlungen des Ancien Regime heraus erklärt wird, fällt Brentanos Urteil schonungslos aus. Sanseau, der als »einer der feurigsten republikanischen Redner im Klubb und an den Straßenecken«211 vorgestellt wird, geht es von Anfang an nur um den persönlichen Vorteil. Durch den geschilderten Betrug, für den er sogar einen Kindsmord in Kauf genommen hätte,212 eignet sich der Revolutionär den Reichtum des Chevalier de Montpreville an. Später hinterläßt er als Sergeant der französischen Revolutionsarmee – angetrieben von »Geitz und [...] Habsucht«213 – auf dem Gut des Barons eine Spur der Verwüstung. Seine Leute brennen die Scheune nieder,214 er selbst zerstört die »rothseidene Tapete«215 und mißhandelt den harmlosen Amtsboten,216 was mit dem angeblichen Kampf der Revolutionäre für die bislang Unterprivilegierten freilich schwer zu vereinbaren ist. Das Treiben Sanseaus, der mit dem jüdischen Grabräuber Dumoulin – seine dubiosen Geschäfte florieren in der »Schreckenszeit«217 – einst gemeinsame Sache gemacht hatte, illustriert einmal mehr den französisch-jüdischen Konnex; zudem wird die Revolution kriminalisiert und ihrer Legitimation beraubt, denn Brentano identifiziert »bürgerlichen Betrug als eine Revolutionsursache. Weil diese falsche Gerechtigkeit Sanseaus durch die deutsche Patrimonialjustiz aufgedeckt wird, bringt Brentano einen effektvollen Kontrast zustande«218, wie Nicholas Saul anmerkt, der das »Kontrastverfahren«, das stets »Wahres und Falsches nebeneinander stellt«219, zu Recht als den für die Textkonstitution wichtigsten erzähltechnischen Schachzug in dieser Novelle her211 212
213 214 215 216 217 218 219
Ebd., S. 337. Vgl. ebd., S. 344: Sanseau weiß offensichtlich nicht, daß durch den Tod des kleinen Bruders von Marie die Ermordung eines Kindes für die Intrige gar nicht nötig war, wenn er in seinem Geständnis zu Protokoll gibt, »ohne Kenntniß des Kindermordes« zu sein, den Dumoulin für ihre gemeinsamen Zwecke begangen habe. Ebd., S. 317. Vgl. ebd., S. 317f. Ebd., S. 317. Vgl. ebd. Ebd., S. 332. Saul, Kunstthematik (wie Anm. 144), S. 119. Ebd.
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ausgearbeitet hat. »Auf eben diese Weise wird z. B. auch die als falsch gesehene politische Verfassung Frankreichs effektvoll neben die positiv gewertete neufeudalistisch-patriarchalische Ordnung auf dem preußischen Gut [...] gestellt.«220
3
Ein deutscher Baron und sein jüdischer Opponent
Ebenso effektvoll ist der Kontrast zwischen zwei Figuren, die in der Rahmenhandlung die Hauptrollen einnehmen. Als entscheidender Gegenspieler für die Ermittlungsbemühungen des Barons erweist sich nämlich alsbald nicht der schwer verletzte Sanseau, sondern sein einstiger Handlanger Dumoulin; er ist es, der mit allen Tricks zu verhindern sucht, daß die alte Intrige aufgedeckt wird. Brentano entwirft die Figur des jüdischen Pelzhändlers221 mit großer Sorgfalt als durch und durch verdorbenen Charakter; vor dem düsteren Hintergrund seiner negativen Eigenschaften kann sich die Großherzigkeit und Wahrheitsliebe des Barons umso strahlender abheben. Gleich bei Dumoulins erstem Auftritt, als der Baron ihn vor Sanseau beschützt, fällt dem pikierten Erzähler auf, daß »St. Luce [so Dumoulins Deckname, M. P.] dem Baron als seinem Retter noch nicht gedankt hatte«222; diese Undankbarkeit und die »wunderbare[] Unruhe«223, die Dumoulin ebenfalls sogleich bescheinigt wird, sind freilich noch die harmlosesten der zahlreichen problematischen Eigenschaften, die den Juden alles andere als auszeichnen. Im folgenden bemüht Dumoulin sich beständig darum, die Wahrheit zu vertuschen. Zunächst will er Sanseau als seinen Mitwisser feige ermorden, was der über diese »unzeitige Rachsucht«224 empörte Baron gerade noch verhindern kann; später, als beide bereits arretiert sind, versucht Dumoulin, den wachhabenden Jäger zu bestechen, damit der ihn zu Sanseau läßt.225 Als der Gerichtshalter ihm aus untersuchungstaktischen Gründen Sanseaus Tod vortäuscht, ist Dumoulins Mitgefühl lediglich geheuchelt, wie die Gesichtszüge von Frenels Schwiegervater unschwer erkennen lassen – denn »[b]ey dem Worte todt erheiterte sich das Angesicht des St. Luce auffallend«226, was der Delinquent mit der vermeintlichen Sorge für Sanseaus Familie, der nun eine öffentliche Schmähung erspart bleibe, freilich zu erklären und zu entschuldigen versucht. 220 221
222 223 224 225 226
Ebd. »Ein Pelzhändler ist verglichen mit anderen Händlerberufen (z. B. Tuchhändler) ein schmutziger und wenig angesehener Beruf. Dies geringe Ansehen wird nur von Dumoulins früherem Beruf, Totengräber, unterboten«, erläutert Christina E. Brantner. Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 18. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 324. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 325. Ebd., S. 327.
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Seine wahren Motive sind indes andere: Für Dumoulin ist Sanseau ein unbequemer Mitwisser, dessen Tod wünschenswert erscheint. Der Jude trägt die Lügengeschichten, die er erzählt, um die wirklichen Hintergründe seiner Verbindung mit Sanseau zu verschleiern, »mit einer so französischen Leichtigkeit[] und einem so frivolen Lächeln [vor], als wisse er, daß es auch Deutsche gibt, die solchen allerliebsten Lug und Trug zu den sogenannten läßlichen Sünden rechnen«227. Zu diesen Deutschen freilich gehört der Baron nicht. Er entpuppt sich als Ehrenmann, der nach seiner Rückkehr aus den Befreiungskriegen »Weib und Kind, Freunde, Nachbarn und Unterthanen, liebender treuer, bewährter und heiterer [vorfindet], als er sie verlassen hatte«228. Gerade für seine Untergebenen, die später denn auch auf das »Wohl ihrer Herrschaft«229 trinken, ist er als milder und gerechter Patriarch geradezu das Idealbild jenes »guten Herrschers«230, den Novalis schon früh thematisiert hatte und dem auch die Gestaltung des Grafen in Arnims Gräfin Dolores verpflichtet gewesen war. Seine Frau behandelt er »herzlich«231, ihr hatte er auch jene Friedenspuppe gekauft, deren ominöse Verpackung nun für manchen Aufruhr sorgen sollte;232 Frenel gegenüber demonstriert der Baron »Gastfreundschaft«233 und »Güte«234. Selbst mit den verhafteten Übeltätern verfährt der »Edelmann«235 keineswegs unfair: Sanseau und Dumoulin können im Haus des Barons auf eine vorurteilsfreie Ermittlung rechnen – und auch auf ein »gutes Abendbrot«236, wie der Erzähler zu berichten weiß. Die entscheidende Differenz, der entscheidende und für die Erzählung konstitutive Kontrast zwischen Dumoulin und dem Baron, besteht indes in ihrem Verhältnis zur Nation. Der Sieg des Barons über Dumoulin ist nicht nur ein »Triumph des Christlichen über das Jüdische«237, sondern auch der eines Deutschen über einen Juden, wie insbesondere zu Beginn und ganz am Ende der Novelle deutlich wird. Dumoulin gibt anfangs nämlich an, auf Sanseau losgegangen zu sein, »um sein aufblühendes Vaterland von einem übelgesinnten 227 228 229 230
231 232 233 234 235 236 237
Ebd., S. 330. Ebd., S. 315. Ebd., S. 351. Vgl. zu der Idee des »guten Herrschers« und ihrer literarischen Tradition in Aufklärung und Romantik den Aufsatz von Klaus Peter, der allerdings auf Brentanos Novelle nicht eingeht: Klaus Peter: Der gute Herrscher. Literarische Beispiele bei Gottsched und in der Romantik. In: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus-Detlef Müller, Gerhard Pasternack, Wulf Segebrecht und Ludwig Stockinger. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 97–112. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 347. Vgl. ebd., S. 320. Ebd., S. 322. Ebd. Ebd., S. 315. Ebd., S. 333. Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 23.
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Mitgliede zu befreien«238. Doch der »patriotische[] Eifer«239 ist nur vorgetäuscht – genau wie Dumoulin »aus Gewinnsucht schon in seinem 14ten Jahre die Rolle eines Christen zu spielen angefangen«240 hatte, so spielt er nun die Rolle eines nationalen Kämpfers; in Wirklichkeit indes handelt er auch diesmal aus egoistischen Motiven. Habgier und Opportunismus, nicht Loyalität, Überzeugung und Opferbereitschaft treiben ihn an. Daß mit der Figur Dumoulins erneut die in der Emanzipationsdebatte virulenten Einwände gegen eine Einbürgerung der jüdischen Minderheit in den fiktionalen Diskurs eingebracht werden, scheint außer Frage zu stehen – zumal als Gegenentwurf zu Dumoulin mit dem Baron eine Figur existiert, die sich wirklich für die nationalen Belange einsetzt. Der Baron war für die »Sache des Vaterlandes«241 in den Krieg gezogen, »hatte die Schlachten an der Katzbach, bey Leipzig, bey Laon und auf dem Montmartre mitgeschlagen [und] hatte geholfen, die entführte preußische Viktoria von Paris nach Berlin [...] zurück zu begleiten«242. Doch auch nach seiner Rückkehr kümmert er sich nicht nur um den Wiederaufbau seines durch die Kriegswirren in Mitleidenschaft gezogenen Gutes, sondern er folgt auch prompt der Aufforderung eines deutschen Patrioten, »den 18. Oktober, den Jahrestag der Leipziger Schlacht, mit Freudenfeuern auf allen Anhöhen zu feyern«243. Gegen Ende der Erzählung wird dieses Feuer tatsächlich entfacht, und der Baron findet Gelegenheit, auf »das Wohl des Vaterlandes und aller deutschen Könige, und aller deutsch- und königlichgesinnten Kämpfer«244 zu trinken. Dabei sehen er und seine Gäste sowie die Untergegebenen nicht nur am Himmel die »Freudenfeuer benachbarter Deutsche[r]«245, sondern auch einen Meteor, der der deutschen Nationalfeier gleichsam eine göttliche Beglaubigung verleiht und die Hoffnung auf nationale Einheit religiös fundamentiert: »Es war, als habe der Himmel sagen wollen: ›ihr leuchtet mit Freudenthränen, wenn ich aber mit meinem Lichte euch erleuchte, und die Nacht euch nehme, so sinken eure Flammen ein. Seht, mir gefällt euer kindisches Spiel, und ich gönne euch die heilige Nacht; aber wie ihr alle mein Feuer gesehen habt, unter einander aber nur jeder das seine, oder das der nächsten Nachbarn, so gedenket, daß nur das Licht von oben ein einigendes ist, und seyd nicht eigensinnig, und bedenket nicht jeder seinen Vortheil, sondern gehört euch alle einander an, denn nur in Allen ist Friede, und Kraft, und Dauer!‹«246 Hier leistet Brentano im narrativen Diskurs, was in der zeitgenössischen Publi238 239 240 241 242 243 244 245 246
Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 329. Ebd. Ebd, S. 352. Ebd., S. 315. Ebd. Ebd., S. 319. Ebd., S. 350f. Ebd., S. 348. Ebd., S. 350.
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zistik insbesondere Ernst Moritz Arndt247 und Achim von Arnim248 inauguriert hatten; es ging diesen Autoren darum, die Leipziger Schlacht als Stabilisator eines deutschen Gemeinsamkeitsglaubens aus dem kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle zu überführen, also in jene Erinnerung, die als »institutionell geformte und gestützte«249 nicht mehr durch Zeitzeugen repräsentiert werden muß und daher »kontrapräsentische[n]«250 Charakter erhält.251 Zeitgleich zu den deutschen Feierlichkeiten findet Dumoulin den Tod, denn »unter den vielen Freudenschüssen, die rings gefallen sind, war auch der, der seinem Leben ein Ende machte«252. Reinhard Hosch weist darauf hin, daß dieser Satz, mit dem der Gerichtshalter die Mademoiselle Frenel über den Selbstmord ihres Pflegevaters unterrichtet, »im üblichen Formelbestand pietätvoller Todesnachrichten nicht [...] enthalten [ist]«253; vielmehr werde der töd247
248
249
250
251 252 253
Auf Arndts Aufsatz Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht (1814) spielt Brentanos Erzählung direkt an. Vgl. Ernst Moritz Arndt: Ausgewählte Werke in sechzehn Bänden. Hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds. Dreizehnter Band: Kleine Schriften I. Leipzig: Hesse o. J. [1908], S. 267–275 sowie Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 319. Im Preußischen Correspondenten (22. Oktober 1813) erhebt er die Völkerschlacht zu einem nationalen Mythos, der den Deutschen künftig einen Bezugspunkt ihres Gemeinsamkeitsglaubens bieten könnte: »Bis die Helden des Kampfes den Namen der Schlacht bestimmt haben, wollen wir sie Deutsche Schlacht nennen [...], wir nennen sie die Deutsche Schlacht nicht darum allein, weil sie die Freiheit der deutschen Völker von französischer Politik erstreitet, sondern weil in dem Feuer derselben der deutsche Volksgeist sich läuterte und zeigte, und das ewige Gesetz, das Völker einer Abkunft und Sprache verbündet, in dem Übergange der meisten deutschen Streiter zum deutschen Heere glänzend bewährt wurde.« Vgl. Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band sechs: Schriften. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 72), S. 427f.; Jürgen Knaack umgeht in seiner jüngsten Analyse der Artikel Arnims im Correspondenten diese Problematik. Vgl. Jürgen Knaack: Achim von Arnim, der Preußische Correspondent und die Spenersche Zeitung in den Jahren 1813 und 1814. In: Arnim und die Berliner Romantik: Kunst, Literatur und Politik. Berliner Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Schriften der Internationalen ArnimGesellschaft; 3), S. 48f. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1999 (Beck’sche Reihe; 1307), S. 222. Gerd Theissen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 724), S. 174. Zu den Begrifflichkeiten des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 249), S. 48–66. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 351. Hosch, Reflexion (wie Anm. 144), S. 66.
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liche Schuß durch diese »eigenwillige Interpretation«254 in die Reihe der Freudenschüsse gestellt und damit in die »Choreographie des Festes«255 integriert. »Er erhält eine ästhetische Qualität«256, bilanziert Hosch, und in der Tat macht das Ende des posthum noch als »Feind der Freyheit und des Friedens«257 sowie als »Diener des Eigennutzes«258 geschmähten Juden die »unendliche Harmonie«259 der deutschen Nationalfeier in Brentanos Sinne erst perfekt – der unbußfertige Dumoulin hat die Symbolik des Augenblicks ohnehin nicht verstanden und nur »mit großem Schmerz an unserm Feste Theil genommen, das er aus seinem Fenster übersehen konnte«260, wie der Gerichtshalter berichtet.
4
Im Geist der Zeit: Die Absolution für Frankreich
Brentano stimmt in die antijüdischen, jedoch nicht in die antifranzösischen Tiraden vieler seiner Zeitgenossen ein, was sich schon daran zeigt, daß mit Frenel, der am Ende als Chevalier de Montpreville wieder in seine Rechte eingesetzt wird und dem Baron freundschaftlich verbunden bleibt, ein sehr positiv gezeichneter französischer Protagonist eine wesentliche Rolle einnimmt.261 Mit der negativen Gestaltung Sanseaus zielt Brentano nicht auf die Franzosen insgesamt, sondern auf die Vertreter der Revolution. Am Ende seines Lebens zeigt sich Sanseau zudem reuig und geständig;262 die Konsequenz daraus ist seine Versöhnung mit Frenel, was Gerhard Schaub in die »Sprache der die ganze Erzählung prägenden politischen Symbolik«263 übersetzt: »[D]as royalistische Frankreich verzeiht dem bußfertigen revolutionären, napoleonischen Frankreich am Tage des ›Gerichts‹, der somit auch ein Tag der ›Gnade‹ und der ›Amnestie‹ ist [...], denn Frenel und die anderen ›königlichgesinnten‹ Figuren sind keine ›grausamen Richter‹.«264 Diese versöhnliche Haltung gegenüber Frankreich muß auch als Parteinahme in den öffentlichen Kontroversen gesehen werden, wie denn mit dem Kriegsverlierer Frankreich nunmehr umzugehen sei. Ernst Moritz Arndt etwa agitiert in seiner Schrift Noch ein Wort über die Franzosen und über uns (1814) gerade gegen jene Differenzierung, die Brentano narrativ einklagt; für Arndt gibt es keinen Unterschied zwischen einem revolutionär und einem royalistisch gesinnten Frankreich: Der streitbare Publi254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264
Ebd. Ebd. Ebd. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 351. Ebd. Ebd., S. 350. Ebd., S. 351. Vgl. hierzu Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 16. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 344f. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 99. Ebd.
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zist baut darauf, daß diejenigen, die über die Nachkriegsordnung zu entscheiden haben, »nicht glauben [werden], daß in demselben Augenblick, in welchem Napoleon Bonaparte von der Bühne heruntergetrieben ist, kriechende und wedelnde Hunde aufrechte und stolze Löwen, schwarze Verbrecher weiße Tugendhelden, Ungeheuer plötzlich Menschen geworden sind; [...] sie werden im Uebermaaß von Güte und Großmuth nicht vergessen, daß diese bleiben, welche sie sind, daß Franzosen Franzosen bleiben«265. Die Entmachtung Napoleons und der Revolutionäre darf folglich nicht zu einem freundschaftlichen Verhältnis zu Frankreich266 führen; ein »redlicher Teutscher«267 kann vielmehr »die Abscheulichen nicht genug hassen und verabscheuen«268, denn die Franzosen »haben [...] vor Napoleon gegen Teutsche gefrevelt«269 und sie werden auch »nach ihm freveln«270. Arndt predigt auch nach dem Kriegsende Haß gegen »alle Franzosen ohne Unterschied im Namen Gottes und im Namen meines Volks«271; dieser Haß muß bestehen bleiben, weil auch der negativ evaluierte französische Nationalcharakter invariabel erscheint: »So sind die Franzosen, so werden sie immer seyn, so werden sie dem Glück und der Ehre ihrer Nachbarn immer nachstellen; so grausam als leichtfertig, so tigerisch als äffisch, so habsüchtig als knechtisch, so liederlich als treulos, so gleißend als tückisch – wo hat das nichtswürdige Volk nur Eine gewisse Tugend, die es von seinen Lastern erlöse?«272 Auch die Kommentare von Joseph Görres, der von 1814 bis zum Verbot der Zeitung im Jahr 1816 den Rheinischen Merkur leitete,273 demonstrieren keinerlei Versöhnungsbereitschaft: Seine Aufzählungen der angeblichen französischen Nationallaster entspricht den Invektiven Arndts; so teilen auch »[d]ie biblischen Bilder des ›Merkur‹ [...] die Welt vereinfachend in Gut und Böse, Gottesreich und ›Babylon‹«274, wie Esther-Beate Körber resümiert: »Wie vielen anderen, fiel es auch ihm [Görres, M. P.] schwer, von den Leistungen der Deutschen zu sprechen, ohne Frankreich dabei gehässig herabzusetzen.«275 Der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg, der Görres vermutlich erst dafür gewonnen hatte, die im Jahr 1811 in Koblenz erschienene Zei265 266 267 268 269 270 271 272 273
274 275
Ernst Moritz Arndt: Noch ein Wort über die Franzosen und über uns. Germanien [Frankfurt a. M.]: Rein 1814, S. 9. »[...], und zu Freunden wollen und können wir das treulose Volk nicht haben.« Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 15. Vgl. hierzu Esther-Beate Körber: Görres und die Revolution. Wandlungen ihres Begriffs und ihrer Wertung in seinem politischen Weltbild 1793 bis 1819. Husum: Matthiesen 1986 (Historische Studien; 441), S. 66–91. Ebd., S. 74. Ebd.
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tung »Mercure du Rhin« weiterzuführen,276 mußte den Journalisten in einem Schreiben vom 10. Mai 1815 denn auch energisch daran erinnern, daß die Befreiungskriege gegen Napoleon, nicht gegen das französische Volk insgesamt geführt worden seien.277 Weil sich Görres zudem »in mehreren zündenden Artikeln«278 dafür eingesetzt hatte, daß das Elsaß wieder dem deutschen Gebiet zugeschlagen werden müsse, geriet er auch in Opposition zu dem in Metternichs Diensten stehenden »›Chefprotokollanten‹ des Wiener Kongresses«279 Friedrich von Gentz. Görres war der Ansicht, daß das Elsaß sprachlich und kulturell zu »Deutschland« gehöre und teilte diese Meinung mit Jacob Grimm, der als kurhessischer Legationssekretär selbst am Wiener Kongreß teilnahm.280 Grimm erklärte, daß die Elsässer selbst dann deutsch wären, wenn sie es nicht wollten: »was unsere sprache redet, ist unseres leibs und bluts und kann [...] nicht undeutsch werden [...]. Die Elsässer sind und hören uns von gott und rechtswegen.«281 Gentz dagegen ging es darum, »dem tief zerrütteten französischen Staat zur Wiedergeburt«282 zu verhelfen, wie Ulrich Scheuner die Intentionen des 276
277 278
279 280
281
282
So jedenfalls Esther-Beate Körber. Vgl. ebd., S. 66. Hardenberg ging es darum, in den zurückeroberten Gebieten Sympathien für Preußen zu gewinnen. Vgl. zu den Problemen, die neuen westlichen Provinzen zu integrieren, auch Ingo Hermann: Hardenberg. Der Reformkanzler. Berlin: Siedler 2003, S. 357. Vgl. Körber, Görres (wie Anm. 273), S. 74. Ulrich Scheuner: Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980 (Vorträge/Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften/Geisteswissenschaften; 248), S. 47. Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon. Zürich: Artemins & Winkler 1995, S. 92. Zu Grimms politischen Positionen vgl. Berthold Friemel: Unpreußische Ansichten. Dokumente und Tatsachen zum politischen Engagement der Brüder Grimm 1813– 1815. In: Brüder-Grimm-Gedenken 11 (1995), S. 178–196 sowie Klaus von See: Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Heidelberg: Winter 2001, S. 29– 32 und 44–48. Zit. n. See, Freiheit (wie Anm. 280), S. 46. Die gegenteilige Position vertrat Ludwig Börne, der in seiner Schrift Menzel der Franzosenfresser (1836/37) unter dem Verweis auf die politischen Freiheiten der Elsässer an ihrem Willen zweifelte, »wieder Deutsche [...] werden« zu wollen: »[F]ragt die Elsasser, ob sie einwilligen, wieder Deutsche zu werden, ob sie sich glücklich schätzen würden, ihren König gegen einen der deutschen Bundesfürsten, ihre Deputiertenkammer gegen die Frankfurter Bundesversammlung, die Freiheit der Presse gegen die schändliche Zensur, die Nationalgarde gegen die Gendarmerie, die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlungen gegen die geheimen Tribunäle, die Jury gegen abhängige Richter und die Gleichheit der Stände gegen den Hochmut und die Unverschämtheit des Adels und der Satrapen zu vertauschen. Fragt sie das, und sie werden euch antworten: wir sind die glühendsten und treuesten Patrioten unter allen Franzosen, gerade weil wir an der deutschen Grenze liegen.« Vgl. Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Dritter Band. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 869–984, hier S. 912f. Scheuner, Beitrag der deutschen Romantik (wie Anm. 278), S. 47.
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Staatsmannes beschreibt. Im Sinne eines möglichst starken französischen Thrones und einer fürderhin stabilen europäischen Ordnung wollten Gentz und sein Mentor Clemens Graf Metternich von Rachegedanken gezielt absehen. »Denn für die Verwirklichung des europäischen Gleichgewichts (egal in welcher Konzeption) konnte auf Frankreich nicht verzichtet werden«283, was mit Rußland und vor allem England auch die anderen Aliierten so sahen. Letztlich fügte sich auch Preußen, das die stärksten »Revanchegedanken«284 hegte, in die schon mit dem Ersten Frieden von Paris (30. Mai 1814)285 deutlich gewordene Strategie, Frankreich durch maßvolle Friedensbedingungen wieder in das europäische System zu integrieren und die Position der zurückgekehrten Bourbonen als »Garanten für ein antirevolutionäres Frankreich«286 auf diese Weise zu stärken. Wenn Brentano dieses antirevolutionäre Frankreich in seiner Erzählung feiert und einen deutsch-französischen Frieden auf der Basis der gesühnten revolutionären Untaten inszeniert, so dokumentiert er damit auch, daß er dem Block der Realpolitiker um Metternich, Gentz und Castlereagh in dieser Frage näher steht als den unversöhnlichen Romantikern; Brentano war Jacob Grimm freundschaftlich verbunden, und er schätzte auch Ernst Moritz Arndt287 sowie den Rheinischen Merkur und dessen Herausgeber;288 gleichwohl legt er mit seiner positiven Haltung gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich Einspruch gegen die Haßtiraden seiner alten Weggefährten ein.
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288
Alexandra von Ilsemann: Die Politik Frankreichs auf dem Wiener Kongreß. Talleyrands außenpolitische Strategien zwischen Erster und Zweiter Restauration. Hamburg: Krämer 1996 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte; 16), S. 123. Ebd., S. 107. Daß Hardenberg sich mit seiner gegenüber Frankreich wesentlich weniger nachsichtigen Position gegenüber Metternich, Rußlands Zar Alexander I. und dem englischen Außenminister Robert Stewart Castlereagh nicht durchsetzen konnte, hat seinem Ansehen bei den nationalen Kräften innerhalb Preußens freilich weiter geschadet. Vgl. I. Hermann, Reformkanzler (wie Anm. 276), S. 343–347 sowie S. 352f. Vgl. Ilsemann, Die Politik Frankreichs (wie Anm. 283), S. 73–85. Ebd., S. 83. Für die Friedensblätter, in denen Die Schachtel mit der Friedenspuppe erschien, wollte Brentano über Arnim neben Wilhelm Grimm und Friedrich Heinrich de la Motte Fouque auch Görres und Arndt anwerben. Vgl. Brentanos Brief an Arnim vom 5. April 1814. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe II (wie Anm. 60), S. 704–707, hier S. 706f. Vgl. etwa Brentanos Briefe an Görres vom 26. Juni 1815 und vom 12. Juli 1815. In: Brentano, Sämtliche Werke XXXIII (wie Anm. 62), S. 149–151 bzw. S. 152. Am 15. Februar 1815 beklagt er sich freilich in einem Brief an Wilhelm Grimm über das »wunderlich stetig[] unartikulirte[] in seinem [also Görres’] Ton«, das ihn »monoton« werden lasse. Vgl. ebd., S. 142–147, hier S. 145.
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Keine Gnade für Dumoulin
Angesichts der versöhnlichen Haltung Brentanos gegenüber Frankreich verwundert es nicht, daß er seinen Revolutionär Sanseau denn auch nicht »[o]hne Thränen der Umstehenden«289 sterben läßt; die »Kälte und Niederträchtigkeit«290 der letzten Erklärung des »recht eckelhaft[en]«291 Dumoulin indes mildert das »Mitleid der Anwesenden«292 doch erkennbar. War der Selbstmord des reuigen Sanseau noch als mutige Tat vom Erzähler honoriert worden,293 so verwehrt die antisemitische Ausrichtung der Erzählung dem anderen Schurken selbst diese letzte Ehre. Dumoulin, der als »personifizierte Verneinung aller von Brentano als nachahmenswert dargestellten positiven Werte«294 verstanden werden muß, nimmt sich nicht aus Schuldbewußtsein das Leben, sondern weil er fürchtet, »daß das schöne Geld wieder auseinander kommen sollte, das er mit so mancher Gefahr und Arbeit zusammengebracht«295 hatte. Ohne Geld kann auch Brentanos Jude nicht leben; letztlich landet sein Leichnam »für einstweilen«296 in einer Kartoffelgrube, wo ihn sich »die nächste[] Israelitische[] Gemeinde«297 abholen kann. Für Sanseau dagegen, der aus seinem Nachlaß heraus indirekt auch die begangenen Schäden wiedergutmacht, errichten der Baron und Frenel einen Gedenkstein.298 So findet das kontrastive Erzählverfahren mit der unterschiedlichen Gestaltung der beiden Selbstmorde am Ende ein weiteres Mal Verwendung: Es wird eingesetzt, um zwischen den beiden Verbrechern zu differenzieren und den jüdischen Protagonisten noch eindringlicher zu stigmatisieren. Mit dieser unterschiedlichen Evaluierung der beiden »Übeltäter« paßt sich die Erzählung freilich auch der historischen Situation an: Das napoleonische Frankreich wurde besiegt, Brentano kann sich daher Milde mit den revolutionären Protagonisten leisten; die vermeintliche »jüdische Bedrohung« ist dagegen noch keineswegs abgewendet, denn das Gleichheitsverlangen der jüdischen Minderheit steht auf dem Wiener Kongreß erneut zur Disposition. Hier scheint der Autor den Verhandlungspartnern Argumentationshilfe leisten zu wollen. Neben dem Kontrastverfahren dient mit der analytischen Erzählweise noch eine weitere erzähltechnische Raffinesse zur antisemitischen Denunziation. Reinhard Hosch merkt zu Recht an, daß Dumoulin dem Leser »zunächst als 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298
Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 345. Ebd., S. 353. Ebd. Ebd. »Feig war er nicht, er löste den Verband seiner Wunde.« Ebd., S. 344. Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 18. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 353. Ebd., S. 354. Ebd. Vgl. ebd.
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Opfer eines Angriffs«299 begegnet. »Es stellt einen Musterfall Brentano’scher Charakterisierungskunst dar, wie Dumoulin [anschließend, M. P.] mehr und mehr von seinem wahren Gesicht zu erkennen gibt, ehe er sich als entlarvter und unversöhnlicher Kindsentführer zeigt und selbst tötet.«300 Und vor allem, wie hier zu ergänzen ist, ehe er sich durch sein Testament als Jude zu erkennen gibt. Diese jüdische Identität wird erst ganz zum Schluß in einer auflösenden Rückwendung301 gleichsam als »Wurzel des Übels«302 offenbart: »Dumoulin war ein Jude gewesen, der aus Gewinnsucht schon in seinem 14ten Jahre die Rolle eines Christen zu spielen angefangen«303, heißt es in dem Geständnis des Schurken. So tritt die Schlechtigkeit Dumoulins, der bei seinem ersten Auftritt dem Leser noch als Opfer erscheint, im Verlauf der Erzählung immer deutlicher hervor, um dann ganz am Ende mit dem Verweis auf die jüdische Herkunft und Identität des Pelzhändlers und Totengräbers eine für die Zeitgenossen anscheinend ›plausible‹ Erklärung zu erfahren.
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Die erzählte Restauration
Gerhard Schaub begreift die Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe in mehrfacher Hinsicht als eine Erzählung der Restauration, wobei Schaub das Wortfeld, das sich mit dem Begriff des »Restaurierens« verbindet, nicht auf seine politischen Konnotationen einschränkt. Er analysiert die Thematik des »Wiederherstellens« beziehungsweise des »Wiedererstattens« oder »Wiedergutmachens« vielmehr auf drei Ebenen.304 »[I]m baulichen Bereich der Schadenbeseitigung«305 verweist Schaub einerseits auf die Scheune, die von »[e]inige[n] Franzosen«306 angesteckt worden war und die im Verlauf der Erzählung wieder aufgebaut wird, und andererseits auf die von Sanseau zerstörte »rothseidene Tapete«307, die der Revolutionär später aus den Beständen seines Nachlasses gleichsam selbst ersetzt.308 Was den »juristischen Bereich der privaten Lebensverhältnisse«309 angeht, so erhält Frenel in der oben beschriebenen Weise seine rechtmäßige soziale Stellung, die ihm die Intrige Sanseaus verwehrt hatte, durch die Hilfe der neugewonnenen deutschen
299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309
Hosch, Reflexion (wie Anm. 144), S. 57. Ebd. Zu dieser Terminologie vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Achte Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler 1993, S. 108–112. Saul, Kunstthematik (wie Anm. 144), S. 119. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 352. Vgl. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 101. Ebd., S. 102. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 318. Ebd., S. 317. Vgl. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 102–106. Ebd., S. 106.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
Freunde – des Gerichtshalters und des Barons – zurück;310 als dritte Ebene bleibt schließlich die politische Verwendungsweise des Begriffs der »Restauration«. Die Feier, die am Ende der Erzählung zum Jahrestag der Leipziger Schlacht ausgerichtet wird, gilt nicht nur der Befreiung »Deutschlands« von den napoleonischen Truppen, sondern auch der Wiederherstellung der Bourbonen-Dynastie in Frankreich, wie Schaub zu Recht konstatiert.311 Im Kontext dieser erhellenden Einsichten wirkt es umso erstaunlicher, daß Schaub nicht die politischen Implikationen der »Charakteristik und Verurteilung des Bösewichts Dumoulin«312 erkennt, sondern den hier »deutlich zum Ausdruck kommende[n] Antisemitismus«313 lediglich als eine störende Begleiterscheinung des Textes begreift. Schaub moniert am Ende seiner Analyse »eine Reihe von Schwachstellen«314, die die Erzählung aufweise, weil sie »offenbar sehr schnell niedergeschrieben und [...] ohne weitere Überarbeitung veröffentlicht worden«315 sei; der Antisemitismus wird mitsamt dem »Kolportagemotiv der Kindesunterschiebung«316 und der »gelegentlich etwas aufdringliche[n], ›eindimensionale[n]‹ politischen Symbolik«317 kurzerhand diesem Bereich der ästhetischen Nachlässigkeiten zugeordnet.318 Freilich ist es mit dem Verweis auf ein »gewisses ästhetisches Risiko«319, das Brentano mit seiner »von vornherein als ein Stück patriotischer Zweckliteratur intendierte[n] Erzählung«320 eingegangen sei, nicht getan. Schaub er310 311 312 313
314 315 316 317 318
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Vgl. ebd., S. 106f. Vgl. ebd., S. 107f. Ebd., S. 116. Ebd.; Gartz, Brentanos Novelle (wie Anm. 142), Kastinger Riley, Kontamination (wie Anm. 144), Frühwald, Arnim und Brentano (wie Anm. 144), Hosch, Reflexion (wie Anm. 144) und Kluge in seinen Arbeiten (vgl. Anm. 144) gehen auf die antisemitische Ebene des Textes freilich überhaupt nicht ein; auch der von Gerhard Kluge im Rahmen der Historisch-kritischen Ausgabe veranstaltete Kommentar zu der Erzählung läßt eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik vermissen. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 697–752. Vgl. dagegen Saul, Kunstthematik (wie Anm. 144), S. 119f. sowie Brantner, Problematik (wie Anm. 43), vor allem S. 18–20. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 116. Ebd. Ebd. Ebd. Ähnlich wie Schaub hatte zuvor schon Rainer Schönhaar argumentiert, der neben dem Kolportagemotiv die »unreflektierte[] Verbindung von Patriotismus und Friedensgedanken mit Schwärmerei für die Restauration«, die »einseitige[] Verherrlichung der Befreiungskriege« und eben den »Einschlag von Antisemitismus (in Charakterisierung und Verurteilung der Gestalt des Dumoulin)« als Gründe dafür nennt, weshalb die Erzählung, »was Stoff und Gehalt angeht, kaum zu den besten Brentanos« gezählt werden dürfe. Schönhaar, Novelle (wie Anm. 203), S. 108. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 116. Ebd.
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kennt in der Erzählung zu Recht eine »spezifische Reaktion und Antwort«321 des Autors »auf die aktuellen politischen Ereignisse der Zeit«322; es ist unverständlich, warum er die Charakterisierung Dumoulins nicht als konstitutiven Bestandteil dieser »Antwort« zu verorten vermag. Die Gestaltung des in persönlichen, nationalpolitischen und religiösen Belangen illoyalen Juden muß im Rahmen von Brentanos politischer Konzeption als ebenso streng funktionalisiert verstanden werden wie etwa die Charakterisierungen des Barons oder Sanseaus, die als gutmütiger deutscher Herrscher bzw. als krimineller französischer Revolutionär gezeichnet werden. Gemeinsam mit Dumoulin wird in Brentanos Erzählung auch das Gleichberechtigungsverlangen der jüdischen Minderheit zu Grabe getragen; indem Brentanos Jude alle antijüdischen Vorbehalte bestätigt, soll der vermeintlich illusorische Charakter des Gedankens der »bürgerlichen Verbesserung« der jüdischen Minderheit explizit gemacht werden. In der deutschen Nationalgemeinschaft ist kein Platz für den Juden; er gehört weiterhin zu jener israelitischen Gemeinde, die sich seinen Leicham aus der Kartoffelgrube holen kann. Brentanos Text ist auch in dieser Beziehung als deutliches Plädoyer für die Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen und mithin als eine Erzählung der »Restauration« zu lesen.
