Anke Offerhaus Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
Anke Offerhaus
Die Professionalisierung des de...
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Anke Offerhaus Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
Anke Offerhaus
Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus Expertisierung, Inszenierung und Institutionalisierung der europäischen Dimension im deutschen Journalismus
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Diss. an der FU Berlin, 2009 D 188
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17032-9
Danksagung
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die als ergänzende Akteursstudie im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts „Die Europäische Union und die massenmediale Attribution von Verantwortung. Eine länder-, zeitund medienvergleichende Untersuchung“ an der Universität Leipzig und an der Freien Universität Berlin entstanden ist. Auf dem Weg bis zu ihrer Veröffentlichung haben mich zahlreiche Menschen auf ganz unterschiedliche Art und Weise inspiriert, motiviert und unterstützt. Danken möchte ich an erster Stelle meinem Doktorvater Jürgen Gerhards, der mir die Mitarbeit im oben genannten Forschungsprojekt ermöglicht und die Arbeit als akademischer Lehrer konstruktiv betreut und begutachtet hat. Außerdem danke ich Barbara Pfetsch für die Übernahme des Zweitgutachtens und hilfreiche Anregungen für die Druckfassung der Arbeit. Daneben haben viele Freund/innen und Kolleg/innen zum Gelingen der Arbeit beigetragen: Tina Claußen, Dörte Hein, Michael Hölscher, Harald Homann, Solvejg Jobst, Gunnar Otte, Axel Philipps, Jochen Roose, Jörg Rössel und Jan Skrobanek waren mir wichtige Gesprächs- und Diskussionspartner/innen. Sie haben durch sachkundige Kommentare, anregende Ideen und motivierende Worte manch vermeintliche Sackgasse zur Durchfahrtsstraße gemacht. Friederike Böllmann, Monika Eigmüller, Henrike Franz, Leo Krause, Judith Offerhaus und Mike Steffen Schäfer haben darüber hinaus verschiedene Fragmente und Versionen dieser Arbeit gelesen und kritisch kommentiert. Den EU-Journalisten in Brüssel, Frankfurt und München gebührt ein besonderer Dank dafür, dass sie mir in lebhaften und anregenden Gesprächen über ihre Berufsrolle und ihr berufliches Selbstverständnis, aber auch über die Grenzen und Konflikte ihrer Arbeit Auskunft gegeben haben. Ohne ihre Bereitschaft, sich in die Karten ihres beruflichen Alltags schauen zu lassen, hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Ein großer Dank gilt den Personen und Institutionen, die mir die praktische Durchführung und Vollendung der Arbeit ermöglicht haben: Gefördert wurde die Arbeit durch ein eineinhalbjähriges Promotionsabschluss-Stipendium und einen
Druckkostenzuschuss der FAZIT-Stiftung. Dem Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und insbesondere Monika Wohlrab-Sahr danke ich dafür, dass ich auch im Endspurt in ein wissenschaftliches Umfeld eingebunden war und in ihrem Doktorandenkolloquium Weggefährt/innen und hilfreiche Ratgeber/innen gefunden habe. Schließlich findet die Arbeit, die in Leipzig begonnen, in Berlin zur Verteidigung und in Bremen zur Veröffentlichung gebracht wurde, mit meiner Tätigkeit im Teilprojekt B3 „Die Transnationalisierung von Öffentlichkeit am Beispiel der EU“ des Sonderforschungsbereichs 597 „Staatlichkeit im Wandel“ eine konsequente Fortführung, wofür ich Andreas Hepp sehr herzlich danke. Monika Golombek sei für die Schlussredaktion und Formatierung der Arbeit ein großes Lob und ein ebensolcher Dank gesagt. Abschließend möchte ich meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden danken, die mich in dieser bekanntermaßen nicht immer einfachen Promotionszeit unterstützt haben – sie wissen im Einzelnen wofür! Gewidmet ist das Buch meiner Tante Brigitte Diersch, die an dieses Projekt geglaubt und seinen Entstehungsprozess mit größtem Interesse verfolgt hat.
Bremen, Oktober 2010
Anke Offerhaus
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 1.3
Einleitung Auf der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit EU-Journalisten als Öffentlichkeitselite Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
11 11 14 18
I. Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Das theoretische Konzept 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3
Forschungsstand und theoretische Bausteine Professionssoziologie Theoretische Ansätze und Perspektiven Defizite und theoretische Anforderungen Journalismusforschung Journalismus als Beruf im Wandel Journalismus als Profession Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit
29 30 30 39 42 42 45 49
Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen 55 Rahmenbedingungen einer Professionalisierung von Berufen 56 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht 59 3.3 Dimensionen der Professionalisierung und des beruflichen Handelns aus berufssoziologischer Sicht 71 3.3.1 Arbeits- und Berufsorganisationen 71 3.3.2 Berufssozialisation, Berufsroutinen und berufliche Leistung 75 3.4 Zusammenfassung 77 3 3.1 3.2
4 4.1
Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign Rahmenbedingungen der Professionalisierung des EU-Journalismus
81 82
8
4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4
Inhaltsverzeichnis
Dimensionen und Indikatoren der Professionalisierung Methodisches Vorgehen Organisations- und Dokumentenanalyse Experteninterviews Methodendiskussion Zusammenfassung
87 89 89 96 101 106
II. Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Empirische Befunde 111 112 112 115 121 122 123 129 136 138 139 142 148 153 153
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.4
Die Professionalisierung auf Organisationsebene Medienorganisationen Prozesse intermedialer Arbeitsteilung Prozesse intramedialer Arbeitsteilung Zwischenbilanz: Medienorganisationen Aus- und Weiterbildungsorganisationen Die Europäisierung des Sach- und Fachwissens Europäische Aus- und Weiterbildungsinstitutionen Zwischenbilanz: Aus- und Weiterbildungsorganisationen Berufsverbände und berufliche Netzwerke Die Europäisierung deutscher Berufsverbände Europäische Berufsverbände Europäische Vereinigungen und Netzwerke Zwischenbilanz: Berufsverbände und berufliche Netzwerke Zusammenfassung und Fazit
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene 159 Berufssozialisation 160 Ausbildung und journalistischer Werdegang 161 Eingewöhnungsphase und Weiterbildung 168 Berufsverbände und berufliche Netzwerke 174 Zwischenbilanz: Berufssozialisation 178 Berufsroutinen 180 Agenda-Setting und Themenselektion 181 Arbeitsteilung und Themenkoordination 193 Informationsquellen und Themenrecherche 199 Zwischenbilanz: Berufsroutinen 218
Inhaltsverzeichnis
6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5
Berufliche Leistung Berufliches Selbstverständnis Stellenwert der EU-Berichterstattung Gewünschte Qualität der EU-Berichterstattung Zwischenbilanz: Berufliche Leistung Strategien journalistischer Professionalisierung Vernetzung Kampf um Deutungshoheit Zusammenfassung und Fazit
9
222 223 231 234 238 240 241 246 256
III. Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Interpretation und Bewertung der Befunde 7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3
Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus Die Ergebnisse aus System- und Akteurstheorie kombinierender Sicht Herausbildung einer spezifischen Funktion Herausbildung eines systemeigenen Sinns Herausbildung einer strukturell verfestigten Leistungsrolle Die Ergebnisse aus berufssoziologischer Sicht Expertisierung des deutschen EU-Journalismus Inszenierung des deutschen EU-Journalismus Autonomie und Selbstkontrolle im deutschen EU-Journalismus
267 269 269 270 272 278 278 282 285
8
Methodische Grenzen, wissenschaftliche Erträge und Forschungsausblick
291
Literaturverzeichnis
297
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Systematik professionssoziologischer Ansätze Tabelle 2: Stufen der beruflichen Institutionalisierung Tabelle 3: Merkmale der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht Tabelle 4: Merkmale und Strategien der Professionalisierung von Berufen Tabelle 5: Merkmale und Strategien der Professionalisierung des EU-Journalismus Tabelle 6: Leitfragen zur Organisations- und Dokumentenanalyse Tabelle 7: Kategorien der Inhaltsanalyse Tabelle 8: Stichproben der interviewten EU-Journalisten Tabelle 9: Professionalisierungsintensität der untersuchten Organisationen Tabelle 10: Vernetzungsgrad und berufliche Ziele der Journalisten
38 67
88 92 94 100 154 244
Abbildung 1: Entwicklung der in Brüssel akkreditierten deutschen Journalisten Abbildung 2: Anteil des Sach- und Fachwissens am Gesamtcurriculum Abbildung 3: Entwicklung des Sach- und Fachwissens im Zeitverlauf Abbildung 4: Anteil von Europa-Themen am Sach- und Fachwissen Abbildung 5: Europäisierung am Sach- und Fachwissen
119 124 125 126 127
70 79
1 Einleitung
„Wir sind alle professionelle Dilettanten!“ Ausspruch eines EU-Korrespondenten
1.1 Auf der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit Täglich versammeln sich zum „Rendez-vous de midi“ Hunderte von Journalisten aus einer Vielzahl von Nationen im Pressesaal der Europäischen Kommission im Berlaymont-Gebäude am Rond-Point Schuman in Brüssel. Pressesprecher verkünden auf einem bühnenartigen Podest mit zwei Rednerpulten aktuelle Vorhaben und Entscheidungen der Kommission. Im Hintergrund stehen Europa-Flaggen. Selbst an einem Korrespondentenstandort mit mittlerweile über eintausend akkreditierten Journalisten kennt man sich: Die Kommissionssprecher moderieren die Fragerunden nach ihren Stellungnahmen gewandt per Vornamen: »Yes, Karel, your question!«, »S´il vous plaît, Jean!« oder »Stephen please!«. Am Rande der Sesselreihen und im Vorraum des Pressesaals tauschen sich die Journalisten über nationale Positionen und die Tragweite bestimmter Kommissionsentscheidungen für ihre Heimatnationen aus. Sie diskutieren die aktuellen Themenaufmacher der Brüsseler Leitmedien sowie darüber, ob sie bei der Fülle von politischen Ereignissen und Entscheidungsprozessen lieber dieses oder jenes Thema aufgreifen sollten. Nach dem halbstündigen Pressebriefing ist Zeit für individuelle Nachfragen und Hintergrundgespräche mit den jeweiligen Pressesprechern der Kommissare. Bevor die Journalisten das Kommissionsgebäude verlassen, um wieder in ihre Büros im nahe gelegenen Residence Palace oder im International Press Centre (IPC) zu gehen, versorgen sie sich im Vorbeigehen noch mit Unmengen von bereitliegenden Pressemitteilungen oder den restlichen Exemplaren des kommissionsinternen Pressespiegels. Das ist ein Blick auf die Input-Seite der Medien, die über die politischen Aktivitäten in Brüssel berichten. Auf der anderen, der für die europäischen Bürger sichtbaren Output-Seite lassen Berichte, wenn sie überhaupt Eingang in die Medien finden, keine Gelegenheit aus, die Europäische Union (EU) für nationale Missstände verantwortlich zu machen und ihr Willkür und Regulierungswut vorzuwer-
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
1 Einleitung
fen: „Die Macht vom anderen Stern: Brüssels undemokratische Regulierungswut“ titelte der Spiegel am 6. Juni 2005. Eine wahrgenommene Distanz zwischen nationaler und EU-Ebene drückt der Artikel „Die verratenen EU-Bürger“ in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar 2003 aus. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche weitere Beispiele für den skeptischen Blick der Medien auf das politische Tun auf europäischer Ebene finden. So beklagen EU-Politiker angesichts scheiternder Referenden und sinkender öffentlicher Unterstützung, dass die Massenmedien zu einem großen Teil selbst zum Legitimations- und Öffentlichkeitsdefizit der EU beitragen. Sie beschweren sich darüber, dass politische Beratungen und Beschlüsse nicht korrekt dargestellt würden, und besonders EU-Parlamentarier verweisen auf ihr Problem, dass sie in den Medien faktisch nicht vorkämen. Die Hoffnung auf eine zunehmende und für Legitimation und Transparenz sorgende massenmediale Öffentlichkeit, durch die sich die europäischen Bürger angemessen informieren können, scheint sich aus ihrer Sicht trotz der wachsenden Relevanz der EuropaPolitik nicht erfüllen zu wollen. Vor dem Hintergrund der bedeutenden Funktion von Massenmedien zur Herstellung von Öffentlichkeit in modernen demokratischen Gesellschaften (vgl. Gerhards/Neidhardt 1990) und dem durch den europäischen Integrationsprozess zunehmenden Einfluss der EU auf ihre Mitgliedsstaaten ist die Frage nach der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit virulent. Die theoretische Diskussion dessen, was eine europäische Öffentlichkeit sein kann, welchen normativen Anforderungen sie für die politische Kommunikation innerhalb der Europäischen Union genügen soll sowie in welcher Form sie sich dementsprechend entwickeln kann, wurde in Deutschland in der Tradition von zwei normativen Öffentlichkeitskonzeptionen geführt: in der Vorstellung eines diskursiven (vgl. Eder et al. 1998; Eder 2000; Eder/Kantner 2000) und in der Vorstellung eines repräsentativliberalen Öffentlichkeitsmodells (vgl. Gerhards 1993; 2000; 2002). Der sich daran anschließende empirische Forschungsboom stellte vor allem die Europäisierung der nationalen Medienöffentlichkeiten in ihren Untersuchungsfokus.1 Mit „Europäisierung“ bezeichnete Gerhards (1993: 12) die zunehmende Sichtbarkeit von europäischen Themen und Akteuren sowie die Bewertung von Themen aus einer europäischen Perspektive. Aus der diskurstheoretischen Tradition kam mit der
1 Gerhards (1993) zeigte zwei Möglichkeiten zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit auf: Neben der Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten verwies er auf die Entstehung einer länderübergreifenden europäischen Öffentlichkeit, die die Mitgliedsstaaten in einem Kommunikationsraum integriert. Allerdings lassen Sprachbarrieren des Publikums, Sprecher, die sich in nationalen Räumen legitimieren müssen, und ein rudimentär ausgebildetes europäisches Mediensystem das Modell zumindest mittelfristig unrealistisch erscheinen (vgl. Adam 2007: 26).
1.1 Auf der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit
13
Vorstellung einer transnationalen Vernetzung von Akteuren ein weiteres Kriterium der Europäisierung hinzu. Indem in nationalen Medienarenen nationale und europäische Akteure wechselseitig aufeinander verweisen, öffnen sich Kommunikationsräume, so die Überlegung. Ob und inwieweit sich aus den Ergebnissen entsprechender Inhaltsanalysen schon Rückschlüsse auf eine europäische Öffentlichkeit ziehen lassen, variiert je nach theoretischer Perspektive und empirischer Operationalisierung (Adam 2007: 40; Neidhardt bezeichnet dieses Phänomen als Artefakt der Forschungspraxis, vgl. 2006: 47f.). „Europäisierung“, so bilanziert Adam den disparaten Forschungsstand der zahlreichen Medienanalysen, „bricht sich an den Themen, den Politikphasen, den Medien und den Ländern, in denen man nach ihr sucht“ (Adam 2007: 42). Gemeinsam ist vielen Studien, dass sie trotz kontinuierlicher Zunahme des Berichterstattungsumfangs und Phasen verstärkter Europäisierung unter Variation der genannten Bedingungen eine geringe transnationale Vernetzung sowie die Dominanz nationalstaatlicher Akteure belegen, die durch ihrer Präsenz und Perspektive europäische Debatten prägen. Schon Risse/Cowles et al. (2001: 1) beschrieben europäische Debatten als „domestic adaptation with national colors“. Sifft/Brüggemann et al. (2007) sprechen von einer „segmentierten Europäisierung“ vor dem Hintergrund ihres Befunds, dass die nationalen Medienarenen überwiegend von nationalen Akteuren besetzt und trotz europäischer Themen kaum horizontal miteinander vernetzt sind. Adam konnte in ihrer ländervergleichenden Netzwerkanalyse neben länderspezifischen Unterschieden „in allen Debatten starke Kommunikationsadern von den nationalen Akteuren auf die EU-Institutionen“ belegen (Adam 2007: 281). Dass solche Kommunikationsadern nicht nur dominant in einer Richtung verlaufen, sondern auch sehr negativ geprägt sein können, zeigten jüngst Gerhards/Offerhaus et al. (2009). So wird die EU von nationalen Akteuren tatsächlich regelmäßig zum Sündenbock statuiert. Das Ergebnis der Medienoutput-Analysen verwundert angesichts der Tatsache, dass auf der europäischen Medieninputseite gleiche Themen und Akteure stehen. Auch passt nicht ins Bild, dass auf europäischer Ebene auf Seiten der Politik seit Jahren ein kontinuierlicher Auf- und Ausbau der Öffentlichkeitsaktivitäten der EU-Institutionen zu beobachten ist (Brüggemann 2008, 2005; Hoesch 2003; Tak 1999; Gramberger 1997) und dass es auf Seiten der Medien im gleichen Zeitraum zu einem massiven Anstieg der Anzahl der aus Brüssel berichtenden Korrespondenten gekommen ist (Raeymaeckers 2007). Allerdings ist über ihr berufliches Profil, ihre journalistischen Arbeitsweisen und ihre Produktionsbedingungen sehr wenig bekannt, woraus sich Rückschlüsse auf die EU-Berichterstattung ziehen lassen könnten: Was kennzeichnet sie in ihrem soziodemografischen Profil, in ihrem Werdegang und in ihrem beruflichen Selbstverständnis? Welches Verhältnis pfle-
14
1 Einleitung
gen die Journalisten zu den politischen Akteuren in Brüssel, und welche Rolle spielt ihre Nationalität? Welches sind die relevanten Informationsquellen, und wie gut sind diese zugänglich? In welchem Maße gelingt es ihnen, investigativ und vernetzt zu arbeiten? Welches Verhältnis haben die Journalisten zu ihren Heimatredaktionen? Da aber – so lautet die hier zugrunde liegende Annahme – vor allem die professionellen Rahmenbedingungen und die Professionalität der Journalisten die quantitative und qualitative Entwicklung der Nachrichtenberichterstattung prägen, ist für die Frage nach der Europäisierung massenmedialer Öffentlichkeiten nicht nur die Analyse der Berichterstattung, sondern auch die Untersuchung der EU-Journalisten als ihrer Urheber zentral.
1.2 EU-Journalisten als Öffentlichkeitselite Angesichts der Vielzahl von Inhaltsanalysen und der breiten Diskussion um die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit ist es umso erstaunlicher, dass den EU-Berichterstattern bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Sind es doch insbesondere die Korrespondenten, die im Pressesaal des Berlaymont-Gebäudes der Europäischen Kommission im Austausch untereinander sowie mit den politischen Akteuren und deren Pressevertretern die erste Instanz einer europäischen Öffentlichkeit darstellen. Nicht umsonst gelten die Brüsseler Journalisten unter den EU-Politikern als ein erstes Stimmungsbarometer in ihrer Reaktion auf politische Entscheidungen. Hinzu kommt, dass sie möglicherweise bislang die einzige Öffentlichkeit darstellen, die aufgrund ihrer täglichen und zum Teil schon jahrelangen Arbeit die politischen Abläufe im europäischen Mehrebenensystem durchdringen. Im Prozess der politischen Kommunikation sind Journalisten einerseits Vermittler, indem sie bestimmte politische Ereignisse aussuchen, über die sie berichten. Andererseits sind sie Kommentatoren, indem sie das politische Geschehen auf europäischer Ebene in einen Kontext einordnen und Positionen in der Öffentlichkeit betonen. In beiden Funktionen haben EU-Journalisten, Korrespondenten wie Redakteure einen entscheidenden Einfluss auf die Berichterstattung als das Produkt ihres Handelns: „There are of course many ways in telling the truth, and any authored account of reality, even one which claims to be objective, inevitably bears the imprint of its author’s subjectivities and biases, whether theses are conscious or acknowledged in the text as part of the narrative, or unconscious and thus not explicit“ (McNair 2005: 35).
1.2 EU-Journalisten als Öffentlichkeitselite
15
Demzufolge waren Journalisten immer mehr als reine Informationsvermittler oder Kommentatoren. Vielmehr können sie aufgrund ihrer Beiträge selbst als politische Akteure und somit als Öffentlichkeitselite betrachtet werden (Neidhardt 1994; Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004). Unter der Vielzahl von Journalisten kommt insbesondere politischen Journalisten eine gesellschaftliche Prominenz zu. Obwohl für das journalistische Handeln organisatorische Kontexte und damit verbundene Restriktionen der Regelfall sind, sind Korrespondenten, Redakteure, Kommentatoren und Leitartikler in der Politikberichterstattung in besonderer Weise für politische Akteure wie auch für das Publikum persönlich sichtbar. Neben dem im Alltagsgeschäft der politischen Berichterstattung dominanten Terminjournalismus, der maßgeblich von den organisatorischen Produktionsbedingungen bestimmt wird, finden sich vor allem in Kommentierungen Formen einer „Verberuflichung intellektueller Leistungen“ (Langenbucher 1993: 135). Als Sprecher, deren Beiträge in die massenmediale Öffentlichkeit eingehen, sind Wirkungen ihres beruflichen Handelns in verschiedene Richtungen denkbar: Politiker informieren sich in einem weit größeren Umfang als der überwiegende Teil der Bürger über Massenmedien, so dass die politische Berichterstattung in einem hohen Maße zur ihrer Meinungsbildung und dem daraus resultierenden Entscheidungshandeln beiträgt (Schulz 2008: 29ff.). Durch die „Agenda-Setting“- und „Agenda-Building“-Forschung ist der Einfluss von Berichterstattung auf die politischen Meinungsbildungsprozesse in der Bevölkerung untersucht und belegt worden (Kepplinger et al. 1986; Iyengar/Kinder 1987). Schließlich können die veröffentlichten Themenbeiträge von Journalisten aus einflussreichen Medien auch einen „Inter-Media-Agenda-Setting-Effekt“ innerhalb des Mediensystems selbst haben, indem sie von anderen Medien aufgegriffen werden (Reinemann 2003). So sind EU-Journalisten als Öffentlichkeitselite nicht nur prominent, sondern es kommt ihnen als Multiplikatoren europäischer Themen auch eine wichtige Rolle zu: „Es hängt nicht wenig von der Neugier der Journalisten, ihrer Weltläufigkeit und ihrem Inszenierungsgeschick ab, in welchem Maße sie im großen Reservoir Europas und speziell im Institutionensystem europäischer Governance den politischen Rohstoff finden, mit dem sich länderübergreifende Resonanzen im Publikum auslösen lassen. Vor allem die Brüsseler Korrespondenten der europäischen Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten sind in dieser Hinsicht strategisch zentral“ (Neidhardt 2006: 54).
Trotz ihrer Bedeutung waren EU-Journalisten im Forschungsfeld zur europäischen Öffentlichkeit vergleichsweise selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zu den ersten Akteursstudien gehörte die „Plausibilitätsskizze“ von Jürgen Gerhards (1993), der auf der Basis von Experteninterviews mit EU-Korres-
16
1 Einleitung
pondenten die strukturell angelegten Gründe für das aus der Sicht einer repräsentiv-liberalen Öffentlichkeitsvorstellung diagnostizierte Öffentlichkeitsdefizit aufzeigte und unter anderem auf die „nationale Versäulung der Informationsgebung“ (ebd. 107) verwies. David Morgan (1995) beschrieb in ähnlicher Weise die Schwierigkeiten des britischen Pressekorps bei der Vermittlung des in Großbritannien reichlich unpopulären EU-Themas. Beide Studien spiegeln allerdings die Situation Anfang der 1990er Jahre wider, so dass die Auswirkungen der jüngsten politischen Entwicklungen auf die Arbeitsbedingungen der Korrespondenten einer erneuten Untersuchung bedürfen. Christoph O. Meyer (2002b) konnte auf der Basis qualitativer Interviews und einer standardisierten Befragung auf eine Reihe von Trends im EU-Journalismus hinweisen. Dennoch beruhen seine Analyse der ersten transnationalen Recherche und transmedialen Skandalisierung der EU und seine damit verbundene These einer seitdem grundsätzlich veränderten Arbeitsweise vom pro-europäischen Verlautbarungs- und Lobbyjournalismus hin zu einem kritischen Investigativjournalismus letztlich nur auf einer Fallstudie. Eine Verallgemeinerung der Ergebnisse für den weiteren Zeitverlauf ist daher nicht empirisch abgesichert. Mit einem ähnlichen Fokus auf länder- und generationenvergleichende Arbeitsweisen von EU-Korrespondenten und deren Selbstverständnis identifizierte Olivier Baisnée (2002) Unterschiede zwischen britischen und französischen Korrespondenten. Letztere unterschieden sich auch zwischen den verschiedenen Generationen. Im Anschluss an beide Studien liegt die Frage nahe, inwieweit ein solcher Generationswechsel auch unter den deutschen EU-Journalisten zu erkennen ist und welche Folgen er für ihre Arbeit hat. Zeitgleich zur vorliegenden Untersuchung wurden im Rahmen dreier ländervergleichender Forschungsprojekte2 sowie im Rahmen einer Auftragsstudie (Huber
2 Es handelt sich hierbei jeweils um größere ländervergleichende Projekte, die sowohl Inhaltsanalysen von EU-Berichterstattung als auch Befragungen von EU-Journalisten der jeweiligen Untersuchungsländer durchgeführt haben. Das von 2001 bis 2004 am Wissenschaftszentrum Berlin durchgeführte Projekt „The Transformation of Political Mobilisation and Communication in European Public Spheres“ (EUROPUB.COM) befragte EU-Korrespondenten und Redakteure nationaler Medien aus sieben Ländern sowie Journalisten aus transnationaler Medien (Firmstone, 2008; Statham, 2008; Statham, 2006). Das an der Universität Dortmund angesiedelte Forschungsprojekt „Adequate Information Management in Europe“ (AIM) wurde von 2004 bis 2007 durchgeführt und verglich Aussagen von EU-Korrespondenten und Redakteuren aus elf Ländern (Schmidt 2008; AIM, 2007a; AIM, 2007b; AIM 2006). In der zweiten Phase (2007 bis 2010) des noch laufenden Teilprojekts B3 „Die Transnationalisierung von Öffentlichkeit am Beispiel der EU“ im an der Jacobs University Bremen und der Universität Bremen angesiedelten Sonderforschungsbereich 597 „Staatlichkeit im Wandel“ werden Journalisteninterviews und Redaktionsstudien verschiedener Zeitungen in sechs EU-Ländern durchgeführt (Lingenberg et al. 2010). Während AIM und EUROPUB die Gespräche mit EU-Journalisten lediglich auf
1.2 EU-Journalisten als Öffentlichkeitselite
17
2007) Befragungen von EU-Korrespondenten und für Europa zuständigen Redakteuren zu ihren Arbeitsbedingungen durchgeführt. Außerdem thematisierten in jüngster Zeit eine Reihe von Diplomarbeiten einzelne Aspekte innerhalb des Brüsseler Pressekorps. Schäfer (2004) befragte dpa-Korrespondenten zu ihrem journalistischen Selbstverständnis sowie ihren Arbeitsbedingungen und Tätigkeitsprofilen. Drehkopf (2006) untersuchte das journalistische Selbstverständnis und die Arbeitsbedingungen deutscher EU-Korrespondenten verschiedener Medien, und Lecheler (2006) beschäftigte sich mit dem beruflichen Profil und den Arbeitsbedingungen osteuropäischer EU-Korrespondenten. Ein davon zu unterscheidendes, primär in der Journalistik angesiedeltes Forschungsfeld liefert Studien zur europäischen Journalistenausbildung. Mehr in Form von Erfahrungsberichten geben sie Einblicke in die Ausbildungswege einzelner europäischer Länder (Fröhlich/Holtz-Bacha 1997; 2003) sowie in die Entwicklung und Durchführung europäischer Ausbildungsprojekte und -programme (Kopper 1993; 2001a; 2001b; 2003). Die wissenschaftliche Konzeption und Evaluation solcher Programme können als Anzeichen für erste Institutionalisierungsversuche einer europäischen Journalistenausbildung gedeutet werden. Sie sind Teil einer offensichtlich einsetzenden Europäisierung der journalistischen Infrastruktur, in der der Journalistikprofessor Stephan Ruß-Mohl eine entscheidende qualitätssichernde Maßnahme für einen europäischen Journalismus sieht: „The second challenge is to create layers of European Journalism infrastructure: Trade unions, employers, editors, media watchdogs and communication scientists, journalism schools and midcareer actors – they all have already built some European networks“ (Ruß-Mohl 2003: 213; vgl. auch Ruß-Mohl 2000: 135).
Der Nachteil der genannten Studien ist allerdings, dass sie nicht in größeren Forschungszusammenhängen stehen und daher nicht mit EU-Berichterstattung in Verbindung gebracht werden. So sind sie beispielsweise nicht rückgebunden an die Frage, inwieweit Absolventen solcher Ausbildungswege, Kooperationsprojekte oder Weiterbildungsprogramme später tatsächlich als EU-Journalisten arbeiten. Andere Elemente journalistischer Strukturen wie Berufsverbände und berufliche Netzwerke waren im Kontext von Akteursstudien bislang überhaupt noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
der Basis teilstandardisierter Befragungen durchgeführt haben, stützen sich die Befunde von B3 zwar auf qualitative Interviews, schließen aber keine EU-Korrespondenten aus Brüssel mit ein. Zudem werden sie nicht im Hinblick auf berufliche Rollen von EU-Journalisten differenziert, sondern nach länderund zeitungsspezifischen Merkmalen ausgewertet.
18
1 Einleitung
Insgesamt gibt es trotz der bedeutenden Rolle von EU-Journalisten für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit nur wenige Akteursstudien, die sich mit der Berufsgruppe der EU-Journalisten, ihren strukturellen Arbeitsbedingungen sowie ihren täglichen Arbeitsroutinen befassen. Den bislang eher deskriptiven Akteursstudien fehlt es an einer umfassenderen theoretischen Rahmung. Zudem ist entsprechend dem Verlauf der zunehmenden europäischen Integration auch die Untersuchung dieser Aspekte in ihrer zeitlichen Entwicklung von Interesse. Schließlich wurde in bislang keiner Studie die institutionelle Infrastruktur des EU-Journalismus, also die Entstehung und Veränderung von Arbeits- und Berufsorganisationen als Voraussetzung und Rahmenbedingung für das journalistische Schaffen der EUJournalisten berücksichtigt. Die genannten Defizite können nur mittels eines theoretischen Bezugsrahmens behoben werden, der diese unterschiedlichen Aspekte berücksichtigt und auf dessen Grundlage mögliche Entwicklungen sinnvoll zu interpretieren sind.
1.3 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus Um diese Defizite zu beheben, wird für die vorliegende Untersuchung deutscher EU-Journalisten und ihrer beruflichen Arbeitsbedingungen sowohl in einem zeitlichen als auch in einem institutionellen Kontext das Konzept der Professionalisierung herangezogen. Das der Professions- bzw. Berufssoziologie entstammende Konzept wurde als wissenschaftliches Konzept bereits in den 1970er Jahren von der Kommunikationswissenschaft zur Beschreibung und Erklärung empirischer Fakten im Journalismus aufgegriffen. Da zentrale Bestimmungsmerkmale des Journalistenberufs als Profession nicht passten, wurde es zwar berufspolitisch von Journalistenverbänden und hochschulpolitisch zur Begründung der Einrichtung journalistischer Studiengänge verwendet, aber innerhalb der journalistischen Berufsforschung bald verworfen. Auf das analytische Potential des in der journalistischen Berufsforschung seither nahezu in Vergessenheit geratenen Professionalisierungskonzepts verweist Irene Neverla (1998). Als wissenschaftliches Analyseinstrumentarium ist es mit ihm möglich, individuelles Berufshandeln in einem gesellschaftlichen, historisch wandelbaren Kontext zu untersuchen: „Bezogen auf den Journalismus lässt sich Professionalisierung als die Regelhaftigkeit beruflichen Handelns im Mediensystem verstehen, vom Individuum interpretiert und umgesetzt. Professionalisierung ist das subjektive Korrelat des systemischen Charakters von Massenmedien. Die journalistische Arbeit unter dem Blickwinkel des Professionskonzepts zu betrachten, bedeutet, das systemspezifische
1.3 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
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Regelwerk durch die Brille des individuellen Handelns zu betrachten. Wie also Journalistinnen und Journalisten im Zuge ihrer beruflichen Tagesarbeit Positionen und Rollen, Aufgaben, Tätigkeiten und Kompetenzen aushandeln in Interaktion mit anderen Berufsangehörigen, mit Vorgesetzten, Auftraggebern, aber auch mit Interviewpartnern, Auskunftspersonen und nicht zuletzt mit dem imaginären Publikum“ (Neverla 1998: 56f.).
Demnach können durch das Professionalisierungskonzept system- und handlungstheoretische Aspekte des Journalismus aufeinander bezogen werden. Da es den Beruf in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, ist es möglich, den Journalistenberuf sowohl als gesellschaftliche Institution mit seinen entsprechenden Organisationen als auch das individuelle journalistische Handeln in seiner Praxis zu erforschen. Da dem Professionalisierungskonzept eine Prozessdimension innewohnt, ist es nicht nur möglich, den Journalismus in einem gesellschaftlich wandelbaren Kontext, sondern auch die damit verbundenen Einflüsse, m.a.W. den Journalismus selbst in seinem zeitlichen Wandel zu untersuchen. Begreift man nun den Prozess der Europäischen Integration als eine fundamentale Veränderung des gesellschaftlichen Kontextes, bleibt das – so die zweite Grundannahme – nicht folgenlos für den Journalismus. Vor diesem Hintergrund lassen sich die eingangs bezüglich der Berufssituation der EU-Korrespondenten formulierten Einzelfragen zu zwei zentralen Forschungsfragen zusammenfassen: 1. Was kennzeichnet das berufliche Handeln und die Arbeitsbedingungen im deutschen EU-Journalismus? 2. Hat im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses (beginnend mit dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951 bis heute) eine Professionalisierung des deutschen EUJournalismus stattgefunden, und wo findet sie ihre Grenzen? Während sich die erste Frage primär am Eigensinn der Individuen orientiert, können in der zweiten Frage Eigensinn der Individuen und Eigenlogiken des Systems zueinander in Beziehung gesetzt werden. Will man nun die Professionalisierung des EU-Journalismus empirisch untersuchen, müssen zunächst die beiden Elemente dieser Frage näher bestimmt werden: „Was ist eigentlich EU-Journalismus?“ und „Was heißt eigentlich Professionalisierung?“. Der Begriff „EU-Journalismus“, der dieser Arbeit zugrundeliegt, geht auf eine präzise Definition von „EU-Berichterstattung“ zurück. Er eignet sich besser als die Bezeichnung „Europäischer Journalismus“, die in der Journalismusforschung mitunter für sehr verschiedene Phänomene verwendet wird. Der in der Berichterstat-
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1 Einleitung
tung vorhandene Bezug zur Europäischen Union stellt hier eine notwendige Bedingung dar und umfasst somit nicht nur das, was auf nationaler Ebene der Mitgliedsländer unabhängig voneinander oder transnational verbunden an journalistischem Handeln und journalistischen Produkten innerhalb Europas existiert.3 Als „EU-Berichterstattung“ wird diejenige Berichterstattung definiert, die „Themen mit EU-Bezug“ zum Gegenstand hat. Einen EU-Bezug haben alle redaktionellen Beiträge, die • über die EU als supranationale Institution, über eine oder mehrere ihrer Institutionen bzw. über ihre individuellen politischen Akteure • über ein einzelnes Mitgliedsland oder mehrere EU-Mitgliedsstaaten bzw. ihre jeweiligen politischen Vertreter im Kontext der EU • über EU-Politik in bestimmten politischen Themenfeldern (politische Handlungsakte, Gesetzgebungsakte etc.) berichten.4 Die EU-Berichterstattung deckt dementsprechend alles ab, was die Rezipienten aus den Medien über die EU, ihre Aktivitäten und ihre Politik erfahren. Der Vorteil dieser inhaltlichen Definition liegt darin, dass sie dem spezifischen Charakter der EU-Berichterstattung Rechnung trägt, demzufolge sie quer zu den ressortgebundenen Differenzierungen liegt. Infolge der politischen Struktur des Mehrebenensystems und der politischen Steuerungsreichweite lässt sie sich weder eindeutig der Inlands- oder der Auslandsberichterstattung zuordnen, noch ermöglicht sie eine fachliche Differenzierung wie in Wissenschafts- oder in Wirtschaftsjournalismus. Im Alltagsverständnis bezeichnet „Journalismus“ die Tätigkeit der Person, die man als „Journalisten“ kategorisiert und das Produkt, das man als „Berichterstattung“ bezeichnet. Allerdings sind die Akteure, ihre Arbeit und das Produkt in einen sozialen Kontext eingebettet, so dass für die Forschung auch die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen relevant sind, die jeweils festlegen, was 3 Der Begriff des „europäischen Journalismus“ ist zum einen eng mit der komparativen Journalismusforschung verbunden. Hier werden in ländervergleichenden Studien mögliche Konvergenzentwicklungen der unabhängig voneinander in Europa existierenden journalistischen Kulturen, Produktionszusammenhänge und Medieninhalte untersucht. Zum anderen werden darunter bereits existierende einheitliche Handlungszusammenhänge verstanden, wie sie in europäischen Ausbildungs- und Medienprojekten oder durch die in Brüssel zusammenarbeitenden Korrespondenten entstehen (vgl. Langenbucher 2004; Kopper/Mancini 2003; Meyer 2001; Lünenborg 2000a; 2000b; Ruß-Mohl 2000; 2003; Sievert 1998). 4 Die von der Autorin entwickelte Definition diente der Stichprobenziehung der dieser Akteursstudie vorausgehenden Inhaltsanalyse, die im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Die EU und die massenmediale Attribution von Verantwortung“ durchgeführt wurde (vgl. Gerhards et al. 2009, 2007, 2005).
1.3 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
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Journalismus ist und welche Folgen er hat (Scholl/Weischenberg 1998: 32). Demnach wird unter „EU-Journalismus“ vom journalistischen Produkt der „EU-Berichterstattung“ ausgehend, jegliche Form des darauf bezogenen journalistischen Handelns betrachtet. Dies umfasst die Produktionsbedingungen als Voraussetzung der Berichterstattung ebenso wie die daraus resultierende journalistische Tätigkeit und das Produkt selbst. Ferner umfasst er institutionalisierte Formen journalistischen Handelns wie eine die EU-Berichterstattung vorbereitende Aus- und Weiterbildung, die Interessen von EU-Journalisten vertretenden Berufsorganisationen und die individuellen und kollektiven Aktivitäten von EU-Korrespondenten, EU-Redakteuren und freien Journalisten, die als EU-Berichterstatter tätig sind.5 Bezüglich des ersten Bestimmungselements „Professionalisierung“ wurde bereits vermerkt, dass es sich um einen Prozessbegriff handelt, der sich auf Berufe bezieht. Ursprünglich der Professionssoziologie entstammend, ist mit ihm ein diffuses Feld von Begriffen und Begriffsassoziationen verbunden. Diese gehen einerseits auf unterschiedliche Vorstellungen von Berufen bzw. Professionen und beruflichen Wandlungsprozessen sowie andererseits auf unterschiedliche Vorstellungen von professionellem Handeln zurück. Darüber hinaus existieren unterschiedliche Annahmen über die Ursachen beruflicher Professionalisierungsprozesse. Aufgrund der Unbestimmtheit des Professionalisierungsbegriffs widmet sich der Theorieteil in erheblichem Umfang der Herleitung und Modifikation des Professionalisierungskonzepts und seinen Untersuchungsdimensionen. Dazu werden theoretische Bausteine aus der allgemeinen Soziologie, der Professions- bzw. Berufssoziologie und der Journalismusforschung zu einem theoretischen Bezugsrahmen zusammengeführt. Dies geschieht durch die Verknüpfung von zwei theoretischen Abstraktionsebenen und einer empirischen Anwendungsebene: 1. die Beschreibung der Veränderungen des EU-Journalismus in Kategorien der soziologischen System- und Akteurstheorie, 2. die Beschreibung der Veränderungen des EU-Journalismus in Kategorien der Berufssoziologie, 3. die empirische Untersuchung des EU-Journalismus auf einer Organisations- und auf einer Akteursebene.
5 Da EU-Themen zumeist verschiedene Mitgliedsstaaten berühren oder auch Teil der Inlandsberichterstattung sein können, wird die Berichterstattung unter Umständen gleichermaßen von anderen Auslandsund Inlandskorrespondenten sowie von den Redakteuren in den Heimatredaktionen abgedeckt. EU-Journalisten sind demnach nicht nur die in Brüssel arbeitenden Auslandskorrespondenten, sondern alle Journalisten, die sich – in welcher Funktion und an welchem Ort auch immer – mit EU-Themen beschäftigen.
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1 Einleitung
In der vorliegenden Arbeit wird Professionalisierung in ihrer abstraktesten Form als die funktionale Binnendifferenzierung eines gesellschaftlichen Teilsystems interpretiert, die an der sukzessiven Institutionalisierung einer spezifischen Funktion und eines systemspezifischen Sinns kenntlich wird. Dabei stellt der systemspezifische Sinn die generalisierte Handlungsorientierung der Akteure dar. Aus berufssoziologischer Perspektive wird Professionalisierung als ein Prozess der beruflichen Binnendifferenzierung beschrieben, der sich in den Dimensionen „Expertisierung“ und „Inszenierung“ sowie in der „Institutionalisierung“ dieser Dimensionen vollzieht. Da nun aber, wie oben dargelegt, gerade durch das Professionalisierungskonzept eine Verbindung zwischen der Eigenlogik des Systems und dem Eigensinn der Akteure hergestellt wird, müssen die Dimensionen der Professionalisierung für beide Perspektiven spezifiziert werden. „Expertisierung“ als die „Spezialisierung des beruflichen Wissens“ und „Inszenierung“ als die „Abgrenzung der Berufstätigkeit durch die Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit“ werden daher einerseits als die Veränderung berufsstruktureller Merkmale auf der Ebene der Organisationen und andererseits als die Veränderung individueller Handlungsstrategien auf der Ebene der Akteure betrachtet. Obwohl dem hier verwendeten Konzept der Professionalisierung eine systemtheoretisch abgeleitete Erklärung zugrunde liegt, ist es durch die Einbindung einer akteurstheoretischen Perspektive möglich, auch auf ihre Grenzen aufmerksam zu machen. Spielen die auf gesellschaftlicher Ebene in Gestalt von Organisationen verfestigten Strukturen auf individueller Ebene in der Handlungspraxis der Akteure keine Rolle oder geraten sie mit ihnen in Konflikt, kann dies Hinweise auf Grenzen oder mögliche von Akteuren initiierte Strukturveränderungen sein. Inwieweit und auf welchen Ebenen sich innerhalb des journalistischen Berufsfelds im Zuge zunehmender Relevanz von EU-Politik eine entsprechend spezialisierte Berufssparte, der EU-Journalismus, ausgebildet hat, sind die hier empirisch zu überprüfenden Fragen. In ihrer theoretischen und empirischen Anlage verfolgt die Arbeit drei Ziele. Erstens soll sie zur Weiterentwicklung der Berufssoziologie beitragen, da hier das Konzept der Professionalisierung Anschluss an die theoretischen Perspektiven der allgemeinen Soziologie erhält und ein mehrmethodisches Design zur empirischen Untersuchung von beruflichen Professionalisierungsprozessen entwickelt wird. Zweitens soll die Arbeit einen Beitrag für die Journalismusforschung leisten, indem sie am spezifischen Fall des EU-Journalismus einen Prozess der Binnendifferenzierung des gesellschaftlichen Teilsystems Journalismus beschreibt. Schließlich soll sie in Bezug auf den eingangs geschilderten Problemzusammenhang von europäischem Medieninput und national gefiltertem Medienoutput einen erklärenden Beitrag zur Analyse der Konstitutionsbedingungen einer europäischen Öffent-
1.3 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
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lichkeit liefern. Hierbei stehen aber nicht wie bislang zumeist das Medienprodukt, sondern seine Produktionsbedingungen im Untersuchungsfokus. Die Untersuchung der „Professionalisierung des EU-Journalismus“ wird auf deutsche EU-Korrespondenten und Chefredakteure sowie auf die für sie potenziell relevanten Berufsorganisationen beschränkt. Dies hat einen empiriegestützten Grund. Entsprechend der Dominanz einer durch national organisierte Mediensysteme vermittelten EU-Berichterstattung – EU-Journalisten arbeiten überwiegend in und für Medien in ihren jeweiligen Heimatländern –, ist trotz des allgemeinen Bezugs auf EU-Journalismus, der die berufliche Tätigkeit von EU-Journalisten aus und in allen möglichen Ländern (inklusive von Journalisten aus Nicht-EUMitgliedsstaaten) umfasst, zunächst primär von Interesse, wie Journalisten eines Mitgliedslandes in Bezug auf ihren Beruf und ihr Mediensystem organisiert sind. Zudem sind damit zwei forschungspragmatische Gründe verbunden. Die Konzentration auf Journalisten aus einem Land dient der Komplexitätsbeschränkung in einem ohnehin mehrdimensional angelegten Forschungsdesign. Professionalisierungsprozesse sind, wie vor allem historische Studien zeigen, sehr stark von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Eine Anwendung des hier entwickelten Professionalisierungskonzepts auf einen Ländervergleich von EU-Korrespondenten müsste diese sowie die damit verbundenen unterschiedlichen Journalismustraditionen genau rekonstruieren. Das ist möglich, würde aber den Untersuchungsfokus vom zeitlichen Prozess hin zu erklärenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Länder verschieben. Außerdem konnte für die vorliegende Studie auf Interviews mit deutschen Korrespondenten zurückgegriffen werden, die im Rahmen des von der DFG finanzierten Forschungsprojekts „Die EU und die massenmediale Attribution von Verantwortung“ geführt wurden. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in ihren Grundbausteinen in einen Theorieteil (I), einen empirischen Teil (II) und eine abschließende Interpretation der empirischen Befunde im Licht der Theorie (III). Der Theorieteil (I.) beschreibt in seinem ersten Kapitel (2.) den Forschungsstand in der Professionssoziologie sowie ausgewählte Aspekte der berufsbezogenen Journalismusforschung. Zunächst werden zentrale Elemente des Professionalisierungskonzepts und durch eine kritische Aufarbeitung professionssoziologischer Theorieansätze theoretische Defizite herausgearbeitet. Diese führen zu einer Neusystematisierung der Ansätze entlang system- und akteurstheoretischer Perspektiven sowie zu einer Öffnung des Gegenstandsbereichs für Berufe. Die konzeptionelle Neuausrichtung bildet die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit. Danach wird die historische Entwicklung des Journalistenberufs beschrieben, ein kurzer Abriss der Professionalisierungsdebatte in der Journalismusforschung widergeben und begründet, warum sich das Konzept zur Untersuchung von berufli-
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1 Einleitung
chen Veränderungen im Journalismus eignet, obwohl der Journalismus nicht zu einer Profession im klassischen Sinn werden kann. Darauf aufbauend wird im zweiten Kapitel (3.) ein eigener theoretischer Bezugsrahmen zur Untersuchung der Professionalisierung von Berufen und beruflichem Handeln entwickelt. Er verbindet eine system- und eine akteurstheoretische Perspektive, mit der es möglich ist, Berufe im Wandel auf einer makrosoziologischen Ebene und berufliches Handeln von Akteuren auf einer mikrosoziologischen Ebene in einem gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben und zu erklären. Das dritte Kapitel des Theorieteils (4.) führt die verschiedenen theoretischen Elemente zu einem Untersuchungsdesign zusammen und operationalisiert sie für die Untersuchung des EU-Journalismus. Der empirische Teil der Arbeit (II.) präsentiert die Ergebnisse zur Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, die einerseits auf einer Organisationsund Dokumentenanalyse verschiedener journalistischer Arbeits- und Berufsorganisationen und andererseits auf Leitfadeninterviews mit EU-Journalisten beruhen. Das erste Kapitel (5.) beschreibt die Professionalisierung auf Organisationsebene und berücksichtigt Medienorganisationen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen sowie Berufsverbände und berufliche Netzwerke. Das zweite Kapitel (6.) zeigt die Professionalisierung und das berufliche Handeln der EU-Journalisten unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen. Es umfasst detaillierte Aspekte der Berufssozialisation, der Berufsroutinen und der beruflichen Leistung. Im abschließenden Teil der Arbeit (III.) werden die empirischen Befunde im ersten Kapitel (7.) resümiert und auf den theoretischen Bezugsrahmen zurückgeführt. Hierzu werden die Ergebnisse aus der Sicht einer akteurstheoretisch fundierten Systemtheorie interpretiert. Der folgende Abschnitt dient der Zusammenfassung der Befunde in den beiden berufssoziologischen Dimensionen Expertisierung und Inszenierung sowie ihrer Interpretation vor dem Hintergrund einer beruflicher Autonomie und Selbstkontrolle im EU-Journalismus. Das zweite und zugleich letzte Kapitel (8.) bilanziert den theoretischen und empirischen Ertrag der Untersuchung, zeigt ihre Grenzen auf und gibt einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen.
I Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Das theoretische Konzept
2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
Der Begriff der Professionalisierung ist in den vergangenen Jahren zu einem schillernden und inflationär gebrauchten Modewort geworden. Die damit assoziierten Bedeutungen variieren je nach Verwendungskontext stark (Meuser 2005). Vielfach werden mit Professionalisierung in einer unspezifischen Weise Prozesse umschrieben, die lediglich Unterschiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit betonen (Negrine/Lilleker 2002: 306). In seiner spezifischen Bedeutung entstammt das Konzept der Professionalisierung der Professionssoziologie und bezeichnet die Entwicklung von Berufen zu Professionen. Vor diesem Hintergrund wurde es in der deutschen Journalismusforschung in den 1970er Jahren schon einmal diskutiert, aber wieder verworfen. In der vorliegenden Arbeit soll das Professionalisierungskonzept als Analyserahmen herangezogen und für die Untersuchung des deutschen EU-Journalismus ebenso wie für andere Berufe fruchtbar gemacht werden. Dazu ist es unerlässlich, in der Professionssoziologie existierende Prämissen zu modifizieren. Ziel dieses Kapitels ist es, den Begriff der Professionalisierung theoretisch neu zu fundieren, so dass er Prozesse beruflicher Veränderungen angemessen beschreiben kann, sowie zu begründen, warum sich das Professionalisierungskonzept im Rahmen einer berufssoziologischen Journalismusforschung gut eignet. Dazu werden durch eine Aufarbeitung und Systematisierung professionssoziologischer Theorieansätze in Abschnitt 2.1 einerseits zentrale Elemente des Konzepts herausgearbeitet und andererseits auf Defizite seiner bisherigen Verwendung aufmerksam gemacht. Ein Blick in die Journalismusforschung zeigt in Abschnitt 2.2 Traditionen journalistischer Berufsforschung; anhand der dort geführten Professionalisierungsdebatte lässt sich illustrieren, worin die zu berücksichtigenden Spezifika des Journalistenberufs liegen. Erst die Verbindung der den beiden zentralen Paradigmen soziologischer Theorie zuzuordnenden professionssoziologischen Ansätze sowie eine nicht an der statischen Definition von Professionen orientierte Vorstellung von Professionalisierung ermöglichen – so die zentralen Schlussfolgerungen in Abschnitt 2.3 – eine adäquate Analyse beruflicher Professionalisierungsprozesse und professionellen Handelns. Auf der Grundlage eines solchen Professionalisierungskonzepts können die sich vor dem Hintergrund der europäischen Integration ergebenden möglichen Veränderungen des Journalismus als berufliche Professionalisierungsprozesse untersucht werden.
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
2.1 Professionssoziologie 2.1.1 Theoretische Ansätze und Perspektiven In der deutschen Professionssoziologie, die sich nach amerikanischem Vorbild seit den 1970er Jahren zunehmend von der Berufssoziologie gelöst hat, existieren eine Reihe theoretischer Ansätze zur Charakterisierung von Professionen sowie zur Beschreibung und Erklärung ihrer Entstehung in der Gesellschaft. Überblicksdarstellungen, wie sie im berufssoziologischen Einführungsband von Kurtz (2002: 49ff.; vgl. auch Mieg 2003; Schmeiser, 2006) oder in professionssoziologischen Qualifikationsarbeiten zu finden sind (vgl. exemplarisch Pfadenhauer 2003b), unterscheiden fünf mit soziologischen Paradigmen verbundene bzw. sechs verschiedene Ansätze, zählt man den „theoriefreien“ Merkmalsansatz hinzu. Während der Merkmalsansatz schlicht ein Set von Merkmalen definiert, das Professionen kennzeichnet, variieren der strukturfunktionalistische, der symbolisch-interaktionistische, der machttheoretische, der strukturtheoretische und der systemtheoretische Ansatz entsprechend der ihnen zugrunde liegenden Prämissen.6 So betonen die Ansätze jeweils unterschiedliche Aspekte der Herausbildung von Professionen und des professionellen Handelns, deren Kernbestimmungen aber bereits durch den im Folgenden dargestellten Merkmalsansatz benannt werden. Die Berufsgruppe der Professionen umfasst eine spezielle Art von Berufen. Als prototypische Professionen galten und gelten bis heute Ärzte, Rechtsanwälte und Pfarrer. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um einen Typus von akademischen Berufen handelt, die weder der Sphäre der Wirtschaft noch der Sphäre von Herrschaft und Verwaltung zuzurechnen sind. Dementsprechend werden sie weder durch Marktkontrolle, noch durch bürokratische Kontrolle reguliert. Darüber hinaus lassen sich Pro-
6 Vgl. als Primärquellen zum strukturfunktionalistischen Ansatz die Arbeiten von Talcott Parsons (1951; 1964; 1968; 1978), zum symbolisch-interaktionistischen Ansatz Everett C. Hughes (1958; 1963), zum machttheoretischen Ansatz Eliot Freidson (1970; 1986; 2001) und Magali S. Larson (1977) sowie zum in Deutschland einflussreichen strukturtheoretischen Ansatz die Arbeiten von Ulrich Oevermann (1979; 1996; 1997). In der deutschen Professionssoziologie verwendete Fritz Schütze (1992; 1996) die interaktionistische Perspektive in seinen Studien zur Sozialarbeit als „bescheidene Profession“. Michaela Pfadenhauer (2003b) hat den machttheoretischen Ansatz aufgegriffen, indem sie ihn einerseits mit wissensund elitensoziologischen Überlegungen und in einer interaktionistischen Perspektive, andererseits mit auf die Rollentheorie Goffmans zurückgehenden Inszenierungsstrategien verband. Dementsprechend ist professionelle Leistung aus inszenierungstheoretischer Perspektive vor allem die Leistungsdarstellung der Professionen. Niklas Luhmann als Vertreter der Systemtheorie hat selbst zwar keine explizite Theorie der Professionen entworfen, aber durch seine religions- und rechtssoziologischen Schriften, in denen er sich mit der Definition und gesellschaftlichen Funktion von Professionen auseinandersetzt, die professionssoziologische Diskussion durchaus beeinflusst. Vor allem Rudolf Stichweh (1992; 1996) hat die systemtheoretischen Überlegungen Luhmanns für die Professionssoziologie fruchtbar gemacht.
2.1 Professionssoziologie
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fessionen als Berufe charakterisieren, deren Dienstleistungen auf eine wissenschaftlich fundierte Wissensbasis zurückzuführen sind. Daraus resultiert ein hohes Wissensgefälle zwischen Professionellen und Laien als den Klienten oder Kunden der jeweiligen Dienstleistung, sodass diese auch nicht von Laien kontrolliert werden können. Da die Dienstleistungen in der Regel wichtige gesellschaftliche Funktionen und zentrale gesellschaftliche Werte (z.B. Gesundheit, Gerechtigkeit) berühren, wird die Kontrolle der Leistungen als notwendig angesehen, kann aber aufgrund des Wissensgefälles nur in Form einer professionsspezifischen Selbstkontrolle ausgeübt werden. Zugleich liegt in der Wertbezogenheit der professionellen Arbeit die funktionale Basis für die gesellschaftlich gewährte Autonomie und ihr hohes Prestige. Das für Professionen typische hohe Maß an professioneller Autonomie und Selbstkontrolle wird durch starke berufständische Assoziationen, die für Standards der Ausbildung und der professionellen Praxis und für die Kodifizierung einer professionellen Ethik zuständig sind, repräsentiert und gesichert. Die meisten Definitionen von Profession kondensieren in der Bestimmung folgender sechs Merkmale (Schmeiser 2006: 301)7: 1. Die Ausübung der professionellen Tätigkeit setzt eine spezialisierte, wissenschaftlich fundierte und lang andauernde Ausbildung voraus. 2. Die Professionen beanspruchen ein Funktions- und Angebotsmonopol ihrer beruflichen Dienstleistung, d.h. eine exklusive Berechtigung ihrer Berufsausübung. 3. In der Ausbildung wird den Professionsangehörigen eine spezielle Berufsethik vermittelt und man geht davon aus, dass sie ihr Wissen uneigennützig im Dienst des Allgemeinwohls und ohne Ansehen der Person einsetzen. 4. Die Professionen beanspruchen eine Freiheit von Fremdkontrollen durch die Laien oder den Staat. Diese Freiheit sichern sie sich durch berufsständische (organisierte Berufsgruppe oder Berufsverband) Eigenkontrolle des Berufszugangs sowie Kontrolle der Tätigkeit der Berufsangehörigen. 5. Die Professionen beanspruchen aufgrund ihrer hohen Sachkompetenz und ihrer Gemeinwohlorientierung eine besondere wirtschaftliche Entlohnung und ein hohes Sozialprestige. 6. Professionen üben ihre Tätigkeit in wirtschaftlicher Selbstständigkeit aus.8
7 Eine vergleichende Übersicht über eine Vielzahl von Professionskriterien aus verschiedenen, überwiegend angelsächsischen Professionsstudien findet sich bei Hesse (1972: 46ff.). 8 Schmeiser schränkt das Merkmal der wirtschaftlichen Selbstständigkeit allerdings für Europa mit dem Hinweis darauf ein, dass für akademische Berufe in Europa das Beamtenmodell eine wichtige Rolle spielt (Schmeiser 2006: 301).
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
Mit diesen Charakteristika ist der erste, für die Anfänge der Professionssoziologie bedeutende Untersuchungsansatz verbunden. Der empirische Abgleich bestimmter Merkmale von Berufen mit denen der klassischen Professionen wird als „Professionskriterien- oder Merkmalsansatz“ bezeichnet und gilt als das einfachste, da theoriefreie Modell der Professionssoziologie (Carr-Saunders/Wilson 1964).9 Der Ansatz geht davon aus, dass theoretisch jeder Beruf professionalisierbar ist, wobei ein Beruf dann als Profession bzw. als voll professionalisiert gilt, wenn er die oben definierten Kriterien erfüllt. Harold L. Wilensky (1964: 142-146) hat ein typisches Verlaufsmodell erstellt, das vielfach als Instrumentarium zur Beurteilung des Professionalisierungsgrads von Berufen verwendet wird. Als typische Etappen, die alle Professionen historisch durchlaufen, nennt er 1. die eindeutige Definition eines Tätigkeitsfeldes und damit die Entstehung einer dauerhaften und bezahlten Vollzeittätigkeit, also eines Berufs; 2. die Gründung von Ausbildungsstätten für die Berufsangehörigen, die typischerweise später in Universitäten integriert werden. Die Verbindlichkeit der Ausbildung drückt sich in standardisierten Zugangsvoraussetzungen und Abschlüssen aus; 3. die Herausbildung von Berufsverbänden zur Selbstverwaltung der Profession. Sie setzen Zugangsvoraussetzungen fest und repräsentieren den Beruf nach außen. Des Weiteren versuchen sie, nicht qualifizierte Laien an der Ausübung des Berufs zu hindern und sich gegenüber benachbarten Berufen abzugrenzen; 4. die Sicherung des Berufsmonopols durch staatlichen Schutz, den die Berufsverbände für die Berufsbezeichnung, die Ausbildung und die Lizenzierung der Zulassung erreichen; 5. die Zusammenfassung der beruflichen Verhaltensregeln zu einer professionellen Standesethik bzw. eines Berufskodex, mittels dessen die Berufsverbände das Fehlverhalten von Berufsangehörigen sanktionieren und den Wettbewerb innerhalb ihrer Professionen begrenzen. In der Professionssoziologie gilt dieser Ansatz mittlerweile als überholt, da er ein rein deskriptives Untersuchungsverfahren darstellt, das keine theoretischen
9 Häufig liegt dem Merkmalskatalog jedoch implizit eine strukturfunktionalistische Perspektive zugrunde. Derzufolge handelt es sich bei Professionen, die durch die definierten Merkmale gekennzeichnet sind, um das Ergebnis eines funktionalen Differenzierungsprozesses in der Gesellschaft.
2.1 Professionssoziologie
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Begründungen für die Bestimmungsmerkmale anbietet. Es handelt sich vielmehr um einen Klassifizierungsversuch, dem kein Selektions- und Strukturierungsprinzip für Professionen zugrunde liegt. Darüber hinaus bleibt die Frage unbeantwortet, unter welchen Bedingungen sich ein Beruf professionalisieren kann und soll, also die Frage nach der Notwendigkeit und der unterschiedlichen Fähigkeit der Professionalisierung von Berufen (Pfadenhauer 2003b: 37; Schmeiser 2006: 303). Der Merkmalsansatz spielt heute nur noch in professionspolitischen Debatten eine Rolle, insbesondere wenn Berufe wie z.B. Lehrer, Sozialarbeiter oder Vertreter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eine gesellschaftliche Höherbewertung anstreben. Geht es um einen solchen Aufwertungsprozess und gilt es dabei für die Berufsangehörigen, Wege zu finden, die noch nicht ausgebildeten Merkmale zu entwickeln, spricht man vom „Strategieansatz“ (vgl. z.B. für PR- und Öffentlichkeitsarbeiter Tenscher 2003; Röttger 2000). Bilanziert man die verschiedenen professionssoziologischen Theorieansätze im Hinblick auf folgende Fragen a. Was kennzeichnet Professionen als Berufsgruppe? b. Was heißt Professionalisierung, und in welchen Dimensionen kann der Prozess beschrieben werden? c. Bietet der jeweilige theoretische Ansatz über die beiden Beschreibungen hinaus eine Erklärung an, warum und unter welchen Bedingungen es zu einer Professionalisierung kommt? geben sie nützliche Hinweise auf die Kernbestimmung von Professionen und auf professionssoziologischen Perspektiven als Beschreibungs- und Erklärungsrahmen. Ad a) Allen theoretischen Ansätzen ist in der Beschreibung von Professionen gemeinsam, dass sie diese über das im soziografischen Professionskriterienansatz zusammengestellte Set mehr oder weniger identischer Merkmale definieren. Somit ist im Kern immer die Vorstellung der klassischen Professionen in ihrer Gestalt des 19. Jahrhunderts Bezugspunkt der theoretischen Überlegungen. Allerdings werden je nach Ansatz unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund gerückt: Der strukturfunktionalistische Ansatz betont die aus der Zentralwertbezogenheit, also der Lösung gesellschaftlich relevanter sozialer Probleme, resultierende Berufsautonomie der Professionen und begründet damit ihren im Vergleich zu anderen Berufen hervorgehobenen Stellenwert. Der machttheoretische Ansatz begründet Berufautonomie und Stellenwert mit einem erfolgreich durchgesetzten Macht- und Interessenkalkül der Professionen. Der interaktioni-
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
stische Ansatz betont die unterschiedlichen Sinnwelten von Professionellen und Klienten. Aus strukturtheoretischer Perspektive wird – dem vergleichsweise ähnlich – die typische Handlungsstruktur und Handlungskompetenz in der Beziehung zwischen Professionellem und Klient rekonstruiert. Innerhalb der von mikro-soziologischen Ansätzen dominierten deutschen Forschungstradition ist die Gleichsetzung von Professionen mit Sozialberufen charakteristisch. Ad b) Die in den theoretischen Ansätzen der Professionssoziologie genannten Merkmale von Professionen und von Professionalisierung können in verschiedene Dimensionen zusammengefasst werden. Das Verlaufsmodell von Wilensky (1964: 142-146) betont den Institutionalisierungsprozess von Professionen, der in der Abfolge von Arbeitsteilung, Gründung von Ausbildungsorganisationen und Berufsverbänden deutlich wird. Professionen wenden spezialisierte Kenntnisse an, die auf einer theoretischen Grundlage beruhen, in einer systematischen Ausbildung erworben und durch spezielle Tests überprüft wurden. Eine weitere Dimension der Professionalisierung, die besonders im symbolischinteraktionistischen und im strukturtheoretischen Ansatz akzentuiert wird, ist die Herausbildung des professionsspezifischen Wissens, das zu einem starken Wissensgefälle zwischen Professionellen als Experten und ihren Klienten als Laien führt. Eine dritte Dimension, mit der sich vor allem der machttheoretische Ansatz beschäftigt, ist der Prozess der Berufsschließung. Dem für Professionen charakteristischen Merkmal von Autonomie und Selbstkontrolle geht eine Entwicklung voraus, in der Professionsangehörige eine Handlungslogik herausbilden, die im Dienste der Gesellschaft steht, mit der eine bestimmte Berufethik verbunden ist und die nur durch Angehörige der Berufsgruppe selbst kontrolliert wird. Sie ist die Grundlage für die Einforderung einer exklusiven Zuständigkeit, die die Professionsangehörigen durch staatlichen Schutz abzusichern versuchen. Ad c) Einige theoretische Ansätze beschreiben mit der Professionalisierung die Herausbildung der relevanten berufsstrukturellen Merkmale in der Gesellschaft. Aus strukturfunktionalistischer Perspektive wird dies durch die wachsenden Anforderungen einer durch Fortschritt komplexer werdenden Gesellschaft erklärt. In systemtheoretischer Terminologie entspricht dies dem Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, die auf die Umstellung auf Funktionssysteme und die damit verbundene Herausbildung von Professionen als Leistungsrollen der jeweiligen Teilsysteme zurückgeht. Aus machttheoretischer Perspektive wird die Herausbildung der professionellen Merkmale retrospektiv mit dem erfolgreichen Streben von Berufsgruppen nach einer Höherbewertung ihrer beruflichen Leistung erklärt. Die folgenden Ansätze rücken dagegen im Unterschied zu gesellschaftlichen Berufsstrukturen berufliche Handlungsstrukturen auf individueller Ebene in den Mittelpunkt der Betrachtung. Aus einer interaktionistischen
2.1 Professionssoziologie
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Perspektive kann man Professionalisierung als die sukzessive Herausbildung einer auf einem Wissensgefälle basierenden Experten- im Unterschied zur Laienwelt, aus strukturtheoretischer Perspektive als die Entwicklung von professionsspezifischer Handlungsstruktur und -kompetenz verstehen. Allerdings wird die Frage nach der Professionalisierung und ihren Ursachen in der Regel zugunsten der Beschreibung der Professionalität als spezifischer Handlungsqualität nicht gestellt. Sie stellt sich nur, wenn es in der unmittelbaren Berufspraxis um die Einforderung von Rechten und Privilegien sowie um die gesellschaftliche Anerkennung professionsähnlicher Berufe geht. Auf individueller Ebene erklärt allein der machttheoretische Ansatz, warum es zu einem Professionalisierungsprozess kommt. Ihm zufolge fangen bestimmte Berufsgruppen an, mehr oder weniger erfolgreich um gesellschaftliche Anerkennung ihrer beruflichen Leistung zu kämpfen. Die theoretischen Ansätze werden in manchen Systematisierungen der professionssoziologischen Literatur klassifiziert a) als merkmalsbezogene versus strategiebezogene Ansätze (Lamnek 1999), b) als aus der amerikanischen Professionssoziologie entstammende versus typisch deutsche Theorieentwicklungen (Mieg 2003), c) in der Chronologie ihrer wissenschaftshistorischen Entstehung mit dem zentralen Paradigmenwechsel von einer strukturfunktionalistischen zu einer machttheoretischen Perspektive (Pfadenhauer 2003b) oder d) als allgemein soziologische Theorien versus genuin professionssoziologischen Theorien (Schmeiser 2006). Hinter diesen Dualitäten stehen wiederum vier unterschiedliche Bezugsebenen, die für die Verortung und das Selbstverständnis einer Disziplin zentral sind: Bei a) geht es um unterschiedliche Untersuchungsebenen und ihre empirischen Zugänge, bei b) um unterschiedliche wissenschaftliche Entstehungskontexte, bei c) um die jeweils geltenden disziplinären Paradigmen und bei d) um die Definition des disziplinären Gegenstands. Welche Ordnung nun als die „adäquate“ definiert wird, hängt entscheidend von der jeweiligen Bezugsebene und der damit verbundenen intendierten Aussage ab. Die Theorieansätze können – was für die vorliegende Argumentation sinnvoll ist, aber im professionssoziologischen Diskurs bisher noch nicht diskutiert wurde – in einer weiteren Gegenüberstellung den beiden großen Paradigmen der soziologischen Theorie zugeordnet werden, nämlich als struktur- bzw. systemtheoretische Ansätze einerseits und als akteurs- bzw. handlungstheoretische Ansätze andererseits. Ordnet man die Ansätze in dieser Weise, werden unterschiedliche Betrachtungen von Professionen, Professionalisierung und Professionalität deutlich. Es hängt also von der theoretischen Perspektive ab, was im Rahmen eines Professionalisierungskonzepts untersucht und wie die Entwicklung dargestellt wird: Ist Professionalisierung eine abhängige Variable, die durch ihre Struk-
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
turen die Handlungen von Akteuren prägt und auf makrosoziale Prozesse zurückgeht (systemtheoretisches Paradigma), oder eine unabhängige Variable, wonach Akteure den Prozess durch Strukturbildung antreiben (handlungstheoretisches Paradigma)? Ist der Prozess nur auf gesellschaftlicher Ebene nachweisbar oder auch am Handeln der Akteure? Wird die Entwicklung als Längsschnittanalyse an den Veränderungen eines Berufs mit Professionsbestrebungen untersucht, oder werden mehrere Berufe in einer Querschnittanalyse hinsichtlich ihres Professionalisierungsgrads verglichen? Struktur- und Systemtheorien sind theoretische Modelle, die es ermöglichen, in abstrakter und generalisierter Form Aussagen zu treffen, die auf einer makrosozialen Ebene und damit für die Gesellschaft insgesamt Gültigkeit haben. Aus systemtheoretischer Sicht kann die Professionalisierung eines Berufs als Systembzw. Teilsystembildung interpretiert werden, die die Profession von anderen Berufen ebenso wie ein Teilsystem von seiner Umwelt klar unterscheidbar macht. Betrachtet man die professionssoziologischen Theorieansätze unter diesem Vorzeichen, lassen sich der strukturfunktionalistische (Parsons), der machttheoretische (Freidson, Larson) und der systemtheoretische Ansatz (Luhmann, Stichweh) dieser Perspektive zuordnen. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie auf den Institutionalisierungsprozess von Professionen in der Gesellschaft und somit auf Beschreibung makrosozialer Strukturen fokussieren. Die Grundidee des strukturfunktionalistischen Ansatzes, dass es sich bei der Ausbildung von Professionen um eine Reaktion auf gestiegene soziale Anforderungen der modernen Gesellschaft handelt, kann aus einer systemtheoretischen Perspektive reinterpretiert werden. Aus dieser Sicht handelt es sich bei Professionen um Problemlösungssysteme, die eine spezifische Funktion für die Gesellschaft erfüllen. Eingebettet sind die Entstehung und die Veränderung von Professionen in den Prozess der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften. Das grundlegende machttheoretische Argument neben der Erklärung des Professionalisierungsprozesses als einer erfolgreichen Strategie der Marktmonopolisierung ist die Betonung der beruflichen Schließung durch Autonomie und Selbstkontrolle der Professionen. Dieser Aspekt impliziert einen vollständig vollzogenen Institutionalisierungsund Etablierungsprozess und somit den Weg hin zu einer klaren Abgrenzung der Professionen von anderen Berufen. So lässt sich der Prozess der Ausdifferenzierung und Etablierung einer Profession auf gesellschaftlicher Ebene auch als systemspezifische Strukturbildung auffassen. Im Unterschied zu den makrosoziologischen Struktur- und Systemtheorien rücken Akteurs- und Handlungstheorien das individuelle Handeln von Akteuren sowie die Interaktionssituation einer begrenzten Zahl von Akteuren in ihren Untersuchungsfokus. Ziel ist es, auf mikrosoziologischer Ebene Handlungswahlen,
2.1 Professionssoziologie
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also die Frage, warum jemand in einer bestimmten Situation so und nicht anders handelt, sowie soziale Interaktionsprozesse als wechselseitige Abstimmung von individuellen Handlungswahlen zu rekonstruieren und zu erklären. Betrachtet man Professionen aus akteurstheoretischer Sicht, geht es vor allem um das professionelle Handeln in der Arbeitssituation und um professionspolitische Handlungsstrategien. In die Reihe der auf mikrosoziale Handlungen und Handlungsroutinen fokussierten theoretischen Ansätze lassen sich der symbolisch-interaktionistische Ansatz (Hughes, Schütze), der strukturtheoretische Ansatz (Oevermann) und der mit Inszenierungsfragen verbundene machttheoretische Ansatz (Pfadenhauer) einordnen.10 Für das professionelle Handeln aus einer interaktionistischen Perspektive ist der Fallbezug entscheidend, also die sukzessive Klärung in der Interaktionssituation, was eigentlich die Problemstellung ist, die es professionell zu bearbeiten gilt. Während aus dieser Sicht die Gestaltung der beruflichen Interaktionsaktionssituation zwischen den Akteuren zunächst einmal offen ist, ist sie aus strukturtheoretischer Sicht durch die spezifische Handlungsstruktur der Professionen vorgegeben. Die revidierte Professionalisierungstheorie geht von durch Natur und Kultur bereitgestellten Strukturen aus, die relativ autonom die Handlungen der Subjekte in ihrem Alltag steuern. Es handelt sich hierbei um hierarchisch geordnete Strukturen, die im Sinne von Geltungskriterien hinter dem Rücken von Subjekten wirken und sich in ihrem Handeln objektivieren. Aus inszenierungstheoretischer Perspektive wird das professionelle Handeln als ein Rollenspiel zur Kompetenzdarstellung beschrieben. Da die berufliche Qualität des Akteurs nicht unmittelbar ersichtlich ist, ist er gezwungen, seine Kompetenz darzustellen. Die Anerkennung der Kompetenz durch eine zweite Person vor einer dritten sichert den erhobenen Anspruch und führt zu einer Definitionsmacht des Professionellen. Die folgende Übersicht illustriert die Zuordnung der professionssoziologischen Theorieansätze und die damit verbundenen empirischen Zugänge:
10 Nach Schmeiser (2006) ist es nicht möglich, die wissenschaftliche Position des inszenierungstheoretischen Ansatzes von Pfadenhauer eindeutig zuzuordnen: Es könnte sich einerseits um die Herstellung eines einfachen interaktionistischen Bezugsrahmens handeln, innerhalb dessen gefragt wird, wie Professionelle, zum Beispiel Ärzte, in ihrer Interaktion mit Patienten Inszenierungen vornehmen. So ordnet auch Mieg (2003) den inszenierungstheoretischen Ansatz den interaktionistischen Sichtweisen der deutschsprachigen Professionssoziologie zu. Andererseits kann der inszenierungstheoretische Ansatz auch machttheoretisch interpretiert werden, wenn er in ideologiekritischer Sichtweise die „Kompetenzdarstellungskompetenz“ als Schaumschlägerei enttarnt (Schmeiser 2006: 308). Da Pfadenhauer (2003a) selbst auf Ähnlichkeiten zu macht- und elitentheoretischer Vorstellungen verweist, wird ihr Ansatz hier der machttheoretischen Perspektive zugeordnet.