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Die Rehabilitation eines Freundes
Indes wird in der Schachtel mit der Friedenspuppe nicht nur die vorrevolutionäre Welt restauriert, es wird vielmehr auch ein Schriftsteller rehabilitiert, dessen Ruf in den Jahren zuvor nachhaltig beschädigt worden war. »In der Figur des preußischen Edelmanns hat Brentano seinem Freund, Schwager und damaligen Wiepersdorfer Gastgeber Achim von Arnim [...] ein literarisches Denkmal gesetzt«323, schreibt Gerhard Schaub, der detailliert nachweist, daß auch das fiktive Gut, auf dem die Gegenwartshandlung der Erzählung spielt, in zahlreichen Aspekten – bis hin zu Details wie der »rothseidene[n] Tapete«324 – dem Arnimschen Schloßgut Wiepersdorf im Ländchen Bärwalde gleicht.325 Schaub macht darauf aufmerksam, daß Arnim unter der als »Kränkung und Demütigung«326 empfundenen Zurückweisung bei der Landwehr sehr gelitten hatte; darüber hinaus war ihm die unverschuldete Absenz bei den Befreiungs321 322 323 324 325
326
Ebd. Ebd. Ebd., S. 86. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 317. Vgl. G. Schaub, Restaurations-Erzählung (wie Anm. 12), S. 86–93, zur Tapete S. 91. Schaub macht zudem darauf aufmerksam, daß auch Nebenfiguren der Erzählung wie der Schulze, der Jäger oder der Gerichtshalter Parallelen zu »außerfiktionale[n] Vorbilder[n]« aus »Arnims Wiepersdorfer Lebenswelt« aufweisen. Vgl. ebd., S. 93. Ebd., S. 86.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
kriegen in der Berliner Öffentlichkeit negativ ausgelegt worden, wie einige Belegstellen in den Schriften Friedrich August Staegemanns zeigen. »Es wundert mich sehr, da[ß] dieser sonst so ritterliche Mensch nicht mit in den Krieg gezogen«327, schreibt der Geheime Finanzrat an J. G. Scheffner. Inwiefern das Arnim zugeschriebene Attribut »ritterlich« hier mit einer ironischen Konnotation versehen ist, muß offen bleiben. Nach dem Tod Itzigs distanziert sich der enge Vertraute Hardenbergs jedenfalls ganz deutlich von Arnim, wenn er in einem Spottgedicht328 den gefallenen Juden zum heimlichen und vor allem moralischen Sieger der Kontroverse mit dem Adeligen erklärt: »[G]eblieben«329, so der Tenor von Staegemanns Gelegenheitspoem, seien sie beide, als »[d]ie Kriegstrompete [...] nach hüben und nach drüben«330 zu hören war: »Zu Hause blieb der Edelmann; / Der Jud’ ist in der Schlacht geblieben.«331 Während Arnim seine nationale Pflicht vernachlässigt hat, ist der angeblich ehrlose Jude, dem der Adelige das Duell verweigert hatte, für sie gestorben – die Sympathien des Tischgenossen Staegemann liegen eindeutig bei Itzig und nicht bei Arnim, dem er an anderer Stelle bekanntlich bescheinigt hatte, den »Henker von der Lage der Angelegenheiten«332 zu verstehen und mit seinem politischen Engagement in ein »für ihn nicht gemachtes Horn«333 zu blasen. Mit dieser Parteinahme stand Staegemann freilich nicht allein: Es muß in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß das öffentliche Echo nach dem ItzigSkandal für Arnim negativ ausfiel, und daß die Affäre fatale Folgen für seine öffentlichen Ambitionen hatte. Brentano versucht nun, die Ehre seines Freundes im fiktionalen Diskurs wiederherzustellen. Daß auf der Gegenwartsebene der Erzählung ausgerechnet ein Jude als Gegenspieler des ehrenwerten Barons firmiert, scheint auch aus dieser Perspektive kein Zufall zu sein. Im Gegensatz zu Arnim nimmt der preußische Edelmann am Krieg teil, und im Gegensatz zu Arnim geht er als Sieger aus der Auseinandersetzung mit dem Juden hervor, der trotz aller Täuschungsmanöver als Verbrecher überführt wird, und der vor allem in moralischer Hinsicht dem absolut integren Baron klar unterlegen ist. So leistet Brentano mit diesem Text auch einen Freundschaftsdienst, obgleich sich das Verhältnis zwischen den beiden in den kommenden Jahren alsbald abkühlen sollte. 327
328 329 330 331 332 333
Brief vom 26. Oktober 1813. In: Aus der Franzosenzeit. Ergänzungen zu den Briefen und Aktenstücken zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III., vorzugsweise aus dem Nachlass von F. A. Stägemann. Hg. von Franz Rühl. Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 259–261, hier S. 260. Ein Abdruck des Gedichtes findet sich in: Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Textedition. Masch. Jena 2000, S. 264. Ebd. Ebd. Ebd. In einem Brief an seine Frau vom 26. März 1809. In: Aus der Franzosenzeit (wie Anm. 327), S. 131f., hier S. 131. Ebd.
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Die Nivellierung der Differenz: Viktoria und ihre Geschwister
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Anmerkungen zu Brentanos nationalen Kriegsliedern
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Noch bevor Brentano seinen Freund Arnim zu einem Kämpfer für »Deutschland« stilisieren sollte, hatte er schon einem anderen Romantiker seines nationalen Einsatzes wegen ein »poetisches Denkmal«334 gesetzt. In dem Drama Viktoria und ihre Geschwister wird der 1813 gefallene Theodor Körner zu einer deutschen »Identifikationsfigur«335 erhoben und mit einem ihm in den Mund gelegten Gedicht »explizit [ge]huldigt«336. »Du weißt es wohl, ich konnte frei nur sein / Mit meines Deutschlands deutscher Kunst und Art, / Und setzte deutsch mein deutsches Leben ein, / Gleich deutschen Dichtern auf der Ritterfahrt / Der hat gedichtet nicht, geliebt, gelebt, / Der kann nicht frei sein, der dem Tod erbebt«337, lautet die vierte Strophe eines Textes, an dem Wolfgang Frühwald nicht zu Unrecht die »fast unerträgliche Häufung des Wortes ›deutsch‹«338 beanstandet. Frühwald betont allerdings, daß diese Häufung »nicht nationalistisch verengt, sondern revolutionär«339 wirke, da der Text in der zitierten Variante erst 1817 entstanden sei und das »vornehmste Ziel der Freiheitskriege, die nationale Einheit – und auch diese wurde vom Einheitsgedanken der Romantik mit umfaßt – von der politischen Restauration als eine Idee der Revolution unterdrückt wurde.«340 Was das Mißtrauen der österreichischen Politik diesen Liedern gegenüber angeht, so muß Frühwald sicherlich Recht gegeben werden; schließlich hatte Brentano auch schon 1813 erhebliche Probleme mit der Zensur, die auf »kuriose[n] Änderungen«341 seiner Texte insistierte, um die Freigabe herauszuzögern.342 Gleichwohl machten schon Brentanos Zeitgenossen darauf aufmerk334 335 336
337 338 339 340 341 342
Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 124. Ebd. Ebd.; ein ähnliches Gedicht verfaßt Brentano 1815 zu Ehren des Grafen Christian zu Stolberg – einem Sohn des Göttinger Hainbündlers Friedrich Leopold Graf zu Stolberg – der als 18jähriger 1815 bei Ligny gefallen war. Vgl. Hans-Joachim Schoeps: Clemens Brentano nach Ludwig von Gerlachs Tagebüchern und Briefwechsel. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1970), S. 284, Anm. 5 sowie Brentano, Werke I (wie Anm. 35), S. 320–322 und S. 1116f. Clemens Brentano: Viktoria und ihre Geschwister, mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte. Ein klingendes Spiel. Berlin: Maurer 1817, S. 123f., hier S. 124. Frühwald, Spätwerk (wie Anm. 136), S. 109. Ebd. Ebd., S. 110. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 185. Hartwig Schultz macht denn auch die »Unsicherheit der politischen Lage« für Brentanos »Mißerfolge als patriotischer Theaterdichter in Wien« verantwortlich: »Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in Österreich vermutlich zum Kampf gegen Napoleon zu begeistern war, verhielten sich die Machthaber zunächst abwar-
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sam, daß die inflationäre Verwendung des Wortes »deutsch« auch im Jahr 1817 nicht per se als emanzipatorisch oder gar »revolutionär« eingeschätzt werden kann: »Deutsch sind nicht Deutschlands Männer bloß, / Auch Deutschlands Esel sinds«343, lautet etwa ein um 1816 entstandenes Epigramm Franz Grillparzers, das ebenso wie Friedrich Rückerts Gedicht Grammatische Deutschheit (1819)344 diese Skepsis dokumentiert. Eine Skepsis, die freilich nicht verhindern konnte, daß einer der prominentesten Texte der 1848er Revolution – nämlich das Lied der Deutschen (1841) des »höchst unkonventionellen Literaturprofessors[s]«345 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben – die Silbe »deutsch« mit 15 Nennungen »betäubend aus beinahe jedem siebten Wort«346 ertönen läßt und progressive politische Zielsetzungen darüber eben-
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tend.« Vgl. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 183–185, alle Zitate S. 185; vgl. zu Brentanos Problemen in Wien auch Günter Oesterle: Die Misere der Romantiker in Wien. In: Österreichische Literatur wie sie ist? Beiträge zur Literatur des habsburgischen Kulturraumes. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Kubisiak. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodziekiego 1995, S. 87f. Zit. n. Jürgen Joachimsthaler: Anged/Deutsch. Kleinere Schwierigkeiten mit der ›wissenschaftlichen‹ Behandlung von ›deutscher Identität‹ und ihrer ›Geschichte‹. In: Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Polrola. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 1998, S. 95. Grillparzer hat im übrigen auch die Nationalisierung und Mythisierung des Weimarer Klassizismus frühzeitig erkannt und hellsichtig analysiert. Vgl. Klaus Manger: »Klassik« als nationale Normierung? In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München: Oldenbourg 2000, S. 278. Vgl. Friedrich Rückert: Gedichte. Hg. von Walter Schmitz. Stuttgart: Reclam 1988 (Reclams Universal-Bibliothek; 3672), S. 100: »Neulich deutschten auf deutsch vier Deutschlinge / deutschend, / Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der / Deutscheste sei. / Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, / Deutscherling, Deutschdich; / Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht. / Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer / Deutschheit, / Deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ. / ›Ich bin deutscher als deutsch.‹ ›Ich deutscherer.‹ / ›Deutschester bin ich.‹ / ›Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere.‹ / Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend, / Deutschten sie auf bis zum – Deutschesteresteresten; / Bis sie vor komparativischund superlativischer Deutschung / Den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.« Peter Stein: Politisches Bewusstsein und künstlerischer Gestaltungswille in der politischen Lyrik 1780–1848. Hamburg: Lüdke 1971 (Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen; 12), S. 222. Hans Peter Neureuter: Hoffmanns »Deutscher Sang«. Versuch einer historischen Auslegung. In: Gedichte und Interpretationen. Band 4: Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Hg. von Günter Häntzschel. Stuttgart: Reclam 1983 (Reclams Universal-Bibliothek; 7893), S. 224; ebd., S. 222 findet sich auch ein Abbdruck des Textes.
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falls in den Hintergrund geraten.347 »Die deutsche Zersplitterung überwinden zu wollen, ist nicht notwendig Ausdruck eines auf die Befreiung der Unterdrückten gerichteten Denkens«348, schreiben Walter Grab und Uwe Friesel – eine These, die durch die spätere Nationalhymne Hoffmann von Fallerslebens ebenso untermauert wird wie durch Brentanos Körner-Apotheose. Freilich bietet die Literatur des »Vormärz« (1840–1848) auch viele Texte, die in der Tat jene revolutionäre Sprengkraft besitzen,349 die Frühwald bereits um 1817 in Brentanos Gedicht erkennen möchte; diesen Text des Romantikers jedoch eine Vorläuferrolle zu den oppositionellen Gedichten eines Georg Herwegh oder Georg Weerth zu unterstellen, heißt, die Geschichte des deutschen Nationalismus zu verfehlen. Der Nationalismus in den deutschen Ländern entfaltet sich – wie Michael Jeismann in seinen Studien trefflich herausgearbeitet hat – zunächst nicht als Oppositionsideologie, sondern als Integrationsideologie.350 Hier fügt sich auch 347
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Jürgen Schröders süffisanter Kommentar zu diesem Gedicht, das 1922 durch den SPD-Reichskanzler Friedrich Ebert als Konzession an das rechte Lager zur Nationalhymne erhoben wurde und sich in dieser Position über die politischen Zäsuren von 1933, 1945 und 1990 hinweg behaupten konnte: »Man sollte nicht zu viel von dem Lied erwarten. Ein Germanist hat es gemacht und noch dazu in den Semesterferien.« Jürgen Schröder: Deutschland als Gedicht. Über berühmte und berüchtigte Deutschland-Gedichte aus fünf Jahrhunderten in fünfzehn Lektionen. Freiburg/Breisgau: Rombach 2000 (Rombach Wissenschaften/Reihe Litterae; 74), S. 31. Vgl. zur Geschichte der Hymne auch Jost Hermand: Sieben Arten an Deutschland zu leiden. Königstein/Taunus: Athenäum-Verlag 1979 (Athenäum-Taschenbücher; 2141), S. 62–74; Stefan Roeloffs: Das »Lied der Deutschen« taugt nicht zur Nationalhymne. In: Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848. Hg. von Wilhelm Gössmann und Klaus-Hinrich Roth. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1994, S. 333–336 sowie neuerdings Michael Jeismann: Die Nationalhymne. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. von Etienne Francois und Hagen Schulze. 3. Aufl. München: C. H. Beck 2003, S. 660–664 und Norbert Otto Eke: Einführung in die Literatur des Vormärz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005 (Einführungen Germanistik), S. 122–128. Eke nimmt die Hymne vor ihren Kritikern in Schutz, gibt aber gleichwohl zu bedenken, daß 1990 ein »Neuanfang mit einer neuen Hymne« vielleicht der »geeignetere Weg gewesen wäre«. Ebd., S. 128. Walter Grab und Uwe Friesel: Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. München: Hanser 1970, S. 171. Vgl. die Textbeispiele in der Anthologie: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Hg. von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam 1997 (Reclams Universal-Bibliothek; 8794), insbesondere die Gedichte von Herwegh, Weerth, Ferdinand Freiligrath und Robert E. Prutz. Vgl. Michael Jeismann: »Feind« und »Vaterland« in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806–1815. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg: Meiner 1996 (Studien zum 18. Jahrhundert; 18), S. 283f. sowie Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff
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das Gedicht auf Körner nahtlos ein, das ebenso wie die Viktoria insgesamt beileibe keine regierungskritischen Implikationen enthält. Mit Kaiser Franz wird in Brentanos Festspiel sogar der demonstrative Schulterschluß geübt: »Wir danken dir, o Vater Franz! / Von Herzen danken wir, / Daß wieder in den Waffentanz / Uns führet dein Panier«351, heißt es in dem Lied des Landwehrmanns352, das die Soldaten gemeinsam singen.353 »Für dich, du theurer Vater Franz! / Und aller Völker Recht / Kämpft jeder freudig um den Kranz, / Der nicht des Feinde Knecht.«354 Um die »Blutzeit falsche[r] Götter«355, also die napoleonische Ära, zu beenden, muß freilich nicht nur zwischen den Herrschern und dem Volk, sondern auch zwischen den deutschen Teilstaaten Einigkeit herrschen. »Baierns Löwen sich erheben, Schwaben streben, / Alle an dem Kranz zu weben, / Den wir deutscher Freiheit geben«356, singen die Soldaten im Sturmlied357, in dem »Feindes Leichen«358 die »Brücken«359 zwischen den Aliierten bauen: »Hand sich reichen, über Leichen aufwärts steigen, / Laß der Bundesfahnen Zeichen / Auf der deutschen Höh hinstreichen.«360 Kurz darauf konstatieren zwei der Beteiligten, nämlich der Husar und der Wachtmeister, zufrieden, daß Harmonie nun an die Stelle der »Händel um Kleinigkeit[en]«361 getreten sei: »Drei Adler sind eins in Einigkeit, / Und geben ein Zeugnis zu dieser Zeit.«362 Dementsprechend wird die Schlußfeier am Ende des Textes als eine »utopische[] Vereinigung [der] Repräsentanten aller deutschen Stämme und Städte«363 (Nicholas Saul) inszeniert. Das »Wiener Festspiel Brentanos ist durch die Intention gekennzeichnet, die Einheit der Nation gerade in ihrer Vielfalt und Totalität zu demonstrieren«364, bilanziert Peter Sprengel zu Recht. Das impliziert auch, daß Brentano als »literarische[r] Entdecker der Ehre der Geringen«365 alle sozialen Schichten in seine Vorstellung des deutschen Gemeinwesens integriert und selbst »so wenig gemeinnüt-
351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365
und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart: KlettCotta 1992 (Sprache und Geschichte; 19), S. 41f. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 41. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 41–44. Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 37–40. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Ebd. Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 123. Sprengel, Die inszenierte Nation (wie Anm. 130), S. 43. Wolfgang Frühwald: Die Ehre der Geringen. Ein Versuch zur Sozialgeschichte literarischer Texte im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 74.
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zige Gestalten wie de[r] wandernde[] Kesselflicker Lippel«366 in die deutsche Solidargemeinschaft aufgenommen werden. Der gemeinsame Kampf gegen die aus Zensurgründen nur »Feinde« genannten Franzosen macht die Differenzen untereinander vergessen. Die Art und Weise, wie mit diesen »Feinden« in Brentanos Viktoria und in den in ihr enthaltenen Kriegsliedern umgegangen wird, bezeugt die problematische Seite jener »romantischen Auffassung vom patriotischen Volkskampf«367, für die auch Brentano einsteht. »Pariser Husaren [...] / [...] / Vor Magdeburg hieben die Preußen sie klein / Was übrig geblieben, das fraß ich allein«368, heißt es in einem der Lieder, mit denen Brentano versuchte, »in enge Korrespondenz mit dem Zeitgeschmack zu treten«369. An anderer Stelle wird das Credo ausgegeben, »[d]aß kein[er] [von] Deutschlands Feind[en] sich rette[n]«370 dürfe. Während Anton Fellner noch 1951 die »bösartig franzosenfeindlichen Äußerungen«371 (Hans-Georg Werner) in diesen Texten geflissentlich vernachlässigte und stattdessen Brentanos »stürmische[r] Begeisterung und [seiner] glühende[n] Vaterlandsliebe«372 das Wort redete, fühlte sich die spätere Forschung von der Aggressivität und Brutalität der zitierten Kriegslieder eher peinlich berührt. Fellner hatte noch versucht, Brentano kraft seiner »herrlichen Kriegs- und Freiheitslieder [...] mit den ersten Sängern des Befreiungskrieges in eine Reihe [zu] stellen«373; Hartwig Schultz dagegen bemüht sich genau um das Gegenteil, will er doch zeigen, daß Brentano »dem Hurrapatriotismus«374 – im Gegensatz zu Autoren wie Theodor Körner oder Max von Schenkendorf – »selbst doch eher skeptisch gegenüberst[and]«375. Hier sollen Tendenzen, die Brentanos Kriegsbegeisterung relativieren, nicht gänzlich bestritten werden (überzeugende Belege hierfür bietet allerdings eher 366 367 368 369 370 371 372
373 374 375
Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 258. H.-G. Werner, Einleitung (wie Anm. 30), S. 42. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 50. Frühwald, Brentano (wie Anm. 29), S. 352. Im bereits zitierten Sturmlied. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 37–40, hier S. 40. H.-G. Werner, Einleitung (wie Anm. 30), S. 42. Anton Fellner: Wiener Romantik am Wendepunkt. 1813–1815. (Die »Friedensblätter« und ihr Kreis). Phil. Diss. masch. Wien 1951, S. 138. Gut einhundert Jahre vor Fellner hatte Guido Görres ähnlich argumentiert. Er würdigte 1846 Brentano als einen »jener begeisterten Sänger, deren Posaune das Vaterland aus seinem feigen Schlummer erweckt« hätte und verwahrte sich dagegen, daß dem Freund seines Vaters Joseph Görres in Bezug auf das Vaterland »Theilnahmslosigkeit« unterstellt wurde. Guido Görres: Die Märchen des Clemens Brentano. Zum besten der Armen nach dem letzten Willen des Verfassers. Zwei Bände. Stuttgart 1846. Band 1, S. XXXIII. Zit. n. Tully, Creating a National Identity (wie Anm. 32), S. 205. Ebd.; Herv. i. O. Schultz, Schwarzer Schmetterling (wie Anm. 9), S. 343. Ebd.
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Saul denn Schultz); indes beziehen sich diese Revisionen eher auf die Kostenseite des Krieges, nicht auf dessen Ziele: Brentano argumentiert aus einer klaren »persönlichen Haltung«376 heraus, nämlich als Nationalist und als Gegner des napoleonischen Frankreichs. In Texten wie dem von Nicholas Saul erstmals zugänglich gemachten Dramenfragment Zigeunerin (1813)377 findet gleichwohl die Trauer über den hohen Blutzoll, den die Ära der napoleonischen Kriege forderte, ihren Ausdruck. Dieser Text blieb jedoch Fragment, während die Viktoria, die die Blutopfer im Sinne der nationalen Sache gutheißt,378 fertiggestellt wurde – auch das scheint noch einmal deutlich zu machen, wo die Prioritäten des Autors in den Jahren um 1813 liegen. In einer signifikanten Stelle des Sturmliedes379 läßt Brentano seine Soldaten die sogenannten »deutschen Tugenden« preisen; zugleich wird dem ›Nichtdeutschen‹ der Kampf angesagt: »Auf ihr Brüder! Schließt die Glieder, stoßet nieder / Wer nicht treu und fromm und bieder, / Dann kehrt uns die Freiheit wieder.«380
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Die Nation als Familie
In der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe wird die Ära der Befreiungskriege als eine Zeit beschworen, in der »das ganze Vaterland zu einer Familie geworden«381 sei; und auch in der Viktoria ist diese familiäre Komponente des romantischen Nationalgedankens präsent. Die Titelheldin Viktoria, die als Findelkind »Anne« aufwächst, entdeckt im Verlauf der Handlung nicht nur ihre wahre Identität – sie entpuppt sich als Tochter des »als Repräsentanten der alten reichsdeutschen Tradition«382 ausgewiesenen Kriegshelden Curtius von Siegen –, sie stößt auch auf ihre leiblichen Eltern und ihre drei Geschwister Siegmuth, Eiferried und Siegewalte. Diese beiden Prozesse des »Wieder376 377 378
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380 381 382
H.-G. Werner, Einleitung (wie Anm. 30), S. 42. Vgl. den Abdruck bei Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 138–158. »Die Ehre kann man mit Blut erkaufen«, legt Brentano seinem Korporal in den Mund. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 36. Peter Sprengel diagnostiziert zu Recht eine »Verherrlichung des blutigen Handwerks« in Brentanos Stück. Vgl. Sprengel, Die inszenierte Nation (wie Anm. 130), S. 43–47, hier S. 46. Vgl. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 37–40. Ludwig von Gerlach lobt in einem Tagebucheintrag vom 7. Januar 1817 eben dieses Sturmlied als vortrefflich, auch wenn er die Viktoria insgesamt kritisch beurteilt und ihr einen »Geist der Willkür« unterstellt: Die »Verbindung mit der Geschichte hat etwas Unheimliches und Monströses«, so der spätere Oberlandesgerichtspräsident. Zit. n. H.-J. Schoeps, Brentano (wie Anm. 336), S. 292. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 37. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 334. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 264. Daß Curtius bereits im ersten der beiden Akte stillschweigend abdankt, deutet Pross als Abschied des heroischen Individuums zugunsten einer allgemeinen, alle Stände umfassenden Volksbewegung und Volksbewaffnung. Vgl. ebd., S. 264–266.
VI Die Nivellierung der Differenz: ›Viktoria und ihre Geschwister‹
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findens« (nämlich der Herkunft bzw. des Namens einerseits und der Geschwister andererseits) interpretiert Nicholas Saul als »Sinnbilder des vor der Schlacht verlorenen und nach der Schlacht wiedergewonnenen Paradieses«383. Als »geharnischte Frau[en]«384 nehmen sowohl Anne als auch Siegewalte selbst am Kampf teil und tragen so maßgeblich dazu bei, daß die familiäre und die nationale Integration möglich wird; neben Anne und Siegewalte ist auch ihr Bruder Siegmuth ein Kriegsfreiwilliger. Caroline Pross betont zu Recht, daß sich Brentanos Heldinnen und Helden »von Herzen«385 für die nationale Sache einsetzen: »Sie agieren ohne Rücksicht auf Herkommen und Ausbildung, ja selbst ohne Ansehen des Geschlechts.«386 Die beiden »Amazone[n]«387 und ihre Brüder waren als Kinder von »teutsche[n] Kriegern«388 aus der verlassenen Burg ihrer Eltern gerettet worden und in unterschiedlichen Regionen »Deutschlands« aufgewachsen. Gerade der preußisch-österreichische Dualismus wird durch diese Konstellation harmonisiert, denn Siegewalte wurde von der »preußischen Garde«389 gerettet, während Eiferried sein Leben einem »österreichische[n] Held[en]«390 verdankt. Ihrer unterschiedlichen Sozialisation zum Trotz verlieben sich beide ineinander (ebenso wie Siegmuth und Viktoria),391 bevor die Enthüllung der burlesken Figur Florian Trommelklippel dem Stück eine neue Wendung gibt: »Nimmer werdet Mann und Weib, / Euch trug einer Mutter Leib.«392 Freilich bestärkt die familiäre Anagnorisis eher die allgemeine Euphorie – am Ende feiern alle »mit verschlungenen Armen«393 ihr Wiedersehen und die nationale Befreiung durch die siegreich bestandene Völkerschlacht bei Leipzig.394 Von den »Feinden« ist in der Viktoria zwar viel die Rede, auf der Bühne aber erscheint nur eine unverbesserliche Figur: Der Jude Emmes Gänsefett hat die »gesamte Last der offiziellen Feinddarstellung«395 zu tragen. Als Zigeunerin verkleidet, schachert der Jude im Lager mit ominösen Amuletten, bis er 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394
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Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 122. Ebd.; Saul übersieht, daß auch Siegewalte eine als Mann verkleidete Frau ist und spricht daher von den »drei Brüder[n]« der Viktoria. Ebd., S. 123. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 257. Ebd. Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 122. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 193. Ebd., S. 194. Ebd.; Viktoria wird von der Marketenderin, Siegmuth von einem Husar Blüchers gerettet. Vgl. ebd., S. 193f. Vgl. ebd., S. 183–188. Ebd., S. 188. Ebd., S. 199. Daß Eiferried zunächst entgegen seines sprechenden Namens eher zögerlich agiert, begreift Pross als Anspielung darauf, daß sich Österreich der Allianz gegen Frankreich erst im August 1813, also sehr spät, angeschlossen hat. Vgl. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 257 bzw. S. 260. Ebd., S. 261.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
durch die Soldaten enttarnt wird. Danach kommt seine wahre Identität ans Licht.396 Gänsefetts Eltern waren an der Französischen Revolution als Spione beteiligt und stellten dann ihre kriminellen Energien in den Dienst des Schinderhannes, bevor sie letztlich in Mainz guillotiniert wurden.397 Gänsefett selbst »hat gestohlen«398 und als »Spion überall«399 gedient; er setzte also die zwielichtige Karriere seiner Eltern fort. Er gab sich zunächst als »Rinaldo Rinaldini«400 und später als Zigeunerin aus; hier ist die Parallele zur Isabella von Ägypten offensichtlich, wird dort doch die Schuld an dem Schicksal der Zigeuner den Juden aufgebürdet.401 Auch die anderen Charakteristika dieses Lebenslaufs schreiben sich in den antisemitischen Diskurs dieser Jahre ein. Gänsefett ist kriminell, opportunistisch und illoyal; vor allem der Vorwurf der »Verstellungskunst«, von Arnim im Rahmen der Christlich-deutschen Tischgesellschaft besonders lautstark erhoben, findet hier einen neuerlichen Ausdruck, wechselt Gänsefett doch je nach Lage seinen Namen und seine Identität. Die Funktion des kurzen Auftritts des jüdischen Protagonisten Gänsefett hat schon Nicholas Saul trefflich beschrieben. Der »vaterlandslose[] Geselle«402 dient demnach »als Folie zur Erkenntnis authentischen Deutschtums«403. Während die echten Deutschen ihre familiäre (Viktoria und ihre Geschwister)404 bzw. politische (die Repräsentanten der deutschen Teilstaaten) Wiedervereinigung sowie den Sieg bei Leipzig feiern, wird im Schatten dieser Festlichkeiten der Jude Gänsefett als Verräter des »deutsche[n] Vaterland[es]«405 enttarnt und »gerichtet«406. Da die anderen fragwürdigen Figuren, wie Trommelklippel, Lippel oder der anfangs zögerliche österreichische Soldat Eiferried,407 »das wahrhaft urdeutsche Bewußtsein«408 im Verlauf des Stückes »internalisieren«409, bleibt der Jude als einzige Figur – wie später Dumoulin in der Erzäh396 397 398 399 400 401
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Vgl. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 72–85. Vgl. ebd., S. 84. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd. Vgl. noch einmal Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack u. a. Band drei: Sämtliche Erzählungen 1802–1817. Hg. von Renate Moering. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker; 55), S. 624. Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 123. Ebd. Auf der burlesken Ebene des Stückes gibt es freilich noch eine Familienzusammenführung: Die Marketenderin findet ihren entführten Sohn Lippel und ihren totgeglaubten Mann Florian Trommelklippel wieder. Vgl. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 57–59 sowie S. 164f. Ebd., S. 71. Ebd., S. 2. Vgl. noch einmal Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 257 bzw. S. 260. Saul, Leiche und Humor (wie Anm. 59), S. 123. Ebd.
VII Abschied von Lessing
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lung Die Schachtel mit der Friedenspuppe – von der deutschen Jubelfeier ausgeschlossen.
VII Abschied von Lessing In diesem Kontext wirkt es wenig plausibel, wenn Martina Vordermayer eine unkritische Adaption der Schlußszene des Nathan durch Brentano annimmt.410 Freilich, sowohl Lessings Stück als auch das nationalistische Festspiel des Romantikers enden mit den »gegenseitigen Umarmungen«411 der Protagonisten, und in beiden Texten versinnbildlichen die »wiedererstandenen Familienbeziehungen«412 die ideelle Zusammengehörigkeit der Figuren. Doch während in Nathan der Weise für das Modell einer »Menschheitsfamilie«413 (Armin Pfahl-Traughber) geworben wird,414 stellt sich das harmonische Finale der Viktoria als ein verengtes deutsches Familienfest dar, das maßgeblich durch Abgrenzungen konstituiert wird – die antifranzösischen und antijüdischen Ausschlußklauseln verbürgen die Zusammengehörigkeit der Figuren, nicht der interkulturelle Austausch im Sinne Lessings. Viktoria und ihre Geschwister muß als Revision des Entwurfs von Lessing gelesen werden – das zeigt sich auch daran, daß Emmes Gänsefett den bereits erwähnten Lippel als Kind gestohlen hat;415 das deutsche Kind wird also nicht aus Fürsorge aufgenommen, sondern gerät auf kriminellem Wege in die Hände des Juden, der – bereits als Zigeunerin verkleidet – fortan die Rolle der Mutter (!) übernimmt. Während Recha, die Stieftochter Nathans, sich zu einer untadeligen Persönlichkeit entwickelt, wird Lippel unter der Obhut des Juden »zu einem moralischen Krüppel«416, wie der Wachtmeister konstatiert. »Nun haben sie meine falsche Mutterschaft / Wegen ihrer spionischen Eigenschaft / 410 411 412 413 414
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Vgl. Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 77f. Ebd., S. 78. Ebd., S. 77. Armin Pfahl-Traughber: Aufklärung und Antisemitismus. Kants, Lessings und Fichtes Auffassungen zu den Juden. In: Tribüne 40 (2001), S. 176. Auf die Problematik des sympathischen Versuchs, die Vorurteile dadurch abzubauen, daß das »bisher Geächtete besonders gepriesen wird«, hat u. a. Leif Ludwig Albertsen aufmerksam gemacht. »Das Problem vor allem des Nathan ist ja, daß eine Sonntagsstimmung geschaffen wird. [...] Und gespielt wurde diese Humanität unter Palmen selten.« Leif Ludwig Albertsen: Der Jude in der deutschen Literatur 1750–1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag. In: Arcadia 19 (1984), S. 25. Hans Otto Horch wiederum spricht von einer »wirkungsgeschichtlich problematischen Norm«, die Lessing mit seiner Figur geschaffen habe: Hans Otto Horch: Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte? Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters 49 (1996), S. 127. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. 85. Ebd.
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G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
Auf trockenem Wege abgeschaft«417, bejubelt Lippel denn auch die Rückkehr zu seiner leiblichen Mutter, der Marketenderin. Nicht nur Emmes Gänsefett, auch Dumoulin fungiert als Pflegevater: Die kleine Marie wird von ihm zunächst als Erfüllungsgehilfin der Intrige mißbraucht, mit der Dumoulin auf Geheiß des Revolutionärs Sanseau den rechtmäßigen Erben Frenel betrügt; sie muß das leibliche Kind der Montprevilles durch ein Totgeborenes, nämlich ihren Bruder, ersetzen.418 Weil auch Maries Mutter kurz nach der Geburt gestorben war, behält Dumoulin das Mädchen später bei sich.419 Er sorgt zwar anständig für sie – aber die Rolle, die sie bei dem alten Verbrechen spielte, hinterläßt ein Trauma.420 Das Mitgefühl, das Marie später für den toten Dumoulin demonstriert, bezeugt mithin in erster Linie ihre eigene charakterliche Integrität: Genau wie Esther in den MajoratsHerren bewahrt sie sich in jüdischer Umgebung Tugenden, die von Brentano und Arnim als genuin christliche verstanden werden. »[L]aß mich auf meine Stube gehen, daß ich für ihn bete«421, bittet Marie ihren Mann. »Ich habe alle Abende für ihn gebetet, als ich glaubte, daß er mein Vater sey, jetzt, jetzt muß ich auch für ihn beten.«422 Dumoulin denkt freilich nicht an seine »Tochter«, als er sich erschießt, sondern an den Verlust seines Geldes; nur der materielle Aspekt der Aufdeckung des alten Verbrechens ist für ihn entscheidend.423 Frenel spricht schließlich die Einsicht aus, daß der Jude das christliche Mitleid Maries gar nicht verdient habe: »Nein, nein, meine liebe gute Marie, du sollst nicht so vernichtet seyn durch den Tod eines Elenden.«424 Auch dieser jüdische Pflegevater konterkariert den Humanitätsgehalt, der Lessings Entwurf auszeichnet. Die jüdischen Petschierstecher in Gockel und Hinkel agieren nicht als Pflegeväter eines christlichen Kindes, auch wenn sie freilich – wie Dumoulin – die kindliche Arglosigkeit für ihre Untaten ausnutzen, gelingt es ihnen doch, der naiven Gackeleia den Ring abzujagen, mit dessen Hilfe sich alle Wünsche erfüllen lassen. Die Juden schieben Gackeleia einen zweiten Ring unter, der die wunderbare Gabe des Originals nicht besitzt und demensprechend wertlos ist. Im Anschluß an Ruth K. Angress, die als erste Interpretin auf eine mögli417 418 419 420
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Ebd., S. 82. Vgl. Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 341. Vgl. ebd., S. 352f. Sie fällt in Ohnmacht, als sie die Schachtel sieht, in der sie einst den Leichnam ihres Bruders zu transportieren hatte. Vgl. ebd., S. 320. Christina E. Brantner verweist auf die »Marginalisierung der Frau« in dem »patriarchalischen System«, das die Erzählung imaginiert. »Die Passivität der Baronin wird von der völligen physischen Ausschaltung der Französin [durch die Ohnmacht, M. P.] noch überboten.« Brantner, Problematik (wie Anm. 43), S. 16. »[...] ich brauche keine Gnade, was soll mir Gnade? mein Geld werden Sie mir doch nehmen!« Brentano, Sämtliche Werke XIX (wie Anm. 142), S. 353. Ebd., S. 352. Vgl. ebd., S. 353. Ebd., S. 352.
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che Verbindung des Ringmotivs aus dem Gockel-Märchen mit der Ringparabel Lessings hingewiesen hat,425 macht Gunnar Och darauf aufmerksam, daß es – wie schon in Lessings Text – auch bei Brentano »um die Frage echt oder falsch«426 geht. Während diese Frage im Prätext freilich marginalisiert werden muß, weil die Gleichrangigkeit aller Religionen behauptet werden soll, »beharrt [Brentano] auf der Echtheit eines Ringes, der [...] natürlich mit dem Christentum als einzig wahrer Religion gleichzusetzen ist. Der falsche Ring wiederum steht für den Toleranz-Gedanken der Aufklärung und den Deismus, beides fragwürdige Erscheinungen, die nach Brentanos Dafürhalten nur dazu taugen, daß das Judentum zu Macht und Einfluß gelangt«427. Doch Och diagnostiziert noch eine zweite Anspielung auf die Ringparabel. Der bereits referierte Streit der drei Juden um den Ring entspricht demnach dem Streit der drei Brüder, »den der Richter durch seinen Schiedsspruch in einen [...] Wettkampf um Sittlichkeit und Humanität überführen möchte«428. Brentano, so Ochs plausible Überlegung, kann dieses »agonale Prinzip«429 nicht anerkennen – und zwar aus der antikapitalistischen Grundüberzeugung der Politischen Romantik heraus, denn Brentano identifiziert den Wettstreit der Brüder »mit dem liberalen Prinzip freier wirtschaftlicher Konkurrenz [...], das das traditionelle Gefüge der Ständegesellschaft zerstört und den Egoismus des Individuums freisetzt«430. Der Antikapitalismus verbindet sich dabei abermals mit dem Antijudaismus, denn nur die »Austreibung und Domestizierung«431 der Juden, die die von Brentano und den anderen Romantikern abgelehnte neue Wirtschaftsordnung repräsentieren, kann die »Restitution des verlorenen Paradieses gewährleisten«432, die am Ende des Märchens bejubelt wird. Diese intertextuellen Bezugnahmen, die Ochs Analyse herausgearbeitet hat, bezeugen ein Dreifaches: Zum einen wird den Vorstellungen Lessings eine klare Absage erteilt. Zweitens wird diese aus der politischen Perspektive her425 426
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Vgl. Angress, Leiche unterm Tisch (wie Anm. 163), S. 220f. Gunnar Och: Judenbilder der Romantik. In: Reuchlin und seine Erben. Hg. von Peter Schäfer und Irina Wandrey. Ostfildern: Thorbecke 2005 (Pforzheimer Reuchlinschriften; 11), S. 161. Ebd., Herv. i. O. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd.; »Als die christlichen Ideen im 18. Jahrhundert den Aufklärungsideen unterlagen, rang die feudale Gesellschaft ihren Todeskampf mit der damals revolutionären Bourgeoisie. Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiete des Gewissens aus«, heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Studienausgabe in vier Bänden. Hg. von Iring Fetscher. Band III: Geschichte und Politik 1. Ergänzte Neuausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990 (Fischer-Taschenbücher; 6061), S. 59–87, hier S. 75. Och, Judenbilder (wie Anm. 426), S. 162. Ebd.