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
Struktur- und systemtheoretische Ansätze
Akteurs- und handlungstheoretische Ansätze
• strukturfunktionalistisch (Parsons) • systemtheoretisch (Luhmann, Stichweh) • machttheoretisch (Freidson, Larson)
• symbolisch-interaktionistisch (Hughes, Schütze) • strukturtheoretisch (Oevermann) • machttheoretisch (Pfadenhauer)
Makrosoziologische Perspektive
Mikrosoziologische Perspektive
Empirischer Zugang: • Untersuchung von Professionalisierung • eher merkmalsbezogen • Längsschnittanalysen
Empirischer Zugang: • Untersuchung von Professionalität • eher strategiebezogen • Querschnittanalysen
Tabelle 1: Systematik professionssoziologischer Ansätze
Die Gegenüberstellung zeigt, dass die professionssoziologischen Ansätze anschlussfähig an die beiden zentralen Paradigmen der allgemeinen soziologischen Theorie sind. Des Weiteren wird deutlich, dass zur Analyse von Professionen mit den jeweiligen Perspektiven Unterschiede hinsichtlich Bezugsebenen, relevanter Untersuchungsaspekte des Gegenstands und empirischer Zugänge verbunden sind. Für die systemtheoretische Perspektive auf Professionen und Professionalisierung sind zeitvergleichende historische Studien charakteristisch, deren Qualität umso höher ist, je länger der untersuchte Zeitraum ist. Zahlreiche Einzelfallstudien zu Professionen und professionellem Handeln beschreiben dagegen die Handlungsstruktur einer Profession zu einem bestimmten Zeitpunkt, die – wenn überhaupt – als Querschnittsanalyse im Vergleich zu einem anderen Beruf oder einer anderen Profession angelegt sind.
2.1 Professionssoziologie
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2.1.2 Defizite und theoretische Anforderungen Betrachtet man die professionssoziologischen Theorieansätze vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen von Professionen und Professionalisierungsprozessen sowie einer möglichen Übertragung auf andere Berufe wie den Journalismus, lassen sich zwei Punkte kritisieren: zum einen die scharfe Trennung und der wechselseitige Ausschluss der theoretischen Perspektiven und zum anderen die enge und veraltete Bestimmung des Gegenstands. Die theoretischen Schulen, die sich mit Professionen als Institution, und diejenigen, die sich mit der professionellen Praxis beschäftigen, haben sich so weit auseinander entwickelt, dass sie sich wechselseitig nicht mehr zur Kenntnis nehmen (Schmeiser 2006: 306). Da der Prozess der Professionalisierung dominant als makrosoziologisches Phänomen betrachtet wird, werden hier Motive und Strategien der Akteure weitgehend vernachlässigt. Jedoch geht es im Prozess der Professionalisierung nicht nur um die Frage, wie ein Beruf zur Profession wird, sondern auch darum, wie Berufsangehörige den Status von Professionellen erreichen. Der Stand der Theorieentwicklung ist insofern unbefriedigend, als dass beide Perspektiven für sich genommen jeweils zu eng sind. Die Ansätze, die Professionalisierung auf gesellschaftlicher Ebene betrachten, postulieren zwar die Ausbildung relevanter Merkmale, vernachlässigen aber die Frage, wie es dazu kommt, also wie und warum sich beispielsweise die Akteure das spezifische Professionswissen aneignen oder eine professionelle Berufsethik entwickeln. Die Ansätze, die sich mit der Professionalität im Arbeitskontext beschäftigen, beziehen umgekehrt in der Regel nicht den gesellschaftlichen Rahmen bzw. die aus dem professionellen Handeln resultierenden gesellschaftlichen Folgen ein. Für die vorliegende Arbeit heißt das, dass ein theoretisch anspruchsvolles Professionalisierungskonzept beide Perspektiven verbinden muss. Des Weiteren sind unabhängig vom theoretischen Ansatz, mit dem Professionalisierungsprozesse beschrieben und erklärt werden, mit ihrer empirischen Untersuchung bislang zwangsläufig zwei Festlegungen verbunden. Um den Prozess der Professionalisierung adäquat zu beschreiben, ist es unerlässlich, so eine unter Professionssoziologen verbreitete Meinung (z.B. Schmeiser 2006: 302; Freidson 1994: 14ff.), die Richtung und das Ziel des Prozesses zu definieren. Demzufolge ist der Merkmalsansatz und das damit verbundene Prozessmodell von Wilensky (1964) zur Überprüfung der Existenz oder Ausbildung einzelner Merkmale fest mit der Frage verknüpft, welche Berufe Professionen genannt werden dürfen und welche Kriterien für eine Abgrenzung zu anderen Berufen entwickelt werden müssen. Diese Grundannahme führt zum zentralen Problem der Professionssoziologie, nämlich der Frage, was eine Profession als Gegenstand der Professionssoziologie ausmacht.
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
Die professionssoziologischen Theorieansätze ebenso wie viele empirische Studien, die das Merkmalsverfahren zur empirischen Messung des Professionalisierungsgrads eines Berufs anwenden, gehen von einem fest definierten, zeitlich robusten Gegenstand aus, wie er durch die klassischen Professionen des 19. Jahrhunderts vorgegeben ist. Problematisch an dieser Vorstellung ist allerdings erstens, dass es sich in der Zusammenstellung der Merkmale um einen Idealtypus handelt, den es so nie gegeben hat. Dieses Argument findet man vor allem in historischen Studien, die nicht nur längere historische Zeitabschnitte, sondern auch die Eigenheiten kulturspezifischer Konstellationen und Entwicklungen im Blick haben. Hannes Siegrist (1988: 14, 16, 22f.) verweist auf die historische Besonderheit von Professionen im 19. Jahrhundert, die als Gruppe alles andere als homogen waren, wie auch darauf, dass in der kontinentaleuropäischen Bestimmung der Professionen die Rolle des Staates als Professionalisierungsagent nicht berücksichtigt wurde. Zweitens wird ihnen aufgrund ihrer sozialen Ausrichtung eine normative Überlegenheit gegenüber anderen Berufen zugeschrieben, die vor dem Hintergrund der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften als funktional differenziert nicht haltbar ist. Schließlich wird drittens durch diese Festlegung ignoriert, dass Professionen bzw. ihre Merkmale, die sie als solche bestimmen, selbst historische Phänomene sind und dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Für eine zeitgemäße Bestimmung des mittlerweile auch in der Professionssoziologie umstrittenen Gegenstands11 müssen zwei gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt werden, die die Struktur von Arbeitsmärkten allgemein sowie Professionen und professionelles Handeln insbesondere beeinflussen: zum einen die Spezialisierung und Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats (Luckmann/Sprondel 1972: 13), eine Veränderung, die sich in der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften als „Wissens- und Informationsgesellschaften“ wiederfindet; zum anderen stellt die zunehmende Bedeutung von Wirtschaftlichkeit und eine Einwirkung ökonomischer Rationalitätskriterien auf viele gesellschaftliche Bereiche, die gemeinhin als „Kommerzialisierung“ bezeichnet wird, eine relevante Entwicklung dar. Aufgrund der ihnen zugeschriebenen bzw. der selbst postulierten Gemeinwohlorientierung ist insbesondere diese Dimension eine in der Professionssoziologie bisher stark vernachlässigte Größe. Beide gesamtgesell-
11 Zur Diskussion des Gegenstands in der Professionssoziologie vgl. z.B. Meuser (2005); Mieg (2003: 21. 23-29); Pfadenhauer (2003b: 174-185); Kurtz (2002: 60-66). Den Wunsch nach einer Öffnung des Gegenstandsbereichs und der Einbeziehung weiterer Berufe illustriert die Programmatik der innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie organisierten Sektion „Professionssoziologie“ vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
2.1 Professionssoziologie
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schaftlichen Entwicklungen stellen das statische und auf Sozialberufe eingeschränkte Profil von Professionen infrage. Da Professionen in gesamtgesellschaftliche Berufsstrukturen und Arbeitsmärkte eingebettet sind, die sich im Zeitverlauf verändern, verschwinden alte Berufe und kommen neue Berufe hinzu, die in bestimmten Berufsfeldern zu Konkurrenten der Professionen werden. Professionalität im Handeln zeichnete sich bisher vor allem durch das Wissensgefälle zwischen Experten und Laien sowie den persönlichen Charakter der Interaktionssituation aus. Mit Hilfe der in der Wissensgesellschaft zahlreich vertretenen alternativen Experten, die zu den Leitprofessionen in Konkurrenz treten, sowie durch Eigenrecherche können Laien ergänzend oder ersatzweise Wissen einholen, die professionelle Leistung kontrollieren und sogar infrage stellen. Zudem müssen die Vertreter der Professionen ihr Handeln nach betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien organisieren, so dass bei Hilfeleistungen nicht mehr die Qualität der Interaktion, sondern ihre Quantität im Vordergrund steht. Hält man an der engen Definition der klassischen Professionen fest, muss man durch den damit einhergehenden Verlust an professioneller Autonomie streng genommen von ihrer sukzessiven Auflösung und somit auch vom Verschwinden des genuinen Gegenstands der Professionssoziologie sprechen. Neuere Gegenstandsbestimmungen versuchen die Entwicklung hin zu einer kommerzialisierten Wissens- und Informationsgesellschaft, in der immer spezifischeres Wissen möglichst schnell, ökonomisch und effizient vermarktet wird, zu berücksichtigen. So plädiert Meuser (2005) dafür, die enge Fokussierung der Professionssoziologie auf die klassischen Professionen zugunsten einer Bestimmung von Professionalität aufzugeben. Nach seiner Auffassung ist diese stärker auf das professionelle Handeln und die professionell erbrachte Leistung ausgerichtet und lässt sich durch zwei Kennzeichen markieren: erstens durch eine Orientierung des Handelns am aktuellen, wissenschaftlich fundierten Wissensstand und zweitens am Prinzip der ökonomischen Rationalität. Professionelles Handeln bezieht sich nach dieser Vorstellung nicht zwangsläufig auf gemeinwohlorientierte Leistungen oder auf den Dienst am Klienten, sondern auch auf Produkte und professionelle Leistungen, die in einer anderen, eher funktionellen statt moralischen Weise zur Erhaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft beitragen. Gemeinsam ist ihnen, dass berufliche Ziele ganz allgemein eher von einer kapitalistischen Verwertungslogik als von einer Ethik des Helfens geprägt sind (Meuser 2005: 260f.). Aber auch diese revidierte Vorstellung von professionellem Handeln greift als Gegenstandsdefinition zu kurz, da sie die gesellschaftliche Verortung dieser durch Professionalität gekennzeichneten „postmodernen“ Professionen sowie die zeitliche Dimension ihrer Entstehung und ihres Wandels nicht berücksichtigt. Für die Professionssoziologie bedeutet dies, dass sie bei der Definition ihres Gegenstands
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
wie bisher die institutionelle ebenso wie die individuelle Ebene, und zugleich auch seinen Wandel einbeziehen muss. Für die vorliegende Arbeit folgt daraus, dass ein aus der Professionssoziologie abgeleitetes, modifiziertes und theoretisch anspruchsvolles Professionalisierungskonzept zwar mit den Ausprägungen ursprünglich professionscharakteristischer Merkmale operieren kann, aber eine Entwicklung nicht an einem a priori festgelegten Ziel gemessen werden darf.
2.2 Journalismusforschung 2.2.1 Journalismus als Beruf im Wandel Journalistische Berufsforschung findet im Rahmen der kommunikationswissenschaftlichen Kommunikatorforschung bzw. innerhalb der Journalismusforschung statt. Der moderne Journalismus, der im Unterschied zum schriftstellerischen Journalismus technologisch an die massenhafte Verbreitung von Schrift-, Ton- und Bildprodukten, kulturell und sozial an das lesende und schreibende Massenpublikum und politisch an die Presse- und Meinungsfreiheit gebunden ist, existiert in dieser Form seit der Weimarer Zeit. Mit Vorläufern im Kaiserreich und einem radikalen Einschnitt im Nationalsozialismus veränderte sich der Journalismus von einer durch „publizistische Einzelpersönlichkeiten“ geprägten Tätigkeit hin zu einer „faktenorientierten Darstellung von Wirklichkeit“, die zunehmend durch Arbeitsmarktkonkurrenz und Funktionsdifferenzierung gekennzeichnet ist. Zwei zentrale Studien, die den Prozess der Verberuflichung, also der Entstehung des Journalistenberufs, und seine weitere Entwicklung vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels zeigen, sind die Arbeiten von Jörg Requart (1995) und Bernd Blöbaum (1994). Zudem geben die Ergebnisse der repräsentativen Journalistenbefragungen von Siegfried Weischenberg und Mitarbeitern (1993; 1994a; 2006) detaillierte Einblicke in die Beschaffenheit der Berufsgruppe. Jörg Requate (1995) beschreibt in seiner Studie „Journalismus als Beruf“ die Entstehung des Journalismus aus einer historischen Perspektive. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich trotz ungeregelten Berufszugangs und innerberuflicher Heterogenität das Berufsbild des Journalisten mit klaren Konturen entwickelt. Die nebenberuflichen Redakteure wurden zunehmend von hauptberuflichen verdrängt, der Beruf wurde direkter und in jüngerem Alter angestrebt und häufiger als dauerhafte Tätigkeit ausgeübt. Mit Ausnahme der Feuilletonjournalisten, bei denen die Grenze zum Schriftstellerberuf weiterhin fließend blieb, entwickelten Journalisten anderer Ressorts und Positionen eigenständige Tätigkeitsprofile. Requate bezeichnet die Entstehung des Journalistenberufs als „marktbedingte Verberufli-
2.2 Journalismusforschung
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chung mit informellen Professionalisierungsansätzen“, da die Berufsmerkmale sowie das journalistischen Selbstverständnis ohne staatliche Regulierungsmechanismen allein durch die Berufsvertreter auf informelle Weise ausgebildet wurden (Requate 1995: 389). Aus einer Differenzierungsperspektive gehört der Journalismus in seiner ausdifferenzierten Berufsform zum System medienvermittelter Kommunikation.12 Dabei handelt es sich um die Kommunikation über aktuelle Ereignisse und Phänomene. Journalisten sind von Berufswegen mit der Sammlung, Aufbereitung und Verbreitung dieser Ereignisse in Form von Nachrichten befasst, zu denen sie darüber hinaus Kommentare oder andere Beiträge zur Meinungsbildung liefern. In Abhängigkeit von den technischen Möglichkeiten ihres Mediums werden die Nachrichten an ein disperses und anonymes Massenpublikum adressiert. Sie schaffen massenmediale Öffentlichkeit in dem Maße, wie sie immer wieder Aufmerksamkeit für neue Nachrichten erzeugen. Ursprünglich auf die Herstellung und Verbreitung von Druckschriften begrenzt, schließt der Bereich journalistischer Tätigkeit heute Rundfunk, Fernsehen und alle Arten elektronischer Medien ein. In der Studie „Journalismus als System“ beschreibt Bernd Blöbaum (1994), wie es nach der Herausbildung („Take off“) des Journalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer weiteren Binnendifferenzierung und Verselbständigung der Strukturen kam. Dabei fanden journalismusinterne Spezialisierungsprozesse auf drei Ebenen statt: 1. auf der Ebene journalistischer Organisationen in Gestalt einer zunehmenden Anzahl und Spezialisierung von Medien sowie der weiteren Ausdifferenzierung medieninterner Ressorts und Redaktionen; 2. auf der Ebene der journalistischen Programme, verstanden als Differenzierungen auf den beiden Stufen journalistischer Arbeitsprozesse, nämlich der Informationssammlung (= Recherche und Selektion) und der Informationsverarbeitung (= Darstellungsformen); 3. auf der Ebene der journalistischen Rollen, die entsprechend den beiden genannten Ebenen zur horizontalen (= nach Sachgebieten oder Art der Tätigkeit) und
12 In einem systemwissenschaftlichen Verständnis ist an anderen Stellen von Massenmedien als System (Luhmann 1996), Publizistik als System (Marcinkowski 1993), Journalismus als soziales System (Blöbaum 1994; Kohring 2004) oder Öffentlichkeit als System (Gerhards 1994) die Rede. 13 Ebenfalls aus einer systemtheoretischen Perspektive beschreibt Marcinkowski (1993) den Journalismus. Im Unterschied zu Blöbaum (1994) analysiert er dabei nicht einen Ausdifferenzierungsprozess, sondern das Verhältnis der beiden Systeme Politik und Massenmedien in der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
vertikalen Differenzierung (= nach Kompetenzen und Weisungsbefugnissen) der Berufsprofile führen (Blöbaum 1994: 47-60 bzw. empirisch belegt 183-255).13 Beide Perspektiven, der Prozess der Verberuflichung ebenso wie die mit dem Berufswandel einhergehenden Veränderungen, stellen Bezugspunkte für Professionalisierungseinschätzungen dar, die auf der Grundlage empirischer Befunde getroffen werden. So diagnostiziert beispielsweise die zweite repräsentative Journalistenbefragung zur Situation der Journalisten in Deutschland von Weischenberg et al. (2006) mit Blick auf das Kriterium der Hauptberuflichkeit eine „partielle Deprofessionalisierung“ des Journalismus. Anhand einer repräsentativen Journalistenbefragung können die Autoren zeigen, dass die Zahl der hauptberuflichen Journalisten sich von rund 54.000 im Jahre 1993 um 11 Prozent auf 48.000 im Jahre 2005 verringert hat. Allerdings, so die Autoren, ist die gesunkene Gesamtzahl der Journalisten nicht auf weniger Festanstellungen auf dem journalistischen Arbeitsmarkt zurückzuführen, sondern auf Einsparungen bei den hauptberuflich freien Journalisten, deren Anteil um ein Drittel zurückgegangen ist. Hinzu kommt, dass inzwischen eine unbekannte Zahl von „Freelancern“ nebenberuflich für journalistische Medien arbeitet, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich in anderen journalismusnahen Branchen wie der Öffentlichkeitsarbeit oder Werbung verdienen (Weischenberg et al. 2006: 189f.).14 Im Hinblick auf Veränderungen in der journalistischen Struktur können Weischenberg et al. einen weiteren Prozess der „qualitativen Differenzierung“ belegen. Dieser drückt sich intermedial als Differenzierung zwischen Universal- und Spezialmedien, und intramedial in der Herausbildung verschiedenster Rubriken und Ressorts aus (2006: 192f.). Die in diesem weitläufigen Forschungsfeld notwendigerweise kursorisch bleibenden Beispiele für die Erforschung des Journalismus als Beruf im Wandel zeigen über die Beschreibung seiner Entwicklung hinausgehend, dass in ganz ähnlichen Weise wie in der Professionssoziologie auch hier eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Traditionslinien, Modellvorstellungen und Perspektiven nebeneinan-
14 Die Unsicherheit in Zusammenhang der Definition von Berufsjournalisten resultiert neben inhaltlichen Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber Medienschaffenden und Publizisten auch aus der Frage, ob das Kriterium der Hauptberuflichkeit überhaupt ein zentrales Bestimmungskriterium ist (zur unterschiedlichen Begriffsbestimmung des Journalistenberufs vgl. auch Kunczik 1988: 1-5). Dementsprechend variieren statistische Erfassungen von Journalisten in starkem Maße: Den Angaben Weischenbergs et al. stehen steigende Mitgliedszahlen in den journalistischen Berufsverbänden (DJV von 25.500 auf 42.000; dju von 17.500 auf 22.000), eine im selben Zeitraum steigende Zahl der im Bereich „Wort“ der Künstlersozialkasse gemeldeten freischaffenden Publizisten (von 14.000 auf 37.000) sowie eine von rund 40.000 auf 61.000 angestiegene Zahl von bei der Bundesagentur für Arbeit erfassten, sozialsicherungspflichtigen Publizisten gegenüber (Weischenberg et al. 2006: 36f., 58).
2.2 Journalismusforschung
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der steht, die die Analyse des Journalistenberufs steuern (vgl. zum Überblick Löffelholz 2004). Neben der historischen Perspektive auf die Entstehung und Entwicklung des Journalismus (Beispiel Requate) stellt ein Teil der Forschung im Sinne einer empirischen Journalistenforschung theoretisch wie methodisch die einzelnen Akteure in den Mittelpunkt von Untersuchungen. Aus dem soziodemografischen Profil, ihren Einstellungen und insbesondere ihren Selektionsentscheidungen werden Aussagen zu den Spezifika des Berufs abgeleitet (Beispiel Weischenberg et al.). Der andere Teil der Forschung betrachtet den Journalismus als Berufsstruktur. In dieser Betrachtungsweise spielen zur Beschreibung des Berufs auch seine gesellschaftliche Funktion, journalistische Organisationen sowie journalistische Rollen und Programme eine wichtige Rolle (Beispiel Blöbaum).15 Johannes Raabe (2005) identifiziert in den unterschiedlichen Traditionen und Ansätzen der Journalismusforschung, ebenso wie es im vorherigen Abschnitt für die Professionssoziologie bestimmt wurde, zwei Paradigmen, die er als eine personenbezogene Forschung und eine systembezogene Forschung bezeichnet. Im Anschluss an die jeweilige Kritik an einer ausschließlich personenbezogenen Forschung oder auf Funktionssysteme fokussierten Journalismusforschung sind – im Unterschied zur Professionssoziologie – in den vergangenen Jahren Theoriekonzepte entwickelt worden, die deren Defizite durch integrationstheoretische Überlegungen überwinden und den spezifischen Zusammenhang zwischen dem Journalismus und seinen Akteuren auch empirisch erforschen wollen (Raabe 2005: 76-99, 137ff.; Altmeppen 2007: 12f.; zu verschiedenen sozialintegrativen Ansätzen vgl. Löffelholz 2004).
2.2.2 Journalismus als Profession Das Professionalisierungskonzept und die damit verbundene Frage, ob der Journalismus eine Profession bzw. ob der Beruf des Journalisten professionalisierbar ist, wurde in den 1970er Jahren in die kommunikationswissenschaftliche Diskussion eingebracht. Anlass und Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Fragen aktueller Veränderungen und weiterer Veränderungsmöglichkeiten im Journalismus waren zwei Entwicklungen auf dem journalistischen Arbeitsmarkt: die gestiegene Zahl von Arbeitspositionen, d.h. eine Vervielfältigung der Arbeitsmöglichkeiten für
15 Im Prinzip lässt sich die gesamte Journalismusforschung als Berufsforschung interpretieren. Sie setzt sich theoretisch wie empirisch, auf Strukturen oder Individuen sowie auf einzelne Problemstellungen oder Problembündel bezogen, mit allen Facetten des Journalistenberufs auseinander. Von daher können im Rahmen einer Aufarbeitung des Forschungsstands nur grobe Forschungslinien aufgezeigt werden.
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
junge Journalisten und die damit verbundene dynamisch gestiegene Nachfrage nach einer entsprechenden Ausbildung für den sehr beliebten Beruf (Neverla 1998: 55). Ein Abgleich mit den für Professionen charakteristischen Merkmalen sowie den im typischen Verlaufsmodell von Wilensky (1964) aufgeführten Kriterien zeigte, dass der Journalismus einen Großteil der Eigenschaften von Professionen teilt und schon einige Professionalisierungsphasen durchlaufen hat: So ist der Journalismus seit einigen Generationen ein Ganztagsberuf, die Journalisten sind in nationalen Verbänden organisiert, und sie verfügen über Berufsregeln, die in einem Berufskodex zusammengefasst sind. Journalisten teilen ein Gefühl beruflicher Identität und haben gemeinsame berufliche Wertvorstellungen. Es herrscht Übereinstimmung in der Rollendefinition gegenüber Berufslaien, und im Bereich des beruflichen Handels wird eine gemeinsame Sprache gesprochen, die Laien nur teilweise zugänglich ist. Schließlich ist der Journalismus deutlich erkennbar und von seiner sozialen Umwelt abgegrenzt; er steuert die Selektion und berufliche Sozialisation der Berufsanwärter und kontrolliert beispielsweise durch die Arbeit des Deutschen Presserats das berufliche Handeln seiner Mitglieder (Kepplinger/Vohl 1976: 309ff.). Dennoch stellte sich die Engführung des Journalismus mit der klassischen Professionsvorstellung als nicht brauchbar heraus, da man erkannte, dass diesen Kriterien zufolge der Journalismus nicht nur (noch) keine Profession darstellt, sondern dass es aus strukturellen Gründen nicht zu einer dafür charakteristischen Berufsschließung kommen kann. Es ist auf den rechtlich gesicherten, freien Zugang zum Journalistenberuf sowie die inhaltlich offene Struktur der journalistischen Tätigkeit zurückzuführen, dass dem Journalismus die für Professionen typische umfassende berufliche Autonomie fehlt, die sich neben einer Selbstregulation der beruflichen Angelegenheiten vor allem auf eine Kontrolle des Zugangs zum Beruf über Zertifikate bezieht und damit das Monopol beim Angebot der je spezifischen Dienstleistung behauptet (Hoerning 2005; Gottschall 1999: 640ff.). In Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern ist die Berufsbezeichnung Journalist nicht geschützt, so dass sich rechtlich jeder als Journalist bezeichnen kann.16 Die Kopplung des Berufszugangs an Voraussetzungen wie etwa einer bestimmten Ausbildung wird mit dem Verweis auf Artikel 5 GG, Abs. I, Satz 1 abgelehnt, demzufolge „jeder (…) das Recht [hat], seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (…)“. Das Prinzip der Berufsfreiheit und
16 Es gibt durchaus Länder mit grundsätzlich freiem Mediensystem, die wie in Italien oder in der Schweiz die offizielle Akkreditierung als Journalist in sog. „Beruflisten“ an bestimmte Qualifikationen binden. In Italien kontrolliert die Journalistenkammer („Ordine di giornalisti“) als mächtiger Berufsverband durch beschränkte Absolventenzahlen und standardisierte Prüfungen den Zugang zum Beruf und vertritt die Interessen der Journalisten in Gesellschaft und Politik (vgl. Kassel 2003: 21ff.).
2.2 Journalismusforschung
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des offenen Berufszugangs wurde in Deutschland insbesondere aufgrund seiner historischen Erfahrung verankert. Das nationalsozialistische Schriftleitergesetz von 1933 erlaubte nur bestimmten Personengruppen die Zulassung zum Redakteur und wurde somit zur Grundlage einer politisch-ideologischen Steuerung der Presse (Noelle-Neumann et al. 1996: 81). In allen deutschen Landespressegesetzen ist ergänzend festgelegt, dass Berufsorganisationen, die auf Zwangsmitgliedschaft beruhen und hoheitliche Befugnisse besitzen, nicht zulässig sind. Zudem ist neben der Zugangsfreiheit zum Journalismus die prinzipielle Staatsunabhängigkeit der Medien, die durch Artikel 5 GG, Abs. I, Satz 2f. „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“ gesichert wird, für Demokratien von konstitutiver Bedeutung. Zu den für eine Sicherung des Grundrechts der Pressefreiheit wichtigsten Rechtsquellen gehört die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 05.08.1966 (BVerfGE 20, 162, 175f.). Im sog. „Spiegel-Urteil“ wurde in besonderer Weise die öffentliche Aufgabe der Medien herausgestellt, die in ihrer spezifischen Funktion im Interesse der für den Einzelnen und in der Demokratie erforderlichen Publizitätsentfaltung besteht. „Wegen des in der Demokratie notwendigen Prozesses der Willensbildung vom Volk her zu den Staatsorganen (…) fällt der Presse die essentielle Aufgabe zu, als Motor die öffentliche Diskussion in Gang zu halten wie auch als Sprachrohr zu fungieren, durch das sich die öffentliche Meinung äußert“ (Noelle-Neumann et al. 1996: 81: 242ff.).
Auf diese Weise verhindert dieselbe Grundrechtsnorm, die einerseits journalistische Tätigkeit als gesellschaftliche Aufgabe möglich macht und in Arbeitsprozessen z.B. durch das Recht auf freien Zugang zu Quellen, das Recht auf schöpferische Verarbeitung von Informationen zu Nachrichten und Meinungen, das Zeugnisverweigerungsrecht etc. journalistische Autonomie herstellt, andererseits durch die prinzipielle Offenheit des Berufszugangs für jedermann, die Professionalisierung des journalistischen Berufs. Vor dem Hintergrund der demokratiestützenden Funktion des Journalismus kam man allerdings gleichermaßen zu dem Schluss, dass eine Professionalisierung im klassischen Sinne daher gar nicht wünschenswert, sondern sogar dysfunktional sei (Stalmann 1974: bes. 174f.).17
17 In autoritären Systemen ist Journalismus im Sinne der Definition von Professionen immer professioneller als in Demokratien. Hier ist nicht nur ein professionellerer Journalismus möglich, sondern zugleich für das System funktional. Die Berufsausbildung und der Zugang zum Beruf sind streng geregelt, die Homogenität des Weltbildes der Journalisten ist ebenso erwünscht, wie Widersprüche zur Politik unerwünscht sind (vgl. Kunczik 1988: 25).
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
Ein anderes Argument bezog sich auf die inhaltliche Offenheit der journalistischen Tätigkeit und damit mangelnde Spezifität der journalistischen Kompetenz. Techniken des Recherchierens, Schreibens und Redigierens beherrschen auch begabte Laien nach mehr oder weniger langer Übungszeit. Zudem können Journalisten aufgrund ihrer Tätigkeit nicht mit Professionen verglichen werden, so die Argumentation von Ulrich Saxer (1974/75: 282), da sie sich im Unterschied zum Expertenstatus des Professionals gegenüber seinem Klienten ja selbst immer wieder an Experten wenden, deren Wissen sie benötigen, um es für ein breites Publikum zu veröffentlichen. Auch M. Rainer Lepsius sah in der „inhaltlichen Unterbestimmung“ der journalistischen Tätigkeit den Grund mangelnder Professionalisierung. Berichterstattung und Information seien derartig weitläufige Tätigkeiten, dass sie feste Zugangsregeln für die Berufszugehörigkeit und eine Definition des Geltungsbereichs von Berufsautonomie praktisch nicht ermöglichen. So handle es sich beim Journalismus um eine „Quasi-Profession“, die nur teilweise und unvollkommen durch soziale Mechanismen eine eigene Kompetenz gegenüber anderen sozialen Gebilden und der Gesamtgesellschaft ausbilden und durchsetzen könne (Lepsius 1964: 280; vgl. dazu auch Teichert 1997).18 Wenngleich sich das Professionalisierungskonzept als wissenschaftliches Konzept zur Analyse und Erklärung empirischer Entwicklungen im Journalismus als nicht hinreichend geeignet herausgestellt hat, erlangte der Ansatz in der Kommunikationswissenschaft im Zusammenhang berufs- und hochschulpolitischer Forderungen große Popularität. Über einzelne deskriptive Kriterien des Konstrukts versuchte man in der Folgezeit bescheidener, bestimmte Entwicklungen im Journalismus nachzuzeichnen und weitere Professionalisierungsbestrebungen einzufordern. So sollten – demokratietheoretisch begründet – jene Elemente professionalisiert werden, die zur Ausbildung bestimmter Berufsnormen bzw. eines bestimmten Berufsverhaltens als Grundlage einer „relativen beruflichen Autonomie“ dienen (Kepplinger/Vohl 1976: 339). In Deutschland drehten sich die berufs- und hochschulpolitische Debatte und die in dieser Zeit durchgeführten empirischen Studien vor allem um zwei zentrale Aspekte: erstens um Inhalt und Qualität der journalistischen Aus-
18 Diese Argumentation blendet allerdings aus, dass es immer auch eine Frage von sozialer Handlungs- und Deutungsmacht ist, inwieweit die Angehörigen einer Berufsgruppe ihr Tätigkeitsfeld und ihre Kompetenz über die Definition von Arbeitsgegenständen und Qualifikationsstandards im Berufsfeld etablieren und sich horizontal wie auch vertikal abgrenzen können. Zur „Inszenierung von Expertenwissen“ in modernen Wissensgesellschaften vgl. Pfadenhauer (2003) und Abschnitt 3.2. 19 Zur Professionalisierung des Journalismus durch Ausbildung vgl. Koszyk (1974), Langenbucher (1974/75), Kepplinger/Vohl (1976), Siepmann (1976) und zur Professionalisierung durch Sozialisation von Berufsnormen vgl. Rühl (1971; 1972), Kepplinger/Vohl (1976).
2.3 Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit
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bildung sowie um das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis (journalistische Expertise) und zweitens um das journalistische Selbstverständnis sowie seine Internalisierung und Umsetzung im Redaktionsalltag (journalistische Berufsnormen).19 Dass diese Bemühungen in der Praxis durchaus erfolgreich waren, zeigen der seitdem weitläufige Aufbau von Journalismusstudiengängen und Akademien der journalistischen Aus- und Weiterbildung20 sowie die bis heute zentrale Bedeutung der journalistischen Berufsethik und des journalistischen Rollenverständnisses in der Kommunikatorforschung.21
2.3 Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit Aus der Forschungsstandsbeschreibung der jeweiligen Disziplinen lassen sich sowohl Schlussfolgerungen für die theoretische Komposition des Professionalisierungskonzepts als auch für seine empirische Anwendung zur Untersuchung von Veränderungen im Journalismus ziehen. Das der Professionssoziologie entstammende Konzept der Professionalisierung bietet die Möglichkeit, Entstehung und Wandel von Berufen sowie berufliches Handeln anhand bestimmter Merkmale zu beschreiben und je nach theoretischer Perspektive zu erklären. Allerdings wurde durch die Aufarbeitung des professionssoziologischen Forschungsstands deutlich, dass die Definition der Professionalisierungsmerkmale auf einer teleologischen, an den Professionen des 19. Jahrhunderts orientierten Vorstellung beruht, die unter gegenwärtigen Gesellschaftsund Arbeitsmarktbedingungen der Beschreibung von beruflichen Veränderungsprozessen nicht mehr gerecht wird. Auch in der Journalismusforschung ist das Professionalisierungskonzept in seiner „klassischen“ Form nicht verwendbar, da der Journalismus aus strukturellen Gründen nicht professionalisierbar ist. Aus der Auseinanderentwicklung der professionssoziologischen Theorieansätze, die sich als struktur- und systemtheoretische Ansätze und akteurs- und handlungstheoretische Ansätze klassifizieren lassen, sowie aus der Kritik an der bislang sehr statischen
20 Empirischen Studien belegen zwar die Akademisierung der Ausbildung und einen hohen Anteil an Hochschulabsolventen. Dennoch sind immer noch viele Journalisten Quereinsteiger und ohne journalistische Ausbildung: „Und damit zeigt sich der Journalismus fernab aller Professionalisierungsanstrengungen faktisch nach wie vor als ‚offener Beruf’“ (Weischenberg 1998: 521). 21 Dass das journalistische Selbstverständnis ein bedeutendes Thema der Journalismusforschung ist, zeigt sich an der Vielzahl von Studien, die sowohl generations- wie auch ländervergleichend immer wieder seine Ausprägung und seine Veränderungen überprüfen (Köcher 1985; Schönbach et al. 1994; Donsbach 1999; Ehmig 2000; Donsbach/Patterson 2003; Weischenberg et al. 1994b; Weischenberg et al. 2006).
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
und normativ geprägten Vorstellung von Professionen resultieren zwei theoretische Neubestimmungen. Für eine Weiterentwicklung des Professionalisierungskonzepts ist zum einen grundlegend, dass bei der Untersuchung von Professionalisierungsprozessen neben makrosoziologischen Zusammenhängen, also den strukturellen und institutionellen Prozessen der Berufsetablierung oder -differenzierung, mikrosoziologische Zusammenhänge nicht vernachlässigt werden, die die Professionalität, also das professionelle Handeln von sich verändernden Berufen kennzeichnen. Die Systematisierungsmöglichkeit der professionssoziologischen Theorieansätze ist ebenso wie die in der Journalismusforschung existierenden Forschungstraditionen an die beiden grundlegenden Paradigmen der Soziologie anschlussfähig. Da aber die Verortung innerhalb des einen Paradigmas Perspektiven des anderen Paradigmas auf den Gegenstand ausschließt, wird zur Untersuchung beruflicher Professionalisierungsprozesse die Verbindung einer system- und einer akteurstheoretischen Perspektive angestrebt. Zum anderen ist im Rahmen einer theoretischen Neubestimmung die Rückführung des Professionalisierungskonzepts in den Gegenstandsbereich der Berufssoziologie erforderlich, die mit einer nichtteleologischen Perspektive auf potenzielle Wandlungsprozesse ihres Gegenstands einhergeht. Nach der in der berufssoziologischen Literatur klassischen Definition handelt es sich bei Berufen um „jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person (…), welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance ist“ (Weber 1972: 80).22 Auf diesen beiden Aspekten – spezifische Tätigkeit und Erwerbgrundlage – gründet die Abgrenzung des Berufs im Vergleich zu Arbeit oder einfachen Tätigkeiten bzw. Jobs, die ausschließlich auf Profitorientierung zielen. Kennzeichnend für Berufe sind im Sinne der gesellschaftlichen Differenzierung und ihrer gegenseitigen Unterscheidbarkeit demnach spezielle Tätigkeitsfelder bzw. Berufspositionen, die mit bestimmten Qualifikationen, einer dahinführenden Berufsausbildung, speziellen Berufsverbänden sowie mit einem für den jeweiligen Beruf typischen Berufsprestige und spezifischen Aufstiegsleitern verbunden sind (Heidenreich 1999). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass ein Beruf haupttätig und überwiegend dauerhaft ausgeübt wird und daher von persönlichkeitsprägender Bedeutung ist (vgl. Beck et al. 1980; Beck/Brater 1978). Will man Professionalisierungsprozesse im Gegenstandsbereich von Berufen untersuchen, hat das Folgen für die Betrachtung zweier Merkmale, die bisher ex-
22 Zu weiteren Definitionen vgl. Voß 1994: 128-131; Bolte et al. 1988: 43-47; Neuloh 1973: 13-18; Hesse 1972: 18ff.
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klusiv Professionen bestimmt haben. Die in allen makrosoziologischen Ansätzen betonte Gemeinwohlorientierung der Professionen kann durch die spezifische Funktion des Berufs ersetzt werden, die dieser für die Gesellschaft erfüllt. Eine systemtheoretische Betrachtung geht davon aus, dass vor dem Hintergrund der funktionellen Differenzierung von Gesellschaften jeder Beruf eine spezifische Funktion für sein Teilsystem erfüllt. Demnach gibt es keinen Beruf, der im normativen Sinne eine bedeutendere Rolle für die Gesellschaft spielt als ein anderer. Jeder Beruf ist in seiner Funktion eine Antwort auf einen spezifischen Problemlösungsbedarf. Ein weiteres mit der Gemeinwohlorientierung verbundenes Merkmal von Professionen auf mikrosoziologischer Ebene ist die spezifische Handlungslogik im Interaktionskontext zwischen Professionellem und Klient. Betrachtet man berufliches Handeln, kann man Professionalität nicht nur im Umgang mit Personen, sondern auch mit Produkten bestimmen. Jeder Beruf ist demzufolge durch eine spezifische berufliche Handlungslogik charakterisierbar. Der Tatsache, dass Berufe ebenso wie Professionen einem zeitlichen Wandel unterliegen, hat bereits eine Vielzahl berufssoziologischer Studien der 1970er Jahre Rechnung getragen (Fröhlich 1973; Neuloh 1973; Daheim 1973; 1970; Hesse 1972; Hartmann, 1968). Sie gingen von einem Kontinuum beruflicher Veränderungen aus, dessen Bewegung durch interne und externe Einflüsse bestimmt wird.23 Obgleich sie sich auf dem Kontinuum zwischen Arbeit, Beruf und Profession auch an den Merkmalen von Professionen orientierten, ist ihr empirischer Zugang hilfreich und auf die Professionalisierung von Berufen übertragbar. Sie bestimmten den Professionalisierungsgrad eines Berufs nicht wie Wilensky (1964) an der fixen Abfolge der Etablierung verschiedener Professionsmerkmale, sondern sie zerlegten den Prozess der Professionalisierung in mehrere, für Professionen charakteristische Dimensionen.24 Die Konzeption einer Dimensionierung von Professionalisierung ist insoweit von Vorteil, als viele berufliche Tätigkeiten hinsichtlich ihrer Eigenschaften zwischen die fixen Definitionen fallen können. Je nach Anzahl der verschiedenen Dimensionen erreicht man ein differenzierteres Bild des Professio-
23 Daheim (1970: 42f.) verortete die Berufsposition auf einem Kontinuum, dessen Extreme durch die kaum bzw. die voll professionalisierte Berufsposition gebildet werden. Als das entscheidende Kriterium der Professionalisierung galt ihm das Ausmaß des zur Rollenausübung erforderlichen spezialisierten und systematisierten Wissens. 24 Hartmann (1968) hat beispielsweise die Bewegung von Berufen auf einem Kontinuum mit den drei Fixpunkten Arbeit, Beruf und Profession beschrieben. Beide Prozesse wurden in zwei unterschiedlichen Dimensionen, der Dimension des Wissens und der der Sozialorientierung, operationalisiert. Die Bewegung von der Arbeit hin zu Berufen bezeichnete er Verberuflichung, und die Weiterentwicklung vom Beruf zur Profession nannte er Professionalisierung. Die analoge Rückwärtsbewegung bezeichnete er als Deprofessionalisierung bzw. Entberuflichung.
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2 Forschungsstand und theoretische Bausteine
nalisierungsprozesses, das umso aussagekräftiger wird, je mehr berufliche Dimensionen unterschieden werden. So unterstellt eine solche Konzeption weder eine determinierte Abfolge noch die Parallelität von Entwicklungen in den unterschiedlichen Dimensionen. Um die Professionalisierung von Berufen und beruflichem Handeln zu untersuchen, müssen daher die Dimensionen der Professionalisierung sowohl für die gesellschaftliche als auch für die individuelle Ebene bestimmt werden. Nur so können auf einem Kontinuum einerseits Professionalisierungsprozesse von Berufen und andererseits unterschiedlichen Professionalitätsgrade im Vergleich von Berufen in verschiedenen relevanten Dimensionen sinnvoll gemessen werden. Unter den Prämissen • Professionen und Berufe sind in ihren funktionalen Grundmerkmalen identisch, • Berufe sind veränderbar und bewegen sich dabei auf einem Kontinuum, das sich in verschiedene berufsstrukturelle Merkmalsdimensionen auflösen lässt und • ihre Veränderungen und ihr Entwicklungsstand sind nicht absolut in Bezug auf einen definierten Endpunkt beschreibbar, sondern immer nur relativ im Vergleich zweier Zeitpunkte bzw. im Vergleich zu anderen Berufen und deren Merkmalsausprägungen, gilt es, das theoretische Konstrukt der Professionalisierung und seine Dimensionen neu zu bestimmen. Auf einem Kontinuum kann zunächst ganz allgemein der Prozess in Richtung einer Zunahme der Indikatoren auf den einzelnen Merkmalsdimensionen als „Professionalisierung“ und der Prozess der Abnahme als „Deprofessionalisierung“ eines Berufs bezeichnet werden. Da aber nicht zwangsläufig mit einer gleichzeitigen und gleichmäßigen Entwicklung des Berufs in allen seinen Facetten zu rechnen ist, kann so für die einzelnen Dimensionen jeweils empirisch geklärt werden, wie weit der Prozess auf der jeweiligen Ebene fortgeschritten ist, ohne dass ein vorab definiertes Ziel Vergleichsgrundlage der Beschreibung ist. Bezüglich der forschungsleitenden Fragestellung dieser Arbeit nach der im Zuge des europäischen Integrationsprozesses erfolgten Veränderung des Journalismus lassen sich aus der Journalismusforschung folgende Schlussfolgerungen ziehen: Der Journalismus ist, wie in Abschnitt 2.2.1 gezeigt wurde, heute zweifelsfrei ein ausdifferenzierter Beruf mit einem spezifischen Tätigkeitsprofil, wenngleich die Übergänge zu anderen Kommunikationsberufen fließend sind. Als solcher weist er die oben definierten charakteristischen Merkmale eines Berufs auf. Die Frage, ob der Journalismus eine Profession im klassischen Sinne ist oder dazu werden kann, ist, wie in Abschnitt 2.2.2 begründet, aufgrund seiner gesellschaftli-
2.3 Schlussfolgerungen für die vorliegende Arbeit
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chen Positionierung hinfällig. Will man Strukturveränderungen innerhalb seines Berufsfelds beschreiben, ist es daher ertragreicher zu fragen, wie professionalisiert der Journalismus war oder ist und welche Veränderungen man als Professionalisierungsprozesse zwischen zwei definierten Zeitpunkten deuten kann. Aus einer System- und Akteurstheorie verbindenden Sicht kann die „Professionalisierung des EU-Journalismus“, wie die intermediale Ausdifferenzierung des Online-Journalismus im Unterschied zum traditionellen Print- oder Hörfunk-Journalismus oder die intramediale Differenzierung des Wissenschaftsjournalismus im Unterschied zum Wirtschaftsjournalismus mit jeweils speziellen Berufsprofilen als eine „funktionale Binnendifferenzierung“ des bestehenden Journalistenberufs interpretiert werden. Zur empiriegestützten Beschreibung von Veränderungen im Journalismus in Richtung eines spezifischen EU-Journalismus ist der Begriff der Professionalisierung als funktionale Binnendifferenzierung des Teilsystems Journalismus zu unspezifisch. Hierfür eignet sich insofern ein Professionalisierungskonzept, das eine akteurstheoretische Perspektive einbezieht, als es berufliche Veränderungen in einer zeitlichen Dimension erfasst und durch verschiedene Merkmale wie Arbeitsteilung, Berufsausbildung, berufliches Handeln, berufliches Selbstverständnis etc. inhaltliche Dimensionen und Indikatoren vorgibt, die die Arten und Ebenen der Veränderungsprozesse genauer bestimmen. Ein weiterer Vorteil eines solchen Professionalisierungskonzepts besteht darin, dass es durch die beiden theoretischen Perspektiven ermöglicht, den Journalistenberuf als soziale Einheit aus journalistischen Berufsstrukturen und journalistischem Handeln zu untersuchen. Im folgenden Kapitel wird daher zunächst ein allgemeiner theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen entwickelt, der den genannten Anforderungen entspricht. Er bildet zugleich den Bezugsrahmen, der in spezifizierter Form zur empirischen Untersuchung der Professionalisierung des EUJournalismus herangezogen wird.
3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
Das im Folgenden explizierte Konzept der Professionalisierung von Berufen stellt den allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen der Untersuchung dar. Auf ihm basieren die theoretischen Annahmen, Dimensionen und Indikatoren, die im anschließenden Kapitel für die empirische Untersuchung der Professionalisierung des EU-Journalismus abgeleitet werden. Aus der Beschreibung des professionssoziologi schen Forschungsstands ging hervor, dass sich das enge, teleologische und an den klassischen Professionen orientierte Professionalisierungskonzept unter gegenwärtigen Berufs- und Arbeitsmarktbedingungen zur Beschreibung von beruflichen Professionalisierungsprozessen nicht mehr eignet. Zudem wurde deutlich, dass sich die Professionssoziologie auf theoretischer Ebene derart ausdifferenziert hat, dass sie je nach Ansatz entweder die Profession als gesellschaftliche Institution oder das professionelle Handeln als individuelle Praxis in den Blick nimmt. Daher sollte ein auf den Gegenstand „Berufe“ erweitertes Professionalisierungskonzept systemund akteurstheoretische Perspektiven verbinden und Professionalisierung auf verschiedenen Dimensionen eines Kontinuums messen können. Ziel dieses Kapitels ist es, einen theoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, der den im vorherigen Kapitel formulierten Anforderungen genügt. Dazu werden zunächst die ihm zugrunde gelegten Prämissen transparent gemacht. In Abschnitt 3.1 wird daher geklärt, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es zur Professionalisierung kommen kann bzw. welche gesellschaftlichen Kontextfaktoren Professionalisierung beeinflussen und begleiten. Ferner wird begründet, wie das konkrete berufliche Handeln der individuellen Akteure motiviert ist. In Abschnitt 3.2 wird eine systemtheoretische mit einer akteurstheoretischen Perspektive auf die Professionalisierung von Berufen kombiniert und das theoretische Konstrukt in verschiedene Dimensionen aufgelöst. In Abschnitt 3.3 werden die Dimensionen der Professionalisierung an die Berufssoziologie in einer Weise rückgebunden, dass sie die Untersuchung von beruflichen Professionalisierungsprozessen auf makrosoziologischer Ebene wie auch das berufliche Handeln auf mikrosoziologischer Ebene ermöglicht. Abschließend wird die Argumentation noch einmal zusammengefasst und die einzelnen Untersuchungselemente in ein Schaubild übersetzt (Abschnitt 3.4).
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
3.1 Rahmenbedingungen einer Professionalisierung von Berufen Die Professionalisierung als die Entstehung und der Wandel von Berufen ist in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet. So ist sie einerseits Indikator für gesellschaftlichen Wandel, andererseits können gesellschaftliche Veränderungen auch ein Auslöser für Professionalisierungsprozesse sein. Die Frage nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen es zur Professionalisierung kommen kann bzw. welche gesellschaftlichen Kontextfaktoren Professionalisierung beeinflussen und begleiten, ist der zentrale Ausgangspunkt eines theoretischen Bezugsrahmens, der eine Untersuchung von beruflichen Professionalisierungsprozessen steuern soll. In der professionssoziologischen Diskussion wurde deutlich, dass die Professionalisierung als der Wandel von Berufen zu Professionen bisher dominant als berufsstruktureller Prozess betrachtet wurde, der je nach theoretischem Paradigma seinen Ursprung in den funktionellen Anforderungen einer komplexer werdenden Gesellschaft oder in der Macht von Akteuren zur Marktmonopolisierung hatte. Betrachtet man die Entstehung und den Wandel von Berufen jenseits dieser allgemeinen Annahmen auf empirischer Ebene, können sie in modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften im Kern auf vier Faktoren zurückgeführt werden, die sie möglicherweise auf makrosoziologischer Ebene auslösen oder zumindest als gesellschaftliche Rahmenbedingung befördern und begleiten. Der gesellschaftliche Bestimmungsfaktor Die Professionalisierung von Berufen kann die Folge von bestimmten Entwicklungen in gesellschaftlichen Teilsystemen sein. In diesem Fall entspricht der gesellschaftliche Wandel einer veränderten Umweltbedingung, die sich in Entstehung, Wachstum und Veränderung der Nachfrage niederschlägt und auf die das Berufsfeld durch Professionalisierung reagiert. Ein Beispiel für die zunehmende Bedeutung von öffentlicher Kommunikation und Massenmedien als einer veränderten Umweltbedingung für verschiedene Gesellschaftsbereiche ist die Entstehung des Berufsfelds Public Relations (Wienand 2003; Röttger 2000). Der wirtschaftliche Bestimmungsfaktor Der ökonomische Wert von Berufen wird – je nach Marktabhängigkeit des Berufs – durch Angebot und Nachfrage geregelt. Innerhalb eines schon bestehenden Berufsfelds kann es bei einem wachsenden Angebot von ähnlichen beruflichen Leistungen zu Konkurrenz kommen, die nach einer wirtschaftlichen Handlungsrationalität eine Differenzierung von Berufen und die Besetzung beruflicher Nischen erforderlich macht. Innerhalb des expandierenden Felds von Therapie- und Beratungsberufen ist die Professionalisierung der Familienmediation ein Beispiel für
3.1 Rahmenbedingungen einer Professionalisierung von Berufen
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die Veränderung eines Berufs unter Konkurrenzbedingungen. Sie verweist darüber hinaus auf den offensichtlich erhöhten Bedarf an gesellschaftlicher Orientierungshilfe als einer veränderten Umweltbedingung (Maiwald 2004). Der technische Bestimmungsfaktor Technischer Fortschritt und Innovationen können ebenfalls zur Ausdifferenzierung von neuen Berufen führen oder bestehende Berufe zwingen, neue Aufgaben und Anforderungen in ihr berufliches Tätigkeitsfeld zu integrieren. Beispiele für die Entstehung von durch technische Innovation möglichen Berufsrollen sind insbesondere die im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik (IT) angesiedelten Berufe wie Informatiker oder der seit 1997 anerkannte Ausbildungsberuf des IT-System-Elektronikers.25 Der politische Bestimmungsfaktor In anderen Fällen ist es möglich, dass die Professionalisierung eines Berufs für gesellschaftlich notwendig erachtet und dementsprechend politisch gesteuert und gefördert wird. Hier tritt der Staat, wie zum Beispiel für die kontinental-europäischen Amtsprofessionen im frühen 19. Jahrhundert charakteristisch, als sog. „Professionalisierungsagent“ auf, indem er Verwissenschaftlichung und Zugang zum Beruf regelt (Siegrist 1988: 22f.). Empirische Studien zeigen, dass im Verlauf des allgemeinen Wandels moderner Gesellschaften ein Strukturwandel von Berufen stattgefunden hat. Planende und verwaltende Berufstätigkeiten, Steuerungs- und Überwachungsaufgaben, das Bedienen von Informationssystemen sowie beratende Tätigkeiten haben als Aufgaben einer Dienstleistungsgesellschaft gegenüber der Produktion als Charakteristikum der Industriegesellschaft deutlich zugenommen (Franke/Buttler 1991). Auch wenn mit dem Wandel der Berufsstruktur das Aufkommen von Berufen verbunden ist, die üblicherweise mit neuartigen Berufsbezeichnungen etikettiert werden, belegen die Untersuchungen jedoch, dass wirklich neue Berufe wie z.B. der Informatiker eher selten sind. Traditionelle Berufe erweisen sich als durchaus flexibel in der Aufnahme neuer Berufselemente, und neue Berufe greifen meist auf ein Fundament traditioneller Elemente zurück (Dostal 2002: 466). Führt man diese Überlegungen wieder auf eine theoretische Ebene zurück, ist es sinnvoll, die Professionalisierung von Berufen aus systemtheoretischer Sicht als Prozesse der Teilsystembildung bzw. der funktionalen Binnendifferenzierung zu
25 Vgl. <www.bmbf.de/pub/it-berufe.pdf> (Zugriff: 17.03.2010).
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
beschreiben. Auch wenn Systemtheorien selbst keine genaueren Angaben zu den Ursachen von Systembildung und -differenzierung machen, können die oben genannten Bestimmungsfaktoren als Umweltbedingungen der Teilsysteme betrachtet werden.26 In welchen der genannten Faktoren die Professionalisierung ihre Ursache hat, ist eine empirisch offene Frage und muss bei einer Untersuchung im Einzelfall geklärt werden. Aus systemtheoretischer Sicht kann jedoch insbesondere der gesellschaftliche Bestimmungsfaktor als zentrale Erklärung für die einsetzende Professionalisierung herangezogen werden. Technische Innovationen, wirtschaftliche Handlungsrationalitäten und politische Steuerungsprozesse sind dabei insofern als Kontextvariablen zu betrachten, als sie alle gesellschaftlichen Teilsysteme durchdringen. Daher können sie mögliche Ursachen und zugleich immer auch Kontextfaktoren sein. Indem sie in Wechselwirkung zueinander treten und eine Eigendynamik entwickeln, können sie den Differenzierungsprozess begleiten oder vorantreiben. Will man die Professionalisierung von Berufen um eine akteurstheoretische Sicht ergänzen, kommt die Rekonstruktion von konkreten beruflichen Handlungen der einzelnen Berufsrollenträger in den Blick. Das betrifft einerseits berufliches Handeln, wie es in der Ausbildung erlernt und im Prozess der beruflichen Leistungserstellung angewendet wird. Andererseits sind damit Fragen des beruflichen Handelns innerhalb und außerhalb der Berufsgruppe, also gegenüber Kollegen oder potenziellen Kunden, verbunden. Zur Beschreibung und Erklärung des beruflichen Handelns und seiner Veränderungen wird vor dem Hintergrund der oben beschriebenen funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften die Theorie des rationalen Handelns herangezogen. Die aus den Wirtschaftswissenschaften in die Soziologie importierte Theorie basiert auf der Vorstellung, dass das Handeln des „homo oeconomicus“ durch rationale Kalkulation und Verfolgung seines Nutzens gekennzeichnet ist. Ferner geht sie davon aus, dass Akteure in Situationen ihren Nutzen optimieren, also mit dem geringsten Einsatz maximalen Ertrag aus einer Interaktionssituation herausholen wollen. Uwe Schimank (2000: 158f.) begründet das Primat des „homo oeconomicus“ im Vergleich zu anderen Handlungsmotivationen von Akteuren damit, dass im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung der soziale Interdependenzdruck größer geworden ist.27
26 Die Frage nach den Ursachen funktioneller Differenzierung wird z.B. bei Luhmann (1997) nicht explizit beantwortet. Allerdings kann aus der wechselseitigen Beobachtung von Systemen und ihrer strukturellen Kopplung geschlossen werden, dass Veränderungen in einem System auch strukturelle Anpassungen an das andere System zur Folge haben. Zu verschiedenen Beobachtungsmodi vgl. Luhmann (1997: 757). 27 Neben dem rational handelnden „homo oeconomicus“ führt Schimank (2000: 37-144) den an Normen orientiert handelnden „homo sociologicus“ und den durch Emotionen angetriebenen „emotional man“ und „Identitätsbehaupter“ an. Zu weiteren Handlungstheorien vgl. Münch (2003).
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
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Funktionale Differenzierung, so Schimank, bedeutet auf Rollen- und Organisationsebene eine Spezialisierung im Sinne der Arbeitsteilung. Je größer die Spezialisierung von Rollen und Organisationen ist, desto größer werden die wechselseitigen Abhängigkeiten von einer wachsenden Zahl anderer Akteure. Diese werden unübersichtlicher, und da sie mit unterschiedlichen Macht-, Leistungs- oder Ressourcenpotentialen verbunden sind, wird von den Akteuren mehr rationales Sondieren und Kalkulieren verlangt, wenn sie ihren Vorteil suchen und Nachteile vermeiden wollen. Wachsende Abhängigkeiten und Konkurrenzsteigerung als Auswirkungen zunehmender funktionaler Differenzierung erhöhen den sozialen Interdependenzdruck auf die Akteure, wodurch diese immer stärker auf ihr Eigeninteresse als rationalen Handlungsantrieb gestoßen werden.
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht Struktur- und Systemtheorien sowie Akteurs- und Handlungstheorien bilden die beiden großen theoretischen Forschungsparadigmen der allgemeinen Soziologie. Um die Professionalisierung von Berufen nicht entweder makrosoziologisch oder mikrosoziologisch zu beschreiben, sollen eine system- und eine akteurstheoretische Perspektive kombiniert werden. Innerhalb der Sozialwissenschaften gibt es verschiedene Versuche, system- und handlungstheoretische Ansätze zusammenzuführen, so dass die Vorteile beider Zugangsweisen genutzt werden können.28 Ein solche Verbindung stellen akteurstheoretische Ansätze her, die das interessengeleitete Handeln von Akteuren in den Mittelpunkt stellen, diese aber zugleich in einem systemischen Kontext interpretieren. Einen fruchtbaren Ansatz, der in der Öffentlichkeits- und Journalismusforschung durch z.B. von Jürgen Gerhards (1994) und Christoph Neuberger (2004)29 bereits aufgegriffen wurde, stellen die Arbeiten des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-
28 Ein ähnlicher Ansatz ist die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens (1988). Strukturen definiert er als Regeln und Ressourcen. Akteure handeln innerhalb dieser Strukturen, die ihr Handeln durch Regeln und die Zuweisung von Ressourcen begrenzen, aber auch ermöglichen. Zugleich reproduzieren sie die Strukturen dauerhaft selbst, indem sie innerhalb der Strukturen handeln. In der Journalismusforschung wird häufig auf das Feld- und Habituskonzept von Pierre Bourdieu zurückgegriffen, um die Praxisformen von Journalisten in den relevanten Strukturen des journalistischen Felds zu identifizieren; vgl. z.B. Raabe (2005). 29 Neuberger (2004) überträgt die Beschreibungskategorien dieses Ansatzes auf den Journalismus und entwickelt einen Analyserahmen für journalistisches Handeln, das durch die institutionelle Ordnung des Systems gesteuert wird, aber noch Spielräume für die Interessen der Akteure lässt. Die Übertragung bleibt allerdings insoweit vage, als er ihn weder für eine empirische Analyse heranzieht, noch die Dimensionen anhand von Beispielen plausibilisiert.
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
schung dar. Er wird im Folgenden zur Herleitung der untersuchungsrelevanten Dimensionen herangezogen (vgl. insbesondere Schimank 1988; 1985; Mayntz 1988).30 Um die Professionalisierung von Berufen aus einer systemtheoretischen Perspektive analog dem Prozess der Teilsystembildung als berufliche Binnendifferenzierung beschreiben zu können, müssen Merkmale definiert werden, die den Beruf als Teilsystem sowie seinen Differenzierungsprozess kennzeichnen.31 Jürgen Gerhards (1994) hat in seiner system- und akteurstheoretisch fundierten Bestimmung von politischer Öffentlichkeit die auf die Systemtheorie Luhmanns zurückgehenden Merkmale von funktional ausdifferenzierten Teilsystemen sehr kondensiert dargestellt. Die dort genannten Merkmale sowie der Prozess ihrer Herausbildung sollen hier aufgegriffen, zur Dimensionierung herangezogen und auf die Professionalisierung von Berufen übertragen werden. „Spezialisierung auf eine Funktion, Entwicklung einer spezifischen Sinnstruktur, strukturelle Absicherung des Systems durch spezifische Leistungsrollen und deren Einbindung in Organisationen einerseits und die Ausdifferenzierung von Publikumsrollen andererseits sowie die Verknüpfung der verschiedenen Teilsysteme durch Leistungsbezüge zwischen ihnen, dies sind die Grundmerkmale, mit denen Luhmann moderne Gesellschaften als funktional differenzierte Gesellschaften beschreibt.“ (Gerhards 1994: 83)
Für eine berufssoziologische Theorie der Professionalisierung ist der systemtheoretische Begriff der Leistungsrolle zentral, da er mit wenigen Ausnahmen dem des Berufs bzw. dem der Berufsrolle am nächsten kommt.32 Betrachtet man die Leit-
30 Die Darstellung folgt im Wesentlichen der Argumentation von Gerhards (1994), der mit Hilfe der von Schimank (1985; 1988) hergestellten Verbindung von System- und Akteurstheorie die Struktur und Funktion von massenmedialer politischer Öffentlichkeit beschreibt. Darüber hinaus wird sie durch grundlegende theoretische Überlegungen von Mayntz (1988) zur Institutionalisierung von Akteurshandlungen im Rahmen funktioneller Differenzierung ergänzt. 31 Professionalisierung als Systemdifferenzierung wird hier ausschließlich im Sinne des Dekompositionsparadigmas (Mayntz 1988: 14) betrachtet, also der klassischen Vorstellung einer strukturellen oder prozessualen Untergliederung eines Ganzen in verschiedene Teile. Dies ist aber nur eine Variante der Ausdifferenzierung von Teilsystemen. Mayntz verweist darüber hinaus auf zwei weitere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilsystembildung: a) durch die funktionelle Reduktion vorher multifunktionaler sozialer Gebilde oder Einrichtungen, b) durch die Aggregation bzw. Synthese, d.h. durch Eingliederung und gleichzeitiges Umfunktionieren existenter Einheiten aus der Systemumwelt (Mayntz 1988: 29). 32 Die Entstehung komplementärer Publikumsrollen spielt für das Konzept der Professionalisierung nur insoweit eine Rolle, als sie ihre Entsprechungen in verschiedenen beruflichen Bezugsgruppen finden. Diese sind einerseits Abnehmer der beruflichen Produkte oder Dienstleistungen, also Kunden und Klienten, sowie andererseits Kollegen, die im Prozess der beruflichen Binnendifferenzierung möglicherweise zu Konkurrenten werden. Offen ist dabei jedoch, ob und ab welchem Zeitpunkt es sich bei um Teile des Systems oder Teile seiner Umwelt handelt. Zu anderen Inklusionsformen vgl. Stichweh (1988).
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
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berufe mancher Systeme, entsprechen sie den klassischen Professionen wie zum Beispiel Ärzte im Gesundheitssystem, Pfarrer im Religionssystem oder Anwälte im Rechtssystem. Auch in anderen Systemen stimmen die Leistungsrollen mit gängigen Berufsbildern wie Sportler im Sportsystem, Journalisten im System der Massenmedien bzw. des Journalismus, Politiker im politischen System überein. Im Sinne einer akteurstheoretisch fundierten Systemtheorie stellt also die Leistungsrolle – nicht das Teilsystem – den Dreh- und Angelpunkt der Betrachtung dar, wenngleich die Funktion und der Sinn der Leistungsrolle mit der des Teilsystems korrespondiert. Aus dieser Perspektive können nun folgende berufsbezogene Fragen gestellt werden: Welche spezifische Funktion erfüllt die Leistungsrolle bzw. der Beruf unabhängig vom einzelnen Berufsrollenträger, welchen spezifischen Sinnzusammenhang kennzeichnet ihn, und in welchem Maße ist er innerhalb entsprechender Organisationen strukturell verfestigt? 1. Teilsysteme übernehmen eine Funktion für die Gesamtgesellschaft; sie sind auf historisch entstandene Bezugsprobleme bezogen und spezialisierte Lösungssysteme für diese Bezugsprobleme. Betrachtet man nicht Teilsysteme, sondern das zentrale Merkmal eines Berufs, so übernimmt dieser jeweils eine spezifische Funktion für die Gesellschaft. Nicht nur Professionen, sondern auch andere Berufe wie Politiker, die stellvertretend für die Gesellschaft kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen, Journalisten, die Aufmerksamkeit für bestimmte Themen erzeugen, oder Ingenieure, die technische Probleme lösen, erfüllen eine spezifische Funktion für die Gesellschaft. So kann nicht zuletzt jeder nicht-akademische oder nicht-freie Beruf sowie Berufe, die sich nur auf einen Schritt innerhalb eines betrieblichen Produktionsprozesses beziehen, in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft spezifische Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbieten.33 Entscheidend ist in jedem Fall, ob der Beruf als solcher oder als Subgruppe in einem Berufsfeld innerhalb der arbeitsteiligen Gesellschaft als spezialisiertes, klar abgrenzbares Tätigkeitsfeld eine einzigartige Stellung einnimmt. 2. Teilsysteme sind nach innen durch eine spezifische Struktur gekennzeichnet. Da soziale Systeme Sinnsysteme sind, ist mit Struktur ein spezifischer Sinn-
33 Beck/Brater (1978; 1980: 243) verweisen auf die „doppelte Zweckstruktur“ von Berufen. Auf der objektiven Ebene tragen sie zur gesellschaftlichen Problemlösung und Bedürfnisbefriedigung bei (Gebrauchswertfunktion: Orientierungsrahmen für die fachliche Tätigkeit), und auf der subjektiven Ebene werden Eigenprobleme der Berufstätigen selbst gelöst (Tauschwertfunktion: Verkauf und Kauf von Arbeitskraft).
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
zusammenhang gemeint, der (…) als solcher als generalisierte Handlungsorientierung für Einzelhandlungen innerhalb dieses Sinnzusammenhangs dient. Für die Sinnstruktur eines Teilsystems ist charakteristisch, dass es nicht nach Sinnvorgaben anderer Systeme handelt, also das System nicht von seiner Umwelt determiniert wird, sondern dass es im Prozess der Ausdifferenzierung systematisch systemexterne Einflüsse zurückdrängt. In der systemtheoretischen Vorstellung wird die spezifische Sinnstruktur durch einen für das System exklusiven binären Code festgelegt. Die spezifische Sinnstruktur der Leistungsrolle bzw. des Berufs ist eng an seine Funktion gekoppelt. Aus einer akteurstheoretischen Perspektive legt sie als generalisierte Handlungsorientierung fest, was für den Beruf und das berufliche Handeln relevant ist (berufsspezifisches Wissen) und welches die legitimen Mittel zur Erreichung des beruflichen Ziels sind (berufsspezifische Normen).34 Die Grundlage der generalisierten Handlungsorientierung ist berufliche Expertise als inhaltliche Bestimmung dessen, worauf sich alles berufliche Handeln bezieht. Sie besteht aus einem berufsspezifischen Wissen (Sach- und Fachwissen) und einer berufsspezifischen Handlungskompetenz (Erfahrungswissen). Als die sachgerechte Anwendung dieser Kenntnisse und Fertigkeiten ist sie im Sinne der Lösung bestimmter Bezugsprobleme für eine erfolgreiche Ausübung des Berufs erforderlich. Je nach Komplexität der Problemlösung und durch die für ihn charakteristische Expertise lässt sich der Beruf in der Gesellschaft platzieren. Manche Berufe erreichen durch ihre Funktion und das damit verbundene Spezialwissen ein hohes Maß an Berufsautonomie, andere dagegen ein geringeres. Um ihr Ziel zu erreichen, eine wirtschaftlich verwertbare berufliche Leistung zu erbringen, können die Akteure auf unterschiedliche Art und Weise handeln. Auf der Basis ihrer beruflichen Expertise orientieren sie sich nicht nur daran, was in ihrem Berufsfeld möglich ist, sondern auch daran, was dort als legitim erachtet wird. Dementsprechend charakterisiert der berufsspezifische Sinn sowohl was das kompetente, als auch was das legitime berufliche Handeln dieses Berufs ausmacht.
34 Schimank unterscheidet an anderer Stelle drei Typen generalisierter Handlungsorientierungen (1988: 627; 1992: 168-173): Erstens geht es um kognitive Orientierungen. Sie prägen die „Können“-Vorstellungen von Akteuren, indem sie bestimmte Handlungsweisen als möglich oder unmöglich erscheinen lassen. Zweitens geht es um normative Orientierungen. Sie prägen „Sollen“-Vorstellungen von Akteuren, die ihnen bestimmte Handlungsweisen gebieten oder verbieten. Und drittens geht es um evaluative Orientierungen. Sie prägen die „Wollen“-Vorstellungen von Akteuren, stellen also bestimmte Handlungsziele als erstrebenswert oder nicht erstrebenswert dar. Für den Beruf ergibt sich daraus die inhaltliche Bestimmung dessen, worauf sich alles berufliche Handeln bezieht, sowie die damit verbundenen Ziele und legitimen Mittel des beruflichen Handelns.
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
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Dabei spielt es keine Rolle, ob berufliche Ziele eher im Rahmen einer kapitalistischen Verwertungslogik oder im Rahmen einer Ethik des Helfens stehen. So legen manche Berufe innerhalb ihres beruflichen Selbstverständnisses eigene Qualitätsstandards fest; andere entwickeln eine spezifische Berufsethik, die angibt, auf welchem Weg das berufliche Ziel erreicht werden soll. Inwieweit sich der berufsspezifische Sinn, der als berufsspezifische Handlungslogik auch das jeweilige berufliche Selbstverständnis umfasst, in definierten Qualitätsstandards, einer für ihn typischen Berufskultur, einer den Berufstätigen gemeinsamen Berufsethik oder einem festgeschriebenen Berufskodex zum Ausdruck kommt, ist eine Frage des Tätigkeitsbereichs und seiner strukturellen Verfestigung. Entscheidend ist also, inwieweit der neue oder der sich professionalisierende alte Beruf durch Expertisierung eine Sinnstruktur entwickelt, die sich deutlich von anderen unterscheidet. Wenn die Sinnstruktur als generalisierte Handlungsorientierung durch ihre enge Verknüpfung zur Funktion und inhaltlichen Bestimmung des Berufsziels unmittelbar auf das Kompetenzgebiet des Berufs verweist, sind damit zugleich klare Vorstellungen verbunden, die festlegen, welche Mittel zur Erreichung des Ziels eingesetzt werden dürfen. Das durch die spezifische Sinnstruktur gekennzeichnete ausdifferenzierte Teilsystem markiert seine systemeigene Grenze mittels Differenz zu anderen Systemen. Obgleich strukturelle Kopplungen zwischen Systemen und ihrer Umwelt bestehen können, indem das jeweilige System Erwartungsstrukturen aufbaut, die es für bestimmte Irritationen aus seiner Umwelt sensibler macht, sind Systeme durch die Exklusivität ihrer Operationsweise geschlossen. Aus akteurstheoretischer Sicht ist im Prozess der Differenzierung generalisierter Handlungsorientierungen die Markierung bzw. die Verschiebung ihrer Grenzen allerdings nicht selbstevident. Sie unterliegen einem ständigen Prozess der Definition und Umdefinition, die durch Handlungen der Akteure produziert und reproduziert werden. So geht mit der Expertisierung als Ausbildung einer berufsspezifischen Handlungslogik durch Spezialisierung beruflichen Wissens notwendigerweise eine Inszenierung als seine berufsspezifische Darstellung einher. Sie resultiert aus der mit Professionalisierungsprozessen verbundenen Konkurrenzsituation zu anderen Berufen und aus der anvisierten Etablierung des Problemlösungsangebots gegenüber potenziellen Abnehmern. Nur die Präsentation der Spezifika ihrer Problemlösung gegenüber verschiedenen beruflichen Bezugsgruppen35 sichern die gesellschaftliche Wahrnehmung des neu entstehenden oder sich binnendifferenzierenden Berufs
35 Wichtige berufliche Bezugsgruppen sind hier Kollegen als Konkurrenten innerhalb oder angrenzender Berufsfelder mit ähnlichen beruflichen Leistungsangeboten sowie Kunden und Klienten als Abnehmer der beruflichen Leistung.
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
sowie die Anerkennung und das Vertrauen in seine Funktion. Während die für Professionen charakteristische Berufsschließung an Zertifikate gebunden ist, die Bereitschaft, Fähigkeit und Befugnis bescheinigen, bestimmte Tätigkeiten auszuführen, und alle nicht mit diesem Zertifikat ausgestatteten Personen von diesen Tätigkeiten ausschließt, liegt in der Markierung der Außengrenzen des Berufs die Möglichkeit, auch unabhängig von staatlicher Lizenzierung einen Anspruch auf Autonomie aufzubauen und seine Anerkennung durch Dritte sicherzustellen. Zwei Autoren betonen diese Dimension des berufspezifischen Sinns: Andrew Abbott richtet in seiner Studie „The System of Professions“ (1988) das Augenmerk auf die Inhalte professioneller Arbeit, d.h. auf den jeweiligen Zuständigkeitsbereich einer Profession sowie auf den Wettbewerb zwischen Professionen und anderen Berufen um eine begrenzte Zahl von Zuständigkeitsbereichen. Grundlegend für Abbotts Verständnis der Professionen als System ist seine Annahme, dass Zuständigkeiten exklusiv sind, eine Aufgabe also jeweils nur einer Profession zugeordnet werden kann. Veränderungen der Zuständigkeit einer Profession beeinflussen daher andere Professionen und führen mitunter zu interprofessionellen Konflikten. Übertragen auf Berufe, dient die Darstellung der berufsspezifischen Handlungslogik der Abgrenzung des eigenen Zuständigkeitsbereichs gegenüber anderen Berufen. In gleicher Weise bezieht sich Michaela Pfadenhauer in ihrer Studie „Professionalität“ (2003b) auf die Außendarstellung der beruflichen Expertise, indem sie Professionelle als „darstellungskompetente Kompetenzdarsteller“ betrachtet. Aus der ihrer Arbeit zugrunde liegenden inszenierungstheoretischen Sicht ist Professionalität als soziale Etikettierung zu begreifen. Sie ist keine unmittelbar sichtbare Qualität des Berufs oder der Berufsgruppe, sondern ein über Darstellungen rekonstruierbarer Anspruch. Wem es also mittels Inszenierung gelingt, sich als zuständig und befähigt, also als kompetent – wofür auch immer – anerkennen zu lassen, hat bereits die grundlegende Voraussetzung zur Erlangung des Expertenstatus erfüllt. Er hat die Zustimmung zu seinem sozial erhobenen Anspruch und damit eine von außen legitimierte Definitionsmacht erreicht. Allerdings würde – so die für diese Konzeptionalisierung weiterführende Überlegung – die bloße Inszenierung ohne eine anhand der beruflichen Leistung empirisch verifizierbare Expertise das Bild des Professionellen sofort zerstören. Er würde sich und sein professionelles Handeln selbst entwerten, indem er sich inszeniert und damit Erwartungen weckt, die er nicht erfüllen kann. In diesem Sinne ist die Inszenierung eines Berufs nicht als eine rein symbolische Handlungsorientierung zu verstehen, die etwas zum Schein vortäuscht. Vielmehr ist sie eine Handlungsorientierung, die die berufsspezifische Expertise „in Szene setzt“, also den Anspruch auf Zuständigkeit und somit auch die Deutungshoheit für den Zuständigkeitsbereich erhebt. Sie stellt die aus einer handlungstheoretischen Perspektive
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
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zu vollziehende Grenzziehung gegenüber konkurrierenden Berufen und gegenüber den Abnehmern der beruflichen Leistung dar. So dient die Inszenierung als Darstellung der berufsspezifischen Handlungslogik der Reklamation von Zuständigkeit gegenüber konkurrierenden Berufen und Klienten sowie gegenüber letzteren der Einwerbung von Vertrauen in die berufliche Leistung.36 Insgesamt wird der Prozess der Aus- oder Binnendifferenzierung eines Teilsystems an der Herausbildung einer spezifischen Sinnstruktur sichtbar, die Professionalisierung eines Berufs an einer zunehmenden Expertisierung und Inszenierung. Der neue bzw. der sich professionalisierende alte Beruf übernimmt innerhalb des Berufs oder der Berufsgruppe eine spezifische Funktion, wozu er eines zunehmend spezialisierteren Wissens bedarf. Folglich kann Expertisierung als die Ausbildung einer berufsspezifischen Handlungsstruktur durch zunehmende Spezialisierung von beruflichem Wissen definiert werden, die – je nach Beruf – mit einer Verwissenschaftlichung einhergeht. Damit verbunden ist seine Inszenierung als die Abgrenzung der spezifischen Sinnstruktur von anderen Sinnstrukturen. Vor diesem Hintergrund wird Inszenierung als eine zunehmende Abgrenzung der Berufstätigkeit durch Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit gegenüber anderen beruflichen Bezugsgruppen definiert, die auf gesellschaftliche Anerkennung und Autonomie des Berufs zielt. 3. Teilsysteme sind keine situativen Ausdifferenzierungen von funktional spezialisierten Sinnzusammenhängen, sondern auf Dauer gestellte Sinnsysteme. In der systemtheoretischen Vorstellung gilt die Ausdifferenzierung der Leistungsrolle und der komplementären Publikumsrolle als Indikator für ein auf Dauer gestelltes Sinnsystem, da sie die Handlungsrationalität zum Ausdruck bringt und strukturell absichert. Dabei können Leistungsrollen in Organisationen eingebettet sein. Will man den Prozess der Ausdifferenzierung beschreiben – Organisationen stellen bereits die höchste Form struktureller Verfestigung einer ausdifferenzierten Leistungsrolle dar37 –, muss
36 In der Soziologie ist der Begriff der Inszenierung in der Tradition von Erving Goffman (1996) klassischerweise an das rahmen- und rollenorientierte Handeln von Akteuren gebunden; vgl. dazu auch Willems (1998; 1997). In der hier verwendeten Form wird er aus der Sicht interessengeleiteter Akteure interpretiert, für die es rational ist, eine offene Situation – die der Positionierung ihres Berufs – durch eine entsprechende Inszenierung zu definieren. Wer inszeniert – so die Vorstellung –, hat bereits eine Situationsdefinition vorgenommen, von der er andere überzeugen will. Darüber hinaus bezieht der Begriff auch strukturelle Verfestigungen dieser Deutungen auf der Ebene von Organisations- und Handlungsstrukturen mit ein. 37 Mayntz (1988: 23) schreibt: „Erst gesellschaftliche Teilsysteme, die die dritte der hier unterschiedenen Stufen der Ausdifferenzierung erreicht haben, werden in aller Regel von den Gesellschaftsmitgliedern selbst als eigenständige Teilsysteme wahrgenommen (…).“
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
man den Prozess der Institutionalisierung als unterschiedliche Grade struktureller Verfestigung von Handlungsorientierungen untersuchen. Wendet man die Institutionalisierung von Handlungen auf den Beruf und das berufliche Handeln von Akteuren an, lassen sich zwei Berufsbereiche unterscheiden, die mit der Expertisierung und Inszenierung des Berufs verbunden sind. Zum einen werden all jene beruflichen Handlungen auf Dauer gestellt, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der beruflichen Leistungserstellung stehen (Arbeitskontext), und zum anderen all jene berufliche Handlungen, die sich auf den Beruf und die Berufsgruppe als Ganze beziehen (Berufskontext). Handlungen, die sich im Arbeitskontext verfestigen, führen zu einer strukturellen Fixierung der Arbeitsteilung auf Organisationsebene und dementsprechend zur Ausbildung von Arbeits- bzw. Berufsroutinen auf der Handlungsebene (Prozesse der Expertisierung und der Inszenierung). Die Verfestigung von Handlungen im Berufskontext bezieht sich auf die Organisation der beruflichen Ausbildung (Prozess der Expertisierung) und die Organisation von Berufsinteressen (Prozess der Inszenierung). Der Berufs- und Arbeitskontext entspricht somit sozialen Strukturen, die in einem unterschiedlichen Grad institutionalisiert sind. Berufsroutinen als Handlungsstrukturen innerhalb der beruflichen Tätigkeit sind immer wiederkehrende Handlungen, die sich im individuellen Prozess der beruflichen Leistungserstellung als funktional erwiesen haben.38 Berufs- und Arbeitsorganisationen als Organisationsstrukturen, die die berufliche Tätigkeit ermöglichen, indem durch sie beispielsweise für eine berufliche Ausbildung gesorgt wird oder berufliche Interessen kollektiv vertreten werden, sind institutionalisierte Formen von Akteurshandlungen. Beide Strukturtypen stellen die Funktion und den Sinn eines Berufs sicher. In Anlehnung an Mayntz (1988: 20ff.) kann die Institutionalisierung von Berufen durch den Ablauf folgender Stufen beschrieben werden: 1) Handlung, Handlungssituation oder Interaktion, 2) spezielle Funktionsrollen und 3) größere soziale Gebilde in der Gestalt formaler Organisationen. Für die erste Stufe ist charakteristisch, dass es sich bei beruflichen Handlungen um situative Problemlösungen handelt. Im Arbeitskontext übernimmt ein Akteur eine Aufgabe auf Zuruf und löst das Problem nach dem „Try-And-Error“Verfahren. Im Berufskontext ist ein berufstypisches Lernen noch nicht vorhanden,
38 Die Institutionalisierung von Handlungsstrukturen kann auch als „Routinisierung“ des beruflichen Handelns bezeichnet werden. Der Begriff der „Routinisierung“ findet sich in Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung. Er bezeichnet damit die Grundelemente des alltäglichen sozialen Handelns, also alles, was gewohnheitsmäßig getan wird (1988: 36f.). Berger/Luckmann (1969: 56ff.) verwenden für gewohnte alltägliche Handlungen den Begriff der „Habitualisierung“. Dieser bezeichnet jene Handlungen, die man häufig wiederholt, die sich in einem Modell verfestigen und die unter Einsparung von Kraft reproduziert werden.
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3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
Berufliche Ausbildung (Expertisierung)
Berufsinteressen (Inszenierung)
Berufskontext 1) Handlung, Handlungssituation oder Interaktion
2) spezielle Funktionsrollen
3) größere soziale Gebilde, formale Organisationen
Arbeitsteilung und Arbeitsroutinen (Expertisierung/ Inszenierung
Arbeitskontext
„training on the job”, „learning by doing”
individuelle Aktionen und situative Zusammenschlüsse
einmalige Zuständigkeit und Lösung des beruflichen Problems
Kursleiter, Workshopleiter
einzelne Vertreter beruflicher Interessen, institutionalisierte Netzwerke
regelmäßige Zuständigkeit und Lösung des beruflichen Problems
Berufsbildende Schulen, Universitäten
Berufsverband
Dauerhafte Zuständigkeit und immer gleiche Lösung des Problems durch Berufsposition in Firma oder Unternehmen
Tabelle 2: Stufen der beruflichen Institutionalisierung
und die gemeinsame Koordination von Berufsinteressen erfolgt höchst temporär und anlassbezogen. Für die zweite Stufe ist eine regelmäßig wiederkehrende Struktur von Handlungen erkennbar, die sich in Form von speziellen Funktionsrollen niederschlägt. Im Arbeitskontext übernehmen die gleichen Akteure regelmäßig bestimmte berufliche Aufgaben, so dass sie gewisse Routinen in der Problemlösung
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
entwickeln und sich auf das Aufgabengebiet spezialisieren. Im Berufskontext wird die Ausbildung zum Beispiel von qualifizierten Kursleitern organisiert, und die Berufsinteressen werden durch einzelne ernannte Repräsentanten oder berufliche Netzwerke vertreten. Die größeren sozialen Gebilde oder formalen Organisationen der dritten Stufe zeichnen sich dadurch aus, dass sie Handlungen nach dem immer gleichen Prinzip reproduzieren. Ausbildungsorganisationen oder Berufsverbände sind im Berufskontext immer darauf ausgerichtet, den beruflichen Nachwuchs auf die Tätigkeit vorzubereiten und die Berufsinteressen zu vertreten. Die Festlegung der Arbeitsteilung drückt sich in der Organisationsstruktur durch unterschiedliche Abteilungen oder Aufgabenressorts aus, was zur Ausbildung damit verbundener Arbeitsroutinen führt, die unhinterfragt immer wieder zum Einsatz kommen. Fasst man die system- und akteurstheoretischen Überlegungen zur Professionalisierung zusammen, kann die Professionalisierung von Berufen aus der Perspektive einer akteurstheoretisch fundierten Systemtheorie als ein Prozess der Institutionalisierung von beruflichen Handlungen definiert werden, der sich auf zwei Dimensionen beschreiben lässt: 1. als ein Prozess zunehmender Expertisierung und 2. als ein Prozess zunehmender Inszenierung. Für alle drei Professionalisierungsmerkmale des Berufs gilt, dass der Grad der Expertisierung und der Inszenierung, also die Reichweite und Abgrenzbarkeit seiner Funktion und seiner Sinnstruktur, sowie das Ausmaß der Institutionalisierung beider Dimensionen, also der Grad seiner strukturellen Verfestigung im Prozess der Handlungs- und Organisationsstrukturbildung, zentrale Bestimmungs- und Vergleichsgrößen von Berufen untereinander sind. Zielt ein Vergleich auf die Veränderung eines Berufs im Zeitverlauf, sind dies gleichzeitig Dimensionen, anhand derer der Prozess der Professionalisierung zwischen zwei definierten Zeitpunkten beschrieben werden kann. In einer Verbindung von Systemstrukturen und Akteurshandlungen bestimmt der systemspezifische Sinn als generalisierte Handlungsorientierung das Handeln der Akteure: „Systeme sind (...) situationsübergreifende, generalisierte Handlungsorientierungen, die die Auswahlmöglichkeiten von Akteuren konditionieren; sie gelten für alle Akteure, die innerhalb des Systems handeln“ (Gerhards 1994: 80).
So werden innerhalb der jeweiligen (Teil-)Systeme die Handlungsziele der Akteure und die einzusetzenden Mittel zur Erreichung dieser Ziele extern, d.h. nicht durch intrinsische Motive des Individuums, definiert: „Es handelt sich um gleichsam objektive Ziel- und Mitteldefinitionen, die Akteure bei der Verfolgung ihrer subjektiven Ziele beachten müssen. Systemische Ziele sind also
3.2 Dimensionen der Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht
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nicht freiwillige Präferenzen der Akteure, sondern extern definierte Ziele, die die Handlungspräferenzen strukturieren“ (ebd.).
Da sie als systemspezifisch vorgegebene Handlungsrationalitäten das berufliche Handeln der Akteure prägen, werden sie auch als „constraints“ (engl. für Zwänge, Einschränkungen) bezeichnet: „ ‚Constraints’ bezeichnen die strukturellen Restriktionen, unter denen Akteure ihre Wahlen, ihre ‚choices’, treffen und entsprechend handeln“ (ebd.).39
Durch die Bestimmung dieser spezifischen Klasse von systemischen „constraints“ wird die Theorie rationalen Handelns in die Systemtheorie integriert. Die Entstehung und der Wandel von Berufen können makrosoziologisch als Prozesse der Systemdifferenzierung aufgefasst werden, die sich als veränderte „constraints“ auf mikrosoziologischer Ebene in der Veränderung beruflicher Handlungsorientierungen seiner Berufsrollenträger niederschlagen. Abhängig davon, was im Prozess der Professionalisierung jeweils als Systemumwelt definiert wird, lassen sich systemexterne und systeminterne „constraints“ unterscheiden. Im Prozess der Entstehung von Berufen bestimmen zunächst externe „constraints“, die sich aus der Eigenlogik ihrer (System-)Umwelt ergeben, das Handeln der Akteure.40 Ihr Einfluss wird im Verlauf der Professionalisierung zunehmend zurückgedrängt. Betrachtet man die Binnendifferenzierung von Berufen, verändern sich im Unterschied dazu bereits vorhandene systemeigene „constraints“. Je nach Institutionalisierungsgrad des sich differenzierenden Teilsystems wird ihr Wandel auf empirischer Ebene sowohl an der Veränderung beruflicher Organisationsstrukturen als auch an veränderten beruflichen Handlungsstrukturen evident. Da sich im Prozess der Professionalisierung nicht nur Handlungsstrukturen sukzessive bis hin zu Organisationen verfestigen, sondern sie zumeist in bereits vorhandene Organisationsstrukturen eingebunden sind, müssen beide Ebenen auch in Abhängigkeit voneinander betrachtet werden. So ist es ebenfalls möglich, dass veränderte Organisationsstrukturen wiederum als systemeigene „institutionelle constraints“ für die Handlungswahlen auf Akteursebene auftreten.
39 Im Unterschied zu Gerhards, der die Verbindung zwischen System und Akteur nur in den die Akteure beschränkenden „constraints“ sieht, betont Giddens auch die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Prägung des Handelns durch Strukturen ergeben: „… is not to be equated with constraint but is always both constraining and enabling” (1984: 25). 40 Es handelt sich genau genommen um Handlungsorientierungen und somit systemeigene „constraints“ anderer Systeme, da es zu diesem Zeitpunkt den Beruf als neues ausdifferenziertes System noch nicht gibt.
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
Daher gilt es auf Akteursebene zu klären, was das berufliche Handeln unter den gegebenen Berufsbedingungen kennzeichnet, worin seine spezifische Expertise liegt und worin seine spezifische Inszenierung besteht. Des Weiteren stellen sich die Fragen, wie sich bestimmte Berufsbedingungen als systeminterne und -externe „constraints“ verändert haben und wie die Akteure durch die Ausrichtung ihrer Handlungsorientierungen darauf reagieren. Dabei ist zu analysieren, welche Handlungsmotive für die Berufsrollenträger von Bedeutung sind und welche Handlungsstrategien sie einsetzen, um ihrerseits die Expertisierung und Inszenierung auf individueller Ebene voranzutreiben. Insofern sind die Prozessbegriffe der Expertisierung und Inszenierung nicht nur als Merkmale der Systemdifferenzierung, sondern auch als interessengeleitete Strategien von Akteuren zu verstehen. Aus einer akteurstheoretischen Perspektive zeichnen sich Grenzen einer Professionalisierung im Sinne eines Wandels von „institutionellen constraints“ immer dann ab, wenn Akteure mit bereits vorhandenen Organisationsstrukturen in Konflikt kommen.41 Die folgende Übersicht fasst die verschiedenen Dimensionen der Professionalisierung zusammen:
Professionalisierung aus system- und akteurstheoretischer Sicht 1. Expertisierung als Ausdifferenzierung einer berufsspezifischen Handlungsstruktur 2. Inszenierung als Abgrenzung der berufseigenen Handlungsstruktur 3. Institutionalisierung als zunehmende strukturelle Verfestigung der Berufsrolle • durch Ausbildung von Handlungsstrukturen • durch Ausbildung von Organisationsstrukturen
Berufliches Handeln aus system- und akteurstheoretischer Sicht Berufliches Handeln unter systemspezifischen Bedingungen, die als generalisierte Handlungsorientierung die Definition der Handlungsmuster und -ziele von Akteuren prägen
Tabelle 3: Merkmale der Professionalisierung
3.3 Dimensionen der Professionalisierung und des beruflichen Handelns aus berufssoziologischer Sicht
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3.3 Dimensionen der Professionalisierung und des beruflichen Handelns aus berufssoziologischer Sicht Die Professionalisierung eines Berufs und des beruflichen Handelns seiner Berufsangehörigen lassen sich durch Prozesse der Expertisierung und der Inszenierung sowie deren Institutionalisierung in Form von berufsspezifischen Organisations- und Handlungsstrukturen beschreiben. Wichtig für die empirische Analyse vor dem Hintergrund einer System- und Akteurstheorie kombinierenden Perspektive ist nun, dass Institutionalisierung, Expertisierung und Inszenierung zum einen als Professionalisierungsmerkmale und zum anderen als Professionalisierungsstrategien verstanden werden. Zu diesem Zweck umfasst der theoretische Bezugsrahmen sowohl den Zugang zu einer makrosoziologischen Organisationsebene (2.3.1) als auch den zu einer mikrosoziologischen Akteursebene (2.3.2), die jeweils aufeinander bezogen werden können.
3.3.1 Arbeits- und Berufsorganisationen Berufe weisen eine spezifische Funktion und Sinnstruktur auf, die in der beruflichen Praxis organisiert und durch die konkrete berufliche Tätigkeit immer wieder reproduziert wird. Der Nachweis solcher Sinnstrukturen ist nicht nur dort möglich, wo berufliche Selbstverständnis- oder berufsethische Fragen diskutiert werden, sondern vor allem auf der Ebene von Arbeits- und Berufsorganisationen, die als institutionelle Strukturen die beruflichen Praxis prägen. Der Beruf ist ein Zusammenhang von Tätigkeiten und Qualifikationen innerhalb routinisierter Arbeitsprozesse, in denen Arbeitsaufgaben und berufliche Inhalte arbeitsteilig organisiert sind. Seine Erscheinungsform lässt sich nur aus diesem Entstehungszusammenhang heraus verstehen. Die Arbeitsroutinen, anhand derer sich bestimmte Berufe von anderen oder sich Aufgabenfelder innerhalb der Berufe unterscheiden lassen, hängen vom Zweck der Arbeit sowie von seinen strukturellen Rahmenbedingungen ab.
41 Grundsätzlich geht es bei Makro- und Mikrosoziologie verbindenden Perspektiven – ebenso wie im spezifischen Fall der Professionalisierung – generell um das wechselseitige Verhältnis von (beruflichem) Handeln und (Berufs-)Strukturen. Einerseits prägen soziale Strukturen die Motive, Gelegenheiten und Ausdrucksformen des Handelns von Akteuren. Andererseits bringen mehrere oder viele Akteure durch gleichartiges oder unterschiedliches Handeln soziale Strukturen hervor. Dementsprechend ist immer von einem Wechselverhältnis von sozialem Handeln und sozialen Strukturen auszugehen, aufgrund dessen sich auch bereits ausgebildete Strukturen langfristig wieder wandeln können (Schimank 2000: 9-18, vgl. auch die sog. „Coleman’sche Badewanne“).
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
Ist der Zweck der Arbeit in komplexere Arbeitsorganisationen eingebunden, wird er von den Zielsetzungen der Organisation bestimmt. Organisationen sind daher ein wichtiges Bindeglied zwischen individuellen Arbeitsaufgaben und ihrer berufsförmigen Institutionalisierung. In den arbeitsteiligen Handlungsabläufen verstetigen sich betriebliche Organisationslösungen, wodurch sich routinisierte Aufgabenbündel von den einzelnen Personen ablösen und zu Berufsrollen werden (Merkmal der Expertisierung). Wenn umgekehrt in bestimmten Tätigkeitsfeldern individuelle oder sporadische Lösungen in der Arbeitsorganisation überwiegen, es sich eher um ganzheitliche statt arbeitsteiliger Prozesse handelt und unklare Verantwortlichkeiten in den Arbeitsabläufen dominieren, sind dies Zeichen einer geringen Institutionalisierung des Berufs. Individuelle und organisationsbezogene Arbeitsroutinen verdichten sich zu erkennbaren Berufsstrukturen, wenn normative Handlungsorientierungen hinzukommen. Darunter sind berufliche Standards zu verstehen, die einerseits den Zuschnitt und die Spezialisierung wiederkehrender Qualifikationsmuster und andererseits Standards des legitimen beruflichen Handelns in der Berufspraxis betreffen. Eine Institutionalisierung erfährt der berufsspezifische Sinn zudem in Berufsorganisationen. In Organisationen der beruflichen Aus- und Weiterbildung werden das zur Berufsausübung erforderliche Wissen und damit verbundene Berufsnormen mittels beruflicher Sozialisationsprozesse dauerhaft an die jeweiligen Berufsrollenträger weitergegeben (Merkmal der Expertisierung). Während der Gegenstandsbereich als inhaltlicher Bezugspunkt für den jeweiligen zu untersuchenden Beruf definiert werden muss, erfüllen berufsständische Organisationen eine Reihe von grundsätzlichen Funktionen. Die Gründung von Berufsverbänden wird als Merkmal einer sich vollziehenden Professionalisierung angesehen, da sie einen Hinweis auf den Grad der beruflichen Autonomie gibt (Merkmal der Inszenierung). Bevor die Zahl der Akteure jedoch den kritischen Schwellenwert zur Bildung einer formalen berufsständischen Organisation erreicht, schließen sie sich zunächst zu einer informellen Gruppe bzw. einem beruflichen Netzwerk zusammen (Daheim 1970: 221ff.). Unter bestimmten Bedingungen42 kann aus der informellen Kollegengruppe ein Berufsverband entstehen, der je nach Aus-
42 Die Berufsrollen müssen so klar definiert sein, dass es keine Rivalitäten zwischen Kollegenschaften um die Zugehörigkeit der Inhaber verwandter Berufspositionen gibt; die berufliche Qualifikation der Berufskollegen muss relativ einheitlich und die wissensmäßige Basis bis zu einem gewissen Grad entwickelt sein; das Beschäftigungsverhältnis muss weitgehend einheitlich sein; ein Verband muss als für die Ausübung seiner Rolle wichtig definiert werden; die Berufsinhaber müssen genügend zahlreich sein, und nicht zuletzt muss eine Kommunikation zwischen ihnen über größere räumliche Distanzen technisch möglich sein; vgl. Millerson (1964: 48ff.), Daheim (1970: 230).
3.3 Dimensionen der Professionalisierung und des beruflichen Handelns aus berufssoziologischer Sicht
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prägung als Interessenverband oder, wie er für Professionen charakteristisch ist, als Standesorganisation berufsspezifische Funktionen erfüllt. Diese werden im Folgenden kurz erläutert.43 Berufsverbände stellen als Interessenverbände intermediäre Organisationen der Interessenvermittlung zwischen ihren Mitgliedern und anderen gesellschaftlichen Organisationen und Gruppen dar. Sie bilden sich freiwillig, verfolgen festgelegte Ziele, sind arbeitsteilig organisiert und wollen mit ihren Aktivitäten die individuellen, materiellen und ideellen Interessen ihrer Mitglieder verwirklichen. Zu diesem Zweck bündeln sie die Interessen ihrer Mitglieder (Interessenaggregation), ordnen sie nach Prioritäten und Realisierungschancen, schließen nicht konfliktfähige Interessen aus (Interessenselektion), artikulieren die durchsetzungsfähigen Interessen öffentlich als gemeinsame Forderung (Interessenartikulation), streben damit einen Interessensausgleich zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren an (Transformation) und bieten die Möglichkeit der mittelbaren Teilhabe ihrer Mitglieder an der politischen Willensbildung (Partizipation) (vgl. SchulzeKrüdener 1996: 30f.). Neben diesen außenorientierten Funktionen erfüllen Berufsverbände als Interessenverbände auch eine Reihe von innenorientierten Funktionen, die im Interesse ihrer Mitglieder stehen. Die Vernetzung innerhalb des Vereins, die einerseits dem beruflichen Fortkommen dient und andererseits den privaten Charakter eines geselligen Vereinslebens hat, kann ebenfalls Motivation für die Mitgliedschaft in einem Berufsverband sein. Der regelmäßige Informationsaustausch, der gemeinschaftliche Schutz gegen mögliche Angriffe gegnerischer Gruppen oder die Durchsetzung materieller und ideeller Forderungen gegenüber den jeweiligen Verhandlungspartnern, die Selbsthilfe durch den Aufbau entsprechender Einrichtungen (Unterstützungskassen, Forschungseinrichtungen), die Weiterentwicklung der Selbstverwaltung (Organisation der Aus- und Weiterbildung) sowie die Solidarität (Bildung von Solidargemeinschaften zur Überwindung der Vereinzelung und Förderung von Solidarität der Mitglieder) gehören zu den wesentlichen Merkmalen beruflicher Interessenvertretungen. Darüber hinaus bieten die Berufsverbände zahlreiche Dienstleistungen wie Rechtsberatung, Fortbildungsmaßnahmen oder den Abschluss von tarifvertraglichen Regelungen an (vgl. Schulze-Krüdener 1996: 31f.). Als Standesorganisationen dienen Berufsverbände in erster Linie einer strukturell abgesicherten beruflichen Autonomie sowie der Förderung einer gesell-
43 Bei Standesorganisationen muss zudem zwischen solchen unterschieden werden, die, wie Ärztekammern oder Industrie- und Handelskammern, auf Zwangsmitgliedschaft beruhen und solchen, denen sich ihre Mitglieder freiwillig per Mitgliedsbeitrag anschließen.
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
schaftlichen Anerkennung. Die den Berufsverband über den Gründungsakt hinaus betreffenden Aspekte sind im Speziellen alle Strategien, die die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung zu steigern vermögen, wie zum Beispiel die Schaffung eines homogenen Standesbewusstseins, die öffentlichkeitswirksame Vertretung von gemeinsamen Berufsinteressen nach außen, die Entwicklung einer Berufsethik, die klare Definition des eigenen Tätigkeitsfeldes und die Abgrenzung gegenüber benachbarten Berufsfeldern. Merkmale einer Berufsschließung durch den Berufsverband sind die Kontrolle des Berufszugangs und die Kontrolle entwickelter Normen bzw. Leistungsstandards für die Berufsausübung sowie die externe Anerkennung der Kompetenzen z.B. durch Gesetze und die Existenz einer einheitlichen (universitären) Ausbildung (vgl. Schulze-Krüdener 1996: 45ff.). Die strukturell abgesicherte Berufsschließung ist in vielen Berufen allerdings nicht mehr zwangsläufig alleinige Voraussetzung für ein autonomes Berufshandeln, so dass die zunehmende Homogenisierung von Berufsinteressen und ihre Abgrenzung nach außen durch entsprechende Aktivitäten von Berufsverbänden sowohl als Interessenverbände als auch als Standesorganisationen bereits als Inszenierung interpretiert werden kann. Um Prozesse der Institutionalisierung, der Expertisierung und der Inszenierung auf Organisationsebene zu untersuchen, stellt sich im Hinblick auf die Ausdifferenzierung eines Berufs die Frage, welche Arbeits- und Berufsorganisationen sowie welche beruflichen Netzwerke im Untersuchungszeitraum gegründet wurden. So kann der Grad der Institutionalisierung des Berufs nach Mayntz (1988) anhand der Entwicklung seiner Organisationen abgelesen werden: Gibt es Arbeitsorganisationen, die für das definierte Berufsfeld zuständig sind? Gibt es Ausund Weiterbildungsorganisationen, oder lernen die Akteure noch auf der Grundlage von Erfahrungen und Erfahrungsaustausch? Gibt es berufliche Netzwerke oder schon Berufsverbände? Im Hinblick auf die Binnendifferenzierung eines Berufs kann innerhalb von bereits vorhandenen Organisationen für jede einzelne untersucht werden, inwieweit sie im Untersuchungszeitraum zur Professionalisierung als Expertisierung und Inszenierung bestimmter beruflicher Handlungsorientierungen beigetragen hat. Im Sinne der Expertisierung ist zu fragen, inwieweit es innerhalb der Arbeitsorganisationen weitere Prozesse der Arbeitsteilung gibt, die mit einer Spezialisierung des Wissens einhergehen. Zudem ist die Verwissenschaftlichung der auf den Beruf zugeschnittenen Ausbildungsinhalte ein weiterer Indikator. Im Sinne der Inszenierung des Berufs und der damit verbundenen beruflichen Leistung ist zu fragen, inwieweit Berufsverbände und berufliche Netzwerke zur gesellschaftlichen Sichtbarmachung, zur Sicherung und kollektiven Durchsetzung von Berufsinteressen und damit zur exklusiven Positionierung des Berufs auf dem Arbeitsmarkt beitragen.
3.3 Dimensionen der Professionalisierung und des beruflichen Handelns aus berufssoziologischer Sicht
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3.3.2 Berufssozialisation, Berufsroutinen und berufliche Leistung Auf Akteursebene steht die Sinnstruktur des Berufs, wie sie in der beruflichen Praxis organisiert und durch konkrete berufliche Tätigkeit reproduziert wird, im Zentrum der Betrachtung. Ein Professionalisierungsprozess auf Organisationsebene kann sich in seiner zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Ausprägung als systemeigener „institutioneller constraint“ für die Akteure erweisen und Einfluss auf ihre beruflichen Handlungsentscheidungen haben. Ebenso kann er Bezugspunkt für Handlungswahlen sein, die darauf zielen, genau diese gegebenen Berufsstrukturen zu verändern oder neue zu schaffen. Daher liegt der empirische Untersuchungsfokus auf Akteursebene auf drei berufsbezogenen Themenfeldern, die verschiedene Aspekte des beruflichen Handelns dimensionieren und sich sowohl durch strukturelle Rahmenbedingungen als auch durch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten charakterisieren lassen: a) die Berufssozialisation, b) die Berufsroutinen und c) die berufliche Leistung. Um Prozesse der Expertisierung und der Inszenierung auf Akteursebene zu untersuchen, stellt sich die Frage, inwieweit die Entwicklungen auf Organisationsebene mit denen auf Akteursebene korrespondieren. Weiterhin gilt es zu rekonstruieren, welche individuellen Strategien der Expertisierung und Inszenierung die Akteure möglicherweise unabhängig davon entwickeln. a. Berufssozialisation Die berufliche Sozialisation umfasst die Lern- und Entwicklungserfahrungen, durch die Menschen in ihrer Ausbildung auf ihre Arbeitstätigkeit vorbereitet werden und die sie im Verlauf ihres Berufslebens machen (Heinz 1995: 7). Neben Ausbildungsund Weiterbildungsinstitutionen sind berufliche Zusammenschlüsse wie Berufsverbände oder berufliche Netzwerke sowie die jeweilige Arbeitsorganisation wichtige Sozialisationsinstanzen. Die bei Berufsantritt und mit weiterer beruflicher Veränderung jeweils vorhandene Berufssituation sowie das Betriebs- und Arbeitsklima bilden in ihrer spezifischen technisch-organisatorischen und ihrer interaktiv-kommunikativen Strukturierung nicht nur in der Eingewöhnungsphase, sondern über die gesamte Erwerbstätigkeit hinweg ein nachhaltig wirkendes Sozialisationsmilieu, mit dem sich die Akteure auseinandersetzen müssen (Hurrelmann 1993: 149f.). Demnach zielt das Themenfeld der Berufssozialisation auf die Beschreibung des soziodemografischen Profils der Berufstätigen, ihrer Ausbildung und ihres beruflichen Werdegangs. Weiterhin zielt es auf die Untersuchung der Eingebundenheit der Akteure in die verschiedenen Organisationen der beruflichen Sozialisation sowie deren Auswirkungen auf das berufliche Handeln. Zuletzt wird die Frage nach den Strategien der Expertisierung durch Aus- und Weiterbildung, den Strategien der Inszenierung, indem sie ihre beruflichen Interessen kollektiv oder individuell
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
gegenüber verschiedenen beruflichen Bezugsgruppen vertreten, sowie nach anderweitigen Handlungsstrategien gestellt, die sich auf diesen beiden Dimensionen interpretieren lassen. b. Berufsroutinen Berufsroutinen können als das berufliche Handeln betrachtet werden, bei dem eine spezifische berufliche Kompetenz zeiteffizient in ein Produkt oder eine Dienstleistung umgesetzt wird. Zeiteffizient deshalb, weil die berufliche Fertigkeit und Kompetenz – im Unterschied zur Expertisierung auf der Grundlage einer theoretischen Ausbildung und eines theoretischen Wissenserwerbs –, durch die gewohnheitsmäßige und wiederholte Einübung, also durch eine Routinisierung von berufpraktischen Handlungen erworben wird. Dabei führt die zunehmende Berufserfahrung bei der Erstellung eines beruflichen Produkts oder einer beruflichen Dienstleistung zu einer Standardisierung und Vereinfachung von beruflichen Handlungsabläufen. Die Ausbildung von Berufsroutinen als spezifische Handlungsfolgen findet ab dem Moment der Eingewöhnungsphase statt und setzt sich als kontinuierlicher, potenziell veränderbarer Prozess mit wachsender Berufserfahrung im Berufsalltag fort. Das Themenfeld der Berufsroutinen zielt auf die Rekonstruktion der Eigenarten und Veränderungen von beruflichen Handlungsstrukturen (Expertisierung). Es soll Auskunft über das Ziel der Arbeit und die dazu erforderlichen Arbeitsschritte der Leistungserstellung geben. Ferner soll daraus hervorgehen, was den Umgang mit unterschiedlichen beruflichen Bezugsgruppen wie Arbeitgebern, Arbeitskollegen oder Abnehmern der beruflichen Leistung kennzeichnet und inwieweit die Akteure ihnen gegenüber die Spezifika ihrer beruflichen Tätigkeit verdeutlichen (Inszenierung). Schließlich sind auch hier der Einfluss von Arbeits- und Berufsorganisationen auf das berufliche Handeln sowie die individuellen Strategien der Expertisierung und Inszenierung im Berufsalltag von Interesse. c. Berufliche Leistung Die berufliche Leistung stellt das Produkt beruflichen Handelns und das Verhältnis, das die Akteure durch die Bestimmung ihrer Berufsrolle dazu entwickeln, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Eine professionelle Leistung ist der Aspekt einer beruflichen Tätigkeit, der einen Tauschwert besitzt. Sie beruht auf der spezifischen Kompetenz des Akteurs, die zeiteffizient in ein Produkt oder eine Dienstleistung umgesetzt wird. Demnach wird aus der Sicht der Kunden der Tauschwert der beruflichen Leistung dem Ergebnis und nicht dem beruflichen Handeln auf dem Weg dorthin zugeschrieben. Die Definition des Tauschwerts resultiert aus einer Leistungszuschreibung, die einerseits eine Angelegenheit der Kunden und ihres der
3.4 Zusammenfassung
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Qualität der beruflichen Leistung entgegengebrachten Vertrauens ist. Andererseits ist die Leistungszuschreibung eine innere Angelegenheit des Berufs, da sie Standards der Leistungserstellung und -bewertung schafft und kontrolliert. Beides wird über den Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage geregelt (vgl. zur professionellen Leistung Mieg 2003: 24-27). Die Kriterien der Berufsrollenträger zur Bewertung der eigenen beruflichen Leistung basieren typischerweise auf dem beruflichen Selbstbild oder Berufsethos als den subjektiven Konstruktionen legitimen beruflichen Handelns und dem damit verbundenen, selbst formulierten Anspruch an die Qualität ihres Produkts oder ihrer Dienstleistung. Im Themenfeld der beruflichen Leistung geht es demzufolge darum, zu erfassen, inwieweit die Akteure ein eigenes berufliches Selbstverständnis oder Berufsethos entwickeln. Weiterhin lässt sich fragen, inwieweit sie die Entwicklung der beruflichen Leistung ihrer Berufsgruppe beobachten und auf dieser Basis bestimmte Qualitätsmerkmale sowie erwünschte Handlungsmerkmale definieren. Schließlich ist von Interesse, inwieweit sie beides gegenüber anderen beruflichen Bezugsgruppen zur Darstellung bringen (Inszenierung).
3.4 Zusammenfassung Das Ziel dieses Kapitels war, einen allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, der die Professionalisierung von Berufen und beruflichem Handeln aus einer System- und Akteurstheorie kombinierenden Perspektive konzeptionalisiert. Als solcher greift er mit gesellschaftlichem Bedarf, wirtschaftlichen Handlungsrationalitäten, technischer Innovation und politischen Steuerungsprozessen Bestimmungsfaktoren der Professionalisierung auf, die diesen Prozess auslösen bzw. beeinflussen können. Des Weiteren systematisiert und dimensioniert er mit der Institutionalisierung, Expertisierung und Inszenierung eines Berufs zentrale theoretische Kategorien der professions- und berufssoziologischen Forschung vor dem Hintergrund soziologischer Theorie. Fasst man die system- und akteurstheoretischen Überlegungen noch einmal zusammen, zeigen sie folgende Argumentationsfigur: Der Prozess der Professionalisierung im Sinne der Binnendifferenzierung eines Berufs kann aus systemtheoretischer Sicht als die Institutionalisierung eines systemspezifischen Sinns beschrieben werden. Aus der Perspektive der Akteure besteht der systemspezifische Sinn aus generalisierten Handlungsorientierungen, die sich sukzessive herausbilden und in Strukturen unterschiedlichen Verfestigungsgrads manifestieren. Generalisierte Handlungsorientierungen verfestigen sich in ihrer höchsten Stufe als Organisationsstrukturen in Arbeitsorganisationen, Aus-
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3 Theoretischer Bezugsrahmen zur Professionalisierung von Berufen
bildungsorganisationen und Berufsverbänden, die empirisch durch eine Organisationsanalyse untersucht werden können. Sie verfestigen sich auch als Handlungsstrukturen, die bestimmte Akteurshandlungen und -einstellungen miteinander verbinden. Sie werden im Verlauf der Berufssozialisation erlernt sowie im Berufsalltag auf der Grundlage berufsspezifischer Einstellungen durch Berufsroutinen (Mittel) zum Erbringen der beruflichen Leistung (Ziel) umgesetzt und können mittels einer Akteursanalyse untersucht werden. Der Sinn bzw. die generalisierten Handlungsorientierungen anderer Systeme oder des bestehenden Systems, das sich binnendifferenziert, sind zugleich die systemspezifischen Restriktionen („constraints“), die das Handeln der Akteure bestimmen bzw. an denen sie ihr Handeln ausrichten. Insofern stellen Professionalisierungsprozesse in den berufseigenen Organisationen systemeigene „constraints“ dar, die die aktuellen Handlungsorientierungen der Akteure prägen. Da den vorliegenden Überlegungen im Kern eine systemtheoretische Erklärung zugrunde liegt – Professionalisierung als die Binnendifferenzierung eines Berufs aufgrund veränderter Umweltbedingungen – wird der Professionalisierungsprozess nicht ursächlich auf das kollektive Handeln der Akteure zurückgeführt. Gleichwohl kann mit einem solchen Ansatz aus akteurstheoretischer Perspektive untersucht werden, inwieweit die Akteure ihr Handeln unter den gegebenen Berufsbedingungen professionalisieren oder professionalisiert haben. So stellt sich die Frage, wie Akteure unter professionalisierten Organisationsstrukturen handeln. Überall dort, wo die Akteursanalyse Konflikte mit bestehenden Organisationsstrukturen offenbart, können Hinweise auf Grenzen der Professionalisierung oder auf langfristig mögliche Veränderungen bereits bestehender Strukturen abgeleitet werden. Als eine Institutionalisierung berufsspezifischer Handlungsstrukturen kann die Professionalisierung in zwei Dimensionen unterschieden werden, die einerseits die Prozesshaftigkeit der beruflichen Entwicklung kennzeichnen, andererseits durch die Kombination von akteurs- und systemtheoretischer Perspektive sowohl ein Merkmal als auch eine Strategie bezeichnen. Die Professionalisierung als Prozess der Expertisierung umfasst Entwicklungen und Handlungsorientierungen, die zur Spezialisierung des berufsspezifischen Wissens beitragen und den Beruf nach innen kennzeichnen. Die Professionalisierung als Prozess zunehmender Inszenierung umfasst Entwicklungen und Handlungsorientierungen, die den Beruf nach außen abgrenzen und auf die zunehmende Zuständigkeit und Deutungshoheit des Berufs zielen. Die folgende Übersicht zeigt die verschiedenen Professionalisierungsdimensionen für die jeweiligen Untersuchungsebenen und die daraus resultierenden Indikatoren, die es im nächsten Kapitel für das Berufsfeld des Journalismus zu spezifizieren gilt:
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3.4 Zusammenfassung
Die Professionalisierung von Berufen und beruflichem Handeln Organisationsebene Merkmale der Institutionalisierung
• Institutionalisierung durch Ausdifferenzierung von Berufspositionen innerhalb und außerhalb von Arbeitsorganisationen, • Gründung von Aus- und Weiterbildungsinstitutionen, • Gründung von Berufsverbänden
Merkmale der Expertisierung
• Expertisierung durch Spezialisierung oder Verwissenschaftlichung der Ausund Weiterbildungsorganisationen
Merkmale der Inszenierung
• Inszenierung durch die Organisation von Berufsinteressen, • die Definition verbindlicher Qualitätsstandards, • die Fixierung eines beruflichen Selbstverständnisses in Form eines Berufskodex
Akteursebene Strategien der Institutionalisierung
• Routinisierung beruflicher Handlungen durch Berufserfahrung/ -tätigkeit (Expertisierung44)
Strategien der Expertisierung
• Expertisierung durch Aus- und Weiterbildung sowie Berufserfahrung/ -tätigkeit, die sich an einem beruflichen Selbstverständnis und spezifischen Qualitätsstandards orientiert
Strategien der Inszenierung
• kollektive Inszenierung durch die Mitgliedschaft in Berufsverbänden und beruflichen Netzwerken • individuelle Inszenierung durch die Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit
Anderweitige Strategien der Expertisierung und Inszenierung
Offen für Handlungsmuster und Handlungsmotive (Definition von beruflichen Zielen und legitimen Mitteln) unter den gegebenen strukturellen Bedingungen
Tabelle 4: Merkmale und Strategien der Professionalisierung von Berufen
44 Da die berufliche Expertise das berufsspezifische Sachwissen, das in der Regel zunächst in der Ausbildung vermittelt wird, und das berufsspezifische Erfahrungswissen, das im Berufsalltag kontinuierlich erweitert wird, umfasst, stellt die Routinisierung als Zunahme des berufsspezifischen Erfahrungswissens ebenfalls eine Form der Expertisierung dar.
4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Im Folgenden sollen der theoretische Bezugsrahmen am Beispiel des Berufsfelds Journalismus spezifiziert und ein Untersuchungsdesign vorgestellt werden, mit dem es möglich ist, zu prüfen, ob und inwieweit eine Professionalisierung des Journalismus in Richtung einer mit dem Begriff „EU-Journalismus“ zu bezeichnenden journalistischen Berufssubgruppe, die durch ein spezifisches Berufsprofil gekennzeichnet ist, stattgefunden hat und worauf seine Entwicklung und möglichen Grenzen zurückgeführt werden können. Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, die Professionalisierung des EU-Journalismus, enthält zwei zu definierende Elemente: 1. Professionalisierung wird aus einer System- und Akteurstheorie kombinierenden Perspektive als Prozess der funktionellen Binnendifferenzierung des Teilsystems Journalismus und als eine damit verbundene Institutionalisierung, Expertisierung und Inszenierung des Berufs und der beruflichen Handlungen seiner Berufsrollenträger betrachtet. 2. Mit EU-Journalismus ist der inhaltliche Bezugspunkt des sich binnendifferenzierenden Teilsystems Journalismus gemeint, auf den sich alle beruflichen Handlungen und Handlungsorientierungen beziehen. Er wird im Folgenden als „EU-/ Europa-Bezug“ oder, sofern es um die Prozessdimension geht, als „Europäisierung“ bezeichnet.45 Abschnitt 4.1 stellt den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dar, der zur Annahme einer einsetzenden EU-bezogenen Professionalisierung im Journalismus führt. Daraus resultieren die beiden in der Einleitung explizierten Forschungsfragen, die mithilfe des im vorhergehenden Kapitel entwickelten theoretischen Bezugsrahmens beantwortet werden sollen. Die dort dargestellten Dimensionen und Indikatoren der Professionalisierung, die aus der system- und akteurstheoretischen Interpretation von berufsbezogenen Struktur- und Handlungsmerkmalen abgeleitet wurden, werden in Abschnitt 4.2 auf den EU-Journalismus über-
45 Auch wenn dieser Arbeit als Gegenstand „EU-Journalismus“ zugrunde liegt, wie er in der Einleitung definiert wurde, steht im Folgenden der Begriff „Europäisierung“ sowohl für die Institutionalisierung eines „Europa-Bezugs“ im Allgemeinen als auch für den „EU-Bezug“ im Besonderen. Die Begriffe werden also synonym verwendet.
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
tragen und inhaltlich näher bestimmt. Der Zusammenführung beider theoretischer Perspektiven entsprechend, soll ein Mehrmethodendesign zu Anwendung kommen, das, wie in Abschnitt 4.3 dargestellt wird, zwei unterschiedliche empirische Untersuchungsmethoden miteinander verbindet. Abschließend werden in Abschnitt 4.4 die Kernelemente des Untersuchungsdesigns noch einmal zusammengefasst und die methodischen Besonderheiten herausgestellt.
4.1 Rahmenbedingungen der Professionalisierung des EU-Journalismus Wie in Abschnitt 3.1 erläutert, ist die Professionalisierung von Berufen kein zufälliger und spontan verlaufender Prozess, sondern in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet. Auch wenn aus systemtheoretischer Perspektive nicht eindeutig erklärt werden kann, unter welchen Bedingungen eine Professionalisierung einsetzt, können dennoch bestimmte gesellschaftliche Faktoren identifiziert werden, die möglicherweise als Antriebskräfte dienen und den Prozess der Berufsentstehung oder -veränderung begleiten. Drei Entwicklungen – so die theoretische Vorüberlegung – rahmen den Prozess der EU-bezogenen journalistischen Professionalisierung: • eine Europäisierung auf politischer Ebene • eine Kommerzialisierung auf wirtschaftlicher Ebene • eine Digitalisierung auf technischer Ebene. Europäisierung der Politik Mit der Gründung der Europäischen Union, vor allem aber im Zuge ihrer Erweiterung und Vertiefung ist ein neuer gesellschaftlicher Bezugsraum entstanden (Pfetsch 2001). Politische Entscheidungen, die auf EU-Ebene getroffen werden, sind in ihren Auswirkungen von immer wichtigerer Bedeutung für die Mitgliedsstaaten. Die Transnationalisierungsforschung untersucht den politischen Wandel als eine mögliche Form des sozialen Wandels bislang nationalstaatlich verfasster Gesellschaften. Sie fragt, inwieweit und wohin sich das „Verhältnis zwischen Binneninteraktion und Außeninteraktion eines Teilsystems der Gesellschaft“ verändert (Gerhards/Rössel 1999: 325). Empirische Studien, die die Transnationalisierung des politischen Systems untersucht haben, belegen Europäisierungsprozesse46 in Form einer Verlagerung von Souveränitätsrechten vom Nationalstaat auf die Eu-
46 Präziser müsste man von einer EU-isierung sprechen, sofern sich die Entwicklung dominant auf die EU und den Raum der EU-Mitgliedsstaaten bezieht. Um der besseren Lesbarkeit willen wird im Fol-
4.1 Rahmenbedingungen der Professionalisierung des EU-Journalismus
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ropäische Union (Beisheim 1999; Gerhards/Rössel 1999: 339). Die Entstehung des „dynamischen Mehrebenensystems“ EU (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996) als weitere politische Entscheidungsebene sowie die Europäisierung der nationalstaatlichen Politik als ein auf die EU als politische Institution und das Territorium der EU-Mitgliedsstaaten gerichteter Prozess der Transnationalisierung werden daher zu einem relevanten Teil gesellschaftlicher (Selbst-)Beobachtung. Aus systemtheoretischer Perspektive ist es nun nicht unplausibel anzunehmen, dass unter der Bedingung eines sich verändernden gesellschaftlichen Teilsystems andere Gesellschaftssysteme zeitlich versetzt mit entsprechenden Veränderungen und Systemanpassungen reagieren. Indem innerhalb des ehemals streng nationalstaatlich organisierten politischen Systems die Europäische Union und die EU-Mitgliedsstaaten als politische Akteure und als politisch integrierter Raum an Bedeutung gewinnen, ist davon auszugehen, dass auch in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen Europäisierungsprozesse angestoßen werden (Bach 2000). So reagiert beispielsweise die Wirtschaft mit der Öffnung des damit verbundenen Handelsraums (Gerhards 2000: 281ff.), die Zivilgesellschaft, indem sie sich für ihre Problemlösungen zunehmend an die EU als Adressat wendet (vgl. Roose 2003; Rucht 2002), oder die Massenmedien, indem sie immer häufiger europäische Themen öffentlich machen (Offerhaus 2002).47 Dass es sich bei solchen Entwicklungen nicht um einseitige Prozesse handelt, im Zuge derer sich ein Teilsystem komplett von anderen löst oder andere Teilsysteme automatisch zu reaktiven Veränderungen gezwungen sind, zeigen Studien, die beispielsweise das Verhalten der EU als politisches Teilsystem in Bezug auf andere Systeme untersuchen. Im Zuge des schwindenden permissiven Konsenses und einer zunehmend negativen öffentlichen Meinung versucht die EU, durch Professionalisierung ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit den Kontakt zum Teilsystem Journalismus und zu anderen gesellschaftlichen Öffentlichkeiten herzustellen (Brüggemann 2008; 2005; Raupp 2004; Große Rüschkamp 2000; Gramberger 1997; Gramberger/Lehmann 1995). Auf diese Weise kann man Systeme als strukturell gekoppelt betrachten, so dass Veränderungen einzelner Teilsysteme wech-
genden an der Bezeichnung Europäisierung festgehalten. Zur Ausdifferenzierung politikwissenschaftlicher Untersuchungsebenen der Europäisierung vgl. Kohler-Koch (2000). 47 Die Anpassungsmuster der jeweiligen Gesellschaftssysteme können unterschiedlichen Mustern folgen: In der Europäisierungsforschung werden Prozesse einer „horizontalen“ und einer „vertikalen Europäisierung“ unterschieden, wobei die horizontale Europäisierung als zunehmende Integration verschiedener europäischer Gesellschaften verstanden wird. Mit vertikaler Europäisierung werden Prozesse beschrieben, in denen nationale Gesellschaftssysteme einen zunehmende Anpassung oder Bezugnahme zur europäischen Ebene herstellen. Ferner wird zwischen „top-down-Prozessen“, also von der europäischen Ebene initiierten Veränderungsprozessen, und „bottom-up-Prozessen“ unterschieden, die auf Anstöße der nationalen Ebene zurückgehen; vgl. dazu Delhey (2005) und Knill/Lehmkuhl (2000).
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
selseitige Anpassungsprozesse nach sich ziehen. Aus dem Blickwinkel des Teilsystems Journalismus wird die Europäisierung der Politik jedoch als Auslöser einer möglichen EU-bezogenen Professionalisierung betrachtet. Kommerzialisierung Nicht Auslöser, sondern nunmehr wichtiger Kontextfaktor der Professionalisierung ist die als Kommerzialisierung bezeichnete zunehmende wirtschaftliche Durchdringung moderner Gesellschaften. Viele Gesellschaftsbereiche werden immer stärker kommerzialisiert, d.h. wirtschaftliche Interessen verdrängen kulturelle Werte, und Akteure verändern ihre Handlungsrationalität zugunsten ökonomischer Kriterien. Das bleibt auch für die Strukturen und Funktionen der Medien und des Journalismus nicht ohne Folgen (Saxer 1998). Seit jeher steht der Journalismus im Zwiespalt zwischen Gewinnorientierung und dem Anspruch der Erfüllung seines publizistischen Auftrags. Ein zentraler mit Kommerzialisierung einhergehender Vorwurf besteht darin, dass das Motiv des wirtschaftlichen Erfolgs einen am Gemeinwohl orientierten Qualitätsjournalismus überlagert. Der normativen Debatte um Legitimität und Konsequenzen der Kommerzialisierung sei jedoch die Forderung vorangestellt, dass es anhand der jeweiligen Professionalisierungsdimensionen empirisch zu klären gilt, ob damit ein Prozess der Deprofessionalisierung (beispielsweise durch den Verlust an journalistischer Autonomie) oder ein Prozess der Professionalisierung (beispielsweise durch Arbeitsteilung und Etablierung neuer Ausbildungsinhalte für journalistische Nischenmärkte) einhergeht. In der Regel dominiert in der Journalismusforschung die Einschätzung, dass die zunehmende Orientierung an ökonomischen Kriterien dysfunktional für den publizistischen Auftrag ist. Dass Kommerzialisierung und Wettbewerb auch einen Anstoß zur Differenzierung von Berufspositionen geben können, wird in der Regel nicht thematisiert. Als Indikatoren der Kommerzialisierung im Medienbereich gelten nach Weischenberg (2006: 142-144), dass • Medien mit weniger Personal dieselben Angebote produzieren, also journalistische Berichterstattung nach Effizienzgesichtspunkten organisiert wird, • Journalisten nicht-journalistische Aktivitäten ihrer Verlage redaktionell begleiten, • die Grenzen zwischen redaktionellen und werblichen Beiträgen verschwimmen, • sich journalistische Darstellungsstrategien hin zu mehr Infotainment, Personalisierung und Boulevardisierung verändern, • in den Redaktionen mehr Publikumsforschung und Marketing betrieben wird. Innerhalb des allgemeinen Kommerzialisierungstrends können für einzelne Mediensparten charakteristische Zeitpunkte bestimmt werden, die diese Entwicklung
4.1 Rahmenbedingungen der Professionalisierung des EU-Journalismus
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beschleunigt haben. Im Hörfunk und Fernsehen existiert seit der Dualisierung des Rundfunks Anfang der 1980er Jahre trotz unterschiedlicher Finanzierungsmodelle ein wachsender Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten, der sich in zunehmender Quotenorientierung und verstärktem Wettbewerb zwischen den jeweiligen Produkt- und Programmangeboten bemerkbar macht (Kiefer 1994). In den Printmedien kann man zwar seit den 1950er Jahren einen kontinuierlichen Trend der Pressekonzentration beobachten. Doch insbesondere die allgemeine Anzeigenkrise im Jahre 2001, die zu einem massiven Wegbrechen der die Zeitungen finanzierenden Rubrikenanzeigen und zu starken Auflagenverlusten führte, hatte unmittelbare Konsequenzen in Form rezipientenorientierter inhaltlicher Umgestaltungen sowie struktureller Veränderungen und personeller Einsparungen in den Zeitungsredaktionen (Schütz 2006). Für den Online-Journalismus gilt von Anbeginn seiner Verbreitung im Zuge allgemeiner Durchsetzung des Internets seit Mitte der 1990er Jahre, dass undurchsichtige Urheberschaften, Finanziers und Interessen sowie die Vermischung von redaktionellen und werblichen Beiträgen als Hinweise auf eine starke Kommerzialisierung dieses Mediums gelten (Neuberger 2003). Für die Professionalisierung des EU-Journalismus ist die Kommerzialisierung des Journalismus insofern ein wichtiger Kontextfaktor, als im Zuge eines stärkeren Wettbewerbs und Konkurrenzdrucks innerhalb der Medienlandschaft die Abwägung der ökonomischen Verwertbarkeit von EU-Nachrichten erfolgt. Ein tatsächlicher oder anzunehmender Anstieg von Interesse und Nachfrage nach bestimmten journalistischen Produkten kann unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zum Beschleuniger von Professionalisierungsprozessen werden. Es ist jedoch ebenso möglich, dass sich unter zunehmenden Wettbewerbsbedingungen auch die Arbeitsbedingungen von EUJournalisten verschlechtern und mit Einbußen an inhaltlicher Qualität einhergehen. Digitalisierung Die gegenwärtig einflussreichste Form des technologischen Fortschritts ist die Digitalisierung. Die Umwandlung analoger Signale in digitale Daten, die mit dem Computer weiterverarbeitet werden können, hat Einfluss auf viele berufliche Arbeitsprozesse, die sich auf diese Informations- und Kommunikationstechnologie stützen. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien können Professionalisierungsprozesse initiieren oder beschleunigen, da sie sich in der Veränderung von Arbeits- und Organisationsbedingungen niederschlagen. Häufig ist das aber erst dann der Fall, wenn sie im Sinne der Handlungsziele von Journalisten eingesetzt und mit ökonomischen Erwartungen verknüpft werden. Zeitgewinn, die Möglichkeit der Mehrfachverwertung von journalistischen Produkten, eine verbesserte technische Produktqualität, die Erschließung neuer Märkte etc. sind Effizienzerwartungen, die mit dem Einsatz neuer Technologien verbunden werden. Die tech-
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
nischen Möglichkeiten beeinflussen nahezu alle Merkmale der journalistischen Arbeit, da die technologischen Wirkungsketten • die Arbeitsanforderungen (Qualifikationsmerkmale, Ausbildung), • die Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, das Verhältnis von redaktionsinterner zu redaktionsexterner Arbeit, das Verhältnis von Autonomie und Hierarchie), • die Arbeitsmittel (technische Ausstattung), • die Arbeitsorganisation (das Verhältnis von Arbeitsteilung oder Teamarbeit, Arbeitsabläufe), • die Arbeitsstrategien (Recherche, Texten, Umgang mit Informationsmaterial) und • die Arbeitsfolgen (Qualität der Produkte) umfassen (Altmeppen et al. 2002: 352f.). Innerhalb der journalistischen Berufsfelder besteht der technische Fortschritt in der vollständigen Digitalisierung der Kette von Beschaffung (Agenturdienste, Korrespondenten), Bearbeitung (Redaktion), Übermittlung (Sendetechnik) und Empfang der Medienangebote (Altmeppen et al. 2002: 350f.). In den Redaktionen oder Journalistenbüros schlägt sich die Digitalisierung vor allem auf die Redaktions- sowie Nachrichtenübermittlungs- und -verteiltechniken nieder. Texte, Töne, Bilder und Daten, die digital vorliegen, können schneller und einfacher abgerufen, bearbeitet und verteilt werden. Die Digitalisierung hebt nicht nur die technischen Schnittstellen zwischen Bearbeitung und Übermittlung auf, sondern auch die ursprünglich darauf zurückgehenden arbeitsteiligen Berufspositionen, was den Wegfall von Arbeitsplätzen zur Folge hat. So ist eine wesentliche, im Zuge der Digitalisierung feststellbare arbeitsorganisatorische Strukturveränderung des Journalismus der Wandel von einer technisch basierten Arbeitsteilung zu einer ganzheitlichen Arbeitsweise, die technische und journalistische Tätigkeiten verbindet. Im Sinne des Dekompositionsparadigmas (vgl. Fußnote 32) handelt es sich um einen Prozess der Deprofessionalisierung, indem arbeitsteilig ausdifferenzierte Berufspositionen wieder zusammengeführt werden. Nach Gottschall (1999: 646) lassen sich daraus jedoch keine Dysfunktionalitäten für den Journalismus ableiten, im Gegenteil: Sie verweist auf das „qualifikatorische upgrading“ der Journalisten, das mit der Aufhebung der Funktionstrennung zwischen technischem und journalistischem Personal verbunden ist. Insofern kommt es hier auf die empirische Ausprägung der jeweils betrachteten Professionalisierungsdimension an. Für die Professionalisierung des EU-Journalismus stellt die Digitalisierung des Journalismus einen weiteren Kontextfaktor dar, der nicht nur die Entstehung neuer oder das Verschwinden alter Berufspositionen bewirken, sondern auch die Arbeitsbedingungen und das professionelle Handeln von EU-Journalisten im Arbeitsalltag nachhaltig beeinflussen kann.
4.2 Dimensionen und Indikatoren der Professionalisierung
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4.2 Dimensionen und Indikatoren der Professionalisierung Mit den Prozessen der Europäisierung, Kommerzialisierung und Digitalisierung ist umrissen, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang die Professionalisierung von Journalisten zu interpretieren ist. Daraus lässt sich neben der ersten Annahme, dass die professionellen Rahmenbedingungen und die Professionalität der Journalisten die Berichterstattung prägen, die zweite der Untersuchung zugrunde liegende Annahme in einem gesellschaftlichen und historisch wandelbaren Kontext formulieren: Unter der Bedingung einer politischen Europäisierung sowie begleitet von zunehmender Kommerzialisierung der Medien und Digitalisierung von Kommunikations- und Medientechnologien als Kontextfaktoren ist anzunehmen, dass eine Professionalisierung als Binnendifferenzierung des Journalismus eingesetzt hat. Inhaltlicher Referenzpunkt ist dabei der EU-/Europa-Bezug, also die Spezialisierung des Journalismus auf die EU bzw. auf Europa. Eine empirische Untersuchung, die nicht nur versucht, durch Kombination von System- und Akteurstheorie zwei grundsätzlich verschiedene theoretische Perspektiven miteinander zu verbinden, sondern dementsprechend auch verschiedene empirische Zugänge miteinander verknüpft, hat explorativen Charakter. Insofern ist es sinnvoll, die eingangs formulierten Fragen als forschungsleitende Fragen zu begreifen. Die erste Forschungsfrage zielt auf die Exploration des Untersuchungsgegenstands, nämlich einer systematisierten Beschreibung des noch jungen Berufsfelds EU-Journalismus: Forschungsfrage 1: Was kennzeichnet das berufliche Handeln und die Arbeitsbedingungen im deutschen EU-Journalismus?
Die zweite Forschungsfrage zielt auf die Überprüfung des unter den genannten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angenommenen Professionalisierungsprozesses: Forschungsfrage 2: Hat im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses von 1951 bis heute tatsächlich eine Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus stattgefunden, und wo findet sie ihre Grenzen?
Für eine empirische Untersuchung sind diese Fragen jedoch zu allgemein formuliert. Die folgende Übersicht zeigt daher die im vorhergehenden Kapitel abgeleiteten Dimensionen der Professionalisierung sowie die Indikatoren der Professionalisierung auf den jeweiligen Untersuchungsebenen. Sie werden auf den EU-/Europa-Journalismus als einen spezifischen Fall der Professionalisierung eines Berufs bezogen:
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Die Professionalisierung des EU-Journalismus Medienorganisationen: Organisations- und Dokumentenanalyse Merkmale der Institutionalisierung des EU-/ Europa-Bezugs
Europäisierung • der Berufstätigkeit durch Arbeitsteilung (Expertisierung) • der Berufsausbildung und -weiterbildung (Expertisierung) • der Berufsinteressen in Berufsverbänden und beruflichen Netzwerken (Inszenierung)
Medienakteure: Experteninterviews Strategien der Institutionalisierung des EU-/ Europa-Bezugs im beruflichen Handeln
• Routinisierung/ Expertisierung durch die Ausbildung von EU-spezifischen journalistischen Handlungsroutinen in der Arbeitsteilung, Themenwahl, Recherche und Berichterstattung, die sich am beruflichen Selbstverständnis und an spezifischen Qualitätsstandards orientieren
Strategien der EU-/ Europa-spezifischen Expertisierung
• Expertisierung durch europäisierte Journalistenausbildung und -weiterbildung
Strategien der EU-/ Europa-spezifischen Inszenierung
Inszenierung • durch die Mitgliedschaft in europäisierten /europäischen Journalistenverbänden und journalistischen Netzwerken (kollektiv) • durch die Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit (individuell)
Anderweitige Strategien der EU-/ Europa-spezifischen Expertisierung und Inszenierung
Offen für Handlungsmuster und Handlungsmotive (Definition von beruflichen Zielen und legitimen Mitteln) unter den gegebenen strukturellen Bedingungen
Tabelle 5: Merkmale und Strategien der Professionalisierung des EU-Journalismus
4.3 Methodisches Vorgehen
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4.3 Methodisches Vorgehen Zur Beantwortung der beiden Forschungsfragen soll ein Mehrmethodendesign angewendet werden, das die Untersuchung von journalistischen Berufsstrukturen institutioneller Art (Beruf als Institution) und von beruflichen Handlungsstrukturen und Handlungsmotiven individueller Art (Beruf als Praxis) ermöglicht. Der Grad der Professionalisierung des EU-Journalismus wird daher auf zwei Ebenen mit Hilfe von zwei unterschiedlichen empirischen Zugängen ermittelt: auf der Ebene der „Medienorganisationen“ mittels einer Organisations- und Dokumentenanalyse (4.3.1) und auf der Ebene der „Medienakteure“ durch leitfadengestützte Experteninterviews mit deutschen EU-Journalisten und EU-Journalistinnen (4.3.2). Obwohl die längerfristige Analyse von Organisationen und Organisationsdokumenten zur Untersuchung von Strukturbildungs- und Strukturveränderungsprozessen aufgrund eines nicht immer kontinuierlichen Zugriffs auf relevante Dokumente schnell an ihre Grenzen stößt und obwohl einmalig geführte Interviews mit Journalisten streng genommen keinen Zeitvergleich von Handlungsmustern und -motiven erlauben, werden beide Methoden mit ihren jeweiligen Vorzügen genutzt und aufeinander bezogen. Der zentrale Vorteil dieser Untersuchungsanlage liegt trotz „weicher“ Operationalisierung des Zeitverlaufs, wie in der Methodendiskussion (4.3.3) argumentiert wird, in der wechselseitigen Verknüpfung von strukturell-makrosoziologischen und individuell-mikrosoziologischen Untersuchungsdimensionen.
4.3.1 Organisations- und Dokumentenanalyse Mit „Medienorganisationen“ sind alle Arbeits- und Berufsorganisationen gemeint, innerhalb derer die berufliche Arbeit der Journalisten organisiert und strukturiert ist. Dazu gehören Medieneinrichtungen wie Fernseh- und Hörfunkanstalten, Zeitungen und Online-Medien mit ihren jeweiligen Redaktionen ebenso wie kleinere Formen institutionalisierter Arbeitsnetzwerke und Journalistenbüros (Arbeitskontext). Weiterhin fallen darunter Berufsorganisationen, innerhalb derer die Ausbildung und die Vertretung beruflicher Interessen geregelt ist (Berufskontext). Zur Bestimmung der „Professionalisierung der Medienorganisationen“ wird untersucht, inwieweit neue Medienorganisationen mit einem exklusiven EU-Bezug entstanden sind (Strukturbildung) und inwieweit sich existierende Medienorganisationen europäisieren, also in ihrer Funktion auf die Produktion von EU-Berichterstattung eingestellt haben (Strukturveränderung).
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Der Grad der Institutionalisierung des EU-Bezugs im Journalismus soll für die jeweiligen Medienorganisationen anhand verschiedener Europäisierungsindikatoren geprüft werden. Im unmittelbaren Arbeitskontext des Journalismus ist der Fokus auf zwei Prozesse organisierter Arbeitsteilung von Massenmedien gerichtet: auf die intermediale Differenzierung im Sinne einer Herausbildung EUspezifischer Medien innerhalb des gesamten Medienspektrums und auf die intramediale Differenzierung im Sinne einer EU-bezogenen Arbeitsteilung innerhalb der Redaktionen einzelner Medien. Im Berufskontext entspricht die Professionalisierung einer zunehmenden Europäisierung der Aus- und Weiterbildung für den EU-Journalismus. Das kann bedeuten, dass für Journalisten ein Angebot an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten entstanden ist, sei es durch eine europäische oder eine europäisierte nationale Bildungsinfrastruktur, die der gezielten und systematischen, möglicherweise auch in zunehmend akademischer Form angebotenen Vorbereitung auf dieses Berufsfeld dient. Ferner stellen die Herausbildung europäischer Berufsverbände und die Europäisierung nationaler Berufsverbände Professionalisierungsindikatoren dar. Auf einer weniger formalisierten Ebene umfasst der Institutionalisierungsprozess auch EU-spezifische Zusammenschlüsse und Netzwerke, die den Arbeitsablauf unterstützen oder berufspolitische Funktionen haben. Für alle Organisationstypen gilt, dass sie die Expertisierung und Inszenierung des EU-Journalismus in ihrer jeweiligen Organisationsform in unterschiedlichem Maße absichern. Die Spezialisierung durch Arbeitsteilung mit EU-bezogenen Aufgabenfeldern sowie die Europäisierung journalistischer Bildungsangebote in allen Organisationen stellen Indikatoren einer Expertisierung dar. Indikatoren für die Inszenierung sind die Organisation EU-spezifischer Berufsinteressen innerhalb journalistischer Berufsverbände und Netzwerke sowie ein sich herausbildendes journalistische Selbstverständnis, das als Berufskodex von einer berufständischen Organisation festgeschrieben wird.48 Die Professionalisierung auf der Organisationsebene kann durch zwei zentrale Datenerhebungsmethoden empirisch zugänglich gemacht werden: a) durch
48 Auch wenn durch die gesetzlich verankerte Presse- und Meinungsfreiheit der Zugang zum Journalismus prinzipiell für jedermann offen ist, verfügt er auf nationaler Ebene über ein spezifisches berufliches Selbstverständnis und handlungsleitende Berufsregeln, die in einem, wenn auch nicht rechtlich sanktionierungsfähigen, Pressekodex zusammengefasst wurden. Erstmalig wurde der vom Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden erstellte Pressekodex am 12. Dezember 1973 dem Bundespräsident Gustav W. Heinemann überreicht. In seiner novellierten Form wurde er am 20. November 2006 in Berlin an Bundespräsident Horst Köhler übergeben und ist seit dem 1. Januar 2007 gültig. Vgl. Publizistische Grundsätze (Pressekodex) – Richtlinien für die publizistische Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserats (Zugriff: 17.03.2010).