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aus als reaktionär und restaurativ zu bezeichnende Absage in einem komplexen ästhetischen Gebilde überaus subtil vermittelt; die These, wonach die Polyvalenz eines ästhetisch bedeutsamen Textes »ideologisch fixierte[] Signifikate«433 per se depotenziere, erscheint mithin auch im Falle Brentanos als widerlegt. Drittens schließlich bezeugt diese freigelegte Subschicht des Märchens bei all ihrer inhaltlichen Problematik, daß Brentano auch als politisch denkender Autor ernst genommen werden muß. Martina Vordermayers These, daß Brentano die »antijüdische Motivik [...] ohne Rücksicht auf die in ihr inhärente gesellschaftliche und politische Brisanz«434 verwende, ist vor diesem Hintergrund nicht zu halten.
VIII Schreiben unter »Torschlußpanik« Vordermayer wertet die antisemitischen und antijüdischen Passagen in Brentanos Werk in erster Linie als Anpassungsphänomene. Der Autor nimmt demnach die besagte »gesellschaftliche und politische Brisanz [...] billigend in Kauf und schafft so ›alte deutsche Lieder‹, die dem aktuellen Geschmack entsprechend patriotisch, antifranzösisch und antijüdisch waren«435. Brentano habe den Wünschen des Publikums und den Interessen der jeweiligen Freundeskreise entsprechen wollen, eine politische Stoßrichtung verbinde sich mit seinen antisemitischen und antijüdischen Ausfällen nicht, so Vordermayers Konklusion, die mit der mehrheitsfähigen Forschungsmeinung vom »unpolitischen Brentano« freilich bestens harmoniert. Das positive Echo, das Vordermayers Studie gerade in diesem Punkt erhielt, vermag daher nicht zu überraschen, zumal diese These es erlaubt, Brentanos Antisemitismus nur als strategische Maskerade für die Öffentlichkeit, nicht aber als genuine Einstellung des Autors zu begreifen. Allenfalls Leichtsinn und »bisweilen« grobe Fahrlässigkeit, so Ulrike Landfester in ihrer Rezension von Vordermayers Buch, könne man Brentano vorwerfen.436
433 434 435 436
Ebd., S. 157. Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 140. Ebd. Ulrike Landfester hält die These, daß Brentano antijüdisch argumentiert habe, »wenn er sich darüber die Sympathien einer bestimmten Leserschicht [...] erwerben wollte« für »hochinteressant[]« und für eine der »wichtigsten in Vordermayers Buch«. In Brentano sieht die Rezensentin einen »selbst- wie effektverliebten Künstler, dem es zu sehr um die gelungene Pointe zu tun war, als daß er sich die Mühe gemacht hätte, deren gegebenfalls politische Implikation zu bedenken«. Ulrike Landfester: [Rezension]. Martina Vordermayer: Antisemitismus und Judentum bei Clemens Brentano. In: Literaturkonzepte im Vormärz. Hg. von Michael Vogt und Detlev Kopp. Bielefeld: Aisthesis 2001 (Jahrbuch Vormärz-Forschung; 6), S. 358.
VIII Schreiben unter »Torschlußpanik«
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Die vorliegende Untersuchung geht dagegen davon aus, daß Brentanos Versuch, den Publikumsgeschmack zu treffen, gerade auch auf der Ernsthaftigkeit seiner politischen Überzeugungen basiert. »Sollten meinen Freunden all diese Gelegenheitsarbeiten zu leicht, zu flüchtig erscheinen, so mögen sie mich dadurch entschuldigen, daß ich Alles dieses mit der Absicht des Oeffentlichwerdens [...] geschrieben habe«, heißt es in einer Nachschrift437, die Brentano als Kommentar zu seinen Wiener Gelegenheitsdichtungen verfaßte und mit denen er eine »Nationalbewafnung in Leib und Seel, wie in Preußen [...] sichtbar«438, auch für Österreich erreichen wollte: »[...] Feldzüge und Könige können keine Freiheit erringen, die Völker werden es einstens thun! und erlebe ich solchen Moment, so wird auch mir ein Beruf dasein.«439 Wie ernst es ihm mit diesem »Beruf« war, belegt auch seine Täuschung bezüglich der Entstehungszeit der Viktoria; Brentano hat das Stück nicht, wie er angibt,440 zwischen Österreichs Kriegseintritt im August 1813 und der Völkerschlacht bei Leipzig (16.–19. Oktober 1813) geschrieben, sondern erst nach dem Sieg der Aliierten über Napoleons Truppen. Durch die falsche Angabe wollte sich der Autor einer plausiblen Vermutung von Caroline Pross zufolge ganz offensichtlich zum »›Dichter‹ der Nation«441 stilisieren, »der im gleichen Moment zur Feder greift, in dem die Bevölkerung zum Aufbruch rüstet«442. Brentano wußte in den Jahren zwischen 1805 und 1814 – wie Wolfgang Frühwald herausgearbeitet hat – »sein Werk in der Zeitstimmung und im Zeitgeschmack – scheinbar – geborgen [...]. In den hoffnungsfrohen Jahren der preußischen Reformen teilte sich das, nach den Freiheitskriegen erlöschende, Gefühl innerer und äußerer Befreiung auch den Autoren mit«443. Daß Brentano dann nach Wien ging, kann mit Caroline Pross auch als »süddeutsche[] Parallelaktion«444 zu den nationalen Bemühungen seines im preußisch dominierten Norden gebliebenen Mitstreiters Ludwig Achim von Arnim verstanden werden. Das »traurige[] Schicksal«445, das seine patriotischen Dichtungen in Wien ereilte – wegen der »sehr matten diplomatischen Lage«446 konnten seine Lieder nicht gedruckt, seine Stücke mit Ausnahme des nach einmaliger Auffüh437
438 439 440 441 442 443 444 445 446
Abdruck bei Michael Grus: »Die Weltgeschicke gehören nicht auf des Dichters Lippe«. Clemens Brentanos Probleme mit der Wiener Theaterzensur. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1995), S. 119f., hier S. 119. So Brentano Ende Juli 1813 in einem Brief an Kunigunde von Savigny. In: Brentano, Sämtliche Werke XXXIII (wie Anm. 62), S. 38–41, hier S. 39. Ebd. Vgl. Brentano, Viktoria (wie Anm. 337), S. XIII. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 276. Ebd. Frühwald, Spätwerk (wie Anm. 136), S. 74. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 252. Grus, »Weltgeschicke« (wie Anm. 437), S. 120. So Brentano in einem Brief an Arnim von Anfang Oktober 1813. In: Arnim/Brentano, Freundschaftsbriefe II (wie Anm. 60), S. 679–688, hier S. 685.
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rung wieder abgesetzten Schauspiels Valeria oder Vaterlist447 nicht gespielt werden – zeitigte freilich eine tiefe Desillusionierung: »Brentano zweifelt[e] am Sinn der Schriftstellerei.«448 Mit Die Schachtel mit der Friedenspuppe versuchte er nochmals – nunmehr auf dem Gebiet der erzählenden Prosa – auf das öffentliche Bewußtsein einzuwirken. Doch auch diese »Kompensationskarriere«449 (Gerhard Schaub) als Erzähler, die das Scheitern des »törichten Versuch[es]« 450, sich in Wien als »Dramatiker für die breite Öffentlichkeit«451 zu etablieren, vergessen machen sollte, blieb in mehrfacher Hinsicht erfolglos. Die Schachtel mit der Friedenspuppe, die in den Wiener Friedensblättern erschien, wurde »infolge der geringen Auflage dieser Zeitung nur einem kleinen Kreis von Lesern bekannt«452 und versank bald wieder im »Dunkel der Vergessenheit«453, wie Peter J. Gartz berichtet; die realgeschichtlichen Entwicklungen in der Folge des Wiener Kongresses entsprachen zudem bekanntlich nicht den Intentionen der Dichter der Befreiungskriege. Daß Brentano 1817 das Festspiel Viktoria und ihre Geschwister drucken ließ, zeugt jedoch von einem trotzigen Beharren auf den nationalen Hoffnungen früherer Jahre. Unter Bezugnahmen auf Brentanos Vorbereitungen für die Druckfassung dieses Stücks454 berichtet Wilhelm Grimm am 6. Dezember 1816 seinem Freund Görres, »daß er [Brentano, M. P.] nun nicht mehr dichten wolle, jedoch habe er noch vor Thorschluß eine Viktoria mit fliegenden Fahnen beendigt«455. Der »Torschluß« – der »bewußt und willentlich angenommene Verzicht auf poetische Gestaltung«456 – war im Herbst 1818 gekommen, als Brentano nach Dülmen abreiste, um die »Visionen« der Anna Katharina Emmerick aufzuzeichnen. 447 448 449
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Vgl. Schultz, Schwarzer Schmetterling (wie Anm. 9), S. 343–345. Ebd., S. 346. G. Schaub, Nachwort (wie Anm. 140), S. 268. Schaub geht davon aus, daß Brentano aus einer »gewissen Verlegenheit« (ebd., S. 267) heraus, nämlich wegen seines Scheiterns als Dramatiker, die Textsorte wechselte. Das Drama galt im frühen 19. Jahrhundert noch immer als »höchste Stufe der Poesie«, während etwa die Novelle als »belanglose Unterhaltung am Rande des täglichen Ernstes« nicht mit »hohen literarischen genera zu vergleichen war«. Vgl. Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1993, S. 3–8, hier S. 3. Frühwald, Brentano (wie Anm. 29), S. 359. Pross, Kunstfeste (wie Anm. 16), S. 253. Gartz, Brentanos Novelle (wie Anm. 142), S. 37. Ebd. Vgl. Konrad Feilchenfeldt: Clemens Brentanos publizistische Kontakte mit Hamburg. Neuentdeckte Beiträge zum »Frankfurter Staats-Ristretto« und zu »Der deutsche Beobachter« im Jahre 1815. In: Aurora 36 (1976), S. 47f. In: Joseph von Görres: Gesammelte Schriften. Hg. von Marie Görres. Achter Band. Gesammelte Briefe. Zweiter Band. Freundesbriefe (1802–1821). Hg. von Franz Binder. München: Literarisch-artistische Anstalt 1874, S. 503–506, hier S. 504. Die »Proben« dieses »dramatische[n] Werk[es]«, so Wilhelm Grimm weiter, haben ihm »recht gut gefallen«. Ebd., S. 504f. Frühwald, Brentano (wie Anm. 29), S. 360.
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Zuvor hatte er in der Erzählung Die mehreren Wehmüller und ihre ungarischen Nationalgesichter (1817)457 noch einmal seiner Enttäuschung über den Ausgang des Wiener Kongresses Ausdruck verliehen. Mit der permanenten Wiederholung der Zahl »39« zu Beginn dieses Textes verweist Brentano auf die 39 »Vaterländer« der Deutschen, die aus der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongreß (34 Fürstentümer, vier freie Städte) sowie dem späteren Beitritt der Landgrafschaft Hessen-Homburg zum Deutschen Bund (1817) entstanden waren.458 »Gemeinsinn«459, so Brentanos Protagonist Völki in dem ebenfalls 1817/18 erschienenen Text Aus einem geplünderten Postfelleisen460, »ist nirgends; nichts geht aus allgemeinem, großem Willen für alle miteinander hervor. [...]; das Gefühl, eine Gemeinde, eine Familie zu sein, ist erloschen. Alles ist wie eine große, nur auf Rechnungstabellen zusammenhängende, lieblose Masse zusammengegossen. Es ist, als ob man Wein, Bier, Wasser, Milch, Branntwein, Essig, Dinte und Spülicht zusammengösse und es eine Nationalsuppe nennte, die Köche aber essen nicht mit.«461 Die Resignation, die sich hier artikuliert, bezeugt ex negativo noch einmal Brentanos früheren Anspruch, mit seiner literarischen Produktion einen nationalen »Gemeinsamkeitsglauben« zu befördern. Auch wenn Brentano »keine Staatsphilosophie entwickelt hat«462, weisen seine gesellschaftspolitischen Bemühungen doch über das Selbstverständnis eines »radikale[n] Artist[en]«463 weit hinaus. Wie gezeigt wurde, werden sowohl die Philister-Satire als auch die Texte Gockel und Hinkel, Die Schachtel mit der Friedenspuppe und Viktoria und ihre Geschwister maßgeblich durch die Utopie eines geeinten »Deutschland« strukturiert. Die innere Logik des nationalen Diskurses, nämlich die »Ausgrenzung des Ungleichartigen«464, wird dabei in Brentanos Texten in besonders plakativer Form evident: Daß die Juden Dumoulin und Gänsefett ihre wohlverdienten Strafen erhalten, ist integraler Bestandteil der nationalen Feierlichkeiten, die die Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe und das Festspiel Viktoria beschließen; und auch in Gockel und Hinkel ermöglicht erst die Ausschaltung der jüdischen Petschierstecher – sie werden in Esel verwandelt – die märchenhafte Schlußi457
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Der Text ist leicht zugänglich in: Clemens Brentano als Erzähler. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Hermann Hesse. Frankfurt a. M.: Insel 1998 (Insel-Taschenbuch; 2165), S. 51–112. Darauf verweist Frühwald, Arnim und Brentano (wie Anm. 144), S. 155. Brentano, Werke II (wie Anm. 65), S. 1144. Vgl. ebd., S. 1144–1153. Ebd., S. 1144. Nikolaus Reindl: Die poetische Funktion des Mittelalters in der Dichtung Clemens Brentanos. Innsbruck: Institut für Philologie 1976 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft/Germanistische Reihe; 6), S. 22. Schultz, Clemens Brentano (wie Anm. 9), S. 195. Bernd Estel: Grundaspekte der Nation. Eine begrifflich-systematische Untersuchung. In: Soziale Welt 42 (1991), S. 219.
434
G Clemens Brentano und der Ausschluß des jüdischen Störfaktors
dylle. Mit der Philister-Satire transportiert Brentano dieses Prinzip des nationalen Einschlusses durch Ausschluß des jüdischen Faktors in die sozialhistorische Wirklichkeit der Berliner Jahre um 1810. Für Juden ist in der honorigen Gemeinschaft der deutschen Tischgenossen kein Platz, und Brentano liefert gemeinsam mit seinem Freund Arnim – aus den einstigen »Liederbrüdern«, so Holger Schwinns pointierte Bemerkung, waren mittlerweile »Kampfesbrüder«465 geworden – die Begründung für die antisemitische Ausschlußklausel. Judenfeindliche Tendenzen bleiben auch für Brentanos Spätwerk charakteristisch; daß die diesbezüglich einschlägigen Texte wie Die Barmherzigen Schwestern (1831)466, die Trilogie zum Leben Jesu (Das Leben der Hl. Jungfrau Maria, Die Lehrjahre Jesu und Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi)467 oder die Spätfassung des Gockel-Märchens (1837)468 in dieser Untersuchung – ebenso wie die früheren Romanzen vom Rosenkranz (1802–1812) – nicht behandelt werden, ist dem veränderten Blickwinkel geschuldet, aus dem hier die Denunziation der jüdischen Minderheit erfolgt. Anders als in den behandelten Texten dominiert in den Fragment gebliebenen Romanzen469 und
465 466 467
468
469
Schwinn, Kommunikationsmedium Freundschaft (wie Anm. 28), S. 164. Vgl. zu den antijüdischen Implikationen des Textes bzw. seiner Vorstufen Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 145–153. Bis zu Brentanos Tod erschien nur der dritte Teil im Druck (1834), der bis 1842 sechs Auflagen erreichte. Das Leben der Hl. Jungfrau Maria (1852) wurde posthum veröffentlicht. Vgl. Schultz, Brentano (wie Anm. 65), S. 147f. sowie Bernhard Gajek: Clemens Brentano. Einführung in Leben und Werk. In: Clemens Brentanos Landschaften. Beiträge des ersten Koblenzer Brentano-Kolloquiums. Hg. von Hartwig Schultz. Koblenz: Görres-Verlag 1986 (Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur), S. 29–34. Konrad Feilchenfeldt macht darauf aufmerksam, daß die Aktualisierung der Passionsgeschichte, die durch Brentanos Bittere Leiden geleistet wird, »[i]n einer Periode religiös motivierter Judenverfolgungen, die 1833/34 am Niederrhein zu offenen Ausschreitungen und zum Eingreifen der preußischen Regierung führte, [...] als Versuch einer Legitimation antijüdischer Gesinnung und Propaganda« gelesen werden könne. Vgl. Konrad Feilchenfeldt: Versuch einer Poetik? Clemens Brentanos ›Bitteres Leiden‹. In: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Hg. von Gerhard Hahn und Ernst Weber. Regensburg: Pustet 1994, S. 143. Vgl. zu den antijüdischen Implikationen insbesondere des ersten und dritten Teils der Trilogie Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 153–166. Martina Vordermayer insistiert – in kritischer Abgrenzung etwa zu Härtl, Judentum (wie Anm. 123), S. 203 – zu Recht darauf, daß in der Spätfassung des Märchens – im Zeichen der katholischen Antiaufklärung – die antijüdische Stoßrichtung insgesamt keineswegs abgeschwächt wird. Vgl. Vordermayer, Antisemitismus (wie Anm. 50), S. 80–85 sowie S. 115–120. Vgl. zu den judenfeindlichen Implikationen dieses Versepos die einschlägige Studie von Gunnar Och: Spuren jüdischer Mystik in Brentanos Romanzen vom Rosenkranz. In: Aurora 57 (1997), S. 25–43.
VIII Schreiben unter »Torschlußpanik«
435
in den Spätschriften der »christliche[] Repressionsdiskurs«470 – Brentanos nationale Emphase endet spätestens mit seiner Abreise aus Berlin;471 nachdem »sein Katholizismus [...] reif geworden«472 (Ludwig von Gerlach) war, ging Brentano bekanntlich nach Dülmen, wo er – als »leidenschaftlicher Parteigänger«473 dieser »stigmatisierten« Nonne – die Jahre bis 1824 größtenteils am Krankenbett Anna Katharina Emmericks zubrachte. Am Ideal der Einheit, der Integration des Widersprüchlichen und Disparaten, hält der Autor auch in seinen späten Jahren fest – das Medium der Einheitsfindung ist nun aber ein anderes geworden: der katholische Glaube, nicht mehr die nationale Hoffnung, bestimmt das Denken des »alternde[n] Romantiker[s]«474 Brentano.475
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Claudia Breger: Ortlosigkeit des Fremden. »Zigeunerinnen« und »Zigeuner« in der deutschsprachigen Literatur um 1800. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1998 (Literatur-Kultur-Geschlecht: Grosse Reihe; 10), S. 273, Anm. 114. Ähnlich auch zuletzt Tully, Creating a National Identity (wie Anm. 32), S. 206, die Brentanos »patriotic period« zwischen 1809 und 1816 situiert. So Ludwig von Gerlach in seiner zwischen 1861 und 1869 erarbeiteten Familiengeschichte. Zit. n. H.-J. Schoeps, Brentano (wie Anm. 336), S. 300. Gajek, Brentano (wie Anm. 467), S. 29. Hermann Kurzke: Romantik und katholische Restauration. Anläßlich des Frühwaldschen Brentano-Buchs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), S. 198. Das operative Literaturkonzept bleibt für Brentano auch nach seiner Rückkehr in das literarische Leben im Jahr 1824 konstitutiv. Es führt nun allerdings zu einem »modellhafte[n] Spaltungsvorgang« in seinem Werk, den Wolfgang Frühwald mehrfach beschrieben hat; einem isolativ-privaten Teil steht ein journalistischöffentlicher gegenüber, von dem Brentano sich Resonanz erwartet und mit dem er sie auch findet. [Vgl. Wolfgang Frühwald: Gedichte in der Isolation. Romantische Lyrik am Übergang von der Autonomie- zur Zweckästhetik. In: Romantikforschung seit 1945. Hg. von Klaus Peter. Königstein/Taunus: Verlagsgruppe Athenäum-Hain-Scriptor-Hanstein 1980 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek; 93), S. 265–279, hier S. 266.] »Dabei wird der öffentliche Werkteil durch die vorherrschende Anonymität dem privaten angenähert, der geheime durch vielfältige Stilformen mit dem öffentlichen verknüpft; doch sollte der öffentliche Teil des Werkes – intentionell – ganz und ausschließlich ›geistlich‹ sein; das heißt Werke, deren ›Geistlichkeit‹ nicht, wie etwa bei den Büchern über das Leben und Sterben Jesu, außer Frage stand, wurden durch soziale Zwecke ›beglaubigt‹ oder durch ›geistliche‹ Zusätze der Strömung geistlicher Restaurationsliteratur eingefügt.« Frühwald, Spätwerk (wie Anm. 136), S. 95. Vgl. zu Frühwalds Position auch noch immer den Einspruch von Kurzke, Romantik (wie Anm. 474), S. 176–204.
H
»Wir erkennen ein Wesen in uns, ein bleibendes Sein« – Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
I
Mendelssohn und die böse Überraschung durch Michaelis
Als Christian Konrad Wilhelm von Dohm1 im Jahr 1781 seine in regem geistigem Austausch mit Moses Mendelssohn entstandene Abhandlung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden veröffentlichte, löste er eine »hitzige Kontroverse in der aufgeklärten Presse aus«2. Mit diesem medialen Echo hatten Dohm und Mendelssohn zwar gerechnet, einer der zahlreichen Einsprüche kam für beide jedoch vollkommen unerwartet: Ausgerechnet der Göttinger Orientalist und ausgewiesene Aufklärer Johann David Michaelis, den Dohm eigentlich auf seiner Seite gewähnt hatte, bereitete mit einer fundamentalen Kritik an Dohms Vorschlägen den Befürwortern der Judenemanzipation eine »böse Überraschung«3. Michaelis statuiert in seiner Rezension der Abhandlung eine Opposition zwischen dem »deutschen Bürger[]«4, der »ein Recht an [sic!] das Land«5 habe 1
2
3 4
Zu Dohm vgl. Horst Möller: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposium anläßlich der 250. Geburtstage Lessings und Mendelssohns. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv: Universität Tel Aviv 1980 (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte; 3), S. 119–153; Rudolf Vierhaus: Christian Wilhelm Dohm – Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung. In: Rudolf Vierhaus: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1987, S. 143–156 und S. 289–29; Horst Möller: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden: Christian Wilhelm Dohm und seine Gegner. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin: Colloquium-Verlag 1992 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 75), S. 59–79. Anna-Ruth Löwenbrück: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791). Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1995 (Europäische Hochschulschriften; 662), S. 154. Ebd., S. 156. Abgedruckt in: Christian Konrad Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in einem Band. ND der Ausgaben Berlin, Stettin 1781– 1783 und Kaiserslautern 1891. Hildesheim, New York: Olms 1973, S. 71.
438
H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
und es »vertheidige[]«6, und dem jüdischen Fremdling, dessen Ambition es sei, eines Tages nach Palästina zurückzukehren, weshalb er die nötige Loyalität seinem »Gastgeber« gegenüber vermissen lasse. Neben diesem Verweis auf den fehlenden – deutschen – Nationalstolz der Juden verdient noch ein weiteres für die späteren Debatten bedeutsames Argument von Michaelis Erwähnung: Dohm war im Einklang mit den frühliberalen Wirtschaftstheorien seiner Zeit davon ausgegangen, daß eine ständig wachsende Bevölkerung das Wohl des Staates befördern könnte; in der Integration der Juden sah er eine Option, dieses Bevölkerungswachstum zu erreichen, »ohne fremde Kolonisten anwerben zu müssen, was damals in vielen Staaten üblich war«7. Nach Michaelis würde sich eine Gleichstellung der Juden allerdings keineswegs als »nutzbringend« erweisen: »Die Juden vermehren sich, wenn es nicht gehindert wird, ausnehmend [...]. Aber das schlimmere ist, die deutschen Bürger möchten gar beym Zunehmen der neuen jüdischen abnehmen, und verdrängt werden«8. Aus »Deutschland«, so die Konsequenz dieser Überlegungen, würde der »wehrloseste[] verächtlichste[] Judenstaat«9 werden. Michaelis antizipiert damit die Theoreme der Unterwanderung und der Verschwörung, die später stereotyp gegen das Emanzipationsverlangen der jüdischen Minderheit ausgespielt werden sollten. Anna-Ruth Löwenbrück hat darauf hingewiesen, daß uns in den Ausführungen von Michaelis eine »bisher noch nie dagewesene Argumentationsweise«10 begegnet – Michaelis attackiert nicht die jüdische Religion oder die rabbinische Tradition, sondern er betont die nationale Differenz zwischen Juden und Deutschen und sieht in den Juden ein »fremdes Volk, das kein Recht gegenüber den einheimischen, ›wehrhaften‹ Deutschen haben kann«11. Damit war einem Paradigmenwechsel in der antijüdischen Ausgrenzungsstrategie der Weg geebnet, was auch Dohm und Mendelssohn erahnten. »Anstatt Christen und Juden bedient sich der Herr M. beständig des Ausdrucks Deutsche und Juden«12, heißt es in einer Entgegnung Mendelssohns, in der der »Mittelpunkt der Berliner Aufklärung«13 darauf insistiert, den Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Bürgern »blos in Religionsmeynungen zu sehen«14 und die von Michaelis postulierte Differenzierung zwischen »Landeigenthümern« und »Fremdlingen« als anachronistisch entlarvt: »Sodenn möchte ich auch erörtert wissen: wie lange, wie viele Jahrtausende dieses Verhältniß, als Lan5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Ebd. Ebd. Löwenbrück, Judenfeindschaft (wie Anm. 2), S. 152. Dohm, Bürgerliche Verbesserung (wie Anm. 4), S. 44f. Ebd., S. 46. Löwenbrück, Judenfeindschaft (wie Anm. 2), S. 159. Ebd., S. 160. Dohm, Bürgerliche Verbesserung (wie Anm. 4), S. 75. Löwenbrück, Judenfeindschaft (wie Anm. 2), S. 149. Dohm, Bürgerliche Verbesserung (wie Anm. 4), S. 75.
I Mendelssohn und die böse Überraschung durch Michaelis
439
deigenthümer und Fremdling fortdauern soll? Ob es nicht zum Besten der Menschheit und ihrer Cultur gereiche, diesen Unterschied in Vergessenheit kommen zu lassen?«15 Wenn Mendelssohn anmahnt, die Unterschiede doch zum »Besten der Menschheit« in »Vergessenheit kommen zu lassen«, so benennt er ein zentrales Anliegen jener jüdischen Intellektuellen, die sich für die bürgerliche Gleichstellung ihrer Glaubensgenossen einsetzten: Die von den Emanzipationsgegnern behaupteten Differenzen zwischen der christlichen Mehrheitsgesellschaft und der jüdischen Minderheit sollten einerseits im Zuge innerjüdischer Reformbestrebungen nivelliert, andererseits aber auch als Vorurteil desavouiert oder als für die politische Ebene unerheblich marginalisiert werden. Konsequenter noch als Mendelssohn beschritt David Friedländer diesen Weg. Friedländer, Mendelssohns Schüler und nach dessen Tod 1786 der führende Kopf der jüdischen Aufklärung,16 drängte auf eine möglichst vollständige Assimilation der Juden an die christliche Mehrheitsgesellschaft, damit im Zeichen einer natürlichen Religion alles verschwände, »was sie von den anderen unterschied«17. Dafür war er im Unterschied zu seinem Lehrer auch bereit, das Dogma des geoffenbarten Zeremonialgesetzes, das für Mendelssohn das »eigentliche jüdische Element seiner Weltanschauung gewesen war«18, preiszugeben. Und er wollte den Begriff des »Juden«, für den er sich keinen »unbe15
16
17 18
Ebd., S. 76; gl. zur Debatte zwischen Michaelis und Mendelssohn auch Arno Herzig: Das Problem der jüdischen Identität. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposium anläßlich der 250. Geburtstage Lessings und Mendelssohns. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv: Universität 1980 (Jahrbuch des Institus für Geschichte; 3), S. 249 sowie Renate Best: Juden und Judenbilder in der gesellschaftlichen Konstruktion einer deutschen Nation (1781–1804). In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt a. M.: Campus 2001, S. 177–181. Zu Friedländer vgl. Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. Aus dem Englischen von Wolfgang Lotz. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, S. 131–139; Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. Aus dem Englischen übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. München: C. H. Beck 1994, S. 66–97; Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München: C. H. Beck 2002, S. 92–99. Zur jüdischen Aufklärung insgesamt vgl. auch die Beiträge bei Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Hg. von Arno Herzig, Hans Otto Horch und Robert Jütte. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2002. M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 79. Ebd., S. 68f. Mendelssohn hatte sich freilich mit dem strikten Festhalten am Zeremonialgesetz in ein argumentatives Dilemma befördert; einserseits spricht er den Rabbinern im Zuge eines Plädoyers für die Trennung von Staat und Religion das Bannrecht ab, andererseits fordert er strikte Observanz gegenüber der Halacha – indem er den Rabbinern jedoch das Bannrecht nimmt, nimmt er ihnen auch die Möglichkeit, eine Nicht-Observanz zu sanktionieren, wie Christoph Schulte deutlich macht. Vgl. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 180f.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
lasteten Gebrauch«19 mehr vorstellen konnte, aus dem Wortschatz streichen: »Er war naiv genug zu glauben, ein neuer Name könnte das alte Vorurteil aufheben«20, schreibt Michael A. Meyer über Friedländer.21 Ein gutes Beispiel für die Strategie, die Unterschiede zwischen Juden und Christen als für die politische Sphäre irrelevant zu erweisen oder sie zu nivellieren, bilden auch die Schriften des Spätaufklärers Saul Aschers, der ein am französischen Modell orientiertes Nationenkonzept entfaltet, in der Glaubensunterschiede keine Rolle spielen und ein reformiertes Judentum deshalb zum integralen Bestandteil des Staatswesens avancieren kann. Die Versuch Aschers und Friedländers, die Emanzipationsbemühungen der Juden mit der Konstruktion einer deutschen Nation zu harmonisieren, scheitern freilich weniger an der Konsistenz ihrer Argumentationen als an der inneren Logik des nationalen Selbstfindungsprozesses. »Gesellschaften haben offenbar ein Interesse, Minderheiten auszugrenzen und zu diskriminieren, das nicht allein quantitativer, sondern auch qualitativer Natur ist«22, schreibt Lutz Hoffmann, der darauf verweist, daß die Ursache dieses Interesse nicht bei den Minderheiten, sondern bei den Problemen der Mehrheit zu suchen ist: »Aus d[en] Mängeln bei der Konstruktion des Eigenen eröffnet sich ein Ausweg, wenn es gelingt, ihm ein anderes Kollektiv polarisierend gegenüber zu stellen. Dann läßt sich das Eigene als Gegensatz des Anderen begreifen.«23 Die Assimilationsforderung, so Hoffmann, zielt deshalb nur verbal auf die »Angleichung der Minderheit an die Mehrheit«24; ihr eigentlicher Zweck liegt darin, Unterschiede zu konstruieren: »Den Minderheiten wird das abgesprochen, was als ausschlaggebendes Merkmal der Mehrheit definiert wird, so daß sie als das Andere und Fremde erscheinen und dadurch zwangsläufig Konturen der Bedrohlichkeit annehmen.«25 Diese Funktion des Assimilationspostulates wird nach Hoffmann gerade dann deutlich, wenn die Minderheiten versuchen, auf die Forderungen einzugehen – um die Definition des Eigenen über den Umweg der Diskriminierung des Anderen konstant leisten zu können, müssen die As19 20 21
22
23 24 25
M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 80. Ebd. Indes hat die Nichtbeachtung der Zeremonialgesetze nach Mendelssohns Tod anscheinend in der Tat deutlich zugenommen. Vgl. Steven M. Lowenstein: Soziale Aspekte der Krise des Berliner Judentums 1780–1830. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin: Colloquium-Verlag 1992 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 75), S. 84f. Lutz Hoffmann: Die Konstruktion von Minderheiten als gesellschaftliches Bedrohungspotential. In: Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow und Markus Ottersbach. Opladen: Leske + Budrich 1999 (Interkulturelle Studien; 4), S. 159. Ebd., S. 61. Ebd., S. 67. Ebd.
I Mendelssohn und die böse Überraschung durch Michaelis
441
similationsanstrengungen der Minderheit nämlich »durch immer neue Abgrenzungen«26 unterlaufen werden; die Agitation macht nach Hoffmann »niemals die fortschreitende Ähnlichkeit, sondern stets den verbleibenden Rest an Unähnlichkeit zu ihrem Thema«27. Andreas Gotzmann kritisiert an den jüdischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts denn auch zu Recht, daß sie bei ihren Versuchen, den innerjüdischen Reformprozeß voranzutreiben, übersehen hätten, »dass der nationale Einheitsdiskurs in seinen unterschiedlichen Aspekten auch von dem Gegensatz zwischen Deutschtum und Judentum lebte«28. In diesem Kontext müssen Friedländers und Aschers redliche Bemühungen, die antijüdischen Stereotypen zu widerlegen, notwendig versagen, weil es den Propagandisten des romantischen Nationalgedankens gar nicht um eine adäquate Analyse des Judentums geht, sondern vielmehr um eine Idee des Deutschtums, die aus der Negation eines vorgestellten jüdischen Feindbildes resultiert. Im folgenden wird zunächst auf Aschers Schriften eingegangen, bevor dann eine zweite Linie der Reaktion auf die antisemitische Ausgrenzung der Juden im Zuge des romantischen Nationalentwurfs diskutiert werden soll. Als Konsequenz aus der Gesetzmäßigkeit des nationalen Ausschlusses versuchen ausgegrenzte Minderheiten durchaus auch, »ihre Diskriminierung in Unterscheidung umzuwandeln, so daß sie in zunehmenden Maße ein von der Mehrheit sich unterscheidendes Selbstverständnis entwickeln«29. Auch dieses Selbstver26 27 28
29
Ebd., S. 58. Ebd., S. 67. Andreas Gotzmann: Zwischen Nation und Religion: Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität. In: Andreas Gotzmann: Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Hg. von Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke und Till van Rahden. Tübingen: Mohr Siebeck 2001 (Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts; 63), S. 247. L. Hoffmann, Konstruktion von Minderheiten (wie Anm. 22), S. 66. Armin A. Wallas referiert sechs Modelle, die Juden im Lauf der Zeit entwarfen, um der Ausgrenzung »offensiv zu widerstehen«: Neben der Rückkehr zu religiösen Quellen, der Bejahung des Ungebundenseins und der Freiheit in der Diaspora, der Forderung nach nationaler Autonomie der Juden in den Ländern der Diaspora und der Perspektive der Auswanderung und des Aufbaus eines selbstbestimmten Staates nennt er zwei Wege, die auch im folgenden eine Rolle spielen: Die Deutung der Diaspora als weltbürgerlicher Lebensform und die Säkularisierung des jüdischen Messianismus, verstanden als Teilnahme im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Armin A. Wallas: Narrative Konstruktionen jüdischer Nationalität. In: Narrative Konstruktionen nationaler Identität. Hg. von Eva Reichmann. St. Ingbert: Röhrig 2000. S. 159. Vgl. auch Herzig, Problem (Anm. 15); Hans Otto Horch: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland. Hg. von Julius H. Schoeps. Stuttgart, Bonn: Burg Verlag 1989 (Studien zur Geistesgeschichte; 11), S. 41–65; Michael A. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Anne Ruth Frank-Strauss. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im
442
H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
ständnis muß als Konstrukt verstanden werden – es geht darum, den Verdikten der Mehrheit mit der Erfindung einer positiv gewerteten Identität zu begegnen.30 Was die jüdische Minderheit betrifft, so läßt sich dieses von Hoffmann beschriebene Phänomen ebenfalls spätestens im zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts diagnostizieren. Ein adäquates Beispiel hierfür bietet – zumindest in der Anfangsphase seiner Geschichte – der »Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums«; indes begegnen auch Autoren wie Joseph Wolf, Gotthold Salomon und Ludwig Börne den romantischen Ausgrenzungsstrategien mit der Idee eines Judentums, das weder im Widerspruch noch im nahtlosen Einklang mit dem deutschen Nationalgedanken steht, sondern dass die Nation gleichsam veredelt und mithin eine besondere Bedeutung für »Deutschland« erlangt.
II
Saul Ascher und der Traum der Vernunft
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Ein Plädoyer für die Aufklärung
In Saul Aschers Schriften – die, wie Peter Hacks süffisant anmerkt, »im Schiefer der Bibliotheken so vereinzelt und so verstreut aufzufinden [sind] wie der Urvogel in seinen Gesteinsschichten«31 – wird gegen die »aufgeregte[] Idee
30 31
Suhrkamp Verlag 1992, S. 48–83; Ernst Schulin: Doppel-Nationalität? Die Integration der Juden in die deutsche Kulturnation. In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutschjüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 243–259; Michael Brenner: Religion, Nation oder Stamm: zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden. In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von HeinzGerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt a. M.: Campus 2001, S. 587– 601 sowie Andreas Gotzmann: Symbolische Rettungen – Jüdische Theologie und Staat in der Emanzipationszeit. In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt a. M.: Campus 2001, S. 516–547. Vgl. auch Thomas Rahe: Religionsreform und jüdisches Selbstbewußtsein im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. In: Menora 1 (1990), S. 95 Peter Hacks: Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 13. Hacks selbst hat neben der Germanomanie drei weitere Flugschriften in einem 1991 erschienenen Sammelband leicht zugänglich gemacht: Es handelt sich um die Schriften Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena (1794), Napoleon oder Über den Fortschritt der Regierung (1808) und Die Wartburgfeier. Mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und politische Stimmung (1818). Vgl. Saul Ascher: 4 Flugschriften. Eisenmenger der Zweite. Napoleon. Die Germanomanie. Die Wartburgfeier. Hg. von Peter Hacks. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1991, S. 5–80, S. 81–190 sowie S. 233–276.
II Saul Ascher und der Traum der Vernunft
443
der Deutschheit«32 das »Licht der Aufklärung«33 in Stellung gebracht. Ascher ist nicht bereit, die geschichtsphilosophische Überzeugung des 18. Jahrhunderts preiszugeben, wonach der »fortschreitende Geist des Nachdenkens«34 sukzessive dafür sorgen werde, daß »in allen Regionen des Erdbodens jedem menschlichen Individuum ein gleicher Spielraum zur Übung seiner Kräfte gesichert werden wird«35. Folglich unterstellt er einen »kontinuierliche[n] Reifungsprozeß der Menschheit«36, der nach allgemeingültigen Vernunftprinzipien verläuft und letztlich in der »Errichtung einer sittlichen, harmonischen und glücklichen Gesellschaftsordnung«37 seinen Abschluß findet.38 Die nationalen Vorstellungen eines Fichte, Arndt oder Müller, die »Deutschland« mit einem »Nimbus von Vortrefflichkeit umwölb[en]«39, muß Ascher vor dem Hintergrund seines teleologischen Geschichtsverständnisses als einen Rückfall auf eine »niedrige[re] Bildungsstufe«40, als »vormodernes Denken«41, ansehen: »Wir sind, dem Himmel sei Dank! so weit gekommen, daß wird die Menschen nicht in Stämme und Rassen einteilen und von der Verschiedenheit des Bodens auf eine Verschiedenheit in der menschlichen Gattung folgern.«42 Wenn Nationalität und Vaterlandsliebe wirklich so hohe Werte wären, wie dies 32 33 34 35 36
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In seiner Schrift Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde (1815). In: Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 191–232, hier S. 198. Saul Ascher: Anmerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden, veranlaßt bei der Frage: Soll der Jude Soldat werden? o. O. 1788, S. 34. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 214. Ebd. Walter Grab: Saul Ascher. Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 6 (1977), S. 149. Ebd.; vgl. zur Geschichtsphilosophie der Aufklärung auch die knappen Hinweise bei Richard Schaeffler: Geschichtsphilosophie. In: Philosophische Disziplinen. Ein Handbuch. Hg. von Annemarie Pieper. Leipzig: Reclam 1998 (Reclam-Bibliothek; 1643), S. 144–148. Zu Ascher vgl. auch meinen Beitrag: Marco Puschner: Jüdische Aufklärung und Politische Romantik. Konstruktionen nationaler Identität bei Saul Ascher und Ernst Moritz Arndt. In: Aurora 65 (2005), S. 157–174. Vgl. Aschers Definition von »Aufklärung«: »Aufgeklärt seyn, nenne ich: das Vermögen, eine vernünftige Beurtheilung gewisser Handlungen und Meinungen anzustellen. Finden wir nun diese übereinstimmend mit unserer Moralität, so billigen wir sie. Aufklärung besteht in einer Neigung der Seele, da die Vernunft zu gebrauchen, wo der Enthusiasmus die Phantasie gebraucht. Gründet sich nun diese Neigung auf moralische Grundsätze, oder strebt sie immer die Moralität zu erkennen, und nicht, wie der moralische Enthusiamus, blos zu fühlen: so hat man von einer solchen Aufklärung noch mehr Vortheil zu erwarten, als von dem Enthusiasmus.« Ascher, Anmerkungen (wie Anm. 33), S. 74. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 207. Ebd., S. 215. Gerald Hubmann: »...um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muß Brennstoff gesammelt werden...« Saul Ascher – ein früher Kritiker des deutschen Nationalismus. In: Diskussion Deutsch 21 (1990), S. 382. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 214.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
durch ihre Propagandisten behauptet wird, dann »wären wahrlich die Thiere weit über den Menschen [...] zu setzen, denn auch sie geben nur mit ihrer Existenz den Mutterboden, die Wälder, auf«43. Stattdessen aber setzt Ascher zufolge »Nationalität«44 nur eine »sehr niedrige Geistesbildung«45 voraus. Es geht Ascher darum, anstelle nationaler Verengungen die »Menschheit in staatsrechtlicher Hinsicht nach ihrem ganzen Umfange auf[zufassen]«46; daß diese kosmopolitische Vorstellung, die nach Ascher in dem »Familienband, das die Regenten des größten Teils der kultivierten Staaten umschlingt«47 eine adäquate Beglaubigung findet, zu Beginn des 19. Jahrhunderts Schaden genommen hat, lastet er den Folgen der Französischen Revolution an. Ascher begrüßt die Revolution zwar enthusiastisch, da sie »das Vernunftideal der Aufklärung in [die] politische Praxis [...] übertragen«48 wollte; weil jedoch in Frankreich ein »immerwährende[r] Wechsel demagogischer Gewalt und tyrannischer Willkür«49 an die Stelle der ursprünglich ehrenwerten Zielvorstellungen – nämlich »Naturreligion, Republik und gleiche Rechte im Kreise der Menschheit«50 zu etablieren – getreten sei, habe sich bei den deutschen Intellektuellen die »fixe Tendenz«51 herausgebildet, »in der Deutschheit gegen die Gallomanie ein Gegengewicht zu erlangen«52. 43 44 45 46 47
48 49 50 51 52
Saul Ascher: Europa’s politischer und ethischer Zustand seit dem Congreß von Aachen. Leipzig 1820, S. 4. Ebd. Ebd. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 214; Herv. i. O. Ebd., S. 217. In der Tatsache, daß Ascher an dieser Stelle sein staatsbürgerliches Prinzip über den dynastischen Legitimismus und nicht über die revolutionärdemokratische Bewegung herleitet, erkennt Klaus von See eine Konzession an die jüdische Herkunft des Autors: »Aufklärerische Staatstheorie und Restauration gehen hier ein merkwürdiges Bündnis ein, und es mag dabei wohl die Überlegung mitspielen, daß angesichts der nun einmal bestehenden restaurativen Tendenz der damaligen Zeit eine Emanzipation der Juden eher von den Fürstenhäusern als von der völkischen Bewegung zu erwarten sei.« Klaus von See: Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Heidelberg: Winter 2001, S. 42. Aschers Beobachtung, daß sich die Heiratspolitik des Hochadels an dynastischen und keineswegs nationalen Interessen orientierte, ist freilich zutreffend. Als bekanntestes Beispiel verweist Elisabeth Beck-Gernsheim in diesem Zusammenhang auf das österreichische Herrscherhaus, wo die Formel gegolten habe: »Bella gerunt alii, tu felix Austria nube« (Andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich heirate).« Elisabeth BeckGernsheim: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 (Edition Zweite Moderne), S. 122. Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 151. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 196. Ebd., S. 195. Ebd., S. 197. Ebd.; Herv. i. O.
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Wie zuvor in Frankreich, werde nun auch in den deutschen Ländern nicht mehr für das »Heil der Menschheit«53, sondern für das Heil einer Nation gekämpft. Letztlich aber, so Aschers Überzeugung, kann die nationale Verengung universaler Ideen diese nicht dauerhaft beschädigen; vielmehr »geht aus dem sich angehäuften Chaos eine verjüngte Form von allen Grundfesten des menschlichen und bürgerlichen Daseins hervor«54. Der Weg »der Menschheit zum Fortschritt ihrer Vollkommenheit«55 ist vorgezeichnet und kann weder durch die postrevolutionären Fehlentwicklungen in Frankreich noch durch den »Fanatismus«56 eines Arndt oder Fichte aufgehalten werden.
2
Aschers Nationenkonzept
Auch wenn Ascher von einem kosmopolitischen Standpunkt aus gegen die »Abgeschlossenheit der Nationen«57 argumentiert und darauf hofft, »daß in der Existenz der Völker die Idee der Menschheit sich dereinst ganz abspiegeln wird«58, so thematisiert er dennoch auch die Frage, welche Kriterien über die staatsrechtliche Zugehörigkeit eines Bürgers zu entscheiden haben. Ascher wendet sich in diesem Punkt dezidiert gegen die Vorstellungen der Politischen Romantik: Das Gepräge der Individualität, so Ascher, bekommt ein Staat nicht über »die Naturgrenze, die Sprache«59 oder darüber, daß ein »Urvolk [...] einen Boden in Besitz hat«60, sondern über seine staatsrechtliche Konstitution: Es ist »die Regierung, die mehrere Naturgrenzen, mehrere verschieden sprechende Nationen und mehrere Urvölker unter ihrer Botmäßigkeit oder rechtlichen Handhabung zusammenhält, die den Staat bildet«61. Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu diesem Staat definiert sich demnach nicht über Abstammung, Sprache oder Glauben, sondern über sein Verhalten innerhalb des Kollektivs: »Man [...] sollte nicht fragen: Was denkt der Ankömmling?, sondern: Was treibt er, wie lebt er? Fügt er sich in die Gesetze des Staats, so ist er ein guter Bürger«62, schreibt Ascher in der Germanomanie. Wenige Jahre später bekräftigt er in der Schrift Der deutsche Geistesaristokratismus (1819) diesen Standpunkt noch einmal, als er erneut gegen das kulturalistische Nationenkonzept argumentiert: Zwar zeichnet sich – so Ascher – jedes Volk durch »seinen eigenthümlichen Charakter, seine besonderen Sit53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebd. Ebd., S. 194. Ebd. Ebd., S. 201. Ebd., S. 215. Ebd., S. 217; Herv. i. O. Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 212f. Vgl. hierzu Hubmann, Ascher (wie Anm. 41), S. 384f. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 223.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
ten«63 sowie eine »eigene Sprache und Handlungsweise aus«64; diese Attribute sind indes ebenso äußerlich wie zufällig und für die Bildung einer Nation keinesfalls konstitutiv: Als »Pfeiler aller Nationalität«65 fungieren deshalb auch in dieser späteren Publikation Aschers »[r]echtliche Gesinnungen, ausdauernde Betriebsamkeit und Gesetze«66. Ein Musterbeispiel für ein solches modernes Konzept eines politischen Kollektivs findet Ascher in Nordamerika: »Ich glaube doch wohl, daß, seitdem uns das Schicksal in der neuen Welt in den vereinigten Staaten, ein Exemplar von einer solchen Nationalität aufgestellt, die alte Welt schon längst ihre Ansicht in der Art berichtigt haben sollte.«67 Während der »Versuch der Deutschthumsverehrer«68, die nationale Zugehörigkeit des einzelnen Bürgers an einen scheinbar unhintergehbaren Nationalcharakter rückzubinden, schon alleine deshalb scheitern muß, weil sich die »Urzüge der verschiedenen Völker allmählig [...] verwischen und [...] amalgamiren«69, ist die Frage nach der Gesetzestreue der Bürger und ihrer damit demonstrierten Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen objektiv entscheidbar. Die Frage der Staatszugehörigkeit wird damit eine rein juristische; das rechtliche Prinzip entscheidet darüber, wer dem Kollektiv angehört und wer nicht.70 Dieser Maßstab gilt freilich auch für die Bürger jüdischen Glaubens, deren inaugurierte »bürgerliche Verbesserung« Ascher durch die »somnambulischen Verirrung[en]«71 der »Deutschtumsverehrer[]«72 gefährdet sieht.73 Jener »Fort63 64 65 66 67
68 69 70
71 72 73
Saul Ascher: Der deutsche Geistesaristokratismus. Ein Beitrag zur Charakteristik des zeitigen politischen Geistes in Deutschland. Leipzig 1819, S. 40. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd. Ebd.; da in den USA auch eine parlamentarisch kontrollierte Regierung, Pressefreiheit und kodifizierte Grundrechte im Gegensatz zu den deutschen Staaten politische Realität besaßen, muß Aschers explizit gegen die Deutschtumsverehrer gewendetes Lob dieses politischen Systems freilich auch als implizite Kritik an der Restauration verstanden werden. Ebd., S. 40. Ebd. Gerald Hubmann sieht hier den Grund dafür, daß Ascher den Verhandlungen der Heiligen Allianz auf dem Wiener Kongreß nicht kritischer gegenüberstand: Ascher sah dort durch die Verhandlungen und Vertragswerke der Regierungen das Rechtsprinzip in Anwendung und war zudem von der politischen Nüchternheit der Diplomatie in Abgrenzung zum »Mystizismus in der deutschen Nationalbewegung« angetan. Hubmann, Ascher (wie Anm. 41), S. 385. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 247. Ebd., S. 253. Ascher erkennt freilich auch, daß der traditionelle Antijudaismus durch die Deutschtumsverehrer instrumentalisiert wird, um die »Menge« für ihre Lehre einzunehmen: Das »Feuer der Begeisterung«, so Ascher, benötigt Brennstoff, »und in dem Häuflein Juden wollten unsere Germanomanen [Herv. i. O.] das erste Bündel Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hinlegen«. Ebd., S. 200f.
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schritt«74 in der »Wissenschaft des Judenhasses«75, den Ascher schon in Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die Französische Revolution (1793) diagnostiziert hatte, sieht der Publizist durch die napoleonische Besetzung weiter forciert. Weil die »intellektuellen Tonangeber und Identitätsphilosophen«76 im Gefolge der antifranzösischen Propaganda die »Einheit und Einigkeit des Volkes«77 mit der »Einheit und Einigkeit in der Religion«78 unauflöslich verbunden haben, finden sie nun »vorzüglich in den Juden ein[en] Gegensatz«79 zu ihrer nationalen Lehre: »Die Juden, heißt es, sind weder Deutsche noch Christen, folglich können sie nie Deutsche werden. Sie sind als Juden der Deutschheit entgegengesetzt, folglich dürfen sie die Christen nicht als ihresgleichen aufnehmen und können sie unter ihnen höchstens mit der Einschränkung geduldet werden, [...] sie treten der Deutschheit nicht in den Weg.«80 Ascher dagegen, der dieses Argumentationsmuster gegenüber früheren antijüdischen Ausfällen als »gefährlicher und nachdrücklicher«81 einstuft und der die »neue Gattung von Gegnern [...] mit furchtbarern Waffen als ihre Vorgänger versehen«82 sieht, insisitiert auf der Unerheblichkeit der religiösen Orientierung für die politische Welt: »Verschiedenheit der Glaubenskonfession oder der Religion ist und kann an und für sich kein Hindernis sein, um die Menschen einander, in Hinsicht ihrer politischen Lage, zu vereinigen. Das irdische Interesse läßt sich sehr leicht von dem idealen Interesse sondern.«83
3
Die Forderung nach Gleichstellung
Als logische Konsequenz aus dieser Argumentation konstruiert er auch nicht eine politische Identität des Judentums, die sich positiv auf die Entwicklung der deutschen Länder auswirken könnte. »Ich vertrete bloß den Juden, nicht die Juden, ebenso wie ich bloß den Menschen und nicht die Menschen vertreten dürfte. [...] Es herrscht im allgemeinen der Wahn, daß in den Juden der Jude überhaupt enthalten sei, [...] denn man hält sie für ein Ganzes, für einen Leviathan«84, schreibt Ascher, der diesem »Wahn« jedoch eben gerade nicht damit begegnen will, daß er das Judentum mit positiven Stereotypen belegt 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
84
Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 199. Ebd. Ebd. Ebd.; Herv. i. O. Ebd., S. 200. Ebd. Ebd., S. 42. Ebd., S. 266. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Best, Judenbilder (wie Anm. 15), S. 197, die Ascher für den einzigen deutsch-jüdischen Autor seiner Zeit hält, der die »neue Dimension des säkularen Judenhasses« erkannt hätte. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 256. Herv. i. O.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
und somit womöglich die Vorstellung eines jüdischen Kollektivindividuums aufrecht erhält. Der Aufklärer begnügt sich vielmehr mit der lapidaren Feststellung, daß Juden »Menschen« seien, »angetan mit allen den Tugenden und Lastern, die der Himmel in den Busen der ganzen Gattung verpflanzt«85. Gleichwohl müssen die Menschen jüdischen Glaubens – wie alle anderen Bürger auch – über die Möglichkeit verfügen, ihre Potentiale in die Gesellschaft einbringen zu können. Ihre Gleichwertigkeit mit den Bürgern anderer Konfessionen erweist Ascher unter anderem aus den Befreiungskriegen, wobei er sich in diesem Punkt gegen den Vorwurf von Friedrich Rühs verwahrt, er hätte die für die deutschen Länder erfolgreichen Kriege der Jahre 1812 bis 1814 mit der Teilnahme jüdischer Kriegsfreiwilliger in Verbindung gebracht: »Ich sage also nicht, daß bloß weil die Juden mitgefochten, der Sieg für die Deutschen ausfiel, sondern ich zeige gegen Rühs: daß, wenn auch Juden neben Deutschen fechten, die letztern auch siegen können.«86 Wie die Befreiungskriege zeigen, schadet eine Integration der jüdischen Minderheit in den Staat der Mehrheitsgesellschaft keineswegs; wenn man Juden von allen Rechten »ausschließt«87, so Ascher, setzt man dagegen »ihre Pflichten auf die höchste Probe«88: »Die Billigkeit [...] erfoderte es längst, daß der Jude nicht bloß toleriert, sondern aller Rechte eines Staatsbürgers teilhaftig werde«89, schreibt der »Vernunftdoktor«90 in seiner 1794 unter dem Titel Eisenmenger der Zweite erschienenen Polemik gegen Fichte. Ascher ist in diesem Punkt zu Kompromissen nicht bereit; das wird insbesondere in seiner Schrift Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1788) deutlich, in der er das von Kaiser Joseph II. erlassene Toleranzedikt (1782) kritisiert. In kritischer Abgrenzung zu anderen jüdischen Schriftstellern wie etwa Moses Mendelssohn,91 die das Edikt ausdrücklich begrüßt hatten, verweist Ascher in diesem Text darauf, daß es nur wenige Erleichterungen gebracht habe und Juden nach wie vor die meisten Rechte vorenthalten werden.92 85 86 87 88 89 90
91
92
Ebd. Ebd., S. 258; Herv. i. O. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 30. So Heinrich Heine über Ascher in seiner 1826 erschienenen Schrift Die Harzreise. Vgl. Heinrich Heine: Werke in vier Bänden. Zweiter Band: Reisebilder, Erzählende Prosa, Aufsätze. Hg. von Wolfgang Preisendanz. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1994 (Insel-Taschenbuch; 1628), S. 89–148, hier S. 111. Vgl. Klaus L. Berghahn: Der Jude als der Andere. Das Zeitalter der Toleranz und die Judenfrage. In: Jüdische Intelligenz in Deutschland. Hg. von Jost Hermand und Gerd Mattenklott. Hamburg: Argument-Verlag 1988 (Literatur im historischen Prozeß; 19), S. 28. Klaus L. Berghahn faßt die Erleichterungen, die das Toleranzedikt brachte, wie folgt zusammen: »Das Judenpatent hob zahlreiche demütigende Beschränkungen auf, wie Ghettozwang, Leibzoll, Judenstern, Ausgehverbot an Feiertagen. Den Juden wurde es erlaubt, sich in der Landwirtschaft und in Handwerken zu betätigen, Handelsbe-
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Solange den Juden nicht die volle staatsbürgerliche Anerkennung zugesprochen wird, schreibt Ascher in seinem publizistischen Debüt, dürfen sie auch nicht zum Militärdienst herangezogen werden – der junge Buchhändler hatte erkannt, daß es Joseph II. – »der immer diejenigen Pl[ä]ne vorzieht, die ihm am nächsten seinen Zweck erreichen helfen«93, wie Ascher pointiert konstatiert – vor allem darum gegangen war, durch das Toleranzedikt für den Krieg Österreichs gegen die Türkei auch jüdische Soldaten zu rekrutieren. Deshalb verurteilt er den »Schritt des Kaisers«94 als »unbillig, nachtheilig und zwecklos«95. In Anlehnung an Dohm verweist auch Ascher darauf, daß die »angeblich spezifischen jüdischen Charaktereigenschaften weder religiös bedingt noch auf irgendeine natürliche Anlage«96 zurückzuführen sind, sondern vielmehr als Resultat einer jahrhundertelangen Diskriminierung und Diffamierung verstanden werden müssen: »Unterdrückung zeugt Kleinmüthigkeit des Geistes; Verachtung unterdrückt jeden Keim von Sittlichkeit und Bildung; Verfolgung einen jeden Keim von Moralität. Keine Nation ward mehr verfolgt, verachtet und unterdrückt, als die jüdische.«97 Eine so tiefgreifende Pflicht wie der Militärdienst kann der Kaiser den Juden nur abverlangen, wenn er ihnen »die Rechte seiner andern Unterthanen«98 zugesteht und die Sondergesetzgebungen gänzlich fallen. Nur dann werden sich die Juden mit ihrem Gemeinwesen identifizieren und im Kriegsfall nützlich sein können: Das Volk, so Ascher, opfert sich unter dem Losungswort des Vaterlandes nämlich nicht für seinen Monarchen, »sondern für die Rechte, die es mit seinem Monarchen zu theilen glaubt«99. Einen solchen Verfassungspatriotismus kann die unterdrückte jüdische Minderheit jedoch noch immer nicht entwickeln, da sie »im politischen Staate isolirt«100 ist: »Patriotismus – Vaterland – wie wenig kennt der Jude den Werth, den diese Worte in dem Munde eines jeden Bürgers des Staats haben,
93 94 95 96 97 98 99 100
schränkungen wurden aufgehoben, sie konnten eigene Schulen errichten oder die Kinder in christliche Schulen schicken, ja sie konnten sogar christliche Diener anstellen oder als ›Honoratioren‹ einen Säbel tragen.« Allerdings, so Berghahn weiter, dürfen die Juden auch nach 1782 »keine Gemeinden gründen und keine Synagogen bauen, Zuwanderungsbeschränkungen (vor allem für Ostjuden) bleiben bestehen, die Meisterzünfte schließen sie aus und im Handel und Wandel mit christlichen Bürgern müssen sie sich der Landessprache bedienen (also Deutsch statt Jiddisch). Die Begünstigungen kamen zumeist den reichen Juden zugute, die Beschränkungen betrafen weitgehend die armen Vettern im Osten. So trieb das Toleranzedikt einen Keil in die jüdische Nation«. Ebd., S. 28f. Ascher, Anmerkungen (wie Anm. 33), S. 71. Ebd., S. 19. Ebd; vgl. hierzu Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 139–141. Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 140. Ascher, Anmerkungen (wie Anm. 33), S. 63. Ebd., S. 29. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26.
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wie wenig wirken sie auf ihn!«101 Der Jude, so Ascher, hat kein »Vaterland«102, weil er nirgendwo die »Rechte der Menschheit«103 genießt, die er besitzen müßte, »um das Gefühl für jene Worte [also »Patriotismus« und »Vaterland«, M. P.] ausschliessend in seinem Herzen zu tragen«104.
4
Zwei Formen jüdischer Identität
Ascher fordert also von der christlichen Mehrheitsgesellschaft das Ende der Diskriminierung seiner Glaubensgenossen ein, aber er postuliert andererseits auch einen innerjüdischen Reformprozeß; er ist in diesem Zusammenhang dazu bereit, jene Traditionsbestände der Halacha und der Tora über Bord zu werfen, die dem Eintritt der jüdischen Minderheit in die bürgerliche Gesellschaft potentiell verhindern könnten. In seiner frühen Schrift Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums (1792) rechnet er eben diese Traditionsbestände der jüdischen Orthodoxie zu und entwickelt als Alternative hierzu ein gewandeltes Judentum, das seine religiöse Identität in 14 Glaubenssätzen findet, darunter zum Beispiel die Existenz Gottes, die Offenbarung der Tora an Israel am Sinai oder das Prinzip der Vergeltung von Gut und Böse nach dem Tode.105 Den 14 Artikeln, die Ascher als »Organon des Judentums«106 bezeichnet, ist gemeinsam, daß sie die öffentliche und ökonomische Sphäre nicht tangieren und mithin das Emanzipationsverlangen der jüdischen Minderheit nicht gefährden; die von den Emanzipationsgegnern immer wieder in die Diskussion eingebrachten jüdischen Speisegesetze oder das Verbot der Mischehe107 spielen in Aschers reformiertem Judentum keine Rolle mehr. Es kann Gott nicht darum gegangen sein, mittels seiner Offenbarung die Autonomie der Juden »ewig zu stöhren«108, erklärt Ascher, der der Halacha eine historische Funktion zuweist, indem er ihre Bedeutsamkeit für die Herausbildung des Judentums unterstreicht. Nun aber muß das »einstmalige[] Erziehungsmittel«109, das keine überzeitliche normative Funktion beanspruchen kann, den »Bedingungen der 101 102 103 104 105 106 107
108 109
Ebd., S. 25f. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd. Vgl. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 72 bzw. 166. Saul Ascher: Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums. Berlin 1792. S. 237f. Hier zit. n. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 72. Harm-Hinrich Brandt: Vom aufgeklärten Absolutismus bis zur Reichsgründung: Der mühsame Weg der Emanzipation. In: Geschichte und Kultur des Judentums. Hg. von Karlheinz Müller und Klaus Wittstadt. Würzburg: Schöningh 1988 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg; 38), S. 189. Saul Ascher: Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums. Berlin 1792, S. 229. Zit. n. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 166. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 71.
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Moderne«110 angepaßt werden. »Nicht mehr Gott und seine Gebote leiten unveränderlich die Geschicke des jüdischen Volkes, sondern dieses bestimmt durch Annahme, aber auch Änderung der Gebote, autonom seine Geschicke.«111 Ascher geht also nicht so weit, das Judentum gänzlich dem Emanzipationsbegehren zu opfern; er ist vielmehr davon überzeugt, daß das »Bestreben aller religiösen Zünfte«112 darin liegt, »die in ihren Offenbarungen verhüllten Wahrheiten der immer sich mehr entwickelnden Sittlichkeit näherzubringen«113 und er sieht darin »das einzige Mittel [...], den großen Bund der Menschheit in seiner Glorie herzustellen«114. Deshalb entwirft er im Einklang mit dem Theologischen Rationalismus der Aufklärung einen jüdischen Glauben, der die moralische Integrität des Privatmenschen zu bewahren hilft, ohne die gesellschaftlichen Verpflichtungen des Bürgers zu gefährden. »Der Maskil im Sinne Aschers hält an einem privaten, konfessionalisierten Judentum als Glaubensreligion ohne allzu störende religiöse, moralische und juristische Gebote der Halacha fest, während er in der aufgeklärten, bürgerlichen Öffentlichkeit als autonomes, moralisches und ökonomisches Subjekt sowie als gleichberechtigter Staatsbürger agieren kann.«115 Wie Christoph Schulte in seiner glänzenden Untersuchung über Die jüdische Aufklärung zeigen konnte, besteht der entscheidende Schachzug in Aschers Argumentationsstrategie indes darin, daß nicht nur das »Organon des Judentums« als Erfindung des Spätaufklärers zu gelten hat, sondern auch sein Begriff der »jüdischen Orthodoxie«. Ein orthodoxer Jude ist nach Ascher ein Jude, »der sich jeder Veränderung oder Reform des traditionellen, halachischen Judentums widersetzt«116. Mit dieser Definition erreicht Ascher ein Dreifaches: Zum einen subsumiert er jene divergierenden Strömungen, die an den 613 Mizwot – den Geboten und Verboten der Halacha – festhalten wollen, unter einem Oberbegriff und nivelliert damit die tatsächlichen Unterschiede und Rivalitäten innerhalb dieser von ihm als »orthodox« klassifizierten Juden.117 Zum zweiten raubt er diesem auf diese Weise »wider besseres Wissen«118 als homogene Gruppe konstruierten halachischen Judentum seinen »Monopolanspruch [...], allein das einzig ›wahre‹ Judentum 110 111
112 113 114 115 116 117 118
Ebd. Ebd., S. 195. Ascher differenzierte mithin zwischen dem Wesen des Judentums und der Form der Religionsausübung. Das Wesen des Judentums besteht eben nicht in den Gesetzen, auf denen die Orthodoxie insistiert. Vgl. Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 142. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 70. Ebd. Ebd. Schulte, Die jüdische Aufklärung (wie Anm. 16), S. 71. Ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 196. Auch die Maskilim sind freilich nicht als religiös und politisch einheitliche Gruppe zu begreifen. Ebd.
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zu repräsentieren«119. Zum dritten kann er im Schattenriß des orthodoxen Judentums einen Begriff des Reformjudentums entwickeln, der mit den Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft kompatibel ist und dennoch über die reine Negation der rabbinischen Traditionen hinausgeht. »Weder will Ascher die politische und soziale Gleichberechtigung erreichen auf Kosten der kompletten religiösen Selbstaufgabe, noch will er für die strikte Obersevanz gegenüber der Halacha den Preis der kulturellen und sozialen Selbst-Ghettoisierung und politischen Impotenz der Juden zahlen.«120 Deshalb insistiert er darauf, daß es verschiedene »legitime Form[en] des Judeseins«121 gebe und veranschaulicht dies »mit systematischer, konzeptioneller und ideologischer Absicht«122 durch die Erfindung der jüdischen Orthodoxie und der jüdischen Reformwilligen als zweier »distinkte[r] und alternative[r] politische[r], soziale[r] und religiöse[r] Gruppen im Judentum«123. Wie nun zu zeigen sein wird, entwirft Ascher jedoch nicht nur zwei Verständnisse von jüdischer Identität, sondern er versucht auch in Abgrenzung von den nationalen Vorstellungen eines Arndt oder Fichte ein alternatives Modell des »Deutschen« zu entwickeln.
5
Eine deutsche Utopie
In seiner Schrift Die Germanomanie (1815) wendet sich Ascher aus einer kosmopolitischen Perspektive heraus – wie bereits gezeigt – gegen die Versuche der Politischen Romantik, »die Menschen [...] in Stämme und Rassen ein[zu]teilen«124 beziehungsweise den »Deutschen ein Wohlgefallen an sich selbst [...] aufzudringen«125. Nicht nur, daß Ascher das nationale Denken als gefährliches Hindernis für den »Fortschritt des menschlichen Geistes«126 ansieht; er hält es auch in den deutschen Ländern für vollkommen unangebracht, weil hier »[d]ie Verschiedenheit der Religion, der Verfassung und der Interessen der deutschen Staaten sowohl untereinander als gegen die auswärtigen Mächte, welche letztere durch die Lage oder die Nachbarschaft mit Deutschland bestimmt werden, [...] es für immer verhindern [werden], Deutschland zu einem politischen Körper umzubilden«127. Auch später noch, in den Schriften Idee einer Preßfreiheit und Censurordnung (1818) und Europas politischer und ethischer Zustand seit dem Congress von Aachen (1820), wendet sich Ascher dezidiert gegen die Idee eines deutschen Einheitsstaates. 119 120 121 122 123 124 125 126 127
Ebd., S. 192. Ebd., S. 192. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 214. Ebd., S. 216. Ebd., S. 214. Ebd., S. 208. Herv. i. O.
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Während in dem Text über den Kongreß von Aachen, auf dem 1818 auch Frankreich der Heiligen Allianz beigetreten war, wieder realpolitische Hindernisse angeführt werden – die Differenzen zwischen norddeutschen sowie süddeutschen Ländern und das Veto der anderen europäischen Mächte, so Aschers Argumentation, würden eine deutsche Einigung ohnehin nicht zulassen –,128 verweist Ascher in der früheren Schrift darauf, daß die Vielstaaterei nicht notwendig ein Nachteil sein muß:129 »Es ist dies kein Gebrechen für das deutsche Volk. Es ist nicht entschieden, daß es eins und ungetheilt glücklicher sein dürfte, als es jetzt in seinem poliarchischen Zustande ist«130, hält er den »politischen Einheitsbestrebungen der Deutschtumsfanatiker«131 entgegen. In der Abhandlung Die Wartburgfeier (1818) dagegen entwirft Ascher durchaus eine nationale Mission für »Deutschland«, auch wenn er hier nicht die Frage der realpolitischen Möglichkeit oder der Wünschbarkeit einer deutschen Einheit diskutiert. Indes bringt Ascher in dieser Schrift den »Mythos der guten Nation«132 gegen die romantische Intoleranz in Stellung. Für die »Deutschtümler«133 ist »Haß gegen alle Ausländer«134 demnach »die erste Tugend eines Deutschen«135. Ascher zufolge steht »Deutschland«136 indes keineswegs – wie es die Protagonisten der Wartburgfeier zu wünschen scheinen – »in Oppositionsstand mit allen Staaten, Nationen und Sprachen«137. Vielmehr hat »die Natur Deutschland zum Muster aufgestellt«138 um zu zeigen, »wie eine Nation trotz der verschiedenen Glaubensinteressen bestehen könne und daß diese Nation dazu bestimmt ist, in ihrer Betriebsamkeit eine Erscheinung aufzustellen, die keine ande128
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Ascher, Congreß (wie Anm. 43), vor allem S. 27–37 verweist auf das Gleichgewicht des Völkerbundes: »Die Idee der deutschen Carbonari’s ihr Vaterland zu einem abgerundeten Reich unter einem Souverain zu erheben, gehört also, berücksichtigt man die zeitige Lage von Europa und die unter den Regierungen bestehenden Verbindungen, zu den politischen Träumen an denen Deutschlands politische Enthusiasten überreich sind.« Ebd., S. 35. Vgl. hierzu Hacks, Ascher gegen Jahn (wie Anm. 31), S. 77–81. Vgl. hierzu Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 172–174. Saul Ascher: Idee einer Preßfreiheit und Censurordnung. Den hohen Mitgliedern des Bundestages vorgelegt. Leipzig: Achenwall 1818, S. 21. Die sprachliche Gemeinsamkeit der deutschen Teilstaaten ist nach Ascher kein Indiz für ihre politische Zusammengehörigkeit: »Allein die Sprache ist auch nicht immer dasjenige, was die Menschen bloß bindet«. Ebd., S. 19. Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 174. Vgl. Dirk Richter: Der Mythos der »guten« Nation. Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund eines folgenschweren Mißverständnisses. In: Soziale Welt 45 (1994), S. 304–321. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 251. Ebd. Ebd. Ebd., S. 264. Ebd. Ebd., S. 267.
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re uns darbietet, nämlich: daß der herrschende Glaube sich in die Verhältnisse der Menschen fügen kann und soll«139. Gerade das Nebeneinander verschiedener Konfessionen sorgt dafür, daß »[i]n Deutschlands Organismus [...] die Keime der Ideen von Duldung, Kosmopolitismus und Universalität des Wissens«140 bereits angelegt sind. In Aschers Konstruktion wird »Deutschland« auf diese Weise zur Wiege aufklärerischer Ideale. »Toleranz, Weltbürgersinn und Geistesbildung«141 nehmen hier ihren Anfang, und in diesen »drei Hauptideen«142 erkennt Ascher den »fortlaufenden Faden in dem Gang der untereinander und nebeneinander entstandenen Erscheinungen und Begebenheiten in Deutschland«143. Mit diesen Überlegungen knüpft Ascher an das nationale Denken der Frühromantik an; immerhin hatten auch Novalis und die Schlegel-Brüder den Kosmopolitismus als dezidiert deutsche Tugend verstanden. War es den Romantikern jedoch darum gegangen, das partikulare Denken durch die Annexion des überkommenen Weltbürgersinns aufzuwerten,144 intendiert Ascher mit diesem Schachzug das genaue Gegenteil. Der Autor, dessen Schrift Die Germanomanie im Rahmen des Wartburgfestes den Flammen zum Opfer gefallen war und dem nicht nur deshalb die aggressive Kehrseite des nationalen Denkens schmerzlich bewußt geworden war,145 will am Ende seines Lebens die »Deutschland«-Idee über ihren Wiederanschluß an das aufgeklärte Gedankengut gleichsam domestizieren. Diese umgekehrte Stoßrichtung wird durch eine Berücksichtigung von Aschers »ideologische[m] und politische[m] Vermächtnis«146, der Abhandlung Der deutsche Geistesaristokratismus, noch deutlicher: In diesem 1819 erschienenen Text sieht Ascher Deutschlands weltgeschichtliche Aufgabe erneut in der Verbreitung kosmopolitischer Ideale – und zwar bis zur letzten Konsequenz, nämlich der »Auflösung aller Nationalität«147. Deutschland kann – so eine der »Lieblingsansichten«148 Aschers – gerade wegen seiner »schwanken139 140 141 142 143 144
145
146 147 148
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 268. Ebd. Vgl. noch einmal Wulf Wülfing: »Nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher«. Einige Bemerkungen zu Verwendungsweisen des Ausdrucks »deutsch« in der deutschsprachigen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 94 (1994), S. 114–116. Vgl. Theodor Verweyen: Bücherverbrennungen. Eine Vorlesung aus Anlaß des 65. Jahrestages der »Aktion wider den undeutschen Geist«. Heidelberg: Winter 2000 (Beihefte zum Euphorion; 37), S. 138–144. Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 176. Ascher, Geistesaristokratismus (wie Anm. 63), S. 50. Ebd.