4.3 Methodisches Vorgehen
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eine Organisations- und Dokumentenanalyse für alle Medienorganisationen und b) durch eine Curriculumsanalyse der universitären Ausbildung, die auf einer einfachen Form der Inhaltsanalyse von Vorlesungsverzeichnissen basiert. Ad a) Die Organisations- und Dokumentenanalyse stützt sich auf die Auswertung von (journalismus-)wissenschaftlicher Literatur, von einschlägigen journalistischen Fachzeitschriften journalist49, Menschen machen Medien50 und message51, ferner von grauer Literatur in Gestalt von organisationseigenen Veröffentlichungen und öffentlichen Internetauftritten der jeweiligen Organisation sowie von Recherchetelefonaten und direkten Gesprächen mit Vertretern der Organisationen. Sie stellt somit eine Kombination aus (wissenschaftlicher) Fremdbeschreibung und öffentlicher Selbstdarstellung dar. Die von den Organisationen als Publikationen und auf Internetseiten veröffentlichten Textdokumente dienen der Analyse von Institutionalisierungsprozessen, weil sie im Unterschied zum situativen Prinzip der Mündlichkeit das Prinzip der Aktenförmigkeit auszeichnet. Sie sind das verschriftlichte Resultat organisationsinterner Abstimmungsprozesse, die Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen, Zielsetzungen und Inhalte der Organisation für eine gewisse Dauer festlegen. Ihren Bedeutungsgewinn verdanken Dokumente dem säkularen Trend zur Verrechtlichung und Organisierung aller Lebensbereiche durch die Entwicklung einer modernen Verwaltung. Als Dokumente werden hier standardisierte Artefakte verstanden, die aus sich heraus verstehbar sind und spezifische Informationen über die Entstehung und Entwicklung der Organisationen liefern (zur Methode vgl. Flick 2003: 502-513; zur Validität der Daten s. Abschnitt 4.3.3). Im Zusammenhang von Berufsorganisationen treten Dokumente typischerweise in Form von Organisations- oder Vereinssatzungen, von auf Internetseiten dargestellten sog. „mission statements“52 und von organisationseigenen Publikationen wie Aktivitäts- und Jahresberichten auf. Auch Medienorganisationen, ins-
49 Hier handelt es sich um die Verbandszeitschrift des Deutschen Journalistenverbands (DJV), die sich als Medienmagazin, als Fachzeitschrift und als Verbandsorgan versteht. 50 Hier handelt es sich um eine Verbandzeitschrift der Gewerkschaft ver.di, die sich speziell an Mitglieder der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) richtet. 51 „message“ versteht sich als unabhängige internationale Fachzeitschrift, die zwischen Wissenschaft und Berufspraxis vermittelt und aktuelle Trends im Journalismus kritisch beleuchtet. 52 Ein „mission statement“ ist die öffentliche Darstellung des Leitbilds eines Unternehmens oder einer öffentlichen Einrichtung, das die langfristigen Ziele und Strategien zur Erreichung der Ziele definiert. Es enthält somit Aussagen zur angestrebten Unternehmenskultur (Umgang, Auftreten, Benehmen) und stellt die Verbindung von gewachsenem Selbstverständnis, der Unternehmensphilosophie (Gesellschaftsund Menschenbild, Normen und Werte) und der beabsichtigten Entwicklung, den quantitativen und qualitativen Unternehmenszielen dar.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
besondere wenn sie einem öffentlichen Auftrag folgen, öffentlich-rechtlich organisiert sind und aus öffentlichen Einnahmen finanziert werden, präsentieren die Inhalte und Zielsetzungen ihres Profils und ihre speziellen Progammangebote immer häufiger auf Internetseiten, um so gegenüber ihren Rezipienten Transparenz zu schaffen. Für die Analyse wurden alle relevanten Medien- und Berufsorganisationen zusammengestellt und die vorhandenen Materialien nach folgenden Kategorien und Leitfragen systematisiert und ausgewertet:
Kategorien und Leitfragen zur Organisations- und Dokumentenanalyse Kategorien zur systematisierten Beschreibung von Organisationen • Gründungsjahr und Sitz • Finanzierung und rechtlicher Status • Satzung / Zielfestlegung und Struktur • Mitglieder / Teilnehmer / Zielgruppe • Inhaltliche Aktivitäten
Leitfragen zur Europäisierung der Organisationen • Welches sind die hervorstechenden Aktivitäten der Organisation? • Seit wann und worin besteht der EU-/ Europa-Bezug der Organisation? • Wie hat sich der EU- / Europa-Bezug innerhalb der Organisation entwickelt? • Was sind weitere EU- / Europa-bezogene Ziele und Projekte der Organisation?
Tabelle 6: Leitfragen zur Organisations- und Dokumentenanalyse
Die zusammengestellten Organisationen und informellen Netzwerke bilden insofern Referenzpunkte für die Akteursanalyse, als die EU-Journalisten in den Leitfadengesprächen auch danach befragt wurden, inwieweit diese Organisationen in
4.3 Methodisches Vorgehen
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ihrer Berufsbiografie und ihrem beruflichen Werdegang oder im beruflichen Alltag von Relevanz waren oder sind. Ad b) Auf der Ebene der Ausbildungsorganisationen wurde exemplarisch für den universitären Ausbildungsweg von Journalisten eine Curriculumsanalyse von fünf ausgewählten deutschen Universitäten als eine spezifische Form der Dokumentenanalyse durchgeführt. Berufliche Kompetenzen und im vorliegenden Fall möglicherweise Europa-bezogene Kompetenzen beruhen in der Regel auf spezifischen, in einer systematischen Ausbildung erworbenen Kenntnissen, Wertvorstellungen und Verhaltensstandards eines Berufs. Innerhalb der Berufsausbildung manifestieren sich diese Kompetenzen im Curriculum, dem „offiziellen“ Lehrplan der jeweiligen Aus- oder Weiterbildungsinstitution. Das Curriculum ist ein veränderbarer Wissenskanon und definiert als eine wissenschaftlich fundierte Strukturierung organisierten Lernens das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als bedeutsame berufliche Kompetenz erachtet wird. Eine Curriculumsanalyse verschiedener Hochschulen über einen längeren Zeitraum kann daher Aufschluss über Europäisierungsentwicklungen in der universitären Ausbildung geben (zur Validität der Daten s. Abschnitt 4.3.3). Zu diesem Zweck wurden zwei Universitäten ausgewählt, die ein Vollstudium Journalistik anbieten (Universität Dortmund und Katholische Universität Eichstätt) und drei Universitäten, bei denen die journalistische Ausbildung in größere kommunikationswissenschaftliche Institute eingebunden ist (Universität Leipzig, Universität Hamburg und Ludwig-Maximilians-Universität München53). Anhand einer quantifizierenden Inhaltsanalyse von Vorlesungsverzeichnissen wurde der Europäisierungsgrad des Curriculums identifiziert. Dabei wurden alle relevanten Vorlesungs-, Seminar- und Übungsangebote thematisch kategorisiert und bestimmten journalistischen Wissensformen zugeordnet. Jede einzelne Veranstaltung bildete eine Codiereinheit. Die Unterscheidung nach Veranstaltungen des Grund- und des Hauptstudiums spielte für die Codierung keine Rolle. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sind über 26 Semester vom Wintersemester 1993/1994 bis zum Sommersemester 2006. Aus dem Material an Vorlesungsverzeichnissen wurden durch induktives Vorgehen folgende Kategorien54 gebildet:
53 Der Diplomstudiengang Journalistik wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen Journalistenschule in München 1974 als Modellversuch gestartet und 1979 fest etabliert. Seit dem Jahr 2003 ersetzt der Studiengang „Praktischer Journalismus“ das alte Diplom-Journalistikstudium. 54 Das Codebuch mit den exakten Definitionen der Kategorien und Codierungsbeispielen ist bei der Autorin erhältlich.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Kategorien der Inhaltsanalyse • Veranstaltungen zum journalistischen Handwerk (A) • Veranstaltungen zur Medien- und Ressortkunde (B) • Veranstaltungen mit thematischem EU- / Europa-Bezug (C) • Veranstaltungen mit themenspezifischem Ergänzungswissen (D) • Veranstaltungen zu Themen der Journalismusforschung (E) • Wissenschaftliche Kolloquien (F) • Veranstaltungen zu Themen der Kommunikations- und Medienwissenschaft (G) • Sonstige Veranstaltungen sowie unklare Zuordnung (H)
Tabelle 7: Kategorien der Inhaltsanalyse
Die in manchen Universitäten sehr ungleichgewichtige Verteilung der Veranstaltungen machte zwei unterschiedliche Analyseschritte notwendig, um einerseits einen Eindruck von der Verteilung der Veranstaltungen im Gesamtcurriculum zu erhalten und um andererseits Grad und Entwicklung der Europäisierung herauszuarbeiten. Der erste Auswertungsschritt diente der Zusammenfassung von Kategorien und orientierte sich an der Definition der verschiedenen journalistischen Kompetenzfelder von Siegfried Weischenberg (1990: 21-26). Er unterscheidet journalistische Vermittlungs-55, Fach-56 und Sachkompetenz57 sowie soziale Orientierung.58
55 Unter Vermittlungskompetenz versteht Weischenberg die adäquate Umsetzung von Informationen, also ihre themen- und rezipientenorientierte „Verpackung“ unter Anwendung unterschiedlicher journalistischen Darstellungsformen wie Nachricht, Bericht, Feature, Kommentar, Glosse etc. 56 Unter Fachkompetenz versteht Weischenberg redaktionelle bzw. instrumentelle Fähigkeiten und ein spezifisches journalistisches Fachwissen, das vor allem auf kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Der Bereich der instrumentellen Fähigkeiten beinhaltet redaktionelle und andere journalistische Techniken wie die Recherche, die Auswahl, das Redigieren von relevanter Information, die auch als „handwerkliche Fähigkeiten“ bezeichnet werden. Dazu kommt ein fachspezifisches Medienwissen in den Bereichen von Medienökonomie, Medienpolitik, Medienrecht, Mediengeschichte und Medientechnik. 57 Unter Sachkompetenz versteht Weischenberg das Wissen um Themen als der relevanten Bezugsgröße journalistischer Tätigkeit. Es handelt sich hierbei um „Ressort- oder Spezialwissen“, also das Sachwissen über einen zu berichtenden Gegenstand. Ferner wird dieses Wissen um ein sog. „Orientierungswissen“ ergänzt, das es erlaubt, den Gegenstand in soziale, politische und ökonomische Zusammenhänge einzuordnen. 58 Unter sozialer Orientierung als Lernziel versteht Weischenberg das „Nachdenken über journalistisches Handeln“ im Allgemeinen und die Fähigkeit des Journalisten im Speziellen, seine „gesellschaftliche Funktionen“ im sozialen und politischen System zu erkennen und zu reflektieren.
4.3 Methodisches Vorgehen
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Die von Weischenberg angeführte Vermittlungskompetenz wurde als journalistisches Handlungswissen aufgegriffen und deckt alle praxisorientierten Übungen und Veranstaltungen der Kategorie A ab. Während der Codierung zeigte sich, dass die Vermittlung von Fach- und Sachkompetenz in medien- und ressortkundlichen Seminaren häufig eng miteinander verknüpft ist, so dass die Übergänge von Veranstaltungen wie „Einführung in die Wirtschaft“ (als Sachwissen) und „Wirtschaftsjournalismus“ (als Fachwissen über die Funktionsweisen der jeweiligen Ressorts) fließend sind. Sachwissen wird also häufig schon unter fachspezifischer Perspektive vermittelt. Daher wurden die nach Themengebieten codierten Veranstaltungen, nämlich ressortund medienkundliche Themen der Kategorie B (wie Wirtschaft, Politik, Sport, Kultur etc.), Veranstaltungen mit EU-Bezug der Kategorie C sowie die ergänzenden Veranstaltungen zu nicht-journalistischen Sachthemen der Kategorie D, zum journalistischen Sach- und Fachwissen zusammengefasst. Die von Weischenberg genannte soziale Orientierung lässt sich in journalistisches Professionswissen übersetzen und umfasst alle Veranstaltungen der Kategorie E. Hier lernen die angehenden Journalisten die relevanten Berufsnormen kennen. Im Unterschied zum von Weischenberg unter Sachkompetenz angeführten Orientierungswissen wurden hier Veranstaltungen zur Vermittlung sozialwissenschaftlicher Methoden und Techniken wissenschaftlichen Arbeitens sowie medienwissenschaftlicher Fragestellungen als journalistisches Hintergrund- und Orientierungswissen kategorisiert. Der erste Auswertungsschritt ergab eine Übersicht über das gesamte Curriculum, das sich in vier verschiedene Wissensbereiche gliederte: 1. Journalistisches Handlungswissen („Handwerk“) – Kategorie A 2. Journalistisches Sach- und Fachwissen – Kategorien B, C, D 3. Journalistisches Professionswissen – Kategorie E 4. Wissenschaftliches Hintergrund- und Orientierungswissen – Kategorie F, G Um den Anteil von EU- und Europa-bezogenen Veranstaltungen herauszustellen, wurden in einem zweiten Auswertungsschritt die verschiedenen Felder innerhalb des Sach- und Fachwissens miteinander verglichen: 1. Medien- und Ressortkunde – Kategorie B 2. EU- und Europa-Themen – Kategorie C 3. Journalistisches Ergänzungswissen – Kategorie D Entsprechend der jeweiligen Zusammenstellung der Kategorien erfolgte die Auswertung unter zwei Perspektiven: erstens im Hinblick auf den Stellenwert des Sach-
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
und Fachwissens innerhalb des Gesamtcurriculums (vgl. Abschnitt 5.2.1) und zweitens im Hinblick auf den Vergleich und die Entwicklung des Europa-Bezugs innerhalb des Sach- und Fachwissens (vgl. Abschnitt 5.2.2).
4.3.2 Experteninterviews Mit „Medienakteuren“ ist die Berufsgruppe der mit EU-Berichterstattung befassten deutschen Journalisten gemeint, die bereits fortlaufend als „EU-Journalisten“ bezeichnet wurden. Dabei ist zu beachten, dass diese Gruppe nicht nur die deutschen festangestellten EU-Korrespondenten umfasst, sondern auch freie Journalisten und Redakteure, die auf nationaler Ebene zur EU-Berichterstattung beitragen. Ein Medienakteur im hier zu untersuchenden Sinne ist ein Journalist, der über EUThemen Bericht erstattet – unabhängig davon, von wo aus er dies tut, in welchem Anstellungsverhältnis er steht und welches Ressort er bedient. Zur Bestimmung der „Professionalisierung der Medienakteure“ anhand von leitfadengestützten Experteninterviews wird untersucht, welche Merkmale EUJournalisten als Berufsgruppe hinsichtlich ihrer Soziodemografie, ihrer Ausbildung und Berufsposition, ihres Arbeitsalltags sowie ihres journalistischen Selbstverständnisses aufweisen und ob sich diese Merkmale in den vergangenen Jahren in einer für EU-Journalisten charakteristischen Weise entwickelt haben. Zudem richtet sich das Augenmerk auf der Ebene der Medienakteure auf folgende Expertisierungs-, Routinisierungs- und Inszenierungsindikatoren, nämlich inwieweit sie unter den gegeben strukturellen Bedingungen ihr berufliches Handeln aktiv europäisieren (Expertisierung), spezifische Arbeitsroutinen zur Standardisierung bzw. Effizienzsteigerung ihrer beruflichen Tätigkeit entwickelt (Routinisierung / Expertisierung) und welches berufliche Rollenverständnis sie verinnerlicht haben, das sie auch gegenüber unterschiedlichen beruflichen Bezugsgruppen propagieren (Inszenierung). Die Auswertung der Interviews ermöglichen zwei Wege der Beschreibung bzw. Interpretation von Professionalisierungsprozessen: Die erste basiert auf einer Überprüfung der durch die wissenschaftliche Beobachterin an die Berufsgruppe herangetragenen Merkmale: Ist die Gruppe der EU-Journalisten durch EU-spezifisches berufliches Handeln charakterisierbar? Weisen die individuellen Akteure auch die auf struktureller Ebene gezeigten Merkmale auf? Die zweite resultiert aus der Konstruktion und Begründung von Merkmalen, die von den Akteuren als professionelle Relevanzstrukturen selbst entwickelt werden: Wie und inwieweit forcieren die individuellen Akteure eine Expertisierung und Inszenierung ihrer beruflichen Tätigkeit? Welche professionellen Ziele und Mittel definieren sie? Durch einen systematischen Vergleich dieser Aspekte in den Aussagen von Journalisten unterschiedlicher Me-
4.3 Methodisches Vorgehen
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dien, Berufspositionen, Generationen und Geschlechter sollen detaillierte Erkenntnisse über den Arbeitsalltag und die spezifischen Arbeitsanforderungen und -abläufe im Produktionsprozess der EU-Berichterstattung gewonnen werden. Der den Interviews zugrunde liegende Leitfaden wurde so konzipiert, dass das um die Leitfragen kreisende Gespräch Antworten auf die theoretisch abgeleiteten Forschungsfragen geben kann und dabei gleichzeitig an die Fragen bisheriger journalistischer Berufsstudien anschlussfähig ist.59 Außerdem sollte für die Interviewten klar zu erkennen sein, dass im Interview systematisch verschiedene Aspekte des Journalistenberufs angesprochen werden, ohne aber das zentrale Untersuchungsziel, die Analyse der Merkmale und Strategien der Professionalisierung, offen zu legen. Um sozial erwünschte Antworten sowie Verzerrungen durch normative Assoziationen der Befragten mit dem Begriff „Professionalisierung“ im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit zu vermeiden, wurde dieser im Gespräch bewusst vermieden.60 Die drei zentralen berufssoziologischen Elemente des Leitfragebogens waren: a) die Berufssozialisation, b) die Berufsroutinen und c) die berufliche Leistung. Zum Themenfeld „Berufssozialisation“ gehörten Aspekte wie die Aus- und Weiterbildung, der journalistische Werdegang, die Eingewöhnungsphase sowie spezifische Merkmale der gegenwärtigen Berufstätigkeit. Zum Themenfeld „Berufsroutinen“ gehörte die Frage nach einem typischen Arbeitsalltag, der Abstimmung mit den Heimatredaktionen, dem Vorgehen bei der Themenselektion und -recherche mit einem besonderen Augenmerk auf den Zugang zu den Informationsquellen. Innerhalb des Themenfelds „berufliche Leistung“ wurde nach dem beruflichen Selbstbild, dem Stellenwert und den Charakteristika der EU-Berichterstattung gefragt.61 Das Ziel der leitfadengestützten Experteninterviews bestand also in einer umfassenden Rekonstruktion der berufsspezifischen Wissensbestände und Deutungsmuster von EU-Journalisten. Dies wurde durch die prinzipiell offene, durch den Leitfaden aber dennoch strukturierte Form des Gesprächs sichergestellt. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass ein solches Interview deduktive und induktive Annäherungen an den Analysegegenstand koppelt sowie durch die Standardisierung in Form von Leitfragen den Vergleich der Interviews innerhalb der Erhebung sowie mit anderen, ähnlich gelagerten Studien ermöglicht (zur Validität der Daten s. Abschnitt 4.3.3).
59 Zur Orientierung dienten der halboffene Leitfaden zur Befragung von EU-Korrespondenten der EUROPUB-Studie von Statham et al. (2003), die Leitfragen zu Gesprächen mit politischen Journalisten von Preisinger (2002) und die repräsentative Journalistenbefragung von Weischenberg et al. (1993). 60 Stattdessen wurde häufig nach der Einschätzung von Veränderungen gefragt, so zum Beispiel: Hat sich die Rolle der Korrespondenten in den vergangen Jahren verändert, und wenn ja, in welcher Weise? 61 Der Interviewleitfaden ist auf Anfrage bei der Autorin erhältlich.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Stichprobe, Datenerhebung und -auswertung Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Untersuchung, die nicht den Anspruch auf Repräsentativität ihrer Aussagen erhebt. Vielmehr zielt die Untersuchung auf das breite Spektrum von EU-Journalisten, die sich nach bestimmten Kriterien unterscheiden. Zu diesem Zweck wurde eine bewusste Auswahl typischer Fälle getroffen. Was dabei als „typisch“ zu verstehen ist, ist vom Untersuchungsziel abhängig und wird im Folgenden erläutert (vgl. Fuchs-Heinritz 2000: 226):62 Ein zentrales Auswahlkriterium war, dass die Journalisten hauptberuflich für deutschsprachige Medien arbeiten. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit wurden gezielt Vertreter derjenigen Medien ausgewählt, die für eine breite, nicht fachspezifische Öffentlichkeit schreiben. Die in Brüssel stark vertretenen fachspezifischen Zeitungen wie Handelsblatt, Capital oder Wirtschaftswoche wurden aufgrund ihrer engen Zielgruppenorientierung bewusst ausgeschlossen. Um mit den Interviewauskünften die Berufssituation des gesamten Medienspektrums abzudecken, wurden Journalisten aus Nachrichtenagenturen, Printmedien, Hörfunk und Fernsehen ebenso befragt wie jene, die für Online-Medien oder für verschiedene Medien gleichzeitig tätig sind. Unter den Nachrichtenagenturen wurden neben Vertretern deutscher Agenturen auch solche mit einem internationalen Mutterhaus einbezogen. Innerhalb der Gruppe der Printmedien wurden Repräsentanten aus überregionalen und regionalen Tageszeitungen sowie einer Wochenzeitung, innerhalb der Gruppe der Fernseh- und Hörfunkjournalisten sollten sowohl Vertreter des öffentlich-rechtlicher als auch privater Anstalten ausgewählt werden. Während sich unter den Interviewten lediglich ein Journalist befindet, der für einen privaten Fernsehsender arbeitet, konnte kein Vertreter eines privaten Hörfunksenders ausfindig gemacht werden. In den Interviews mehrfach angesprochen, dass die meisten deutschen Privatsender ihre Korrespondenten in Brüssel vor geraumer Zeit wieder abgezogen haben (vgl. z.B. 17:831834). Zudem konnte sich kein Brüsseler Korrespondent daran erinnern, ob es überhaupt jemals Korrespondenten von privaten deutschen Hörfunkstationen vor Ort gegeben hat (vgl. z.B. 13:693-698). Deshalb ist diese Gruppe nur durch Journalisten des öffentlich-rechtlichen Hörfunks vertreten. Ein weiteres Auswahlkriterium zur Erfassung berufspositionsspezifischer Arbeitsbedingungen war die Art der Anstellung als feste, feste Freie oder freie EUJournalisten sowie ihre Funktion als Korrespondenten oder Redakteure. Unter den
62 Als Überblick hilfreich und der Kontaktaufnahme dienlich war eine detaillierte Aufstellung der deutschen und deutschsprachigen Journalisten auf den Internetseiten der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union, die regelmäßig aktualisiert wird.
4.3 Methodisches Vorgehen
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Interviewten befinden sich nur sehr wenige freischaffende und feste freie Journalisten.63 Wie die Aufschlüsselung der im Jahre 2007 in Brüssel akkreditierten deutschen Korrespondenten zeigt, stellen sie mit knapp 20% eine Minderheit dar, so dass dies durchaus den realen Beschäftigungsverhältnissen entspricht. Das Hauptaugenmerk innerhalb der Gruppe der EU-Journalisten liegt auf den in Brüssel arbeitenden Korrespondenten. Als externe Informationsbeschaffer sind sie aber auch Teil eines größeren, in Deutschland lokalisierten sozialen Gebildes mit entsprechenden Koordinations- und Entscheidungsprozessen. Zum besseren Verständnis der Arbeitsabläufe wurden daher nicht nur ihre Arbeitsbedingungen, sondern auch die Rolle leitender (Chef-)Redakteure sowie der auf nationaler Ebene partiell mit EU-Nachrichten beschäftigten Redakteure beleuchtet. Exemplarisch wurden dazu Redakteure aus den Zentralen der beiden großen überregionalen Tageszeitungen befragt. Ein drittes Auswahlkriterium war das Alter der Journalisten und die Dauer ihrer journalistischen Tätigkeit in Brüssel bzw. in der Heimatredaktion. Die Gegenüberstellung von zwei Gruppen, der „alten Journalistengarde“ und der „neuen Journalistengeneration“, diente der Überprüfung der Untersuchungsergebnisse von Meyer (2002b) und Baisnée (2002). Meyer prognostizierte auf der Basis seiner Fallstudie zum Korruptionsskandal und den von Journalisten verursachten Rücktritt der EU-Kommission im Jahre 1999 einen langfristigen Trend vom Verlautbarungsjournalismus hin zu einem stärker investigativ und transnational zusammenarbeitenden Journalismus. Baisnée koppelte die Wandlungsthese bei seiner Untersuchung britischer und französischer Journalisten an Überlegungen zum Alter und der damit verbundenen unterschiedlichen Dauer ihrer Tätigkeit in Brüssel. Schließlich sollte die Stichprobe Journalistinnen und Journalisten umfassen, um gegebenenfalls vorhandene geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einschätzung der Arbeitstätigkeit und -situation zu erfassen. Der weitaus geringere Anteil interviewter Frauen spiegelt ebenfalls bis zu einem gewissen Grad die Geschlechterverhältnisse im deutschen Pressekorps wider, in dem Frauen seit 2000 im Schnitt mit einem Anteil von 33% vertreten sind. Der niedrige Anteil verdeutlicht, dass im Unterschied zur Verteilung von Berufsanfängern oder in anderen journalistischen Bereichen die Position der Auslandskorrespondenten nach wie vor eine Männerdomäne ist (Junghanns/Hanitzsch 2006: 418f.; Hess, 1996: 16).
63 Als „Freie“ oder „Pauschalisten“ werden Journalisten bezeichnet, die ohne Arbeitsvertrag mit einem Medienunternehmen journalistische Tätigkeiten (Recherche, Erstellung von Nachrichten, Berichten, Reportagen usw.) ausführen und ihre Ergebnisse an interessierte Medien verkaufen. Ein „fester Freier“ ist ein selbstständiger Journalist, der regelmäßig für ein bestimmtes Medium arbeitet und durch (vertraglich festgehaltene) Absprachen abgesichert ist. Je nach Verhandlungsgeschick erhalten „feste Freie“ Mindestpauschalen, Spesenersatz, Kündigungsschutz, Anspruch auf bezahlten Urlaub und andere Leistungen.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Verteilung der Stichprobe interviewter EU-Journalistinnen und EU-Journalisten (N=33) Medientyp Agentur: 6
Presse: 17
Fernsehen: 5 Hörfunk: 5
Online: 1
feste Freie: 2
Freie: 3
Diverse:1
Anstellungsverhältnis Fest: 28
Funktion Korrespondenten: 27
Redakteure: 6
Alter 1950er Jahrgang und älter: 16
1960er Jahrgang: 9
1970er Jahrgang: 8
Journalistengeneration Journalisten insgesamt (nur Korrespondenten) Alte Journalistengarde (mehr als 5 Jahre Arbeitserfahrung) Neue Journalistengarde (weniger als 5 Jahre Arbeitserfahrung)
17 (12) 16 (15)
Geschlecht Journalisten insgesamt (nur Korrespondenten) Männer: 25 (21)
Frauen: 8 (6)
Tabelle 8: Stichproben der interviewten EU-Journalisten
Die Interviews wurden in zwei Erhebungswellen im Oktober / November 2005 und im Februar / März 2006 in Frankfurt, München und Brüssel geführt. Die Befragung der 33 EU-Journalisten fand in den Büros der Journalisten oder an öffentlichen Orten außerhalb der Büros statt. Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 110 Minuten, beliefen sich im Schnitt jedoch auf rund 70 Minuten. Alle Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen sowie anschließend vollständig und wörtlich transkribiert. Das umfangreiche Textmaterial der transkribierten Interviews wurde mit Hilfe der qualitativen Textanalyse-Software „Atlas.ti“64 verwaltet sowie nach dem von Meuser (2002) vorgeschlagenen Vorgehen inhaltsanalytisch bearbeitet und ausge-
64 Atlas.ti wurde von dem Informatiker und Psychologen Thomas Muhr in Zusammenarbeit mit Anselm Strauss im Rahmen des Projekts „Archiv für Technik, Lebenswelt und Alltagssprache (ATLAS)“ an der TU Berlin entwickelt (Muhr 1996). Das Programm ist als ein Instrument zur Unterstützung qualitativer Textanalyse und Theoriebildung in der Tradition der Grounded Theory konzipiert.
4.3 Methodisches Vorgehen
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wertet. Dazu wurden die Transkripte mit einer Systematik von Codes verschlüsselt, die sich am Leitfaden orientierte, darüber hinaus aber auch die Möglichkeit offen hielt, neue Codes zu kreieren, wenn aus den Interviewaussagen neue relevante Aspekte hervorgingen. In solchen Fällen wurde das Textmaterial in einem weiteren Codierdurchgang im Hinblick auf diese Aspekte erneut vercodet. Die Verwendung von Atlas.ti ermöglichte nicht nur das schnelle Auffinden der als relevant codierten Textstellen, sondern unterstützte den Analyseprozess insoweit, als über die Gruppierung der Fälle zu sog. „Familien“ relevante Vergleiche durchgeführt werden konnten. Anschließend wurden die Aussagen zu Interpretationsaussagen verdichtet und mit Belegen sowie typischen Zitaten versehen. Den Interviewpartnern wurde Anonymität zugesichert, so dass die Interviewaussagen mit der Nummer des Gesprächspartners sowie den Zeilennummern aus den Interviewtranskripten vercodet wiedergegeben werden. Werden relevante Unterschiede zwischen verschiedenen Akteursgruppen (z.B. in einer Gegenüberstellung der Aussagen von Korrespondenten und Redakteuren) dargestellt, wird in der Regel auf den Beleg verzichtet, da bei einer solch kleinen Stichprobe die Kombination verschiedener Gruppenzugehörigkeiten sehr schnell Aufschluss über die zitierte Person geben kann.65 Schließlich konnten die Interviews durch das Wissen aus teilnehmenden Beobachtungen kontextualisiert werden. Die Autorin hatte während eines halbjährigen Praktikums in der Europäischen Kommission die Möglichkeit, den „Mikrokosmos Brüssel“ unmittelbar kennen zu lernen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie Kontakt zur Generaldirektion Kommunikation der Europäischen Kommission und Einblick in die Entwicklung der gegenwärtigen Kommunikationsstrategie der EU sowie in die Organisation und den Ablauf der Journalisten-Akkreditierung. Sie nahm mehrfach an der Mittags-Pressekonferenz im Berlaymont-Gebäude der Kommission sowie an diversen politischen Veranstaltungen aller drei EU-Institutionen teil. Hintergrundgespräche mit zahlreichen Beamten der EU-Kommission, EU-Parlamentariern und ihren Assistenten, Pressesprechern sowie Lobbyisten ergänzten die Beobachtungen.
4.3.3 Methodendiskussion Mit den beiden dargestellten empirischen Zugängen soll zur Untersuchung der Professionalisierung des EU-Journalismus also ein Mehrmethodendesign zur Anwendung kommen, das gleichermaßen die Untersuchung von Berufsstrukturen wie auch
65 Der Interviewleitfaden sowie das Kategorienschema zur Auswertung der Interviews sind bei der Autorin erhältlich.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
von beruflichen Handlungsstrukturen und Handlungsmotiven ermöglicht. Beide Zugänge weisen jeweils für sich, wie auch in ihrer Kombination zahlreiche Vorteile, aber auch einige Nachteile auf, die an dieser Stelle kurz diskutiert werden sollen. Die Professionalisierung auf Organisationsebene wird mittels Organisationsund Dokumentanalyse untersucht. Zentral sind demnach die Arbeits- und Berufsorganisationen und ihre Strukturen in ihrer Gesamtheit sowie die sie kennzeichnenden Inhalte und Zielsetzungen. Will man langfristige Prozesse der Organisationsbildung und -veränderung empirisch nachweisen, gilt es, langfristig zugängliche Daten und geeignete Indikatoren für die untersuchungsrelevanten Veränderungen zu finden. An dieser Stelle kann es insofern zu Operationalisierungsproblemen kommen, als der kontinuierliche Zugriff auf Daten nicht immer gegeben ist und sich Indikatoren im Laufe der Zeit möglicherweise verändern (zu diesen und anderen Messproblemen sozialen Wandels vgl. Wiswede/Kutsch 1978: 44). In den meisten Fällen journalistischer Arbeits- und Berufsorganisationen wurde auf deren Internetpräsenzen und die dort zur Verfügung gestellten Informationen zurückgegriffen. Zur Validität dieser Datengrundlage ist daher zu bemerken: Erstens haben, wie Rechercheanfragen im Vorfeld der Untersuchung ergaben, viele Organisationen ihre eigene Entwicklung zum Teil sehr spärlich oder gar nicht systematisch dokumentiert. Dennoch sind die meisten Organisationen im Zuge allgemeiner Öffentlichkeitsorientierung im Rahmen von PR-Strategien und damit verbundener besserer Sichtbarkeit für ihre beruflichen Bezugsgruppen gegenwärtig bemüht, sich nach außen zu präsentieren. Die Verwendung von Internetquellen hat zwar den Nachteil, dass das Datenmaterial immer nur den Informationsstand im Augenblick des Zugriffs widerspiegelt, so dass sie streng genommen keine chronologische Dokumentation darstellen. Dennoch können sie neben Einblicken in Grundstruktur und zentrale Aktivitäten der Organisation auch Einblicke in die Geschichte der Organisationen geben, wenn diese aufgrund unbegrenzter Speicherungs- und Seitenstrukturierungsmöglichkeiten – wenn vorhanden – zunehmend alte und neue Dokumente im Netz bereitstellen. Der für alle Organisationen einheitliche und vergleichsweise einfache Zugriff auf Information zu ihren jeweiligen Strukturen und Inhalten begründet den hohen Stellenwert von Internetquellen. Ein zweiter Vorteil einer auf Internetquellen begründeten Organisationenanalyse ist, dass manche der dargestellten Organisationen, insbesondere wenn sie eher netzwerk- oder projektartig organisiert sind, selbst einen fluktuierenden Charakter haben. So ließen sich manche Vereinigungen und Ausbildungsprogramme, die zwischenzeitlich existierten, mittlerweile aber wieder aufgelöst bzw. beendet wurden, indirekt durch veraltete Internetpräsenzen finden. Auch eine Curriculumsanalyse journalistischer Studiengänge als spezifische Form der Dokumentenanalyse ist nicht frei von Störfaktoren. So war es beispiels-
4.3 Methodisches Vorgehen
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weise nur möglich, die Europäisierung des Curriculums bis zum einsetzenden Bologna-Prozesses nachzuzeichnen, da die Studiengänge ab diesem Zeitpunkt nach neuen hochschulpolitischen Gesichtspunkten umstrukturiert wurden. Zudem führten viele Universitäten elektronische Vorlesungsverzeichnisse anstelle der archivierbaren Printausgaben ein, auf die nicht mehr in allen Fällen zugegriffen werden konnte. Dennoch scheint die Curriculumsanalyse eine geeignete Operationalisierung von EU-bezogener Expertisierung darzustellen, da es hier aufgrund der semesterweise zur Verfügung stehenden Vorlesungsverzeichnisse gelingt, einen kontinuierlichen Datenzugriff sicherzustellen und wenigstens für einen gewissen Zeitraum einen Zeitverlauf abzubilden. Zur Untersuchung von Professionalität und Professionalisierung des EUJournalismus auf Akteursebene wurden leitfadengestützte Experteninterviews geführt. Diese Form des qualitativen Interviews verfolgt im Unterschied zur standardisierten Befragung das Ziel, berufsrelevante Zusammenhänge sowie Meinungen und Einstellungen der Akteure zu berufsrelevanten Fragen in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Es ist ein Verfahren, das ein tieferes Verständnis des Untersuchungsgegenstands anstrebt und das häufig für Studien genutzt wird, über deren Untersuchungsgegenstand noch nicht viel bekannt ist (für einen Überblick qualitativer Interviewformen vgl. Hopf 2003). Während sich innerhalb der professionssoziologischen Forschung ein Zweig in der fallspezifischen Rekonstruktion von Berufsbiografien oder professionellem Handeln zumeist auf narrative oder biografische Interviews stützt, findet in anderen Bereichen das Experteninterview Anwendung (Meuser/Nagel 2002). Das Experteninterview zeichnet sich im Unterschied zu anderen offenen Interviewformen dadurch aus, dass es nicht die Gesamtperson ins Zentrum des Gesprächsinteresses stellt, sondern einen spezifischen organisatorischen oder institutionellen Zusammenhang. Als Experte gilt derjenige, der in seiner Eigenschaft als Repräsentant eines organisatorischen oder institutionellen Zusammenhangs Aussagen über dieses Handlungsfeld treffen kann. Der Forscher definiert als Experten eine Person (oder Personengruppe) je nach Fragestellung und Funktion, mit der die Person Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe trägt und einen privilegierten Zugang zu entsprechenden Informationen hat (ebd.: 73). So eröffnet der Experte, da er selbst Teil dieses Handlungsfeldes ist, dem Forscher durch das Interview einen Einblick in sein Wissen über interne Strukturen und Ereignisse. Weil nicht der Einzelfall, sondern das gemeinsam geteilte Wissen der Experten, d.h. ihre fallübergreifenden Relevanzstrukturen, das Ziel der Analyse ist, steht im Experteninterview im Unterschied zu fallrekonstruktiven Verfahren, die das erhobene Material entlang der Sequenzialität der Äußerungen auswerten, die theoretisch angeleitete thematische Gliederung im Vordergrund (ebd.: 85).
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
Mit dem Einsatz von Experteninterviews können verschiedene Erkenntnisinteressen verfolgt werden (Bogner/Menz 2002: 36-39). Die strukturierte, aber offene Interviewsituation ermöglicht die Exploration des Forschungsfeldes rund um den konkreten Untersuchungsgegenstand. Das Untersuchungsgebiet kann in der Vielfalt seiner Aspekte weiter strukturiert werden und der Hypothesengenerierung dienen. Eng damit verbunden ist die systematisierende Funktion des Experteninterviews, die auf eine lückenlos geordnete Informationsgewinnung zielt. Anders als bei der explorativen Funktion steht hier der thematische Vergleich der Fälle im Vordergrund. Schließlich können Experteninterviews auch theoriegenerierend eingesetzt werden.66 Hier zielt das Interview auf die „…kommunikative Erschließung und analytische Rekonstruktion der ‚subjektiven Dimension’ des Expertenwissens“ (ebd.: 38). Die Art der Theoriegewinnung über eine interpretative Generalisierung implizierten Expertenwissens wird als Methode der verstehenden Soziologie zugerechnet. Die von Bogner/Menz (ebd.) analytisch unterschiedenen Erkenntnisinteressen können auch gleichzeitig verfolgt werden. So zielen die Experteninterviews mit EU-Journalisten als qualitatives Erhebungsinstrument auf die • Exploration des Berufs- und Tätigkeitsfelds von EU-Journalismus, • Systematisierung der Befunde zur Professionalisierung des EU-Journalismus innerhalb der unterschiedlichen Akteursgruppen, • Theoriegenese im Hinblick auf die Frage, welche Strategien der Professionalisierung die Akteure verfolgen und wie diese motiviert sind. Je nach Homogenität oder Heterogenität der Expertenaussagen kann sich ein weites Spektrum an möglichen Interpretationen eröffnen. Die Objektivität und Zuverlässigkeit der Auswertung einer solchen Untersuchung steigt daher in dem Maße, in dem die vorgenommene Interpretation nachvollzogen werden kann. Um eine möglichst große Transparenz in der Interpretation der Untersuchungsergebnisse herzustellen, werden die Interviewergebnisse in Form einer „thick description“ (Geertz 1973) dargestellt. Sowohl mit der gewählten Methode als auch mit der gewählten Form einer dicht an den Akteursaussagen liegenden Darstellung sind zwei Einschränkungen
66 Die theoriegenerierende Funktion des Experteninterviews ist von Meuser/Nagel (2002) methodischmethodologisch begründet und entwickelt worden und geht auf Überlegungen von Glaser/Strauss (1998) zur datenbasierten Theoriebildung zurück. Über das theoretische Sampling und die komparative Analyse wird ein Prozess der induktiven Theoriebildung entworfen, an dessen Ende idealerweise die Formulierung einer „formalen“ Theorie steht; zum Theoriebegriff der Grounded Theory vgl. Glaser/ Strauss (1998: 48ff.).
4.3 Methodisches Vorgehen
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verbunden, die im Zusammenhang qualitativer Interviews häufig thematisiert werden (zu Fehlerquellen bei qualitativen Interviews vgl. Diekmann 2007: 446ff.). Kritik bezieht sich üblicherweise auf die Güte von subjektiven Interviewaussagen sowie insbesondere auf die Güte von Retrospektivaussagen. Gerade mit Blick auf journalistische Selbstaussagen wird typischerweise hinterfragt, ob die Akteure in ihrem Berufsalltag auch tatsächlich gemäß den von ihnen formulierten Angaben handeln bzw. ob sie das von ihnen formulierte journalistische Selbstbild umsetzen. Die Überprüfung der Wahrheit von Aussagen und der Handlungsrelevanz professioneller Einstellungen steht hier jedoch nicht im Zentrum der Analyse. So werden durch die Experteninterviews neben der ‚informationsorientierten’ Rekonstruktion von Arbeitsbedingungen und Merkmalen des berichteten beruflichen Handelns anhand der deduktiv entworfenen Kategorien vor allem auf induktivem Wege Handlungsmotive in Form von Strategien der Professionalisierung und Deutungen von Handlungssituationen herausgearbeitet. Hierbei handelt es sich um die subjektiven Sinnkonstruktionen der Akteure. Dass solche Wahrnehmungen im Unterschied zur Untersuchung und Darstellung objektiver Handlungsbedingungen möglicherweise situativen und sozialen Verzerrungen unterliegen, ist nicht auszuschließen und muss daher bei der Interpretation der Aussagen berücksichtigt werden.67 Neben der Analyse der Professionalität von EU-Journalisten als berufliches Handeln unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen zielt die Analyse darauf, bedeutsame Veränderungen in den Arbeitsbedingungen und professionellen (Selbst)Beschreibungen der Akteure zu rekonstruieren. Da einmalig geführte Interviews streng genommen keine Aussagen über den Verlauf einer Professionalisierung erlauben, wird ein besonderes Augenmerk auf retrospektive Aussagen der Journalisten gerichtet und werden Vergleiche mit Ergebnissen aus Vorgängerstudien angestellt. Auch hier ist zu berücksichtigen, dass gerade retrospektive Aussagen mit subjektiven Verzerrungen wie einer möglichen Verklärung von vergangenen Arbeitssituationen verbunden sein können (Diekmann 2007: 445f.). So sind die dargestellten Befunde der qualitativen Leitfadeninterviews insgesamt mit einer kritischen Distanz gegenüber möglichen Einflussfaktoren auf die Aussagen der Akteure zu lesen. Dennoch können sie umfassend Auskunft über die beruflichen Relevanzstrukturen und deren Veränderungen geben. Nach Manfred Rühl erfordert die Untersuchung von beruflichen Sozialisationsprozessen „dynamische Analysetechniken (…), die den graduellen Unterschied
67 Zur Überprüfung von journalistischen Selbstaussagen ist eine Methodenkombination aus Interviews und Inhaltsanalyse sinnvoll.
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4 Zusammenführung zu einem Untersuchungsdesign
in Längsschnitt-Untersuchungen und/oder in der zeitgleichen Gegenüberstellung verschiedener Samples aufzeigen“ (1971: 145). Das hier gewählte Untersuchungsdesign für Professionalisierungsprozesse ist der Versuch, einer solchen Anforderung gerecht zu werden. Trotz der angesprochenen Grenzen der beiden empirischen Zugänge, die sich im Wesentlichen auf die jeweils „weiche“ Operationalisierung des Zeitverlaufs beziehen, wird durch die Kombination einer nichtreaktiven und einer reaktiven bzw. einer – auf die Curriculumsanalyse bezogen – standardisierten und einer nicht-standardisierten Datenerhebungsmethode das Ziel einer komplexen und dynamischen Analyse von Professionalisierung verfolgt. Zudem liegt der zentrale Vorteil dieser Untersuchungsanlage in der wechselseitigen Verknüpfung von strukturell-makrosoziologischen und individuell-mikrosoziologischen Untersuchungsdimensionen.
4.4 Zusammenfassung Ziel der vorangegangen Abschnitte war es, für das Berufsfeld Journalismus einen theoretischen Bezugsrahmen und ein Mehrmethodendesign so zu konzeptionalisieren, dass es aus einer System- und Akteurstheorie kombinierenden Perspektive möglich ist, die Professionalisierung des Journalismus in Richtung eines „EU-Journalismus“ zu untersuchen. Die Skizzierung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Politik, Wirtschaft und Technik lieferte neben ersten Annahme, dass die professionellen Rahmenbedingungen und die Professionalität der Journalisten die Berichterstattung prägen, zum einen die zweite Grundannahme, dass die Europäisierung der Politik möglicherweise auch zu einer Professionalisierung des Journalismus als EU-bezogene Binnendifferenzierung führt. Zum anderen wurden mit Kommerzialisierung und Digitalisierung im Bereich des Journalismus zwei allgemein zu berücksichtigende Kontextfaktoren benannt, die möglicherweise auf diesen Prozess einwirken. Ob und inwieweit dies im Einzelnen der Fall ist, bleibt den Ergebnissen der empirischen Untersuchung vorbehalten. Des Weiteren wurden Dimensionen und Indikatoren der Professionalisierung dargestellt. Dabei wird Professionalisierung als Prozess der „Europäisierung“ auf den jeweiligen Dimensionen verstanden. Das bedeutet sowohl auf der Ebene der Organisationen als auch auf der Ebene der Akteure eine Institutionalisierung des Europa-Bezugs, eine Expertisierung im Hinblick auf Europa und eine Inszenierung der europäischen Dimension. Letzteres meint die Kennzeichnung Europas als etwas Spezifisches im Berufsfeld des Journalismus, das eindeutig gegenüber Anderem unterschieden wird.
4.4 Zusammenfassung
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Zur Untersuchung der Professionalisierungsprozesse wurde ein Mehrmethodendesign aus Organisations- und Dokumentanalyse (bzw. im Fall der Universitäten eine Curriculumsanalyse) auf Organisationsebene sowie qualitativen Experteninterviews auf Akteursebene vorgestellt. Als Medienorganisationen wurden alle journalistischen Arbeits- und Berufsorganisationen definiert, so dass sie unterschiedliche Medienanstalten ebenso wie Journalistenbüros, institutionalisierte Arbeitsnetzwerke oder Berufsverbände umfassen. Diese sollen jeweils im Sinne einer Strukturbildung auf ihre Neugründung mit Europa-Bezug bzw. im Sinne einer Strukturveränderung hinsichtlich ihrer Europäisierungsentwicklung untersucht werden. Als Medienakteure wurden alle deutschen mit EU-Berichterstattung befassten Journalisten definiert. Die Gruppe umfasst also Journalisten ungeachtet ihrer Berufsposition als Korrespondent oder Redakteur, ihres Anstellungsverhältnisses als fester, freier oder fester Freier Mitarbeiter sowie unabhängig vom Ressort, das sie bedienen. Sie sollen im Hinblick darauf untersucht werden, durch welches EUspezifische berufliche Handeln sie charakterisierbar sind und inwieweit sich dieses verändert hat. Darüber hinaus zielt die Untersuchung auf die Konstruktion und Begründung der von den Akteuren selbst entwickelten professionellen Relevanzstrukturen. Die Operationalisierung von Professionalität und Professionalisierung durch beide empirischen Zugänge ebenso wie ihre Kombination weist einige Vor- und Nachteile auf. Für beide Ebenen ist einschränkend zu bemerken, dass es sich um eine sehr „weiche“ Operationalisierung des Zeitverlaufs handelt, die an verschiedenen Stellen störanfällig ist. Mit Ausnahme der Universitätscurricula ist auf der Ebene der Organisationen kein kontinuierlicher Zugriff auf Dokumente möglich. Da auf der Ebene der Akteure keine qualitative Panelstudie durchgeführt werden kann, muss zur Beschreibung von Professionalisierungsprozessen auf retrospektive Aussagen und Vergleichsuntersuchungen zurückgegriffen werden. Das Experteninterview ist innerhalb der verschiedenen Interviewformen am weitesten von den Prinzipien einer qualitativen Sozialforschung entfernt, da es primär darauf zielt, Akteure vor dem Hintergrund ihrer Einbindung in den jeweiligen Funktionskontext zu untersuchen. Um aber auch die subjektiven Relevanzstrukturen der Akteure zu erfassen, soll das Experteninterview in qualitativer Hinsicht erweitert und eng am Material ausgewertet und dargestellt werden. So rücken weniger die objektiven Handlungsbedingungen als die subjektiven Wahrnehmungen der Akteure von Professionalisierung und Professionalität ins Zentrum der Betrachtung. Trotz der mit den jeweiligen Methoden einhergehenden Grenzen liegt der zentrale Vorteil dieser Untersuchungsanlage in der wechselseitigen Verknüpfung von strukturell-makrosoziologischen und individuell-mikrosoziologischen Untersuchungsdimensionen sowie in seiner Längs- und Querschnittsuntersuchung kombinierenden Dynamik.
II Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Empirische Befunde
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Im folgenden Kapitel stehen die Befunde der Organisations- und Dokumentenanalyse im Zentrum der Darstellung. Anhand einer systematisierten Beschreibung der Organisationsstrukturen und einer Herausarbeitung der Europa-Bezüge zeigen sie, inwieweit die europäische Dimension bereits im journalistischen Berufs- und Arbeitskontext institutionalisiert bzw. strukturell verankert ist. Die Ergebnisdarstellung folgt der in Abschnitt 4.3.1 hergeleiteten Systematik der drei berufssoziologisch relevanten Organisationstypen. Die grundlegenden Arbeitsorganisationen des Journalismus sind die einzelnen Medienorganisationen bzw. deren Redaktionen, die das Herzstück des journalistischen Produktionsprozesses bilden. Die Struktur des Mediensystems basiert auf einer Differenzierung der Organisationen nach ihren technischen Verbreitungsmöglichkeiten. So kann man Print-, Hörfunk-, Fernseh- und Online-Medien unterscheiden. Ferner fußt sie auf dem in Deutschland existierenden dualen Rundfunksystem, demzufolge zwischen privat und öffentlich-rechtlich finanzierten Medien unterschieden wird, sowie auf der jeweiligen zielgruppenspezifischen und damit inhaltlichen Ausrichtung an den Interessen verschiedener Medienpublika. Entlang dieser strukturierenden Faktoren hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Medienorganisationen mit jeweils spezifischen internen Arbeitsabläufen und unterschiedlichen Europäisierungsgraden etabliert (Abschnitt 5.1). Zu den Berufsorganisationen des Journalismus gehören Ausbildungs- und Weiterbildungsorganisationen. In Deutschland stützt sich die journalistische Ausbildung vor allem auf Universitäten und Fachhochschulen sowie auf spezielle Journalistenschulen und auf die Medienorganisationen selbst, innerhalb derer angehende Journalisten ein Redaktionsvolontariat durchlaufen können. Stellvertretend für den universitären Ausbildungsweg zeigen die Ergebnisse einer Curriculumsanalyse die Entwicklung der europäischen Dimension in der Ausbildung. Zudem zeigen europäische Neugründungen eine Verlagerung der Aus- und Weiterbildung auf die europäische Ebene (Abschnitt 5.2). Weiterhin gehören zu den Berufsorganisationen alle freiwilligen Formen der journalistischen Selbstorganisation, wie sie in Gestalt der beiden journalistischen Berufsverbände Deutscher Journalisten Verband (DJV) und Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di sichtbar sind, sowie in weniger formalisierten Strukturen institutionalisierter beruflicher (Fach-)Gruppen und Netzwerke. Auch hier werden europäische Bezüge in unterschiedlicher Ausprägung deutlich (Abschnitt 5.3). Einschränkend
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
muss bemerkt werden, dass es sich streng genommen vielfach um die Darstellung einer Europa-bezogenen Professionalisiertheit handelt, da sie neben Zeitpunkten der Organisationsgründungen vor allem Momentaufnahmen der gegenwärtigen Aktivitäten wiedergibt. Trotz dieses Vorbehalts ist es möglich, die Ergebnisse aus einer zeitlichen und organisationsvergleichenden Perspektive zu interpretieren (Abschnitt 5.4).
5.1 Medienorganisationen Eine Form der Professionalisierung als Institutionalisierung des EU-Bezugs wird an der Spezialisierung der beruflichen Leistung durch Arbeitsteilung sichtbar. Arbeitsteilige Prozesse können sich in einem Mediensystem strukturell auf zwei unterschiedlichen Ebenen vollziehen: Zum einen intermedial (5.1.1), indem sich bestimmte Medien für bestimmte Zielgruppen mit entsprechenden Inhalten ausdifferenzieren: So kann man im engeren Sinne innerhalb des deutschen Mediensystems die Spartenbildung von Medien, die über Europa im Allgemeinen und/oder die EU im Speziellen berichten, und im weiteren Sinne die Ausdifferenzierung von länderübergreifenden europäischen Medien als intermediale Professionalisierungsprozesse betrachten. Zum anderen kann es auch zu Prozessen intramedialer Arbeitsteilung (5.1.2) kommen. In diesem Fall bedeutet das, dass sich innerhalb einer Medienorganisation arbeitsteilige Strukturen ausdifferenzieren, die sich in der Bildung eines eigenständigen Ressorts, von speziellen Sendungen oder Themenreihen oder zumindest in der Ausdifferenzierung und Spezialisierung von journalistischen Berufspositionen niederschlagen.68
5.1.1 Prozesse intermedialer Arbeitsteilung Betrachtet man den Prozess intermedialer Arbeitsteilung auf der Mediensystemebene, hat sich innerhalb der deutschen Medienlandschaft bis 2008 nur ein maßgebliches nationales Medium etabliert, das in seiner Berichterstattung ausschließlich das Thema EU und Europa abdeckt. Die Online-Publikation europa-digital69 zielt in einer jour-
68 Die Unterscheidung einer inter- und intramedialen Arbeitsteilung ist durchaus anschlussfähig an die von Gerhards (1993) eingeführten beiden denkbaren Möglichkeiten zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit. Die Ausbildung eines europäischen Mediensystems bzw. die Entstehung europäischer Medien, die in allen Mitgliedsländern gleichermaßen rezipiert werden, kommt einer intermedialen Arbeitsteilung gleich. Die Europäisierung der nationalen Mediensysteme und der bereits existierenden nationalen Medien basiert auf einer intramedialen Arbeitsteilung. 69 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
5.1 Medienorganisationen
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nalistischen Form auf die Information über aktuelle politische Entwicklungen und in einer politisch bildenden Form auf die Erläuterung der Funktionsweise der politischen Organe der EU und ihrer Aktivitäten in verschiedenen Politikfeldern. Axel Heyer initiierte das Projekt 1999 zunächst als europäische Rubrik unter dem Dach von politik-digital. Im Jahre 2001 wurde daraus ein eigenständiger Internetauftritt mit einer eigenen Domain. 2004 wurde der Verein Europa einfach e.V. gegründet, dessen Mitgliedsbeiträge und Spenden die finanzielle Grundlage von europa-digital und seinen beiden festen Mitarbeitern bilden, die in Brüssel und Köln ansässig sind. Die Redaktion besteht derzeit aus acht nebenberuflich für europa-digital arbeitenden Journalisten sowie knapp 40 freien Mitarbeitern, die unregelmäßig Beiträge aus verschiedensten Städten Deutschlands und Europas liefern (Deter 2006: 50).70 Länderübergreifende europäische Medien haben sich über einen längerfristigen Zeitraum bislang nur in Sparten etablieren können, die weitgehend sprachunabhängig sind, wie z.B. MTV als Musiksender oder Eurosport als Sportkanal, oder die sich aufgrund der hierfür erforderlichen Fremdsprachenkompetenzen nur an ein sehr kleines Publikum richten. Zu letzterem gehören im Bereich der politischen Presse Zeitungen wie die seit 1972 fünfmal wöchentlich erscheinende Europolitics/Europolitique oder die seit 1995 wöchentlich erscheinende European Voice. Beide Zeitungen setzen sich aus einem multikulturellen Team von Journalisten zusammen, das sich nach eigener Darstellung keiner nationalen Perspektive verpflichtet fühlt. Einen geringen Erfolg hatte dagegen die Wochenzeitung The European. Sie wurde mangels Nachfrage mittlerweile wieder eingestellt. Einzig die Europa-Ausgabe der Financial Times wird als Medium mit europäischer Öffentlichkeit betrachtet, da sie eine ausführliche EU-/EuropaBerichterstattung enthält und in Brüssel von allen EU-Beschäftigten gelesen wird (vgl. Interviewaussagen und Raeymaeckers et al. 2007). Allerdings ist sie ebenso wie die im Bereich der Online-Medien existierenden Nachrichtenportale EUobserver.com oder EUractiv.com für die deutsche Öffentlichkeit weitgehend irrelevant. Im Bereich der politischen Fernsehberichterstattung konnte sich der im Jahre 1993 gegründete und anfangs in fünf, mittlerweile in sieben Sprachen sendende Nachrichtenkanal euronews etablieren (zur Entwicklung und Organisation
70 Obgleich sich die Online-Publikation seit ihrer Gründung mit wachsender Mitarbeiterzahl etabliert hat, ist der Stellenwert des sog. E-Zines (Abk. für elektronische Zeitschrift) innerhalb der politischen EU-Berichterstattung schwierig einzuschätzen. Im Unterschied zu traditionellen Massenmedien können zur Relevanz der Online-Kommunikation noch keine gesicherten Angaben gemacht werden, vgl. Jarren/Donges (2006: 354).
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
von euronews vgl. Machill 1997). Ambitionierte europäische Pilotprojekte unter dem Dach der Europäischen Rundfunkunion (European Broadcasting Union) wie das Testfernsehprogramm Eurikon oder der Zusammenschluss vier nationaler öffentlich-rechtlicher Fernsehanbieter zur Gestaltung des gemeinschaftlichen Kanals Europa-TV wurden aus finanziellen und organisatorischen Gründen wieder eingestellt (vgl. Siebenhaar 1994; Meckel 1994).71 Transnational orientierte Projekte nationaler Medien wie die englischsprachige Übersetzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Beilage der International Herald Tribune wurden ebenfalls aus Kostengründen wieder eingestellt. Sieht man von wenigen Ausnahmen einzelner Medien mit geringer Publikumsreichweite ab, gab es bislang weder auf dem deutschen noch auf dem europäischen Medienmarkt eine EU-/Europa-spezifische Spartenbildung. Die Ursachen für die nationalstaatliche Verhaftung der Massenmedien gehen auf strukturelle und insbesondere auf kulturelle Hemmnisse zurück. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Interessen an den medialen Inhalten sowie zwischen den Ländern variierende Rezeptions- und Lebensgewohnheiten sperren sich gegenüber einheitlich europäischen Medienangeboten. Eine intermediale Europa-spezifische Arbeitsteilung und Spartenbildung würden eine Homogenität der Zuschauerpräferenzen sowie einheitliche Werbemärkte voraussetzen, die so nicht gegeben sind (Gerhards 1993: 8-11; Lilienthal 2002). Abgesehen von der genannten Ausnahme ist ein wachsendes Angebot von EU-/Europa-spezifischen Medien innerhalb des deutschen Mediensystems nicht feststellbar. Wenngleich Sprachbarrieren hier kein Problem darstellen würden, scheint die Antizipation eines mangelnden Publikumsinteresses an Europa-Themen die Einführung solcher Medien zu verhindern. Ein ausschließlicher EU-/Europa-Bezug stellte demnach bislang keinen Anlass zur Kommerzialisierung und damit zu einer Institutionalisierung des Gegenstands durch einen Prozess intermedialer Arbeitsteilung dar.
71 Die Euopäische Rundfunkunion startete 1982 das Eurikon- oder OTS-Experiment, bei dem durch die Konzeption und Erstellung verschiedener Programme für eine Sendewoche erstmals europäisches Fernsehen erprobt werden sollte. Man beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit grenzüberschreitende, Europa-weite Fernsehprogramme technisch durchführbar, programmlich sinnvoll und gesellschaftspolitisch mit Blick auf den europäischen Einheitsgedanken relevant sein könnten. Das besondere Kennzeichen des Eurikon-Projekts bestand darin, dass sämtliche Sendungen neben dem Originalton in sechs Sprachen übertragen werden sollten. Dies war aber zugleich auch das zentrale Hindernis. Synchronisation und Untertitelung in allen Sprachen erforderten einen enormen personellen, finanziellen und organisatorischen Aufwand, zu dem die Fernsehanstalten nicht in der Lage waren. Während Europa-TV vom 4.10.1985 bis zum 27.11.1986 als erstes mehrsprachiges paneuropäisches Satellitenprogramm 14 Monate lang sendete, war das Eurikon-Programm als Laborversuch der bundesdeutschen sowie anderen nationalen Öffentlichkeiten in Europa nicht zugänglich; vgl. Siebenhaar (1994: 50-55).
5.1 Medienorganisationen
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5.1.2 Prozesse intramedialer Arbeitsteilung Anders sieht die Entwicklung innerhalb der Medienorganisationen aus. Die Auswirkungen der politischen Veränderungen auf die berufliche Wirklichkeit der Journalisten setzten in einer wachsenden Dynamik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre ein. Mit dem im Jahre 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht und spätestens nach dem Zusammenschluss der damaligen Mitgliedsstaaten zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion im Jahre 1999 war der Prozess der europäischen Integration unumkehrbar. Damit war für die politischen Journalisten die Notwendigkeit gegeben, aktuelle politische Entwicklungen in einen weiteren europäischen Horizont einzuordnen. Für die Medienorganisationen ergaben sich daraus die Fragen, wie viel Raum der Berichterstattung angemessen ist, ob das Thema EU und Europa ein eigenes Ressort erfordert und wie viele Journalisten in der Funktion als Korrespondenten oder Redakteure für diese Themenfeld zuständig sein sollen. Strukturbildungen hinsichtlich eines EU- oder Europa-Journalismus innerhalb der Medien, die sich in der Gestalt eigenständiger Sendungen, Ressort- oder Rubrikbildungen zeigen, sind vergleichsweise selten. Sie finden sich, wenn überhaupt, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien und in der überregionalen Qualitätspresse. Im Folgenden werden exemplarisch einige Fälle angeführt, in denen sich Medienorganisationen bewusst für eine dauerhafte Institutionalisierung des EU-Themas in ihren Programmschemata entschieden haben. Im Bereich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sticht die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) bzw. der Westdeutsche Rundfunk (WDR) mit drei eigenen, im Auslandsstudio Brüssel der ARD produzierten Europa-Sendungen hervor. Gegenwärtig handelt es sich um das zweiwöchentlich in der ARD ausgestrahlte Europamagazin und die beiden wöchentlich für den WDR produzierten Sendungen Bericht aus Brüssel und 0800 Brüssel. Das Europamagazin hat nicht unmittelbar die europäische Politik zum Gegenstand, sondern all das, was nach Aussagen des Studioleiters zu einer umfassenden Europa-Berichterstattung gehört. Es richtet den Blick auf die Nachbarländer und die dort relevanten Themen, Positionen und politischen Ereignisse. Im Unterschied dazu beschäftigen sich die beiden für den WDR produzierten Sendungen unmittelbar mit der Politik aus Brüssel. Der Bericht aus Brüssel versucht, politische Themen sachlich auf eine lokale Ebene herunter zu brechen, indem die Korrespondenten in der Grenzregion von Aachen bis Köln von EU-Entscheidungen Betroffene befragen und in ihrem Alltag begleiten. Nach Einschätzung des Studioleiters handelt es sich hierbei allerdings um ein „Alibi-Format“, da es kaum Zuschauerresonanz findet, aber vom Sender als sehr wichtig erachtet
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
wird. Es wird mit sehr viel Engagement, aber möglichst geringem finanziellen Aufwand produziert. 0800 Brüssel ist eine sog. „call-in-Sendung“, die auf die Einbindung des Publikums zielt. Zu den einzelnen Sendungen wird jeweils ein Studiogast aus der europäischen Politik eingeladen, mit dem das per Telefon eingeschaltete Publikum Europa-Themen diskutieren kann. Auch das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) produziert eine Sendung mit speziellem Europa-Bezug. Innerhalb seiner Reihe verschiedener heute-Nachrichtensendungen strahlt es seit dem 12. April 1999 montags bis freitags um 16 Uhr eine spezielle Ausgabe heute – in Europa aus, in der Themen aus Wirtschaft, Politik und Kultur der verschiedenen Länder Europas behandelt werden.72 Im Unterschied zu ARD/WDR werden im Auslandsstudio Brüssel keine eigenen Sendungen produziert. Sie liefern unter der Koordination der Hauptredaktion Außenpolitik Beiträge für verschiedene Magazine und Sendungen, nicht zuletzt insbesondere für die Hauptnachrichtensendung heute, das heute journal und das seit 1974 wöchentlich ausgestrahlte Auslandsjournal.73 Private Fernsehsender wie SAT.1 oder RTL produzieren keine spezifischen Europa-Sendungen, sondern berichten über Europa-Themen, wenn überhaupt, innerhalb ihrer Nachrichten- und Magazinsendungen, die in den deutschen Studios produziert werden (Lilienthal 2002: 28). Im deutschen Hörfunk hat das DeutschlandRadio (Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur) mit der Sendung Europa heute eine spezielle Sendung eingeführt: „Europa heute ist eine Magazinsendung, die sich Europa-politischen Themen widmet und deren politische Hintergründe und Zusammenhänge schildert. Europa heute versteht sich als Reportagesendung, die in der Regel aus dem europäischen Ausland berichtet und damit nicht nur die Länder der Europäischen Union meint. Europa heute richtet den Blick von der abstrakten politischen Entscheidungsebene auf die konkrete
72 Dabei vertritt die Sendung einen geografischen Europa-Begriff: „Sehr bewusst haben wir uns nicht auf das institutionalisierte Europa beschränkt, sondern begreifen unseren Kontinent als gemeinsamen Kultur- und Lebensraum“ (ZDF 1999: 121f.). 73 Erste Überlegungen der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, Europa in regelmäßigen Sendungen darzustellen, gab es bereits Anfang der 1980er Jahre. Nach der zweiten Direktwahl des europäischen Parlaments wurde Anfang 1985 ein Teil des Konzepts durch eine monatliche, zwischen den Sendern abwechselnde Parlamentsberichterstattung verwirklicht. Doch die durch aufwändige Übersetzungen der Parlamentsdebatten zähflüssigen Sendungen führten zu einer Veränderung. Im Frühjahr 1989 wurden in beiden Fernsehanstalten jeweils eigene Europa-Magazine eingeführt, in denen die Inhalte kurzweiliger und die Parlamentsdebatten nur noch ein aktueller Aufhänger sein sollten. Die ARD startete Anfang 1989 das oben genannte Europa-Magazin, und das ZDF folgte im Oktober 1989 mit der Sendung EURO (vgl. Keller 1991).
5.1 Medienorganisationen
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Alltagswelt und fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Das besondere Augenmerk gilt dabei den Lebensumständen der Menschen in Europa. In anschaulichen Reportagen soll Verständnis geweckt und auf diese Weise ein Beitrag zum europäischen Bewusstsein geleistet werden.“74
In dieser oder ähnlicher Weise beschreiben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihre redaktionelle Zielsetzung, mit der sie die Ausdifferenzierung eigener Sendungen begründen.75 Anders als beim Rundfunk lassen sich innerhalb der Printmedien in äquivalenter Funktion zu ausdifferenzierten Sendungen keine eigenständigen Ressortbildungen nachweisen. In der Regel ist die EU-Berichterstattung der Nachrichtenredaktion oder dem außenpolitischen Ressort zugeordnet (zur Arbeitsteilung vgl. 6.2.2). Allein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde im August 1998 im Wirtschaftsteil die wöchentlich erscheinende Rubrik Europraxis im Überblick eingerichtet.76 Ziel dieser Rubrik, die je nach politischen Ereignissen zwischen kleiner Notiz und größerem Beitrag variiert, ist die Vermittlung von wirtschaftlichen EU-Themen in die Praxis. Durch die Angabe vieler Adressen, Kontaktpersonen und Internetadressen sollen laut Aussage eines Korrespondenten neben der Information auch Möglichkeiten der Teilhabe an europäischen Projekten für breite Leserkreise aufgezeigt werden. Darüber hinaus werden unter diese Rubrik auch unabhängig vom aktuellen Terminjournalismus Themenserien angeboten, in denen zum Beispiel vor einer EU-Parlamentswahl die deutschen EU-Abgeordneten oder zu einer neuen Amtsperiode die neuen EU-Kommissare vorgestellt werden. Solche nicht fest institutionalisierten, sondern temporäre und anlassbezogene Ausdifferenzierungen von Sonderseiten und Serien lassen sich auch in anderen Printmedien beobachten. Zu speziellen Anlässen wie den Europa-Parlamentswahlen oder zur Osterweiterung der EU im Jahre 2004 produzieren nicht nur überre-
74 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 75 Auch die Deutsche Welle, die seit 1992 ein Korrespondentenbüro in Brüssel unterhält, bietet spezifische EU- und Europa-Sendungen an. Auf die Deutsche Welle als Auslandssender wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen, da ihr Zielpublikum nicht das in Deutschland lebende Medienpublikum ist, sondern nationale und internationale Zielgruppen im Ausland. Zum Beitrag der Deutsche Welle zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit vgl. Kleinsteuber (2006). 76 Die Europraxis begann im Februar 1989 als zweimal wöchentlich erscheinende Beilage im „Blick durch die Wirtschaft“; seit Juli 1989 auch unter dem Titel „Europraxis“. Autoren waren die Brüsseler Korrespondenten, zunächst Michael Stabenow; später kamen Helmut Bünder (1991) und Hajo Friedrich hinzu. Nach Einstellung des „Blicks“ wurde im August 1998 im FAZ-Hauptblatt die wöchentliche Seite „Europraxis im Überblick“ eingeführt, die seit Herbst 2007 nur noch „Europraxis“ heißt und jeweils dienstags erscheint.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
gionale, sondern auch regionale Zeitungen über einen bestimmten Zeitraum hinweg thematische Sonderseiten. So hat die Tageszeitung taz im Beitrittsprozess der zehn osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten eine eigene Seite unter dem Titel Europa-taz eingerichtet, auf der in Form von Länderporträts Beiträge der Brüsseler Korrespondentin und anderer Auslandskorrespondenten zusammengestellt wurden. Eine medieninterne Institutionalisierung des Europa-Bezugs zeigt sich demnach vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien und in der überregionalen Qualitätspresse. Hier bewirken inhaltliche Prioritätssetzungen in Verbindung mit der Bereitstellung ausreichender finanzieller Ressourcen, Europa-Themen fest in ihren Strukturen zu verankern. Während bei den Qualitätszeitungen die Priorität auf die zielgruppenspezifische Elitenorientierung zurückzuführen ist, wird sie bei den öffentlich-rechtlichen Sendern durch den politischen Bildungsauftrag und seine öffentliche Gebührenfinanzierung möglich.77 Regionale Tageszeitungen sind vergleichsweise wenig europäisiert. Hier finden temporäre und anlassbezogene Strukturbildungen statt, die vom Gewicht der jeweiligen EU-politischen Ereignisse abhängig sind. In keiner Weise institutionalisiert ist dagegen der EU-Bezug in den Boulevardmedien.78 Auch wenn medienformatspezifisch nur der Rundfunk eine Institutionalisierung des EU-Bezugs durch die Ausdifferenzierung redaktioneller Strukturen und Sendungen aufzeigt, ist die Ausdifferenzierung von Berufspositionen als eine weitere Dimension intramedialer Strukturbildung in fast allen Medien erkennbar. Hierbei wird die Gewichtung eines Ressorts oder eines darin verankerten Themas durch die Anzahl der darauf spezialisierten Journalisten deutlich. So kann man die Europäisierung von Berufspositionen innerhalb des deutschen Mediensystems an der Entwicklung der Zahl der in Brüssel akkreditierten deutschen Korrespondenten verfolgen.
77 Staatsvertraglich verankert ist der europäische und internationale Integrationsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) in §§ 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 4 des ZDF-Staatsvertrags (ZDF-StV). Im Rundfunkstaatsvertrag (RStV) der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) ist der europäische Integrationsauftrag in § 11 Abs. 2 verankert und schlägt sich in den Programmgrundsätzen in § 41 Abs. 2 nieder. Aufgrund der Annahme, dass europäische Berichterstattung einer Vorleistung bedarf, sind die durch ein gebührenfinanziertes „Public Service Broadcasting“ entstehenden Freiräume einer vergleichsweise weniger nachfrageabhängig orientierten Programmgestaltung häufig Argumente für seine Bedeutung zur Beförderung einer informierten und partizipierenden europäischen Öffentlichkeit, vgl. z.B. Thomaß (2006). 78 Unter Boulevardmedien wird hier die Boulevardpresse sowie einige private Rundfunk- und Fernsehsender zusammengefasst, die in ihrer Aufmachung, im Text-, Wort oder Bildteil sowie in der Gestaltung durch einen plakativen Stil, reißerische Schlagzeilen und eine einfache, stark komprimierte Sprache gekennzeichnet sind. Größtes und bekanntestes deutsches Boulevardblatt ist die Bild-Zeitung. Private Fernsehsender mit Boulevardthemen in Nachrichtensendungen oder Nachrichtenmagazinen wie explosiv oder SPIEGEL-TV sind RTL, SAT.1 oder VOX.