II Saul Ascher und der Traum der Vernunft
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den Nationalität«149 als »Hebel und Mittel«150 zu dieser Auflösung dienen und mithin die verhängnisvollen sowie engstirnigen nationale Differenzen unter der »Aegide des Kosmopolitismus«151 harmonisieren.152 Wie die Romantiker sieht auch Ascher in dem »Hang zur Ausländerei«153 einen deutschen Charakterzug; für ihn ist diese Tendenz jedoch nicht verwerflich und sie hat auch nicht ihren Sinn darin, sich das Fremde – gemäß der frühromantischen Argumentation – einzuverleiben. Diese Präferenz für das Fremde, die keinesfalls unterdrückt werden darf, resultiert vielmehr aus der für Ascher spezifisch deutschen »Universalität«154, die dazu prädestiniert ist, den anderen Nationen ein Vorbild für den Kosmopolitismus zu geben und dadurch die »Nationaleigenthümlichkeiten«155 allmählich verschwinden zu lassen. Dieses Modell einer Nation, die im Einklang mit der »Würde der gesetzgebenden Vernunft«156 auf das Ende der Nationalismen hinarbeitet, entwickelt Ascher gerade in der Schrift über den Geistesaristokratismus als klare Alternative zu jenen »Floskeln«157 über den »heilige[n] Glaube[n], de[n] geweihete[n] Boden und die Sitte der Urvordern«158, durch die der »Spielraum der Gefühle auf einen beengten Kreis«159 reduziert wird und die »der Entwickelung der Idee einer Menschheit [...] im Wege«160 stehen. Christoph Schulte hat gezeigt, daß der junge Ascher das Modell einer »jüdischen Orthodoxie« entwirft, um den nicht-reformwilligen Richtungen innerhalb des Judentums das Monopol über die Definition der jüdischen Identität zu nehmen. Am Ende seines Lebens nun geht es Ascher darum, daß nicht Autoren wie Ernst Moritz Arndt oder Henrik Steffens161 über die Beschaffenheit einer deutschen Identität befinden – dem »deutschen Volk«162, so Ascher explizit, 149 150 151 152
153 154 155 156 157 158 159 160 161
162
Ebd. Ebd. Ebd., S. 53. Auch in seiner Zuschrift an den Herrn Professor E. M. Arndt (1819) bezeichnet es Arndt als »ehrenvolle Bestimmung« der Deutschen, daß sie kraft ihres kosmopolitischen Grundcharakters auch die »Nationaleigenthümlichkeit[en]« der anderen Nationen verwischen könnten, indem sie für das »Ideale und Allgemeine« ein Vorbild abgeben. Saul Ascher: Zuschrift an den Herrn Professor E. M. Arndt. In: Der Falke. Eine Viertelsjahresschrift. Der Politik und Literatur gewidmet 2 (1819), H. 3, S. 425. Ebd., S. 426. Ebd., S. 425. Ebd. Ascher, Geistesaristokratismus (wie Anm. 63), S. 52. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 51. Zu Aschers Auseinandersetzung mit Steffens vgl. vor allem Saul Ascher: Merkwürdiges Schisma im Kreise der Deutschthumsverehrer. In: Der Falke. Eine Viertelsjahresschrift. Der Politik und Literatur gewidmet 1 (1818), H. 4, S. 563–576. Ascher, Geistesaristokratismus (wie Anm. 63), S. 41.
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soll keineswegs »eine Richtung aufgedrungen werden [...], wie die Verehrer des Deutschthums beabsichtigen«163. Deshalb erfindet er auch hier mit seiner Konstruktion eines »deutschen Volkes«, das als das »vernunftreichste«164 anzusehen ist und das im Sinne eines aufgeklärten Weltbürgertums um die Aufgabe seiner eigene Partikularität bemüht ist, eine Alternative zu den Vorstellungen seiner politischen Gegner. In diesem Kontext gelangt der »ungewöhnliche[] Mann«165 zu einer seiner optimistischsten Schlußfolgerungen. Die deutschtümelnden Geistesaristokraten hätten zwar im Rahmen der Befreiungskriege kurzzeitig mit der einfachen Bevölkerung eine Allianz gebildet, weil sie sich als »die Haupttriebfedern der Deutschland errungenen Freiheit zu achten berufen glaubten«166; insgesamt aber, so Ascher, hat ihr Versuch, sich mit dem Volk »zu familiarisiren [...] keinen bedeutenden Erfolg gesehen«167. Die für die Verhältnisse in den deutschen Teilstaaten nach Ascher typische »schroffe Scheidewand zwischen dem Wissen und dem Leben«168 ließ auch jene »Nationalität«169, die von Universitätsprofessoren wie Friedrich Rühs oder Ernst Moritz Arndt gepredigt wurde, einen »Fremdling im Volke«170 bleiben. Die einfache Bevölkerung bleibt demnach für die »deutsche Theokratie«171 der Politischen Romantik unempfänglich. Ascher, der zu Beginn seiner Laufbahn im Vertrauen auf die Macht der »gesunde[n] Vernunft«172 mit seiner Schrift Eisenmenger der Zweite (1794) als »Autodidaktos [....] gegen einen Professor der Philosophie [nämlich Fichte, M. P.] auf[ge]treten«173 war, scheint auch am Ende seines Lebens noch fest daran zu glauben, daß sich eben diese »gesunde Vernunft« gegen die Phantasien der Deutschtümler wird behaupten können. Die einfache Bevölkerung, so Aschers Überzeugung, kann die Vergangenheitsbezogenheit einer Nationenkonzeption nicht akzeptieren, die ihr das »aus altdeutschen Reliquien zusammengesetzte[] Bild [...] als Urform aufdringen«174 will; sie wird sich nicht »von dem Glauben bestechen [lassen], [...] das auserlesene Volk«175 darzustellen; und sie wird auch die antisemitischen Implikationen dieser Vorstellung eines »Deutschtums« nicht teilen: »[E]rzählt ihnen nur Legenden von dem ewigen Juden, dem Antichrist, der Wirksamkeit 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175
Ebd. Ebd., S. 67. M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 140. Ascher, Geistesaristokratismus (wie Anm. 63), S. 29. Ebd., S. 49. Ebd., S. 20. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 26. Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 23. Ebd., S. 9. Ascher, Geistesaristokratismus (wie Anm. 63), S. 35f. Ebd., S. 34.
II Saul Ascher und der Traum der Vernunft
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des Kreuzes und der Macht des Glaubens. Man wird euch mit stieren Blicken und stummen Staunen angaffen [...].«176 Im gleichen Jahr, als sich Aschers anthropologischer Optimismus mit diesen Thesen in seiner Schrift über den deutschen »Geistesaristokratismus« noch einmal Bahn brach,177 sah sich die jüdische Minderheit erstmals seit dem Mittelalter wieder nicht nur »in einzelnen Orten oder bestimmten Landstrichen, sondern allgemein Verfolgungen ausgesetzt«178; die als »Hep-Hep-Krawalle« in die Geschichte eingegangenen antijüdischen Ausschreitungen von 1819 belegen, daß die »literarische[] Agitation«179 der nationalgesinnten Autoren wirkungsmächtiger war, als sich dies der das Prinzip Aufklärung vertrauende Doktor Saul Ascher vielleicht vorstellen mochte.180 176 177
178
179 180
Ebd., S. 32. Bezeichnend für diesen Optimismus ist auch ein Brief, den Saul Ascher am 1. Februar 1818 an den später vom national gesinnten Studenten Carl Ludwig Sand ermordeten August von Kotzebue richtet. Hier belustigt sich Ascher über die »echten Gemanen« wie Jahn oder Arndt und spricht davon, daß »der berühmte Rühs in der Haltung eines siegreichen Apostel des Glaubens« doch nur über ein »kleine[s] Häuflein« von Anhängern verfüge. Ascher erkennt die Gefahr hellsichtig, marginalisiert sie aber. Der Brief ist abgedruckt in: August von Kotzebue. Urtheile der Zeitgenossen und der Gegenwart. Hg. von Wilhelm von Kotzebue. Dresden: Baensch 1881, S. 164f., Zitate ebd. Stefan Rohrbacher: Deutsche Revolution und antijüdische Gewalt. In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Ein Tagungsband des Salomon-LudwigSteinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Hg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 30, Herv. i. O. Ebd., S. 33. Stefan Rohrbacher hat die These, daß die Juden angesichts allgemeiner Übel der Zeit lediglich ein zufälliges Ersatzziel der Aggressionen darstellten, mit guten Gründen relativiert; unter anderem verweist Rohrbacher darauf, daß gerade für Würzburg, den ersten Ort des Ausbruchs der Krawalle, nicht von einer ökonomischen Krise gesprochen werden kann, die sich an den Juden hätte entladen müssen. »Wenn sich die Krawalle gegen die Juden richteten, so offenbar nicht, weil hier eine Aggressions- und Wahrnehmungsverschiebung wirksam geworden wäre, sondern weil die Juden gemeint waren; und so haben wir unseren Blick von den allgemein-gesellschaftlichen, sozialen und politischen Krisen und Friktionen der Zeit auf die spezifischen Konflikte zwischen Bevölkerungsmehrheit und jüdischer Minderheit zu lenken. Und hier ist nun in erster Linie auf die [...] aggressive literarische Agitation einzugehen, die sich aus einer romantisch-nationalen, christlichgermanischen, gegen Aufklärung und Naturrecht gerichteten Zeitströmung speiste und gerade in ihrem gegen die Juden zielenden Strang deutlich angeschwollen war.« Vgl. ebd., S. 35–37, Zitat S. 37. Vgl. hierzu auch Stefan Rohrbacher: Die »Hep-Hep-Krawalle« und der »Ritualmord« des Jahres 1819 zu Dormagen. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hg. von Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin: Wissenschaftlicher AutorenVerlag 1987, S. 135–147.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
III
Börne, Wolf, Salomon und die Mission des Judentums
1
»Lehrer des Kosmopolitismus«
Ascher hatte sich noch ausdrücklich dagegen verwahrt, »[s]einen Glaubensgenossen eine höhere und vorzüglichere Bestimmung im Kreise der Wesen aus[zu]ersehen«181 – ein Autor, als dessen »geistiger und politischer Vorläufer«182 Ascher nach der Einschätzung Walter Grabs anzusehen ist, setzt hier elf Jahre nach dem Tode des 1822 gestorbenen »Vernunftdoktors« bereits andere Akzente. Im 103. seiner Briefe aus Paris183 (1832/34) erklärt Ludwig Börne die Juden zu »Lehrern des Kosmopolitismus«184 und »die ganze Welt« zu »ihre[r] Schule«185: »Und weil sie die Lehrer des Kosmopolitismus sind, sind sie auch Apostel der Freiheit. Keine Freiheit ist möglich, solang es Nationen gibt.«186 Hier wird den Juden also jene Aufgabe überantwortet, die Ascher noch den Deutschen zugeteilt hatte: Kraft ihrer Universalität sollen sie im Namen der allgemeinen Freiheit die Völker lehren, über nationale Differenzen hinwegzusehen und nicht durch eine falsche Vaterlandsliebe zum Spielball der Obrigkeiten zu werden. Wenn Börne in dem zitierten »Brief« nämlich an die Deutschen und die Franzosen appeliert, sich nicht länger »zum wahnsinnigen Patriotismus entflammen«187 zu lassen, dann ist das seiner Erkenntnis geschuldet, daß die jeweiligen Regierungen nationale Feindseligkeiten für ihre Zwecke instrumentalisieren: »Die Könige werden Brüder bleiben und verbündet gegen die Völker, solange ein törichter Haß diese auseinanderhält. [...] Weil man euere Vereinigung fürchtet, soll wechselseitiges Mißtrauen euch ewig getrennt halten. Was sie als Vaterlandsliebe preisen, ist die Quelle eures Verderbens.«188 Diesen törichten Haß zu überwinden und die Vereinigung der Völker zu bewerkstelligen, muß in diesem Konzept als die geschichtsphilosophische Sendung des Judentums verstanden werden, dessen »Nationalität [...] auf eine schöne und beneidenswerte Art zugrunde gegangen [ist]; sie ist zur Universalität geworden«189.
181
182 183 184 185 186 187 188 189
Ascher, Flugschriften (wie Anm. 31), S. 228. Zum Aufklärer Ascher vgl. auch: Saul Ascher: Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen. Neudruck der Ausgabe 1802, hg. von Jörn Garber. Kronberg/Taunus: Scriptor 1975 (Scriptor Reprints: Aufklärung und Revolution. Deutsche Texte 1790–1810). Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 134. Vgl. Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Dritter Band. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 753–759. Ebd., S. 758. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
III Börne, Wolf, Salomon und die Mission des Judentums
459
Wohlgemerkt: Dieses Plädoyer für den Kosmopolitismus und die in der Forschung obligatorische Rede vom »Weltbürger«190 Ludwig Börne und seiner Rolle als Galionsfigur des mehrheitlich übernational eingestellten und der Romantik ablehnend gegenüberstehenden Jungen Deutschland dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch im politischen Denken Börnes nationale Konstruktionen eine wesentliche Rolle spielen. Wie insbesondere Hans Wisskirchen191 gezeigt hat, partizipiert Börne hier ganz entscheidend an Prämissen 190
191
Grab, Ascher (wie Anm. 36), S. 134. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang auch der Titel der sehr hilfreichen Börne-Biographie von Jasper: Keinem Vaterland geboren. (Willi Jasper: Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie. Hamburg: Hoffmann und Campe 1989.) Zu Börne als Aufklärer vgl. auch Wolfgang Labuhn: Literatur und Öffentlichkeit im Vormärz. Das Beispiel Ludwig Börne. Königstein/Taunus: Forum Academicum 1980 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft; 47); Wolfgang Labuhn: Ludwig Börne als politischer Publizist 1818–1837. In: Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Internationales Symposium. Hg. von Walter Grab und Julius H. Schoeps. Stuttgart, Bonn: BurgVerlag 1983 (Studien zur Geistesgeschichte; 3), S. 29–57; Bernhard Budde: Verwahrungen aufklärerischer Vernunft. Literarisch-publizistische Strategien in Börnes Schutzschriften für die Juden. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Hg. von Horst Denkler, Norbert O. Eke u. a. Bielefeld: Aisthesis 1999 (Forum Vormärz Forschung; 4), S. 111–140. Wie sehr die kosmopolitische Haltung dem Autor Börne nicht nur in der Germanistik der NS-Zeit, sondern auch noch darüber hinaus geschadet hat, zeigte Peter Stein, der die Börne-Rezeption anhand der Biedermeier-Studien Friedrich Sengles untersuchte: »Der Zeitschriftsteller Börne ist damals [ab 1933, M. P.], wenn auch im Schatten Heines, eine der Haßfiguren gewesen, die beworfen wurden, wenn es um Deutschlands Ehre und die Größe seiner Dichter und Denker ging. Er hat diese Rolle bei Sengle noch heute.« Peter Stein: Zur Börne-Rezeption im Dritten Reich. Friedrich Sengles Beitrag zur Judenforschung und sein Börne-Bild heute. In: »Die Kunst – eine Tochter der Zeit«: Neue Studien zu Ludwig Börne. Hg. von Inge Rippmann und Wolfgang Labuhn. Bielefeld: Aisthesis 1988, S. 73. Vgl. Hans Wisskirchen: Romantische Elemente im politischen und historischen Denken Ludwig Börnes. Romantik im Vormärz. Hg. von Burghard Dedner und Ulla Hofstaetter. Marburg 1992 (Marburger Studien zur Literatur; 4), S. 147–178. Vgl. aber auch Peter Uwe Hohendahl: Kosmopolitischer Patriotismus: Ludwig Börne und die Identität Deutschlands. In: »Die Kunst – eine Tochter der Zeit«: Neue Studien zu Ludwig Börne. Hg. von Inge Rippmann und Wolfgang Labuhn. Bielefeld: Aisthesis 1988, S. 170–200; Renate Stauf: Interkulturelle Kopfgeburten. Deutsch-französische Planspiele am Beispiel Heines und Börnes. In: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Hg. von Ruth Florack. Tübingen: Max Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 76), S. 289–303; See, Freiheit und Gemeinschaft (wie Anm. 47), S. 50–52; Dieter Lamping: »Soviel Franzose wie Deutscher«. Ludwig Börnes politischer und literarischer Internationalismus. In: Confrontations/Accommodations. German-Jewish Literary and Cultural Relations from Heine to Wassermann. Ed. by Mark H. Gelber. Tübingen: Max Niemeyer 2004 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 46), S. 83–95.
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der Politischen Romantik. Der von den naturphilosophischen Vorstellungen Henrik Steffens’, Adam Müllers Elemente[n] der Staatskunst und den politischen Schriften von Joseph Görres und Ernst Moritz Arndt geprägte Publizist192 teilt die romantische Invektive gegen den »Maschinenstaat«; in kritischer Abgrenzung von der »kleinliche[n] Tabellenkrämerei«193 der preußischen Staatsverwaltung versteht auch Börne den Staat nicht als eine »tote Masse«, sondern als einen Organismus. Diese »Idee einer organischen Gemeinschaft«194 unterstützt im Denken Börnes durchaus »unverkennbar den Gedanken einer nationalen Gemeinsamkeit, die sich sowohl politisch als auch kulturell ausdrückt«195. Daß »[e]ine jede Nation [...] ein Gemüt [hat], eine innere geistige Constitution wie die Menschen«196, ist nicht nur die Überzeugung von Henrik Steffens, sondern auch die seines Schülers Börne.197 Das Konzept der verschiedenen Nationalcharaktere wird durch Börne also keineswegs verabschiedet; allerdings sind die Konsequenzen, die er im Vergleich zu den Romantikern aus diesem Befund zieht, andere. Während Ernst Moritz Arndt etwa das »Verschiedene und Ungleiche«198 durch einen »stolze[n] und edle[n] Haß«199 getrennt sehen will, plädiert Börne dafür, die individuellen Vorzüge der Völker im Sinne des menschheitsgeschichtlichen Fortschrittes zu vereinen. Wie bei den Romantikern steht auch bei Börne das Verhältnis zwischen Frankreich und den deutschen Ländern im Vordergrund; an die Stelle der von Görres, Arndt und anderen postulierten dauerhaften Feindschaft tritt nun jedoch das Planspiel einer »europäische[n] Arbeitsteilung«200, wie es Renate Stauf formuliert. »Daß die Deutschen oder Franzosen ihren 192 193
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199 200
Vgl. Wisskirchen, Romantische Elemente (wie Anm. 191), S. 149f. In seiner Schrift Über Theorie und Praxis in der Politik (1808). In: Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Erster Band. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 106–116, hier S. 114. Hohendahl, Patriotismus (wie Anm. 191), S. 177. Ebd. Henrik Steffens: Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (1817). Zit. n. Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm. Hg. von Paul Kluckhohn. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1934 (Literarhistorische Bibliothek; 13), S. 75. Zu Steffens’ politischer Haltung vgl. Werner Abelein: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen: Max Niemeyer 1977 (Studien zur deutschen Literatur; 53). Zum Verhältnis Börnes zu Steffens auch Heidi Thomann Tewarson: Die Aufklärung im jüdischen Denken des 19. Jahrhunderts: Rahel Levin Varnhagen, Ludwig Robert, Ludwig Börne, Eduard Gans, Berthold Auerbach, Fanny Lewald. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Hg. von Horst Denkler, Norbert O. Eke u. a. Bielefeld: Aisthesis 1999 (Forum Vormärz-Forschung; 4), S. 32f. Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß. In: Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig: Reclam 1993 (Reclam-Bibliothek; 1466), S. 333. Ebd. Stauf, Kopfgeburten (wie Anm. 191), S. 294.
III Börne, Wolf, Salomon und die Mission des Judentums
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Charakter ändern könnten, scheint ihm unmöglich, für möglich und wünschenswert hält er indes, daß sie ihre positiven und negativen Eigenschaften in eine für Europa wohltätige Balance bringen könnten, indem sie sich gegenseitig ihre Kräfte leihen.«201 Die Stärken der Deutschen sieht Börne – hier folgt er den tradierten Stereotypen – auf dem Feld der Theorie, die der Franzosen im Bereich der revolutionären Tat: »In den Werkstätten der Menschheit«202, schreibt er in seiner letzten Publikation Menzel der Franzosenfresser (1836/37),203 »finden wir zwei Völker, welchen die Vorsehung die Aufgabe gemacht zu haben scheint, die Arbeiten aller andern Völker zu übersehen und zu leiten, ihnen ihr Tagwerk anzuweisen und ihren Sold auszuzahlen; es sind die Franzosen und die Deutschen. Den ersteren wurde die Leitung der praktischen Arbeiten, der Künste und Handverrichtungen, den andern die Leitung der theoretischen Arbeiten, der Wissenschaften und Spekulation, anvertraut. [...] Es ist die Aufgabe der Franzosen, das alte baufällige Gebäude der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören und abzutragen; es ist die Aufgabe der Deutschen, das neue Gebäude zu gründen und aufzuführen«204. Ein »transnationales Ordnungsmodell«205, nämlich ein friedlich geeintes Europa, fungiert zwar als Zielvorstellung dieser Überlegungen, und insofern geht es dem »beredsamen Agitator der Freiheit«206 Börne eben doch »um einen höheren Wert als um einen nationalen«207; auf dem Weg dorthin aber müssen die Länder ihre individuellen Stärken einbringen. Der »Weltbürger« Börne scheut in diesem Zusammenhang auch nicht davor zurück, die historische Rolle Frankreichs und »Deutschlands« über die der anderen Nationen zu stellen und innerhalb dieser Arbeitsgemeinschaft den deutschen Part letztlich als den konstruktiveren zu betrachten. Die Franzosen zerstören die alte Welt, die Deutschen ordnen die Zukunft: »In den Freiheitskriegen wird Frankreich immer an der Spitze der Völker stehen; aber auf dem künftigen Friedenskongresse, wo sich alle Völker Europens versammeln werden, wird Deutschland 201 202 203
204 205 206
207
Ebd., S. 295. Börne, Schriften III (wie Anm. 183), S. 904. Vgl. ebd., S. 871–984. Menzel der Franzosenfresser gilt in der Forschung als Börnes »reifstes Werk« [Tewarson, Die Aufklärung (wie Anm. 197), S. 34], als eine »überlegt vorgetragene Abrechnung mit den Gegnern in Deutschland« [Labuhn, Börne als politischer Publizist (wie Anm. 190), S. 54] und als ein Text, dem »nicht zu Unrecht Vermächtnischarakter« [Budde, Verwahrungen (wie Anm. 190), S. 139] zugeschrieben worden sei. Börne übersetzt in der Auseinandersetzung mit dem antisemitisch und chauvinistisch eingestellten Literaturkritiker Alexander Menzel auch Artikel, die zuvor in der französischen Zeitschrift La Balance (1836) erschienen waren. Ebd., S. 904f. Stauf, Kopfgeburten (wie Anm. 191), S. 301. Walter Hinderer: Ludwig Börne. In: Deutsche Dichter. Band 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1989 (Reclams Universal-Bibliothek; 8615), S. 255. Budde, Verwahrungen (wie Anm. 190), S. 128.
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den Vorsitz führen.«208 Aus den unterschiedlichen »Gemüte[rn]«209 resultieren unterschiedliche weltgeschichtliche Aufgaben für die einzelnen Nationen, jedoch nicht eine dauerhafte Unverträglichkeit; an die Stelle von Haß und Krieg soll »unwandelbare Freundschaft und [...] ewige[r] Friede zwischen allen Völkern«210 treten. Franzosen und Deutsche, so Börnes Plädoyer, dürfen sich nicht durch den von ihren Regimen geschickt geschürten Nationalhaß von ihren weltgeschichtlichen Aufgaben abbringen lassen: »Weil man euere Vereinigung fürchtet, soll wechselseitiges Mißtrauen euch ewig getrennt halten. Was sie als Vaterlandsliebe preisen, ist die Quelle eures Verderbens. Verstopft sie [die Herrscher, M. P.], werfet Kronen und Szepter und zerschlagene Throne hinein und ebnet den Boden mit dem Pergamentschutte eures Adels. Dann bringt die Freiheit, ihr Deutsche dem Norden, ihr Franzosen dem Süden, und dann ist überall, wo ein Mensch atmet, euer Vaterland und Liebe eure Religion.«211 Daß eine solche Freundschaft jenseits nationaler Engstirnigkeiten kein Traum bleiben muß, haben die Juden als »Lehrer des Kosmopolitismus« bewiesen; ihnen wird im besagten 103. der Briefe aus Paris, die in der Forschung als »rhetorische[s] Meisterwerk«212 und als Börnes »literarisch-politisches Hauptwerk«213 gelten, denn auch eine Vorbildfunktion für die Völker Frankreichs und »Deutschlands« zugesprochen. Freilich soll nicht verschwiegen sein, daß der in den Beengungen der Frankfurter Judengasse geborene und aufgewachsene Börne214 in seinen Schriften über Juden und Judentum215 die Thematik zumeist unter dem Blickwinkel des »Toleranzgebot[es] der Aufklärung«216 behandelte und die unterschiedslose Behandlung aller Menschen einklagte. Börne, der hoffte, daß »die Fackel der Wahrheit«217 und nicht die der »Mordbrennerei«218 die Nacht erhellen möge, forderte, die Juden als gleichberechtigte Bürger zu behandeln, ihnen freie Berufswahl zuzugestehen, die Erhebung von Schutzgeldern abzuschaffen und die 208 209 210 211 212 213 214 215
216 217 218
Börne, Schriften III (wie Anm. 183), S. 905. Ebd., S. 904. Ebd., S. 905. So im 103. Brief aus Paris. Ebd., S. 758. Labuhn, Börne als politischer Publizist (wie Anm. 190), S. 47. Tewarson, Die Aufklärung (wie Anm. 197), S. 34. Vgl. Jasper, Keinem Vaterland geboren (wie Anm. 190), S. 29–46. Einen Großteil der relevanten Texte hat Renate Heuer in einer Anthologie zusammengestellt: Für die Juden. Ludwig Börne zum zweihundertsten Geburtstag. Hg. von Renate Heuer. Frankfurt a. M.: Archiv Bibliographia Judaica 1986. Budde, Verwahrungen (wie Anm. 190), S. 111. In seiner Schrift Für die Juden (1819). In: Börne, Schriften I (wie Anm. 193), S. 871–877, hier S. 874. Ebd.; die einfachen Leute, von den Aristokraten gegen die Juden aufgehetzt, werden durch Aufklärung lernen, »daß man sie zum Gefängniswärter der Juden bestellt, weil die Gefängniswärter wie die Gefangenen den Kerker nicht verlassen dürfen«, schreibt Börne ebd.
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Ghettos aufzulösen:219 »Ich liebe nicht den Juden, nicht den Christen, weil Jude oder Christ: ich liebe sie nur, weil sie Menschen sind und zur Freiheit geboren«220, schreibt der »Zeitschriftsteller«221 im Jahr 1821. Er möchte für die Juden jene Rechte reklamieren, »die jeder Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft«222 habe und die man weder »verdienen«223 muß noch »verscherzen«224 könne. Doch im Gegensatz zu Saul Aschers Texten finden sich bei Börne trotz der universalistischen Perspektive doch einige Stellen, in denen »gleichsam klandestin das Wissen um die Unausweichlichkeit ihrer [der jüdischen, M. P.] Sonderrolle«225 hervorscheint. Neben jener Stelle, die die Juden zu »Lehrern des Kosmopolitismus« erklärt, seien hierfür noch zwei weitere Beispiele genannt: Im 78. Brief aus Paris226 äußert sich Börne zunächst aus der humanistischen Perspektive: »Als Gott die Welt erschuf, da schuf er den Mann und das Weib, nicht Herrn und Knecht, nicht Juden oder Christen, nicht Reiche und Arme. Darum lieben wir den Menschen, er sei Herr oder Knecht, arm oder reich, Jude oder Christ.«227 Dann jedoch bricht sich jüdisches Selbstbewußtsein Bahn: »Wenn unsere christlichen Brüder dieses oft vergessen, dann kömmt es uns zu, sie mit Liebe an das Gebot der Liebe zu ermahnen – uns, die wir älter sind als sie, die wir ihre Lehrer waren, die wir den einen und wahren Gott früher erkannt und der reinen Quelle der Menschheit näher stehen als sie.«228 Die Juden als Wegweiser zu humanistischen Werten – ein Gedanke, der auch in einem häufig zitierten frühen Aphorimus Börnes (zwischen 1808 und 1810), zum Ausdruck kommt: »Eins ist, was mir Freude macht: nämlich daß ich ein Jude bin. Dadurch werde ich zum Weltbürger und brauche mich meiner Deutschheit nicht schämen.«229
2
Lehrer der Moral
Ähnlich wie Börne beließen es auch Joseph Wolf und Gotthold Salomon in ihrer Abhandlung Der Charakter des Judenthums nebst einer Beleuchtung der 219 220
221 222 223 224 225 226 227 228 229
Vgl. hierzu Budde, Verwahrungen (wie Anm. 190). In seiner Schrift Der ewige Jude (1821). In: Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Zweiter Band. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer 1964, S. 494–538, hier S. 537. So Börne über sich selbst in der Ankündigung seiner Zeitschrift Die Wage (1818). In: Börne, Schriften I (wie Anm. 193), S. 667–684, hier S. 668. So in seinem Aufsatz Der kleine Hamann (1819). In: Ebd., S. 1030–1039, hier S. 1034. Ebd. Ebd. Budde, Verwahrungen (wie Anm. 190), S. 136. Vgl. Börne, Schriften III (wie Anm. 183), S. 579–583. Ebd., S. 581, Herv. i. O. Ebd., S. 581f. Börne, Schriften I (wie Anm. 193), S. 145.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
unlängst gegen die Juden von Prof. Rühs und Fries erschienen Schriften (1817) nicht bei der Widerlegung der antijüdischen Vorurteile und dem Postulat nach Gleichberechtigung für die Bürger jüdischen Glaubens. Freilich geht es den beiden Dessauer Lehrern und Predigern230 in ihrer dem österreichischen Staatsminister Metternich und dem preußischen Staatskanzler Hardenberg gewidmeten Schrift231 vornehmlich darum, »die heilige Religion ihrer Väter in Schutz zu nehmen«232 und die Kompatibilität der Gebote des Judentums mit den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen. Gegen das Klischee, daß Juden ihrer Umwelt mit Haß und Feindschaft begegneten, führen die religiösen Schriftsteller etwa an, daß das Judentum »als Grundlage aller moralischen Verpflichtungen die Liebe zu unserm Nächsten auf[stellt], und zwar, ohne irgend einen Unterschied, Glauben und Stand betreffend«233: »Alles, was diesem Grundgesetz zuwider läuft, als Haß, Rache, Verläumdung, Härte, Unterdrückung, Wucher, Betrug und Feindseligkeit, sie mögen sich gegen die Person unseres Nebenmenschen selbst, als auch gegen dessen Eigenthum äußern, ist dem Judentum ausdrücklich untersagt«234, schreiben Wolf und Salomon. Das Vorurteil, Juden seien für den Kriegsdienst untauglich, widerlegen die Autoren mit einem kurzen historischen Exkurs, in dem sie auf die Rolle der Juden in Kriegen früherer Jahrhunderte eingehen,235 und freilich auch mit einem damals aktuellen Beispiel: »Wie patriotisch sich die Preußischen Juden in dem letzten Kriege gezeigt haben, kann nur der verstockteste Juden- und Menschenfeind läugnen«236, rufen Wolf und Salomon den Einsatz jüdischer Kämpfer in den Befreiungskriegen in Erinnerung.237 Mit den Pflichten des Sabbat kollidiert der Kriegsdienst nicht, wie die Autoren ausdrücklich betonen: 230
231
232 233 234 235 236 237
Salomon, in Sandersleben geboren, fungierte ab 1818 als Reformprediger am Hamburger Tempel. Wolf blieb in ärmlichen Verhältnissen als Lehrer und Prediger zeit seines Lebens in Dessau. Vgl. Hans Günther Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen: Mohr 1965 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts; 14), S. 178f. sowie S. 184f., M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 148f. Vgl. Joseph Wolf und Gotthold Salomon: Der Charakter des Judentums nebst einer Beleuchtung der unlängst gegen die Juden von Prof. Rühs und Fries erschienenen Schriften. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1817, S. V. Ebd., S. VII. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 45f. Ebd., S. 47. Zum Einsatz jüdischer Kriegsfreiwillliger in den Befreiungskriegen vgl. Erik Lindner: Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften; 726), S. 55–104, der in diesem Kontext von einem »breite[n] und tatkräftige[n] Engagement der jüdischen Bevölkerung« (ebd., S. 103) spricht.
III Börne, Wolf, Salomon und die Mission des Judentums
465
»Es ist von allen Rabbinen, ohne Ausnahme angenommen, daß wenn auch nur das Leben eines einzigen Menschen in Gefahr ist, die Pflichten des Sabbaths nicht nur weichen müssen, sondern dem kein geringes Verdienst beizulegen ist, welcher dem in Gefahr stehenden mit eigener Hand so schnell als möglich zur Rettung eilt.«238 Auf den Vorwurf mangelnder Loyalität antworten Wolf und Salomon unmißverständlich mit einer Vorgabe des Pariser Sanhedrin,239 wonach der Jude verpflichtet sei, den Staat, in dem er lebt, als sein Vaterland zu betrachten.240 Die Gleichstellung und das Ende der Diskriminierung fordern die beiden Lehrer ebenso deutlich ein: »Und so wird auch jeder vernünftige und mit dem Geist des Mosaismus und des Thalmuds vertraute Rabbiner von der Wahrheit überzeugt sein, daß das Land, in welchem der Staat den Juden dieselben Rechte giebt, welche den christlichen Unterthanen zu Theil werden, daß ein solches Land ihr Vaterland genannt zu werden verdient, und von ihnen als solches anerkannt werden muß [...].«241 Ein Deutschland, das nach Einheit strebe, könne es sich zudem nicht leisten, in jeder Region andere Rechte für Juden gelten zu lassen: »[D]as Charakterzeichen der deutschen Staatensysteme wird in allen ihren Zweigen Einheit sein.«242 Doch wie eingangs erwähnt, belassen es Wolf und Salomon nicht bei diesem Postulat.243 Sie machen vielmehr deutlich, daß eine Gleichstellung der jüdischen Minderheit den deutschen Staaten nicht nur keine Nachteile, sondern sogar Vorteile bringen würde, können doch die »Tugenden der Wohlthätigkeit und Milde«244 bei den Juden »in einem weit höhern Grade als bei andern Völkern angetroffen werden«245. An anderer Stelle heißt es, daß man den Gedanken, »daß es mit der Menschheit immer besser werden muß und alles sich endlich der Vollkommenheit nähern wird«246, nirgends lebendiger verwirklicht sieht als im »Judenthume«247. »Der Beruf Israelit zu seyn, ist der Beruf Mensch zu seyn«248, sollte Salomon später als Prediger am Hamburger Re238 239 240 241 242 243
244 245 246 247 248
Wolf/Salomon, Charakter (wie Anm. 231), S. 47f. Vgl. Leo Trepp: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998 (Rowohlt Sachbuch; 60618), S. 90. Vgl. Wolf/Salomon, Charakter (wie Anm. 231), S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 131. Auch Michael A. Meyer betont, daß Wolf, der ab 1806 gemeinsam mit David Fränkel die erste jüdische Zeitschrift (Sulamith) in deutscher Sprache herausgab, kein »rabiater Anhänger der Assimilation« gewesen sei, sondern jedem Volk »eigene[] Bedürfnisse, Fähigkeiten und nationale Eigenschaften« zugeschrieben hätte. M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 138. Wolf/Salomon, Charakter (wie Anm. 231), S. 71. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd. Gotthold Salomon: Predigten in dem neuen Israelitischen Tempel zu Hamburg. Drei Bände. Hamburg 1820/25. Band II, S. 46, hier zit. n. M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 147.
466
H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
formtempel von der Kanzel herab verkünden. Eine Integration der jüdischen Minderheit trägt daher gleichsam zur moralischen Veredelung der Gesellschaft bei. In diesem Sinne wird auch die messianische Hoffnung säkularisiert: Mit dem Bild von der Ankunft des Messias ist demnach nichts anderes gemeint als »der glückliche Zeitpunkt, in welchem, einer erleuchteten Vernunft mehr gehorchend, als den Eingebungen blinder Leidenschaften, kein Volk seines Glaubens wegen von andern Völkern gedrückt und herabgewürdigt werden wird«249. In der jüdischen Religion liegt nicht, wie ihre Gegner meinen, der »Aufruf zur Immoralität«250 – vielmehr kann das Judentum gerade kraft der moralischen Integrität seiner Lehre dazu beitragen, »daß hienieden alle Menschen in Liebe vereinigt«251 leben.252
IV
List, Moser und die Suche nach Identität
Weder Ascher noch Börne – wohl aber Wolf und Salomon253 – beteiligten sich an einem Projekt, das als »erste[r] umfassende[r] Versuch«254 gewertet werden kann, das spezifische Sonderbewußtsein einer jüdischen Identität unter den Bedingungen der Moderne – also im Einklang mit den Postulaten der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft und ohne die »Einheit wahren religiösen Lebens«255 – zu konstruieren. Der in Berlin des Jahres 1819 gegründete »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« ist mit Sicherheit als Reaktion auf die vorangegangene antisemitische »Hep-Hep-Bewegung« zu verstehen; zudem liegt es nahe, ihn auch als Gegenbewegung zu den nationalen und antijüdischen Umtrieben der Christlich-deutschen Tischgesellschaft zu begreifen, die zu diesem Zeitpunkt den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit freilich schon überschritten hatte. 249 250 251 252
253
254 255
Wolf/Salomon, Charakter (wie Anm. 231), S. 120. Ebd., S. 133. Ebd., S. 126. Später wird der Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums, Ludwig Phillipson, den von Salomon und Wolf eingeschlagenen Weg noch konsequenter beschreiten. Die partikulare Existenz des Judentums legitimiert er in einer Artikelserie im Jahr 1845 dadurch, daß er jene universalen Werte und Prinzipien als »jüdisch« identifiziert, die den sozialen Fortschritt verbürgen. Vgl. Rahe, Religionsreform (wie Anm. 30), S. 110f. sowie Gotzmann, Zwischen Nation (wie Anm. 28), S. 252f. Wolf war als auswärtiges Vereinsmitglied mit dabei, Salomon gehörte zu den sieben Männern, die in Hamburg 1821 einen »Ableger« des Berliner Kernvereins gründeten. Eine produktive Wechselwirkung zwischen Berlin und Hamburg blieb jedoch aus. Vgl. Reissner, Gans (wie Anm. 230), S. 81 sowie S. 67f. Shulamit Volkov: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München: C. H. Beck 2001 (Beck’sche Reihe; 1421), S. 124. Ebd.
IV List, Moser und die Suche nach Identität
467
Wenn in der Forschungsliteratur die bedeutendsten Repräsentanten des Vereins aufgezählt werden, fallen regelmäßig und zu Recht die Namen von Eduard Gans, Leopold Zunz und Isaak Marcus Jost;256 auch Heinrich Heines spätere Mitgliedschaft bleibt freilich zumeist nicht unerwähnt.257 Für unsere Belange scheint indes ein weniger bekanntes der sieben Gründungsmitglieder – neben Gans, Jost und Zunz waren Isaac Levin Auerbach, Moses Moser sowie Joseph Hillmar, der als erster Präsident fungierte, die Väter des Unternehmens – von besonderem Interesse zu sein: Die Rede ist von Joel Abraham List, in dessen Wohnung sich der Verein auf Anregung von Gans am 7. November 1819 konstituierte. List geht es in seinem Vortrag anläßlich der Gründungssitzung258 darum, die Frage zu klären, ob denn »ein Verein unter den Juden notwendig«259 sei und worin die Zielsetzung eines solchen Zusammenschlusses bestehe. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, daß das »frühere Band unserer [der jüdischen, M. P.] Nation«260 aus drei Faktoren bestanden habe: Neben der Religion sei der gesellschaftliche Ausschluß entscheidend dafür gewesen, daß die Juden »bis auf die neuere Zeit«261 eine Einheit gebildet hätten: »Wir blieben zusammen wie eine Herde von außen eingehürdet.«262 Dieser Auschluß wiederum habe zu einer Solidarisierung unter den Diskriminierten geführt, die zusammenhielten »wie etwa die Einwohner einer belagerten Festung«263. Diese für die Herstellung einer »Einheit«264 unter den Juden konstitutiven Faktoren sind nach List durch die Aufklärung in ihren Grundfesten »erschüttert«265 worden. Die »ehrwürdige Religion«266 hat als »natürliche Folge der entwickelten Ver-
256 257
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259 260 261 262 263 264 265 266
So etwa ebd., S. 125. In der Monographie über den Verein von Edith Lutz: Der »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« und sein Mitglied H. Heine. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1997 (Heine-Studien), steht Heines Mitgliedschaft im Mittelpunkt des Interesses. Vgl. zum Verein auch Reissner, Gans (wie Anm. 230); Hanns Günther Reissner: Begegnungen zwischen Deutschen und Juden im Zeichen der Romantik. In: Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation. Hg. von Hans Liebeschütz und Arnold Paucker. Tübingen: Mohr 1977 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-BaeckInstituts; 35), S. 335–339; M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 186–199. Teilabdruck bei Siegfried Ucko: Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums (Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819). In: Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1933/34), S. 9–11. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
nunft«267 und »wegen der Strenge ihrer äußern Gesetze«268 an Einfluß verloren und mußte daher »endlich ganz aufhören, ein Band der Nation zu sein«269. Zudem hat die Aufklärung »das Menschenrecht von dem Bekenntnisse«270 getrennt und somit die gesellschaftliche Integration der Juden ermöglicht. Die »augenscheinliche Verminderung des äußern Drucks und Leidens«271 sorgt freilich auch dafür, daß die Solidarität, die durch »gemeinschaftliches Mitleiden«272 erzeugt wird, allmählich verlorengeht und sich die »tätige Menschenliebe«273 der Juden nicht mehr nur auf die Glaubensgenossen bezieht: »[W]ir verlieren uns daher immer mehr unter die größere hilfsbedürftige Menge, statt der ausschließenden Teilnahme an den Bedürfnissen der Nationen. Unser Menschliches kennt keine äußern Grenzen mehr und will sich daher auch von Innen nicht bloß aufs Nationelle beschränken lassen.«274 Analog zu den Romantikern beurteilt List diese Vorgänge jedoch nicht ausschließlich positiv. Den neugewonnenen Freiheiten steht der Verlust von Traditionen gegenüber. Nach List droht dem Kollektiv der jüdischen Kulturgemeinschaft die »gänzliche Auflösung«275; er sieht »Israel überall seinem Untergange entgegen[eilen]«276. Allerdings erkennt er auch Beharrungskräfte, die diesem Prozeß entgegenwirken. Wie die Romantiker insistiert List darauf, daß die »reine Nationalität [...] keine vorübergehende Eigenschaft ist«277. Ein »ewiges Innere[s]«278 sorgt vielmehr unabhängig von den vergänglichen äußeren Rahmenbedingungen dafür, daß das, was einer »Nation eigentümlich ist«279, auch fortbesteht; das gilt freilich auch für die jüdische Nation »[W]ir erkennen ein Wesen in uns, ein bleibendes Sein. Und weil wir wissen, daß wir sind, wollen wir uns erhalten, und weil wir uns erhalten wollen, müssen wir uns erhalten. – Wir haben also eine klare Idee unseres Daseins, und zwar unseres gemeinschaftlichen Daseins, weil wir sonst nicht mehr wir, also gar nichts wären.«280 Auch List geht also von einem »jüdischen Wesen« aus, daß sich den kosmopolitischen Tendenzen der Aufklärung widersetzt und sein Sonderbewußtsein verteidigt. Nur beurteilt er den Fortbestand des jüdischen Kollektivs freilich nicht negativ; es ist »Sache der gesamten Menschheit und Pflicht der Regierungen, unter 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
IV List, Moser und die Suche nach Identität
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welchen Juden leben«281, die bürgerliche Verbesserung dieser Minderheit zu forcieren, ohne die »Integrität der [jüdischen] Nation«282 zu gefährden: »Als Juden muß uns auch unser nationeller Wert über alles gehen, sonst ist es nicht ein Pfifferling wert, daß wir uns so nennen lassen.«283 Worin dieser »nationelle Wert« nun aber bestehen soll, ist nach dem Wegfall der obigen genannten Faktoren nicht mehr klar zu definieren. Hier sieht List die Intention des Vereins, der »aus allen Kräften«284 darauf hinarbeiten soll, »daß unsere Volkstümlichkeit wieder ihrer ganzen Würde hergestellt [...] werde«285. Bezeichnend ist in diesem Kontext der Arbeitsauftrag, den der Redner am Ende den Mitgliedern mit auf den Weg gibt: Sie sollen eine »Charakteristik unserer Volkstümlichkeit«286 erstellen und »Mittel«287 angeben, die zur Wiederherstellung dieser »Volkstümlichkeit« führen könnten. Lists Aufsatz zeigt, daß es den Protagonisten des Vereins zumindest in der Anfangsphase darum ging, eine positive Neubestimmung jüdischer Identität zu leisten. Der Verein, betont Michael A. Meyer, reagierte »auf die immer wieder von den Romantikern vorgetragene Behauptung, die Juden seien ein Volk, mit der Feststellung, daß sie in der Tat eines seien«288 Dafür spricht auch der zweite Vortrag aus der Gründungsssitzung289, den Moses Moser gehalten hat und der für unsere Thematik insgesamt weniger ergiebig ist als der Beitrag von List. Moser bleibt bei seiner Definition des »idealen Judentum[s]«290 zwar der theologischen Fragestellung verpflichtet, wenn er dieses Judentum als »ausgesöhnt mit dem Staate«291, jedoch »im entschiedenen Gegensatz mit der herrschenden Kirche«292 versteht; allerdings klingen auch bei ihm nationalromantische Vorstellungen an, sieht er doch die Aufgabe des Vereins ebenfalls darin, den »gegenwärtigen Standpunkt«293 der »innere[n] Kultur unserer Nation«294 zu ermitteln und das »Ziel«295, wohin die Nation »zu führen sei, fest und unwandelbar zu bestimmen«296. Auch Moser warnt zudem vor der »völlige[n] 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296
Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 189. Vgl. den Teilabdruck bei Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen (wie Anm. 258), S. 13f. sowie S. 15f. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
Aufhebung«297 der »jüdischen Kultur«298, denn dies »hieße freilich nichts anderes, als in den Gesichtspunkt vieler Zeitgenossen ein[zu]gehen, die den Uebergang zum Christentum als unser einziges Heil betrachten und über jedes andere Bestreben das Verdammungsurteil aussprechen. Diese Denkungsart ist nicht die unsrige«299. List übernahm nach dem Rücktritt Hillmars, der den Verein im Streit verließ, im März 1820 die Präsidentschaft; auch das zeugt von der Bedeutung, die den nationalromantischen Ambitionen innerhalb des Vereins am Anfang zukam. Allerdings war auch List, der später nach Posen übersiedelte, nur kurzzeitig Vorsitzender: Nach einem Streit mit Gans, der daraufhin seine Position übernahm, stellte der spätere Buchhändler seinen Posten im November 1821 zur Verfügung und trat aus dem Verein aus.300 In den Statuten, die sich der Verein 1821 gab, und in seiner praktischen Arbeit agierte er denn auch wesentlich pragmatischer, als es die Gründungsintentionen hätten vermuten lassen; zudem ging es dann doch eher darum Mittel zu finden, die Kluft zwischen den Juden und der europäischen Kultur zu überbrücken als eine Neubestimmung jüdischer Volkstümlichkeit zu leisten.301 Viele der hochfliegenden Pläne des anfangs beständig wachsenden Vereins blieben unverwirklicht; so sieht es Meyer als einzige große Leistung der Gruppe, durch die Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift eine »Wissenschaft des Judentums« begründet zu haben. Im Februar 1824 hörten die Zusammenkünfte auf, das Ende des Projekts war gekommen.302
V
Heinrich Heine und die gescheiterte Symbiose
Das prominenteste Mitglied des Culturvereins war Heinrich Heine, der freilich nur von September 1822 bis Mai 1823 (also nach dem Austritt der Gründungsmitglieder Hillmar, List und Jost) der nunmehr von Eduard Gans geführten Berliner Gruppierung angehörte. Auch wenn Heine nicht unbedingt zu den aktivsten Mitgliedern gehörte, so zeigte er doch reges Interesse an den Aktivitäten des Vereins und interessierte sich auch nach seiner Abreise aus Berlin noch für dessen weiteres Schicksal. Sein Erzählfragment Der Rabbi von Bacherach, das freilich erst 1840 erschien, entstand zu weiten Teilen im zeitlichen Umfeld von Heines Vereinszugehörigkeit und ist in seinem Versuch, »eine aktiv und positiv bestimmte jüdi-
297 298 299 300 301 302
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu ebd., S. 4f. sowie S. 5, Anm. 10. So auch M. A. Meyer, Mendelssohn (wie Anm. 16), S. 191. Vgl. ebd., S. 199.
V Heinrich Heine und die gescheiterte Symbiose
471
sche ›Identität‹«303 innerhalb des deutschen Kollektivs zu entwerfen, den Maximen der nunmehr von Eduard Gans geführten Gruppierung verpflichtet. Gleichwohl artikuliert der Text auch Heines Zweifel, ob ein solches Projekt angesichts des bornierten und intoleranten Antisemitismus vieler Zeitgenossen überhaupt eine realistische Chance hat. In der folgenden Analyse sollen beide Aspekte kurz umrissen werden.304 303
304
Anne Maximiliane Jäger: Abraham und Isaak. Jüdische Identität und Emanzipation in Heines Der Rabbi von Bacherach. In: Differenz und Identität. Heinrich Heine (1797–1856). Europäische Perspektiven im 19. Jahrhundert. Hg. von Alfred Opitz. Trier: Wissenschafts-Verlag Trier 1998 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft; 41), S. 143. Vgl. ausführlich zum Rabbi u. a. die Beiträge von Hartmut Kircher: Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach (1840). In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1983, S. 295–314; Jost Hermand: Die nur schwer zu romantisierende Geschichte der Juden. Heines Rabbi von Bacherach. In: Romantik im Vormärz. Hg. von Burghard Dedner und Ulla Hofstaetter. Marburg: Hitzeroth 1992 (Marburger Studien zur Literatur; 4), S. 129–145; Jürgen Voigt: O Deutschland, meine ferne Liebe... Der junge Heinrich Heine zwischen Nationalromantik und Judentum. Bonn: Pahl-Rugenstein 1993 (Pahl-Rugenstein-Hochschulschriften/Gesellschafts- und Naturwissenschaften; 283), S. 94–99; A. M. Jäger, Abraham (wie Anm. 303), S. 143–156. Zur problematischen Identitätssuche Heines sind mittlerweile zahlreiche Studien erschienen. Vgl. exemplarisch die Arbeiten von Michael Werner: Heinrich Heine – Über die Interdependenz von jüdischer, deutscher und europäischer Identität in seinem Werk. In: Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Hg. von Walter Grab und Julius H. Schoeps. Stuttgart, Bonn: BurgVerlag 1983 (Studien zur Geistesgeschichte; 3), S. 9–28; Walter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Insel 1990; Jost Hermand: Der ›deutsche‹ Jude Heinrich Heine. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer.Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch; 2117), S. 257–272; Voigt, Der junge Heine; Dieter Arendt: Heinrich Heine zwischen Patriotismus und Europäismus. In: Nationale Identität. Aspekte, Probleme und Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Joanna Jablkowska und Malgorzata Polrola. Lodz: Wydawnictwo Uniwersytetu Lodzkiego 1998, S. 75–93; Gunnar Och: In der Spur des Ewigen Juden. Heinrich Heine und das Ahasver-Motiv. In: Verborgene Lesarten. Neue Interpretationen jüdisch-deutscher Texte von Heine bis Rosenzweig. In memoriam Norbert Altenhofer. Hg. von Renate Heuer. Frankfurt a. M., New York: Campus 2003 (Campus Judaica; 20), S. 98–119 sowie die Untersuchungen in: Differenz und Identität. Heinrich Heine (1797–1856). Europäische Perspektiven im 19. Jahrhundert. Hg. von Alfred Opitz. Trier: WissenschaftsVerlag Trier 1998 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft; 41). Immer noch hilfreich: Günter Oesterle: Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche. Stuttgart: J. B. Metzler 1972 (Metzler-Studienausgaben), vor allem S. 22–29. Eine Zusammenstellung von Heines Aussagen zum Judentum bietet der Reader: Heinrich Heine: Jüdisches Manifest. Eine Auswahl aus seinen Werken, Briefen und Gesprächen. Hg. von Hugo Bieber. Zweite erweiterte Auflage. New York: Rosenberg 1946.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
Heines Erzähler beginnt mit einem »historische[n] Panorama«305, in dem er die Geschichte der Juden am Rhein rekapituliert und dabei auch die immer wiederkehrenden Verfolgungen und Pogrome thematisiert. Anschließend läßt er uns an einem Pessach-Fest im Hause des Rabbi Abraham im kleinen Städtchen Bacherach teilnehmen, bei der zwei Unbekannte einen Kinderleichnam ins Haus schmuggeln. Der Rabbi erkennt die Gefahr des erneuerten Ritualmordvorwurfes und flüchtet gemeinsam mit seiner Frau Sara; alle anderen Teilnehmer des Festes werden umgebracht. Die Flucht führt Abraham und Sara auf dem Rhein »vom nächtlichen Bacherach ins morgendliche Frankfurt«306, wo die Juden im Ghetto, bewacht von einem antisemitisch eingestellten Torwächter, freilich auch nicht ungefährdeter leben als im Rheinland. Im Ghetto begegnen die beiden Flüchtlinge – neben allerhand bizarren Gestalten wie dem ängstlichen jüdischen Torwächter Nasenstern – auch dem spanischen Don Isaak Abarbanel, der getauft ist und das Ghetto nur der jüdischen Küche wegen besucht. Als »überzeugter Renegat«307 stellt Isaak die Gegenfigur zum frommen Rabbi Abraham dar. Hier bricht das Fragment ab. Der einer operativen Ästhetik verpflichtete Text versucht in mehrfacher Hinsicht, die jüdische Minderheit als integralen Bestandteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu erweisen. So berichtet uns der Erzähler gleich zu Beginn, daß »die kleine Judengemeinde«308 sich »schon zur Römerzeit in Bacherach [...] niedergelassen«309 habe – einer Information Hartmut Kirchers zufolge sind Juden dort jedoch »erst seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar«310. Kircher verweist in diesem Kontext darauf, daß es Heine »[t]rotz aller Quellenforschung [...] nicht unbedingt in jedem Punkt [um] historische Exaktheit«311 gegangen sei. Meines Erachtens folgt dieser »Fehler« jedoch einem Kalkül: Indem er die Anfänge der jüdischen Gemeinde in die Zeit Hermanns und der Germanen zurückverlegt, widerlegt Heine ein Argument, mit dem Juden immer wieder »aus der deutschen Nation hinausdefiniert«312 werden konnten – man warf ihnen vor, daß sie »noch nicht dabei gewesen [waren], als die ersten Deutschen in den Wäldern Germaniens auf Bärenjagd gingen«313.
305 306 307 308 309 310 311 312
313
A. M. Jäger, Abraham (wie Anm. 303), S. 144. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 614. Ebd. Kircher, Heine (wie Anm. 304), S. 303. Ebd. Lutz Hoffmann: Der Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation. In: Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns. Hg. vom Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus. Freiburg/Breisgau: Ça Ira 2001, S. 50. Ebd., S. 51.
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In einem anderen Punkt dagegen setzt Heine die historische Wahrheit gegen »läppische [...] Märchen«314 in ihr Recht: Er läßt seinen Erzähler die klassischen, aus dem Mittelalter überlieferten antijüdischen Vorwürfe der Brunnenvergiftung, der Hostienschändung und des Ritualmordes referieren und widerlegen.315 Zudem ist bei seiner »ausgiebig[en] und liebevoll[en]«316 Schilderung des Pessach-Festes317 das Bemühen unverkennbar, das »nichtjüdische[] Publikum anzusprechen«318 und »ihm auf poetische Weise Kenntnisse nahezubringen und Verstehen zu wecken«319. Heine erteilt hier eine vergnügliche Lehrstunde – gemäß dem Literaturverständnis der Aufklärung, die davon ausgegangen war, daß den »Verstand des Menschen nichts so sehr [vergnügt], als was ihn lehrt, zumal ohne daß es ihn zu Lehren scheint«320 (Johann Elias Schlegel). Er will Verständnis und Faszination für die jüdische Tradition erwecken – aber, und hier weicht er etwa von Lessings »idealen Juden« und mithin der Konzeption der Aufklärer ab, er konzipiert realistische, gebrochene Figuren, die sich keineswegs nur durch Güte und Sanftmut auszeichnen. Das beginnt bei Abraham, der freilich Opfer der antijüdischen Umtriebe ist, andererseits aber nichts unternimmt, um seine Gemeinde vor dem Untergang zu retten. Die jüdischen Figuren innerhalb des Ghettos bieten dem Leser ebenfalls keine Identifikationsfläche, auch wenn ihre charakterlichen Mängel auf ihre soziale Situation zurückgeführt werden können, wie etwa im Falle Nasensterns, dessen panische Angst berechtigt erscheint und doch zugleich enervierend wirkt. Der »draufgängerische[] Galan«321 Isaak ist als erfrischend undogmatischer und gleichwohl auch als sehr oberflächlicher Charakter gezeichnet, den Sara erst eindringlich an die Leiden der Juden erinnern muß. Sara selbst wiederum wirkt über weite Strecken des Textes »fast kindlich-naiv«322; erst als in der Synagoge im Frankfurter Ghetto das Totengebet für die Opfer des Bacheracher Pogroms erklingt, erkennt sie die eigentliche Dimension der Gefahr, in der sie sich befunden hat und daß alle »tot seien, [...] alle ermordet und tot!«323
314 315 316 317 318 319 320
321 322 323
Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 614. Vgl. ebd. A. M. Jäger, Abraham (wie Anm. 303), S. 145. Vgl. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 616–620. Kircher, Heine (wie Anm. 304), S. 303. Ebd. J. E. Schlegel in seiner Abhandlung von der Nachahmung (1742). Hier zit. n. Walter Hinderer: Christoph Martin Wieland. In: Deutsche Dichter. Band 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart: Reclam 1988 (Reclams Universal-Bibliothek; 8613), S. 272. Hermand, Geschichte der Juden (wie Anm. 304), S. 139. Kircher, Heine (wie Anm. 304), S. 303. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 644.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
Heine verklärt seine jüdischen Protagonisten nicht als »freigeistige Edelmenschen«324, sondern er gestaltet sie durchweg ambivalent und macht sie dadurch jenseits eines kolportagehaften Schwarz-Weiß-Schematismus für den Leser glaubwürdiger und realistischer. Noch ein letzter Schachzug darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden: Ausgerechnet der Rhein, »in jener Zeit nach den Befreiungskriegen ein hochkodiertes deutsches Nationalsymbol«325, bringt für Abraham und Sara die Rettung. In Saras Traum war es gar so, »als murmelte der Rhein die Melodien der Agade«326 – hier wird »das Trennende zwischen den Juden und ihrer christlich-deutschen Umwelt«327 gänzlich überwunden, der »alte, gutherzige [...] Rhein«328 erweist sich als »Vater aller seiner Kinder«329, und vor Saras geistigem Auge zieht neben den jüdischen Sagenwelten auch die Tradition des rheinischen Volksglaubens vorbei; sogar vom »versunkenen Niblungshort«330 ist in einem bezeichnenden Kontext die Rede. Das in seiner überlieferten Form um 1200 entstandene Nibelungenlied war 1807 durch den Juristen Friedrich Heinrich von der Hagen, der später an der 1810 gegründeten Friedrich-Wilhelm-Universität zum ersten Inhaber eines Germanistischen Lehrstuhls avancieren sollte, erstmals aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und seither »[g]nadenlos [...] völkisch-national ausgebeutet«331 worden, obwohl es, wie Klaus von See zutreffend feststellt, »mit der deutschen Geschichte gar nichts zu tun hat, sondern von Zwist und Mord im burgundischen Königshaus handelt«332. Diese Problematik war – dem martiali324 325
326 327 328 329 330 331
332
Hermand, Geschichte der Juden (wie Anm. 304), S. 141. A. M. Jäger, Abraham (wie Anm. 303), S. 144. Vgl. dazu Ernst-Ullrich Pinkert Differenz und Identität, Krieger und Sänger. Zur Rheinsymbolik bei Heine und in der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Differenz und Identität. Heinrich Heine (1797–1856). Europäische Perspektiven im 19. Jahrhundert. Hg. von Alfred Opitz. Trier: Wissenschafts-Verlag Trier 1998 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft; 41), S. 249–262 sowie Ernst Erich Metzner: Jüdisch-deutsche und deutsche Rhein- und Nationalromantik zwischen 1824/25 und 1840/41. In: Verborgene Lesarten. Neue Interpretationen jüdisch-deutscher Texte von Heine bis Rosenzweig. In memoriam Norbert Altenhofer. Hg. von Renate Heuer. Frankfurt a. M., New York: Campus 2003 (Campus Judaica; 20), S. 33–58. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 624. Kircher, Heine (wie Anm. 304), S. 305. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 622. Voigt, Der junge Heine (wie Anm. 304), S. 96. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 622. Peter Wapnewski: Das Nibelungenlied. In: Deutsche Ertinnerungsorte. Hg. von Etienne Francois und Hagen Schulze. Band I. 3. Aufl. München: C. H. Beck 2003, S. 162. Klaus von See: Das Nibelungenlied – ein Nationalepos? In: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt. Frankfurt a. M. 1991. S. 43–110, hier S. 59f. Zit. n. Wapnewski, Nibelungenlied (wie Anm. 331), S. 162f.
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schen und aggressiv-nationalistischen Vorwort, das von der Hagen seiner Übersetzung voranstellte, zum Trotz – manchem »klarsichtig[en]«333 Zeitgenossen durchaus aufgefallen. Heines Lehrer Gottfried Wilhelm Hegel etwa bemerkte in seiner Ästhetik (1818/20), daß »die Burgunder und König Etzel [...] so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten [sind], daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten Homers uns weit heimatlicher empfinden können«334. Heine verfährt nun allerdings nicht gleichsam ideologiekritisch wie Hegel, sondern er instrumentalisiert die der nationalen Propaganda dienstbar gemachte Sage von den Nibelungen, um auch die jüdische Welt als integralen Bestandteil der deutschen Nationalgemeinschaft zu erweisen. Als die »schöne Sara«335 wegen der überstürzten Flucht und dem Abschied aus Bacherach »Ströme bitterer Tränen«336 ergießt, tröstet sie der »Vater Rhein«337, der es nicht leiden kann, »wenn seine Kinder weinen«338, indem er ihr im Halbschlaf die »schönsten Märchen«339 erzählt und »seine goldigsten Schätze verspricht, vielleicht gar den uralt versunkenen Niblungshort«340. Der Rhein kümmert sich darum, daß die »gewaltigsten Schmerzen [...] fortgespült«341 werden und es Sara zeitweise wieder besser geht. Die Zusammengehörigkeit der Deutschen jüdischen und nichtjüdischen Glaubens, die Synthese aus deutscher und jüdischer Sagenwelt, die Heine in diesen Passagen konstruiert, weicht jedoch schnell einem entschiedenen Zweifel bezüglich der Chancen, ein solches Projekt realisieren zu können. Sara geht es nämlich nur vorübergehend besser: Dann wird sie »aus ihren Träumereien gerüttelt«342 und »[p]lötzlich [...] glaubt[] sie dort [auf den Bergen am Ufer, M. P.] ihre Freunde und Verwandte zu sehen, wie sie mit Leichengesichtern und in weißwallenden Totenhemden schreckenhastig vorüberliefen, den Rhein entlang«343. Zwar verzieht sich »das eindringende Dunkel und Grausen«344 wieder, aber nur um den Preis der »Ausscheidung aller deutschen Elemente«345: Am Ende der Bootsfahrt erscheint Sara vor ihrem geistigen Auge die »heilige Stadt Jerusalem«346 mit ihrem »in goldner Pracht«347 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347
Wapnewski, Nibelungenlied (wie Anm. 331), S. 163. Hegel zit. n. ebd. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 622. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 625. Ebd. Ebd. Voigt, Der junge Heine (wie Anm. 304), S. 96. Heine, Werke II (wie Anm. 90), S. 625. Ebd.
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H Die Reaktionen jüdischer Intellektueller auf die deutsch-jüdische Antithese
leuchtendem Tempel. Sie erblickt ihren »vergnügt mit den Augen lachend[en]«348 Vater, die »fröhlich[en]«349 Freunde und Verwandte sowie den »fromme[n] König David«350. Jürgen Voigt hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß es sich hierbei um eine »eindimensional jüdische Erlösungsidylle«351 handelt: »Die offenkundige Unbesiegbarkeit des judenfeindlichen Affekts, der immer wieder nachwächst und auch Rückschläge überlebt und dessen vertiertes Wesen allen Wechselfällen gewachsen ist, zerstört im Rabbi jede Möglichkeit deutsch-jüdischer Synthese.«352 Anders als Ascher, der auf das Projekt der Aufklärung vertraute, und die Mehrzahl von Heines Kollegen im Culturverein, die auf ein harmonisches Mit- und Nebeneinander einer modernen jüdischen und der deutschen Kultur hofften, zeigt sich Heine selbst skeptisch und ernüchtert: Als junger Dichter selbst ein Anhänger der Nationalbewegung,353 weiß er, daß die Konstrukteure der »deutschen Nation« dabei sind, ein Vaterland zu konzipieren, das die Juden nicht mit auf der Rechnung hat.
348 349 350 351 352 353
Ebd. Ebd. Ebd. Voigt, Der junge Heine (wie Anm. 304), S. 96. Ebd. Vgl. ebd., S. 36–43.
Zusammenfassung und Ausblick
Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der napoleonischen Eroberungskriege die Debatte um die »deutsche Nation« neuen Auftrieb erhält, sind die Romantiker maßgeblich beteiligt. Dabei wird die Ambivalenz des Nationalismus, der immer zugleich für Integration sorgt und Mißliebige ausschließt, augenfällig: In Ermangelung politischer Gemeinsamkeiten zwischen den vielen deutschen Teilstaaten konstruieren die romantischen Autoren das Eigene vorrangig ex negativo, über die Verneinung des vermeintlichen Fremden. Sie kontrastieren ihr Deutschland-Konzept jedoch nicht nur mit dem äußeren Feind aus Frankreich, sondern auch mit einer gesellschaftlichen Minorität, die sie im eigenen Land als innere Bedrohung ausgemacht haben: Die Juden, die im Zuge der Umbrüche des späten 18. Jahrhunderts endlich auf ihre gesellschaftliche Gleichberechtigung hoffen dürfen, werden von den Romantikern als finsteres Gegenbild zum aufrechten, ehrlichen, gutmütigen und rechtschaffenen Deutschen imaginiert. Johann Gottlieb Fichte spricht den Juden bereits 1793 die Möglichkeit ab, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren; ihnen Bürgerrechte zu geben, würde für die tugendhaften Deutschen eine latente Gefahr bedeuten. Ernst Moritz Arndt identifiziert den jüdischen mit dem französischen Nationalcharakter und geht vor diesem Hintergrund von einer unüberwindlichen Gegensätzlichkeit des deutschen und des jüdischen Wesens aus. Die jahrhundertelange Unterdrückung der Juden konstatiert er mit Bedauern – doch er leitet daraus auch die These ab, daß der jüdische Charakter einen irreversiblen Schaden genommen habe. Genau wie Adam Heinrich Müller begreift er zudem die christliche Religion als integralen Bestandteil des Deutschtums; auch vor diesem Hintergrund erscheint der Jude im Weltbild der Romantiker als Antipode des Deutschen. Müller und Arndt konstruieren zudem einen Antagonismus zwischen dem jüdischen Kaufmann, dem die nationale Bindung fehlt und der nur auf den eigenen Vorteil schaut, und dem heimatverbundenen deutschen Bauern. Friedrich Rühs systematisiert den antisemitischen Diskurs, in dem er den Ausschluß der Juden aus der deutschen Nationalgemeinschaft auf der Basis der romantischen Volkstumslehre begründet. Die Juden erweisen sich demnach in den Kriterien Abstammung, körperliche Konstitution, Geschichte, Sprache, juristische Tradition sowie Sitten und Gebräuche als »nicht-deutsch« und können keine Gleichberechtigung in den deutschen Teilstaaten verlangen.
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Zusammenfassung und Ausblick
Wie an den Werken Ludwig Achim von Arnims und Clemens Brentanos gezeigt werden konnte, prägt die deutsch-jüdische Antithese jedoch nicht nur den pamphletistischen und essayistischen Diskurs. Bei beiden Schriftstellern muß davon ausgegangen werden, daß sie – stärker als dies in der jüngeren Forschungsgeschichte berücksichtigt wurde – einem operativen Kunstverständnis verpflichtet sind und sich in der Terminologie von Andreas Dörner und Ludgera Vogt als »Sinnproduzenten«1 verstanden haben: »Schriftsteller betreiben mit ihren Texten symbolische Politik, sie greifen kommunikativ ins politische Geschehen ein, nicht nur um bestimmte Projekte zu unterstützen und anderen ihre politische Legitimität abzusprechen, sondern auch, um politische Kultur langfristig zu formen und zu prägen.«2 Arnim ging in seiner poetologischen Kozeption davon aus, daß die Kunst versuchen muß, mit ihren Mitteln gesellschaftspolitische Wirklichkeit zu beeinflussen. Brentanos Werke erlebten zumindest in den Jahren zwischen 1809 und 1816 eine intensive Politisierung. Den Kernpunkt der politischen Vorstellungen der beiden Autoren bildete in dieser Zeitspanne die Hoffnung auf eine geeinte »deutsche Nation«; und wie Arndt oder Rühs in ihren politischen Streitschriften, konzipierten auch Arnim und Brentano ihr Bild des »Deutschen« in Opposition zum negativ konturierten »Jüdischen«. Das antisemitische Engagement der beiden Autoren verlief auf zwei Ebenen. Auf der Ebene der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit Berlins riefen Arnim und Brentano mit der Christlich-deutschen Tischgesellschaft eine nationale Gruppierung ins Leben, die selbst getaufte Juden nicht zuließ und damit der Minderheit just zu dem Zeitpunkt den Zutritt verweigerte, als sich auf Betreiben der Regierung Hardenberg ihre politische Emanzipation abzuzeich1
2
Andreas Dörner und Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 (Westdeutscher Verlag Studium; 170), S. 168. Vgl. auch Andreas Dörner und Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus Michael Bogdal. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 142f. Dörner/Vogt, Literatursoziologie (wie Anm. 1), S. 175. Dieses Anliegen der Schriftsteller gilt es zu berücksichtigen, auch wenn sich die professionellen Rezipienten bisweilen schwer damit tun »über das Erkenntnisinteresse des Autors und die Intentionen des Textes zu reden«, wie Uwe Timm in seiner lesenswerten Kritik an den diesbezüglichen Berührungsängsten der poststrukturalistisch geprägten Literaturkritiker schreibt. Uwe Timm: Der Blick über die Schulter oder Notizen zu einer Ästhetik des Alltags (1989). In: Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hg. von Martin Hielscher. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005, S. 190. Vgl. auch Jürgen Schuttes Ausführungen zur Rolle des Autors: Jürgen Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation. 5. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2005 (Sammlung Metzler; 217), S. 56–66. Zur Theorie der Autorschaft vgl. den Reader Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2000 (Reclams UniversalBibliothek; 18058).
Zusammenfassung und Ausblick
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nen begann; auf der Ebene des fiktionalen Diskurses entwarfen Arnim und Brentano ein Judenbild, welches das von Hardenberg 1812 endlich verabschiedete Emanzipationsgesetz als verhängnisvollen Fehler erscheinen ließ. Brentano vollzog dabei den Ausschluß der Juden, den er in der Realität der Tischgesellschaft durch seine Philister-Abhandlung begründete, auch in seinen fiktionalen Texten nach. Emmes Gänsefett ist in Viktoria und ihre Geschwister ausgeschlossen von der Feier aller Deutschen nach dem Sieg bei Leipzig; Dumoulin muß in Die Schachtel mit der Friedenspuppe die Jahresfeier eben dieses Sieges aus der Ferne erleben, und die drei Petschierstecher aus Gockel und Hinkel werden in Esel verwandelt und somit aus der menschlichen Gesellschaft verabschiedet. In allen drei Texten spielen auch die Franzosen eine Rolle; die ist aber bedeutend kleiner und weniger gewichtig als die der Juden. In Gockel und Hinkel wird darauf verwiesen, daß Franzosen ursprünglich das Schicksal derer von Hennegau verschuldet hätten, aber im Text selbst treten ebenso wie in der Viktoria, wo – aus Zensurgründen – die Franzosen stets nur als »die Feinde« firmieren, keine französischen Protagonisten auf. In der Erzählung Die Schachtel mit der Friedenspuppe zeigt sich Brentano gar versöhnlich, läßt gute Franzosen auftreten und den französischen Schurken Sanseau am Ende – im Unterschied zum Juden Dumoulin – seine Taten bereuen. In Brentanos Texten ist die außenpolitische Bedrohung präsent, der Schwerpunkt aber liegt darauf, den innenpolitischen Feind des deutschen Kollektivs zu entlarven: Und das ist der Jude. Auch Arnim lässt mit seinem französischen Personal mehr Milde walten als mit dem jüdischen. In seiner späten Erzählung Der tolle Invalide demonstriert er sogar, welchen Schaden franzosenfeindliche Stereotypen anrichten können. In den untersuchten Texten Halle und Jerusalem, Isabella von Ägypten, Versöhnung in der Sommerfrische und Die Majorats-Herren konzentriert sich Arnim ähnlich wie Brentano auf innenpolitische Thematiken. Die Texte erscheinen indes nicht nur als Plädoyer gegen die Judenemanzipation; der Autor attackiert auch die Ideen der Aufklärung und den Sittenverfall in Kreisen des Adels und der Kirche, wobei hier nicht gegen die Institutionen selbst, sondern gegen einzelne, korrupte Vertreter polemisiert wird. Letztlich aber wird die Befreiung der Juden und ihre Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft unter jenen Entwicklungen subsumiert, die innerhalb der Deutschen zur Desolidarisierung beitragen und somit den äußeren Feinden in die Hände spielen. Der Jude wird in den behandelten Erzählungen und Dramen Arnims und Brentanos mit einem Merkmalsbündel belegt, das dem Bild des aufrechten, integren, treuen und gutmütigen Deutschen diametral entgegensteht. – Der Jude ist nicht nur geldgierig, er strebt auch mit allen Mitteln nach gesellschaftlicher Macht und Einfluß (Beispiele: Petschierstecher, Nathan, Nathanael, Vasthi, Alraun, Golem-Bella). – Kommt der Jude tatsächlich in verantwortungsvolle Positionen, sind die Auswirkungen für die Gesellschaft verhängnisvoll (Petschierstecher, Alraun).