5.1 Medienorganisationen
Abbildung 1:
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Entwicklung der in Brüssel akkreditierten deutschen Journalisten79
Die Grafik illustriert, dass sich die Anzahl der deutschen Korrespondenten in Brüssel zwischen 1993 und 2000 nahezu verdoppelt hat.80 Gemäß den Aussagen der Redaktionen wurden die meisten Korrespondentenbüros Ende der 1990er Jahre mit der Verabschiedung des Vertrags von Amsterdam auf- und ausgebaut. Einige seit
79 Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage der unveröffentlichten Handbücher für den Gebrauch des Sprecherdienstes der Kommission: Commission Européenne (1993, 2000, 2002–2007): Journalistes accrédités auprès de la Commission européenne, du Conseil de Ministres et du Parlement européen à Bruxelles: Annuaire. 80 Eine kontinuierliche Beschreibung des Verlaufs zwischen den Jahren 1993 und 2000 ist aufgrund fehlender Akkreditierungsdaten in der Europäischen Kommission nicht möglich. Auch für das Jahr 2001 sind keine Daten vorhanden, da wegen des Umzugs der Presseabteilung vom Breydel- ins Berlaymont-Gebäude keine Publikation erstellt wurde.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Anbeginn der Europäischen Gemeinschaft direkt aus Brüssel berichtende Medien wie die Rundfunkanstalten ARD/WDR81 und ZDF82 und die überregionalen Qualitätszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung83 und Süddeutsche Zeitung haben die Mitarbeiterzahl in ihren Korrespondentenbüros zu diesem Zeitpunkt aufgestockt. Die Wochenzeitung DIE ZEIT84 erweiterte das Büro um einen Mitarbeiter. Ebenfalls mit mehreren Korrespondenten sind seitdem die Brüsseler Büros der Nachrichtenmagazine FOCUS85, SPIEGEL und stern86 besetzt. Andere Medien wie der private Fernsehsender SAT.1 haben die politische Entwicklung zum Anlass genommen, erstmalig einen fest in Brüssel ansässigen Korrespondenten zu entsenden.87 Während die Büros der Nachrichtenagentur dpa und der Qualitätsmedien88 mit mehreren Korrespondenten besetzt sind, teilten sich zum Zeitpunkt der Untersuchung vor allem regionale Tageszeitungen einen Korrespondenten. So belieferte der Korrespondent der Rheinischen Post zugleich die Badischen Neueste Nachrichten, die Rhein-Zeitung, die Saarbrücker Zeitung, die Schwäbische Zeitung und den Weser-Ku-
81 Das Auslandsstudio Brüssel der ARD wurde 1961 gegründet. 82 Das Auslandsstudio Brüssel des ZDF wurde im August 1963 in einer zweiten Gründungswelle von Auslandskorrespondentenbüros eingerichtet. Erster ZDF-Europa-Korrespondent und Studioleiter war von 1963 bis 1968 Gerhard Löwenthal (ZDF 1963: 97, 103; Wehmeier 1979: 99f.). 83 Das Korrespondentenbüro der Frankfurter Allgemeine Zeitung wurde in den 1950er Jahren gegründet. Ernst Kobbert war der erste Korrespondent, zu dem 1963 Hans Herbert Götz hinzukam. In den 1970er Jahren arbeiteten Heinz Stadlmann (1976 bis 1986), der Götz nachfolgte, und vorübergehend Adalbert Weinstein im Büro der FAZ. Ab Ende der 1980er Jahren war das Büro mit drei Personen – Peter Hort (1986 bis 2004), Michael Stabenow (seit 1989) und vorübergehend Jan Reifenberg –, seit Mitte der 1990er Jahre mit vier Personen – Peter Hort, Michael Stabenow, Helmut Bünder (1999 bis 2004), Hajo Friedrich (seit 1994) – und seit 2000 durch das Hinzukommen von Horst Bacia (2000-2008) mit fünf Personen besetzt. Auch im Jahre 2008 arbeiten fünf Journalisten im Brüsseler Korrespondentenbüro der FAZ – Michael Stabenow, Hajo Friedrich, Henrik Kafsack (seit 2004), Werner Mussler (seit 2004), Nikolas Busse (seit 2008). 84 Das Korrespondentenbüro der Wochenzeitung DIE ZEIT wurde im Jahre 1980 gegründet und hatte zunächst einen Korrespondenten und ist seit 2000 mit zwei Korrespondenten besetzt. 85 Das Korrespondentenbüro des FOCUS wurde 1995 gegründet und war zunächst mit einem, ab 1996 mit zwei und ist seit 1997 mit drei Korrespondenten besetzt. 86 Das Korrespondentenbüro des stern wurde im Jahre 1999 gegründet und ist bis heute mit einem Korrespondenten besetzt. 87 Alle genannten Angaben gehen auf Telefonrecherchen bei den einzelnen Medienorganisationen zurück. 88 Der Begriff der Qualitäts- oder Prestigemedien bezieht sich auf die ihnen zugeschriebene Relevanz innerhalb des Mediensystems und für die Gesellschaft. Die Thematisierung und Kommentierung in Qualitätsmedien wird unabhängig von ihrer Nutzung in besonderer Weise von anderen Journalisten, von gesellschaftlichen Eliten und Teilen der Bevölkerung beobachtet, die zur aktiven Öffentlichkeit gerechnet werden (vgl. Jarren/Donges 2006: 169). Innerhalb des Mediensystems fungieren sie häufig als Leit- und Orientierungsmedien, die Themen für andere Medien setzen und somit einen IntermediaAgenda-Setting-Prozess auslösen können (vgl. Wilke 1999; Noelle-Neumann 1996: 555). Qualitätsmedien in diesem Sinne umfassen hier die überregionalen Qualitätszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung, die Wochenzeitung DIE ZEIT, die Nachrichtenmagazine FOCUS und SPIEGEL sowie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
5.1 Medienorganisationen
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rier. Der Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bediente zugleich auch die zum selben Medienkonzern gehörigen Regionalzeitungen Ostthüringer Zeitung (OTZ) und Westfalen-Post sowie neun weitere Regionalzeitungen, mit denen die WAZ-Mediengruppe ein Kooperationsabkommen geschlossen hat.89 Nur für einen kurzen Zeitraum waren private Fernsehsender in Brüssel vertreten.90 Gegenwärtig decken sie ihre EU-Berichterstattung durch die Verwendung von Nachrichtenagenturmaterial ab und entsenden Journalisten ausschließlich anlassbezogen z.B. zu EU-Gipfeln nach Brüssel oder in die Mitgliedsländer. Die Bild-Zeitung als das am weitesten verbreitete deutsche Boulevardmedium im Bereich der Presse sowie private Hörfunksender haben bis zum heutigen Zeitpunkt keine Korrespondenten in Brüssel. An der Ausdifferenzierung der Berufspositionen wird deutlich, dass es wie bei der Institutionalisierung von EU-/Europa-spezifischen Medienformaten in erster Linie die Qualitätsmedien sind, die ihre Büros sukzessive auf- und ausgebaut haben. Nur innerhalb der Korrespondentenbüros dieser Medien kann der Prozess der intramedialen Arbeitsteilung durch weitere Spezifizierung der Berufspositionen fortschreiten, indem diese einzelnen Ressorts wie Politik, Wirtschaft oder Sport zugeordnet werden. Zugleich zeigt die Grafik, dass die Phase der Ausdifferenzierung offensichtlich ihren Höhepunkt überschritten hat. Seit dem Jahr 2005 ist die Anzahl akkreditierter Journalisten insbesondere aus audiovisuellen Medien wieder rückläufig.
5.1.3 Zwischenbilanz: Medienorganisationen Die Befunde zur Europäisierung der Medienorganisationen zeigen lediglich für einen Medientypus eine deutliche Entwicklung. Während die Neugründung europäischer Medien und der horizontale Zusammenschluss nationaler Medien zu gemeinsamen Medienprojekten eher eine Ausnahme geblieben ist, haben sich bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam im Mai 1999 primär nationale Qualitätsmedien europäisiert. Nach diesem politischen Einschnitt folgten verstärkt regionale Tageszeitungen und temporär einige private Fernsehsender. Am Beispiel
89 Seit Februar 2007 unterhält die WAZ-Gruppe in Brüssel ein international besetztes Büro unter der Leitung von Kurt Pries. Vgl. Michael Hanfeld: WAZ. Brüssel ruft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2007, sowie Abschnitt 6.2.2. 90 Carsten Hädler arbeitete nach der Fusion von ProSieben und SAT.1 zur ProSiebenSat.1 Media AG von Mai 2000 bis Juli 2003 als Studioleiter des Europa-Studios Brüssel für die Sender SAT.1, Pro7, Kabel 1 und den Nachrichtenkanal N24. Danach wurde das Studio geschlossen, und er kehrte als leitender Redakteur und Reporter mit besonderen Aufgaben nach Berlin zurück.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
des europäischen Nachrichtenkanals euronews, dessen Aufbau von der Europäischen Union bezuschusst wurde (Machill 1997: 196),91 wie auch an der Vorreiterrolle der Qualitätsmedien wird deutlich, dass weniger eine Publikumsorientierung als ein politischer Wille in Verbindung mit der Bereitstellung entsprechender Ressourcen die Europäisierung der Medienorganisation befördert hat. Angesichts neuer Kommunikations- und Produktionstechnologien wie Satelliten- und Digitalfernsehen könnten die Beschränkungen traditioneller nationaler Massenmedien wegfallen. Obwohl eine Vielzahl von Medienunternehmen mittlerweile global operiert, sind ihre Produkte nach wie vor an den sprachlich und kulturell homogenen Publikumsmärkten ausgerichtet. Auch innerhalb des deutschen Publikumsmarkts scheint der alleinige EU- oder europäische Themenbezug für die Ausdifferenzierung eigener Spartenmedien wirtschaftlich nicht ausreichend attraktiv zu sein. So haben sich auf der Mediensystemebene bislang überwiegend nationale Medien europäisiert.
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen Eine weitere zentrale Dimension der Professionalisierung bildet die Institutionalisierung des Europa-Bezugs in der journalistischen Aus- und Weiterbildung. Wie die journalistischen Tätigkeitsprofile unterliegen auch die Kompetenzanforderungen an die auszubildenden Journalistengenerationen stetigen Veränderungen. Hinsichtlich der Ausbildungsinhalte stellt sich daher die Frage, inwieweit sich im Verlauf des politischen Wandels ein curricular abgesichertes Angebot mit einem neuen Typus journalistischer Kompetenz herausgebildet hat, der die europäische Dimension einschließt. Gerd G. Kopper beschreibt dieses Europa-spezifische Allgemein- und Handlungswissen als „europäische Kompetenz“, die seiner Meinung nach inzwischen nahezu für den gesamten Bereich des Journalismus erforderlich ist (Kopper 2001a: 46). Durch den freien, nicht berufsständisch kontrollierten Berufszugang sind die Ausbildungswege in den Journalismus vielfältig. In Deutschland werden Journalisten an Universitäten oder Fachhochschulen, in Journalistenschulen oder durch Redaktionsvolontariate bzw. in der Kombination von jeweils zwei dieser Elemente
91 Zudem sieht ein im Februar 2005 geschlossener Vertrag zwischen Europäischer Kommission und euronews die Ausstrahlung von EU-relevanten Beiträgen in den Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten der EU sowie in einigen Drittländern vor. Im Gegenzug wird euronews mit jährlich 5 Mio. Euro von der Europäischen Union unterstützt. Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). Daher ist der Sender nicht nur unter den Korrespondenten (vgl. 10:201; 898ff.) der Kritik ausgesetzt, nicht neutral zu senden, sondern die EU durch seine Beiträge in ein positives Licht zu rücken, vgl. beispielsweise den Monitor-Beitrag der ARD vom 27.04.2006.
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
123
auf ihren künftigen Beruf vorbereitet (Weischenberg 1990: 16). Der hohe Stellenwert der universitären Ausbildung ist auf die Professionalisierungsdebatten der 1970er Jahre und den damit verbundenen Auf- und Ausbaujournalistik- und kommunikationswissenschaftlicher Studiengänge zurückzuführen. So haben die meisten Journalisten heute einen akademischen Ausbildungshintergrund, der auf einem geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fachstudium oder auf einem journalistikoder kommunikationswissenschaftlichen Studium basiert (Weischenberg et al. 2006: 67ff.). Die Vermittlung „europäischer Kompetenzen“ wird daher exemplarisch anhand universitärer Ausbildungseinrichtungen untersucht.92 Berufliche Kompetenzen und insbesondere eine europäische Kompetenz beruhen auf spezifischen, in einer systematischen Ausbildung erworbenen Kenntnissen, Wertvorstellungen, Normen und Verhaltensstandards eines Berufs (Weischenberg 1998: 492). Innerhalb der Berufsausbildung manifestieren sich solche Kompetenzen in einem Curriculum, dem „offiziellen“ Lehrplan der jeweiligen Aus- oder Weiterbildungsinstitution. Das Curriculum der Ausbildungsinstitution, das als eine wissenschaftlich fundierte Strukturierung organisierten Lernens definiert, was als spezifische berufliche Kompetenz erachtet wird, ist ein veränderbarer Wissenskanon. Obgleich das Curriculum zunächst dauerhafte Schwerpunkte der Ausbildung definiert, wird es als Selektion von für den Beruf bedeutsamen Lerninhalten immer wieder an die jeweils aktuellen Berufsanforderungen angepasst und zeigt damit Veränderungen im jeweiligen Berufsfeld an. An Hochschulen werden curriculare Konzeptionen durch das in Vorlesungsverzeichnissen enthaltene Studienangebot mit seiner jeweils spezifischen Zusammenstellung von Vorlesungen, Seminaren und Übungen operationalisiert. Daher kann eine Curriculumsanalyse von Vorlesungsverzeichnissen Aufschluss über Europäisierungsentwicklungen der universitären Ausbildung geben.93
5.2.1 Die Europäisierung des Sach- und Fachwissens Aufgrund des insgesamt geringen Anteils von EU-Veranstaltungen und der ungleichgewichtigen Verteilung der Veranstaltungen ist es notwendig, in zwei Analyseschritten vorzugehen (vgl. 4.3.1). Der erste Analyseschritt subsumiert EU-Veranstaltungen unter das journalistische Sach- und Fachwissen und gibt einen
92 Telefonrecherchen ergaben, dass es an Journalistenschulen und im Rahmen einiger Redaktionsvolontariate mittlerweile üblich ist, eine Bildungsreise nach Brüssel zu unternehmen. 93 Die Vorlesungsverzeichnisse sind lediglich ein Indikator für eine strukturell beschreibbare Entwicklung. Sie geben keine Auskunft darüber, wie intensiv die Vorlesungs-, Seminar- und Übungsangebote von Journalistik-Studierenden besucht werden und ob sie dabei die anvisierten Kompetenzen tatsächlich erwerben.
124
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Eindruck von dessen Stellenwert und Entwicklung innerhalb des Gesamtcurriculums wider. Erst der zweite Analyseschritt ermöglicht durch eine differenzierte Betrachtung, das Gewicht und die Entwicklung von EU-Veranstaltungen innerhalb des Sach- und Fachwissens herauszuarbeiten. Für die folgende Darstellung des ersten Analyseschritts wurde die Gesamtzahl der Lehrveranstaltungen vom Wintersemester 1993/1994 bis zum Sommersemester 2006 erhoben (= N der jeweiligen Universitäten) und den Kategorien A bis G zugeordnet. Kategorie A umfasst das journalistische Handlungswissen. Die Kategorien B, C und D wurden zu journalistischem Sach- und Fachwissen sowie die Kategorien F und G zu wissenschaftlichem Hintergrund- und Orientierungswissen zusammengefasst. Kategorie E beschreibt das journalistische Professionswissen. Schließlich wurde der prozentuale Anteil der vier unterschiedlichen Wissensgebiete am jeweiligen Gesamtcurriculum ausgewertet.
Abbildung 2: Anteil
des Sach- und Fachwissens am Gesamtcurriculum
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
125
Der Anteil an journalistischem Sach- und thematischem Fachwissen innerhalb des Gesamtcurriculums liegt mit Ausnahme der Universität München zwischen 23% und 37%, was auf einen recht ähnlichen Stellenwert in den untersuchten Studiengängen verweist. In München ist der Journalistikstudiengang sehr eng mit der kommunikationswissenschaftlichen Ausbildung verbunden, was den sehr hohen Anteil der Vermittlung von journalistischem Hintergrund- und Orientierungswissen erklärt. Für Leipzig hingegen ist auffällig, dass im universitären Curriculum sehr viel Wert auf die handwerkliche Ausbildung der Journalisten gelegt wird. Die Vermittlung von Professionswissen ist ein insgesamt vergleichsweise geringer, aber deutlich sichtbarer Teil der journalistischen Ausbildung, der zwischen 5% und 11% variiert.
Abbildung 3: Entwicklung
des Sach- und Fachwissens im Zeitverlauf
Die Entwicklung der prozentualen Anteile des Fach- und Sachwissens am Gesamtcurriculum zeigt im Zeitverlauf, dass sich die Struktur der Ausbildungscurri-
126
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
cula an den jeweiligen Universitäten nicht nur sehr ähnelt, sondern mit Ausnahme der Universität Eichstätt auch über immerhin dreizehn Jahre hinweg relativ stabil geblieben ist. Inwieweit die verschiedenen Wissensbereiche – und hier unter besonderer Berücksichtigung von EU-Veranstaltungen – innerhalb des Sach- und Fachwissens zwischen den Universitäten variieren und ob hier ein Europäisierungstrend im Sinne einer Anpassung an veränderte Berufsanforderungen zu erkennen ist, zeigen die beiden folgenden Darstellungen. Bezugspunkt dieser Auswertungen sind nun alle Veranstaltungen (Typ B, C und D), die zuvor der Kategorie Sach- und Fachwissen zugeordnet wurden. Die Grafik zeigt für jede Hochschule den prozentualen Anteil von EU-Veranstaltungen innerhalb der drei Sach- und Fachgebiete.
Abbildung 4: Anteil
von Europa-Themen am Sach- und Fachwissen
Insgesamt fällt auf, dass die Anteile von Europa-bezogenen Veranstaltungen zwischen den Universitäten stark variieren. Sie liegen zwischen 0% und 16%. Nicht überraschend ist, dass die Universität Dortmund durch die enge Verbindung zum
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
127
Erich-Brost-Institut für Journalismus in Europa (siehe genauere Erläuterungen unten) mit 16% den höchsten Anteil verzeichnet. An der Universität München sowie an der Universität Hamburg ist mit 7% bzw. 5% der Anteil von EU-Themen innerhalb der Sach- und Fachthemen eher gering. Bemerkenswert ist, dass die europäische Dimension der Ausbildung an den Universitäten Eichstätt und Leipzig überhaupt keine Rolle spielt.
Abbildung 5: Europäisierung
des Sach- und Fachwissens
Die prozentualen Anteile von Europa-Themen innerhalb des Sach- und Fachwissens im Zeitverlauf veranschaulichen, dass sie zwar im journalistischen Ausbildungscurriculum auftauchen, sich aber nicht in der Form der erwarteten, kontinuierlichen Europäisierungsentwicklung niederschlagen. Unter den beiden journalistischen Vollstudiengängen weist zwar die Universität Dortmund einen vergleichsweise hohen Anteil auf; die Entwicklungen an den übrigen Universitäten scheinen jedoch
128
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
eher zufällig und sehr fluktuierend. Der sprunghafte Anstieg Europa-bezogener Veranstaltungen in Hamburg ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass im Jahre 2001 die Arbeitsstelle European Media and Public Spheres (EuroMaPS)94 eingerichtet wurde, deren Mitarbeiter Seminare zu laufenden Forschungen und aktuellen Forschungsergebnissen angeboten haben. Ähnliches gilt bei der Universität München, bei der davon ausgegangen werden darf, dass durch die Integration der journalistischen in die kommunikationswissenschaftliche Ausbildung die Zunahme von EU-Veranstaltungen vor allem auf den wissenschaftlichen Forschungstrend zum Thema „Europäische Öffentlichkeit“ zurückgeht. Theorie- oder Projektseminare, die sich mit der Übertragung klassischer Öffentlichkeitskonzepte auf den Kommunikationsraum Europa oder mit Inhaltsanalysen von EU-Berichterstattung beschäftigen, stellen die thematische Ausbildungsgrundlage dar. An der Universität Leipzig sind mit dem Sommersemester 2004 erstmals Europa-Seminare zu verzeichnen, an der Universität Eichstätt ein Jahr später erstmals in größerem Umfang. Die Darstellungen verdeutlichen, dass das Europa-Thema auf universitärer Ebene nur in einem sehr geringen Maße Eingang in die Curricula gefunden hat. In den Grundzügen erweisen sich die Curricula als sehr stabil, was man im Vergleich der Universitäten sowie an der Entwicklung des Fach- und Sachwissens sieht. Innerhalb des journalistischen Fach- und Sachwissens sind leichte Europäisierungstendenzen sichtbar, die bis Mitte der 1990er Jahre an zwei der untersuchten Universitäten (Dortmund, München) schon einmal vorhanden waren und sich nach einem zwischenzeitlichen Rückgang ab dem Wintersemester 2000/2001 wieder verstärkt in Lehrveranstaltungen niederschlagen. Allerdings offenbart ein näherer Blick auf die Inhalte der Veranstaltungen, dass das Europa-Thema als kommunikationswissenschaftliches Forschungsthema in das Ausbildungscurriculum einfließt und somit nicht als journalistisches Spezialisierungsgebiet behandelt wird. Vermutlich wird eine thematische Spezialisierung auf die EU und Europa, so sie denn von Journalistikstudierenden angestrebt wird, über ihre ergänzenden Nebenfächer wie Politikwissenschaften (mit Seminaren zum EU-Institutionensystem und zur europäischen Politik) oder andere sozialwissenschaftliche Fächer (mit Seminaren zu europäischer Integration, europäischer Identität etc.) abgedeckt. Eine Form der festen Institutionalisierung des Europa-Bezugs wird lediglich am Studienprogramm des Instituts für Journalistik an der Universität Dortmund deutlich. Hier wurde Ende der 1980er Jahre zunächst durch informelle Aktivitäten ein „Lehr- und Forschungsschwerpunkt Europa“ eingerichtet, der sich mit der Gründung des Erich-Brost-Instituts für Journalismus in Europa im Jahre 1991 wei-
94 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
129
terentwickelte und etablierte. Der Schwerpunkt Europa wurde zunächst als kooperative Unternehmung beider Institute geführt und ist seit einer Studienreform Teilbereich eines ständigen Lehrgebiets „Internationaler und spezieller Journalismus“. Dabei wurde der Schwerpunkt durch eine Stiftungsprofessur für „Internationalen Journalismus unter besonderer Berücksichtigung Europas“ von 1999 bis 2004 abgesichert, die seitdem aus dem regulären Hochschuletat für das Fach Journalistik sichergestellt wird (vgl. Kopper 2001b: 293).95 Darüber hinaus ist es Studierenden im Rahmen der Erasmus-Programme der EU und des EJTA-Netzwerkes (vgl. dazu genauer 5.2.2), dem über 70 Journalistenschulen in Ost- und Westeuropa angehören, möglich, ein bis zwei Semester an einer europäischen Partnerschule zu studieren, an gemeinsamen Medienprojekten teilzunehmen oder ein journalistisches Praktikum im Ausland zu absolvieren. Innerhalb des Untersuchungszeitraums war an der Universität Dortmund zwar keine zunehmende Europäisierung des Ausbildungscurriculums festzustellen, aber der Europa-bezogene Anteil an Veranstaltungen lag im Gesamtniveau deutlich höher als an anderen Universitäten.96 Am Beispiel der Universität Dortmund deuten sich somit alternative Wege der Europäisierung der journalistischen Ausbildung an. Sie verlaufen nicht über die Institutionalisierung des Europa-Bezugs im Curriculum der allgemeinen journalistischen Ausbildung, sondern werden, wie zum Teil schon unter der Beteiligung der Universität Dortmund, durch transnationale Kooperationen und gemeinsame Ausbildungsprojekte von nationalen Ausbildungseinrichtungen, europäischen Spezialausbildungen mit eher informellem, netzwerkartigem Charakter sowie durch die Ausdifferenzierung von speziellen Ausbildungseinrichtungen auf europäischer Ebene sichtbar.
5.2.2 Europäische Aus- und Weiterbildungsinstitutionen Der Beginn der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung einer europäischen Ausbildung setzte Ende der 1980er Jahre ein. Vorläuferprogramme einer beruflichen Bildung mit einem Europa-Bezug legten den inhaltlichen Schwerpunkt auf
95 Zur Geschichte und Struktur des Kooperationsmodells zwischen dem Erich-Brost-Institut für Journalismus in Europa und dem Dortmunder Modell der universitären Journalistenausbildung vgl. Bohrmann (2001). 96 Ähnliche Europa-spezifische Ausbildungszweige an Hochschulen gab es zwischenzeitlich am Centre de formation des journalistes (CJF) in Paris, am Centre universitaire d’enseignement du journalisme (CUEJ) in Straßburg sowie am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien; vgl. Fröhlich/Holtz-Bacha (1997: 176f.). Allerdings ergab eine aktuelle Recherche, dass die Kurse als spezialisierte Ausbildungsangebote wieder eingestellt oder in die aktuellen Studiengänge integriert wurden.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Lerneffekte durch den internationalen Austausch von Journalisten innerhalb Europas, während systematische Konzepte zur Aus- und Weiterbildung von Journalisten damals noch fehlten (Kopper 2001a: 43). Erst in der folgenden Zeit setzte sich ein an allen journalistischen Aus- und Weiterbildungseinrichtungen in Europa abzeichnender Trend zu transnationalen Kooperationen und zur Konzeption gemeinsamer Ausbildungsmodelle und Projekte mit länderübergreifenden Perspektiven durch. Er umfasst Aus- und Weiterbildungsmodelle, die sich auf die akademische und nichtakademische Ausbildung, auf die theoretische und praxisorientierte Ausbildung, auf Vollzeitausbildung und Kurzzeitpraktika wie auch auf eine Ausbildungin allen Mediensparten beziehen.97 Zur Intensivierung transnationaler Kooperationen zwischen journalistischen Bildungseinrichtungen verschiedener europäischer Länder wurde 1990 die European Journalism Training Association (EJTA) gegründet, die ihren Sitz ebenfalls in Maastricht hat. Dieser Zusammenschluss ist ein auf europäischer Ebene institutionalisiertes Netzwerk von nationalen Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen mit folgender Zielsetzung: „The most important aim of the Association is to stimulate European co-operation in journalism education and mid career training between non-profit training centres, and to develop a professional approach towards journalism training.“98
Der Vorlauf ihrer Gründung geht auf die Unterzeichnung der Deklaration von Brüssel am 23. April 1987 zurück, mit der Vertreter aus 16 europäischen Ausbildungsinstitutionen vereinbarten, regelmäßig zusammenzuarbeiten, um so ein europäisches Bewusstsein bei den Auszubildenden und den Ausbildern zu fördern. Die verschiedenen Unterzeichner formierten gleichzeitig das „Comité de liaison des centres européens de formation au journalisme / Liaison Committee of the European Training Centres for Journalism“, eine transnationale Institution, die weiteren europäischen Ausbildungseinrichtungen zur Kooperation offen stand. Das Kommittee wurde im Laufe der Zeit so umgestaltet und erweitert, dass daraus 1990 die EJTA entstand. Sie ist eine Körperschaft nach niederländischem Recht, die als Nonprofit-Organisation neben akademischen und praxisorientierten Ausbildungseinrichtungen auch Fortbil-
97 Müller (1999) hat mit ihrer Arbeit eine Bestandsaufnahme europäischer Aus- und Weiterbildungseinrichtungen sowie unterschiedlicher Ausbildungskonzepte und -modelle bis Mitte der 1990er Jahre vorgelegt. Aufgrund ihrer Befragungsergebnisse von Vertretern der verschiedenen Einrichtungen prognostizierte sie den Ausbau der Einrichtungen und die Intensivierung der bestehenden Programme. Eine aktualisierte Bestandsaufnahme und systematische Evaluation dieser Entwicklung stehen noch aus. 98 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
131
dungseinrichtungen unter ihrem Dach vereint. In der jährlichen Generalversammlung der Mitgliedseinrichtungen wird über geplante Projekte abgestimmt sowie ein Exekutivkomitee gewählt, das diese Aktivitäten innerhalb eines Zweijahreszeitraums nach außen vertritt und die jeweiligen Projektmanager bestimmt. Die Verwaltung der EJTA und die Kontrolle des Exekutivkomitees liegen mittlerweile in der Hand des European Journalism Centre (EJC, s. unten). Die Aktivitäten der EJTA werden durch die Beiträge ihrer Mitglieder sowie durch die Einwerbung öffentlicher Fördergelder von internationalen Organisationen, insbesondere im Rahmen der EU-Bildungsprogramme wie Socrates, Leonardo da Vinci, Tempus etc. finanziert. Zur besseren Organisation und Umsetzung der angestrebten Aus- und Fortbildungsprogramme können innerhalb der EJTA kleinere Netzwerke und regionale Gruppen von bis zu 10 Institutionen gebildet werden. Sie sollen helfen, die internationale Zusammenarbeit in der Aus- und Weiterbildung, die Herstellung internationaler Kontakte, die Erarbeitung internationaler Lehrangebote, die Förderung des Austauschs und die grenzüberschreitende Mobilität von Studierenden und Lehrenden sowie die Weiterentwicklung von Lehrplänen und die Einrichtung von Intensivkursen effektiver zu gestalten. Darüber hinaus bilden die Aus- und Weiterbildungseinrichtungen jeweils eigene Sektionen. Das Euroreporter-Programm, in dessen Rahmen hunderte von jungen Journalisten zahlreiche europäische Radio-, TV- und Zeitungsprojekte initiiert haben, war von 1988 bis 2000 das bekannteste Ausbildungsprogramm, das von der EJTA koordiniert und aus Mitteln der EU, nationaler Regierungen sowie privater nationaler und multinationaler Unternehmen finanziert wurde.99 Hierbei sollte durch das gemeinsame Arbeiten in einer multinationalen Redaktion und entsprechend besetzten Recherchegruppen Sprachkompetenz und interkulturelle Teamfähigkeit geschult sowie den Teilnehmern ein Einblick in unterschiedliche Mediensysteme und journalistische Arbeitsweisen vermittelt werden. Von 2004 bis 2006 zielte das im Rahmen des „Leonardo da Vinci“-Programms von der EU geförderte Pilotprojekt „Trimedial working in European Local Journalism“100 auf die gemeinsame Entwicklung eines Weiterbildungscurriculums für Journalisten, die auf lokaler und regionaler Ebene für Presse, Hörfunk oder Fernsehen arbeiten. Das Projekt trägt der zuneh-
99 Zur genaueren Darstellung und Evaluation des Euroreporter-Programms vgl. Hadamik (2001) und Nowak (2001). Zu Erfahrungen und praktischen Hemmnissen eines grenzüberschreitenden Journalismus, die am Beispiel des Euroreporter-Programms illustriert werden, sowie zu daraus abgeleiteten Rückschlüssen für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit vgl. Blöbaum (1999). 100 Zu einer Bestandsaufnahme der tri-medialen Arbeitssituation in verschiedenen europäischen Ländern sowie zum fertigen Schulungskonzept und Curriculumshandbuch vgl. Paukens/Uebbing (2006) und Paukens (2006) sowie (Zugriff: 17.03.2010).
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
menden Konvergenzentwicklung im Medienbereich Rechnung und soll angestellte wie freie Journalisten in ganz Europa im Umgang mit den durch die Digitalisierung konvergierenden Medienformaten Text, Audio und Video weiterbilden. Zu den aktuellen internationalen Ausbildungs- und Austauschprogrammen mit einem spezifisch europäischen Fokus gehört die Ausbildung zum „Erasmus Masters Mundus in Journalism and Media“. Das Programm „Journalism and Media within Globalization: The European Perspective“ wird unter deutscher Beteiligung der Universität Hamburg gemeinsam mit vier weiteren europäischen Ausbildungseinrichtungen organisiert. Durch das Studium in drei verschiedenen europäischen Ländern soll der Horizont von jungen Journalisten um die internationale Dimension erweitert werden. Ein weiteres Beispiel ist das zweisemestrige Kurzausbildungsprogamm „Europe in the World“, das von den Universitäten Utrecht und Århus organisiert wird. Sein inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen in Europa, der über praxisorientiertes und interaktives Lernen vermittelt wird. Der von der Utrecht School of Journalism organisierte internationale Kurs „European Culture & European Journalism“ richtet sich an fortgeschrittene Studenten und junge Journalisten, die einerseits theoretische Grundlagen über die unterschiedlichen journalistischen Kulturen Europas kennen lernen und sich andererseits in der praktischen Umsetzung der in verschiedenen Ländern gemachten journalistischen Erfahrungen in Form eines gemeinsamen Medienprojekts erproben sollen.101 Die von den Mitgliedern der EJTA organisierten Aus- und Weiterbildungsprogramme sind in der Regel kürzer als ein grundlegendes journalistisches Erststudium. Sie richten sich an junge, aber schon fortgeschrittene Journalisten in der Ausbildung innerhalb und außerhalb Europas. Die EJTA versteht sich schließlich auch als Interessenvertreterin ihrer Mitglieder in ihren internationalen Partnerinstitutionen wie der EU, dem Europa-Rat oder der UNESCO und gegenüber journalistischen Berufsverbänden und Medienorganisationen. Um auf aktuelle Probleme in der Ausbildung und im Berufsfeld aufmerksam zu machen, gibt sie Studien zu Ausbildungsfragen mit europäischer Reichweite in Auftrag und organisiert als Foren des internationalen Erfahrungsaustauschs Konferenzen und Tagungen zu diesen Themen.102
101 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 102 Mitte der 1990er Jahre entstanden mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Kommission eine Reihe von Untersuchungen und Projekte: Rights and obligations of journalists in Europe (1994); New technologies in European journalism training (1995); Curriculum development in European journalism (1997); Local and Regional Journalism (1998); The Tartu Declaration (2006); Competences project (2008/2009). Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
133
Auch wenn die Mitgliederzahl vom Stand Mitte der 1990er Jahre bis heute zurückgegangen ist, hat sich die EJTA als europäisches Netzwerk in der journalistischen Ausbildung etabliert.103 Die auf dem Engagement ihrer nationalen Mitglieder basierenden Aktivitäten und Projekte dienen als Katalysator für eine europäisierte Aus- und Weiterbildung, was eine Europa-weite Standardisierung von allgemeinen journalistischen Ausbildungsinhalten bedeutet und angehenden und erfahrenen Journalisten die Möglichkeit bietet, sich inhaltlich auf EU-/EuropaThemen zu spezialisieren. Eine genuin europäische Aus- und Weiterbildungsinstitution ist das European Journalism Centre (EJC), das 1992 gegründet wurde, seinen Sitz ebenfalls in Maastricht und auch ein Büro in Brüssel hat. Das EJC ist eine international orientierte niederländische Stiftung, deren Direktorium sich aus Vertretern von internationalen Unternehmen, internationalen Organisationen und Ausbildern im Journalismus zusammensetzt. Ursprünglich wurde es auf Initiative der EJTA und mit starker finanzieller und ideeller Unterstützung durch die Europäische Kommission gegründet. Letztere befürwortete die Einrichtung einer zentralen europäischen Fortbildungsinstitution, um eine kontinuierliche, auf die EU und Europa spezialisierte Journalistenausbildung sicherzustellen. Mittlerweile ist das EJC eine unabhängige Einrichtung, die seit 1997 Mitglied der EJTA ist und Weiterbildungsprogramme in ganz Europa anbietet. Ihres Fortbildungsangebots orientiert sich an folgenden Zielvorstellungen: „The main goals of the EJC are to: • promote high quality journalism through professional training, particularly in a European context; • provide a forum for discussion, debate, and exchanges of views and experience for journalists, editors, media executives and other media professionals; • support, through training and networking, high standards of journalism in developing countries; • promote further journalism training that answers the needs of media professionals and the media industry; • monitor and reflect, via research, surveys and publications, on the present and future challenges facing the media;
103 Während Müller (1999: 36) angibt, dass 1996 zur jährlichen Generalversammlung der EJTA in Paris 66 Aus- und Fortbildungseinrichtungen als assoziierte oder Vollmitglieder gezählt wurden, ist den Internetseiten der EJTA zu entnehmen: „At the annual general meeting of Århus, May 2003, the association counts 51 members from 23 countries and is in close touch with some 20 other European institutes“. Die Anzahl der im Jahre 2006 aufgeführten Mitglieder umfasst 47 Aus- und Fortbildungseinrichtungen, 48 Mitglieder im Jahre 2008 und 53 Mitglieder im Jahre 2010, vgl (Zugriff: 17.03.2010).
134
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
• create and support networks among media professionals within Europe and with other parts of the world.”104
Was hier in Bezug auf Europa sehr allgemein formuliert wird, findet seine konkrete Umsetzung in den vom EJC in Zusammenarbeit mit Fachexperten und journalistischen Ausbildern durchgeführten Seminaren und Workshops. Die Seminarinhalte beziehen sich ausschließlich auf EU-Themen und Hintergrundwissen zu den Mechanismen und Auswirkungen des Europäischen Integrationsprozesses. So hat das EJC beispielsweise Seminare aus aktuellen Anlässen wie der Osterweiterung, zur Einführung des Euros, zur Ausarbeitung der Verfassung oder zu allgemeinen Politikfeldern wie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU oder der Europäischen Nachbarschaftspolitik angeboten. Die Seminare werden in der Regel in enger Kooperation mit Vertretern der politischen Institutionen, vor allem aus den entsprechenden Generaldirektionen der EU-Kommission organisiert. Dabei erhalten die Journalisten von den jeweiligen Themenexperten Hintergrundinformationen; sie knüpfen Kontakte zu den Vertretern der jeweiligen Direktionen oder reisen, wie im Fall der Osterweiterung, in die neuen Mitgliedsstaaten. Die Seminare und Workshops dauern in der Regel nicht länger als vier Tage und finden in Brüssel oder themenabhängig in anderen europäischen Städten statt. Die für die Seminare anfallenden Teilnahmegebühren und Reisekosten werden entweder individuell getragen oder von Projektpartnern finanziert. Das EJC zielt mit seinen Seminarangeboten vor allem auf die Vertiefung der fachlichen Expertise von Journalisten. Als Fortbildungseinrichtung richtet es sich an alle Journalisten, unabhängig von Alter, beruflicher Stellung als freie oder festangestellte Journalisten oder nationaler Herkunft. Um aktuelle Seminare länderübergreifend transparent und interessierten Journalisten per Online-Einschreibung eine ortsunabhängige Anmeldung möglich zu machen, hat das EJC eine eigene Website eingerichtet.105 Eine weitere Website, die das EJC im Auftrag der Generaldirektion Kommunikation der Europäischen Kommission entwickelt hat, ist die Internetseite EU for journalists – Brussels in brief.106 Sie soll Journalisten ortsunabhängig bei der EUBerichterstattung unterstützen.107 Zu diesem Zweck beinhaltet die Seite Basisin-
104 Zur Selbstdarstellung des EJC vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 105 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 106 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 107 Darüber hinaus ist das EJC auch Kooperationspartner der von der Europäischen Kommission geförderten Internetseite „journalists@your service“ (vgl. 5.3.2). Während „EU4journalists“ von Journalisten in Brüssel und in den nationalen Redaktionen genutzt werden kann, richtet sich „journalists@your service“ überwiegend an die Journalisten in Brüssel.
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
135
formationen zur EU, präsentiert Informationen zu tagesaktuellen EU-Themen, stellt relevante Kontaktadressen bereit und verlinkt zu weiteren Quellen für die Berichterstattung. Sie besteht aus folgenden Elementen: • EU-Dossiers zu verschiedenen Themen entsprechend den EU-Politikfeldern von „Agriculture“ bis „Transport“ • EU-Basics mit den grundlegenden Informationen über das Institutionensystem, Pressestellen und Informationsquellen • Ein Contact Guide verweist auf die Pressesprecher und Ansprechpartner in den verschiedenen EU-Institutionen, inklusive der autonomen Einrichtungen wie den EUAgenturen und beratenden Organen • Interaktive Elemente wie ein Forum oder die Möglichkeit, sich in eine Mailingliste einzutragen, dienen dem persönlichen Informationsaustausch und der individuellen Information • Der Rechercheeinstieg wird mit tagesaktuellen Informationen unter folgenden Rubriken erleichtert: EU in the news führt zu EU-Nachrichten in verschiedenen Tageszeitungen; Recommended Reading führt zu Veröffentlichungen von Medien, Thinktanks oder EU-Institutionen; This week in Brussels und Featured Video zeigen kurze, von der EU oder dem EJC produzierte Video-Informationsclips.
Die Navigation durch die Struktur der Seiten sowie weite Teile der nicht tagesaktuellen Hintergrundinformationen werden nicht nur in den drei Arbeitssprachen der EU angeboten, sondern können auch in den seit 2007 in der EU existierenden 23 Amtssprachen abgerufen werden. Wichtig ist der unter „legal notice“ nachlesbare Hinweis, dass die Website zwar im Auftrag der Europäischen Kommission erstellt wurde, aber ausschließlich das EJC für die Inhalte der Seiten verantwortlich ist. So versteht sich die Seite als ein journalistisches und nicht als ein interessengeleitetes Informationsangebot für Journalisten. Gleiches gilt für die hauseigenen Publikationen, die das EJC den Journalisten in Seminaren zur Verfügung stellt.108 Ebenso wie die EJTA hat sich das EJC als internationale Weiterbildungseinrichtung etabliert und seine Aktivitäten durch die finanzielle Unterstützung aus verschiedenen Quellen kontinuierlich ausgebaut. Im Unterschied zu den von den Mitgliedern der EJTA entwickelten Ausbildungsprogrammen zielen die Weiterbildungs- und Informationsangebote des European Journalism Center speziell auf eine EU-Berichterstattung (Egli von Matt 2007; Schäfer 2005).
108 Beispiele für EJC-eigene Veröffentlichungen: Gareth Harding: Reporting the EU from outside Brussels. Information sources and tools for regional journalists (April 2003); Vicent Partal (with Jaume Cabaní and Martí Crespo): Going Live and Online. How to use the internet to connect regional media and the EU (April 2003); Gary Quinn (with Brian Trench and John O’Sullivan): Training European Journalists Online. A survey of distance learning tools and practice (April 2003).
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
5.2.3 Zwischenbilanz: Aus- und Weiterbildungsorganisationen Die Befunde zur Europäisierung der journalistischen Ausbildung weisen zwei Prozesse auf, die abhängig vom initiativen Akteur mit unterschiedlicher Intensität in gegensätzliche Richtungen verlaufen. Die Bewertung der jeweiligen Verläufe ist abhängig von der Ausbildungszielvorstellung und dem Stellenwert der „europäischen Kompetenz“ in der journalistischen Ausbildung. Soll die allgemeine journalistische Ausbildung um EU-Wissen und europäische Gesellschaftsbezüge erweitert werden, scheint die Professionalisierung vergleichsweise unterentwickelt. Anhand der Curriculumsanalyse der ausgewählten deutschen Universitäten wurde deutlich, dass im Untersuchungszeitraum eine Europäisierung des journalistischen Wissens im Sinne einer bottom-up-Entwicklung innerhalb existierender Organisationen sichtbar, aber nicht besonders ausgeprägt ist. Stattdessen findet eine Europäisierung der journalistischen Ausbildung verstärkt im Rahmen studiumbegleitender europäischer Austauschprogramme oder projektbezogener Kooperationen zwischen Universitäten verschiedener Länder statt. Zur Entwicklung genuin europäisch ausgerichteter Studiengänge und Ausbildungsprogramme ist die EJTA als europäische Dachorganisation zahlreicher Aus- und Weiterbildungseinrichtungen hilfreich. In diesem Zusammenhang tritt die Europäische Union insofern als „Professionalisierungsagent“ auf, als sie mit ihren Fördergeldern viele von der EJTA initiierte und koordinierte Projekte an nationalen Ausbildungseinrichtungen ermöglicht. Die EU hatte zudem einen wesentlichen Anteil an der Gründung des EJC, der bislang einzigen, genuin europäischen Ausbildungsinstitution, die Journalisten in Brüssel und Maastricht sowie Journalisten in ihren jeweiligen Mitgliedsländern schult. Wird die EU-/Europa-Dimension als ein journalistisches Spezialisierungsfeld aufgefasst, ist die Entwicklung einer darauf zugeschnittenen europäischen Ausbildungsinfrastruktur bereits weit vorangeschritten. Im Sinne einer top-down-Entwicklung wird die Europäisierung journalistischen Berufswissens durch die Etablierung von EJTA und EJC auf europäischer Ebene maßgeblich vorangetrieben. Dass die Europäisierung der Ausbildung von oben dominiert und primär durch eine horizontale Vernetzung nationaler Ausbildungsinstitutionen vorangetrieben wird, kann auf die unterschiedlichen Interessen der Akteure zurückgeführt werden. Fröhlich/Holtz-Bacha (2003, 1997, 1993) zeigen in ländervergleichenden Studien, dass innerhalb der in Westeuropa existierenden, sehr unterschiedlichen journalistischen Ausbildungstraditionen trotz Europa-weit ähnlicher wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen keine Angleichung der Ausbildungsmodelle hin zu einer
5.2 Aus- und Weiterbildungsorganisationen
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Akademisierung erkennbar ist.109 Gemeinsam ist ihnen jedoch das Bestreben, innerhalb der jeweiligen landesspezifischen Ausbildungsstruktur die Ausbildung zu systematisieren, zu formalisieren und dort, wo sie in der Hand von Medienbetrieben liegt, einheitliche Ausbildungsvereinbarungen zu treffen (Fröhlich/Holtz-Bacha 1997: 179). Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, dass unabhängig vom jeweils vorherrschenden Ausbildungsmodell eine bottom-up-Entwicklung auch in anderen europäischen Ländern ähnlich gering ausfällt wie in Deutschland. Da Journalisten durch die Sprachgebundenheit ihrer Arbeit primär für ihren Sprachraum und in der landestypischen Journalismustradition ausgebildet werden, ergibt sich für nationale Ausbildungsinstitutionen keine unmittelbare Notwendigkeit, aus eigenem Antrieb eine Europäisierung ihrer Curricula zu fördern. Wenngleich Fremdsprachenkenntnisse mittlerweile eine bedeutende Rolle in der Ausbildung spielen, stellt es eher noch eine Ausnahme dar, dass sie dazu befähigen, auch in einer Fremdsprache journalistisch zu arbeiten. Sieht man von einer allgemein bildenden Zielsetzung ab, gilt gleiches für die geringe Praxisrelevanz von Kenntnissen über die Funktionsweisen anderer europäischer Mediensysteme, professioneller Selbstbilder und nationaler Journalismuskulturen. In welchem Umfang ein EU-spezifisches Sachwissen zu den Standards der journalistischen Ausbildung gehört, hängt vermutlich vom jeweiligen Ausbildungsmodell und der damit verbundenen Theorie- oder Praxisorientierung ab. Je praxisorientierter die Ausbildung ist, desto landesspezifischer und vergleichsweise weniger europäisiert wird das Curriculum ausfallen. Maßgeblich wäre in solchen Ländern stattdessen der politische Stellenwert der EU innerhalb des Landes. Ist die Ausbildung hingegen weniger von den unmittelbaren Bedürfnissen des nationalen Arbeits- und Medienmarkts, sondern von akademischen Perspektiven geprägt, ist eine stärkere Verankerung der EU und einer europäischen Gesellschaftsdimension im Ausbildungscurriculum wahrscheinlicher.110
109 Fröhlich/Holtz-Bacha (1997) haben einen vergleichenden Überblick über verschiedene nationale Systeme der Journalistenausbildung in vierzehn Ländern Europas zusammengestellt und nach verschiedenen Ausbildungstypen systematisiert: Ausbildungstyp A umfasst Länder mit einer starken Betonung der universitären Journalistenausbildung. Dazu gehören Finnland, Schweden, Belgien und Spanien. Ausbildungstyp B sind Länder mit Betonung von Journalistenschulen, die in Verbindung mit Universitäten stehen. Dazu gehören Italien, die Niederlande, Norwegen und Dänemark. Zum Ausbildungstyp C als Ländergruppe mit Mischtypen von Universitäten und Journalistenschulen gehören Frankreich, Irland und Portugal. Den Ausbildungstyp D bilden Länder mit Betonung der praktischen Journalistenausbildung als „training-on-the-job“. Dazu gehören Großbritannien und Österreich. Deutschland und die Schweiz bilden – im Unterschied zur Vierertypologie von Kopper (1993) – einen fünften Ausbildungstyp, da für beide Länder die gleichberechtigte Vielfalt von Ausbildungsangeboten, bestehend aus Hochschulen, Journalistenschulen und Volontariaten in Medienbetrieben, charakteristisch ist; vgl. Fröhlich/Holtz-Bacha (1997: 154, 170). 110 Eine empirische Überprüfung dieser Überlegungen ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und bleibt weiterer Forschung vorbehalten.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Die EU hat ein doppeltes politisches Eigeninteresse, die Europäisierung der Ausbildung zu fördern. Zum einen dienen europäische Bildungseinrichtungen und die horizontale Vernetzung von nationalen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen einem zunehmenden internationalen Austausch und verstärkter internationaler Kooperation. Dies schafft Grundlagen für eine berufliche Mobilität von Journalisten innerhalb Europas sowie für einen tieferen Einblick und fundierteres Wissen über journalistische Kulturen in anderen Mitgliedsstaaten. Dies ist vor dem Hintergrund der in Artikel 39 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft festgeschriebenen Arbeitnehmerfreizügigkeit, also einer unionsweiten freien Wahlmöglichkeit des Arbeitsplatzes sowie einer europäischen Sozialintegration von Bedeutung. Zum anderen hat die EU ein Interesse am Auf- und Ausbau konkreter Bildungsmaßnahmen, die der unmittelbaren Verbreitung von Sachkenntnissen über institutionelle Zusammenhänge und Spezifika der EU-Politik dienen. Da Intransparenz, Bürgerferne und mangelndes Wissen gemeinhin als zentrale Ursachen für negative Einstellungen gegenüber der EU gelten, ist eine EU-spezifische Ausbildung von Multiplikatoren wie Journalisten besonders folgenreich und mit der Hoffnung auf positive öffentliche Wirkungen verknüpft. So resultiert zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus der Professionalisierungsträgheit der nationalen Bildungsinstitutionen bei gleichzeitigen Förderaktivitäten der EU eine spezialisierte transnationale Ausbildungsinfrastruktur, die dementsprechend jenseits einer allgemeinen Europäisierung nationaler Bildungsstrukturen gelagert ist.
5.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke Eine dritte Dimension der Professionalisierung des EU-Journalismus auf der Organisationsebene stellt die Institutionalisierung des Europa-Bezugs innerhalb journalistischer Berufsorganisationen und Netzwerke dar. Auch diese kann sich durch die Europäisierung von nationalen Berufsverbänden oder die Neugründung von europäischen Berufsverbänden und Netzwerken vollziehen. Treten die Berufsverbände als Interessenverbände auf, stellt sich die Frage nach ihren außengerichteten Aktivitäten zur Durchsetzung von europäisierten journalistischen Interessen gegenüber unterschiedlichen beruflichen Bezugsgruppen wie der Europäischen Union oder der nationalen Regierung als politischen Akteuren, den Medienorganisationen als Arbeitgebern oder gegenüber dem Publikum. Erfolgt die Organisation beruflicher Interessen unter Standesgesichtspunkten, ist der EU/ Europa-Bezug dort vorhanden, wo die Organisation auf den EU-Journalismus gerichtete Maßnahmen der Sicherung von beruflicher Autonomie sowie der ge-
5.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke
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sellschaftlichen Anerkennung dient. Die Ausrichtung ihrer innenorientierten Funktionen auf die europäische Dimension zeigt an, inwieweit hier eine Professionalisierung stattgefunden hat.
5.3.1 Die Europäisierung deutscher Berufsverbände Im Journalismus führte die schlechte soziale Lage der Journalisten und die daraus resultierende notwendige kollektive Interessenvertretung gegenüber den Verlagsinhabern und Chefredakteuren zur Gründung des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) im Jahre 1949 und der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) im Jahre 1951. Beide Organisationen schließen seit ihrer Gründung in vielen Medien Tarifverträge ab und überwachen deren Einhaltung. Darüber hinaus arbeiten sie in Fachausschüssen und Kommissionen aktuelle berufliche wie medienpolitische Probleme auf und wandeln sie auf Landes-, Bundessowie über die Internationale Journalisten-Föderation (IJF) oder die Europäische Journalisten-Föderation (EJF) auf internationaler Ebene in gewerkschaftliche Forderungen um. Der DJV, heute größter Berufsverband der Journalisten, ist eine Nachfolgeorganisation des 1910 gegründeten Reichsverbandes der Deutschen Presse. Auch wenn er im Prinzip die Interessen hauptberuflich arbeitender Journalistinnen und Journalisten aller Medien vertritt, sind in ihm vor allem die Printjournalisten vertreten. Lange Zeit verstand sich der DJV eher als Standesorganisation; erst seit Ende der 1960er Jahre kann man eine zunehmende gewerkschaftliche Orientierung erkennen. Die dju, die von Beginn an eine klare gewerkschaftliche Ausrichtung hatte, war zunächst in die IG Druck und Papier integriert. Von 1985 bis 2001 war sie Teil der IG Medien, die ihrerseits aus einem Zusammenschluss der IG Druck und Papier und der Gewerkschaft Kunst hervorgegangen ist. Seit der Gründung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Jahre 2001 besteht sie als Fachgruppe Journalismus innerhalb dieser Gewerkschaft weiter (Donsbach 1999: 495). Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der deutschen Journalisten liegt nach der aktuellen Journalistenstudie von Siegfried Weischenberg nach wie vor bei 56 Prozent. Die Mitgliederzahlen beider Berufsverbände sind zwischen 1993 und 2005 stark angestiegen: bei der dju von rund 17.500 auf etwa 22.000 und beim DJV von circa 25.000 auf 42.000 (Weischenberg et al. 2006: 58). Der interessengeleitete Europa-Bezug ist in beiden Berufsverbänden durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Journalisten-Föderation (EJF) strukturell verankert. Um die Arbeit an europäischen Themen zu intensivieren und die berufspolitischen Interessen auf europäischer Ebene zu stärken, wurde auf dem DJV-
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Verbandstag im Jahre 1994 ein Fachausschuss Europa zur Beratung des Bundesvorstandes und weiterer DJV-Gremien in europäischen Fragen eingerichtet. Der Fachausschuss setzt sich gemäß der föderalen Struktur des DJVs aus den jeweiligen Europa-Vertretern der Landesverbände zusammen. Zu den wesentlichen Aufgaben des Fachausschusses gehört die fortlaufende Beobachtung von und Beschäftigung mit Aktivitäten der europäischen Institutionen im Medienbereich. Umgekehrt versucht der Fachausschuss durch die Mitgliedschaft des DJV in der EJF, die vom DJV-Verbandstag artikulierten Interessen und Ziele bezüglich bestimmter EU-Regelungen in die europäische Diskussion einzubringen.111 Im Vordergrund stehen hier vor allem Fragen des Urheberrechtes, des Zugangs zu öffentlichen Informationen, der Sicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im dualen Rundfunksystem, des sozialen Schutzes freier Journalisten und der gewerkschaftlichen Interessenvertretung von Journalisten in ganz Europa. Für die Mitglieder des Fachausschusses bedeutet das, auf einer Vielzahl von europäischen Konferenzen oder Seminaren zu den jeweiligen Themen DJV-Positionen zu vertreten und gleichzeitig Verbindungen zu anderen journalistischen Berufsverbänden in Europa aufzubauen. Da die Mitglieder des Fachausschusses sich auch auf regionaler Ebene in ihren jeweiligen Landesverbänden für europäische Themen einsetzen, versuchen sie, auf diese Weise europäische Problemstellungen in die Landesorganisationen zu transportieren. Ob sich auf regionaler Ebene um den jeweiligen Europa-Zuständigen ein regionaler Europa-Fachausschuss mit weiteren Mitgliedern gruppiert, der standespolitische Ziele wie die Europäisierung der journalistischen Weiterbildung verfolgt, hängt von seiner Aktivität sowie der des jeweiligen Landesverbands ab. Nicht überraschend ist daher das starke Engagement der beiden Hauptstadtverbände des DJV. So hat der Verein Berliner Journalisten e.V. im Juli 2007 eine Journalistenreise nach Brüssel unter dem Motto „Reise zur EU-Kommission – Brüssel unter drei“ angeboten. Entsprechend der für das Brüsseler Parkett typischen Weitergabe von Informationen „unter drei“ durch informelle Gespräche und Hintergrundkreise, wurden Journalisten nicht nur durch die EU-Institutionen geführt, sondern konnten zugleich auch an einer Reihe von Hintergrundgesprächen
111 „Um die europäischen Aktivitäten und Interessen der DJV vor Ort besser vertreten zu können, wird die Journalistengewerkschaft Anfang August 2001 ein Büro in Brüssel eröffnen“, berichtete der „journalist“ 08/2001. Laut einer Auskunft des DJV gibt es das Verbindungsbüro als Einrichtung allerdings seit Juli 2007 nicht mehr, da der DJV durch seine Mitgliedschaft in der International Federation of Journalists (IFJ) vor Ort vertreten ist und der DJV die Räumlichkeiten der IFJ nutzen kann. Der DJV ist der Auffassung, dass seine internationalen und europäischen Anliegen besser durch die Mitarbeit in einer internationalen Organisation vertreten werden können.
5.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke
141
teilnehmen.112 Neben solchen und ähnlichen Reisen zu Seminaren und Veranstaltungen am Ort der europäischen Institutionen sind gerade in Berlin vom Fachausschuss des Berliner Landesverbands organisierte Vortragsreihen wie „Focus on Europe in Berlin…“ ein weiterer Weg, um die lokalen Verbandsmitglieder in Kontakt mit EU-Themen und für EU-Politik relevanten Vertretern der jeweiligen Institutionen („… DJV zu Gast beim polnischen, beim finnischen, beim türkischen Botschafter etc.“) zu bringen. Der 1994 gegründete Europa-Fachausschuss im Bayerischen Journalisten-Verband, der den größten aller DJV-Landesverbände darstellt, engagiert sich im Rahmen des EU-PHARE-Programms113 in der Journalistenausbildung in Slowenien. Auch die dju beschäftigt sich mit den Auswirkungen von EU-Regelungen für Journalisten und nimmt ihre Rolle als Interessenverband auf europäischer Ebene wahr. Im Fall der dju werden die Interessen durch den Bundesvorstand oder den Gremienvertretern des Arbeitskreises AK Internationales auf europäischer Ebene vertreten. Dazu nehmen die dju-Repräsentanten an entsprechenden Veranstaltungen als Teilnehmer sowie auch als Referenten teil. Die Europa zugeschriebene Relevanz in der Berichtererstattung wie auch für die Arbeitsbedingungen im deutschen Journalismus unterstreicht die Tatsache, dass beide Verbände ihre Jahresversammlung dem Europa-Thema gewidmet haben. Im Jahre 2004 fand der DJV-Kongress unter dem Thema „Kommunikation ohne Grenzen im neuen Europa“ statt, auf dem unter Journalisten, Politikern und PR-Leuten vor allem die „Unvermittelbarkeit Brüssels“ diskutiert wurde. Zudem wurden am „Fall Tillack“ professionsrelevante Fragen wie Quellenschutz, Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot als umfassende Schutzrechte für die journalistische Arbeit verhandelt (Witt-Barthel 2004).114 Auf dem 19. Journalistentag der dju im Jahre 2005 wurden unter dem Titel „Eurovision Content – Brüssel re(di)giert mit“ aktuelle Bereiche des EU-politischen Einflusses auf die journalistische Arbeit und die Chance einer Europa-weit organisierten journalistischen Interessenpolitik diskutiert (vgl. Maercks-Franzen 2006).115
112 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 113 Das 1989 entwickelte PHARE-Programm (Abkürzung für „Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies“) war eines von drei Instrumenten der Europäischen Union, um die Beitrittsvorbereitungen der beitrittswilligen Länder in Mittel- und Osteuropa zu unterstützen. Die wichtigsten Tätigkeitsbereiche waren der Verwaltungsaufbau, die Investitionshilfe für Infrastrukturen sowie die Regionalentwicklung. Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 114 Zur genaueren Erläuterung des Falles Hans-Martin Tillack vgl. Anmerkung 142. 115 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
In beiden seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland etablierten Berufsverbänden sind zwei Stoßrichtungen der Institutionalisierung des EUund Europa-Bezugs erkennbar: zum einen die Ausweitung ihrer beruflichen Interessenpolitik um die europäische Dimension gegenüber und in den europäischen Institutionen. Sie wird durch die EJF-Mitgliedschaft, den damit einhergehenden Austausch mit anderen europäischen Journalistenverbänden und durch regelmäßige Ausschussarbeit fundiert.116 Zum anderen wird sie an den Vermittlungs- und Weiterbildungsaktivitäten ihrer nationalen Mitglieder im Hinblick auf berichterstattungsrelevante EU-Themen und EU-Akteure sichtbar, die durch regelmäßig stattfindende Journalistenreisen und Informationsveranstaltungen abgesichert werden.
5.3.2 Europäische Berufsverbände Auf internationaler Ebene wurde im Jahre 1988 die Europäische Journalistenföderation / European Federation of Journalists (EJF/EFJ) von Mitgliedern der Internationalen Journalistenföderation (IJF) / International Federation of Journalists (IFJ) gegründet. Durch die Organisation einer regionalen Gruppe innerhalb des weltweiten Dachverbandes erhoffte man sich, bei der Europäischen Union akkreditiert zu werden, um dort als europäischer Interessenverband die Stimmen von Journalistinnen und Journalisten in Europa direkter vertreten zu können. Insgesamt verweist die EJF auf ihre grundlegende Zielsetzung, ihre Mitgliederunionen in den verschiedenen Ländern bei Ausbau und Aufrechterhaltung von journalistischer Qualität und Unabhängigkeit zu unterstützen, was insbesondere für ihr Engagement in osteuropäischen Staaten gilt. Die von der EU und von der Europäischen Gewerkschaftsunion anerkannte EJF hat ihren Sitz in Brüssel und repräsentiert mittlerweile rund 280.000 Journalisten in über 30 europäischen Ländern. Sie finanziert sich zu rund 60% aus Mitgliedsbeiträgen sowie im Rahmen des „europäischen sozialen Dialogs“ projektbezogen aus Fördermitteln der Europäischen Kommission, der Fried-
116 In ähnlicher Weise wie DJV und dju in die Dachstruktur von IJF und EJF eingebunden sind, ist auch die seit dem 5. April 2003 existierende Jugendpresse Deutschland e.V. auf europäischer Ebene organisiert. Die Europäische Jugendpresse / European Youth Press (EJP/EYP) ist der Dachverband von neun regionalen und nationalen Medienorganisationen in Europa. Sie wurde im Rahmen des Jugendmedienkongresses „News in Motion“ am 5. Mai 2004 in Berlin gegründet. Die neun Gründungsmitglieder der Nonprofit-Organisation sind die Jugendpresseorganisationen von Österreich, Schweiz, Deutschland, Schweden, Polen, Ungarn, Bulgarien, Russland und des Balkans. Mittlerweile ist die Anzahl der Mitgliedsvereinigungen auf vierzehn Jugendorganisationen angewachsen.
5.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke
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rich-Ebert-Stiftung und anderen öffentlichen Geldgebern. Die Leitung der EJF obliegt einem aus neun Mitgliedern bestehenden ehrenamtlichen Lenkungsausschuss, der in Zusammenarbeit mit dem hauptamtlich arbeitenden Sekretariat der EJF in Brüssel vorrangig die Aufgabe hat, die Arbeitsprogramme der Organisation umzusetzen. Mit ihrer Arbeit zielt die EJF ebenso wie die beiden deutschen Verbände auf berufliche Interessen- und Problemfelder, die von EU-Regelungen sowie aktuellen Veränderungen in der Medienindustrie betroffen sind. Vier verschiedene Expertengruppen beschäftigen sich daher mit den Themen Urheber- und Autorenrechte, Arbeitsrecht, Recht freier Journalisten sowie der Stellung des öffentlichen Rundfunks in den verschiedenen europäischen Ländern. Die neben Journalisten verschiedener Länder auch mit Juristen besetzten Expertengruppen initiieren Studien und erarbeiten Positionspapiere im Auftrag des Lenkungsausschusses, während die hauptamtlichen Mitarbeiter vor allem Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit in den EU-Institutionen betreiben. Zwei weitere wichtige Anliegen der EJF sind der freie Zugang zu Informationsquellen und der Quellenschutz. Eine bedeutende, seit den frühen 1990er Jahren von der EJF geführte Kampagne stand im Zusammenhang mit der am 30. Mai 2001 erlassenen EU-Verordnung 1049/ 2001, die auf dem Artikel 255 des Vertrags von Amsterdam (1997) basiert und europäischen Bürgerinnen und Bürgern ein Zugangsrecht zu Dokumenten der EU-Institutionen sichern soll.117 Die Mitgliedschaft in der EJF ist institutioneller Art und zielt auf die Bündelung und Artikulation berufsspezifischer Interessen auf europäischer Ebene. Daher entfallen für die einzelnen Journalisten innenorientierte Merkmale wie persönliche Partizipation und Austausch. Gleichwohl hat die EJF auch ein Augenmerk auf berufständische Fragen wie die Wahrung einer journalistischen Berufsethik. So war sie beispielsweise in der Entwicklung eines journalistischen Verhaltenskodex in Brüssel initiativ. Im Jahre 2004 wurde unter EU-Korrespondenten wie auch in der nationalen Fachpresse die Informationsqualität von EU-Nachrichten und der Einfluss von Lobbyisten auf die tägliche Berichterstattung diskutiert (vgl. Bastin 2004; Mükke 2004). Hintergrund waren der spürbar gestiegene Informationsausstoß der zahlreichen in Brüssel ansässigen Akteure und die gewachsene Zahl von Internetauftritten, die EU-Informationen präsentieren. In vielen Fällen, so die Kritik, sei nicht klar zu erkennen, welche Nachrichten mit journalistischem Interesse und wel-
117 Kopper bemerkt allerdings, dass das seitdem bestehende Zugangsrecht zu EU-Dokumenten von Journalisten aufgrund der Informationsüberflutung und mangelnder Zeit- und Reflexionsmöglichkeit im journalistischen Alltag kaum genutzt wird: „Nutzungsberichte aus Brüssel zeigen, dass weniger als drei Prozent aller Anträge auf Akteneinsicht von Journalisten stammen“ (2007: 21); vgl. dazu auch die Aussagen der Journalisten in 6.2.3.
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
che Nachrichten im Interesse von Lobbyisten verbreitet werden. Zudem wurde die doppelte Erwerbstätigkeit von akkreditierten Journalisten beklagt, die sich mit Nebenjobs für EU-Institutionen, PR- und Lobby-Unternehmen Geld hinzuverdienen. Schärfer formulierte Aidan White, Vorsitzender der IFJ, seinen Vorwurf, demzufolge viele Journalisten von Interessengruppen angeheuert würden, um als verdeckte Lobbyisten Kontakte zu Beamten und Politikern zu knüpfen und auf Pressekonferenzen sowie im persönlichen Kontakt zu Kollegen interessengeleitete Sichtweisen zu befördern (Mükke 2004: 16). Aus diesem Anlass wurde von der IJF eine öffentliche Debatte entfacht und ein Verhaltenskodex für Journalisten und Medien in Brüssel entworfen, der im Februar 2004 per Pressemitteilung veröffentlicht und über die journalistischen Berufsorganisationen auf nationaler und europäischer Ebene verbreitet wurde. Der Kodex, der sich an den einzelnen Journalisten wie auch an Medienorganisationen wendet, verweist auf die journalistischen Grundsätze der Pressefreiheit, der journalistischen Ethik und der Glaubwürdigkeit von Nachrichten und Informationen. Er betont die Unabhängigkeit des Journalismus und appelliert an die redaktionelle Verantwortung, diese Grundsätze durch entsprechende Maßnahmen und inhaltliche Qualitätskontrollen sicherzustellen.118 Durch die Organisation der Berufsverbände auf europäischer Ebene wird der EU- und Europa-Bezug der Verbandsarbeit für den einzelnen Journalisten auf nationaler Ebene immer indirekter, so dass er in der Regel wenig bis gar nicht an der europäisch orientierten Verbandsarbeit beteiligt ist, wenn er nicht gerade an einer Bildungsreise nach Brüssel teilnimmt oder in einem Europa-Ausschuss aktiv ist. Anders ist das im Fall eines ebenfalls in Brüssel ansässigen Berufsverbands, der eine zentrale Anlaufstelle für die Brüsseler EU-Korrespondenten darstellt. Die Association de la Presse Internationale / International Press Association (API/IPA)119 repräsentiert als internationale Nonprofit-Organisation die in Brüssel akkreditierten Korrespondenten. Sie wurde am 27. Juni 1975 gegründet und vertritt die beruflichen Interessen der in Brüssel akkreditierten Journalisten gegenüber den EU-Institutionen und anderen europäischen Einrichtungen. Sie ist als Zusammenschluss eine Nachfolgeorganisation der „Union de Presse Etrangère / Union of Foreign Press“, die in Belgien seit Anfang des 20. Jahrhun-
118 Nach der Pressemitteilung der IJF vom 25.02.2004 wurde der Kodex im „journalist“ (5/2004), der Verbandszeitschrift des DJV, veröffentlicht und ist als „Code of Conduct for Journalism and Media in Brussels“ auf der Internetseite des IJF wie auch auf der Internetseite von J@YS unter (Zugriff: 17.03.2010) abrufbar. 119 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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derts bestand, und der „Association of Journalists of the European Press“. Sie wurde ursprünglich mit dem Ziel gegründet, diejenigen Journalisten zu repräsentieren, die auf die Berichterstattung über die damaligen, in Belgien lokalisierten europäischen Institutionen spezialisiert waren. Die API ist die erste Organisation, die in einer Körperschaft all diejenigen ausländischen Journalisten in Belgien vereinte, die für Medien unterschiedlicher Art und nationaler Herkunft arbeiten. Ob sie dabei fest angestellt oder frei, für ein oder mehrere Medien arbeiten, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist bis heute, dass die Zentrale des jeweiligen Mediums im belgischen Ausland beheimatet ist und dass ihre Korrespondenten Nachrichten über die EU, die in Belgien ansässigen internationalen Institutionen, wozu auch die ebenfalls in Brüssel lokalisierte NATO gehört, oder über in Belgien stattfindende Ereignisse an ihre Heimatredaktionen vermitteln.120 Die API wird von einem Rat geleitet, der sich aus Repräsentanten verschiedener nationaler, regionaler und medialer Gruppierungen zusammensetzt. Jede Gruppe – seien es deutsche Journalisten, Journalisten aus asiatischen Ländern oder die Gruppe der Foto-Journalisten –, die aus mindestens sieben Mitgliedern besteht, kann einen Vertreter in dieses Gremium wählen. Ein Exekutivkomitee hat die Aufgabe, kurzfristig und in gegebenen Problemsituationen Maßnahmen und Initiativen zu ergreifen. Dieses Gremium setzt sich aus dem Präsidenten der API, der üblicherweise von der Generalversammlung für zwei Jahre gewählt wird, zwei Vizepräsidenten, dem Kassenwart und dem Generalsekretär zusammen. Die API ist unabhängig, da sie sich überwiegend aus ihren Mitgliedsbeiträgen finanziert. Die API versteht sich nicht als Gewerkschaft im klassischen Sinne. Dennoch ist sie eine professionelle Vereinigung, deren außenorientiertes Ziel darin liegt, die Interessen ihrer Mitglieder zu bündeln und gegenüber Dritten zu vertreten, um so als Berufsorganisation zur Sicherung der Arbeitsbedingungen wie auch der Lebensbedingungen der Korrespondenten im Ausland beizutragen. Ihre innenorientierte Funktion besteht darin, neu in Brüssel ankommende Korrespondenten bei ihrer täglichen Arbeit sowie in ihrem Lebensalltag im Ausland praktisch zu unterstützen: „Article 2: Objet L’ API a pour objet l’étude, la défense et le développement des droits et intérêts de ses membres. A cette fin, elle s’occupe de:
120 Journalisten belgischer Medien können Mitglieder sein, wenn sie ebenfalls über die EU und die in Belgien ansässigen internationalen Organisationen berichten.