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Zusammenfassung und Ausblick
– Juden sind Egoisten, die nur an den persönlichen Vorteil denken und sich sowohl dem nationalen Kollektiv als auch ihren Nächsten gegenüber illoyal und brutal verhalten (hier können nahezu alle jüdischen Protagonisten aus den behandelten Texten als Beispiele angeführt werden, einschließlich Ahasvers und des Verlobten Esthers, der sie bei Vasthis Mordanschlag im Stich läßt; vor allem aber sei an das Zusammenleben in Nathans Familie erinnert). – Juden erscheinen als Verführer der Jugend, die sie manipulieren und verderben (Gänsefett, Petschierstecher, Dumoulin, Vasthi). – Juden sind nicht nur charakterlich, sondern auch körperlich degeneriert (Vasthi, Rabuni, Esthers Verlobter). – Selbst wenn Juden guten Willens sind, ihre eigenen Fehler erkennen oder aber ihren Mitmenschen helfen wollen, bringen sie doch nur Unheil für sich und andere. Wie insbesondere Arnims Texte veranschaulichen, haben die Juden die falschen Werte derart internalisiert, daß sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus ihrer Haut können. Der Jude schafft das Böse, auch wenn er das Gute will (Rabuni, Esthers Pflegevater). Fazit: Den Juden wird eine natürliche und daher nicht behebbare Inferiorität unterstellt, die sie für das Kollektiv der Deutschen zu einer Gefahr werden läßt. Hermann Kurzke hat die Romantik als allgemeinen Protest gegen »die bürgerliche Gesellschaft und ihre Folgen, gegen Industrialisierung, Verwissenschaftlichung, Politik, Bürokratie und Ökonomie«3 definiert, ihr den politischen Charakter aber gleichwohl abgesprochen, weil diese Opposition eine »private, anarchistische, spontaneistische, unorganisierte und institutionsfeindliche«4 sei: Aufgrund dieses unpolitischen Charakters sei die Romantik einem möglichen Mißbrauch gegenüber »relativ schutzlos«5. Diese These wird der Politischen Romantik insgesamt nicht gerecht; bezogen auf die Gegenstände dieser Untersuchung, verkennt sie die Ernsthaftigkeit des politischen Anliegens der beteiligten Autoren und die Geschlossenheit der romantischen Front. Die Opposition gegen die Emanzipation der Juden und das Eintreten für eine geeinte deutsche Nation ist nicht privat, spontan und unorganisiert, sondern diese Leitlinien lassen sich als Konstante aus allen hier behandelten Texten herauslesen. Letztlich gehörten jedoch beide Seiten, sowohl die Romantiker als auch die Juden, zu den Verlierern der Restaurationszeit. Die jüdische Minderheit mußte erkennen, daß ihr Einsatz in den Befreiungskriegen für sie in einen Pyrrhussieg mündete, denn die Befreiung der deutschen Teilstaaten »von der napoleonischen Hegemonie führte nicht nur zu einer ›Korrektur‹ liberaler Verfassungen, sondern auch zur Restauration alter Rechtsordnungen, die Juden diskriminier3 4 5
Hermann Kurzke: Romantik und Konservatismus. In: Aurora 61 (2001), S. 60. Ebd. Ebd., S. 59.
Zusammenfassung und Ausblick
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ten«6. In Preußen wurde die Judenemanzipation »durch eine reaktionäre Rechtsprechung und Verwaltungspraxis im Zeichen der Ideologie des christlichen Staates weitgehend ausgehöhlt«7, und das relativ fortschrittliche Emanzipationsedikt von 1812 galt nicht für die neu- und wiedergewonnenen Landesteile, so daß es zwei Drittel der 120 000 nunmehr in Preußen lebenden Juden gar nicht betraf. Wolfgang Wippermann vermutet zudem, daß das unter König Friedrich Wilhelm IV. am 31. Dezember 1842 in Kraft getretene neue preußische »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan«8 auch von »antisemitischen Motiven und Zielen«9 geprägt gewesen ist. Dieses Gesetz führte das Jus sanguinis ein und ersetzte das bis dahin geltende Jus soli – die preußische Staatsbürgerschaft leitete sich, der romantischen Volkstumslehre gemäß, nicht mehr über den Wohnsitz, sondern über die Abstammung ab.10 Zwar gab es relativ liberale Einbürgerungsrichlinien, die aber für »ausländische Juden«11 nur bedingt galten – sie benötigten eine Genehmigung durch den Innenminister. Das Gesetz vom 23. Juli 1847, das wieder eine einheitliche Regelung für die preußischen Juden schuf, hielt sie weiter aus staatlichen Ämtern gänzlich und aus akademischen weitgehend fern.12 Von den anderen deutschen Teilstaaten erließen nur Sachsen-Weimar, Württemberg und Hessen-Kassel in der Restaurationszeit gesetzgeberische Maßnahmen zugunsten der Minderheit. Dagegen wurden die in der napoleoni6
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Erik Lindner: Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften; 726), S. 104. Thomas Rahe: Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1988 (Judentum und Umwelt; 21), S. 46. Abdruck bei Jochen Baumann, Andreas Dietl und Wolfgang Wippermann: Blut oder Boden. Doppelpaß, Staatsbürgerrecht und Nationsverständnis. Berlin: Elefanten Press 1999, S. 130f. Wolfgang Wippermann: Das Blutrecht der Blutsnation. Zur Ideologie- und Politikgeschichte des ius sanguinis in Deutschland. In: Jochen Baumann, Andreas Dietl und Wolfgang Wippermann: Blut oder Boden. Doppelpaß, Staatsbürgerrecht und Nationsverständnis. Berlin: Elefanten Press 1999, S. 16. Das »jus sanguinis« bildete fortan bis zu der gegen enorme Widerstände aus dem konservativen Lager im Jahr 1999 durchgeführten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland den Maßstab für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft. Vgl. hierzu Baumann/Dietl/Wittmann, Blut oder Boden (wie Anm. 8). Ebd., S. 130. Vgl. Stefi Jersch-Wenzel: Rechtslage und Emanzipation. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A.Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Band II: Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel und Michael A. Meyer: Emanzipation und Akkulturation. 1780–1871. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1401), S. 56.
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Zusammenfassung und Ausblick
schen Ära für die Frankfurter und Hamburger Juden errungenen Rechte schon durch den Wiener Kongreß wieder aufgehoben, und in den ehemaligen Rheinbundstaaten kam der hoffnungsvoll begonnene Emanzipationsprozeß ebenfalls ins Stocken.13 »In den übrigen Staaten des Deutschen Bundes änderte sich nichts an den den altertümlichen Sonderrechten und -abgaben, denen die Mehrheit der deutschen Juden bis zum Ausbruch der Revolution von 1848 unterlag.«14 Doch nicht nur die jüdische Hoffnung auf eine »bürgerliche Verbesserung«, auch die romantischen Träume von einem deutschen Nationalstaat blieben zunächst unerfüllt. Da half es nichts, daß Friedrich Ludwig Jahn auf dem Wiener Kongreß erschien und die deutschen Fürsten an ihr Einheitsversprechen während der Befreiungskriege erinnerte; der wegen seiner altdeutschen Tracht und seines Rauschebarts von der feinen Wiener Gesellschaft »wie ein Tanzbär«15 bestaunte Turnvater wurde als närrischer Phantast behandelt und abgewiesen. Statt dem einen deutschen Vaterland, auf das die Romantiker spekulierten, etablierten die am Interessenausgleich der Dynastien orientierten Verhandlungspartner auf dem Kongreß den »Deutschen Bund«, ein lockeres Bündnis mit 39 souveränen Staaten und Städten.16 Der 1814 gestorbene Fichte hatte diese Enttäuschung nicht mehr miterlebt. Andere, wie Brentano und Arnim, kehrten der Politik nach 1815 zunehmend desillusioniert den Rücken zu. Rühs starb bereits 1820. Müller, der ab 1816 als Generalkonsul in Metternichs Diensten in Leipzig wirkte, rief immer häufiger das »Befremden seiner Brotherren«17 hervor, die ihn 1827, zwei Jahre vor seinem Tod, denn auch nach Wien zurückbeorderten. Auch Arndt, dem die Berufung auf eine Bonner Professur für Geschichte 1818 ein weiteres öffentliches Wirken zu garantieren schien, geriet in Konflikt mit den Autoritäten: 1820 wurde er in Gefolge der Karlsbader Beschlüsse als Professor suspendiert und für zwei Jahrzehnte kaltgestellt. Erst 1840 erfolgte durch den neuen König Friedrich Wilhelm IV. die Begnadigung.18 Betrachtet man diese Biographien, so hat Kurzke recht, wenn er auf die Ferne der romantischen Schriftsteller von den Instanzen der politischen Entscheidungsfindung verweist. Dennoch darf die Wirksamkeit der romantischen Konstruktion eines deutsch-jüdischen Gegensatzes nicht unterschätzt werden. Die 13 14 15 16 17 18
Vgl. Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp; 1257), S. 30f. Ebd., S. 31. Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. Zweite Aufl. München: C. H. Beck 2004 (Beck’sche Reihe; 1602), S. 211. Vgl. ebd., S. 209–218. Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon. Zürich: Artemins & Winkler 1995, S. 209. Vgl. Jörg Schmidt: Fataler Patron. Noch immer tragen deutsche Schulen, Kasernen und eine Universität den Namen des völkischen Ideologen und Antisemiten Ernst Moritz Arndt. In: Die Zeit, 5. November 1998, S. 94.
Zusammenfassung und Ausblick
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Romantiker haben die tradierten antijüdischen Vorurteile modernisiert und sie für das nationale Argumentationsmuster und die Auseinandersetzungen ihrer Gegenwart dienstbar gemacht. Den jüdischen Autoren war die Gefahr, die von dem romantische Gedankengut auf ihr Emanzipationsbegehren ausging, durchaus bewußt, wie kurz im Kapitel H gezeigt wurde. Saul Ascher antwortete mit der Haltung des aufgeklärten Kosmopoliten, während Ludwig Börne und der Culturverein sich um ein jüdisches Sonderbewußtsein bemühen, das sie allerdings als integralen Bestandteil des deutsch-nationalen Ganzen verstanden. Heinrich Heines Der Rabbi von Bacherach verweist auf die Aussichtslosigkeit eines solchen Vermittlungsversuchs. Heines Skepsis ist nicht unbegründet: Die Tiraden eines Fries oder Rühs etwa erreichen auch die normale Bevölkerung und forcieren durchaus antisemitische Ressentiments.19 Das kann von den Texten Arnims und Brentanos, die sich auf dem literarischen Markt nicht durchsetzen können, zwar kaum behauptet werden, wohl aber von denen Wilhelm Hauffs, dessen jüdisches Personal ebenfalls mit dem oben entfalteten Merkmalskodex erfaßt werden kann und der nach Rolf Düsterberg bewußt auf dieses Gedankengut zurückgegriffen hat, weil es ihm im Ringen um einen möglichst großen Leserkreis als opportun erschien. Sein »unbedingtes Erfolgsstreben«20 habe demnach dazu geführt, daß er etwa im Roman Mitteilungen aus den Memoiren des Satan (zwei Bände, 1825/26)21 die Figur des Ahasver auftreten läßt, »die seit Jahrhunderten in den Köpfen der christlichen Umwelt«22 als »Verkörperung des jüdischen, ewig wandernden nomadischen Volkes«23 herumspukte. Ahasver, der in der höheren Gesellschaft nicht heimisch wird, läßt sich gemeinsam mit dem Teufel im Gasthaus mit den Trinkern ein.24 Im zweiten Teil des Romans präsentiert Hauff »Szenen aus dem jüdischen Geld-, Spekulanten- und Börsenmilieu«25, in denen er Juden dem Klischee gemäß als »schmutzige Wuche19
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Vgl. Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. Aus dem Englischen übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. München: C. H. Beck 1994, S. 162; Arno Herzig: Jüdische Akkulturationsvorstellungen im Vormärz. Für Walter Grab zum 80. Geburtstag. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Hg. von Horst Denkler, Norbert O. Eke u. a.: Bielefeld: Aisthesis 1999 (Forum Vormärz-Forschung; 4), S. 63f.; Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder: Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte. Essays. Köln: Papy Rossa 1999, S. 673–675. Rolf Düsterberg: Wilhelm Hauffs ›opportunistische‹ Judenfeindschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 196. Ich folge mit meinen kurzen Hinweisen zu Hauff Düsterbergs Argumentation. In seinem Beitrag finden sich noch weitere Textbeispiele. Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2. Hg. von Hermann Engelhard. Essen: Phaidon o. J. [1959], S. 413–674. Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 196. Ebd. Vgl. Hauff, Werke II (wie Anm. 21), S. 473–513. Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 197. Siehe Hauff, Werke II (wie Anm. 21), S. 620–653.
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rer und gewissenlose Finanzjongleure«26 kennzeichnet. Auch eine schöne Jüdin tritt auf, die einen verliebten deutsch-christlichen Kaufmann ins Unglück stürzt. Dabei bemüht sich Rebekka (ähnlich wie vordem Rabuni) durchaus um Assimilation und läßt sich auch taufen, aber es gelingt ihr gemäß der antisemitischen Logik nicht, das »jüdische Wesen« aufzugeben.27 In der Novelle Jud Süß (1827)28 über den authentischen Fall des Joseph Süßkind Oppenheimer (1692–1738), Finanzminister bei Herzog Karl Alexander von Württemberg, wird der verschlagene Süß mit ehrenwerten vaterländisch eingestellten Kreisen aus der landständisch-konservativen Opposition kontrastiert, die in ihrem Urteil über Süß übereinstimmen: »[J]a, wir werden recht unglücklich werden, der böse Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat«29. Im non-fiktionalen Diskurs finden sich bei Hauff keine Hinweise darauf, daß ihn die Frage der jüdischen Emanzipation besonders beschäftigt. Deshalb scheint Düsterbergs These berechtigt, daß der Autor als gewiefter Stratege in Dingen der eigenen Vermarktung das Thema aufgreift, »weil es gesellschaftlich en vogue und politisch virulent ist und er damit seinen erfolgsorientierten Beitrag zur Diskussion leisten kann, jedoch nicht, um eine eigene Botschaft zu vermitteln«30. Ein Konzept, das aufging: Hauff avancierte, wie es Fritz Martini formulierte, zu einem »Herren des literarischen Marktes«31 und gehörte zu den Spitzenverdienern unter den deutschsprachigen Schriftstellern.32 Die Texte des bereits 1827 verstorbenen Hauff erschienen in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts; es blieb Joseph von Eichendorff, dem »letzten Ritter der Romantik«33, vorbehalten, die unglückselige Traditionslinie in die Zeit des engeren Vormärz zu verlängern.34 26 27
28 29 30 31 32 33
34
Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 201. Hauff, Werke II (wie Anm. 21), S. 651: »Rebeckchen, das liebe Kind, sah auch nicht aus, als wollte sie mit dem neuen Glauben auch einen neuen Menschen anziehen.« Vgl. dazu Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 202. Hauff, Werke II (wie Anm. 21), S. 156–222. Ebd., S. 199. Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 211. Herv. i. O. Fritz Martini: Wilhelm Hauff. In: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Hg. von Benno von Wiese. 2. Aufl. Berlin: Schmidt 1983, S. 532. Vgl. Düsterberg, Hauffs Judenfeindschaft (wie Anm. 20), S. 195. Der Jungdeutsche Theodor Mundt bezeichnete Eichendorff als »Letzten [...] der romantischen Schule«, der Verleger Levin Schücking als »letzte[n] eines ausgestorbenen Rittergeschlechts«. Zit. n. Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 4: Dramen. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker; 31), S. 1038. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit Eichendorffs Einstellung zum Judentum ist Desiderat der Forschung. Von den Hinweisen Wolfgang Frühwalds – etwa Wolfgang Frühwald: Die Entdeckung der Erinnerung. Zu Eichendorffs historischen, politischen und autobiographischen Schriften. In: Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 5: Tagebücher, autobiographische Schriften, Dichtungen, historische
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In seinem Lustspiel Das Incognito35, das wahrscheinlich Ende 1843 entstand, tritt mit Paphnutius ein neureicher Schlossbesitzer jüdischer Herkunft auf, der sich in die deutsche Gesellschaft nur aus Opportunismus und egoisti-
35
und politische Schriften. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; 96), S. 850f. – einmal abgesehen, spielt dieser Aspekt auch bei Arbeiten, die Eichendorffs politische Auffassungen analysieren, keine Rolle. Als wichtige Studien sind zu nennen: Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken. 1. Teil. In: Aurora 28 (1968), S. 7–32; Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken. 2. Teil. In: Aurora 29 (1969), S. 50–69; Peter Horst Neumann: Restauration der Zukunft? Über Eichendorff und den heutigen Gleichstand linker und rechter Ratlosigkeit. In: Aurora 39 (1979), S. 16–27; Wolfgang Frühwald: Der Regierungsrat Joseph von Eichendorff. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979), S. 37–67; Alexander von Bormann: Die Bedeutung der Französischen Revolution im Werk Joseph von Eichendorffs. In: Les Romantiques allemands et la Revolution francaise. Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Straßburg: Recherches Germaniques 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 295–308; Peter Uwe Hohendahl: Konservativismus oder Romantik? Überlegungen zu Eichendorffs historischem Ort. In: »Was in den alten Büchern steht...«: Neue Interpretationen von der Aufklärung zur Moderne. Festschrift für Reinhold Grimm. Hg. von Karl-Heinz J. Schoeps und Christopher J. Wickham. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris: Peter Lang 1991 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 32), S. 23–42; Martin Hollender: Eichendorffs Deutschland – unser Deutschland? In: Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848. Hg. von Wilhelm Gössmann und Klaus-Hinrich Roth. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1994, S. 343–347; Alfred Riemen: Freiheit und gewachsene Staatsordnung statt liberté und egalité. Deutschland und romantische Staatstheorie in Eichendorffs Denken. In: Aurora 54 (1994), S. 18–35; Alfred Riemen: »Das Schwert von 1813«. Die deutsche Gesellschaft der Restaurationszeit in Eichendorffs Dichtung. In: Poetisierung – Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur bis 1848. Hg. von Wilhelm Gössmann und Klaus-Hinrich Roth. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1994, S. 109–136; Franz Xaver Ries: Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff. Berlin: Duncker & Humblot 1997 (Schriften zur Literaturwissenschaft; 11); Alfred Riemen: Adelsleben und Zeitgeschehen. Beobachtungen Eichendorffs zur napoleonischen Zeit. In: Aurora 58 (1998), S. 69–88; Jutta Osinski: Eichendorffs Kulturkritik. In: Aurora 61 (2001), S. 83–96. Eichendorff, Werke IV (wie Anm. 33), S. 575–603. Vgl. zu dem Text den Kommentar von Hartwig Schultz ebd., S. 986–1060, der sich jedoch nicht um die antijüdischen Implikationen des Lustspiels kümmert. Schultz verweist jedoch (ebd., S. 1024f.) auf eine Parallelfigur des Paphnutius in dem Märchen Libertas und ihre Freier (1849). Hier heißt der jüdische Aufsteiger Pinkus. Vgl. Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 3: Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen II. Hg. von Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; 100), S. 559–595. Pinkus steigt zum Baron auf und erwirbt signifikanterweise den »ganzen Nachlaß des seligen Nicolai« (ebd., S. 562). Das Märchen wird bei Ries, Zeitkritik bei Eichendorff (wie Anm. 33), S. 241–273 ausführlich behandelt; auch hier fehlt freilich eine Auseinandersetzung mit den antijüdischen Implikationen.
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schen Motiven heraus integriert hat und dem ideelle Werte gänzlich fremd sind: »Und so aus Lächeln und solchem Glauben / Und Gegenglauben, an den niemand glaubt, / Bestehen die Staaten überhaupt.«36 Nun hofft er auf noch mehr gesellschaftlichen Einfluß und Reichtum und will deshalb die ihm anvertraute Colombine ohne Rücksicht auf deren Gefühle mit dem König verheiraten. »Die das Schicksal machen, die hohen Herren, / Sie sehen auch auf Schickseln gern«37, sagt Paphnutius, der sich in einem Traum schon als Verwandter des Königshauses sieht: »Auf der Brust einen Stern von den reinsten Brillanten, / So eine Art Hausorden von hohen Verwandten – / Unsre Leut hatten all die Hüte abgenommen / Und zischelten, ob da nicht der Messias gekommen?«38 Daß zwielichtige Figuren wie Paphnutius sich überhaupt Hoffnungen auf einen solchen Aufstieg machen dürfen, lastet Eichendorff der Aufklärung an, die in Das Incognito eine gespenstische Verbindung mit den radikaldemokratischen Kräften des Vormärz eingeht: Als die Revolutionäre mit Gesängen von »Licht«39 und »Menschengeist«40 über den Kirchhof ziehen, steigen die Intimfeinde der Romatiker, Friedrich Nicolai und Johann Erich Biester, aus ihren Gräbern; auch Sebaldus Nothanker, Titelheld von Nicolais Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker (erschienen 1773–76) und die von Biester herausgegebene Berlinische Monatsschrift (personifiziert als »Die Blaue«) erwachen zu neuem Leben.41 »Weltbürger. Hörten im Feld euer Geschrei / Schien uns viel Verstand dabei, / Da nahmen wir geschwind unsere Perücken, / Um euch brüderlich die Hand zu drücken«42, sagt Nicolai,43 der sich denn denn auch gleich als »Papa«44 der revolutionären Bewegung begreift. Diese will »[a]lles gleich«45 machen, wie Ralf, einer ihrer Wortführer, bekundet.46 Sein Kollege Kuntz konstatiert, daß es bald ans »Kriti- und Suitisieren«47 und dann auch »Unaufhaltsam fort ans Emanzipieren«48 gehe: »Juden, Fleisch, Weib, Nationen, / Wo sie schachern, wo sie wohnen.«49 36 37 38 39 40 41 42 43
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Eichendorff, Werke IV (wie Anm. 33), S. 578f. Ebd., S. 593. Ebd. Ebd., S. 582. Ebd. Vgl. ebd., S. 582f. Ebd., S. 584. Über Eichendorffs verzerrtes und falsches Nicolai-Bild informiert Wolfgang Martens, der sich auch mit Das Inkognito auseinandersetzt: Wolfgang Martens: Zu Eichendorffs Nicolai-Bild. In: Aurora 45 (1985), S. 106–120, besonders S. 116f. Eichendorff, Werke IV (wie Anm. 33), S. 586. Ebd., S. 585. »Gleichmacherei und Verwischung wesentlicher naturbedingter Unterschiede, das ist für Eichendorff die geistige Todsünde der Aufklärung«, wie Riemen, Adelsleben und Zeitgeschehen (wie Anm. 34), S. 71 schreibt. Eichendorff, Werke IV (wie Anm. 33), S. 588. Ebd. Ebd.
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Diese Verweise mögen genügen, um zu zeigen, daß die Emanzipation der Juden in Das Incognito einem »Fortschritt« zugeordnet wird, den Eichendorff aus einer nationalen Perspektive heraus – Nicolai und seine Gefolgsleute erscheinen als »Weltbürger«, was ihnen prompt negativ ausgelegt wird – als zerstörerische Gefahr empfindet und deshalb ablehnt. Damit führt auch der »letzte Romantiker« die nationale, judenfeindliche und emanzipationskritische Linie fort. Die Romantiker traten von der Bühne ab, ihr Konstrukt einer Wesensfremdheit zwischen Deutschen und Juden blieb jedoch präsent – Richard Wagners Streitschrift Das Judentum in der Musik50, die als einer der »schlimmsten antisemitischen Texte des 19. Jahrhunderts«51 gilt, versuchte im Jahr 1850, das »Fremdartige[]«52 und »unwillkürlich Abstoßende«53 der Menschen jüdischen Glaubens zu erweisen. Und auch im Frankfurter Paulskirchenparlament von 1848, dem die greisen Arndt und Jahn noch angehörten, kursierten die romantischen Argumentationsfiguren. »Die Israeliten gehören vermöge ihrer Abstammung, das wird Niemand leugnen, dem deutschen Volk nicht an«54, formulierte dort der parteilose Martin Mohl seinen Vorbehalt gegen eine rechtliche Gleichstellung von jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen. Dennoch brachte die Revolution scheinbar den »Durchbruch auf der Ebene der Gesetzgebung«55. Mit dem Gesetz vom 27. Dezember 1848 betreffend die »Grundrechte des deutschen Volkes« avancierten Juden in den meisten deutschen Staaten zu gleichberechtigten Bürgern. Österreich, Bayern, Preußen und Hannover jedoch verweigerten die Zustimmung, und ab 1851 trieb die Entwicklung mit der formellen Aufhebung der Grundrechte wieder auseinander. Erst das Emanzipationsgesetz vom 3. Juli 1869 des Norddeutschen Bundes, das im April 1871 als Reichsgesetz übernommen wurde, ließ rechtliche Unterschiede zwischen Juden und Christen nicht mehr zu und stellte die jüdische Minderheit bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten mit der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft formell gleich.56 50
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Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Briefe. Hg. von Julius Kapp. Dreizehnter Band: der Polemiker. Leipzig Hesse & Becker 1914 (Deutsche KlassikerBibliothek), S. 7–29. Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 205. Wagner, Schriften XIII (wie Anm. 50), S. 11. Ebd., S. 9. Vgl. zu Wagners Antisemitismus u. a. Paul Lawrende Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus. Aus dem Englischen von Angelika Beck. Zürich, München: Pendo 1999 und Hartwich, Romantischer Antisemitismus (wie Anm. 51), S. 205–258. Franz Wigard: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. Band 3. S. 1754f. Zit. n. Dieter Gosewinkel: »Unerwünschte Elemente«. Einwanderung und Einbürgerung der Juden in Deutschland 1848–1933. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998), S. 84. Berding, Moderner Antisemitismus (wie Anm. 13), S. 32. Vgl. ebd., S. 32–34.
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Juden blieben indes auch nach der rechtlichen Gleichstellung »Deutsche auf Bewährung«57, und in den wirkungsmächtigen Pamphleten und Schriften von Männern wie dem Historiker Heinrich von Treitschke, dem Hofprediger Adolf Stoecker, dem Jounalisten Wilhelm Marr, dem Theologen und Orientalisten Paul de Lagarde sowie dem Schriftsteller und »völkische[n] Utopisten«58 Julius Langbehn wurde weiterhin trotzig ihre Andersartigkeit behauptet.59 »Jeder uns lästige Jude ist ein schwerer Vorwurf gegen die Echtheit und Wahrhaftigkeit unseres Deutschtums«60, schrieb Lagarde 1880. Im Jahr zuvor hatte Treitschke vor einer »deutsch-jüdischen Mischcultur«61 gewarnt und zu bedenken gegeben, dass die »Einwirkung des Judenthums auf unser nationales Leben [...] sich neuerdings vielfach schädlich zeigt«62. 57
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Renate Best: Juden und Judenbilder in der gesellschaftlichen Konstruktion einer deutschen Nation (1781–1804). In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt a. M.: Campus 2001, S. 213. Peter Pulzer: Die Wiederkehr des alten Hasses. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A.Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Band III: Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz: Umstrittene Integration. 1871–1918. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1401), S. 238. Vgl. dazu ausführlich u. a. Berding, Moderner Antisemitismus (wie Anm. 13), S. 86–162; Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a. M: Suhrkamp 1999 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1410), S. 292–306; Pulzer, Wiederkehr des alten Hasses (wie Anm. 58) sowie den knappen Überblick bei Victor Karady: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Aus dem Französischen von Judith Klein. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1999 (Europäische Geschichte), S. 238–244. Zu Treitschke und Stoecker vgl. vor allem Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauuung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 165–297. Zu Langbehn: Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«. In: Handbuch zur »Völkischen Bewegung«. 1871–1918. Hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. Paris: Saur 1996. S. 94–113; zu Lagarde: Ina Ulrike Paul: Paul Anton de Lagarde. In: Handbuch zur »Völkischen Bewegung«. 1871– 1918. Hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. Paris, München: Saur 1996, S. 45–93 sowie neuerdings: Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München: Hanser 2007. Paul de Lagarde: Die graue Internationale. In: Ders.: Schriften für das deutsche Volk. Band I. München 1934. S. 358. Hier zit. n. Pulzer, Wiederkehr des alten Hasses (wie Anm. 58), S. 236. Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg. von Walter Boehlich. Frankfurt a. M. 1988, S. 10. Ebd., S. 10f. Zum »Berliner Antisemitismusstreit«, den Treitschke auslöste, siehe die Dokumentation: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg, von Walter Boehlich. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1988 (Insel-Taschenbücher; 1098) sowie die Beiträge von Kurt Lenk: Der Antisemitismusstreit oder: Antisemitismus der »gebildeten Leute«. In: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Hg. von Hans Otto
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Der Erste Weltkrieg, in dem die jüdische Minderheit vielfach ihre Loyalität zum deutschen Vaterland auf todbringende Weise unter Beweis stellte,63 tat solchen Thesen keinen Abbruch. Thomas Rahe zieht im Hinblick auf die Katastrophe von 1933 zu Recht das Fazit, daß die »auf Emanzipation und Assimilation basierende deutsch-jüdische Geschichte«64 nicht an »vermeintlich antagonistischen inneren Widersprüchen«65 gescheitert sei, »sondern an der mangelnden Bereitschaft der nichtjüdischen Deutschen, die Juden und das Judentum als gleichberechtigt und gleichwertig anzuerkennen«66. Das dokumentiert zum Beispiel auch der Artikel Über Nationalismus und Judenfrage67, der im September 1930 in den Süddeutschen Monatsheften erschien. Hier moniert der Schriftsteller Ernst Jünger,68 in jenen Jahren »Spachrohr einer national-revolutionären Elite«69, daß der »Stoß gegen den Juden zwar oft unter großem Aufwand, aber immer viel zu flach angesetzt wird, um
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Horch. Tübingen: Francke 1988, S. 23–34 und Friedrich Niewöhner: Germanische Legierung. Der Berliner Antisemitismussstreit von 1880. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juni 2002, S. N 3. »Bei Kriegsende hatten 96 000 Juden in den kaiserlichen Armeen gedient; 12 000 von ihnen waren gefallen. 35 000 wurden mit Orden ausgezeichnet«, erläutert Paul Mendes-Flohr: Im Schatten des Weltkrieges. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A.Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Band IV: Avraham Barkai, Paul Mendes-Flohr und Steven M. Lowenstein: Aufbruch und Zerstörung. 1918–1945. München: C. H. Beck 2000 (Beck’sche Reihe; 1401), S. 17. Thomas Rahe: Religionsreform und jüdisches Selbstbewußtsein im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. In: Menora 1 (1990), S. 89. Ebd. Ebd. Ernst Jünger: Politische Publizistik. 1918–1933. Hg, kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 587–592. Zu Jüngers politischen Positionen vgl. Harro Segeberg: Revolutionärer Nationalismus. Ernst Jünger während der Weimarer Republik. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a. M. 1993, S. 327–342 und Steffen Martus: Ernst Jünger. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2001 (Sammlung Metzler; 333). Zu den Verbindungslinien zwischen Romantik und Konservativer Revolution vgl. Berthold Petzinna: Im Spiegelkabinett. Zum Bild der Romantik im Umkreis der »Konservativen Revolution«. In: Die echte Politik muß Erfinderin sein«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Mit einem Vorwort von Wolfgang Frühwald. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin: Saint-Albin-Verlag 1999 (Schriftenreihe des Freundeskreises Schloß Wiepersdorf – Erinnerungsstätte Achim und Bettina von Arnim; 3), S. 249–275. Zur Konservativen Revolution: Rolf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Paul Lesch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995; Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen. Heidelberg: Winter 1998 (Heidelberger Anhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte; 11). Segeberg, Revolutionärer Nationalismus (wie Anm. 68), S. 334.
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wirksam zu sein«70. Der Jude, so Jünger in diesem Pamphlet, werde den »ersten deutschen Grundsatz [...], nämlich den Satz, daß es ein Vaterland gibt, das Deutschland heißt«71, immer leugnen. Eine der »offenbaren Folgen«72 dieses Satzes aber sei es, daß es Juden gebe. Exakt diesen Sachverhalt möchte der »Zivilisationsjude«73, wie Jünger schreibt, durch seine scheinbare Assimilation als »Meister aller Masken«74 unterlaufen. Wie Achim von Arnim in der Erzählung Versöhnung in der Sommerfrische knappe 120 Jahre zuvor hält auch Jünger diesen Versuch für aussichtslos: »Die Erkenntnis und Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und unbewegte Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht.«75 Wenn sich der »deutsche Wille«76 Bahn breche – darunter versteht der konservative Revolutionär vornehmlich die Zurückdrängung liberalen Gedankenguts –, könne der Jude den Deutschen nicht mehr gefährlich werden. Denn eine »schöpferische Rolle«77 im »deutsche[n] Leben«78 zu spielen, gelinge ihm – vorausgesetzt, er wird als Jude erkannt – ohnehin »weder im Guten noch im Bösen«79. Ist der Liberalismus besiegt, wird sich auch der »Wahn«80 des Juden, »in Deutschland Deutscher sein zu können«81, verlieren. Für Juden, lautet das Fazit des »nationalistische[n] Fundamentalist[en]«82 Jünger, gebe es nur jene »letzte[] Alternative [...] in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein«83. Die Wortwahl mag heute weniger drastisch sein als bei Treitschke oder Jünger, doch der Versuch, eine deutsche nationale Identität auf Kosten gesellschaftlicher Minderheiten zu entwerfen oder zu stabilisieren, bleibt unvermindert aktuell. Das soll abschließend ein kurzer Blick auf die politische Streitkultur in der Bundesrepublik der vergangenen Jahre zeigen. Ob 1999 in der Unterschriftenkampagne der hessischen CDU gegen die geplante Reform des deutschen Staatsbürgerrechts durch die rot-grüne Regierungskoalition,84 den 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
Jünger, Politische Publizistik (wie Anm. 67), S. 590. Ebd., S. 591. Ebd. Ebd., S. 592. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 590. Ebd. Ebd. Ebd., S. 592. Ebd. Segeberg, Revolutionärer Nationalismus (wie Anm. 68), S. 332. Jünger, Politische Publizistik (wie Anm. 67), S. 592. Das Gesetz, das ursprünglich länger hier lebenden Menschen ohne deutschen Pass eine unbürokratische Einbürgerung ermöglichen und das Dogma vom Verbot der Mehrstaatlichkeit aufgeben sollte, wurde in erheblich verwässerter Form nach einem Kompromiß mit der FDP dann aber doch verabschiedet. Immerhin wurde das Ab-
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Diskussionen um den Begriff der »deutschen Leitkultur« in den Jahren 2000 und 2004,85 dem Gezerre um das Zuwanderungsgesetz86 oder aber dem Vor-
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stammungsprinzip fallen gelassen. Kinder von Migranten, die in Deutschland geboren werden, werden »Doppelpaß-Deutsche auf Zeit« [Heribert Prantl: Rot-Grün. Eine erste Bilanz. Hamburg: Hoffmann und Campe 1999 (Campe Paperback), S. 132]. Mit 23 Jahren müssen sie sich dann spätestens zwischen ihren beiden Pässen entscheiden. Migranten, die seit acht Jahren in Deutschland leben, können sich per Antrag einbürgern lassen. »Übrig geblieben ist letztendlich eine Ahnung von dem, was hätte werden können«, schreibt Prantl, ebd., S. 138, der aber gleichwohl das Gesetz als »Einstieg [...] zu einem modernen Staatsbürgerschafts- und Integrationsrecht« begreift (S. 134). Vgl. zur Diskussion um das neue Staatsbürgerschaftsrecht Prantl, ebd., S. 119–140; Andreas Dietl: Das Blutrecht gewinnt an Boden. Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland. In: Jochen Baumann, Andreas Dietl und Wolfgang Wippermann: Blut oder Boden. Doppelpaß, Staatsbürgerrecht und Nationsverständnis. Berlin: Elefanten Press 1999, S. 107–126; Gudrun Hentges und Carolin Reißlandt: Blut oder Boden – Ethnos oder Demos? Staatsangehörigkeit und Zuwanderung in Frankreich und Deutschland. In: Die Stolzdeutschen. Von Mordspatrioten, Herrenreitern und ihrer Leitkultur. Hg. von Dietrich Heither und Gerd Wiegel. Köln: Papy Rossa 2001 (Neue kleine Bibliothek; 74), S. 172–195 sowie Hans Jörg Hennecke: Die dritte Republik. Aufbruch und Erneuerung. München: Propyläen 2003, S. 80–83. Der Begriff wurde im Oktober 2000 vom damaligen Chef der CDU/CSUBundestagsfraktion, Friedrich Merz, ins Gespräch gebracht und erzeugte eine hitzige Debatte, die 2004 noch einmal aufgewärmt wurde. Vgl. Gustav Seibt: Kein schöner Land. Typisch kleindeutsch: Die Verfechter der Leitkultur sind historisch ahnungslos, folgen einer fatalen Tradition und ignorieren das moderne Heimatgefühl. In: Die Zeit, Nr 45 (2000), S. 57; Petra Ammann, Dietrich Heither und Gerhard Schäfer: Die Stolzdeutschen. In: Die Stolzdeutschen. Von Mordspatrioten, Herrenreitern und ihrer Leitkultur. Hg. von Dietrich Heither und Gerd Wiegel. Köln: Papy Rossa 2001 (Neue kleine Bibliothek; 74), S. 44–54; Hennecke, Die dritte Republik (wie Anm. 84), S. 210–214 sowie Lukas Wallraff: Das Leid mit der Leitkultur. Bei der Integrationsdebatte im Bundestag bewerfen sich Regierung und Opposition mit Floskeln wie »Leitkultur« und »Multikulti«. Eine gemeinsame Idee, wie Deutsche und Migranten zusammenleben sollen, haben die Abgeordneten nicht. In: die tageszeitung 3. Dezember 2004, S. 6. Vgl. auch die Rede des Schriftstellers Uwe Timm anlässlich der Verleihung des Jakob-Wassermann-Literaturpreises der Stadt Fürth am 12. März 2006, als er den Begriff Leitkultur als »schon deshalb unbefriedigend« bezeichnete, weil er »immer etwas Herdenhaftes assoziiert, eine Glocke läutet und das Vieh trottet hinterher. Austausch und Auseinandersetzung impliziert er jedenfalls nicht, dabei sind die doch unabdingbar, will man sich auf gemeinsame Werte verständigen«. Uwe Timm: Rede anlässlich der Verleihung des Jakob-Wassermann-Literaturpreises der Stadt Fürth am 12. März 2006. In: http://www.fuerth.de/Portaldata/1/Resources/ lebeninfuerth/dokumente/kultur/wassermannreden2006.pdf. Vgl. für die nationale Rhetorik deutscher Politiker in den 90er Jahren auch Bernd Siegler: Nächtliche Feldzüge. Wolfgang Schäuble und die nationale Identität. In: Identität und Wahn. Über einen nationalen Minderwertigkeitskomplex. Hg. von Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat 1994 (Critica Diabolis; 46), S. 103–115. Meier-Braun zeichnet den Weg des Gesetzes vom 23. Februar 2000, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der Ankündigung der »Green Card«-
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haben der hessischen und der baden-württembergischen CDU 2006, Einbürgerungswillige durch strenge Testverfahren auf ihr Wissen über deutsche Geschichte und ihre Gesinnungen hin zu überprüfen87 – stets fürchteten die Konservativen im Lande, daß die nationale Kultur (was auch immer das sein mag) durch »fremde« Einflüsse gleichsam verwässert werden könnte. »Der Ausländer als Objekt polarisierender Politik ist in der Bundesrepublik seit jeher wichtiger als der Ausländer als Subjekt der Integration«88, konstatierte Heribert Prantl in einem Leitartikel für die Süddeutsche Zeitung zu Recht. »Die deutsche Einbürgerungsdebatte ist vor allem eine Selbstfindungsdebatte.«89 Das Gefährliche an dieser Selbstfindungsdebatte: Sie kann noch immer auf eine hohe Quote an »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«90 – unter diesen Begriff faßt Wilhelm Heitmeyer in seiner repräsentativen Langzeitstudie über »Deutsche Zustände«91 die Phänomene Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Islamophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus zusammen – in der deutschen Bevölkerung rechnen. So stimmten 2004 fast 60 Prozent der 2656 vom Münchner Sozialforschungsinstitut tns-Infratest befragten Personen der These zu, daß zu viele Ausländer in Deutschland leben.92 Eine genauere Betrachtung der Verläufe von 2002, 2003 und 2004 ergibt zudem, daß bei der Fremdenfeindlichkeit »die Werte tendenziell kontinuierlich zunehmen«93
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Regelung, mit der ausländische Computerspezialisten ins Land geholt werden sollten, den Stein ins Rollen brachte, bis zur endgültigen Verabschiedung am 1. Juli 2004 akribisch nach. Signifikant ist einer der unzähligen Streitpunkte: Die Union wollte einen Passus im Gesetz verankert sehen, wonach Zuwanderung »unter Berücksichtigung der [...] der nationalen Identität« erfolgen dürfe; das gelang ihr jedoch nicht. Karl-Heinz Meier-Braun: Einwanderungspolitik. Von einer Geschichte, die nicht zu Ende gehen wollte. In: Deutsche Zustände. Folge 3. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp; 2388), S. 240–249, Zitat S. 244 sowie Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, S. 316f. Vgl. hierzu Heribert Prantl: Der Deutschmacher-Test. In: Süddeutsche Zeitung, 21. März 2006, S. 4; Florian Klenk: Bei den Deutschmachern. Was muss ein neuer Staatsbürger wissen? Zu Besuch bei den Beamten, die den hessischen Fragebogen erstellt haben. In: Die Zeit, 23. März 2006, S. 4; Jörg Lau: Zwischen Quizshow und Verhör. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Einbürgerungen. Die vielen Fragebögen sind da nur hinderlich. In: Die Zeit, 23. März 2006, S. 4. Zum 1. September 2008 ist der Einbürgerungstest bundesweit eingeführt worden. Prantl, Deutschmacher-Test (wie Anm. 87). Ebd. Wilhelm Heitmeyer: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse aus den Jahren 2002, 2003 und 2004. In: Deutsche Zustände. Folge 3. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp; 2388), S. 14f. Vgl. Deutsche Zustände. Folge 3. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp; 2388). Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (wie Anm. 90), S. 21. Ebd., S. 26. Kurs. i. O.