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1) défendre la liberté professionnelle et les droits de la presse; 2) négocier et conclure avec qui de droit, au nom de ses membres, tout accord de naturé à protéger leurs intérêts professionnels, notamment sur les conditions de travail; 3) veiller à l’application de la législation belge protégeant le titre de journaliste professionnel, particulièrement en sa qualité d’instance chargée par les autorités belges compétentes d’émettre un avis sur les demandes de reconnaissance comme journaliste professionnel introduites par des candidats non belges; 4) négocier avec les autorités belges et internationales siégeant en Belgique les aménagements à la législation belge protégeant le titre de journaliste professionnel que pourrait lui inspirer une approche „européenne“ de la question, son objectif étant ainsi de contribuer à la définition d’un statut „européen“ du journaliste professionnel; 5) entretenir entre les journalistes professionnels qui sont ses membres les règles de dignité professionnelle et les obligations de solidarité qu’elle leur impose; veiller à l’application et à l’observation de règles de la déontologie professionnelle; 6) prendre toutes mesures pour l’organisation en son sein ou en dehors de celuici de toutes institutions propres à sauvegarder ou à promouvoir la situation morale des journalistes professionnels ou stagiaires; 7) gérer des locaux dans lesquels pourront avoir leur siège les organismes et associations de presse institués par l’assemblée générale sur proposition du Conseil; 8) prendre toute disposition de nature à servir et à promouvoir les intérêts des journalistes professionnels qui sont ses membres.“
Zu den berufsspezifischen Serviceleistungen der API gehört die Ausstellung eines belgischen Presseausweises, mit dem für die Journalisten Vergünstigungen wie kostenloses Bahnfahren sowie kostenfreien Zutritt zu diversen Institutionen innerhalb Belgiens verbunden sind. Über viele Jahre hinweg organisierte sie anlässlich von EU-Gipfeltreffen im Ausland Charterflüge für ihre Mitglieder. Sie berät Neuankömmlinge in aufenthalts- und versicherungsrechtlichen Fragen sowie im Umgang mit belgischen Behörden. Auch in sozialer Hinsicht schafft die API einen institutionellen Rahmen, der die Korrespondenten neben der Generalversammlung bei Verbandsfestivitäten oder organisierten Fußballspielen zusammenbringt. Darüber hinaus stehen Gelder eines eingerichteten Solidaritätsfonds für Korrespondenten zur Verfügung, die beispielsweise als freie Journalisten durch Krankheit oder anderweitig in eine finanzielle Notlage geraten sind. Die zentrale außenorientierte Aktivität der API als journalistischer Interessenverband besteht darin, ständig zu den politischen Institutionen und ihren Pressestellen Kontakt zu halten. Zur Sicherung der journalistischen Arbeitsbedingungen tritt die
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API ihnen gegenüber seit einigen Jahren zunehmend häufiger als Vermittlerin auf. Ein Dauerbrenner in der Auseinandersetzung zwischen ihr und den EU-Institutionen sind insbesondere seit dem Umzug der Europäischen Kommission vom Breydel- ins Berlaymont-Gebäude die verschärften Sicherheitsbestimmungen für den Zugang zu den Institutionen und politischen Akteuren. Aus der Sicht der Journalisten sind die Arbeitsmöglichkeiten seitdem massiv eingeschränkt. Ebenso wichtig sind die stellvertretend für ihre Mitglieder mit Nachdruck geforderte gute Erreichbarkeit der Pressesprecher und ein guter Zugang zu Informationen und Dokumenten. Schlechte Arbeitsbedingungen können auch in einer nicht vorhandenen technischen Infrastruktur oder einem langwierigen Akkreditierungsprozedere bei Konferenzen und Gipfeltreffen in den Mitgliedsstaaten der jeweiligen Präsidentschaft bestehen. Als Sprachrohr des Pressekorps sorgt die API für die Kommentierung der Probleme und zielt in Verhandlungen mit den Vertretern der jeweiligen Institutionen auf ihre rasche Behebung. Umgekehrt treten auch die EU-Institutionen mit eignen Fragen an die API heran. So wird sie stellvertretend für das Pressekorps zu spezifischen Problemen und Einschätzungen der EU-Öffentlichkeitsarbeit und des Öffentlichkeitsdefizits befragt oder bei praktischen Fragen der Pressearbeit gebeten, Kontakte zu Journalisten zu vermitteln, die beispielsweise Neuerungen in der von der EU bereitgestellten technischen Infrastruktur wie die UMTS-Tauglichkeit der Europe by Satellite-Übertragung121 testen. Seit dem Jahr 2001 betreibt die API in Zusammenarbeit mit der Internationalen Journalistenföderation (IFJ), dem European Journalism Centre (EPC) sowie der Belgischen Vereinigung der Berufsjournalisten (AGJPB/AVBB) und der Britischen Journalistenunion (NUJ) eine lokale Anlaufstelle und eine Internetplattform für professionelle Dienstleistungen unter dem Namen Journalists@Your Service (J@YS).122 Das Büro mit Seminar- und Computerräumen befindet sich im Résidence Palace, in dem seit 2001 das Internationale Pressezentrum (IPC) angesiedelt ist. Sowohl die Einrichtung vor Ort als auch die Internetseiten bieten den Journalisten sachliche und fachliche Orientierungshilfen im EU-Dschungel sowie berufspraktische Hinweise in rechtlichen und finanziellen Fragen („Working in Brussels“). Zudem richten sich lebenspraktische Hinweise und Hilfestellungen zum Wohnen in der Stadt oder zum Umgang mit den lokalen Behörden an die neu
121 UMTS (Universal Mobile Telecommunications System) steht für den Mobilfunkstandard der dritten Generation, mit dem eine deutlich höhere Datenübertragungsrate und somit die direkte Übertragung des digitalen Fernseh- und Informationskanals „Europe by Satellite“ (EbS) auf die Mobiltelefone der Journalisten möglich ist (zu „Europe by Satellite“ vgl. 6.2.3 und Erläuterung in Anmerkung 151). 122 Vgl. „Journalists@your service“ unter (Zugriff: 17.03.2010).
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nach Brüssel kommenden Korrespondenten („Living in Brussels“). Schließlich organisiert J@YS Treffen und Diskussionsrunden mit für die Nachrichtenberichterstattung relevanten Akteuren sowie Pressebriefings zu aktuellen berufspolitischen und zu EU-Themen. Zielgruppen dieses von der Europäischen Kommission finanziell geförderten professionellen Dienstleistungsprojekts sind primär belgische Journalisten und das internationale, bei den EU-Institutionen akkreditierte Pressekorps. Das Zentrum versteht sich aber auch als Treffpunkt für kurzzeitig in Brüssel arbeitende oder nach Brüssel reisende Journalisten. Nicht explizit als Zielgruppe angesprochen werden EU-Journalisten in den Heimatredaktionen der europäischen Länder. Dennoch können auch sie von der internetgestützten Aufbereitung EU-spezifischer Informationen und ihrer Verlinkung mit Seiten europäischer Institutionen, Medien und Datenbanken profitieren. So ist es allen mit EU-Themen befassten Journalisten möglich, sich die jährlich aktualisierte elektronisch verfügbare Publikation „Reporting Brussels. Information sources and tools for journalists“ herunter zu laden.123 Die Veröffentlichung basiert auf einer ursprünglich für das EJC zusammengestellten Broschüre mit dem Titel „Reporting the EU from Outside Brussels“, die von Gareth Harding, dem Brüssel-Korrespondenten der amerikanischen Nachrichtenagentur United Press International (UPI), verfasst wurde. An der Website zeigt sich der enge Kontakt der API zu den verschiedenen Berufsorganisationen. Das EJC ist bei allen fachlichen Informationen und sachlichen Fragen der EU-bezogenen Weiterbildung ein wichtiger Projektpartner. Neben diesem journalistischen Service-Projekt arbeitet die API eng mit IFJ und EJF zusammen. Sie sind als Dachverbände der nationalen Journalistenverbände neben den einzelnen länderspezifischen Berufsverbänden insbesondere zur Repräsentation journalistischer Interessen gegenüber den EU-Institutionen wichtige Bündnispartner.
5.3.3 Europäische Vereinigungen und Netzwerke Eine Zwischenstellung zwischen Berufsverband und institutionalisiertem Netzwerk nimmt die Association of European Journalists (AEJ) / Vereinigung europäischer Journalisten (VEJ)124 ein, was in der kürzlich erfolgten Abspaltung
123 Vgl. Ausgabe von 2008 (Zugriff: 17.03.2010). 124 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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und Namensänderung eines Netzwerkteils zur European Journalists Association – the communication network (EJ)125 deutlich wird. Die AEJ wurde im Jahre 1961 von 70 Journalisten der damaligen sechs Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft in San Remo gegründet, die sich der Idee und der Förderung des europäischen Einigungsprozesses verpflichtet fühlten. Seitdem ist die Vereinigung bis zu ihrem Strukturwandel im Jahre 2006 auf 23 nationale Einheiten in den verschiedensten Ländern Europas gewachsen, wobei diese Länder nicht ausschließlich Mitglieder der EU, wohl aber Mitglieder des Europa-Rats sein mussten. Im Unterschied zur EJF, die durch den Zusammenschluss von bereits existierenden Berufsverbänden der IJF gegründet wurde, wurden die nationalen Sektionen der AEJ erst nach der Vereinigung der Initiatoren aufgebaut. Die Vereinigung europäischer Journalisten – Deutsche Gruppe e.V. wurde beispielsweise nach dem Treffen in San Remo am 21. September 1962 im Schloss Lerbach bei Köln gegründet. In den folgenden Jahrzehnten ging der Aufbau einer nationalen AEJ-Sektion häufig mit dem Beitritt eines Landes zur Europäischen Union einher, da die jeweiligen Journalisten ihrer Arbeit in Gestalt einer Europa-orientierten öffentlichen Meinungsbildung einen entscheidenden Stellenwert einräumten. Die AEJ ist in ihrer bisherigen Form eine Körperschaft nach belgischem Recht, die ihren Sitz in Brüssel hat und als unabhängige und internationale Nonprofit-Organisation Beziehungen zu internationalen Organisationen pflegt. Ursprünglich als Interessenvertretung für EU- und Europa-Journalisten gedacht, hat sie mittlerweile den Status einer von der EU, dem Europa-Rat und der UNESCO anerkannten Nichtregierungsorganisation. Zudem ist sie Mitglied der Europäischen Bewegung und arbeitet eng mit dem OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit zusammen. Die AEJ finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen der nationalen Sektionen. Auf europäischer Ebene besteht sie aus einem Exekutivkomitee (Verwaltungsrat) und einem Generalsekretariat, das innerhalb der einmal jährlich stattfindenden Generalversammlung von Vertretern der nationalen Sektionen gewählt wird. Die meisten Aktivitäten finden nach ihren Angaben auf nationaler Ebene statt, wenngleich die regelmäßigen internationalen Treffen und die von den nationalen Sektionen in verschiedenen Ländern abwechselnd ausgerichteten Jahreskongresse dem Austausch von Kontakten und Informationen sowie der Vernetzung von Journalisten untereinander dienen. Während die Mitgliedschaft des einzelnen Journalisten in der Organisationsstruktur der AEJ an nationale Sektionen gebunden ist, wurde diese mit der Ab-
125 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
spaltung und Neugründung der Vereinigung EJ als „Kommunikationsnetzwerk“ verändert. Mit der Verabschiedung einer neuen Satzung im Sommer 2006 kann jeder einzelne Journalist persönliches Mitglied der EJ werden, der aus einem Land stammt, das Mitglied des Europa-Rats ist und der sich dem europäischen Integrationsprozess sowie der Verteidigung der Pressefreiheit verpflichtet fühlt. Die Veränderung resultierte aus der Überzeugung, dass eine basisdemokratische Struktur geschaffen werden müsse, die der Idee einer nationenübergreifenden europäischen Vernetzung besser entspricht. Dennoch soll es weiterhin möglich bleiben, lokale, nationale und grenzüberschreitende Sektionen sowie Mitgliedergruppen, die Journalisten mit ähnlichen Interessen vereinigen, zu bilden, sofern diese vom Exekutivkomitee genehmigt werden. Die EJ ist in ihrer jetzigen Form eine unabhängige internationale Nonprofit-Organisation, die in Luxemburg registriert ist und ihre Geschäftsstellen in Brüssel und in Trient (Region Trentino-Südtirol) hat. Sie finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen, öffentlichen und privaten Zuwendungen sowie Einkünften aus Veranstaltungen. Die gegenwärtig gültigen Satzungen beider Netzwerke126 definieren neben allgemein journalistisch relevanten Interessen wie der Sicherung des Informationszugangs und der Verteidigung der Pressefreiheit in Europa die gemeinsame Überzeugung der Notwendigkeit des europäischen Integrationsprozesses und ihre Absicht, diesen zu fördern (hier am Beispiel der AEJ-Satzung): „Art. 3: L ‘«Association des Journalistes européens», qui est dénuée de tout esprit de lucre, réunit tous les journalistes convaincus de la nécessité de l’intégration européenne sur une base démocratique et décidés à défendre la liberté de la presse et de l’information indispensable à la réussite de cette oeuvre. L’association, qui représente ses membres auprès de tout organisme ou institution, a pour objet: a) de participer activement à la formation d’une conscience européenne; b) d’approfondir la connaissance des problèmes de l’Europe et éclairer l’opinion publique sur les activités des institutions européennes; c) de faciliter à ses membres par tous les moyens appropriés l’accès aux sources d’information européenne; d) de favoriser la connaissance et la compréhension réciproque des problèmes de chaque pays;
126 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010) und „Bylaws“ unter (Zugriff: 17.03.2010).
5.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke
151
e) de favoriser la promotion morale et matérielle de la profession de journaliste notamment dans le cadre de l“Union européenne et du Conseil de l’Europe.“
Neben ihren kontinuierlichen Aktivitäten in Form von internationalen Treffen und Tagungen, Journalistenkongressen sowie Studienreisen in verschiedene Länder der Partnermitglieder richten beide Netzwerke ihren Blick auf medienpolitische Fragen und Diskussionen innerhalb der internationalen Organisationen. So nahmen ihre Repräsentanten an Konferenzen teil wie an der von der UNESCO organisierten „International Conference on Freedom of Expression in Cyberspace“ (3. bis 4. Februar 2005 in Paris) oder an dem zum gleichen Zeitpunkt abgehaltenen „Consultation Forum concerning the future action programme to promote active European Citizenship“, das von der EU-Generaldirektion Bildung und Kultur veranstaltet wurde. Während erstere Aktivitäten dem europäischen Netzwerkgedanken und interkulturellen Erfahrungsaustausch innerhalb der eigenen Profession Rechnung tragen, zielen letztere darauf, auf politische Entwicklungen der europäischen Ebene einzuwirken und daraus Maßnahmen für die eigene journalistische Arbeit abzuleiten. Schlussfolgerungen werden in Berichten und Positionspapieren festgehalten und in öffentlichen Veranstaltungen auf nationaler Ebene weitervermittelt. Zudem organisieren die Mitglieder auf regionaler und lokaler Ebene Vortragsveranstaltungen zu europäischen Themen, an denen Politiker, Diplomaten und Vertreter europäischer Institutionen teilnehmen. Eine zwischenzeitlich ruhende, aber für das Netzwerk charakteristische Aktivität war die zwischen 1977 bis 2002 jährlich stattfindende Vergabe des Europäischen Journalistenpreises für herausragende journalistische Leistungen auf dem Gebiet der europäischen Verständigung. Dieser soll laut AEJ-Newsletter No. 1/2008 im Laufe des Jahres 2008 wieder vergeben werden. Die kollegiale Anerkennung einer solchen Form des europäischen Journalismus zeigt den starken Bezug auf den europäischen Einigungsprozess und die Verankerung der normativen Idee eines gemeinsamen Europas in ihrem beruflichen Selbstverständnis. Der entscheidende Unterschied beider Vereinigungen im Vergleich zu EJF und API besteht darin, dass sie sich nicht oder nur in einem geringen Maße als berufliche Interessenorganisation verstehen, sondern dass sie sich einer inhaltlichen Position verpflichtet fühlen. Sie stellen ihre Vernetzung in den Dienst der Förderung des europäischen Integrationsprozesses und der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit. So vertreten sie eine Form des Standesbewusstseins, das zwar nicht prototypisch für alle EU-Journalisten steht, aber der Versuch ist, sich von anderen Journalisten abzugrenzen. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich darüber hinaus unter Beteiligung deutscher Journalisten eine Reihe von Netzwerken gebildet, die in der
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Regel als Vereine organisiert sind und unterschiedliche Europa-bezogene Funktionen erfüllen. Es handelt sich um Netzwerke in Grenzregionen, die den kommunikativen Austausch zwischen den dort arbeitenden europäischen Journalisten fördern sollen und um Netzwerke, die der gemeinsamen Vermarktung Europa-bezogener journalistischer Inhalte dienen. Ein Netzwerk des europäischen Informations- und Erfahrungsaustauschs ist beispielsweise die Interregionale Presse / Presse Interrégionale (IPI), ein unabhängiger Zusammenschluss von rund 120 in der Großregion Saarland, Lothringen und Luxemburg (Saar-Lor-Lux), Wallonien und Rheinland-Pfalz hauptberuflich tätigen Journalistinnen und Journalisten, der auf die Förderung einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zielt. Zu den selbst definierten Aufgaben des 1993 gegründeten Netzwerks gehören daher die Vermittlung von Kontakten über die Grenzen hinweg, die gegenseitige Hilfestellung bei der Erschließung von Informationsquellen, Hinweise auf aktuelle Ereignisse, der Austausch von Informationen zu Themen mit grenzüberschreitender Bedeutung und zu wichtigen beruflichen Entwicklungen sowie die Durchführung von Veranstaltungen. Zu diesen Zwecken wurden zwei Internet-Angebote eingerichtet: Unter <www.ipipresse. org> finden die Journalisten tagesaktuelle Schlagzeilen aus der Großregion sowie mehrere Datenbanken und unter <www.ipi-presse.net> die neuesten Meldungen der Netzmedien in der Großregion (vgl. hierzu und für weitere Beispiele Witt-Barthel 2004). Ein Beispiel für das Ziel, mittels eines Netzwerks Synergien in der journalistischen Vermarktung europäischer Themen zu schaffen, ist n-ost – Netzwerk für Europaberichterstattung e.V.127 Der im Jahre 2002 gegründete Verein stellt einen transnationalen Zusammenschluss von mehr als 200 Journalisten und Medieninitiativen aus Deutschland und aus über 20 Ländern Mittel- und Osteuropas dar. Mit einem Artikel- und Radiodienst beliefert n-ost Hörfunkanstalten und Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Seit Mai 2008 erstellt n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die europäische Presseschau „eurotopics“, die wochentags einen Überblick über die politischen und kulturellen Diskussionen in europäischen Zeitungen und Online-Medien in deutscher, englischer und französischer Sprache gibt (vgl. journalist 2006/3: 62f.). Darüber hinaus organisiert das Netzwerk, das sich der Förderung der Medienfreiheit sowie der Mittel- und Osteuropa-Berichterstattung verpflichtet fühlt, journalistische Fortbildungen, Fachkonferenzen, Recherchereisen und internationale Medienprojekte.
127 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
5.4 Zusammenfassung und Fazit
153
5.3.4 Zwischenbilanz: Berufsverbände und berufliche Netzwerke Die Befunde zum Institutionalisierungsgrad des Europa-Bezugs innerhalb journalistischer Berufsorganisationen und Netzwerke zeigen eine deutliche Entwicklung. Die traditionell auf nationaler Ebene organisierten journalistischen Berufsverbände haben durch die Einbindung in den europäischen Dachverband und durch ausdifferenzierte Fachgruppen ihre europäische Orientierung mittlerweile strukturell verankert. Auf europäischer Ebene ist es schon frühzeitig zur Gründung genuin europäischer Berufsverbände gekommen. Mit der API und der AEJ existieren seit den 1960er und 1970er Jahren zwei Verbände, die in jeweils unterschiedlichem Maße sowohl als Interessen- als auch als Standesorganisation fungieren. Die API vertritt das Brüsseler Pressekorps primär als professioneller Interessenverband und hat mit wachsender Korrespondentenzahl als Sprachrohr und Vermittlerin gegenüber den politischen Institutionen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die AEJ repräsentiert dagegen eine spezifische Gemeinschaft von Journalisten aus ganz Europa, deren Ziel primär in der Vertretung eines den europäischen Einigungsprozess fördernden professionellen Berufsbilds liegt. Sie ist mit der Erweiterung der Europäischen Union stetig gewachsen, was im Jahre 2006 zu einer Spaltung der Gruppe führte. Weiterhin ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine ganze Reihe von mehr oder weniger fest institutionalisierten Arbeitsnetzwerken entstanden, die entweder in Grenzregionen einer engeren Zusammenarbeit und einer damit verbundenen Horizonterweiterung der dort arbeitenden Journalisten dienen oder die darauf zielen, unmittelbare Synergieeffekte durch eine koordinierte Vermarktung europäischer Medieninhalte zu schaffen.
5.4 Zusammenfassung und Fazit Wie die Organisations- und Dokumentenanalyse gezeigt hat, ist auf der Ebene der Arbeits- und Berufsorganisationen tatsächlich eine Professionalisierung des Journalismus nachweisbar. Betrachtet man die verschiedenen Ebenen journalistischer Organisationen im Einzelnen, gibt es in nahezu allen nationalen Organisationen Referenzen auf die europäische Ebene sowie einige Neugründungen auf europäischer Ebene. Innerhalb der Organisationen ist die Ausprägung des EuropaBezugs jeweils unterschiedlich weit vorangeschritten, wie folgende Übersicht verdeutlicht:
154
Professionalisierung nach Organisationen
5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
Professionalisierungsintensität
Medienorganisationen Intermediale Arbeitsteilung Intramediale Arbeitsteilung
– + + Qualitätsmedien + regionale Tageszeitungen – – Boulevardmedien
Ausbildungsorganisationen Europäisierung deutscher Universitäten – Europäische Ausbildungsorganisationen + +
Berufsorganisationen und Netzwerke Europäisierung deutscher Verbände Gründung europäischer Verbände Gründung europäischer Netzwerke
+ + +
Erklärung: –– Deprofessionalisierung – keine Professionalisierung + leichte Professionalisierung ++ starke Professionalisierung Tabelle 9: Professionalisierungsintensität der untersuchten Organisationen
Während es innerhalb des deutschen Mediensystems bislang zu keiner Professionalisierung durch intermediale Arbeitsteilung gekommen ist, kann man innerhalb der Medienorganisationen von einer „segmentären Professionalisierung“ sprechen. Besonders im Bereich der Qualitätsmedien wurde in Form von eigenen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie durch die Ausdifferenzierung von EU-spezifischen Berufspositionen eine intramediale Arbeitsteilung institutionalisiert, die die europäische Dimension der Berichterstattung in ihrer Organisationsstruktur
5.4 Zusammenfassung und Fazit
155
fest verankert. Nur in Ansätzen ist die Ausdifferenzierung von Berufspositionen bei Regionalzeitungen sichtbar, die ebenfalls an der Einrichtung von Korrespondentenbüros in Brüssel deutlich wird. Die Nichtexistenz bzw. der Rückzug von Korrespondenten privater Medien aus Brüssel kann dagegen als „Deprofessionalisierung“ bezeichnet werden. Auf der Ebene der Ausbildungsorganisationen hat der insgesamt stärkste Professionalisierungsprozess stattgefunden. Hier sind Strukturveränderungen in zwei Richtungen erkennbar. Als „Professionalisierung von unten“ würde ein Europäisierungsprozess in den Curricula deutscher Universitäten betrachtet werden. Tatsächlich verläuft die Entwicklung allerdings sehr sprunghaft und scheint zudem eher von der wissenschaftlichen Forschungskonjunktur als von EU-spezifischen Ausbildungszielen angetrieben zu sein. Allein die Gründung des mit der Universität Dortmund verbundenen Erich-Brost-Instituts für Journalismus in Europa stellt eine genuin auf Europa bezogene Ausbildungs- und Fördereinrichtung dar. Dagegen ist eine horizontale Europäisierung durch die Europa-weite Vernetzung nationaler Ausbildungseinrichtungen unter dem Dach der EJTA stärker ausgeprägt. Die umfangreiche finanzielle Unterstützung transnationaler EJTA-Projekte sowie die Gründung und die Ausweitung der Aktivitäten des European Journalism Centre kann als eine „Professionalisierung von oben“ betrachtet werden. Hier wirken insbesondere die Europäische Kommission und nationale Regierungen als Professionalisierungsagenten, indem sie durch die finanzielle Förderung einen indirekten Einfluss auf den Auf- und Ausbau einer europäischen Aus- und Weiterbildungsinfrastruktur nehmen. Auch auf der Ebene von Berufsverbänden und beruflichen Netzwerken wurden Professionalisierungsprozesse sichtbar. Auf nationaler Ebene haben sich in Form von Europa-Fachgruppen innerhalb der deutschen Journalistenverbände DJV und dju Subgruppierungen gebildet, die sich einerseits stellvertretend für ihre Mitglieder mit der Wahrung journalistischer Interessen gegenüber Einflüssen der EU beschäftigen. Andererseits organisieren sie mittlerweile regelmäßig EU- und Europa-bezogene Veranstaltungen für ihre Mitglieder. Die strukturelle Verankerung des Europa-Bezugs spiegelt sich zudem in der Bildung der EJF als Dachverband auf internationaler Ebene wider. Auf europäischer Ebene haben sich mit der frühen Gründung der API und der AEJ/EJ zwei Berufsverbände mit unterschiedlichen EU- und Europa-bezogenen Funktionen institutionalisiert. Die Entwicklung von AEJ bzw. EJ illustriert die Flexibilität und Wandlungsfähigkeit journalistischer Vereinigungen. Netzwerke sind als berufliche Zusammenschlüsse mit dem ohnehin geringsten Institutionalisierungsgrad schwer zu erfassen, da sie situationsabhängig flexibel und somit im Zeitverlauf fluktuierend agieren. Dennoch konnte gezeigt werden, dass in den vergangenen Jahren immer wieder Netzwerke entstanden sind,
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5 Die Professionalisierung auf Organisationsebene
die sich als kleinere Einheiten insbesondere in europäischen Grenzregionen durch transnationale Vernetzungen gebildet haben. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den Befunden vielfach um Darstellungen einer EU-bezogenen Professionalisiertheit handelt, die nur Momentaufnahmen gegenwärtiger Organisationsaktivitäten wiedergeben.128 Trotzdem kann daraus abgeleitet werden, dass sich sowohl bestehende Strukturen europäisiert als auch neue, europäische Strukturen des Journalismus gebildet haben. Auch die Frage, welche Ursachen den festgestellten Professionalisierungsintensitäten im Einzelnen zugrunde liegen bzw. welche Faktoren bestimmte Professionalisierungsentwicklungen befördern oder bremsen, kann im Rahmen dieser Bestandsaufnahme nicht eindeutig geklärt werden. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass mit den auf Vertragsabschlüssen basierenden Integrationsschüben der Europäischen Union auch Anstöße zur Professionalisierung des Journalismus verbunden sind. Wenngleich in der als kontinuierlicher Prozess interpretierten Entwicklung nur schwerlich einzelne Zeitpunkte hervorgehoben werden können, hat der Institutionalisierungsprozess in der journalistischen Ausbildung Anfang der 1990er Jahre und somit ungefähr zeitgleich mit dem Abschluss des Vertrags von Maastricht eingesetzt. Die Ausdifferenzierung der Berufspositionen Ende der 1990er Jahre hat mit Abschluss des Vertrags von Amsterdam einen deutlichen Schub erhalten. Allein die europäischen Berufsverbände existieren seit Beginn der Europäischen Gemeinschaft, was darin begründet sein dürfte, dass Brüssel immer schon ein Ort unter journalistischer Beobachtung von Auslandskorrespondenten war. Der Anstoß deutsche Berufsverbände zu europäisieren, erfolgte erst Mitte der 1990er Jahre, also mit der Erweiterung des Europaprojekts von der Wirtschafts- hin zur politischen Gemeinschaft. Des Weiteren wurde deutlich, dass sich vor allem dort Strukturen bilden konnten, wo entsprechend umfangreiche finanzielle Ressourcen zur Verfügung standen bzw. immer noch stehen. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung von Qualitätsmedien zur redaktionellen Institutionalisierung der Europa-Berichterstattung sowie für die im Rahmen europäischer Subventionsprogramme umfangreich von der EU-Kommission geförderten europäischen Ausbildungsprojekte. Zudem ist eine verstärkte europäische Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ausbildungsinstitutionen und Berufsverbänden sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene vor allem dort zu beobachten, wo Fördergelder für gemeinsame Projekte eingeworben werden. Hieraus kann man schließen, dass die EU und
128 Zu den methodischen Grenzen der Studie vgl. Kapitel 8.
5.4 Zusammenfassung und Fazit
157
Europa medienabhängig als potenziell kommerzialisierbarer journalistischer Gegenstand und als beruflicher Orientierungshorizont auch für journalistische Organisationen zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor geworden sind. Welche langfristigen normativen Zielsetzungen die jeweiligen Organisationen mit einer Europäisierung im Detail verfolgen, inwieweit sie stärker von wirtschaftlichen oder (berufs-)politischen Interessen geprägt sind sowie ob und in welchem Maß die existierenden strukturellen und kulturellen Bedingungen der bisher dominant national organisierten Medienmärkte, Ausbildungstraditionen und Berufsverbandsstrukturen eine weitere Professionalisierung behindern, geht aus der Bestandsaufnahme allerdings nicht hervor. So ist nicht absehbar, ob und wenn ja, inwieweit sich europäische und europäisierte Strukturen wieder zurückbilden, wenn, wie in der journalistischen Fachpresse berichtet wurde, viele Projekte mangels finanzieller Förderung wieder eingestellt werden (vgl. Schäfer 2005: 59) oder Medien unter ökonomischem Druck, bei veränderten politischen Großwetterlagen auf nationaler Ebene oder bei anhaltendem Publikumsdesinteresse Berufspositionen wieder reduzieren.
6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Im Folgenden stehen die Ergebnisse der Experteninterviews im Zentrum der Betrachtung. Sie geben Auskunft über Ausbildung und beruflichen Werdegang, Arbeitsbedingungen und Berufsroutinen, berufliche Einstellungen sowie über den Einfluss der Professionalisierungsprozesse in den Organisationen auf berufliche Handlungsentscheidungen. Zentrale Fragen waren, ob es unter EU-Journalisten eine intramediale Arbeitsteilung gibt und wenn ja, wie sie organisiert ist, ob die gegenwärtig als EU-Journalisten tätigen Journalisten bereits eine EU-spezifische Ausbildung haben, ob EU-Journalisten in (europäische) Berufsverbände oder in anderweitige EU-spezifische Netzwerke eingebunden sind. Aus den Aussagen zum beruflichen Handeln wurden zudem Handlungsziele und -motive der Akteure rekonstruiert: Wie beschreiben und begründen EU-Journalisten die Auswahl der für die Berichterstattung relevanten Themen? Warum wenden sie welche Recherchemethoden an? Welche Strategien entwickeln EU-Journalisten, um unter den gegebenen Arbeitsbedingungen und den vorhandenen beruflichen Organisationsstrukturen bestimmte Professionalisierungsziele zu erreichen? Die Darstellung der Ergebnisse resultiert aus den Überlegungen zu den drei Erkenntnisinteressen qualitativer Interviews (vgl. 4.3.3): Im Sinne der Exploration des Berufsfeldes und der Berufssituation von EU-Journalisten werden ihre Aussagen zunächst anhand der dem Leitfragenbogen zugrunde liegenden Themenbereiche beschrieben und im Hinblick auf unterschiedliche Subgruppen von Journalisten verglichen. Das Themenfeld „Berufssozialisation“ stellt den Verlauf der Ausbildung und des journalistischen Werdegangs dar. Es gibt Auskunft über spezifische Merkmale der Eingewöhnungsphase und über Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung. Außerdem zeigt es das berufspolitische Engagement der Journalisten und ihre Aktivität in beruflichen Netzwerken (6.1). Vor dem Hintergrund journalistischer „Berufsroutinen“ werden die Arbeitsbedingungen und die alltäglichen Handlungsabläufe rekonstruiert. Zentral sind hier das Vorgehen bei der Themenselektion und die damit verbundene Abstimmung mit Kollegen und den Heimatredaktionen sowie die Merkmale der journalistischen Recherche und die Zugangswege zu Informationsquellen (6.2). Schließlich werden im The-
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
menfeld der „beruflichen Leistung“ Aspekte des beruflichen Selbstbilds und des ihm zugrunde liegenden Publikumsbilds sowie des Stellenwerts und der gewünschten Qualität der EU-Berichterstattung herausgearbeitet (6.3). Jeden Abschnitt beschließt eine Systematisierung der Ergebnisse im Hinblick auf die im Rahmen des Professionalisierungskonzepts entwickelten Indikatoren der Expertisierung und Inszenierung sowie eine Interpretation ihrer Ausprägung auf der Grundlage der von den Akteuren angebotenen Erklärungen (6.1.4; 6.2.4; 6.3.4). Abschnitt 6.4 illustriert dann zwei Professionalisierungsstrategien, die induktiv aus dem Interviewmaterial hervorgegangen sind, nämlich die Vernetzung und das Ringen der EU-Journalisten um Deutungshoheit gegenüber ihren Heimatredaktionen. In Abschnitt 6.5 werden die Ergebnisse der Akteursebene schließlich im Hinblick auf Veränderungen der Arbeitsbedingungen und des journalistischen Handelns in Brüssel sowie auf die Frage, inwieweit diese Veränderungen spezifisch für den EU-Journalismus sind, bilanziert.
6.1 Berufssozialisation Der Prozess der Berufssozialisation stellt die Lern- und Entwicklungserfahrungen dar, die Berufstätige in der Ausbildung für ihre Tätigkeit und innerhalb ihrer Berufsfelds im Verlauf ihres Berufslebens machen. Wichtige Sozialisationsinstanzen für Journalisten auf dem Weg in ihre berufliche Tätigkeit sowie mit Beginn ihrer Tätigkeit sind Aus- und Weiterbildungsorganisationen, der Korrespondentenplatz bzw. die Redaktion, für die oder in der sie arbeiten, sowie Berufsverbände und berufliche Netzwerke. Innerhalb solcher sozialen Zusammenhänge – sie stellen die berufseigenen institutionellen „constraints“ der Akteure dar – werden den Journalisten berufsspezifische Kenntnisse und geltende Normen und Handlungsmuster vermittelt; in dieser Phase haben sie Gelegenheit, sich diese anzueignen und zu internalisieren. Die Professionalisierung bzw. Europäisierung im Verlauf der Berufssozialisation meint die Expertisierung der Journalisten als Merkmal und Strategie der Aneignung eines EU-spezifischen Wissens sowie ihre Inszenierung als Merkmal und Strategie der Abgrenzung ihrer berufspolitischen Interessen gegenüber verschiedenen beruflichen Bezugsgruppen. Die Ergebnisse werden entsprechend der berufsbiografischen Chronologie in Ausbildung und journalistischen Werdegang (6.1.1), Eingewöhnungsphase und Weiterbildung (6.1.2.) sowie Berufsverbände und berufliche Netzwerke (6.1.3) unterteilt. Was die Berufssozialisation von EU-Journalisten in spezifischer Weise kennzeichnet und inwieweit sich diese verändert hat, wird im Folgenden dargestellt.
6.1 Berufssozialisation
161
6.1.1 Ausbildung und journalistischer Werdegang Journalisten werden trotz des freien, nicht berufsständisch kontrollierten Berufszugangs typischerweise an Universitäten oder Fachhochschulen, an Journalistenschulen oder durch Redaktionsvolontariate auf ihren zukünftigen Beruf hin ausgebildet. Darüber hinaus eröffnen sich aus der vorhandenen journalistischen Berufserfahrung, aus medieninternen Rekrutierungsstrukturen und nicht selten aufgrund von Zufällen weitere berufliche Karrierewege. Welche Ausbildungsprofile für EU-Journalisten charakteristisch sind, ob sie bereits die auf berufsstruktureller Ebene vorhandenen EU-Bezüge in ihrer Ausbildung und in ihrem journalistischen Werdegang aufweisen und ob sich ihre Ausbildungsprofile von denen anderer Journalisten unterscheiden, zeigen die Beschreibungen ihrer Wege zum EU-Journalismus. Im Hinblick auf die universitäre und journalistische Ausbildung fällt auf, dass die Befragten durchweg sehr hoch gebildet sind, was für deutsche Journalisten im Allgemeinen und für politische Journalisten im Besonderen ebenfalls gilt (vgl. Weischenberg et al. 2006; Preisinger 2002: 171ff.). Fast alle haben einen Hochschulabschluss, sechs der 33 Interviewten eine Promotion. Mit Ausnahme eines Korrespondenten, der durch den Einstieg ins Volontariat in den Journalismus hineinsozialisiert wurde, absolvierten alle Journalisten ein Hochschulstudium in überwiegend geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern wie Geschichte, Wirtschafts- oder Politikwissenschaft in Kombination mit Journalistik oder einem Studium an der Journalisten- bzw. Filmhochschule. Allerdings wiesen nur wenige der Befragten schon in ihrer Ausbildung thematische EU-Bezüge oder gar eine spezielle EU-journalistische Ausbildung auf. Ein Journalist promovierte über ein politisches EU-Thema, zwei weitere über Themen der internationalen Politik. Lediglich fünf jüngere Journalisten brachten durch ihr Fachstudium, ihren gewählten Studienschwerpunkt oder durch einen Studiengang „Europa-Journalismus“ bereits eine fachliche Expertise für ihre gegenwärtige berufliche Tätigkeit mit. Dieses Ergebnis deckt sich mit einer älteren Untersuchung, derzufolge die Mehrheit britischer EU-Korrespondenten zu Beginn ihrer Tätigkeit in Brüssel kein EU-spezifisches Vorwissen hatte (Morgan 1995: 332). Für die meisten EU-Journalisten war nach der universitären Ausbildung, wie es grundsätzlich für den Großteil aller deutschen hauptberuflich tätigen Journalisten gilt, der Einstieg in die journalistische Praxis über ein Redaktionsvolontariat charakteristisch. Nach dem Verlauf ihres journalistischen Werdegangs gefragt, zeigte sich, dass einige Korrespondenten bereits als Redakteure im Ressort Außenpolitik gearbeitet hatten und dort schon für den Bereich EU-Politik zuständig waren. Weitaus häufiger, was somit als ein Schlüssel zur Korrespondentenposition
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
in Brüssel gewertet werden kann, waren EU-Journalisten zuvor auf anderen Auslands- oder Inlandskorrespondentenplätzen tätig. Im Werdegang der Redakteuren gab es überraschenderweise deutliche EU-Referenzen: Ein junger Redakteur hatte Politik- und Kulturwissenschaften innerhalb des Studiengangs „Europäische Studien“ studiert. Eine Redakteurin begründete ihre Affinität zu Europa-Themen mit ihrer Biografie und einem französischen Schulabschluss. Zwei Chefredakteure waren vorher als Ansprechpartner für die Korrespondenten im außen- und im wirtschaftspolitischen Ressort für EU-Politik zuständig. Eine Journalistin war zuvor Inlandskorrespondentin. Weitere Unterschiede ergaben sich in Abhängigkeit des Medientyps und der beruflichen Position als freie oder festangestellte Journalisten. Während Korrespondenten, die für Hörfunk oder Fernsehen arbeiten, in ihren Berufsbiografien nahezu kein EU-Vorwissen aufwiesen, variierte unter den Zeitungskorrespondenten der Anteil derjenigen mit Anknüpfungspunkten zum EUThema mit ihrem Alter. Auch wenn unter den Befragten der Anteil der freien im Vergleich zu den festangestellten Korrespondenten nur gering war, war die Tendenz zu EU-spezifischen Qualifikationen unter den Freiberuflern deutlich höher. Wie kommt es zu der bislang vergleichsweise geringen EU-spezifischen Expertisierung durch Ausbildung und journalistischen Werdegang? Und was qualifiziert die Journalisten stattdessen für ihre Tätigkeit? Die Befunde im Profil der gegenwärtig in der EU-Berichterstattung tätigen Journalisten deuten darauf hin, dass EU-spezifische Berufsvoraussetzungen sowohl von ihrer Generation als auch von ihrer beruflichen Stellung abhängig sind. Wie die Organisationsanalyse in Abschnitt 5.2 zeigte, setzte die Europäisierung der universitären Ausbildung und die Akademisierung der europäischen Ausbildungsebene erst mit dem Vertrag von Maastricht und dem zunehmenden Einfluss der EU-Politik auf die Mitgliedsstaaten ein. Insofern haben bislang vor allem jüngere Journalisten von der Europäisierung der Ausbildung profitiert, was sich mit dem Eindruck einer langjährigen EU-Korrespondentin deckt: „Ich würde sagen, die Ausbildung der Journalisten, die hierher kommen, hat sich enorm verbessert. Die jungen Kollegen können alle sehr gut Sprachen, viele haben eine Zusatzausbildung in EU-Verfassung, EU-Recht, also in irgendeiner Form eine Europaspezifische Qualifikation. Also diese junge Journalistengeneration ist da ganz anders heran geführt worden an diese Sachen.“ (24:1179-1185)
An dieser Aussage wird deutlich, dass nicht nur Sachkompetenz besonders in den Bereichen Wirtschaft und Recht, wie sie in der Ausbildung vermittelt wird, sondern auch umfangreiche Sprachkompetenz als wichtige Schlüsselqualifikation für das journalistische Arbeiten im multinationalen Umfeld der Europäischen Union er-
6.1 Berufssozialisation
163
achtet wird. Das Beherrschen von mindestens zwei Fremdsprachen, insbesondere der EU-Arbeitssprachen Englisch und Französisch, sowie nach Möglichkeit noch einer weiteren Sprache gilt als selbstverständlich mitzubringende Voraussetzung oder als auszubauende Kompetenz. Zudem erfordert der Berufsstandort Brüssel durch seine Internationalität nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch ein hohes Maß an Offenheit und interkultureller Sozialkompetenz, um aktiv auf die aus unterschiedlichen Ländern stammenden Akteure zuzugehen, um einen Zugang und eine sichere Einschätzung der Informationsquellen aus potenziell allen Mitgliedsländern zu erlangen sowie um länderspezifische politische Positionen nachzuvollziehen. Schließlich verweisen die Journalisten auf die zentrale Selbstkompetenz, unter den komplexen Arbeitsbedingungen von Internationalität sowie thematischer Informationsbreite und -flut eigeninitiativ und autonom zu arbeiten, sowie auf die Fähigkeit, die thematische Komplexität bei für sie neuen Themen innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit zu reduzieren und in verständliche Artikel umzuformen. Während die sachbezogene Expertisierung auf das Themenfeld EU demnach vor allem ein Merkmal der jüngeren Generation ist, gelten die genannten Schlüsselqualifikationen für alle Korrespondenten. Sie decken sich in einem hohen Maße mit dem beruflichen Anforderungsprofil von Auslandskorrespondenten und den ihnen zugeschriebenen Charaktereigenschaften (vgl. dazu Wagner 2001: 18-24; Neudeck 1985: 18f.). Betrachtet man nun nicht die akademische Ausbildung oder persönliche Eigenschaften der Journalisten, sondern ihren journalistischen Werdegang, zeigen sich unabhängig von der thematischen Expertise typische Karrierewege in den EUJournalismus. Eintrittsqualifikationen sind in Form vorheriger Korrespondententätigkeiten an anderen Plätzen oder einer leitenden Funktion in der Heimatredaktion vorhanden, was auch das relativ hohe Durchschnittsalter in einer repräsentativen Befragung von deutschen EU-Korrespondenten erklärt (vgl. AIM 2007b: 58). „Ich weiß doch, wie solche Posten besetzt werden. Jede Zeitung sagt: »Hey, da haben wir einen Korrespondenten, der ist wirklich klasse und der kennt sich aus ... und jetzt haben wir eine Stelle in Brüssel!« Die besetzen aus dem Stall heraus und weil der vorher Erfahrung gesammelt hat!“ (10:124-128)
Vorherige Korrespondententätigkeiten, die entweder im Ausland große Berichterstattungsgebiete oder im Inland, vor allem in der Hauptstadt Berlin, ebenfalls politische Berichterstattung zum Gegenstand hatten, sind für die Korrespondenten mit der Erfahrung großer Freiräume für eigene Akzentsetzungen und autonome Arbeit verbunden. Aufgrund einer früheren Position als (Chef-)Redakteur in der Zentrale ist bekannt, wie die typischen Redaktionsabläufe vonstatten gehen, wie die in-
164
6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
ternen Entscheidungshierarchien funktionieren oder wo bestimmte Probleme liegen. Daraus resultiert die Ansicht langjähriger Journalisten, dass vor allem eine solide Ausbildung als Journalist und die journalistische Erfahrung, die durch keinerlei theoretische Ausbildung ersetzt werden kann, für den Korrespondentenplatz Brüssel qualifizieren (10:142-147; 33:54-61). Dass deutsche Auslandskorrespondenten generell eher berufserfahrene Journalisten sind, zeigt auch die Studie von Junghanns/Hanitzsch 2006: 419f.). Eine vorherige Korrespondententätigkeit verweist auf ein für die Mehrheit der Korrespondenten typisches Beschäftigungsverhältnis. Bei vielen EU-Korrespondenten handelt es sich um festangestellte Journalisten, die mit einem befristeten Entsendevertrag aus der Redaktion heraus oder von einem anderen Korrespondentenplatz für einen bestimmten Zeitraum nach Brüssel abgeordnet werden und auf der Grundlage eines Rotationsprinzips später wieder in die Redaktion zurückkehren oder sich auf dem „Korrespondentenkarussell“ (Neudeck 1985: 21) zum nächsten Korrespondentenplatz weiterdrehen. Die sog. „3+2-Jahres-Regelung“, also ein zunächst auf drei Jahre befristeter Zeitraum, der dann maximal um zwei weitere Jahre verlängert werden kann, überwiegt eine dauerhafte Anstellung, wie sie lange Zeit für Brüsseler Korrespondenten üblich war. Auch in anderen Ländern sind mittlerweile Rotationssysteme üblich, so dass die durchschnittliche Verweildauer auf dem Korrespondentenplatz bei nur noch drei bis fünf Jahren liegt (vgl. Baisnée 2002: 126). Eine zweite Gruppe bilden festangestellte und feste freie Journalisten mit befristeten Verträgen, die im wechselseitigen Einvernehmen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer potenziell immer wieder verlängert werden bzw. verlängert wurden. Die dritte Gruppe besteht aus den zahlreicher werdenden, gegenwärtig ca. ein Fünftel des deutschen Pressekorps umfassenden freien Journalisten, die die Dauer ihrer beruflichen Tätigkeit in Brüssel selbst bestimmen.129 Die Redakteure, die durchweg unbefristete Verträge haben, stellen eine vierte Gruppe von EU-Journalisten dar. Bei ihnen ist offen, ob sie möglicherweise, wie im Fall eines Journalisten, der zum Untersuchungszeitpunkt noch Mitglied der Redaktion war, zu einem späteren Zeitpunkt per Entsendungsvertrag nach Brüssel gehen werden. Die Art der beruflichen Rekrutierung bzw. die berufliche Stellung erklären somit neben der Aufenthaltsdauer in Brüssel und der unterschiedlich engen Anbindung an die Heimatredaktion (vgl. auch 6.2.2) die unter den Interviewten variierenden EU-Bezüge in ihrer Ausbildung und ihrem journalistischen Werdegang. Während das Rotationssystem erst in jüngster Zeit Eingang in die Printmedien gefunden hat, sind rotierende EU-Journalisten in Hörfunk und Fernsehen schon lange
129 Im November 2007 waren 26 von 131 akkreditierten deutschen Journalisten freiberuflich tätig.
6.1 Berufssozialisation
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gang und gäbe. Ihre Korrespondenten wurden weniger aufgrund einer spezifischen Sachkenntnis rekrutiert, als vielmehr durch das für Auslandskorrespondenten typische Korrespondentenkarussell nach Brüssel geschickt. Dagegen haben sich freie Journalisten, die sich in Brüssel etablieren und ein Netz von Auftraggebern aufbauen müssen, in der Ausbildung viel spezifischer auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Da es sich bei vielen freien Journalisten zugleich um jüngere Journalisten handelt, resultiert dies zum einen aus der mittlerweile vorhandenen Gelegenheit, überhaupt entsprechende Ausbildungsgänge zu nutzen. Zum anderen besteht für sie eine Notwendigkeit, sich durch EU-spezifische fachliche Qualifikation für potenzielle Arbeitgeber zu profilieren, da sie einer Generation angehören, die immer seltener mit Festanstellungen in Medienorganisationen rechnen kann. Sie bedienen in der Regel journalistische Nischen in Fachblättern oder ergänzen den Nachrichtenbedarf größerer Medien. Die starken EU-Bezüge in Ausbildung und journalistischem Werdegang der befragten Redakteure lassen sich durch ihre leitende Funktion in der Redaktion erklären. So begünstigt offensichtlich ein berufsbiografisch belegbares theoretisches Vorwissen ihre zentrale Stellung als „Gatekeeper“ von EU-Themen.130 Auch wenn die medieninterne Rekrutierung durch das Rotationssystem vergleichsweise weniger an theoretisch fundierten, EU-spezifischen Qualifikationen gebunden zu sein scheint, ist auch innerhalb des Rotationssystems eine Expertisierung feststellbar. Während Meyer angibt, dass Korrespondenten in den 1960er und 1970er Jahren nicht aus Karrieregründen nach Brüssel kamen, sondern weil sie sich für das europäische Projekt interessierten und es unterstützen wollten (2002b: 121f.), ist die berufliche Station Brüssel insbesondere für jüngere Journalisten mittlerweile zu einem Karrierefaktor geworden. Die Redakteure der überregionalen Tageszeitungen betonen den hoch angesehenen Status der Brüsseler Korrespondenten. Ein Redakteur begründete die Bedeutung des Korrespondentenplatzes nicht nur damit, dass das Büro personell ausgebaut wurde, sondern auch damit, dass „nicht irgendwelche Journalisten“ aus der Redaktion dorthin geschickt werden, sondern nur „die besten Leute“ nach Brüssel kommen, nämlich vor allem diejenigen, die sich in der „Kaderschmiede Berlin“
130 Einschränkend muss bemerkt werden, dass die interviewten, für EU-Themen zuständigen Redakteure ausschließlich für Qualitätszeitungen arbeiten, die mehrere Korrespondenten beschäftigen. Es kann daher nicht verallgemeinernd davon ausgegangen werden, dass auch Chefredakteure in den Redaktionen anderer Medien aufgrund ihrer Funktion EU-spezifische Qualifikationen aufweisen müssen. Aus der Sicht der Korrespondenten wird sogar vielfach bemängelt, dass das EU-spezifische Wissen von Chefredakteuren und in den Redaktionen sehr gering sei (vgl. 6.2.2 und 6.3.2). Zur Bestätigung durch Chefredakteure vgl. AIM (2006: 72). Zu ähnlichen Ergebnissen für Frankreich und Großbritannien vgl. Baisnée (2002: 117). Zur Rolle des „Gatekeepers“ vgl. Anmerkung 148.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
bewährt haben (1:147-167; 20:404-417). So müssen sich EU-Korrespondenten bereits auf anderen Stellen qualifiziert haben, um den attraktiver werdenden Korrespondentenposten zu erhalten. Zugleich profitieren sie auch im weiteren Karriereverlauf von dieser Berufsposition, da die Tätigkeit als sehr anspruchsvoll gilt (2:171-182). Mit Blick auf die der EU-Korrespondententätigkeit folgenden journalistischen Stationen lässt sich bei vielen eine berufsbiograpische Fortschreibung an anderen Orten feststellen. Gemäß der zynischen Aussage eines Interviewten „Korrespondenten seien nicht in die Redaktion resozialisierbar“ wandern viele Journalisten zu höher angesehenen Auslandskorrespondentenplätzen131 oder zum Hauptstadtkorrespondentenplatz Berlin weiter.132 Manche Journalisten wechseln zurück in die Zentrale, insbesondere wenn sie per Entsendevertrag von dort kamen, um dort Führungspositionen zu übernehmen.133 Allerdings werden im Urteil der Korrespondenten generationsspezifische Unterschiede deutlich. Während die jüngeren Journalisten den Korrespondentenplatz als zunehmend wichtiger bewerten: „Es gibt eine heimliche Hierarchie unter Auslandskorrespondenten (…): der Topplatz ist nach wie vor Washington, früher waren die Plätze, die dann folgten, Paris, London, Moskau; heute ist Peking noch dazu gekommen. Ich würde aber behaupten, dass sich Brüssel im letzten Jahrzehnt auf Platz 2 geschoben hat. Wer die Wahl hat zwischen Paris und Brüssel, wird relativ häufig Brüssel wählen, wenn er wirklich politisch arbeiten will. Es ist ein hochpolitischer Posten hier.“ (23:98-109)
sind einige langjährige EU-Korrespondenten eher skeptisch: „Also Brüssel ist kein Ort, mit dem man Karriere macht.“ (15:481f.) und „Karrieren werden auch manchmal an Brüssel vorbei gemacht. Ich kenne wenige Brüsseler Journalisten, die von hier auf einen Führungsposten gesprungen wären. Also wir gelten auch dadurch, dass wir so lange nicht in der Zentrale gewesen sind, als Fremdkörper für das Redaktionsgefüge.“ (21:845-850)
131 Andreas Oldag, EU-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ging im Anschluss an Brüssel nach New York, sein Nachfolger Christian Wernicke anschließend nach Washington. 132 Petra Pinzler, EU-Korrespondentin für DIE ZEIT, ging im Anschluss an ihre Tätigkeit in Brüssel nach Berlin ebenso wie der Deutschlandfunk-Journalist Gerhard Irmler. 133 Horst Bacia, EU-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ist mittlerweile verantwortlicher Redakteur für Die Gegenwart in der Frankfurter Zentrale. Dr. Tobias Blasius ist seit Oktober 2006 stellvertretender Chefredakteur der Lokalredaktion der Essener Allgemeinen Zeitung. Norbert Robers leitet seit Anfang 2008 das Ressort Innenpolitik bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Essen.
6.1 Berufssozialisation
167
sind typische Kommentare zum beruflichen Stellenwert des Korrespondentenplatzes Brüssel. Die divergierenden Bewertungen lassen sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen beruflichen Positionen interpretieren. Während Journalisten der älteren Generation typischerweise in langfristigen Beschäftigungsverhältnissen stehen oder sich auf dem Korrespondentenplatz Brüssel als feste Freie eingerichtet haben, müssen jüngere, sofern sie nicht als freie Journalisten arbeiten, ohnehin mit einer beruflichen Veränderung nach Ablauf ihrer Vertragsfrist rechnen und ihre berufliche Weiterentwicklung aktiv gestalten. Die meisten jüngeren Journalisten geben daher von vornherein an, dass sie nicht auf Dauer in Brüssel bleiben wollen, sondern die Tätigkeit als Etappe ihrer beruflichen Laufbahn sehen. Einige betonen, dass sie diese aus einem karrierepolitischen Kalkül heraus gewählt haben. Der erhoffte Karrieresprung geht auf die oben angesprochene redaktionelle Aufwertung des Korrespondentenstandorts zurück. Doch gilt diese Aufwertung nicht für alle Medien gleichermaßen. Während die Korrespondententätigkeit in Brüssel bei Zeitungen mittlerweile durchaus karrierefördernd wirken kann, spielt dieser Berufsabschnitt beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine immer noch untergeordnete Rolle (9:107-117). Schließlich ist es nicht unüblich, dass Journalisten, die in Brüssel bleiben wollen, entweder das Medium134 oder in andere, dem Journalismus ähnliche Berufsfelder wie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wechseln. Die zunehmende Durchsetzung des Rotationsprinzips kann vor dem professionellen Hintergrund gedeutet werden, wonach es aus Sicht der Redaktionen wichtig ist, dass mit der gestiegenen politischen Bedeutsamkeit der Europäischen Union Journalisten eine professionelle Distanz zum Berichterstattungsobjekt wahren: „Die Idee ist einfach, dass man in vielen Redaktionen sagt: Nach fünf Jahren hat der jedes Themenfeld mal beackert, und jetzt wollen wir den von dieser natürlich auch sehr technokratischen und manchmal etwas blutleeren Berichterstattung befreien und schicken einfach mal einen neuen hier hin, der vielleicht den Apparat ganz anders sieht, viel kritischer oder von einem anderen Blickwinkel aus, auch mal andere Themen entdeckt.“ (17:157-163)
Bei Auslandskorrespondenten wird die Rotation als notwendig erachtet, da sie wegen ihrer besonderen Arbeitssituation als „Einzelkämpfer“ außerhalb der Redaktion einen vergleichsweise seltenen Kontakt zum Heimatland und kein journa-
134 Martin Winter, zuvor EU-Korrespondent der Frankfurter Rundschau, wechselte auf den Posten eines Büroleiters im Brüsseler Büro der Süddeutschen Zeitung.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
listisches Korrektiv haben. Einerseits werden sie als Experten betrachtet und unterliegen daher weniger redaktionellen Weisungen, andererseits laufen sie aber Gefahr, mit längerer Verweildauer die konstruktiv-kritische Haltung gegenüber dem Gastland zu verlieren (Siemes 2000: 34ff., vgl. auch 6.3.1). In ähnlicher Weise berichten einige EU-Korrespondenten daher von dem umfassenden Insiderwissen langjähriger Kollegen, kritisieren aber zugleich deren Detailverliebtheit in Auskünften und Berichterstattung. Zudem kommt ihrer Meinung nach die Gefahr hinzu, dass langjährige Journalisten oft derartig vernetzt sind, dass ihnen eine professionelle Distanz gar nicht mehr möglich ist (22:22-43; vgl. auch 6.4.1). Aus diesen Gründen regelt die Rotation von EU-Journalisten in institutionalisierter Form den Balanceakt zwischen Expertisierung und einer durch den „frischen Blick“ neuer Korrespondenten immer wieder herzustellenden kritischen Distanz. Insgesamt illustrieren die Befunde, dass eine EU-bezogene Ausbildung zwar erst unter den jüngeren Journalisten vorhanden ist. Dennoch waren bei fast allen befragten Journalisten Schlüsselqualifikationen oder umfangreiche journalistische Berufserfahrungen als Korrespondent oder in leitender Funktion feststellbar, die sie für ihre Tätigkeit als EU-Journalisten qualifizierten. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Anforderungs- wie auch das Ausbildungsprofil gestiegen ist und dass der Korrespondentenplatz Brüssel von jüngeren Journalisten zunehmend aus karrierepolitischem Kalkül gewählt wird. Für das unter Auslandskorrespondenten typische Rotationssystem ist in spezifischer Weise charakteristisch, dass es bei EU-Journalisten nicht zwangsläufig zu weiteren internationalen Korrespondentenplätzen führt, sondern vielfach in die Hauptstadt Berlin oder in leitende Positionen in der Heimatredaktion.
6.1.2 Eingewöhnungsphase und Weiterbildung Unabhängig vom Umfang des bereits vorhandenen praktischen oder theoretischen Vorwissens, das EU-Journalisten aus ihrer Ausbildung und, wenn vorhanden, aus vorherigen Berufspositionen in ihre neue Berufsposition einbringen, haben alle EU-Journalisten eine Phase der Eingewöhnung erlebt, in der sie sich mit dem technischen Innenleben des „Raumschiffs Brüssel“ (Oldag/Tillack 2003) vertraut machen mussten. Wie lange sie dauerte, was diese Phase kennzeichnete und ob sie Möglichkeiten einer EU-spezifischen Weiterqualifizierung in Anspruch genommen haben, illustrieren folgende Aussagen. Die Dauer der Eingewöhnungsphase wird von den Korrespondenten in der Regel mit rund einem Jahr angegeben, wie das Zitat eines Korrespondenten illustriert:
6.1 Berufssozialisation
169
„Also ich würde sagen: Sie brauchen sechs Monate und sie haben das Seepferdchen. Dann können sie schwimmen und schlucken nicht mehr ständig Wasser. Dann haben sie die meisten Themen einmal gehabt. Und dann brauchen sie noch mal sechs Monate und haben den Freischwimmer. Dann wissen sie auch, wie es wirklich geht, und fühlen sich wohler. Dann haben sie jedes akute Thema einmal gemacht, sie haben einmal über den Haushalt geschrieben, und sie haben alle Räte kennen gelernt und alle wichtigen Richtlinien einmal durchgeackert. Und sie sind einmal zu oft in nichts bringenden Veranstaltungen gewesen und wissen, wo sie künftig nicht mehr hingehen müssen. Und sie haben vor allen Dingen ein Gespür entwickelt dafür, wie Entscheidungen laufen.“ (13:1045-1057)
Ein zentrales Merkmal, das diesen Zeitraum abgrenzt, sind der Wiedererkennungseffekt von Themendossiers, die bereits eine längere Vorgeschichte haben und die wachsende Vertrautheit im Umgang mit der Bandbreite von immer wieder neuen Themen. Das Kennenlernen der drei EU-Institutionen sowie weiterer relevanter Akteure wie die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und die Landesvertretungen vollzieht sich in der Regel sehr schnell. Doch auf inhaltlicher bzw. fachlicher Ebene bleiben Brüsseler Themen für Journalisten auch nach der Eingewöhnungsphase eine Herausforderung, da sie sich täglich ad hoc in immer neue Themengebiete einarbeiten müssen. So verwundert es nicht, dass einige Korrespondenten davon sprechen, dass ihre Eingewöhnungsphase immer noch andauert, sie fortwährend dazulernen oder dass sie immer noch keine ihrer Arbeit im nationalen Journalismus vergleichbare Sicherheit erreicht haben (z.B. 10:42f.; 3:138142). Ob und inwieweit sich die Eingewöhnungsphase in ihrer Dauer von der an anderen Orten oder in anderen Themenbereichen unterscheidet, lässt sich durch die Einschätzung der Korrespondenten nicht bestimmen. Zentral ist jedoch ihre Schlussfolgerung, dass es völlig unökonomisch sei, Brüssel nach zwei oder drei Jahren wieder zu verlassen (4:24-26; 8:21-29; 16:69-73). Daran wird deutlich, dass die Einstiegsinvestition in die EU-spezifische Expertise als sehr hoch empfunden wird und sich erst bei einer längerfristigen Berufstätigkeit in Brüssel auszahlt. Was macht die Eingewöhnungsphase so schwierig? Ein wichtiges Kennzeichen von EU und Europa als Gegenstand der Berichterstattung ist die Komplexität der politischen Vorgänge und Inhalte. Dabei meint Komplexität erstens die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und politischen Entscheidungsprozesse, die dazu führt, „dass man in Brüssel ziemlich erschlagen wird von der Informationsmenge“ (11:41f.). Zweitens erschweren die Themenvielfalt und die Vielzahl der involvierten politischen Akteure, die zudem in einer anderen Machtkonstellation als auf nationaler Ebene stehen, die Übersicht (9:27-50). Für die Selbstwahrnehmung der Korrespondenten ist daher bezeichnend, dass sie in der Eingewöhnungsphase und
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Brüssel ihr EU-Fachwissen spezifizieren, sich aber in hohem Maße als Themengeneralisten verstehen. Während in den Berliner Hauptstadtbüros der großen deutschen Tageszeitungen jeweils Themenspezialisten für einzelne Politikfelder oder für einzelne Ressorts wie Politik, Wirtschaft oder Kultur schreiben, wird die EU-Berichterstattung von einer weitaus geringeren Anzahl von Korrespondenten bestritten, die ein entsprechend breiteres Themenspektrum abdecken müssen.135 Betrachtet man im Vergleich dazu die Gruppe der Redakteure, ist das Verhältnis von Spezialisierung und Generalisierung umgekehrt. Die mit EU-Themen befassten Redakteure überregionaler Tageszeitungen sind zumeist Themenspezialisten in Bereichen wie Politik, Wirtschaft oder Umwelt, die im Laufe ihrer journalistischen Tätigkeit die europäische Dimension mit einbezogen haben. Ein drittes Merkmal besteht darin, dass „die EU-Mühlen recht langsam mahlen“ (9:51), so dass sich gerade neue Journalisten erst einmal durch einen Berg von Akten graben müssen, um die unter Umständen lange Vorgeschichte einer Richtlinie kennen zu lernen und nachzuvollziehen. „Die EU arbeitet mit einem Wiedervorlage-System. Ein Thema taucht auf, beispielsweise wenn die Kommission einen Richtlinienvorschlag macht. Dann steigt die Welle der Berichterstattung hoch, und dann verschwindet das Dossier. Dann taucht es auf einmal sechs Monate später im Parlament wieder auf. Dort wird es behandelt, es gibt eine Abstimmung – das Dossier verschwindet, taucht drei Monate später im Ministerrat auf. Wenn man hierher kommt, dann stellt man fest, dass ständig Dossiers auftauchen, die schon eine bestimmte Laufzeit durch die EU-Institutionen hinter sich haben, mit denen man selbst aber noch nichts zu tun gehabt hat.“ (9:52-62)
Die für die Funktionsweise der EU typische Langwierigkeit der politischen Entscheidungsprozesse stellt Journalisten vor die Herausforderung, die Entwicklung einerseits kontinuierlich und mit ausreichendem thematischen Verständnis mitzuverfolgen, und andererseits nach den Aufmerksamkeitsregeln der Berichterstattung lediglich punktuell bestimmte, für die Öffentlichkeit relevante Stadien auszuwählen (vgl. auch 6.2.1). Ein vierter Aspekt ist, dass Europa-Politik, die über lange Zeit dominant Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgesetzgebung war, hochgradig verrechtlicht ist (6:44). Ebenso diffizil wie der Fachjargon von Juristen und der der jeweiligen Wirtschaftsbranchen ist das, was ein Korrespondent als „Eurospeak“
135 Das Hauptstadtbüro der Süddeutschen Zeitung ist mit 15 Personen besetzt, während im Brüsseler Büro drei Korrespondenten arbeiten.
6.1 Berufssozialisation
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bezeichnet (6:39-42). Damit verweist er auf die institutionsinterne Fachsprache der „Eurokraten“, die es für die Journalisten erst einmal selbst zu verstehen gilt, bevor sie in der Berichterstattung für Nicht-Insider übersetzt werden kann. So müssen Journalisten den Unterschied zwischen Grünbüchern, Weißbüchern, Mitteilungen, Verordnungen, Working-Documents und anderen EU-Dokumenten kennen, sich in einer Vielzahl von Abkürzungen zurechtfinden, die für Institutionen, Abteilungen, Politikbereiche, Ausschüsse, Programme und Projekte stehen und sich innerhalb gleichzeitig und gleichberechtigten verwendeten Arbeitssprachen Französisch, Englisch und Deutsch zurechtfinden.136 Einige Journalisten verweisen auf im „babylonischen EU-Sprachmix“ existierende Formulierungen, die sich aus französischen und englischen Begriffen zusammensetzen, sowie auf feststehende, aber weitgehend informelle Bezeichnungen regelmäßig wiederkehrender Veranstaltungen, die auf spezielle EU-Ereignisse zurückgehen. Ein fünftes charakteristisches Merkmal des Berichterstattungsgegenstandes ist seine Verschränkung von innen- und Europa-politischer Dimension (21:249f., 29:62-67, vgl. bereits den Hinweis bei Krause 1991: 23). Das, so die einhellige Einschätzung der Korrespondenten, unterscheidet diesen Korrespondentenplatz ganz wesentlich von anderen Auslandskorrespondentenplätzen. Da EU-Politik weit mehr als früher zugleich Innenpolitik ist, müssen sie nicht nur die Auswirkungen der Europa-politischen Prozesse auf die nationale Ebene, sondern auch die aktuelle politische Lage in Deutschland und die dort relevante Nachrichtenlage im Blick haben. Schließlich müssen die meisten Korrespondenten neben der Fülle und Komplexität der für die EU-Berichterstattung relevanten Themen und Ereignisse noch zwei weitere, von der EU unabhängige Themenbereiche bewältigen. Sie bestehen in der Berichterstattung über die NATO als politische Institution, die ebenfalls in Brüssel lokalisiert ist, und in der Belgien- bzw. Benelux-Berichterstattung, die sie, sofern sie ein oder mehrere Medien alleine bedienen, zusätzlich leisten müssen (17:16-82).137 Daher sind insbesondere die Korrespondenten regionaler Tageszeitungen klassische Auslandskorrespondenten und zugleich politische Korrespondenten, da sie sowohl eine Region als auch die Handlungsabläufe eines politischen Systems beobachten. In dieser Funktion ist ihr Tätigkeitsprofil dem der Berliner Hauptstadtkorrespondenten vergleichbar.138
136 So verbirgt sich z.B. hinter den gängigen Abkürzungen EESC, CESE und EWSA jeweils ein- und dasselbe Organ, nämlich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss. 137 Zur Funktion und zu typischen Aufgaben von Auslandskorrespondenten vgl. Fischer (1982). 138 Die Funktion und typischen Tätigkeitsprofile von Hauptstadtstadtkorrespondenten waren bislang selten Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchungen. Erst jüngere Studien wie die von Kramp/Weichert (2008) und Rinke (2006) liefern Einblicke in den Hauptstadtjournalismus.
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Zentrale berufliche Ziele der Korrespondenten in der Einarbeitungsphase liegen aufgrund der für die EU-Berichterstattung charakteristischen Eigenschaften darin, möglichst schnell die Zusammenhänge der Entscheidungsabläufe zu verstehen (2:44-56) und ein Gefühl für die Relevanz und Reichweite bestimmter Ereignisse zu bekommen (8:351-356; 24:61-65). Viele Journalisten betonen, dass es in dieser Situation notwendig sei, sich ein informelles Netzwerk von Personen aufzubauen, die ihnen die Materie anschaulich erklären (6:43f.), die ihnen helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und die jeweils relevanten Informationen richtig einzuordnen. Dabei werden die Neuankömmlinge insbesondere von ihren berufs- und Brüssel-erfahrenen Kollegen unterstützt. Sie erhalten Tipps hinsichtlich des Zugangs zu Quellen und Dokumenten und der Einschätzung bestimmter Situationen (2:109-120; 9:68-77; 17:688-908). Das die Eingewöhnungsphase kennzeichnende hohe Maß an thematischer Unsicherheit und der regelmäßig wiederkehrende „morgendliche Adrenalinschub, weil wieder etwas völlig neu ist“ (8:45ff.) erfordern neben der in Anspruch genommenen Hilfestellung anderer auch die Ausbildung individueller Strategien zur fristgerechten Bewältigung neuer Themen (33:70ff.). Abweichend von den Aussagen der meisten Journalisten berichten vor allem jüngere Korrespondenten, dass ihre Eingewöhnungsphase sehr kurz war. Eine thematische Einarbeitung sowie das Kennenlernen der Institutionen und Abläufe waren aufgrund der EU-Bezüge im Studium nicht mehr notwendig. Sie konnten sich auf den Aufbau eines Kontaktnetzwerks sowie die Akquirierung von Kunden konzentrieren. Für zwei der jüngeren Redakteure war die thematische Einarbeitung ebenfalls kein Problem: „Ich wusste ja aus dem Studium, wie die EU funktioniert“ (5:68f.; ähnlich auch 1:74-78).139 Zur Bewältigung der thematischen Komplexität wäre es nahe liegend, wenn nicht bereits durch eine EU-spezifische journalistische Ausbildung oder anderweitig erworbenes theoretisches Hintergrundwissen vorhanden, sich das notwendige Fachwissen durch Formen institutionalisierter Weiterbildung systematisch anzueignen. Nach solchen Möglichkeiten und ihrer aktiven Nutzung befragt, gaben nur wenige Journalisten an, sich in der Vorbereitung auf ihre Arbeit als EU-Korrespondenten oder während ihrer Arbeit je weitergebildet zu haben. Lediglich eine Korrespondentin hatte einmal ein dreitägiges Seminar für Regionaljournalisten absolviert; eine weitere nahm an einer von der holländischen Beobachtungsgruppe EU-Observatory organisierten Begehung zur Information über den Sitz und die
139 Die Aussagen der Redakteure zu ihrer Einarbeitungsphase beziehen sich typischerweise auf inhaltliche Aspekte des Berichterstattungsgegenstands, da sie keine neue Berufsposition antreten, sondern mit EU-Berichterstattung nur einen, unter Umständen für sie neuen Themenbereich innerhalb ihres Aufgabenbereichs erhalten haben.
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Aktivitäten der in Brüssel ansässigen Lobbys teil (3:92-95; 24:1228-1242). Eines der zahlreichen Seminarangebote des European Journalism Centre (EJC), das die meisten Korrespondenten überhaupt nicht kannten (z.B. 13:1010ff.), hatte eine jüngere freie Journalistin in Anspruch genommen; sie war in diesem Rahmen nach Polen gereist und wusste auch von Seminaren zum Thema Verfassung oder Außenpolitik zu berichten (25:31-33). Während die meisten und darunter nicht nur ältere Korrespondenten betonten, dass sie sich solche EU-bezogene Aus- und Weiterbildungsangebote zu Beginn ihrer Tätigkeit gewünscht oder zumindest „einen theoretischen Crashkurs: Wer entscheidet was? Wie laufen welche Dinge in Brüssel?“ für sinnvoll gehalten hätten (2:95-106; 13:1010ff.), verweist ein Journalist darauf, dass existierende Angebote häufig „am Bedarf vorbeigehen“. Während es demnach zum Berufsbeginn der älteren Korrespondentengeneration solche Weiterbildungsangebote noch nicht gab, lassen sich diese für Brüssel-Neulinge nicht mit ihrer Berufsrealität in Einklang bringen. Durch den unmittelbaren Einstieg in den von Presseterminen dicht gedrängten Berufsalltag bleibt ihnen keine Zeit für Seminare, Tagungen, Workshops und andere Formen der Weiterbildung. Bestenfalls die zahlreichen, extra für Journalisten angebotenen abendlichen Fremdsprachenkurse lassen sich nach Redaktionsschluss gut mit dem Arbeitsalltag verbinden. Wenngleich nicht im Rahmen institutionalisierter Weiterbildungseinrichtungen, so gibt es doch weitere unterschiedlich formalisierte Wege der Vermittlung EU-spezifischen Wissens, die die Journalisten entweder selbst durchlaufen haben oder durch die sie als erfahrene Brüssel-Korrespondenten ihr Wissen an jüngere Kollegen weitergeben. Zwei Agenturjournalisten berichten von der regelmäßigen Betreuung von Volontären der Auslandsredaktion, die sie für ein bis zwei Wochen begleiten und unterstützen (12:658-662), sowie von der erfolgreichen Einführung und Etablierung von „EU-News-Workshops“. Diese werden mehr oder weniger regelmäßig hausintern für mit EU-Themen befasste Kollegen aus ganz Europa oder in anderen Auslandsbüros der Agentur abgehalten. Das Ziel besteht darin, zu erklären, „wie wir hier arbeiten, wie die EU funktioniert“, und sich politische Themen durch „Gäste, irgendwelche Botschafter oder Kommissionsbeamte“ erklären zu lassen (13:1012-1037). Auch die Redakteure von überregionalen Tageszeitungen haben zur hausinternen Weiterbildung das Korrespondentenbüro ihrer Zeitung in Brüssel besucht und dort an Gesprächen mit wichtigen politischen Akteuren teilgenommen (20:248-255; 7:926-940). Einige Korrespondenten sind über medieninterne Fortbildungen hinaus als „Ausbilder“ aktiv. So übersetzte eine Korrespondentin eine speziell an EU-Journalisten gerichtete Informationsbroschüre ins Deutsche. Ein Korrespondent gibt regelmäßig Seminare am EJC und an anderen universitären Einrichtungen, und weitere Korrespondenten halten Vorträge und Seminare für junge Nachwuchs-
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journalisten in Deutschland. Viele EU-Korrespondenten berichten auch auf journalistischen Symposien und Podiumsdiskussionen in Deutschland über ihren journalistischen Arbeitsalltag und diskutieren als Experten über die EU und Europa in den Medien (15:k.A.; 17:882-886; 24:1256-1260). Für die meisten besteht der direkte und persönliche Weg eines berufsbegleitenden Lernens und der Weitergabe eigener Berufserfahrung in der schon für die Eingewöhnungsphase als charakteristisch benannten Unterstützung von neuen Kollegen. Insgesamt ist für die EU-Korrespondenten kennzeichnend, dass sie trotz EUspezifischer Expertisierung und Routinisierung im Rahmen der Eingewöhnungsphase in hohem Maße Themengeneralisten bleiben. Es ist auffällig, dass journalistische Weiterbildung im Berufsalltag der meisten Journalisten keine Rolle spielt. Nur wenige kennen und nutzen das EJC als zentrale, auf die EU fokussierte Weiterbildungseinrichtung (vgl. 5.2.2). Abgesehen von Formen medieninterner Selbstorganisation sind in Brüssel anderweitige, weniger institutionalisierte Netzwerke der beruflichen Weiterbildung nicht vorhanden. Da zudem der berufliche Alltag geringe Freiräume für Weiterbildungsmöglichkeiten lässt, sind die meisten Korrespondenten auf individuelle Aneignungsstrategien angewiesen. Im Unterschied zu Auslandskorrespondenten, die als „einzelkämpfende Allrounder“ (Mükke 2003) keine unmittelbaren Kollegen haben, und zu Hauptstadtkorrespondenten, deren Kollegen zugleich unmittelbare Konkurrenten sind, können EU-Korrespondenten neben der üblichen Vertiefung des Wissens durch ein „learning by doing“ in besonderem Maße auf die Hilfe von Kollegen zurückgreifen.
6.1.3 Berufsverbände und berufliche Netzwerke Mit Berufsantritt, aber auch mit einem Berufswechsel an einen neuen Ort oder in eine neue Position stellt sich für viele Journalisten die Frage, ob sie einem Berufsverband als einer freiwilligen Vereinigung zur Vertretung gemeinsamer beruflicher Interessen oder anderweitigen Netzwerken zum fachspezifischen Austausch beitreten. Inwieweit sich EU-Journalisten innerhalb solcher Berufsverbände oder in journalistischen Netzwerken engagieren und welche Bedeutung sie solchen Organisationen als Standes- und Interessenvertretung zuschreiben, zeigen folgende Aussagen. Viele Journalisten reagierten ablehnend und verneinten die Frage, ob sie Mitglied eines Berufsverbandes oder beruflichen Netzwerks seien. „Ich mag keine Gewerkschaften“ (1:101-105); „Ich bin nur temporär in Brüssel“ (2:123-128), „Das braucht man nicht“ (7:66), „Aus politischen Gründen“ (9:119-121) lauteten einige Begründungen. Während tatsächlich keiner der festangestellten Redakteure auf nationaler Ebene Mitglied im Deutschen Journalistenverband oder bei ver.di war, stellte
6.1 Berufssozialisation
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sich unter den Korrespondenten heraus, dass fast alle Mitglieder der europäischen Berufsvereinigung L’ Association de la Presse Internationale (API) waren und dieser Vereinigung für den Berufsalltag durchaus wichtige Funktionen zuschrieben. Dieser Zusammenschluss von in Brüssel arbeitenden Auslandskorrespondenten ist für sie von Bedeutung, weil er als „rein funktionaler, serviceorientierter Interessenvertretungsverband“ (9:129f.) zahlreiche Leistungen erbringt, die für die Korrespondententätigkeit hilfreich sind. So ist die Ausstellung des belgischen Presseausweises, der neben der Akkreditierung bei der EU und der NATO den Zugang zu allen öffentlichen Institutionen Belgiens ermöglicht, eine zentrale Motivation für die Mitgliedschaft. Damit verbunden sind Gratisfahrten mit der belgischen Bahn, die vor allem für diejenigen interessant sind, die neben der EU- auch die Belgienund Benelux-Berichterstattung abdecken. Mehrere Korrespondenten berichten, dass die API früher, als das Pressekorps noch kleiner war, Charterflüge zu den auswärtigen Gipfeltreffen organisierte. Die Unterstützung und Beratung bei administrativen Angelegenheiten wie dem Umgang mit belgischen Behörden bei der Wohnsitzanmeldung, in Steuerangelegenheiten und Sozialversicherungsfragen spielen bis heute eine wichtige Rolle. Als „berufsständische Interessenvertretung“ (13:93f.) hat die API in den Augen der Korrespondenten an Bedeutung gewonnen. Sie betonen die zunehmende Notwendigkeit einer organisierten Interessenvertretung des Brüsseler Pressekorps gegenüber den EU-Institutionen. Mit wachsender Bedeutung der europäischen Institutionen stehen diese nicht nur stärker unter journalistischer Beobachtung und Kontrolle, sondern geht von ihnen auch eine intensivere Aktivität zur Organisation und Steuerung der Pressekontakte aus. Dies hat das Konfliktpotential zwischen politischen EU-Akteuren und EU-Korrespondenten deutlich erhöht. Als journalistischer Berufsverband nimmt die API eine Mittlerfunktion ein, indem sie auf die Defizite journalistischer Arbeitsbedingungen aufmerksam macht und den beruflichen Interessen des Brüsseler Pressekorps durch Petitionen oder andere Formen der Stellungnahme eine repräsentative Stimme gibt. Zu den zentralen Streitpunkten gehört seit einiger Zeit die Sicherstellung des Zugangs zu EU-Institutionen, -Veranstaltungen, -Pressekonferenzen und -Dokumenten (2:133-145; 17:534-543). So haben sich mit dem Umzug der Kommission und der Pressestelle vom Breydel- ins Berlaymont-Gebäude am Rond-Point Schuman die Zugangsbedingungen insoweit verändert, als Journalisten nur noch den durch Sicherheitsschranken abgetrennten Teil des Gebäudes betreten dürfen, in dem das tägliche Pressebriefing stattfindet. Dagegen ist es ihnen nicht mehr möglich wie einst im „muffigen Breydel“, mit dem Aufzug direkt zu Kommissaren und ihren Mitarbeitern zu fahren, um sie um persönlichen Stellungsnahmen zu bitten. Beschränkungen ihrer Arbeit sahen die Korrespondenten in schlechten Arbeitsbedin-
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gungen wie der mangelnden technischen Infrastruktur und einem auf restriktive Kommunikationspolitik der Pressesprecher zurückgehenden schlechten Verhältnis zur Kommission in der Zeit der britischen Ratspräsidentschaft.140 Aktuelle Entwicklungen in der EU-Kommunikationspolitik sind immer häufiger Anlass für massiven Protest der Korrespondenten, die sich in Stellungnahmen der API niederschlagen (8:89-99; 10:198ff.). In dem von Margret Wallström als Kommissarin der Generaldirektion Kommunikation im Oktober 2005 vorgelegten „Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion“141 wurde unter anderem die Idee der Einführung einer institutionseigenen Nachrichtenagentur vorgelegt. Im am 1. Februar 2006 beschlossenen „Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik“, dem dritten und letzten Teil der Kommunikationsstrategie der EU-Kommission, war sie nicht mehr vorgesehen, was auf die Aktivitäten der API zurückgeführt und als Erfolg der kollektiven Interessenvertretung der Brüsseler Korrespondenten gewertet werden kann. Sie sahen in diesem Projekt eine Form der politischen Propaganda sowie eine unzulässige Konkurrenz zu ihrer journalistischen Tätigkeit. Die API vertritt das Pressekorps auch gegenüber belgischen Behörden, da es aufgrund des Arbeitsorts der belgischen Medienrechtssprechung unterliegt. So entbrannte im Jahre 2004 im Zusammenhang mit Polizeirazzien im Büro des SternKorrespondenten Hans-Martin Tillack eine Diskussion über die Pressefreiheit und die Wahrung des Quellenschutzes in Brüssel.142 Nach der Europäischen Men-
140 Aufgrund rigider Sicherheitskontrollen kam es bei einem Ratstreffen sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen britischen Sicherheitsbeamten und einem Korrespondenten (21:77-84; 24:242-246); vgl. dazu den Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 03.09.2005, S. 8. 141 Seit der Amtszeit von José Manuel Barroso organisiert eine eigene Generaldirektion (GD Kommunikation) den Presse- und Sprecherdienst sowie die übergreifende EU-Kommunikationspolitik. Der derzeitigen Vizepräsidentin und EU-Kommissarin für Kommunikation Margot Wallström obliegt die Definition einer Kommunikationsstrategie. Nach einem ersten Aktionsplan stellte Wallström zunächst den sog. „Plan D – für Demokratie, Dialog und Diskussion“ (KOM 2005, 494) und am 1. Februar 2006 das „Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik“ vor. Plan D ist auf der Internetseite der Europäischen Kommission abrufbar unter (Zugriff: 17.02.2010), das Weißbuch unter (Zugriff: 17.03.2010). 142 Der für seine Recherchen über Missstände in den EU-Behörden bekannte Journalist Hans-Martin Tillack wurde am 19. März 2004 von einer Spezialeinheit zur Korruptionsbekämpfung der belgischen Polizei festgenommen. Das Büro des Stern-Korrespondenten und Co-Autors des Buchs „Raumschiff Brüssel“ wurde durchsucht, zahlreiche Kisten mit Archivmaterialien zu Brüsseler Betrugs- und Korruptionsgeschichten sowie Arbeitsgeräte wie Laptop und Handy beschlagnahmt. Anlass war der seit 2002 auf Seiten der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF bestehende Verdacht, Tillack habe einen Beamten der Kommission bestochen, um an interne Geheimdokumente zu kommen. Auch wenn der Vorwurf von der belgischen Staatsanwaltschaft im Januar 2009 fallengelassen und der Fall als ungeklärt abgeschlossen wurde, löste er eine heftige Diskussion über die Arbeitsbedingungen in Brüssel sowie über die Pressefreiheit und den Quellenschutz in Belgien aus.
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schenrechtskonvention hat jeder Journalist das Recht, seine Quellen durch Anonymität zu schützen. Die Umsetzung variiert jedoch von Land zu Land, so dass die Durchsuchung von Tillacks Büro und die Beschlagnahmung von Recherchematerial von den übrigen Korrespondenten massiv kritisiert wurde, nach belgischem Recht aber legal war (vgl. Lob 2004: 13). Auch hier führte der gemeinsame Druck von API und anderen Journalistenverbänden zur Änderung des belgischen Gesetzes (21:49-84, vgl. auch Alfter 2005, 2004). Wenngleich die meisten Korrespondenten den Service von API nutzen und die Bedeutung der Interessenvertretung als wichtig erachten, scheinen die wenigsten aktive Mitglieder des Berufsverbands zu sein (8:99, 14:71ff.). Ihre Rolle sehen die Journalisten weitgehend in der Zahlung des Mitgliedsbeitrags und der damit verbundenen Unterstützung und Delegation exekutiver Aufgaben an die gewählten oder angestellten Vertreter des Verbands. Überraschend selten wurde die berufliche Netzwerkfunktion des Verbands angesprochen. Nur eine freie Korrespondentin betonte, dass es ihr zu Beginn ihrer Arbeit in Brüssel wichtig war, mit Hilfe der API Kontakte zu Kollegen zu knüpfen. Innenorientierte berufsständische Interessen wie der berufliche Erfahrungsaustausch und die Förderung der beruflichen Weiterentwicklung, berufssozialisierende Funktionen wie die Weitergabe journalistischer Qualitätsstandards durch wechselseitige Beobachtung und soziale Kontrolle sowie die mit einem organisierten Vereinsleben einhergehende solidarisierende und sozialintegrative Leistung werden offensichtlich außerhalb des institutionellen Rahmens eines Berufsverbandes geregelt und erfüllt. So ist es für manche Journalisten sogar vollständig verzichtbar, überhaupt Mitglied der API zu sein (32:k.A.). Im Einklang mit diesem Befund steht, dass keiner der Journalisten seine Mitgliedschaft in anderen Verbänden und journalistischen Netzwerken äußert. Der für eine Berufsgemeinschaft relevante soziale Kontakt zwischen Korrespondenten findet in Brüssel weitgehend im Arbeitsalltag (vgl. auch 6.1.2, 6.2.3 und 6.4.1) oder auf privater Ebene statt. Ebenso wie auf nationaler Ebene existieren unter den Journalisten viele Freundschaften.143 Die privaten Beziehungen reichen insoweit wieder ins Berufsleben hinein, als dass Reisen zu Gipfeltreffen oder anderen EU-Ereignisse außerhalb von Brüssel gemeinsam geplant und durchgeführt werden (29:306-317).
143 Schon Donsbach (1981: 246) ging davon, dass auch die „außerberuflichen“ sozialen Kontakte von Journalisten untereinander wichtiger und ausgeprägter sind als in anderen Berufen. Weischenberg zeigt, dass Journalisten ihre Freundschaften zu 91% unter Kollegen schließen (Weischenberg et al. 2006: 151). Allerdings fehlen bislang Studien, die belegen, ob die Freundeskreise anderer Berufsgruppen heterogener zusammengesetzt sind.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Aus dem Widerspruch, dass der API als europäischem Berufsverband einerseits eine Reihe wichtiger Funktionen attestiert, andererseits aber strikt verneint wird, überhaupt Mitglied eines Berufsverbands zu sein, lässt sich schließen, dass viele Journalisten die berufssozialisierende Funktion von API als professioneller Interessenvereinigung nicht reflektieren. Das, was mit journalistischen Berufsverbänden auf nationaler Ebene primär assoziiert wird, nämlich die gewerkschaftliche Organisation von Berufsinteressen und das Aushandeln von Tarifverträgen, scheint negativ belegt und für festangestellte Korrespondenten und Redakteure nicht relevant zu sein. Die Brüsseler Korrespondenten verfolgen demnach mit ihrer Mitgliedschaft in der API vorrangig pragmatische Ziele. Als Vertretung ihrer beruflichen Interessen gegenüber den EU-Institutionen und dem belgischen Staat hat sie zwar an Gewicht gewonnen. Zur Ausbildung eines spezifisch Brüsseler Berufsethos oder Korpsgeistes sowie zur kollektiven Stärkung ihrer Position gegenüber den Heimatredaktionen aber ist die Mitgliedschaft im Verband nicht relevant. Ursachen hierfür liegen möglicherweise in dem seit der Nachkriegszeit ohnehin geringen Stellenwert von journalistischen Berufsverbänden als Standesorganisationen innerhalb der deutschen Journalismustradition sowie in der Dominanz nationaler Gruppierungen innerhalb des Brüsseler Pressekorps, die sich vielfach auf private Kontakte außerhalb institutioneller Zusammenhänge stützen.
6.1.4 Zwischenbilanz: Berufssozialisation Fasst man im Rahmen der Berufssozialisation die Befunde zum Berufsprofil und zum professionellen Handeln der EU-Journalisten unter der Perspektive der Professionalisierung zusammen, heißt das, auf individueller Ebene nach Strategien der Expertisierung der Akteure, also der Spezialisierung ihres beruflichen Wissens, und nach Aktivitäten ihrer Inszenierung als der Abgrenzung gegenüber anderen Akteuren und der Außendarstellung ihrer EU-spezifischen Berufsinteressen zu fragen. Auf kollektiver Ebene stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Merkmale im Zeitverlauf so verändert haben, dass sie die Berufssozialisation von EU-Journalisten in spezifischer Weise kennzeichnen. Vor dem Hintergrund der auf Organisationsebene festgestellten Institutionalisierung des Europa-Bezugs ist schließlich von Interesse, inwieweit die Institutionalisierung des EU-Bezugs innerhalb der beruflichen Sozialisationsinstanzen bereits Auswirkungen auf das berufliche Handeln der Akteure hat. Ein zentrales Ergebnis der Interviewaussagen ist, dass sowohl die Expertisierung als auch die Inszenierung von EU-Journalisten überwiegend außerhalb der bestehenden Organisationsstrukturen verläuft. Weder europäische Aus- und Wei-
6.1 Berufssozialisation
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terbildungsorganisationen noch Berufsverbände oder berufliche Netzwerke waren in der Vergangenheit oder sind gegenwärtig für die Journalisten von Bedeutung. Während lediglich die jüngeren Journalisten bereits EU-spezifische Studiengänge und thematische Vertiefungen in ihrer Ausbildung durchlaufen haben, teilen alle Korrespondenten den prototypischen Verlauf der Eingewöhnungsphase, in der sie sich intensiv um Wissenszugewinn bemühen und Strategien zur Komplexitätsbewältigung entwickeln müssen. Eine Expertisierung findet vor allem auf individuellen und informellen Wege mit Hilfe von im Arbeitsalltag unmittelbar greifbaren Kollegen statt. Aufgrund der Restriktionen des beruflichen Einstiegs und des Berufsalltags – die meisten Korrespondenten bedienen ihren bzw. ihre Arbeitgeber alleine; sie erhalten daher in der Regel keine Einführung durch Bürokollegen, sondern stehen sofort unter Produktionszwang – haben sie keine Möglichkeit, fachspezifische und berufsbegleitende Weiterbildungen in Anspruch zu nehmen. Die Expertisierung der EU-Journalisten erfolgt weitgehend individuell durch kontinuierliches Lernen im journalistischen Alltag. Ihre strukturelle Grenze findet die Expertisierung der Korrespondenten durch das Rotationssystem der Medienorganisationen, das der mittlerweile überwiegenden Zahl der Fälle ihre Aufenthaltsdauer in Brüssel auf drei bis fünf Jahre beschränkt. Die kollektiv organisierte Inszenierung beruflicher Interessen durch die Mitgliedschaft in Berufsverbänden oder institutionalisierten Netzwerken ist für die einzelnen EU-Journalisten nicht von Bedeutung. Typische Funktionen wie die Beförderung der beruflichen Karriere oder die gezielte Stärkung ihrer Position innerhalb des Journalismus sind keine Motive für eine aktive Partizipation in einem Berufsverband oder beruflichen Netzwerk. Während kein Redakteur Mitglied in einem deutschen Berufsverband ist, organisieren sich Korrespondenten überwiegend im europäischen Berufsverband API. Dennoch sind auch sie meist keine aktiven Mitglieder, sondern nutzen primär die serviceorientierten Angebote des Verbands. Karrierefördernde Kontakte und journalistische Qualitätskontrollen bestehen informell und außerhalb des Verbands. Wichtig ist er als Sprecher des Brüsseler Pressekorps lediglich dort, wo im Alltag berufliche Interessen von Journalisten betroffen sind. So diente die API primär als Dienstleister für die in Brüssel akkreditierten Journalisten, tritt aber seit einigen Jahren immer häufiger auch als kollektive Interessenvertretung gegenüber den EU-Institutionen und dem belgischen Staat auf. Der Stellenwert der Berufsposition als Folge der intramedialen Arbeitsteilung eröffnet ein ambivalentes Bild. Einerseits ist die temporäre Tätigkeit in Brüssel unter jüngeren Journalisten zu einer Karrierestrategie geworden. Sie verbinden damit die Erwartung, von der Aufwertung des Korrespondentenplatzes innerhalb der meisten Medien zu profitieren. Andererseits beobachtet die ältere und schon längerfristig in Brüssel etablierte Journalistengeneration eine zunehmend schnel-
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
lere Fluktuation junger Journalisten. Daher äußert sie zwar abstrakt die gewachsene Bedeutung des Standorts, tendiert jedoch zugleich dazu, die fachliche Kompetenz der jüngeren und kürzer verweilenden Kollegen infrage zu stellen. Für sich persönlich verbinden sie mit der Berufsposition „EU-Korrespondent“ keinen Karrieresprung und bewerten ihren Status innerhalb des politischen Journalismus vergleichsweise niedrig. Sowohl der Werdegang der jüngeren Korrespondenten als auch die Einschätzung der Chefredakteure lassen hingegen den Rückschluss zu, dass mit der medieninternen Aufwertung der Berufsposition tatsächlich auch eine Expertisierung im Sinne eines gestiegenen Anforderungsprofils verbunden ist. So bildet die zunehmende Inszenierung der Berufsposition „EU-Journalist“ – versteht man darunter den kalkulierten Karriereschritt – ein Merkmal vor allem jüngerer Journalisten. Sie ist eng mit den auf dem Rotationssystem beruhenden Generationswechseln verbunden und kann vor dem Hintergrund der gewachsenen Attraktivität dieses journalistischen Zuständigkeitsbereichs interpretiert werden. Insgesamt hat sich das Berufsprofil jüngerer EU-Korrespondenten europäisiert, was auf die erweiterte Ausbildungsinfrastruktur zurückgeführt werden kann. Nichtsdestotrotz sind die Bedingungen der Eingewöhnungsphase und der beruflichen Weiterbildung insofern gleich geblieben, als dass das politische System im Integrationsprozess wiederum an Komplexität gewonnen hat. Der Berufsalltag stellt heute wie früher die entscheidende Restriktion einer Expertisierung durch Weiterbildung dar. Auch die berufspolitischen Aktivitäten der einzelnen Journalisten haben sich nicht wesentlich verändert, wenngleich der Verband API als kollektiver Interessenvertreter gegenüber der Politik an Bedeutung gewonnen hat. Er trägt somit zunehmend zur Inszenierung der Berufsposition und Sicherung ihrer Handlungsautonomie gegenüber dem politischen System bei. Im Vergleich zu anderen Korrespondenten zeigen die Ergebnisse nur marginale Unterschiede: Wie bei politischen Journalisten und anderen Auslandskorrespondenten spielen eine formal hohe Bildung und bestimmte Schlüsselqualifikationen eine wichtige Rolle auf dem Weg in den EU-Journalismus. EU-Korrespondenten arbeiten unter ähnlichen Bedingungen wie andere Korrespondenten, können jedoch anders als Auslandskorrespondenten in der Eingewöhnungsphase auf die Unterstützung durch Kollegen zurückgreifen. Zudem sind mit einer Berufsposition in Brüssel weitere Karrierechancen verbunden.
6.2 Berufsroutinen Berufsroutinen sind für den Beruf charakteristische, eingeübte Handlungsmuster, die der zeiteffizienten Umsetzung einer spezifischen Kompetenz in ein Produkt oder eine Dienstleistung dienen. Sie stellen eine Verknüpfung von Theorie- und
6.2 Berufsroutinen
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Handlungswissen dar, das die Akteure in der Eingewöhnungsphase herstellen und mit zunehmender Berufserfahrung ausbauen. Für einen professionalisierten Beruf ist entscheidend, dass die Akteure nach berufseignen Rationalitäten handeln und nicht von den Handlungsmustern anderer Akteure bestimmt werden. Die Professionalisierung bzw. Europäisierung der journalistischen Berufsroutinen meint daher die Ausbildung von für einen EU-Journalismus typischen Handlungsweisen im Rahmen grundlegender journalistischer Tätigkeiten und im Umgang mit seinen jeweiligen beruflichen Bezugsgruppen (Routinisierung / Expertisierung) sowie eine damit verbundene zunehmende Abgrenzung gegenüber den Einflüssen durch letztere (Inszenierung). Zu den grundlegenden Handlungen aller Journalisten gehören die im Folgenden erläuterten Prozesse des Agenda-Settings und der Themenwahl (6.2.1), die Abstimmungsprozesse in der Arbeitsteilung und Themenkoordination (6.2.2) sowie der Zugang zu Informationsquellen und Formen der Recherche (6.2.3). Welche Berufsroutinen für EU-Journalisten charakteristisch sind, inwieweit sie darin die „constraints“ des politischen Systems und der Heimatredaktionen berücksichtigen müssen und ob sich die Routinen verändert haben, stellen die folgenden Abschnitte dar. Sie werden im Abschnitt 6.2.4 zusammengefasst.
6.2.1 Agenda-Setting und Themenselektion Zu den gegenwärtig kennzeichnenden Merkmalen des Korrespondentenplatzes Brüssel gehört, dass die Journalisten durch die Vielzahl von Akteuren und Ereignissen mit einer schier unendlichen Fülle von Themen und Berichterstattungsanlässen konfrontiert sind, aus denen sie auswählen müssen. Gleichzeitig eröffnet diese Bandbreite dem einzelnen Journalisten einen großen Spielraum für individuelle Themensetzungen. Je nach Status ihres Mediums im Mediensystem und der öffentlichen Resonanz auf das gesetzte Thema können sie ihrerseits die weitere Themenwahl anderer Journalisten beeinflussen. Auch aus der Verbindung der Korrespondenten mit ihren Heimatredaktionen resultieren mögliche Anstöße zur Themenwahl (vgl. 6.2.2). Zentrale Fragen, die das berufliche Handeln von Journalisten umreißen, sind demnach: Wie kommt es zur Themenentscheidung? Reagieren die Journalisten lediglich auf externe Berichterstattungsanlässe oder greifen sie eigeninitiativ Themen auf? Wer gibt ihnen in welchem Umfang Themen vor? Nach welchen Kriterien wählen sie Themen aus? Agenda-Setting durch die Politik Die Mehrheit der Korrespondenten erklärt, dass sie „sehr stark von den Geschehnissen bestimmt werden“, spricht also der Politik als Agenda-Setter den größten
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Einfluss auf die Themenwahl zu. Die meisten für tagesaktuelle Medien berichtenden Journalisten geben an, dass der Anteil der durch die EU-Institutionen vorgegebenen Themen und Termine weit über dem der eigenständig und unabhängig von aktuellen Anlässen gewählten Themen liegt. Der Kalender der Institutionen, der sich aus der Amtzeit der Kommission ergibt und einen Planungshorizont von fünf Jahren umfasst, ist neben unvorhergesehenen Ereignissen der wesentliche Leitfaden der Routineberichterstattung. So sind die halbjährlich stattfindenden Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sowie die großen Ministertreffen der europäischen Finanz-, Justiz- und Außenminister immer Anlass für eine vergleichsweise umfangreiche Berichterstattung. Ein zentrales Instrument der Themensetzung durch die EU-Kommission ist das tägliche Pressebriefing (vgl. dazu genauer 6.2.3), in dem insbesondere mittwochs nach dem Treffen der EU-Kommissare die aktuellen Kommissionsvorschläge und -entscheidungen vorgestellt werden. Auch wichtige Abstimmungen im Europäischen Parlament sind mittlerweile ein „Berichterstattungsmuss“ für die Korrespondenten. Schließlich bestimmen relevante politische Akteure die Themenagenda: „Wenn ein deutscher Bundesminister hier in Brüssel ist, ist das per se erstmal ein Thema für mich als Korrespondent einer deutschsprachigen Nachrichtenagentur“ (14:77-79). Dass die von den politischen Institutionen hervorgebrachten Ereignisse die Themengrundlage von Journalisten als politischen Informationsvermittlern bilden, ist nicht überraschend, sondern typisch für jegliche Form der politischen Berichterstattung. Nichtsdestotrotz haben sich in den vergangenen Jahren die Rahmenbedingungen der EU-Berichterstattung und damit die Handlungsspielräume der Korrespondenten verändert. Mit wachsender Bedeutung liefert die Europäische Union einen größeren Ausstoß potenziell berichterstattungsrelevanter Ereignisse. Zugleich ist das Interesse der Redaktionen an diesen Ereignissen gestiegen. Beides führt zu einer Beschleunigung des „Nachrichtenbeats“, der die Arbeitsgewohnheiten der Korrespondenten beeinflusst. „Zwingende Themen für die aktuelle Berichterstattung, in der sich ein Korrespondent besonders profilieren kann, gibt es nicht oft“, berichtet der ARD/WDRFernsehkorrespondent Wolfgang Klein (1985: 45) über seinen Tätigkeitszeitraum zwischen 1979 und 1983. So blieben die Gipfeltreffen oft die einzigen Ereignisse, bei denen die Korrespondenten unmittelbar und anlassbezogen tätig wurden. Weitere Themen des Brüsseler Sitzungsalltags wurden ausgewählt, langfristig bearbeitet und der Redaktion angeboten. Diese wiederum platzierte sie kurzfristig und nicht immer tagesaktuell je nach Interesse und abhängig vom gegebenen Berichterstattungsraum. Im Laufe der Jahre hat sich das Informations- und Arbeitsvolumen erhöht, so dass unter den gegenwärtigen Bedingungen den meisten Korrespondenten im täglichen Nachrichtengeschäft nur noch sehr wenig Zeit und je nach
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Nachrichtenlage innerhalb der Medien auch wenig Raum für weitere, über den klassischen politischen Terminjournalismus hinausgehende Themensetzungen bleibt. Insbesondere langjährige EU-Korrespondenten bedauern, dass sie durch den zunehmenden Aktualitätsdruck, der neben der zunehmenden Bedeutung der EUPolitik auch aus dem stärker werdenden Wettbewerb der Medien resultiert, immer weniger Zeit und Möglichkeit haben, sich Themen eigenständig auszusuchen oder ausführlichere Darstellungsformen wie Reportagen oder Hintergrundberichte anzubieten. Selbst die Korrespondenten aus den mit mehreren Journalisten besetzten Büros geben an, dass sie im Wesentlichen der politischen Agenda folgen (müssen) (3:374-377). Insofern geht auch bei ihnen die Möglichkeit der Arbeitsteilung (vgl. 6.2.2) nicht mit größeren Freiräumen der Themenwahl und Themengestaltung einher, sondern folgt in thematisch spezialisierter Form dem umfangreicheren Informations-Output des politischen Systems. Einzig freie Journalisten sind weit weniger vom politischen Terminjournalismus abhängig. Ihnen dient die politische Agenda zwar als Orientierung, jedoch gibt es für sie keine zwingenden Pflichtthemen. Unter den freien Journalisten dominieren persönliche Themenvorlieben sowie antizipierte Interessen der Redakteure und Rezipienten. Da sie in der Regel mehrere Medien bedienen, spielen bei ihrer Themenwahl zudem pragmatische Interessen wie die Möglichkeit einer journalistischen Mehrfachverwertung eine wichtige Rolle. Für den Korrespondenten des Privatfernsehens sind klassische Nachrichtenthemen aus anderen Gründen uninteressant. Viele tagesaktuelle Ereignisse der Europa-Politik sind aus seiner Sicht immer noch zu wenig konflikthaltig und in einem visuellen Medium zu schlecht vermittelbar, um für die Berichterstattung ausgewählt zu werden. Trotz der starken Verpflichtung auf tagespolitische Ereignisse versuchen die EUKorrespondenten neben dem Aktualitätsstrom Spielräume für Themen auszuloten, die sie besonders interessieren oder die sie persönlich für besonders wichtig erachten: „Manchmal sage ich: »Heute ist nichts Besonderes, dann versuche ich mal, ein eigenes Thema zu entdecken«. Ich habe eine kleine Kladde, wo ich mir Themen auf Wiedervorlage lege, die ich nicht heute schreiben muss, die ich nicht morgen schreiben muss, die ich irgendwann mal schreiben kann. Und an Tagen, wo die politische Agenda hier in Brüssel nicht ganz so spektakulär ist, da ziehe ich mir eins daraus und versuche, das zu bearbeiten.“ (17:263-269)
Viele Korrespondenten betonen, dass sie innerhalb des von der politischen Agenda gesetzten Themenspektrums wiederum relativ autonom in ihrer Themenwahl sind (21:1077ff.). Da sie von den Zentralen als Experten betrachtet werden, wird ihnen
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in der Regel auch die Auswahl und die Beurteilung der Relevanz von Themen überlassen (vgl. zur Themenkoordination 6.2.2). Intermedia-Agenda-Setting Viele Journalisten verweisen auf den nicht unerheblichen, wechselseitig ausgeübten Druck, Themen aus anderen Medien aufzugreifen. Er geht auf eine verschärfte Wettbewerbssituation zurück, die seit einigen Jahren zwischen den Medien – und in Deutschland seit der Anzeigenkrise in besonderer Weise zwischen den Zeitungen – herrscht und ihre Entwicklung bestimmt. Im Rahmen dieser allgemeinen Tendenz spielen hier die Bedeutungssteigerung der EU-Politik, die Zunahme von relevanten Berichterstattungsanlässen sowie die gestiegene Nachfrage nach EUNachrichten eine entscheidende Rolle. Mit exklusiven EU-Nachrichten sowie resonanzfähigen EU-Themen können zunehmend Aufmerksamkeitsgewinne erzielt werden, so dass die Identifikation solcher Themen und Ereignisse zum Hauptselektionskriterium für Journalisten geworden ist. Nur durch die Dauerbeobachtung konkurrierender Medien kann eingeschätzt werden, welche Themen in Abgrenzung zu deren Berichterstattung exklusiv sind und welche Themen dort bereits öffentliche Resonanzen erzeugt haben (vgl. dazu grundlegend Jarren/Donges 2006: 185-193; Reinemann 2003). Zu diesem Zweck gehört das morgendliche „Durchscannen“ der deutschen und internationalen Presse zu den wichtigsten Handlungsroutinen der Journalisten. Die Entscheidung, welche Medien der Orientierung dienen, bestimmt die brüsselinterne sowie die nationale Medienhierarchie. Sie hat zur Folge, dass die von ihnen jeweils als bedeutsam erachteten Medien in der Lage sind, Themen für die eigene Berichterstattung zu setzen. Zu den am häufigsten genutzten Zeitungen gehören die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie Der Spiegel und das Handelsblatt, die britischen Zeitungen Financial Times und Herald Tribune sowie die französische Zeitung Le Monde. In erster Linie werden deutsche Zeitungen herangezogen, um die eigene Themendarstellung und -einschätzung mit der der Kollegen abzugleichen. Hier geht es darum, sich zu orientieren und rückzuversichern, ob man am Vortag tatsächlich die „richtige“ Themenwahl getroffen oder möglicherweise ein Thema verpasst hat (18:448ff.). Des Weiteren ist es für Journalisten von Bedeutung, anhand der allgemeinen Medienstimmung ein frühzeitiges Gespür dafür zu entwickeln, welche EU-Themen zu größeren „issues“ werden können. Schließlich ist es für Brüsseler Korrespondenten wichtig, einen Überblick über die laufenden innenpolitischen Diskussionen zu haben, um einzuschätzen, wie stark die Nachrichtenkonkurrenz im Inland ist, und um vorauszuschauen, welche aktuellen nationalen Themen möglicherweise eine europäische Dimension erreichen können.
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Als unangefochtener Agenda-Setter in Brüssel gilt die Europa-Ausgabe der Financial Times, die als englischsprachige Tageszeitung mit ausführlicher EU-Berichterstattung von nahezu allen EU-Bediensteten gelesen wird und daher für politische Akteure das wichtigste Öffentlichkeitsforum zur Platzierung von Themen und Positionen ist: „…wenn jemand irgendwas bekannt geben will, dann macht er das über die FT, weil die von allen gelesen werden wird“ (3:675-683, vgl. dazu auch Raeymaeckers et al. 2007). Ihre Bedeutung als Leitmedium resultiert aus einer sachlich fundierten und mit vielen Insiderinformationen gespickten Berichterstattung: „Die Pressearbeit zwischen englischen Journalisten und englischen Beamten läuft etwas intensiver als in anderen Nationalitäten“ (3:679ff.). Andererseits misstrauen die EU-Journalisten, die die FT auch als „informelles Konsultationsorgan“ (6:564f.) oder „Sprachrohr“ (8:679f.) der Europäischen Kommission bezeichnen, dem Institutionen-Spin144 der häufig vorzeitig und exklusiv veröffentlichten Meldungen (8:680-685). Dennoch berichten sie, dass sie häufig dem Druck ihrer Themensetzung und der darauf folgenden starken Resonanz der brüsselinternen Öffentlichkeit ausgesetzt sind: „Wobei der Effekt immer wieder funktioniert: Wenn die Financial Times irgendetwas aufmacht, dann brodelt der Pressesaal mittags. Wenn wir drei Tage vorher die Geschichte gehabt haben, interessiert das keinen Menschen außerhalb von Deutschland.“ (8:685-689)
Da der FT ein großer Einfluss auf die politischen Akteure zugeschrieben wird, können Korrespondenten von Agenturen und Qualitätsmedien brüsselinterne Diskussionen nicht ignorieren, die von ihr angestoßen oder transparent gemacht werden. Sie stellt in Brüssel neben der nationalen Öffentlichkeit eine gleichgewichtige Bezugsgröße dar. Andere ausländische Zeitungen werden punktuell zu wichtigen, alle Mitgliedsstaaten betreffenden EU-Ereignissen wie Gipfeltreffen herangezogen, um Themensetzungen und -deutungen im Nachgang europäischer Verhandlungen aus den Perspektiven der unterschiedlichen Nationalitäten auszuwerten. Relevant sind hier dem politischen Gewicht und den Sprachkenntnissen des Journalisten ent-
144 Der Begriff des politischen „spin“ wird im Zusammenhang mit sog. „spin doctors“ verwendet. „spin-doctor“ ist eine aus dem Englischen stammende Bezeichnung für einen Medien- oder politischen Berater bzw. für Mitarbeiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Bezeichnung wird besonders im Bereich der Politik benutzt und häufig abwertend verwendet, da sie impliziert, dass der so Bezeichnete Ereignisse und deren Darstellung mit dem richtigen Dreh (engl. spin: spinnen, kreiseln) versieht, also manipuliert; vgl. Jarren/Donges (2006: 229).
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sprechend in der Regel nur britische und französische Zeitungen. Darüber hinaus werden belgische oder niederländische Zeitungen lediglich von denjenigen Korrespondenten beobachtet, die neben der EU auch die Benelux-Staaten im Berichterstattungsportfolio haben. Innerhalb des nationalen Medienkontextes beeinflussen vor allem Nachrichtenagenturen sowie die Boulevardpresse und private Medien die Themenwahl der Journalisten. Nachrichtenagenturen berichten kontinuierlich über aktuelle Ereignisse. Dabei laufen in allen Redaktionen Nachrichten und Analysen über einen Ticker, deren Inhalte unkommentiert bleiben und häufig von kurzfristigem Charakter sind. So kommt es immer wieder vor, dass aus den Zentralen kritische Rückfragen an die Korrespondenten gestellt werden, wenn sie die dort vermeldeten Nachrichten nicht aufgreifen oder anders darstellen (zum identischen Befund bei Auslandskorrespondenten in Polen vgl. Siemes 2000: 183). Wie ein Korrespondent berichtet, hat „die Agenturgläubigkeit zugenommen“ (6:630-637) und führt aufgrund abweichender Themeneinschätzungen der Zentrale vielfach zu Konflikten: „Und hinzu kommt, dass man wahnsinnig unter Zeitdruck ist. Das ist vollkommen absurd: Wir bekommen um 12 Uhr Gesetzesvorschläge auf englisch und französisch über x Seiten, an denen dutzende Beamte Monate lang gearbeitet haben, und sollen innerhalb von drei Stunden das Ganze auf 60 Zeilen eindampfen. Nur Kenner, die lange hier sind, können das wirklich auf den Punkt bringen. Die meisten sagen: Mensch, da war doch gestern eine Agenturmeldung zu dem Vorschlag, was soll der jetzt? (…) Das bringt den Korrespondenten in die blöde Situation, wenn er es besser weiß, gegen die geballte Wahrnehmungshaltung in der Zentrale anschreiben zu müssen.“ (anonymisiert)
Eine noch bedeutendere Rolle in der Themensetzung nehmen Boulevardmedien ein (vgl. Reinemann 2003: 266ff.). Denn sie sind es, denen die Journalisten den größten Einfluss auf die Bevölkerungsmeinung zuschreiben und die insbesondere bei EUThemen zumeist indirekt durch Negativ-Kampagnen auf nationaler Ebene und durch die Redaktionen vermittelt die Themenwahl der Korrespondenten beeinflussen: „Wenn die BILD ein Europa-politisches Thema als Kampagne fährt, wird bei der FAZ spätestens am zweiten Tag hin und her überlegt, vielleicht nicht ganz so zugespitzt, das Thema anzugehen – das hat zugenommen.“ (anonymisiert)
Gemeinsam ist den Boulevardmedien, dass sie keinen Korrespondenten mehr vor Ort haben oder, wie die Bild-Zeitung, noch nie hatten. Sie berichten ausschließlich aus Deutschland und entsenden ihre Journalisten höchstens zu EU-politischen
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Großereignissen. Das bleibt nicht folgenlos für die Inhalte und die Perspektive der Berichterstattung, sondern führt, so der Vorwurf durchweg aller Journalisten, in starkem Maß zu nationalen Positionen in der Berichterstattung, die in vereinfachender Form gesellschaftliche Ressentiments bedienen. Da die Heimatredaktionen aus dem nationalen Medien- und Gesellschaftskontext heraus agieren, sind sie für die Themensetzung populärer Leitmedien und die gesellschaftliche Resonanz besonders ansprechbar, so dass EU-Korrespondenten trotz abweichender Auswahl und Bewertung von Themen vielfach auf nationale Themenkarrieren reagieren müssen (21:1087-1095; vgl. 6.2.2.). Die zunehmende Beobachtung konkurrierender Medien und das Aufgreifen bereits von anderen Medien gesetzter Themen begünstigen eine innerhalb des Mediensystems konsonante Berichterstattung sowie die Entstehung von Themenkonjunkturen, die sich von den Aktualitätsbezügen der politischen Agenda lösen. Auch in früheren Jahren der EU-Berichterstattung wurden von EU-Korrespondenten unterschiedlicher Medien gleiche oder ähnliche Themen gewählt. Dies erfolgte aber aus anderen Gründen: Während die Korrespondenten heute auf eine Vielzahl von Informationsquellen zurückgreifen können und unter dem Wettbewerbsdruck resonanzfähige Themen suchen, basierte die Berichterstattung ihrer Kollegen früher auf denselben Informationsquellen und -anlässen, nämlich den Verlautbarungen der Kommissionspressekonferenzen oder auf den mehr oder weniger sicheren Vorabinformationen der Länderbriefings bei Gipfeltreffen (zur Veränderung der Informationszugänge vgl. 6.2.3). Zudem war das Pressekorps deutlich kleiner, so dass man gemeinsam und ohne Veröffentlichungsdruck über die vorhandene Informationslage spekulierte: „Der (Gipfel-)Bericht lebt von der Wichtigkeit des Korrespondentengesichts, dem gesammelten Geraune und den Vorinformationen, mit denen man schon zum Tagungsort gereist ist. (...) Man spekuliert nach bestem Wissen und Gewissen (...), erschrickt aber, wenn Politiker plötzlich anderes behaupten (…); was aber nicht weiter schlimm ist, da Agenturen und die deutschen Medien im Großen und Ganzen dasselbe berichtet haben (schließlich stützt man sich auf dasselbe Geraune ...)“ (Klein 1985: 46)
Ein transnationaler Wettbewerbsdruck war früher nicht gegeben, weil Journalisten für unterschiedliche nationale Medienmärkte arbeiteten. Innerhalb der nationalen Korrespondentengruppen war er nicht besonders ausgeprägt, da EU-Politik keine besonders große Bedeutung hatte und nicht wie innenpolitische Berichterstattung in der Konfliktlinie politischer Lager fußte. So entstanden konsonante Themenwahlen – und zum Teil auch Veröffentlichungszeitpunkte – auf der Grundlage der
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politischen Agenda und im vorab hergestellten Konsens der Korrespondenten, aber nicht aufgrund der wettbewerbsbasierten Eigendynamik des Mediensystems. Themenselektion Obige Darstellung macht deutlich, dass tagesaktuelle Ereignisse der politischen Agenda und zunehmend auch medial gesetzte Themen die Berichterstattung der einzelnen Korrespondenten bestimmen. Dennoch bleibt das Themenspektrum immer noch so breit, dass sie in der für den Korrespondentenplatz Brüssel charakteristischen Themen- und Ereignisflut weitere Prioritäten setzen müssen. Prägnant formuliert, jedoch inhaltlich unterbestimmt ist der geäußerte journalistische Grundsatz, dass das Thema mit der größten Bedeutung gewählt werde (32:118-122; 9:148f.). So verweist er auf die grundlegende Handlungsorientierung aller Journalisten, die richtige Auswahl von für die öffentliche Kommunikation relevanten Themen zu treffen. Was dabei von Journalisten als bedeutsam erachtet wird, hängt von ihren Zielen ab. Relevant können Themen sein, die Aufmerksamkeit beim Publikum erzeugen und somit wirtschaftlich lukrativ sind, Themen, die die Redaktion im Einklang mit dem ideologischen oder zielgruppenspezifischen Profil des Mediums besonders interessieren, oder Themen, die der Korrespondent in Abhängigkeit seiner persönlichen Interessen und seiner normativen Berufsvorstellung selbst für wichtig erachtet. Was aber ist für Korrespondenten wichtig? Welches sind die großen Themen der EU-Berichterstattung? Ebenso wie Journalisten auf nationaler Ebene orientieren sich auch Korrespondenten an den den Ereignissen zugeschriebenen Nachrichtenwerten. Die journalistische Selektionskriterien und die ihre Themenwahl illustrierenden Beispiele lassen sich unter die in der klassischen Nachrichtenwerttheorie systematisierten Dimensionen von Nachrichtenfaktoren rubrizieren (vgl. Schulz 1976: 32ff.):145 Am häufigsten wird auf die Relevanz eines Themas verwiesen (8:329; 9:146165). Da sich innerhalb des EU-politischen Themenspektrums ein Großteil der Themen auf politische Entscheidungen bezieht, sind damit in der Regel die politi-
145 Unter Nachrichtenfaktoren werden Ereignismerkmale verstanden, die ein Ereignis als berichtenswert klassifizieren. Je mehr Nachrichtenfaktoren ein Ereignis auf sich vereint, desto höher ist sein Nachrichtenwert, und desto wahrscheinlicher ist es, dass es in den Medien erscheint. Journalisten wie Rezipienten selektieren und verarbeiten Nachrichten nach diesen Kriterien. Die Nachrichtenwert-Theorie, in der eine Vielzahl verschiedener Nachrichtenfaktoren definiert werden, wurde von Östgaard (1965) begründet, von Galtung/Ruge (1965) ausdifferenziert und von Schulz (1976) unter konstruktivistischer Perspektive systematisiert sowie durch eine Reihe von Studien empirisch validiert; vgl. Ruhrmann et al. (2003), Eilders/Wirth (1999), Staab (1990).
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sche und regionale Reichweite sowie der Grad der Betroffenheit gemeint. So unterscheiden Journalisten zwischen Themen, die eine europäische Reichweite haben, die also die gesamte Union in ihren Auswirkungen betreffen und „… die die EU bekanntermaßen noch lange beschäftigen werden, wie z.B. der Türkei-Beitritt“ (27:123f.) und Themen, die eine unmittelbare Auswirkung auf Deutschland haben: „Wenn der Brüsseler Währungskommissar sagt, dass die Deutschen ihren Haushalt einhalten müssen, ist das sofort ne große Nachricht“ (1:671ff.). Die grundsätzliche Relevanzfrage, die für Qualitätsmedien oder Nachrichtenagenturen arbeitende Journalisten an die zu wählenden Themen stellen, lautet demnach: „Was hat langfristig einen großen Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Europa oder in Deutschland?“ (5:291f.; vgl. auch 13:654-658). Dass der Nachrichtenfaktor Relevanz auf weite Teile der EU-Berichterstattung zunächst keinen entscheidenden Einfluss hat, kann durch die spezifische Zielgruppenorientierung der jeweiligen Medien erklärt werden. Nachrichten über europäische Politik, Gesetzgebungsverfahren und -entscheidungen sowie europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik interessieren eher eine Elite; dem normalen Mediennutzer erscheinen sie eher abstrakt und lebensfern. Weniger abstrakt und gesellschaftspolitisch orientiert, sondern stärker auf ein durchschnittlich gebildetes Publikum fokussiert, formulieren daher Journalisten „populärerer“ Medien die Relevanz von Themen: Relevant sei der „Verbraucherbezug“ (2:219), die „Bürgernähe“ (2:232), das „was die Leute interessiert“ (27:121), „was die Menschen betrifft“ (22:244-285). So sind es vor allem Konsumenten- bzw. Verbraucherthemen der europäischen Politikagenda, die Fernsehjournalisten und Journalisten regionaler Tageszeitungen wählen. Eng mit der Relevanz ist der Nachrichtenfaktor Nähe verbunden. Immer dann, wenn bei einem Thema deutsche Akteure und deutsche Interessen betroffen sind, steigert dies den Nachrichtenwert. In der EU-Berichterstattung bedeutet Nähe allerdings nie oder nur selten eine räumliche Nähe zu Deutschland, da sich berichterstattungsrelevante Themen in der Regel in Brüssel, Straßburg oder im Mitgliedsland mit dem jeweiligen EU-Vorsitz „ereignen“. In dieser Hinsicht war Brüssel immer schon sehr weit weg.146 Stattdessen ist eine politische und kultu-
146 Eine Ausnahme war der Zeitraum der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, der von einer vergleichsweise umfangreicheren medialen Aufmerksamkeit begleitet wurde als in den Jahren zuvor und danach. Die Tatsache, dass im Zuge der Präsidentschaft viele Treffen, Tagungen, Konferenzen und andere Veranstaltungen in Deutschland stattgefunden haben, spielte eine wesentliche Rolle für die Berichterstattung. Wenn sich in Mainz die europäischen Landwirtschaftsminister treffen oder in Leipzig zum informellen Ministertreffen der Verkehrminister die sächsische, die deutsche und die Flagge der EU vor dem Bundesverwaltungsgericht wehen, war das zumeist auch den regionalen Tageszeitungen einen großen Bericht samt Foto im Lokalteil wert; zu den Ergebnissen einer Frequenzanalyse deutscher Tagesund Wochenzeitungen vgl. Offerhaus (2008a).
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relle Nähe gemeint, die sich aus dem Deutschland-Bezug von Akteuren und Themen ergibt: „Alles was Deutschland betrifft oder einen Deutschland-Dünkel hat, egal in welchem Ressort, wird gemacht, das ist klar!“ (11:87f.). Ein weiteres Sektionskriterium bezieht sich auf den Status des mit dem Thema verbundenen Ereignisses oder der beteiligten Akteure. Einen hohen Status und somit hohen Nachrichtenwert wird denjenigen zugeschrieben, die entweder besonders mächtig und einflussreich oder besonders bekannt sind (Schulz 1976: 38). Aus diesem Grund werden die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in allen Medien „mit erheblichem Aufwand gefahren“ (4:137ff.). Da es sich hier nicht nur um EU-interne Prominenz handelt, sondern durch die Bundeskanzlerin eine deutschlandweit bekannte Person beteiligt ist, und die verhandelten Themen zudem eine Deutschland- sowie Europa-weite Dimension haben, ist die Gipfelberichterstattung für EU-Journalisten unabdingbar. In politischen Routinephasen entscheidet dagegen die Bedeutung der verschiedenen EU-Institutionen über die Wahl der Themen. Obgleich in den Augen der Journalisten das Europäische Parlament immer wichtiger wird, ist die Europäische Kommission immer noch der bedeutendste EUAkteur und ihre Initiativen und Entscheidungen wichtigster Anlass zur Berichterstattung (vgl. 6.2.3). Viertes Selektionskriterium ist die Valenz, also die Konflikthaftigkeit eines Themas. Unter diesem Nachrichtenfaktor werden Themen subsumiert, die besonders umstritten sind, wie die Dienstleistungsrichtlinie oder das Antidiskriminierungsgesetz (1:211-215; 8:334f.). Auch durch die sich aus der Erweiterung der Union auf 27 Mitgliedsstaaten immer häufiger ergebenden Konfliktkonstellationen zwischen einzelnen Ländern und Länderkoalitionen, sind Gipfeltreffen ein bevorzugter Berichterstattungsanlass (13:169-174). Während politischer Konflikt für die meisten Journalisten ein wichtiges Selektionskriterium darstellt, werden zwei weitere Dimensionen der Konflikthaftigkeit mit Zurückhaltung genannt. Negativismus, also Themen, die im Zusammenhang mit der EU zugeschriebenen Misserfolgen oder mit politischem Fehlverhalten ihrer Akteure stehen, sowie Skandalisierung im Sinne einer Themenwahl, die das Handeln der EU und ihrer Akteure moralisch abwerten, spielen in der EU-Berichterstattung eine wichtige Rolle: „Europa läuft immer dann gut, wenn es um so Themen geht, die national für Ängste sorgen und wo gern gefragt wird, warum denn die EU nichts macht.“ (13:733ff.)
Sie bringen die Korrespondenten in eine ambivalente Situation. Überall dort, wo Ereignisse negative Stereotypen über die EU bedienen wie überbordende Bürokratie, Korruption, Handlungsunfähigkeit oder Versagen der Politik, ist die Medienaufmerksamkeit – wie die Korrespondenten vorzugsweise verallgemeinernd
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formulieren – und das Interesse der Zentralen besonders groß (so auch Siemes 2000: 142ff. für in Redaktionen herrschende Polen-Stereotype). Negativismus als Suchraster für EU-Themen sowie gezielte Skandalisierung ihres Berichterstattungsobjekts lehnen sie jedoch ab, da sie Stereotypen nicht bewusst bedienen wollen (vgl. 6.3.1). Dennoch greifen Korrespondenten bei gegebenen Anlässen solche Themen auf, weil sie wissen, dass diese in den Zentralen gerne angenommen werden und weniger begründungsbedürftig sind (vgl. 6.3.2). Hier fällt auf, dass die Aussagen der Korrespondenten an die Grenzen der Eindeutigkeit stoßen. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass sie im Konflikt zwischen ihrer normativen Orientierung an einer sachgerechten politischen Berichterstattung und einer durch die Zentralen vermittelten wirtschaftlichen Orientierung an beim nationalen Medienpublikum Aufmerksamkeit erregenden Themen stehen.147 Das Kriterium der Dynamik eines Themas spiegelt die Kurz- oder Langfristigkeit eines Themas wider, wonach kurzfristige und abgeschlossene Ereignisse einen höheren Nachrichtenwert haben als langfristige. Weiterhin bezieht es sich auf das Verhältnis von Erwartbarkeit und Überraschung, demzufolge überraschende Ereignisse einen höheren Nachrichtenwert haben als erwartbare. Neben Katastrophenthemen wie die Vogelgrippe, die im Jahre 2006 plötzlich und unerwartet für die EU relevant wurde und durch den Überraschungseffekt sowie ihre Europa-weite Betroffenheit eine Themenkarriere entwickelte (14:120-133), wählen die Journalisten Themen, die an Dynamik gewinnen, wenn „… sich Ereignisse zuspitzen“ (27:122). Im politischen Prozess ist das immer dann der Fall, wenn es zu Abstimmungen und Entscheidungen kommt (8:345-351). Die Formulierung einer politischen Richtlinie oder Verordnung bis hin zu ihrer endgültigen Verabschiedung durch die 27 Mitgliedsstaaten kann sich über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Die meisten Korrespondenten berichten, dass das Stadium, in dem sich eine Richtlinie im Gesetzgebungsprozess befindet, ganz entscheidend für ihre Berichterstattung ist. Während Korrespondenten der Qualitätsmedien, in denen der EU-Berichterstattung vergleichsweise mehr Raum zugewiesen wird, auch Zwischenetappen wie Abstimmungen im EU-Parlament oder Gesetzesvorlagen durch die EU-Kommission als berichterstattungsrelevante Ereignisse darstellen, gelten in regionalen Tageszeitungen und im Privatfernsehen lediglich endgültige Verabschiedungen von Gesetzen als berichterstattungsrelevante Themen (15:288f.; 27:121f.).
147 Insofern bleibt zeitvergleichenden Inhaltsanalysen von EU-Berichterstattung vorbehalten zu belegen, inwieweit EU-Journalisten im zunehmenden medialen Wettbewerb tatsächlich häufiger skandalisierbare EU-Themen wählen.
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Sechstes Selektionskriterium ist die Möglichkeit zur Identifikation durch Personalisierung. Demnach haben Themen und Ereignisse, die durch Menschen als handelnde Personen dargestellt werden können, einen höheren Nachrichtenwert als abstrakte Geschehnisse. Die seit langem beklagte mangelnde Personalisierungsmöglichkeit von EU-Themen stellt auch gegenwärtig ein Problem für die Korrespondenten dar (3:265-295; 22:128; 29:279). Einerseits können viele Ergebnisse des Verwaltungshandelns nicht mit Personen in Verbindung gebracht werden. Andererseits sind dort, wo politische Ergebnisse und Ereignisse auf Personen zurückgeführt werden können, diese dem nationalen Medienpublikum in der Regel nicht bekannt. Allerdings vermutet hier ein Korrespondent das Resultat einer Wechselwirkung: EU-Politiker werden nicht zur Berichterstattung herangezogen, weil man sie nicht kennt; umgekehrt kennt man sie aber auch nicht, weil nicht über sie berichtet wird (12:707-714). Fasst man die Interviewbefunde zusammen, wird deutlich, dass die Handlungsrationalität der Korrespondenten bei ihrer Themenwahl der gleichen Selektionslogik wie auf nationaler Ebene entspricht. Die Orientierung am Output des politischen Systems, an konkurrierenden Medien und an der öffentlichen Meinung sowie die Einschätzung des Nachrichtenwerts von Themen und Ereignissen gehören zu den grundlegenden Handlungsmustern aller Journalisten. Demnach bilden auch in Brüssel Politik-, Medien- sowie die durch die Zentralen repräsentierte Bevölkerungsagenda den thematischen Entscheidungsrahmen der Korrespondenten. Während ihre Themenselektion seit jeher dominant von der tagespolitischen Agenda der EU-Institutionen bestimmt wird, spielen in jüngster Zeit immer häufiger die Medien selbst eine wichtige Rolle als Agendasetter. Welche individuellen Spielräume der Themenwahl die Journalisten innerhalb und außerhalb der verschiedenen Agenden haben, variiert mit ihrem zu bedienenden Medium und ihrer Art der Anstellung als freie oder festangestellte Korrespondenten. Die genannten Selektionskriterien illustrieren, dass EU-Korrespondenten innerhalb dieses Entscheidungsrahmens den potenziellen Nachrichtenwert von Themen und Ereignissen zur Auswahl ihrer Themen heranziehen. Demnach bestimmen Gewichtung und Zusammenspiel einzelner Nachrichtenfaktoren die individuelle Themenwahl. Was den Korrespondenten als berichterstattungsrelevant gilt, muss allerdings nicht zwangsläufig in den Heimatredaktionen ebenso bewertet werden. Innerhalb der Zentrale wird die EU-Berichterstattung im Verhältnis zu den tagesaktuellen Ereignissen neu gewichtet, was häufig dazu führt, dass der Nachrichten- und somit der Stellenwert der Brüsseler Themen dort vergleichsweise geringer eingeschätzt wird (vgl. zum Stellenwert 6.3.2). So gelten die gemäß professioneller Selektionskriterien getroffenen Auswahlergebnisse nicht absolut, sondern immer nur relativ zum innen- und weltpolitischen Gesamtgeschehen, das – neben individuellen Prä-
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ferenzen der Chefredakteure, ihrer Orientierung an Nachrichtenagenturen und nationalen Leitmedien, den Interessen der Rezipienten sowie Zeit- und Platzrestriktionen – die Entscheidungsgrundlage der Heimatredaktion darstellt. Während die Redaktionen aufgrund geringer oder fehlender Nachrichtenfaktoren früher nur mäßiges Interesse an EU-Themen zeigten (vgl. Koopmans/Pfetsch 2003: 5; Gerhards 2001b: 154), haben sich im Hinblick auf EU-Themen sowohl manche Nachrichtenfaktoren als auch die Zuschreibung ihrer Wertigkeit verändert (vgl. dazu genauer 6.4.2). Inwieweit ein vom Korrespondenten gewähltes EU-Thema bis zu seiner Veröffentlichung durchdringt, bleibt daher zunächst eine Frage der allgemeinen politischen Nachrichtenlage und dann vor allem eine Frage der Gewichtung durch die Redaktion als zentralen „Gatekeeper“148.
6.2.2 Arbeitsteilung und Themenkoordination Prozesse der Arbeitsteilung, seien sie durch bestimmte Berufsrollen fest institutionalisiert oder das zeitweilige Ergebnis von ad hoc getroffenen Absprachen, ermöglichen die Spezialisierung der Akteure. Zugleich erfordern sie je nach Differenzierungsgrad ein hohes Maß an Koordination, wenn die Ergebnisse des arbeitsteiligen Prozesses zum Endprodukt der druckfertigen Zeitung oder ausgestrahlten Sendung zusammengeführt werden. Je nach Organisation der Arbeitsteilung und abhängig von den hierarchischen Strukturen kann es im Koordinationsprozess auch zu Zuständigkeitskonflikten kommen. Zu den charakteristischen Merkmalen von EU-Politik gehört, dass sich in ihr innen- und außenpolitische Dimensionen verschränken und sie mittlerweile viele gesellschaftliche Themenbereiche berührt. Das hat zur Folge, dass Journalisten an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ressorts für die Bearbeitung von EU-Themen zuständig sein können. Wie die Arbeitsteilung in den einzelnen Medien organisiert ist und welche Folgen das für Themenwahl und -bearbeitung hat, wird im Folgenden erläutert. Die Struktur der Arbeitsteilung zwischen Korrespondenten und Redakteuren sowie die Art der Themenabsprache zwischen Korrespondenten und Heimatredaktion variieren zwischen den einzelnen Medien und ihren Entscheidungsstrukturen (AIM 2007b: 62). In den Redaktionen der deutschen Presselandschaft lassen
148 Als „Gatekeeper“ oder „Schleusenwärter“ werden in der Journalismusforschung diejenigen Personen bezeichnet, die darüber entscheiden, welche Nachricht in den Medien erscheint. Die damit verbundene Gatekeeper-Forschung versucht zu ergründen, welche Eigenschaften des einzelnen Journalisten und der jeweiligen Medienorganisation die Nachrichtenauswahl beeinflussen.
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sich zwei typische Organisationsformen unterscheiden. Es gibt Redaktionen, die nach verschiedenen Ressorts wie Politik, Wirtschaft etc. gegliedert sind und von entsprechenden Ressortleitern geführt werden. Im anderen Fall werden die Redaktionen von einem zentralen Nachrichtentisch („central desk“) aus organisiert, der mit wechselnden leitenden Redakteuren besetzt ist. Die unterschiedlichen Organisationsformen bestimmen die Entscheidungshierarchie und dementsprechend die jeweiligen Ansprechpartner für die Korrespondenten in den Heimatredaktionen. In der Ressort-Struktur ist entweder der Blattmacher, der für Inhalt und Enderstellung der Seiten verantwortlich ist oder der jeweilige Ressortleiter bzw. der Ressortleiter speziell für Auslandsberichterstattung Ansprechpartner für die Korrespondenten. In der Nachrichtentisch-Struktur ist der gerade verantwortliche Redakteur die relevante Kontaktperson. Entsprechend den Produktionsweisen von Hörfunk und Fernsehen sieht die Verbindung zwischen Brüsseler Korrespondenten und Heimatredaktionen anders aus: In der Regel hat im öffentlich-rechtlichen wie im privaten Fernsehen jede Nachrichtensendung oder jedes Nachrichtenmagazin ein eigenes Produktionsteam, das Beiträge der Brüsseler Korrespondenten einbindet. Mit Ausnahme der ARD/ WDR, die mit Nachrichtenmagazinen wie dem Europamagazin und den beiden wöchentlich im WDR ausgestrahlten Sendungen Bericht aus Brüssel und 0800 Brüssel eigene EU- oder Europa-Sendungen in Brüssel produziert, werden zumeist Beiträge für allgemeine Nachrichtensendungen erstellt. Je nach Organisationsform des Senders arbeiten die Korrespondenten mit dem leitenden Redakteur der jeweiligen Nachrichtensendung, der üblicherweise rotiert, oder den Auslandsredakteuren der Redaktion zusammen. Da Korrespondenten darüber hinaus für weitere Programmformate arbeiten, kooperieren sie mit zahlreichen Redakteuren. Je nachdem, welchen Stellenwert die EU-Berichterstattung im jeweiligen Medium einnimmt, wie viele Korrespondenten die Heimatredaktion bedienen und wer dort ihr Ansprechpartner ist, sind die Entscheidungsspielräume über die Themenwahl und die Chance einer erfolgreichen Durchsetzung von Themen für die Korrespondenten größer oder geringer. In der Regel kommen Themenvorschläge aus beiden Richtungen. Einerseits werden Themenvorschläge von Seiten des Korrespondenten an die Redaktion gemacht, da sie als Experten für das Berichterstattungsfeld gelten (13:202-208). Andererseits kann auch die Redaktion vor dem Hintergrund des nationalen Geschehens Informationsbedarf anmelden. Themenwünsche der Redaktion sind für Korrespondenten insofern zwingender, als die Entscheidung über die Zusammenstellung der Berichterstattung in ihrer Hand liegt (9:167-182; 28:174-194). Zudem obliegt ihr die Entscheidung, ob ein EU-Thema vom Korrespondenten oder – was in Qualitätszeitungen immer häufiger vorkommt – als „armchair-editorial“149 von einem leitenden Mitglied der Redaktion kommentiert wird (18:710).
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In Nachrichtenagenturen liefern die Korrespondenten zu ca. 90% Themenvorschläge für die EU-Berichterstattung. Da Agenturen kein Platzproblem haben und so im Verhältnis zu nationalen Redaktionen keine Konkurrenz um die begrenzten Ressourcen Raum oder Zeit entsteht, wird in der Regel alles über den Nachrichtenticker geschickt, was Korrespondenten vor Ort auswählen und schreiben. In nur rund 10% der Fälle kommen Anregungen aus der Zentrale oder dem Berliner Korrespondentenbüro. Das Hauptstadtbüro ist wegen der engen Wechselbeziehung zwischen Berliner und Brüsseler Politik zwar wichtigster Ansprechpartner für die Brüsseler Korrespondenten, die Themenkoordination findet aber durchweg über die Zentrale statt (12:183-192; 13:200-211; 14:96-108; 31:121-129). Bei Tageszeitungen lassen sich zwei Kooperationstypen zwischen Zentrale und Korrespondentenbüro unterscheiden: ein „Aushandlungsprinzip“ und ein „Vorschlagsprinzip“. In überregionalen Tages- und Wochenzeitungen, für die jeweils mehrere Korrespondenten arbeiten, dominiert das Aushandlungsprinzip, das dadurch gekennzeichnet ist, dass Heimatredaktion und Korrespondentenbüro sehr eng zusammenarbeiten (1:323-338; 23:135-141; 24:434-446). Auch wenn die endgültige Entscheidungsmacht über die tagesaktuelle Zusammenstellung der Beiträge bei allen Zeitungen in der Zentrale liegt, werden die anliegenden Themen in der morgendlichen Redaktionskonferenz von allen Journalisten vorgestellt und im Hinblick auf Platzierung, Umfang und eventuelle Kommentierung diskutiert. Ein Chefredakteur berichtete, dass er und andere in seiner Funktion in Redaktionskonferenzen Ideen zusammentragen und Anstöße im Sinne von „müssten wir nicht mal?“ an die Korrespondenten weitergeben. Im gleichen Atemzug betonte er auch, dass ebenso häufig Vorschläge von den Brüsseler Korrespondenten kommen. So handelt es sich bei der Themenwahl um eine „Absprachegeschichte“ (19:57-75), bei der ohnehin, da die klassischen Ressorts durch die Desk-Struktur nicht mehr so klar voneinander abgegrenzt sind, zu Koordinationszwecken viel miteinander telefoniert wird (19:164-176; 20:110-124). Dieser vergleichsweise demokratisch verlaufenden Koordination der Zusammenarbeit steht eine direktive Form gegenüber. Sie basiert ebenfalls auf Aushandlungsprozessen und einem „wechselseitigen Geben und Nehmen“ (7:155-163), wird aber viel stärker von der Zentrale gesteuert. Seine Rolle als Ansprechpartner für die EU-Korrespondenten sieht ein Redakteur darin, „…dass man sich darum kümmert, dass das, was die Kollegen in Brüssel machen,
149 Im Unterschied zur angelsächsischen Tradition, in der die Trennung von Nachricht und Meinung auch anhand der Differenzierung von Berufsrollen strukturell gesichert ist, können deutsche Journalisten sowohl Nachrichten als auch Kommentare zum gleichen Thema verfassen – sie müssen nur als solche gekennzeichnet sein. Mit „armchair-editorials“ sind Meinungsbeiträge gemeint, die ohne vorherige Recherche des Themas für die Nachrichtenberichterstattung verfasst werden.
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gut in die Zeitung kommt, und dass man die Kollegen ein bisschen führt“ (5:76-84; vgl. auch 7:915-920). Hier wird deutlich, dass bereits in der Themenabsprache von Seiten der Heimatredaktion ein starker Einfluss auf die Themenwahl und Themengestaltung genommen wird. Bei regionalen Tageszeitungen, die nur einen Korrespondenten beschäftigen bzw. umgekehrt in den Fällen, in denen ein Korrespondent einen ganzen „Bauchladen“150 von Regionalzeitungen bedient, dominiert das Vorschlagsprinzip. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass Korrespondent und Heimatredaktion in eher locker verbundener Form zusammenarbeiten. Da ein Korrespondent bei sechs bis zwölf Abnehmern nicht mit allen Redaktionen telefonische Absprachen treffen kann, macht er seine „auf Erfahrungswerten basierenden“ Themenangebote mit geplanter Zeilenlänge und eventuellen Kommentierungsvorschlägen per Email. Ein Korrespondent berichtet, dass er im Vorfeld der Redaktionskonferenzen zwei bis drei Testtelefonate mit Chefredakteuren führt, um die Themenlage in Deutschland und die damit verbundenen Interessen an europäischen Themen zu erfragen (2:268-275). Dort, wo Korrespondenten Festangestellte einer Regionalzeitung sind, erfolgt in der Regel eine telefonische Absprache auf der Grundlage vorheriger schriftlicher Themenvorschläge. Charakteristisch ist in allen Fällen das, was ein Korrespondent als das „nach mir die Sintflut“-Prinzip beschreibt: Nach der Themenabsprache finden in der Regel keine weiteren inhaltlichen Feinabstimmungen mehr statt. Je nach regionaler Reichweite des vom Korrespondenten vorgelegten Themas werden in der Redaktion noch Informationen aus anderen Auslandsbüros ergänzt oder lokale Bezüge hergestellt. Dies geschieht aber zumeist ohne Rückfragen an den Brüsseler Korrespondenten, der das endgültige Ergebnis des redigierten Artikels selbst erst in der Zeitungsausgabe des folgenden Tages sieht (2:185-195, 268-280; 17:294-315). Medienbedingt liefern Hörfunk- und Fernsehkorrespondenten fertige Themenbeiträge ab, die nicht mehr redaktionell bearbeitet werden (9:167-182; 15:235242; 22:175-196). Die Themenabsprache im Vorfeld der Produktion ist ebenfalls ein „Geschäft der Gegenseitigkeit“, wenngleich die Themenvorschläge zum überwiegenden Teil von den Korrespondenten kommen. Die Planung der Beiträge verläuft wesentlich gröber und beim Privatfernsehen langfristiger, was auf einen insgesamt geringeren EU-Berichterstattungsanteil im Vergleich zum öffentlichrechtlichen Fernsehen zurückzuführen ist. So erstellt der freie Mitarbeiter eines
150 Einen „Bauchladen“ haben diejenigen festen freien Journalisten, die eine ganze Reihe von Abnehmern bedienen. Das können verschiedene, aber zu einer Verlagsgruppe gehörige Regionalzeitungen sein oder auch eine im Laufe der Jahre akquirierte Zusammenstellung voneinander unabhängiger Regionalzeitungen.