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und auch bei der Islamophobie ein Anstieg zu vermerken ist.94 Prantls Vorwurf gegenüber der CDU, sie betreibe mit den 2006 unmittelbar vor drei Landtagswahlen95 ins Gespräch gebrachten Fragebögen für Einbürgerungswillige »[n]icht für die Einwanderer, sondern für die deutschen Wählerinnen und Wähler«96 Ausländerpolitik, ist in diesem Kontext mehr als berechtigt. 1999 bescherte die Diskussion um den Doppelpass der hessischen CDU bekanntlich ihr bestes Ergebnis bei Landtagswahlen seit 17 Jahren und die überraschende Ablösung des in der Bevölkerung beliebten SPD-Ministerpräsidenten Hans Eichel durch den CDU-Oppositionsführer Roland Koch.97 Im Vergleich zu den Vorbehalten gegenüber Migranten stößt die Zustimmung zu antisemitischen Thesen in der deutschen Bevölkerung auf eine geringere und auch im Untersuchungszeitraum nicht ansteigende Resonanz. Dennoch: Den Satz, »Juden haben in Deutschland zu viel Einfluß«, haben 2002 (21,7 Prozent), 2003 (23,4) und 2004 (21,5) jeweils über zwanzig Prozent der Befragten bejaht.98 Auch dieses Meinungsklima haben sich einige Politiker zunutze machen wollen. So hielt am 3. Oktober 2003 der damalige CDUBundestagsabgeordnete Martin Hohmann in Neuhof bei Fulda eine Rede unter dem Motto »Gerechtigkeit für Deutschland«.99 Es ging dem Konservativen
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Vgl. ebd., S. 23. Die taz sah sich durch diese alarmierende Entwicklung zu der Schlagzeile »Rassismus ist salonfähig« inspiriert. Lukas Wallraff: Rassismus ist salonfähig. Die repräsentative Langzeitstudie »Deutsche Zustände« ergibt: Die Ausländerfeindlichkeit wächst stetig. Der Anstieg geht besonders auf Personen zurück, die sich der politischen Mitte zuordnen. In: die tageszeitung, 3. Dezember 2004, S. 1. In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt. Hinzu kamen die Kommunalwahlen in Hessen. Prantl, Deutschmacher-Test (wie Anm. 87). Vgl. Georg Löwisch: Der Doppelpass-Trick. Wie Roland Koch 1999 seine Liebe zur Einwanderungspolitik entdeckte. In: die tageszeitung, 21. März 2006, S. 4. Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (wie Anm. 90), S. 22. Der Satz »Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören« stößt indes bei 62,2 Prozent auf Zustimmung. »Eine solch breite Abwehrhaltung der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Thema der deutschen Verbrechen im Dritten Reich ist besorgniserregend.« Aribert Heyder, Julia Iser und Peter Schmidt: Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus. In: Deutsche Zustände. Folge 3. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp; 2388), S. 150f. Vgl. dazu auch Reinhard Wittenberg und Manuela Schmidt: Antisemitische Einstellungen in Deutschland zwischen 1994 und 2002. Eine Sekundäranalyse repräsentativer Bevölkerungsumfragen aus den Jahren 1994, 1996, 1998 und 2002. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 13 (2004), S. 161–183. Die Rede liegt dem Verf. in einer sechsseitigen Internetfassung vor, nach der ich im folgenden zitiere: Martin Hohmann: Gerechtigkeit für Deutschland. Rede zum Nationalfeiertag am 3. Oktober 2003. In: http://www.heise.de/bin/tp/issue/r4/dlartikel2.cgi?artikelnr=15981&mode=print.
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dabei in erster Linie um einen »Entlastungsangriff«100: Hohmann wollte, 58 Jahre nach Kriegsende, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen wissen und am Nationalfeiertag seinen etwa 120 Zuhörern vermitteln, daß sie sich ihren Nationalstolz nicht durch jene mahnenden Stimmen nehmen lassen dürften, die auf die durch Deutsche begangenen Verbrechen in der NS-Zeit hinweisen würden. Noch immer, so Hohmann, hätten die Deutschen auf der Suche nach einer positiv besetzten nationalen Identität unter dem Vorwurf der Kollektivschuld zu leiden. »Die Deutschen als Tätervolk. Das ist ein Bild mit großer, international wirksamer Prägekraft geworden«101, sagt Hohmann, der eine »allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewußtsein«102 diagnostiziert. Andere Völker dagegen, so Hohmanns These, hätten ähnliche Verbrechen begangen und müssten sich dennoch nicht solchen Vorwürfen stellen, sondern könnten es sich in der Rolle der »relativen Unschuldslämmer«103 bequem machen. Als Beispiel nennt er die Beteiligung von Juden an der Durchsetzung des Bolschewismus in Rußland oder Ungarn ab 1917.104 »Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase nach der ›Täterschaft‹ der Juden fragen. Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen.«105 Wenn die Juden indes nicht als »Tätervolk« gelten, lautet Hohmanns Fazit, könne man gegen die Deutschen ebenfalls nicht diese Anklage erheben. Auch wenn die »rhetorische[] Volte«106 der Rede darin liegt, daß der CDUAbgeordnete trotz detaillierter Schilderung der »jüdischen« Verbrechen die Juden eben gerade nicht als »Tätervolk« bezeichnet (vielmehr sei die »Gottlosigkeit«107 der Nazis und der jüdischen Revolutionäre Wurzel allen Übels gewesen), ist die Intention seiner Ausführungen offenkundig. Die Assoziation, auch Juden sind Täter oder können Täter sein, soll die Stabilisierung der vermeintlich angeschlagenen deutschen Gemütslage gewährleisten. Wieder einmal vollzieht sich die nationale Selbstfindung über die Installation eines Feind100 101 102 103 104
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Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? München: C. H. Beck 2004, S. 155. Vgl. zu Hohmanns Rede ebd., S. 155–173. Hohmann, Gerechtigkeit (wie Anm. 99), S. 3. Ebd. Ebd. Zum antisemitischen Stereotyp vom »jüdischen Kommunisten« vgl. Peter Niedermüller: »Der Kommunist«. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps und Joachim Schlör. Augsburg: Bechtermünz 1999, S. 273–278 sowie Andre W.M. Gerrits: Jüdischer Kommunismus. Der Mythos, die Juden, die Partei. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14 (2005), S. 243–264. Hohmann, Gerechtigkeit (wie Anm. 99), S. 5. Benz, Antisemitismus (wie Anm. 100), S. 158. Hohmann,Gerechtigkeit (wie Anm. 99), S. 6.
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oder Gegenbildes. Wie eine Befragung von Infratest-dimap im Auftrag des ARD-Politmagazins Panorama ergab, konnte Hohmann bei seinen Ausführungen auf die Zustimmung von 49 Prozent der CDU-Wählern rechnen108 – dankenswerterweise jedoch nicht auf die Unterstützung seiner Partei. Der »eifrige[] Propagandist christlicher und nationaler Werte«109 wurde zunächst aus der CDU-Bundestagsfraktion und am 20. Juli 2004 auch aus der CDU selbst ausgeschlossen.110 Es führt kein direkter Weg von der Romantik hin zu den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten und auch nicht zu den Verirrungen des 2005 nicht mehr in den Deutschen Bundestag gewählten Hohmann.111 Aber die romantische Gruppe hat mitgeholfen, die verhängnisvolle deutsch-jüdische Antithese im kommunikativen und kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu etablieren. Das wiegt auch deshalb schwer, weil die Romantiker andere Außenseiter der Gesellschaft in ihren Dichtungen oftmals demonstrativ in Schutz nahmen und sie es oft wagten, Einspruch zu erheben gegen eine Normalität, »die sich stets auf das Votum der Mehrheit wird berufen können«112. Erinnert sei in diesem Kontext an Friedrich Schlegels Bemerkung, daß der »Begriff des Romantischen [...] meistens ganz [...] mit dem Begriff des Polizeiwidrigen«113 zusammenfalle. Das Bonmot verweist auf den Anteil, den die romantische Literatur an der Integration bislang weitgehend ausgegrenzter und diffamierter Randgruppen hatte. »Sie [die Romantiker] wagten es, niederste Stände, unehrliche Leute, ebenso wie die verfemte und verfolgte Gruppe der Zigeuner darzustellen«114, 108
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Werner Bergmann und Wilhelm Heitmeyer: Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? In: Deutsche Zustände. Folge 3. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005 (edition suhrkamp; 2388), S. 230. Benz, Antisemitismus (wie Anm. 100), S. 155. Vgl. ebd., S. 173. Hohmann erzielte in seinem Fuldaer Wahlkreis als unabhängiger Kandidat 21,5 Prozent der Stimmen und landete damit hinter Michael Brand (CDU, 39,1) und Claudia Blum (SPD, 29,7) auf dem dritten Platz. Quelle: die tageszeitung, 20. September 2005, S. 4. Karl Robert Mandelkow: Vom Kaiserreich zur Neuen Bundesrepublik. Romantikrezeption im Spiegel der Wandlungen von Staat und Gesellschaft in Deutschland. In: »Die echte Politik muß Erfinderin sein«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Mit einem Vorwort von Wolfgang Frühwald. Hg. von Hartwig Schultz. Berlin: Saint-Albin-Verlag 1999 (Schriftenreihe des Freundeskreises Schloß Wiepersdorf –Erinnerungsstätte Achim und Bettina von Arnim; 3), S. 286. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Band 6: Geschichte der alten und neuen Literatur. Eingeleitet und hg. von Hans Eichner. Paderborn, München, Wien: Schöningh 1961, S. 275. Ingrid Oesterle und Günter Oesterle: Die Affinität des Romantischen zum Zigeunerischen oder die verfolgten Zigeuner als Metapher für die gefährdete romantische Poesie. In: Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig, Bettina
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bemerken Ingrid und Günter Oesterle, die zugleich auf die immense Bedeutung dieses Tabubruchs aufmerksam machen: »Die poetische Entdeckung des Geringen [...] war sozial derart wirksam, daß die damalige gesellschaftliche Stigmatisierung, z. B. der Nachtwächter, der Schausteller, der Hirten, der Müller, der Scharfrichter und Abdecker heute kaum mehr nachvollzogen werden kann.«115 Den Juden wurde ein solches Engagement nicht zuteil, im Gegenteil, sie wurden als Gegenpol zum deutschen Wesen dargestellt und als negative Folie für den nationalen Selbstfindungsprozeß instrumentalisiert. Diese politische Problematik schmälert den literarhistorischen Rang der Dichtungen keineswegs. Es war nicht die Intention dieser Studie, die Aufwertung, die gerade das Werk Achim von Arnims in der jüngeren Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft erfuhr, wieder zurückzunehmen. Es geht nicht darum, die Romantik »einfach rechts liegen zu lassen«116. Aber Theodor W. Adornos Diktum, daß die »politische Unwahrheit«117 per se die »ästhetische Gestalt«118 beflecke, erweist sich bei näherer Betrachtung als zu optimistisch. Eine sozialgeschichtlich wie ästhetisch gleichermaßen interessierte Literaturwissenschaft darf der Spannung zwischen kompositorischer Brillanz und politischer Brisanz literarischer Texte nicht ausweichen; will sie verantwortungsvoll agieren, muß sie beiden Problemkreisen ihre Aufmerksamkeit schenken.
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Danksagung
Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg und des Bibliotheksverbundes Bayern sowie meinen akademischen Lehrern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Maximilian Forschner, Herrn Prof. Dr. Jürgen Gebhardt und Frau Prof. Dr. Christine Lubkoll. Ich danke der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die die vorliegende Untersuchung mit der Bewilligung eines zweijährigen Promotionsstipendiums ermöglicht hat. Ich danke zudem Herrn Prof. Dr. Hans Otto Horch für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Reihe »Conditio Judaica« sowie seiner Mitarbeiterin Frau Doris Vogel, die die Untersuchung redigiert hat. Bei den Teilnehmern der Übungen und Proseminare, die ich als Lehrbeauftragter zwischen 2001 und 2004 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg geleitet habe, möchte ich mich für viele spannende und anregende Diskussionen – die zuweilen auch Aspekte des Themas meiner Dissertation betrafen – bedanken. Für freundschaftlichen Rat danke ich ganz herzlich Herrn Armin Daum, Frau Fabienne Feller-Geißdörfer, Frau Babsy Gerngroß, Frau Brigitte Hacker, Frau Dr. Renata Häublein, Frau Gaby Kachelrieß, Herrn Matthias Kröner, Herrn Matthias Puschner, Herrn Thomas Puschner, Herrn Johannes Veeh sowie Frau Irina Dassler, Herrn Udo Lechner, Herrn Jörg Meyer, Herrn Simon Pawlik, Herrn Stefan Schubert und Herrn Christian Wenger. Zudem danke ich den Mitarbeiterinnen der Steuerberatungsgesellschaft Dr. Konrad Bäßler GmbH (vor allem Frau Birgit Lurtz) für computertechnische Unterstützung und dem Team der Würzburger Universitätsklinik des Jahres 1999, insbesondere Herrn Prof. Dr. Hans Kulke. Ich danke meinen Eltern Frau Wilma Puschner und Herrn Dieter Puschner (1936–1982). Mein ganz besonders herzlicher Dank gilt Herrn Professor Dr. Gunnar Och – für die ebenso lebhafte wie engagierte Betreuung dieser Arbeit, für die Unterstützung und für die vielen Gespräche.
Personenregister
Abbt, Thomas 44–46, 100 Adorno, Theodor W. 496 Alter, Peter 4 Altgeld, Wolfgang 210, 336 Andermatt, Michael 229, 302, 310, 312–314, 317–318, 320 Anderson, Benedict 24–25, 28 Angress, Ruth K. 398, 400, 428 Aretin, Johann Christoph Freiherr von 333–334, 337 Arndt, Dorothea 187 Arndt, Ernst Moritz 5–6, 22, 89–91, 116, 118–119, 130–131, 145– 148, 154, 162–168, 177, 185– 195, 200–204, 206, 210–212, 217–219, 294, 332, 337, 409– 411, 413, 443, 445, 452, 455– 456, 460, 477–478, 482, 487 Arnim, Bettina von 19, 251 Arnim, Carl Otto von 297 Arnim, Friedrich Abraham Graf von 275, 291, 298 Arnim, Ludwig Achim von 1–3, 5, 18, 22, 65, 67, 89, 118, 131, 145, 177, 199, 217, 222–229, 231–268, 272–275, 277–280, 283–303, 306– 309, 314–328, 331–333, 337–338, 340–345, 350–359, 361, 363–371, 373–375, 377–381, 384–385, 391, 405, 407, 409, 417–419, 426, 428, 431, 434, 478–480, 482– 483, 490, 496 Arntzen, Helmut 150–151
Ascher, Saul 176, 206, 274–275, 440–458, 463, 466, 476, 483 Auerbach, Isaac Levin 467 Baader, Franz von 117, 128, 206 Bardeleben, Karl Moritz von 275, 291 Barnekow, Curt von 291 Bärsch, Claus-Ekkehard 4 Bauer, Bruno 6 Baumgart, Hildegard 293, 325, 327 Bauschinger, Sigrid 319 Baxa, Jakob 10 Beck, Angelika 52 Beckedorff, Ludolph von 279–283, 289, 297 Becker, Hans-Joachim 179–181, 205 Becker, Rudolf Zacharias 256 Behler, Ernst 65, 82–83 Berghahn, Klaus L. 69, 227 Berghoff, Peter 4, 114, 119–121 Berglinger, Joseph 80 Bergmann, Werner 24 Biester, Johann Erich 486 Blitz, Hans-Martin 32, 37–38, 40, 44, 48, 55–56 Bock, Hans Manfred 24 Boeckh, August 299 Boerner, Peter 263–264 Boie, Christian Heinrich 50–51, 55 Boie, Ernestine 51 Bollacher, Martin 49
572 Bormann, Alexander von 87, 363– 364 Börne, Ludwig 192, 374, 442, 458– 463, 466, 483 Brandt, Harm-Hinrich 8, 175 Brantner, Christina E. 392 Breger, Claudia 300, 316 Brentano, Bettina 234, 259 Brentano, Clemens 5, 18, 22, 67, 89, 145, 222–224, 238, 245, 249– 250, 252–253, 257–259, 272, 275, 277, 288, 297–298, 318, 341, 377–397, 399–406, 408, 410, 413–419, 421–425, 427– 435, 478–479, 482–483 Bretschneider, Karl Gottlieb 335– 337 Breuilly, John 35 Brinkmann, Richard 15 Broch, Hermann 246 Brogi 181–182 Brückner, Ernst Theodor 53 Bruer, Albert A. 173 Brumlik, Micha 176–177, 180–181, 392 Buck, Henning 123 Burgdorf, Wolfgang 44 Bürger, Peter 82, 84, 101 Burke, Edmund 128 Chamberlain, Houston Stewart 6 Chamisso, Adelbert von 127 Chasot, Ludwig August Graf von 275, 291, 297 Chezy, Wilhelmina von 236 Clausewitz, Carl von 275, 366 Cotta, Johann Friedrich 70 Cysarz, Richard 9 David, Claude 401–402 Dohm, Christian Konrad Wilhelm von 171, 190, 211, 214, 218, 437–438, 449
Personenregister
Dohna-Schlobitten, Alexander Burggraf von 173 Drumont, Edouard 5 Düsterberg, Rolf 483–484 Ehrlich, Lothar 340 Eichel, Hans 493 Eichendorff, Joseph von 11, 59, 65–66, 98–99, 105–106, 109, 128, 145, 221, 246, 341, 484, 486–487 Eichendorff, Wilhelm von 59 Eisenmenger, Johann Andreas 353 Emmerick, Anna Katharina 435 Engels, Friedrich 110 Enzensberger, Hans Magnus 378, 384, 395 Erb, Rainer 24, 201 Erdle, Birgit R. 233, 286–288 Erenz, Benedikt 163 Estel, Bernd 28 Feilchenfeldt, Konrad 271–272 Fellner, Anton 423 Fertig, Ludwig 266 Fetzer, John 392 Fichte, Johann Gottlieb 6, 17, 22, 102–103, 121–122, 131, 135–137, 141, 147–148, 153–159, 161, 167– 168, 175–185, 205–206, 209–210, 215, 218, 245, 275, 297, 322, 332, 366, 384, 443, 445, 447–448, 452, 456, 477, 482 Fischer, Bernd 156–157, 241, 244, 303–304, 317 Fouque, Friedrich de la Motte 114, 144, 247, 259 Freund, Winfried 231, 313 Freytag, Gustav 6 Friedländer, David 439–441 Friedrich II. 44, 103, 125, 130, 159, 170–171, 213, 277, 304–305 Friedrich von Preußen 213
573
Personenregister
Friedrich Wilhelm I. 96, 170 Friedrich Wilhelm II. 171 Friedrich Wilhelm III. 174, 197, 275, 277, 382 Friedrich Wilhelm IV. 481–482 Fries, Jakob Friedrich 109, 215, 217–219, 464, 483 Friesel, Uwe 421 Fromm, Waldemar 398, 401 Frühwald, Wolfgang 66, 74, 180, 232, 341, 384, 390, 394, 419, 421, 431 Fuchs, Erich 179–181 Gamm, Gerhard 102 Gans, Eduard 467, 470–471 Gartz, Peter J. 432 Gellner, Ernest 25–26 Gentz, Friedrich 140, 412–413 Gentz, Johann Heinrich 297 Gerlach, Ludwig von 435 Giesen, Bernhard 7, 64, 67, 77–80, 87–88 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 38, 42–43 Goethe, Johann Wolfgang von 61– 63, 69–70, 72–73, 213, 223, 225, 245, 252, 259–268, 319–320, 377–378, 388 Göhler, Gerhard 108, 129 Görres, Joseph 7, 15–16, 59, 66, 89, 91, 99–100, 124–126, 145, 161– 162, 220, 259, 336–337, 377, 384, 411–412, 432, 460 Gotzmann, Andreas 441 Grab, Walter 176, 179, 421 Graevenitz, Gerhart von 346 Greiffenhagen, Martin 160 Grellmann, Moritz Heinrich 300 Grillparzer, Franz 420 Grimm, Jacob 89, 222, 224, 246, 259, 273, 355, 365, 369–370, 412–413
Grimm, Wilhelm 221–222, 224, 248, 252, 259, 267, 273, 332, 365, 369–370, 432 Grotthuß, Sara von 269 Günther, Hans F. K. 6 Gutzkow, Karl 371–374 Hacks, Peter 442 Hagen, Friedrich Heinrich von der 165, 192, 474 Hahn, Johann Friedrich 51, 53, 55– 56, 398–399 Halbfass, Helga 248–249 Hardenberg, Friedrich von 60, 66, 81, 84–85, 87, 134, 173–175, 191, 198, 215, 274–275, 277, 283, 345, 418, 464, 478–479 Hardenberg, Karl August von 411 Hardtwig, Wolfgang 30 Harnischfeger, Johannes 148 Härtl, Heinz 61, 72, 75, 232, 253, 255–256, 260, 262, 265, 267– 268, 300, 343 Hartwich, Wolf-Daniel 19, 180, 351 Hase, Karl Benedict 89 Hauff, Wilhelm 19, 483–484 Haustein, Bernd 243, 245 Hedemann, August von 275, 291 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 78, 474–475 Heine, Heinrich 192, 223, 369, 374, 467, 470–476, 483 Heiner, Hans-Jürgen 68, 74 Heinisch, Klaus J. 353 Heise, Wolfgang 67, 80 Heitmeyer, Wilhelm 492 Henckmann, Gisela 232 Henel, Heinrich 344, 362 Hentges, Gudrun 178, 181, 183– 184, 281 Herder, Johann Gottfried 16, 38, 47–50, 55, 122–124, 155, 235, 256–257, 320
574 Hermand, Jost 228 Hermann, Ingo 174, 198 Herrmann, Hans Peter 32, 37–40, 42 Herwegh, Georg 421 Herz, Henriette 269, 272 Herzinger, Richard 82–83 Hildesheimer, Wolfgang 246 Hillmar, Joseph 467, 470 Hinderer, Walter 133 Hitler, Adolf 5, 8, 10 Hobsbawm, Eric J. 25 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 420–421 Hoffmann, Christhard 2 Hoffmann, E.T.A. 18, 223, 248, 341 Hoffmann, Lutz 4–5, 28, 99, 124, 126, 147, 165–166, 187, 194, 440 Hofstaetter, Ulla 392 Hohmann, Martin 493–495 Holeczek, Heinz 171, 175 Hölty, Heinrich Christoph 51, 53 Holz, Klaus 5, 400 Hosch, Reinhard 409–410, 414 Huber, Ernst Rudolf 132 Hubmann, Gerald 217–218 Hübner, Kurt 161 Humboldt, Caroline von 251 Humboldt, Wilhelm von 127, 173– 174, 250, 251 Iffland, August Wilhelm 61 Isselstein, Ursula 270 Itzig, Moritz 251, 274, 288–294, 356, 418 Jacobi, Friedrich 251, 334 Jacobs, Friedrich 334 Jäger, Andrea 361 Jahn, Friedrich Ludwig 6, 130, 132, 221, 482, 487 Jean Paul 62, 259
Personenregister
Jeismann, Michael 3, 5, 30, 123, 129–130, 421 Jens, Walter 132 Johnston, Otto W. 204, 334 Joseph II. 44, 448–449 Jost, Isaak Marcus 228, 467, 470 Joyce, James 246 Jünger, Ernst 489–490 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 95 Kant, Immanuel 127, 136, 139, 161 Karl Alexander von Württemberg 484 Karl August (Herzog) 263 Kastinger Riley, Helene M. 241, 344, 383 Kayser, Wolfgang 227 Kemp, Friedhelm 394 Kerner, Justinus 259 Kindermann, Heinz 11 Kircheisen, Friedrich Leopold 174 Kittler, Wolf 152 Klaatsch 181–182 Klees, Michael 357–359 Kleist, Heinrich von 11, 16–17, 22, 40–41, 65, 89, 92, 104, 116, 143, 145, 147–150, 152–153, 280, 318–320 Kleßmann, Eckart 17, 231 Klopstock, Friedrich Gottlieb 40, 50–53, 55, 388 Kluckhohn, Paul 9, 11, 16 Knaack, Jürgen 276–277, 365 Knapp, Gottfried 311, 347, 349 Knobloch, Hans-Jörg 150 Koch, Franz 11 Koch, Roland 493 Koebner, Thomas 5 Köhler, Horst 29 Körber, Esther-Beate 411 Korff, Hermann August 9, 92, 225 Körner, Josef 231, 283, 405
Personenregister
Körner, Theodor 419, 421–423 Kotzebue, August von 61–63 Kozielek, Gerard 259–260 Krippendorff, Ekkehart 263 Kurland, Dorothea von 272 Kurzke, Hermann 480, 482 Lafontaine, August Heinrich 61–63, 75–76, 370–371 Lagarde, Paul de 488 Landfester, Ulrike 430 Langewiesche, Dieter 3 Laube, Heinrich 374 Lenk, Kurt 21, 29, 95, 107, 122 Lepsius, M. Rainer 28 Lessing, Gotthold Ephraim 38, 42– 43, 48, 55, 180, 342–343, 427– 429, 473 Levin, Rahel 269–270, 272 Levy, Sarah 272, 290–291, 293 Ley, Michael 7–8, 21 Lichnovsky, Eduard Maria 275 List, Joel Abraham 466–470 Loeben, Otto Heinrich Graf von 221 Löwenbrück, Anna-Ruth 438 Lukács, Georg 8, 11 Luther, Martin 213 Lützeler, Paul Michael 15, 246, 366 Mann, Heinrich 390–391 Marquardt, Hans-Jochen 128, 133, 139, 305 Marquardt, Marion 91 Marr, Wilhelm 488 Martini, Fritz 484 Matala de Mazza, Ethel 233, 257, 276, 285, 314, 323, 326–327, 330–331, 333 Mayer, Mathias 401 Meixner, Horst 270–271 Melzer 181 Mendelssohn, Moses 81, 180, 270, 437–439, 448
575 Menzel, Wolfgang 371–375, 461 Metternich, Clemens Graf 134, 215, 413 Meyer, Michael A. 440, 469–470 Michaelis, Johann David 437–438 Miller, Gottlob Dietrich 51, 55 Miller, Johann Martin 51–52, 54– 55 Moellendorff, Johann Karl von 275, 291 Moering, Renate 241 Mohl, Martin 487 Möllers, Gerhard 250, 367 Moser, Friedrich Carl von 44–46 Möser, Justus 40 Moser, Moses 466–467, 469 Moßmann, Susanna 232–233, 236, 333 Mozart, Wolfgang Amadeus 252 Muallem, Maria 188 Müller, Adam Heinrich 5, 22–23, 94, 96–98, 101, 103–108, 113, 116, 118–120, 123–125, 128– 130, 132–135, 137–145, 147– 148, 154, 158–162, 167–168, 195–200, 203–212, 215, 218– 219, 272–275, 280, 294, 297– 298, 304–307, 321–322, 384, 443, 460, 477, 482 Müller, Friedrich 259 Müller, Johannes von 259 Müller, Theodor 221 Müller, Wilhelm 19 Müller-Funk, Wolfgang 15, 40, 86, 329–330, 332 Mundt, Theodor 374 Napoleon 31, 86, 92–93, 164–165, 173, 210, 267, 272, 294, 315, 333–334, 379, 411–412, 431 Nassehi, Armin 27–28 Neumann, Peter Horst 306–308, 317–318
576 Nicolai, Carl August 64 Nicolai, Friedrich 62, 64, 70, 180, 486–487 Nienhaus, Stefan 178, 232–233, 263, 274–275, 277–279, 281, 283, 289, 292, 296 Nipperdey, Thomas 24, 32, 102, 117–118 Novalis 56–57, 72, 78, 83–86, 96, 102, 106, 108–109, 123, 223, 245, 262, 276, 384, 407, 454 Och, Gunnar 21, 192–193, 232, 286, 290, 369–370, 429 Oesterle, Günter 90, 232, 239, 252, 348, 368, 496 Oesterle, Ingrid 89, 91, 496 Ogorek, Regina 133 Oppenheimer, Joseph Süßkind 484 Papior, Jan 142 Peter, Klaus 16, 85, 149, 243, 245 Petersen, Julius 9–10 Pfahl-Traughber, Armin 23, 427 Pichler, Caroline 81 Planert, Ute 32, 35 Poliakov, Leon 179–180 Polsakiewicz, Roman 383 Portmann-Tinguely, Albert 135, 236 Propp, Wladimir 399 Pross, Caroline 380, 383, 394, 425, 431 Puchalski, Lucjan 86 Pulzer, Peter 21 Quast, Leopold von 275, 291 Raabe, Wilhelm 6 Radzivil, Anton Fürst von 275 Rahe, Thomas 2, 489 Ramler, Karl Wilhelm 388 Raumer, Carl von 275
Personenregister
Reichardt, Johann Friedrich 237, 252, 275, 297 Reimer, Georg Andreas 188 Reinhard, C. F. von 266 Reiss, Hans 103 Richter Siehe Jean Paul Richter, Dirk 27–28 Richter, Karin 108 Ricklefs, Ulfert 228, 274 Riedl, Peter Philipp 232, 344, 353, 357 Röder, Ferdinand von 297 Röder, Wilhelm von 275, 291, 297 Rohrbacher, Stefan 5 Rohrwasser, Michael 43 Rothenburg 291 Rückert, Friedrich 420 Rudolph, Günther 125, 132 Rühs, Friedrich 6, 22, 177, 211– 219, 448, 456, 464, 477–478, 482–483 Runge, Philipp Otto 259 Rürup, Reinhard 24 Salomon, Gotthold 442, 458, 463– 466 Sangmeister, Dirk 63, 75 Saphir, Moritz Gottlieb 192 Saul, Nicholas 176, 206, 274, 385, 393, 405, 422, 424–426, 457, 463 Savigny, Friedrich Carl von 89, 99, 220, 275, 366, 382 Savigny, Kunigunde von 385 Schäfer, Karl Heinz 163, 194 Schaub, Edward L. 180 Schaub, Gerhard 395, 403, 410, 415–417, 432 Scheffner, J. G. 418 Scheit, Gerhard 241, 340, 356–357 Schelling, Friedrich Wilhelm 7, 245 Schenck, Ernst von 7 Schenkendorf, Max von 423 Scheuner, Ulrich 15, 94, 97, 412
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Personenregister
Schiller, Friedrich 62, 69–70, 73, 76, 81, 136, 139–140, 144–145, 259, 262–263, 267, 278 Schinkel, Karl Friedrich 275 Schlegel, August Wilhelm 56–57, 63–64, 67, 75, 77, 79, 86, 88–89, 113–114, 141, 144–145, 259, 382, 454 Schlegel, Dorothea 81, 89–90 Schlegel, Friedrich 15–16, 18, 56– 57, 59, 63, 65, 67, 72–75, 77, 79, 81–83, 85–86, 88–90, 94, 96–97, 99, 101, 106–107, 112–114, 116, 118, 141–143, 145, 161–162, 207, 229, 237, 250, 259, 262, 370, 384, 454, 495 Schlegel, Johann Elias 38–40, 55, 473 Schleiermacher, Friedrich 18, 97, 119, 130, 182, 271, 275, 366, 380 Schlichtegroll, Friedrich 334 Schlözer, August Wilhelm 95 Schmidt, Arno 246 Schönburg, Otto Hermann Graf von 275 Schönemann, Bernd 49 Schröder, Jürgen 174, 319 Schroetter, Friedrich Leopold von 172–174 Schulin, Ernst 25 Schulte, Christoph 451, 455 Schultz, Hartwig 350, 383, 388– 390, 423–424 Schulz, Gerhard 127, 132, 153, 210, 402 Schulz, Johann Abraham Peter 252 Schulze, Hagen 165 Schütz, Hans J. 271 Schwering, Markus 16 Schwinn, Holger 434 Seeba, Hinrich C. 86, 115 Segeberg, Harro 77 Shakespeare, William 388
Sieyès, Abbé 94, 127 Sombart, Werner 6 Sprengel, Peter 422 Staegemann, Friedrich August 275, 277, 279, 418 Staengle, Peter 240, 366 Stägemann, Friedrich August 366 Stapel, Wilhelm 6 Steffens, Henrik 89, 455, 460 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 172–173, 239, 241, 245, 377, 379–380 Stein, Peter 137 Stoecker, Adolf 5, 488 Stolberg, Christian zu 51–52, 54–56 Stolberg, Friedrich Leopold zu 51, 52, 54–56 Strack, Friedrich 345, 348 Strich, Fritz 9, 12 Stürmer, Michael 115 Tacitus 206 Thalheim, Hans-Günther 257, 365 Thiersch, Friedrich 335 Tieck, Ludwig 64, 81, 224, 259, 378 Tiedemann, Karl Ludwig 275, 297 Tismar, Jens 401 Träger, Claus 11, 123, 397 Treitschke, Heinrich von 5–6, 488, 490 Tunner, Erika 383 Ueding, Gert 132 Uerlings, Herbert 16–17 Uhland, Ludwig 89, 259 Unger, Rudolf 9 Valjavec, Fritz 51 Varnhagen von Ense, Karl August 258, 297 Verweyen, Theodor 54, 56 Vierhaus, Rudolf 37–38
578 Voegelin, Erich 6 Vogel, Barbara 28 Vogt, Hannah 116 Voigt, Jürgen 476 Völker, Ludwig 312, 314–315 Voltaire 54, 388 Vordermayer, Martina 383, 400, 427, 430 Voß, Johann Heinrich 51–56, 75, 113, 251, 261, 388 Voß, Luise Gräfin von 272 Vulpius, Christiane 267 Wackenroder, Wilhelm Heinrich Ludwig 80 Wagner, Richard 6, 487 Walzel, Oskar 9 Weerth, Georg 421 Wegener, Bernd 373 Wehler, Hans-Ulrich 32, 117, 130 Weil, Jakob 374 Weimar, Klaus 10 Weininger, Otto 6 Weiss, Hermann F. 363 Wellershoff, Dieter 320 Werner, Hans-Georg 91, 152, 244– 245, 360, 381, 423
Personenregister
Werner, Zacharias 259 Wieland, Christoph Martin 50–51, 54–55, 62, 75–76, 263, 388 Wieland, Ludwig Friedrich August 62 Wienbarg, Ludolf 372–374 Wilhelmy-Dollinger, Petra 270–272 Wilken, Friedrich 370 Wingertszahn, Christoph 229, 236– 237, 312–313, 318, 345, 359, 364 Winkelmann, Stephan August 234 Wippermann, Wolfgang 481 Wisskirchen, Hans 128, 459 Wolf, Friedrich August 275 Wolf, Joseph 442, 458, 463–466 Wolfart, Karl Christian 275 Wollenberg, Friedrich Wilhelm 394 Wülfing, Wulf 57 Zelter, Karl Friedrich 275, 366 Zierden, Josef 382–383 Zimmermann, Johann Georg 43–46 Ziolkowski, Theodore 288–289 Zschock, Albert von 275 Zunz, Leopold 467