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privaten Fernsehsenders üblicherweise ein Wochenprogramm mit potenziell relevanten Themen als Diskussionsgrundlage für seine Redaktion. Obgleich er eigene Vorschläge macht, wird er von engen redaktionellen Vorgaben dominiert, die in Beiträgen zu Themen bestehen, die zur politischen Entscheidung kommen, und solchen, die die „nationale Keule“, also die nationale Perspektive und Betroffenheit eines Themas auszeichnet (15:76-97). Da es in Online-Medien ebenso wie im Fall von Nachrichtenagenturen keine Konkurrenz um begrenzte Platzressourcen gibt, genießen Online-Korrespondenten große Freiräume in der Wahl und Darstellung ihrer Themen (25:286-290; 302-306). Am insgesamt durchweg engen Kontakt zwischen Zentralen und Korrespondentenbüros wird ein wesentlicher Wandel der Arbeitsbedingungen deutlich. Während die Brüsseler Korrespondenten Ende der 1980er Jahre nicht mehr als einmal in der Woche mit ihren Heimatredaktionen telefonierten und zum Teil noch seltener Artikel lieferten, stehen sie heute in täglichem Austausch (16:111-117). Die Gründe liegen im gewachsenen Umfang von Berichterstattungsanlässen, der gestiegenen Nachfrage durch die Redaktion und nicht zuletzt in den technischen Kommunikationsmöglichkeiten von Mobiltelefonen sowie der digitalen Informationsverarbeitung und -verbreitung durch das Internet. So können die Korrespondenten beispielsweise via Netzverbindung ihre Beiträge umgehend in das elektronische Redaktionssystem der Heimatredaktion einspeisen. Eine weitere Dimension der Arbeitsteilung und der Koordination von Nachrichtenbeiträgen auf gleicher Produktionsstufe verläuft zwischen den Brüsseler und anderen Auslandskorrespondenten sowie zwischen den Brüsseler und den Berliner Inlandskorrespondenten des jeweiligen Mediums. Da die Brüsseler Politik oftmals als Verlängerung der Berliner Hauptstadtpolitik gesehen wird und bei Themen wie EU-Verfassung oder EU-Erweiterung auch Positionen anderer EUMitgliedsländer relevant sind, ist die Frage der journalistischen Zuständigkeit von Bedeutung. Grundsätzlich gilt zwar für die meisten Medien, dass aufgrund der sachlichen Expertise Themen bei jeglichem Verdacht auf einen EU-Bezug vorzugsweise den Brüsseler Korrespondenten überlassen werden. Dennoch ergibt sich häufig eine thematische Arbeitsteilung aus dem Ortsbezug des jeweiligen Berichterstattungsanlasses. Besucht ein Regierungsvertreter eine Ratssitzung in Brüssel, ist der dortige Korrespondent für das Thema zuständig. Äußert sich der politische Akteur zum selben Thema in Berlin, fällt es in den Aufgabenbereich des politischen Hauptstadtkorrespondenten. Eine darüber hinausgehende Themenkoordination und ein Informationsaustausch, der technisch ohne weiteres möglich wäre, finden nach Aussagen der Journalisten faktisch kaum statt. Obwohl für überregionale Tageszeitungen auch in Berlin jeweils auf EU-Themen spezialisierte Korrespondenten arbeiten, ist die Abstimmung z.B. im Hinblick auf sachliche Rückfragen, Er-
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gänzungen oder gemeinsames Verfassen von Artikeln vergleichsweise selten (5:121-131; 8:279-305; 18:270-290). Beiträge verschiedener Korrespondenten werden vielfach erst durch die Endredaktion in der Zentrale zu einem EU-Thema verbunden. Ebenso gut kann es aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeitsbereiche sein, dass zu einem Thema mehrere Artikel mit zum Teil unterschiedlichen Positionen im gleichen Blatt nebeneinander stehen. Eine Arbeitsteilung findet nicht nur zwischen den Korrespondentenbüros und den Heimatredaktionen statt, sondern auch innerhalb von Büros, die mit mehreren Korrespondenten besetzt sind. Wie aus der Analyse der Medienorganisationen ersichtlich, sind dpa als Nachrichtenagentur, FAZ und SZ als überregionale Qualitätszeitungen, ARD/WDR und ZDF als öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten, Deutschlandfunk als öffentlich-rechtlicher Hörfunksender und Deutsche Welle als öffentlich-rechtlicher Rundfunksender Medien mit festen, ausdifferenzierten Berufspositionen. Die Arbeitsteilung ist je nach Anzahl der festen und ergänzenden freien Mitarbeiter zumeist entlang bestimmter Ressort- oder Themenfelder organisiert: Wirtschaftspolitik, allgemeine EU-Politik, Außen- und Sicherheitspolitik der EU und NATO-Berichterstattung sowie die Belgien- und Benelux-Berichterstattung als klassische Auslandskorrespondenz sind die zentralen thematischen Spezialisierungsfelder von EU-Korrespondenten. In einer Nachrichtenagentur ist eine räumliche Arbeitsteilung etabliert, da einer ihrer Korrespondenten in Straßburg lokalisiert ist und ausschließlich die parlamentarische Berichterstattung der EU sowie die Politik des Europa-Rats abdeckt. Allerdings schränken die interviewten Journalisten ein, dass sich eine thematische Arbeitsteilung nicht konsequent durchhalten lässt, da die Themen in der Regel zwischen verschiedenen Themenbereichen changieren (28:145-151). Außerdem erfordert es ihrer Ansicht nach der EU-spezifische Arbeitsalltag, dass trotz persönlicher Präferenzen und Spezialisierungen im Notfall „alle Alles handwerklich und mit der notwendigen inhaltlichen Tiefe abdecken“ müssen. Wegen wechselnder Urlaubs- und Arbeitszeiten der Kollegen sowie aufgrund der Vielzahl von parallelen, auch außerhalb Brüssels stattfindenden EU-Ereignissen, gilt ein universalistischer Anspruch. Die Angaben der Journalisten verweisen zwar durchaus auf eine Aufteilung der Themendossiers innerhalb der Korrespondentenbüros, so dass wichtige Themen längerfristig von einer Person begleitet werden. Dennoch sollte jeder Journalist jederzeit in der Lage sein, thematisch für seine Kollegen einzuspringen (6:86-89; 8:268-278; 9:134-145; 23:142-173). Die Abstimmung verläuft in der Regel informell und auf Zuruf und ist entsprechend der aktuellen politischen und beruflichen Lage zumeist flexibel (22:232-240). Darüber hinaus ergänzen Freie oder feste Freie den Nachrichtenbedarf der Redaktionen. Ihre Arbeitsaufträge werden über die Zentrale organisiert, wenn der zuständige Korres-
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pondent verhindert ist oder ein relevantes Thema entdeckt hat, das er aus Zeitgründen nicht selbst bearbeiten kann (9:183-207; 26:33-36). So findet innerhalb eines mit mehreren Korrespondenten besetzten Büros zwar eine nach Absprache und persönlichen Vorlieben gestaltete Arbeitsteilung statt, die langfristig zu individuellen Themenspezialisierungen führt. Dennoch wird innerhalb der Büros darauf geachtet, dass das Wissen zur Themenbearbeitung keinen exklusiven und personengebundenen Status erreicht, sondern dass alle Kollegen ebenso wie Korrespondenten, die nur ein einziges Medium bedienen, Themengeneralisten bleiben. Insgesamt zeigen die Interviewaussagen, dass mit der institutionell fixierten Arbeitsteilung eine Themenspezialisierung einhergegangen ist, die sich primär an der Berufsrolle der Korrespondenten festmacht und umso weiter reicht, je mehr Korrespondenten für ein Medium arbeiten. Die Korrespondenten werden üblicherweise vom außenpolitischen Ressort betreut, wenngleich sie je nach Thema auch Ansprechpartner in anderen Ressorts haben. Für die meisten Medien gilt, dass der Kontakt zwischen Korrespondenten und Heimatredaktionen enger geworden ist, was auf die gestiegene Nachfrage nach EU-Nachrichten sowie auf die modernen Kommunikationstechniken zurückgeführt werden kann. Die jeweilige Themenzuständigkeit ergibt sich aus der Ortsbezogenheit der Berichterstattungsanlässe und der Bedeutsamkeit von Themen. Während EU-Berichterstattung lange Zeit ausschließlich eine Berichterstattung aus Brüssel war, „ereignen“ sich EUThemen zunehmend auch an anderen Orten und werden bei größerem politischem Gewicht von leitenden Redaktionsmitgliedern kommentiert. So sind zwar mehr Journalisten für EU-Berichterstattung zuständig, die über die Zentrale koordiniert werden. Ein Austausch oder eine Kooperation zwischen den Journalisten findet jedoch kaum statt. Trotz Zuschreibung eines Expertenstatus an die Korrespondenten in Brüssel verbleiben die Koordination und Letztentscheidung über EU-Themen bei den Zentralen.
6.2.3 Informationsquellen und Themenrecherche Zu den charakteristischen Merkmalen des Korrespondentenplatzes Brüssel gehört der direkte Zugang zu einer Vielzahl von Informationsquellen, die es potenziell ermöglichen, die EU-Politik aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Neben den drei Institutionen EU-Kommission, Europäisches Parlament und Europäischer Rat mit seinen Ministerräten können die Journalisten auf 27 Vertretungen der Nationalstaaten, auf zahlreiche regionale Vertretungen sowie auf Lobbyisten, Thinktanks, NGO’s und andere nationale und europäische Akteure zurückgreifen. Zusätzlich zu den politischen und am politischen Prozess beteiligten Akteuren sind
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in Brüssel insbesondere die Kollegen eine wichtige Informationsquelle. Welche Bedeutung die einzelnen Informationsquellen für die Korrespondenten haben, wie sie organisiert, wie gut sie zugänglich sind, wie sie sich verändert haben und auf welche Art und Weise sich die Korrespondenten ihrer bedienen, wird im Folgenden dargestellt: Europäische Kommission Die Europäische Kommission ist die wichtigste Informationsquelle für die Journalisten. Dies resultiert aus ihrem bedeutenden politischen Gewicht im Zusammenspiel der EU-Institutionen, ihrer im Unterschied zu den vergleichsweise seltenen Gipfeltreffen des Rats und der Ministerräte dauerhaften Präsenz sowie ihrer damit verbundenen traditionellen Zuständigkeit für die EU-Öffentlichkeitsarbeit und die Organisation der Pressekontakte. Die Presseabteilung der Europäischen Kommission ist seit jeher der erste Anlaufpunkt für EU-Korrespondenten. Hier erhalten sie die für sämtliche EU-Institutionen gültige Akkreditierung. Zudem ist sie die EU-Institution mit dem größten Angebot an pressebezogenen Aktivitäten, was in der ausdifferenzierten Generaldirektion Kommunikation zum Ausdruck kommt. Zentraler Fixpunkt im Arbeitsalltag der Brüsseler Korrespondenten ist die täglich stattfindende 12-Uhr-Pressekonferenz im Pressesaal des Berlaymont-Gebäudes der Kommission, das sog. „Rendez-vous de midi“ bzw. „Middaybriefing“. Mittwochs nach der Sitzung der EU-Kommissare sowie freitags mit der Ankündigung von Veranstaltungen, Abstimmungen, geplanten Entscheidungen für die kommende Woche ist die Pressekonferenz gut besucht. Sie gibt unmittelbar Aufschluss darüber, woran die Kommission gerade arbeitet und was sie plant. Im Anschluss an das Pressebriefing besteht für Journalisten die Möglichkeit, bei Kommissaren, Kommissionssprechern oder (Presse-)Vertretern anderer Institutionen öffentlich im Saal oder im direkten Gespräch am Rande des Podiums nachzufragen. Im Foyer des Pressesaals liegen zudem zahlreiche Dokumente, Pressemitteilungen und Hintergrundinformationen zu den jeweils aktuellen Kommissionsangelegenheiten aus. Für die Korrespondenten ist das Rendez-vous de midi nicht nur von inhaltlicher, sondern auch von sozialer Bedeutung. Es strukturiert den Tag der zumeist alleine zuhause oder in den Büros des nahe gelegenen International Press Center (IPC) und Residence Palace arbeitenden Journalisten. Zur Mittagszeit kommen sie zunächst im Pressesaal und anschließend zum Mittagessen in der Cafeteria des speziell für Journalisten zugänglichen Gebäudetrakts des Berlaymont-Gebäudes zusammen. Hier tauschen sie sich mit ihren Kollegen über tagesaktuelle Ereignisse aus. Aus den zahlreichen Gesprächen mit Journalisten aus anderen Mitgliedsstaaten resultiert die generelle Einschätzung, dass das Pressebriefing „eine wichtige Geschichte (ist), die man beobachten und auswerten muss“; es sei eine der wenigen Gelegenheiten, bei
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denen über Themen geredet werde, die alle Länder interessieren: „Wenn Sie über europäische Öffentlichkeit reden, da wird sie gemacht!“ (4:149f). Trotz der grundsätzlich als wichtig erachteten inhaltlichen und sozialen Funktion des Pressebriefings nehmen einige Journalisten nur unregelmäßig daran teil. Besonders ältere Korrespondenten geben an, dass sie mit zunehmender Berufserfahrung sogar bewusst auf eine persönliche Anwesenheit verzichten. Da sie nicht mehr auf seine Orientierungsfunktion angewiesen sind und da die konkreten Inhalte des Pressebriefings von ihnen als nicht besonders informativ – „es fehle die politische Botschaft und zeichne sich oftmals durch große Inhaltsleere aus“ (2:402418) – und für ihre Arbeit unmittelbar relevant bewertet werden, verfolgen sie das Briefing via Fernseh- oder Internetdirektübertragung über den von der Europäischen Kommission organisierten Fernsehkanal Europe by Satellite (EbS)151 (8:704742; 9:272-287). Auf diese Weise informieren sie sich selektiv über aktuelle Kommissionsentscheidungen, sofern sie darüber berichten, und vermeiden das aus ihrer Sicht zeitverschwendende Warten auf politische Positionierungen, die nicht oder nur selten im Rahmen offizieller Pressekonferenzen vermittelt werden. Dass viele Journalisten mit den Inhalten des Pressebriefings unzufrieden sind, steht in enger Verbindung mit der Informations- und Kommunikationspolitik der Europäischen Kommission. An der folgenden Aussage wird deutlich, dass die Funktionslogik einer Verwaltung, wie sie die Kommission darstellt, mit der des Mediensystems kollidiert: „Bei der Kommission bemüht man sich traditionell um Offenheit, aber die Qualität ist sehr unterschiedlich. (…) Man versucht immer zu sagen, wir müssen mehr auf den Bürger zugehen. Aber die EU-Kommission ist im Grunde eine in den fünfziger, sechziger Jahren nach französischem Vorbild organisierte Superverwaltung, die traditionell im Stillen und im Verborgenen agiert und die eigentlich auf so etwas in großem Stil überhaupt nicht vorbereitet ist. (…) Sie sind, was technische Sachen angeht, wenn es um Gesetzgebungsvorschläge geht, sehr transparent – transparenter als die Gesetzgebung in vielen Mitgliedsstaaten. Aber wenn es wirklich um die großen politischen Auseinandersetzungen geht, wie jetzt die Verfassungskrise, Budgetkrise, ist nicht klar,
151 Europe by Satellite (EbS) ist ein vom audiovisuellen Dienst der Europäischen Kommission organisierter Fernseh- und Informationskanal, der per Satellit oder via Internet empfangen werden kann. Er wurde 1995 eingeführt und stellt professionellen Medienmachern EU-relevantes Bild-, Ton- und Teletextmaterial zur Verfügung. Das Angebot besteht aus Live-Übertragungen von Pressekonferenzen und Briefings (Informationsgesprächen) aus allen EU-Institutionen, insbesondere aus der Übertragung von Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments in Straßburg sowie Infoclips, Videopressemeldungen zu EU-Politiken und aktuellen Themen und Streitpunkten. Vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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was die Kommission eigentlich vertritt, wofür sie steht. Es ist eine Hilflosigkeit da, was man natürlich dann auch schlecht vermitteln kann.“ (4:283-309)
Die Journalisten bewerten den Zugang zu Informationen der EU-Kommission und deren Transparenz ambivalent und unterscheiden dabei zwei Aspekte: Der erste bezieht sich auf den Zugang zu „technischen Informationen“, worunter sie in erster Linie die offiziellen, für alle Stufen des Gesetzgebungsprozesses relevanten Dokumente verstehen. Der zweite bezieht sich auf die Kommunikationspolitik der EUKommission als politischen Akteur. Der Zugang zu EU-Dokumenten152 und die sich darauf beziehenden Presseinformationen, die die komplexen Sachverhalte aufbreiten, haben sich nach Ansicht der Korrespondenten deutlich verbessert. Sie stehen mittlerweile umfassend und aktuell zur Verfügung. Auch die Pressesprecher gelten im Allgemeinen für sachbezogene Fragen als durchweg gut erreich- und ansprechbar. Zugleich konstatieren die Korrespondenten eine kommunikative Defensive bis hin zu einer „kommunikativen Verschleierung der Politik“ durch die Ausarbeitung immer neuer PR-Strategien. Laut Korrespondentenaussagen symbolisiert schon die Bühnen- und Publikumskonstruktion des neuen Pressesaals nebst separatem Presseeingang ins Berlaymont-Gebäude die defensive Haltung der Kommission (vgl. dazu auch Reichstein 2005); sie trägt zu einer deutlich distanzierten und kühlen Atmosphäre zwischen Pressekorps und Kommission bei. Neben der ohnehin geringen Medienorientierung der EU-Kommission, die in der doppelten Funktion von supranationaler politischer Institution und zugleich politischer Verwaltung begründet liegt, führen die Korrespondenten die defensive Haltung auf zwei Ursachen zurück: Darin drücke sich die gegenwärtige politische Krisenstimmung in der EU sowie die schlechte Erfahrung im Umgang mit Journalisten aus, die im Jahre 1999 den Rücktritt der EU-Kommission bewirkten.153
152 Gerd G. Kopper (2007: 21) zeigt allerdings, dass die Journalisten das Transparenzangebot der EU nahezu nicht nutzen. Nur drei Prozent der Journalisten stellen Anträge auf Einsicht in EU-interne Akten. 153 Sowohl im Verhältnis zwischen den Brüsseler Korrespondenten zur Europäischen Kommission als auch der Korrespondenten untereinander gilt der von einem transnationalen Netzwerk kooperierender Journalisten im Jahre 1999 verursachte Rücktritt der Europäischen Kommission unter Jacques Santer als ein markanter Einschnitt. Ein Fall von Vetternwirtschaft und drei Fälle von Missmanagement in der Kommission gelangten durch eine Gruppe von kooperierenden Investigativjournalisten aus verschiedenen EULändern an die Öffentlichkeit. Eine solche Zusammenarbeit war insofern neu, als ihre Mitglieder täglich miteinander telefonierten, untereinander Informationen austauschten und sich regelmäßig mit neuen Informanten trafen. Durch Arbeitsteilung in der Recherche und zeitliche Koordination ihrer Veröffentlichungen setzen sie nicht nur die Kommission unter Druck, sondern bestimmten auch die Nachrichtenagenda der anderen Brüsseler Medien. Nur so war es auch für Journalisten einzelner und kleinerer Medien möglich, unter Verweis auf die Leitmedien des Netzwerks gegen die Perspektive der Kommission, der nationalen Politiker und Heimatredaktionen anzuschreiben (vgl. Meyer 2002b; 106-115; 2002a).
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Die von der EU-Kommission im Rahmen von „Plan D“ angestrebten Maßnahmen zur Verbesserungen der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit löste bei der Mehrheit der befragten Journalisten großen Unmut aus. Insbesondere die darin vorgeschlagene Einrichtung einer EU-Nachrichtenagentur, die die Arbeit der Journalisten unterstützen soll, wurde als „schamloser Manipulationsversuch“ und weitreichender Eingriff in das Arbeitsfeld der Korrespondenten bewertet: „Pressefreiheit heißt, dass man seine Informationen selbst sammelt und sie nicht vorgesetzt bekommt!“ (10: 924ff.). Solche Reaktionen zeigen die prototypische Abwehr der Korrespondenten gegenüber den Steuerungsversuchen der Politik, die sie sowohl zu individuellem als auch kollektiv organisiertem Protest veranlasst (vgl. zu Aktivitäten von API, 5.3.2 und 6.1.3).154 Um dennoch an für sie interessante Informationen zu gelangen, bauen die Korrespondenten Kontakte in den Kommissionsapparat auf. Insbesondere EU-Beamte der Kommission gelten als hervorragende Quelle, da sie als Sachbearbeiter in den jeweils relevanten Feldern am besten informiert sind. Da sie aber einer restriktiven Schweigepflicht gegenüber Medienvertretern unterliegen, geben sie – wenn überhaupt – Informationen nur informell an Korrespondenten weiter (vgl. Bedingungen der Vernetzung, 6.4.1). Europäisches Parlament Das Europäische Parlament hat durch die letzten Vertragsreformen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Im Vergleich zu den beiden anderen Institutionen ist das politische Gewicht zwar immer noch gering, aber durch seine Abhängigkeit von der europäischen Wählerschaft seit jeher öffentlichkeitsorientiert. So stufen die Korrespondenten das Europäische Parlament in jeder Hinsicht als die transparenteste Institution ein. Sie besuchen die öffentlichen parlamentarischen Sitzungen wie das Miniplenum, die Ausschusssitzungen und die großen Plenardebatten in Brüssel persönlich oder verfolgen sie zunehmend häufiger per Direktzuschaltung durch EbS am Bildschirm, wenn sie im Straßburger EU-Parlament stattfinden. Die Generaldirektion Information, eine von acht Direktionen des Parlamentarischen Generalsekretariats, organisiert regelmäßig zu den Sitzungswochen in Brüssel und auf Anfrage in Straßburg ergänzende Briefings und Pressekonferenzen. Zudem können die Korrespondenten mittlerweile auf die Pressearbeit der einzelnen Parlamentsfraktionen zurückgreifen. Wichtiger ist ihnen allerdings der direkte Kontakt zu EU-Parlamentariern:
154 Der im Plan D enthaltene Vorschlag wurde nach massiven Protesten der API wieder zurückgenommen und stattdessen angekündigt, den EU-Fernseh- und Informationskanal zu modernisieren (vgl. journalist 2006/3: 64).
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
„Das persönliche Gespräch mit den Europa-Abgeordneten gehört zu den wichtigsten Quellen, weil die natürlich viele Entscheidungen immer rückkoppeln auf ihre Bedeutung für ihren Wahlkreis oder für Deutschland. Also von daher, die deutschen EuropaAbgeordneten sind eine ganz wichtige Quelle, weil sie Probleme früh erkennen, früh in Entscheidungen einbezogen sind und früh ein Interesse haben, Themen publik zu machen.“ (2:333-341)
Wenngleich die Aktivität und Qualität des Pressekontakts je nach personeller Ausstattung beträchtlich zwischen den Parteien oder nach individueller Motivation des Abgeordneten variieren, verhalten sich die Akteure insgesamt sehr medienorientiert.155 Für Journalisten ist es recht einfach, die für das jeweilige Themendossier zuständigen und kompetenten Assistenten der Parlamentarier zu finden. Einige Korrespondenten suchen unabhängig von der Nationalität gezielt diejenigen EU-Abgeordneten und deren Mitarbeiter auf, die jeweils Spezialisten in einem bestimmten Politikfeld sind. Viele Journalisten lehnen dies jedoch mit Verweis auf Zeitmangel, kulturelle und sprachliche Barrieren oder unter der Annahme ab, dass dem deutschen Medienpublikum Abgeordnete anderer Nationen ohnehin nicht bekannt sind (z.B. 4:356-361). Der aufgrund der politischen Struktur immer schon gute und sich durch weitere Pressearbeit verbessernde Informationszugang zum Europäischen Parlament wird demnach von den Korrespondenten primär eindimensional genutzt. Während je nach Zeitbudget und individuellen Sprachkompetenzen vereinzelt Hintergrundinformationen bei Abgeordneten anderer Nationalitäten recherchiert werden, binden die Journalisten in ihre Berichterstattung vorzugsweise deutsche Abgeordnete ein (zur Herstellung des nationalen Bezugs vgl. 6.4.2). Europäischer Rat und Ministerräte An dritter Stelle der Informationsquellen wurden in Zusammenhang mit Treffen des Europäischen Rats und der Ministerräte die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union in Brüssel sowie andere Ländervertretungen genannt. Die Zusammenkünfte des Europäischen Rats bei Gipfeltreffen und die Treffen der Ministerräte gelten in den Augen der Korrespondenten immer noch als „dunkle Angelegenheit“ (3:483f.). Trotz ihrer zentralen politischen Bedeutung sind die Sitzungen in der Regel nicht öffentlich und politische Entscheidungsprozesse daher undurchsichtig und schwer nachvollziehbar:
155 Daraus folgt allerdings nicht zwangsläufig, dass das EU-Parlament oder die Positionen von EU-Parlamentariern in der Berichterstattung häufig oder häufiger Berücksichtigung finden (vgl. Baisnée 2004).
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„Der Rat ist schon immer eine relativ intransparente Institution. Da läuft dann letztlich alles über die diplomatische Ebene, was das Verhalten der einzelnen Staaten im Rat betrifft; und das ist natürlich immer mit einem gewissen Filter versehen und mit Vorsicht zu genießen.“ (8:524-529)
Die dem Generalsekretariat unterstehenden Vertreter der Presseabteilung sind für die Journalisten als Informationsquellen wenig hilfreich. Zum einen wird von ihnen nach jedem Gipfeltreffen stellvertretend für die jeweilige Präsidentschaft nur eine gemeinsame Pressekonferenz organisiert. Zum anderen werden viele Dokumente wie Sitzungsprotokolle so spät nach einem Treffen veröffentlicht, dass diese „Transparenz im Nachhinein“ für die Berichterstattung nicht mehr aktuell und daher uninteressant ist. Eine darüber hinausgehende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit findet von Seiten des Rats praktisch nicht statt. So kritisiert ein Journalist, dass die kontinuierliche Rückvermittlung der europäischen Politik des Rats und der Ministerräte in die einzelnen Länder fehlt und so der Bevölkerung völlig unzugänglich bleibt (23:505-520). Stattdessen erfolgt die Informationsweitergabe durch entsprechende Länderbriefings auf diplomatischer Ebene. Vor jedem Ministerratstreffen finden zeitgleich Briefings mit Berichten von Regierungsvertretern zu aktuellen Problemsituationen, den dazugehörigen Positionen und den zu erreichenden politischen Zielen in den Ständigen Vertretungen der Mitgliedsländer statt. Ebenso werden die Ministerratstreffen durch Pressekonferenzen mit den Ministern der jeweiligen Länder separat und zeitgleich nachbereitet. Dass sie dabei der nationalen Interessenpolitik ausgesetzt sind, ist den Korrespondenten durchaus bewusst. Die einseitige Informationslage wird von den Journalisten insoweit kompensiert, als sie sich mit Kollegen anderer Nationalitäten austauschen oder je nach sprachlicher Kompetenz zusätzlich an Briefings anderer Länder teilnehmen. Dabei interessiert sie, welche Positionen von den jeweiligen Ländern vertreten werden. Außerdem kontrollieren sie durch die Nachfrage bei Kollegen, inwieweit die im eigenen Länderbriefing vermittelten politischen Statements mit der Schilderung dieser Position aus der Perspektive anderer Länder übereinstimmen. Ein Fernseh-Korrespondent bemerkt dazu: „Nehmen Sie mal eine ganz normale Sitzung des Ministerrates. Wenn die zu Ende ist, dann gibt es 25 Konferenzen parallel, die kann ich unmöglich wahrnehmen. (…) Also, was mache ich? Ich gehe zu meinen ausländischen Kollegen. Ich kenne die Schlachtordnung ein bisschen vorher, und dann weiß ich schon, aha, das hakt heute an den Franzosen, an den Polen, weiß der Geier an wem, vielleicht an den Finnen – dann gehe ich da hin. Und dann sage ich: „Sag mal, was haben jetzt eure Leute erzählt? Wie in-
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terpretieren die das?“ – und dann tauschen wir das aus. Wir Fernsehleute haben dazu noch was anderes: Ich kann ja nicht in 25 Pressekonferenzen eine Kamera stellen, unmöglich! Ich stelle meine Kamera also in die deutsche Pressekonferenz, meine BBCKollegen tun das in der britischen Pressekonferenz, die France Deux in der französischen Pressekonferenz etc. Und dann ist es einfach so, dann tauschen wir. Und zwar eigentlich voll gegen die Vorschriften unserer Sender – das machen wir auf dem Obergefreitendienstweg sozusagen.“ (10:456-477)
Der bei Gipfeltreffen selbstverständliche Austausch ermöglicht, die eigene Berichterstattung um ergänzende Bilder und Zitate anzureichern sowie in der Konfliktkonstellation länderspezifischer Interessen die jeweiligen Positionen anderer Länder nachzuvollziehen. Ferner können widersprüchliche Darstellungen der Regierungsvertreter wie die öffentliche negative Bewertung von Entscheidungen, die sie hinter verschlossener Tür selbst mit vertreten und daher zu verantworten haben, aufgedeckt werden. Auch wenn die Korrespondenten auf diese Weise die mangelnde Transparenz der Institution aufbrechen können, kritisieren sie die institutionelle Struktur als unzureichend und veraltet (3:482-536; 10:867-877). Zudem ist die Loslösung vom „deutschen Spin“, die den EU-Korrespondenten gelingt, bei Briefings, die im Vorfeld von Gipfel- und Ministerratstreffen auf nationaler Ebene für Inlandskorrespondenten abgehalten werden, nicht so ohne weiteres möglich (6: 396-407), was zu unterschiedlichen Deutungen politischer Entschlüsse führt.156 So sind der Europäische Rat und seine Ministerräte trotz ihres politischen Gewichts die einzige Informationsquelle, deren Zugang sich aufgrund ihrer politischen Struktur in den vergangenen Jahren kaum verändert hat (vgl. bereits Klein 1985: 45ff. sowie der Hinweis auf die „nationale Versäulung der Informationsgebung“ bei Gerhards 1993: 107). Während die EU-Kommission zumindest die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für ihre Institution ausgebaut hat, ist mit der politischen Organisation des Rats ein immer noch geringes Interesse an einer institutionseigenen Pressearbeit verbunden. Aus diesem strukturellen Mangel resultiert die notwendige und damit für Brüssel charakteristische Zusammenarbeit der Korrespondenten. Dass und inwieweit sich die Bedingungen der Zusammenarbeit innerhalb des Pressekorps verändert haben, wird im Abschnitt zu „Kollegen als Informationsquelle“ aufgegriffen.
156 In der Konstellation von mangelnder Transparenz der Ratsbeschlüsse, langer Zeitspanne zwischen europäischer Abstimmung und nationaler Umsetzung sowie der unterschiedlichen Informationslage zwischen Brüsseler Korrespondenten und Hauptstadtkorrespondenten liegt die „Sündenbockrolle“ der EU begründet. Die in diesem Zusammenhang entstehenden unterschiedlichen Deutungen der politischen Prozesse und Akteure werden in Abschnitt 6.4.2 detailliert aufgeschlüsselt.
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Lobbygruppen und Interessenverbände Ein Großteil der Journalisten gibt schließlich an, dass sie auch Lobbyisten, also Unternehmen, Industrieverbände, Nichtregierungsorganisationen und andere Interessenverbände als Quellen nutzen. Die Anzahl von Lobbyisten jeglicher Interessen ist aufgrund der zunehmenden Verlagerung gesellschaftlich relevanter Entscheidungen auf die europäische Ebene sprunghaft angestiegen und spielt mittlerweile eine einflussreiche Rolle (1:529-535; 9:667-684; 21:1238-1256). Wie auf nationaler Ebene sind auch in Brüssel Lobbygruppen Teil des politischen Verhandlungssystems, deren Ziel es ist, politische Entscheidungsprozesse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Um EU-Politiker direkt oder durch mediale Öffentlichkeit von ihren Interessen zu überzeugen, arbeiten sie hochprofessionell. Ähnlich wie Journalisten konzentrieren sie sich darauf, Aufmerksamkeit zu erzeugen und komplexe Zusammenhänge in ihrem Interessensgebiet einfach und überzeugend darzustellen.157 Zudem bedienen sie sich zur Kontaktaufnahme sowie zur Distribution ihrer Kampagnen und Positionspapiere elektronischer Kommunikationstechnik, um möglichst schnell und möglichst viele Zielpersonen zu erreichen. So geben die Korrespondenten an, dass die Lobbyisten nicht nur als „Inputgeber“ für die Politik wichtig sind (9:678f.), sondern dass sie diese gar nicht ignorieren können, da sie aktiv und mit hoher Frequenz auf Journalisten zugehen (19:287f.). Die Journalisten betrachten Lobbyisten als Experten für das jeweilige Themenfeld, deren Information dank ihrer Aktivitäten leicht erhältlich ist. Die von Lobbyisten angebotenen Darstellung nehmen sie insbesondere dann gerne zur Kenntnis, wenn es sich um Informationen handelt, an die sie durch eigene Recherchen nicht oder nur schwer herankommen wären. Darüber hinaus stellen sie für die Korrespondenten insofern eine Arbeitserleichterung dar, als sie die komplizierte Materie bereits mediengerecht und leicht verständlich aufbreitet haben: „Wenn jemand zu einem Rechtssetzungsvorschlag ein gutes Papier liefert und sagt, das heißt das und in Deutschland, das und das für Arbeitsplätze, und für dieses Produkt heißt es das usw., dann ist das natürlich gut, dann werde ich das auch benutzen.“ (11:334-336)
157 In der ähnlichen Arbeitsstruktur und starken Medienorientierung der Lobbyarbeit liegt begründet, dass viele Lobbygruppen ausgebildete Journalisten beschäftigen. In der journalistischen Fachpresse wurde darauf hingewiesen, dass in Brüssel mittlerweile einige Journalisten gleichzeitig in beiden Feldern arbeiten (vgl. Mükke 2004). Was auf Seiten der Lobbyisten Teil ihrer Professionalisierung bildet, stellt aus der Sicht des Journalismus aufgrund fundamentalen Unterschieds von interessenneutraler versus interessengeleiteter Kommunikation im Berufsethos der beiden Gruppen ein normatives Problem dar.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Dass sie durch die Verwendung von Materialien der von Lobbyisten vertretenen Interessen instrumentalisiert und beeinflusst werden könnten, streiten die Journalisten mit Hinweis auf ihre journalistische Erfahrung und ihre kritische Distanz, die auf dem Wissen um die interessengeleiteten Positionen solcher Gruppierungen beruht, kategorisch ab (4:466-488; 8:648-665). So kommt die medienorientierte Arbeit von Lobbyisten den Korrespondenten durchaus entgehen. Für sie stellt sich daher weniger die Frage, ob sie sie als Informationsquelle verwenden oder nicht (obwohl hier gilt: Je höher der Zeitdruck, desto wahrscheinlicher ist ein Rückgriff ihr Material) als vielmehr, inwieweit sie die Sachverhalte und die damit verbundenen Interessen einordnen können (hier gilt: Je besser ein Journalist das jeweilige Sachgebiet kennt, desto eher kann er die Interessenlage der verschiedenen Akteure gegeneinander abwägen). Kollegen Im Hinblick auf die Eingewöhnungsphase wurde bereits deutlich, dass der enge Kontakt zu Kollegen eine wichtige Stütze zur Bewältigung des anfangs überkomplexen Berufsalltags bildet. Aber auch nach der Anfangszeit lockert sich die enge Verbindung zu anderen Journalisten nicht. Im Gegenteil, die enge Zusammenarbeit von Korrespondenten verschiedener Mitgliedsstaaten (a) ebenso wie die von Korrespondenten unterschiedlicher, im nationalen Kontext konkurrierender Medien (b) ist ein für den Korrespondentenplatz Brüssel charakteristischstes Merkmal (10:524-534; vgl. auch Baisnée 2002; Schäfer 2004). So äußern durchweg alle Befragten, dass Kollegen eine wichtige Informationsquelle darstellen. Ad a) Eine institutionalisierte Form transnationaler Zusammenarbeit findet man in solchen Büros, die personell vergleichsweise stärker und international besetzt sind wie beispielsweise die weltweit agierenden Nachrichtenagenturen Agence France Press (AFP), Associated Press (AP) und Reuters (rts). „Also in unserer Redaktion haben wir das institutionalisiert. Wir haben elektronische Wege, bei denen wir regelmäßig, zum Beispiel bei Ratssitzungen, Zitate austauschen. Wir sammeln die da. Die stehen dann für jeden zugänglich zur Verfügung. Wenn Sie sich Zusammenfassungen bei uns angucken, werden Sie sehen, dass da immer zahlreiche Leute zu Wort kommen. Also Sie werden immer den Deutschen, den Franzosen und den Briten irgendwo haben.“ (13:509-517)
Nicht nur die angesprochene technische Möglichkeit vereinfacht den Zugriff auf internationale Informationsquellen. Auch die Arbeit in einem Großraumbüro oder auf gleicher Etage ist für die Journalisten unterschiedlicher Herkunftsländern eine
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Gelegenheit des regelmäßigen Austauschs.158 Diese Form der Kooperation ermöglicht einen effizienten Zugang zu länderspezifischen Informationen und Positionen bei Themen mit europäischer Dimension. Was sonst das Ergebnis eines langfristigen Aufbaus von Kontakten ist, wird hier unter einem gemeinsamen Dach fest installiert. Trotz solcher Synergieeffekte sind eigeninitiative Zusammenschlüsse von Korrespondenten zu international besetzten Büros – zumindest unter der Beteiligung deutscher Journalisten – kaum zu finden. Obwohl die Korrespondenten unterschiedliche Medienmärkte bedienen und einige Befragte durchaus Überlegungen zu einer Bürogründung mit erweiterter internationaler Besetzung äußerten, wird das Potential einer Institutionalisierung der Zusammenarbeit nicht genutzt. Offensichtlich sind auch innerhalb gleicher Mediengattungen die jeweiligen länderspezifischen Medienprofile zu unterschiedlich, die Berichterstattung über Themen mit europäischer Reichweite zu selten oder die kulturellen Unterschiede zwischen den Korrespondenten zu groß, um eine transnationale Zusammenarbeit stärker zu institutionalisieren (zum Einfluss der Nationalität auf die Vernetzung vgl. 6.4.1). Weit häufiger findet man daher informelle Formen transnationaler Zusammenarbeit. Sie resultiert aus der Tatsache, dass sich das Pressekorps als sog. „packjournalism“ (Schudson 2003: 139) immer wieder bei denselben Veranstaltungen versammelt und dort viel Zeit miteinander verbringt. Gelegenheiten des Austauschs bieten regelmäßige Teilnahmen an Pressekonferenzen, Reisen zu Gipfeltreffen in die verschiedenen EU-Mitgliedsländer sowie das gemeinsame Abwarten von Verhandlungsergebnissen (27:246-250). Aber im Unterschied zu anderen international besetzten Korrespondentenplätzen wie Washington oder London ist hier nicht nur eine strukturelle Gelegenheit, sondern bei bestimmten EU-Themen auch eine inhaltliche Notwendigkeit gegeben. Eine Kooperation zwischen Journalisten unterschiedlicher Nationalitäten findet im Brüsseler Korrespondentenalltag vor allem dort statt, wo es um die länderspezifische Ergänzung von Informationen für die eigene Berichterstattung geht. Die Kollegen sind Experten für Themen und aktuelle Diskussionen in ihrem jeweiligen Herkunftsland und können weiterführende Kontakte zu Politikern und EU-Bediensteten ihrer Nation vermitteln. Zudem berichten sie bereitwillig über
158 Einen solchen Weg transnationaler Kooperation nach dem Konzept „integrierte Recherche, differenzierte Darstellung“ geht die WAZ-Mediengruppe, die verschiedene Zeitungsformate in verschiedenen europäischen Ländern bedient und am 15. Februar 2007 unter der Leitung von Kurt Pries ein international besetztes Büro in Brüssel eröffnet hat; vgl. Michael Hanfeld: WAZ. Brüssel ruft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2007.
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Inhalte von Veranstaltungen, an denen man selbst nicht teilnehmen konnte, sind hilfreich bei der Übersetzung von Dokumenten aus Sprachen, die man selbst nicht spricht, oder erläutern länderspezifische Interessen und Perspektiven, in die man selbst keinen Einblick hat (4:405-408; 12:135-142). Die Kooperation reicht von der wechselseitigen Vermittlung von Einschätzung und Perspektive bis hin zum Austausch von Zitaten, Bildern und O-Tönen sowie Dokumenten und Materialien. Aufgrund der vielfach parallel stattfindenden Veranstaltungen und Ereignisse sind die Journalisten geradezu darauf angewiesen, diese „arbeitsteilig“ zu besuchen (6:888) und die Ergebnisse von wichtigen Pressekonferenzen oder Sitzungen zur Vervollständigung des Bilds der politischen Geschehnisse auszutauschen (10:634658).159 Das zweite Ziel transnationaler Zusammenarbeit wurde bereits im Zusammenhang mit Treffen des Europäischen Rats und der Ministerräte angesprochen. Sie dient der externen Kontrolle und dem Hinterfragen der von landeseigenen Politikern oder ihren Vertretern in den jeweiligen Länderbriefings dargestellten Positionen. Diese Form des transnationalen Austauschs findet vor allem im Rahmen EU-politischer Großereignisse und in Bezug auf Themen mit gesamteuropäischer Reichweite statt. Ein Journalist markiert den zentralen Unterschied, demzufolge zwischen „wirklichen Großereignissen“, in denen der transnationale Kontakt zu Kollegen eine wesentliche Grundlage der Berichterstattung ist, und dem „Alltagsgeschäft, wenn es ums Detail geht“, bei dem er den Kontakt zu deutschsprachigen Kollegen präferiert (4:398-403). Ad b) Die nationale Zusammenarbeit von deutschen Kollegen im journalistischen Alltagsgeschäft wird im Verhältnis zur transnationalen Zusammenarbeit auf das Verhältnis von 90 zu 10% taxiert (12:464), ist also entgegen der Erwartung eines Korrespondenten „… nicht so stark, wie ich mir das ursprünglich mal vorgestellt hatte, als ich hier hingekommen bin“ (8:563f.). „Mein Eindruck ist, dass die Kollegen ähnlich wie die Abgeordneten doch immer noch sehr national ticken. Die Journalisten bewegen sich in ihren nationalen Gruppen, und die Abgeordneten bewegen sich auch in ihren nationalen Gruppen. So richtig vermischt ist es noch nicht.“ (2:440-444)
159 Die Entwicklung eines transnationalen, europäischen Journalismus im Sinne eines ähnlichen Berufshandelns oder einer gemeinsamen europäischen Perspektive kann man daraus nicht ableiten. Hier ist der Filter des jeweiligen nationalen Bezugs entscheidend. Das heißt, selbst wenn der Journalist das vollständige Positionsbild mit den jeweiligen nationalen Perspektiven kennt, heißt das nicht, dass sie in die Nachrichtenberichterstattung einfließen. Geben die unterschiedlichen Positionen nicht Anlass zur Polarisierung und zur Darstellung von Konflikten zwischen Mitgliedsstaaten, sind diese nur mittelbar relevant (vgl. 6.2.1 und 6.4.2.).
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Innerhalb des deutschen Pressekorps profitieren die Journalisten von der Expertise berufserfahrener oder spezialisierter Kollegen hinsichtlich einzelner Sachthemen, zum Beispiel in den Details der Gesetzgebung oder den zahlreichen Änderungsanträgen, die zuweilen auch manchen EU-erfahrenen Journalisten den Überblick verlieren lassen. Der enge und dauerhafte Austausch unter deutschen Journalisten funktioniert zudem als Frühwarnsystem und Sensorium nicht nur für das, was auf europäischer Ebene wichtig werden könnte, sondern speziell im Hinblick auf die Frage, was Deutschland betreffen und innerhalb der deutschen Öffentlichkeit Resonanz erzeugen könnte. Schließlich wird auf besonders enge Kontakte zu Kollegen aus dem gleichen Mediensegment verwiesen. „Man kennt die Sorgen des anderen und hilft sich dann auch“ berichtet der Korrespondent einer Nachrichtenagentur, wenn es beispielsweise um die Beschaffung von O-Tönen geht (14:289-295). So ist innerhalb des deutschen Pressekorps selbst unter Journalisten, deren Medien in Konkurrenz zueinander stehen, eine Kollegialität vorhanden, die einen Austausch von O-Tönen, Zitaten oder anderen Informationsmaterialien ermöglicht. Nicht aufgrund eines konkurrenzfreien Miteinanders, sondern aus unmittelbarer Notwendigkeit sind selbst die mit mehreren Personen besetzen Büros zur Bewältigung der Informationsflut auf eine kollegiale Zusammenarbeit angewiesen. Weil in Brüssel journalistisches Arbeiten ohne die Hilfe anderer nahezu unmöglich ist, ist die Kooperation in hohem Maße sozial reguliert. Journalisten, die sich nicht an die unausgesprochenen Regeln des Gebens und Nehmens halten, können zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr mit der Unterstützung ihrer Kollegen rechnen (10:648-653). Wenngleich der Anteil derjenigen Journalisten deutlich überwiegt, die einen intensiven Austausch mit Kollegen beschreiben, machen jedoch insbesondere Vertreter der älteren Journalistengeneration auf schleichende Veränderungen im Pressekorps und den damit verbundenen Einfluss auf die nationale und transnationale Zusammenarbeit aufmerksam. Während zur Zeit des Korruptionsskandals im Jahre 1999 die Zusammenarbeit von gemeinsamer Recherche, gemeinsamem Informationstausch bis hin zu Absprachen über gemeinsame Veröffentlichungszeitpunkte reichte (6:450-454; 24:533-538), führen heute Wettbewerbsdruck sowie die Jagd nach sog. Scoops (engl. für Knüller; Sensationsnachricht) und exklusiven Meldungen zu einer geringeren Zusammenarbeit der Kollegen (11:70-84). „Es ist leider eine Entwicklung im Gange, die ich nicht so toll finde: (…) Das hat was mit einer Entwicklung der Medien in allen unseren Ländern zu tun. Der Konkurrenzkampf wird unglaublich viel härter. Die Verrücktheit der Medien wird immer größer,
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die Sprunghaftigkeit, die verzweifelte Suche nach Originalität, nach Exklusivität. (…) Dadurch belauern sich in den jeweiligen Nationen die Kollegen untereinander viel stärker.“ (23:346-354)
Auf der Basis eines zweckdienlichen Informations- und Materialaustauschs ist zwar immer noch eine enge nationale, transnationale und transmediale Zusammenarbeit von Journalisten vorhanden. Mittlerweile erfolgt die Informationsweitergabe aber nicht mehr im Rahmen aktueller Berichterstattungsanlässe, sondern erst dann, wenn Informationen bereits ihren Aktualitätswert verloren haben und im eigenen Medium veröffentlicht wurden (10:446-454). Eine weitere Entwicklung, die vor allem von langjährigen Brüssel-Korrespondenten beobachtet wird, geht mit der wachsenden Zahl akkreditierter Journalisten einher. Im Unterschied zur nicht erfüllten Erwartung einer starken internationalen Mischung bzw. der Einschätzung einer noch nicht so ausgeprägten Mischung innerhalb des Pressekorps, die von jungen Korrespondenten geäußert wird, verweisen sie sogar auf einen gegenläufigen Trend: „Wir waren internationaler, als ich hier anfing“ (23:347). Diese Meinung resultiert aus der Feststellung, dass trotz der insgesamt zunehmenden Anzahl von Nationalitäten innerhalb des Pressekorps sich bei Pressekonferenzen und politischen Großveranstaltungen in jüngster Zeit immer häufiger nationale Grüppchen oder länderspezifische Gruppenkonstellationen bilden160: „Bei Kollegen gibt es das Gesetz der großen Zahl. Wenn es zu viele sind, dann bilden sich Kleingruppen, die sich immer wieder treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle sechs, sieben Österreicher täglich in der Pressekonferenz zusammenstehen, ist sehr groß.“ (6:856-859)
Demnach unterliegt der enge Kontakt und Austausch unter Kollegen, die bislang in Brüssel eine wichtige Informationsquelle darstellen, mit anwachsendem Pressekorps und zunehmendem Wettbewerb einem Wandel, der nicht unerheblich für die journalistische Arbeit und die Kontrolle politischer Vorgänge auf europäischer Ebene ist. Wachsender Wettbewerbs- und Zeitdruck verringert die Wahr-
160 Ein Beispiel für eine Länderkoalition sind die Journalisten aus den neuen Mitgliedsstaaten. Insbesondere während der Beitrittsverhandlungen waren sie für die restlichen Korrespondenten klar als Gruppe erkennbar, die gemeinsame Interessen verfolgte und eng zusammenarbeitete, vgl. (Zugriff: 17.03.2010); vgl. auch Lecheler (2006) und Meyer (2002b: 128f.).
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scheinlichkeit gemeinsamer investigativer und längerfristig koordinierter Recherchen. Ein geringerer transnationaler Austausch reduziert zudem den Horizont der Korrespondenten auf eine nationale Perspektive. So werden sie ähnlich den Redakteuren, die von der nationalen Öffentlichkeit geprägt sind, trotz eines internationalen Umfelds immer seltener mit anderen Länderperspektiven konfrontiert. Bei rückläufiger nationaler Zusammenarbeit entfallen möglicherweise wichtige Einschätzungen von berufs- oder facherfahrenen Kollegen, die entgegen dem Berufsethos unabhängiger Journalisten auf diese Weise zwar Einfluss nehmen können, unter Umständen aber auch ein nützliches Korrektiv in komplexen Problemlagen darstellen. Formen der Recherche und des Informationszugangs Im Großen und Ganzen schätzen die Korrespondenten die Vielfalt der Informationsquellen und ihre Verfügbarkeit in Brüssel als sehr positiv ein. Für eine umfassende Recherche sind neben Informationen aus schriftlichen Quellen vor allem Auskünfte einzelner Personen, also von EU-Politikern, ihren Pressesprechern, Parlamentsmitarbeitern und Kommissionsbeamten sowie den zahlreichen Lobbyisten und Vertretern sämtlicher in Brüssel ansässiger intermediärer Organisationen von Bedeutung. Um gemäß dem Recherchepostulat „möglichst nah an die handelnden Personen heranzukommen“ (7:441), ist es grundsätzlich hilfreich, dass Journalisten ihre Gesprächspartner persönlich kennen. Das Knüpfen persönlicher Kontakte, seien sie formeller Art, um relevante Gesprächspartner zu erreichen, oder informeller Art, um von ihnen vertrauliche oder vorzeitige Informationen zu erhalten, ist daher die entscheidende Grundlage der Recherche. Je weitläufiger das persönliche Kontaktnetzwerk eines Journalisten ist, desto schneller und effektiver verläuft seine Recherche, da er ohne großen Zeitaufwand von seinem Schreibtisch aus per Telefon viele Informationen und im Zweifel sogar relevante Zitate oder O-Töne von politischen Entscheidungsträgern einholen kann. Sind solche Kontakte vorhanden, begünstigt die lokale Konzentration aller am politischen Vermittlungsprozess beteiligten Akteure im Europa-Viertel sowie der zahlreichen, dort angesiedelten Cafés die Möglichkeit, dass sich ihre Wege immer wieder kreuzen und Informationen gleichsam im Vorbeigehen ausgetauscht werden können. Der wichtigste formalisierte Rahmen des persönlichen Aufeinandertreffens von Korrespondenten, Pressesprechern und Politikern sind offizielle Pressekonferenzen wie das Mittagsbriefing der EU-Kommission. Auch die anderen EU-Institutionen organisieren mittlerweile regelmäßig Pressekonferenzen. Inwieweit diese besucht werden, hängt von ihrer Bedeutung für die aktuelle Recherche sowie vom Wissen und der Berufserfahrung des Journalisten ab. Aufgrund des hohen Stellen-
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werts persönlicher Kontakte gehört für viele Korrespondenten der Besuch der für Brüssel charakteristischen Abendveranstaltungen zum Berufsalltag. Empfänge, Vortragsveranstaltungen und jegliche Art von Festivitäten sind formale Anlässe, bei denen Journalisten auf politische Entscheidungsträger treffen. Der informelle Ausklang am Büffet ermöglicht persönliche Gespräche sowie das Knüpfen von Kontakten, die bei späteren Recherchen reaktiviert werden können (vgl. dazu Klein (1985: 42,44), der auf das gemeinsame Essen und Trinken der „Eurokraten“ und Korrespondenten verweist). Als wichtigste Form der informellen persönlichen Begegnung und der Informationsweitergabe zwischen Politikern und Korrespondenten haben sich Hintergrundgespräche etabliert. Diese finden entweder individuell arrangiert zwischen politischem Akteur und Journalist bei einem Arbeitsfrühstück oder gemeinsamen Mittagessen statt oder als Treffen in sog. „Hintergrundzirkeln“, bei denen neben dem Politiker zumeist mehrere ausgewählte Journalisten anwesend sind. In diesen von Politikern oder etablierten Journalisten initiierten Hintergrundkreisen informieren sich letztere in kleiner Runde über aktuelle Entwicklungen und Positionen in laufenden Entscheidungsverfahren. Die dort verhandelten Inhalte dienen ihnen in der Regel als Hintergrundinformation und müssen entsprechend der jeweils vereinbarten Vertraulichkeitsstufe behandelt werden. Ähnlich wie auf Bundesebene (vgl. Hoffmann, 2003: 264) hat sich ein System etabliert, demzufolge Informationen, die „unter eins“ weitergeben werden, unter vollständiger Nennung der Quelle frei veröffentlicht werden dürfen. Informationen „unter zwei“ können zwar veröffentlicht werden, aber lediglich unter unspezifisch anonymisierter Umschreibung der Quelle wie beispielsweise „Aus EU-Kreisen, Diplomatenkreisen, Regierungskreisen etc. ist zu hören, dass …“. Informationen, die „unter drei“ weitergegeben werden, dienen ausschließlich der Hintergrundinformation für Journalisten und dürfen überhaupt nicht veröffentlicht werden.161 Die strikte Einhaltung dieser Spielregeln ist für Korrespondenten wichtig, da sie anderenfalls damit rechnen müssen, von informellen Informationsquellen ausgeschlossen zu werden. Ein Problem dieser weit verbreiteten Praxis der Weitergabe von halböffentlichen Informationen bei gleichzeitiger Anonymisierung der Quellen besteht darin,
161 In gleicher Weise funktionieren die Zitationsregeln für Bekanntgaben durch die Pressesprecher der Europäischen Kommission, die zwischen „on the record: this information can be attributed to the spokesperson by name. Everything is on-the-record unless otherwise specified; off the record: this information should not be linked to the Directorate General for Communication or to its individual members in any way. It refers to sources to be agreed with the spokespersons; background: this information cannot be linked or attributed to the Commission” unterscheiden, vgl. (Zugriff: 17.03.2010).
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dass damit zu den ohnehin schon undurchsichtigen Verantwortlichkeiten des politischen Mehrebenensystems eine weitere Verschleierung von Zuständigkeiten und den damit verbundenen Urhebern von Aussagen stattfindet. Die Journalisten laufen Gefahr, so die Einschätzung aus den eigenen Reihen, von konkurrierenden politischen Akteuren instrumentalisiert zu werden, ohne dass diese in der Berichterstattung für ihre Position zur Rechenschaft gezogen werden können. Zudem ist es ihnen durch die vorschnelle Veröffentlichung bestimmter Positionen möglich, wiederum Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen: „Aus dieser Erfahrung, von interessierter Stelle tot gemacht werden zu können, führt das dann – das ist auch in den letzten Jahren entstanden – zum verstärkten Spinnen, also dass die Pressesprecher sagen: Wenn ich einen Journalisten, nicht zuletzt der Financial Times, die Planung meines Kommissars exklusiv rechtzeitig gebe, dann garantiert der mir, er bringt es auf Seite 1. Und nach der Devise »wer zuerst etwas gibt, gibt auch den Spin«, kann ich mit meinem Papier auch die mir genehme Botschaft geben.“ (6:556-563)
Nicht allen Journalisten gelingt es ohne weiteres, Kontakte zu Entscheidungsträgern herzustellen, geschweige denn durch persönliche Bekanntschaft den umgekehrten Weg zu etablieren, so dass diese mit aktuellen Informationen auf sie zugehen. Inwieweit Politiker oder andere Akteure an die Journalisten herantreten oder auf Informations- oder Interviewanfragen reagieren, hängt zumeist vom persönlichen Geschick, der Umtriebigkeit und der Berufserfahrung des jeweiligen Journalisten sowie besonders vom Ansehen des Mediums ab, für das er arbeitet. So wie der Financial Times die Rolle des „Platzhirschen“ unter den Brüsseler Medien zugeschrieben wird, haben auch die Korrespondenten von überregionalen Qualitätszeitungen innerhalb des deutschen Pressekorps einen privilegierten Zugang zu politischen Akteuren. Wenngleich die betroffenen Korrespondenten selbst diesen Status zurückweisen, berichten sie über ihre Regionalzeitungen bedienenden Kollegen, dass es für diese vergleichsweise schwierig sei, einen zeitnahen und persönlichen Zugang zu wichtigen Akteuren zu bekommen. Obwohl Regionalzeitungen insgesamt eine größere Leserschaft haben, werden sie zu wenig berücksichtigt, so die einhellige Meinung (vgl. 21:682-688; 29:165176).162
162 Engesser (2007) fand in seiner ländervergleichenden Studie zu Auslandskorrespondenten in Berlin und Tokio ebenfalls heraus, dass die sozialen Fähigkeiten des Journalisten, stärker aber noch der Bekanntheitsgrad und die Reputation seines Mediums den Zugang zu Informationsquellen begünstigen.
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Die Weitläufigkeit und Dichte des Kontaktnetzwerks ist Grundlage für Recherchen außerhalb von Pressekonferenzen und politischen Veranstaltungen. Früher wie heute ist das Telefon das wichtigste Recherchehilfsmittel der Journalisten. Recherchegespräche werden in erster Linie geführt, um für das ausgewählte Thema relevante Gesprächspartner zu finden und diese zu befragen. Darüber hinaus zielen sie darauf, die Brisanz von Themen und Meinungen zu testen und nicht Gefahr zu laufen, vorzeitig unbelegte Einschätzungen abzugeben. „Keine größere Kommentierung ohne vorbereitende Sparring-Partner-Gespräche“ (1:464-486) lautet die Devise eines Redakteurs, der insbesondere bei europäischen Themen, die er kommentieren will, zunächst eine Reihe von Recherchegesprächen mit Politikern, Wissenschaftlern oder anderen Experten führt. Wie grundlegend solche Gespräche sind, gibt ein Korrespondent an, der betont, dass er trotz langjähriger Berufserfahrung immer wieder solche Telefonate führt. Dennoch hat der Einfluss moderner Kommunikationstechnik die Interaktion zwischen Journalisten und politischen Akteuren verändert. Gespräche per Mobiltelefon und Informationen per sms-Kurznachrichten sind zu einer gängigen Form des persönlichen Kontakts geworden. Da er ortsunabhängig und jederzeit möglich ist, hat er den Informationsaustausch zwischen den Akteuren um ein Vielfaches erhöht und beschleunigt. Einen ähnlich starken Einfluss auf die Kontakt- und Recherchemöglichkeiten der Journalisten hat die Entwicklung des Internets als Informationsquelle und Kommunikationsmittel. Der überwiegende Anteil von Bürorecherchen wird mit dem Internet bestritten. Bis Ende der 1980er Jahre waren die Korrespondenten auf das tägliche Pressebriefing und die Hinweise von Kollegen angewiesen, um zu erfahren, wo in Brüssel welche Veranstaltungen stattfinden, unter welchen Telefonnummern welche Kontaktpersonen zu erreichen und an welchen Orten die jeweils relevanten Dokumente und politischen Hintergrundinformationen zu erhalten sind (24:1161-1177). Heutzutage ist die mehrstündige tägliche Onlinerecherche von Terminen, Informationsmaterialien sowie Kontaktadressen und -telefonnummern selbstverständlich (24:602ff.). Ein wichtiger Vorteil des Internets ist, dass die Journalisten über elektronische Datenbanken auf den Websites der EU-Institutionen die mitunter langwierigen Entwicklungsgeschichten von Richtlinien und Entscheidungsprozessen zurückverfolgen können. Grundsätzlich kritisieren sie zwar, dass die Recherchen aufgrund unübersichtlicher Internetseiten der Institutionen sehr kompliziert und zeitaufwendig sind. Zugleich aber räumen sie ein, dass sich die Bereitstellung der Dokumente in den vergangenen Jahren sehr beschleunigt hat und mittlerweile alle offiziellen EU-Dokumente zugänglich sind (10:877-891). Ebenso wie ausgiebige Internetrecherchen in Suchmaschinen und Datenbanken gehört das „morgendliche Vernichten von 100 bis 200 Emails“ (23:270-276) zu den täglichen Arbeitsroutinen der Journalisten. Der mittlerweile hohe Zeitaufwand, den
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Journalisten damit verbringen, resultiert aus einer eigeninitiierten Vielzahl von Mitgliedschaften in als wichtig erachteten Verteilern und Mailinglisten und zunehmend daraus, dass immer mehr Akteure unaufgefordert Pressemitteilungen, Newsletters und andere Informationen per Email verschicken. Die Bewertung des Internets als Recherchehilfsmittel ist unterschiedlich. Während eine Reihe von Korrespondenten strikt betont, dass sie im Internet nur offizielle Dokumente recherchieren oder Zeitungsartikel lesen (13:937-942), ist für andere der Rückgriff auf EU-spezifische Informationsportale wie European Observer163, E.U. Politics today164, EU-Reporter165 oder EurActiv166 unproblematisch. Allerdings stellen sie klar, dass sie diese Informationsangebote nicht ungeprüft nutzen, sondern allein zur Kenntnisnahme oder zu weiterführenden Recherchen heranziehen (16:508-527).167 Ähnlich werden die gefragt oder ungefragt per Email oder Fax eingehenden Pressemitteilungen und Newsletters beurteilt. Manchen Angaben zufolge fließen sie durchaus in die Berichterstattung ein; andere behaupten, dass sie solche Materialien lediglich als Hintergrundinformation verwenden (13:418429; zu den Bedingungen ihrer Nutzung als Informationsquellen vgl. 6.2.4). Für die Redakteure in den Heimatredaktionen gestaltet sich die Recherche von EU-Themen trotz vorhandener Recherchewege wie Telefon und Internet schwieriger. Sowohl sie selbst, als auch einige Korrespondenten thematisieren die Hürden, die in manchen Fällen sogar zur Ablehnung der Bearbeitung von EU-Themen führen (9:215ff.). Zentrale Zugangsschwierigkeiten liegen darin begründet, dass sie häufig nicht wissen, wo sie die für sie relevanten Informationen finden und wen sie ansprechen können (19:325-333). Selbst wenn sie relevanten Ansprechpartner im Internet ermitteln konnten, kennen sie die EU-Akteure im Unterschied zu den Korrespondenten nicht persönlich. Schließlich verhindern in einigen Fällen sprachliche Hemmnisse internationale Anfragen, die technisch ohne weiteres möglich wären. Insgesamt zeigen die Aussagen zu den in Brüssel relevanten Informationsquellen und ihrer Nutzung durch die Korrespondenten eine Professionalisierung auf beiden Seiten, die in hohem Maße mit der Weiterentwicklung der technischen Kommunikations- und Informationsverbreitungsmöglichkeiten verbunden ist. Auf Seiten des politischen Systems ist im Verlauf des Integrationsprozesses die
163 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 164 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 165 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 166 Vgl. (Zugriff: 17.03.2010). 167 In der journalistischen Fachpresse wurde ein vermeintlich leichtfertiger Umgang der Brüsseler Korrespondenten mit den dortigen Informationsquellen sowie zum Teil zweifelhaften EU-Internetportalen angemahnt; vgl. Mükke (2004) und Bastin (2004).
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Anzahl potenziell nutzbarer Quellen erheblich größer und vielfältiger geworden. Zudem hat sich die Bereitstellung von relevanten Primärquellen wie auch die Pressearbeit im Sinne einer medienorientierten Aufbereitung und Verbreitung von EU-Informationen verbessert. Die Vervielfältigung der bereitgestellten Informationsmenge und die Beschleunigung des Informationsumsatzes sind aktuelle Entwicklungen im Journalismus, die auch die Arbeitsbedingungen von Journalisten an anderen Orten kennzeichnen (für Berlin vgl. Kramp/ Weichert 2008: 55). Unter den Bedingungen einer solchen Informationsflut ist in Brüssel ebenso wie in anderen Regierungszentren, wo Journalisten die Arbeit politischer Institutionen beobachten, eine enge und auf persönlichem Kontakt beruhende Zusammenarbeit mit politische Entscheidungsträgern und politischen Sprechern zentrale Grundlage der Recherche (für Berlin vgl. Kramp/Weichert 2008; Feuß, 2008; Hoffmann 2003; für Bonn vgl. Pfetsch, 2003: 178ff.; für Washington und London vgl. Pfetsch, 1999: 26f.; für Tokio und Berlin vgl. Engesser, 2007: 4160). Die in den Interviews vollzogene rhetorische Abgrenzung gegenüber ihren Informationsquellen zeigt eine professionelle Haltung der Journalisten. Im Rahmen des beruflichen Handelns ist zwar die Herstellung einer unmittelbaren Nähe zu den politischen Akteuren zu Recherchezwecken notwendig. Zugleich aber fordert ihr berufliches Selbstverständnis eine kritische Distanz zur Politik (vgl. auch 6.3.1). Rückschlüsse, inwieweit sie unter den Bedingungen von Informationsvielfalt und medialem Wettbewerb die Qualität ihrer Informationsquellen tatsächlich überprüfen (können und wollen), können daraus nicht abgeleitet werden. Dies ist abhängig von ihrem professionellen Anspruch im Berufsalltag sowie ihrer Berufserfahrung und ihrem Wissen im jeweiligen Themenfeld.
6.2.4 Zwischenbilanz: Berufsroutinen Fasst man die Befunde der Leitfadeninterviews zur Charakterisierung typischer Berufsroutinen zusammen, geht es im Arbeitsalltag der Journalisten vor allem um Themenwahl und Themenkoordination sowie um Recherche und den Zugang zu Informationsquellen. Eine Professionalisierung im Sinne der Institutionalisierung von Handlungsstrukturen (Routinisierung / Expertisierung) unterstellt, dass die Korrespondenten EU-spezifische journalistische Handlungsroutinen ausbilden und neben der Spezialisierung ihres theoretischen Wissens auch praktische Strategien der Arbeitsstandardisierung und des Zeitgewinns verfolgen. Eine Professionalisierung geht ferner davon aus, dass Akteure eine solche berufsspezifische Handlungslogik nicht nur ausbilden, sondern ihren Zuständigkeitsbereich gegenüber Dritten abgrenzen (Inszenierung). Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit die
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in den Medienorganisationen institutionalisierte EU-spezifische Arbeitsteilung das berufliche Handeln der Akteure beeinflusst. Die Interviewaussagen belegen, was nicht weiter überrascht, dass die EU-spezifische Expertise der Journalisten maßgeblich von ihrer durch die Arbeitsteilung festgelegten jeweiligen Funktion bestimmt wird. In den meisten Medien ist der Korrespondentenplatz Brüssel dem außenpolitischen Ressort zugeordnet, was unter den Korrespondenten heftig umstritten ist, da sie EU-Berichterstattung nicht mehr ausschließlich als außenpolitische, sondern auch als innenpolitische Berichterstattung begreifen. Dennoch geht mit der institutionalisierten Arbeitsteilung eine klare Arbeitszuweisung einher, derzufolge sie als Auslandskorrespondenten alle in Brüssel und Straßburg stattfindenden EU-Ereignisse nachrichtentechnisch abdecken müssen. Demnach ist der jeweilige Ortsbezug des politischen Berichterstattungsanlasses dafür entscheidend, ob entweder ein Korrespondent in Brüssel, in Berlin, in einer anderen europäischen Hauptstadt oder ein Redakteur für dessen Bearbeitung zuständig ist. Findet ein EU-Thema auf nationaler Ebene statt, was zunehmend häufiger der Fall ist, wird es zu einem innenpolitischen Ereignis, über das Redakteure und innenpolitische Korrespondenten berichten. Problematisch ist dies insofern als sie in der Regel vergleichsweise wenig über Entstehungsgeschichte und europäische Dimension des Themas wissen. Dieses Defizit wird nicht kompensiert, da innerhalb der Zentralen die Beiträge der jeweiligen Berichterstatter zwar koordiniert werden, aber eine darüber hinausgehende Zusammenarbeit oder Rücksprache zwischen Korrespondenten und Redakteuren nicht stattfindet. So sind zwar immer mehr Journalisten für EU-Berichterstattung zuständig, aber infolge einer institutionalisierten Arbeitsteilung geht mit der dauerhaften Bearbeitung von EU-Themen lediglich eine Expertisierung der Korrespondenten einher, nicht aber die der Journalisten auf nationaler Ebene. Nur Korrespondenten in größeren Büros haben die Möglichkeit, sich darüber hinaus themenabhängig weiter zu spezialisieren. Allerdings kann eine Spezialisierung nur solange aufrechterhalten werden, wie jeder Kollege potenziell für den anderen einspringen kann. So bleiben auch EUKorrespondenten trotz EU-spezifischer Expertise, die sie im Laufe der Berufstätigkeit entwickeln, aufgrund der inhaltlichen Vielfalt und geforderten Flexibilität Themengeneralisten. Wenngleich der Kontakt zwischen Redaktion und Korrespondentenbüro aufgrund technischer Kommunikationsmöglichkeiten und gewachsener Bedeutung der EU-Büros in den vergangenen Jahren enger geworden ist, sind für die Korrespondenten damit sowohl Autonomiegewinne als auch -verluste verbunden. Es hängt von ihrem Medium ab, inwieweit sie Vorschlags- und Mitspracherecht bei der Auswahl und Veröffentlichung von EU-Themen haben und inwieweit sie sich bei EUThemen auch auf nationaler Ebene gegenüber den Heimatredaktionen als zustän-
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dig definieren können. Mit dem engeren Kontakt ist so einerseits eine größere Autonomie der Korrespondenten verbunden, wenn sie es schaffen, eigene Themen durchzusetzen. Andererseits werden ihre Entscheidungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt, seitdem die Redaktionen die Berichterstattung ihrer Korrespondenten durch Agenturmeldungen und andere Medien stärker gegenkontrollieren. Das jeweilige Verhältnis zur Heimatredaktion bestimmt somit die Grenze einer Inszenierung der Korrespondenten. Prozesse der Expertisierung, die aus der Routinisierung beruflicher Handlungen folgen, ebenso wie der Inszenierung gegenüber dem politischen System zeigen sich in der Handlungslogik von EU-Journalisten bei Themenwahl und Recherche. Obwohl für den überwiegenden Teil tagesaktuell berichterstattender Journalisten die politische Agenda üblicherweise die Themen der Nachrichtenagenda setzt, wählen sie unter der Bedingung der Informations- und Ereignisflut Themen zunehmend nach journalistischen Selektionskriterien. Aufgrund der gestiegen Nachrichtenwertigkeit von EU-Themen und des erhöhten Aktualitäts- und Konkurrenzdrucks durch andere Medien orientieren sie sich zunehmend an diesen und selektieren Themen nach gängigen Nachrichtenfaktoren. So sind trotz des gestiegenen Informationsvolumens eine ähnliche Themenwahl und die Entwicklung von Themenkarrieren in den Medien immer wahrscheinlicher. Neben der Themenwahl gehört die Recherche zu den Kernmerkmalen des journalistischen Berufshandelns. In Brüssel wird die Recherche von einem direkten Zugang zu Informationsquellen und einem engen Verhältnis zu Kollegen bestimmt. Mit der sukzessiven Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union hat sich die Zahl der auf die politischen Prozesse einwirkenden Akteure erheblich erhöht. Sie alle stellen relevante Informationsquellen dar. Dabei ist das professionelle Verhältnis durch das Streben der Korrespondenten nach frühzeitiger Information und das Streben der politischen Akteure nach medialer Publizität gekennzeichnet, was ihren jeweils systemeigenen Handlungsorientierungen entspricht. Für Journalisten ist daher der Auf- und sukzessive Ausbau eines möglichst großen Netzwerks persönlicher Kontakte, die nach einem ersten, persönlichen Kennenlernen auf dem kurzen, telefonischen Zugangsweg im Recherchealltag immer wieder aufgegriffen werden können, der Schlüssel einer effektiven Recherche. Je länger ein Korrespondent in Brüssel arbeitet und über je mehr informelle Kontakte er verfügt, desto schneller kann er recherchieren. So ist er nicht mehr primär auf formalisierte Pressekontakte angewiesen, sondern kann mittels Telefonrecherchen individuell und umgehend Informationen einholen. Ebenso hängt es von der jeweiligen Berufserfahrung und den fachlichen Kenntnissen über den inhaltlichen Gegenstand ab, inwieweit Journalisten bei ihrer Recherche auf Pressemitteilungen der EU-Institutionen, Lobbygruppen oder anderer
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Akteure als Informationsquellen zurückgreifen. Obgleich die Korrespondenten verstärkt zwischen dem, was für sie als politische Information hilfreich ist, und dem, was sie als öffentlichkeitsorientierte, aber manipulierende und beschönigende PR-Maßnahmen empfinden, unterscheiden, gilt der Zusammenhang: Je weniger ein Journalist mit einem Thema vertraut ist, desto eher werden offizielle Verlautbarungen in seine Berichterstattung einfließen. Hierin liegt nicht nur ein zentraler Unterschied zwischen Berufsanfängern und Berufserfahrenen, sondern auch zwischen Korrespondenten und Redakteuren, die EU-Themen (noch) vergleichsweise selten bearbeiten. Unabhängig von der beruflichen Expertise des einzelnen Journalisten kann für die Verwendung von offiziellem Pressematerial auch entscheidend sein, wie viel Raum er hat, die Positionen verschiedener Interessenlager darzustellen und wie viel Zeit er hat, diese Positionen zu recherchieren und in einen Kontext zu stellen. So haben die Korrespondenten durch die Zunahme an alternativen Informationsquellen und ihrer kritischeren Haltung gegenüber den politischen Institutionen an Autonomie gewonnen. Zugleich birgt die enge Vernetzung unter den Bedingungen eines verschärften medialen Wettbewerbs auch die Gefahr eines Autonomieverlusts. Ein für Brüssel immer schon charakteristisches Kennzeichen ist die enge Beziehung unter Kollegen, die durch eine enge nationale und transnationale Zusammenarbeit im beruflichen Alltag geprägt ist. Diese resultiert aus der Notwendigkeit, Informationsdefizite bei intransparenten politischen Vorgängen zu kompensieren, die Ereignisvielfalt zu bewältigen und länderspezifisches KnowHow einzuholen. Seit einigen Jahren zeichnen sich jedoch Veränderungen ab, die möglicherweise Folgen für die Berichterstattung haben. Journalisten anderer Nationalitäten dienen zwar anlassbezogen wie bei Gipfeltreffen immer noch als wichtige Informationsquellen. Aber mit wachsender Größe des gesamten Pressekorps sowie steigender Anzahl von Kollegen aus dem eigenen Land nimmt der transnationale Meinungs- und Informationsaustausch jenseits unmittelbarer beruflicher Verwertbarkeit ab. Stattdessen scheint sich der bislang für den internationalen Korrespondentenplatz typische transnationale und transmediale Austausch zugunsten eines primär nach Nationalitäten und darin weiter nach Mediensparten strukturierten Austauschs zu segmentieren. Da im nationalen Meinungsaustausch die europäische Dimension laufender Diskussionen zwangsläufig ausgespart bzw. eingeschränkt ist, ist anzunehmen, dass die Veränderung des professionellen Bezugsrahmens Auswirkungen auf die EU-spezifische Expertise sowie auf die Perspektive der Berichterstattung hat. Nichtsdestotrotz ist die Nationalisierung der Kontakte insoweit Teil der Professionalisierung, als aufgrund der engen Orientierung an Heimatredaktion und nationaler Medienöffentlichkeit Kontakte zu Kollegen des gleichen kulturellen Kontextes bis hin zur gleichen
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Mediensparte berufliche Wissens- und Effizienzgewinne erbringen. Innerhalb des nationalen Pressekorps findet die berufliche Zusammenarbeit lediglich dort ihre Grenze, wo es um bislang unveröffentlichte Information geht. Insgesamt zeigt die Beschreibung der Berufroutinen von EU-Korrespondenten, dass sich diese zwar verändert haben, aber in keiner Weise ausschließlich für EUKorrespondenten charakteristisch sind. Wie alle Journalisten orientieren sie sich bei ihrer Themenwahl an der medialen Eigenlogik. Ähnlich wie bei anderen Hauptstadtkorrespondenten sind informelle Kontakte die Grundvoraussetzung der Recherche, wobei sie gleichzeitig eine distanzierte Haltung gegenüber ihren Informationsquellen inszenieren. Das bislang einzige, den Korrespondentenplatz Brüssel in spezifischer Weise kennzeichnende Merkmal einer engen Zusammenarbeit seiner Journalisten ist rückläufig. Somit ist aus dem Auslandsposten Brüssel ein schnelllebiger und kompetitiver Korrespondentenplatz geworden, der ähnlich wie der Hauptstadtkorrespondentenplatz Berlin nach den Regeln des journalistischen Wettbewerbs und der Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit funktioniert.
6.3 Berufliche Leistung Die berufliche Leistung bezeichnet das Produkt beruflichen Handelns ebenso wie das Verhältnis, das die Akteure auf der Grundlage ihrer berufsrollenspezifischen Einstellung dazu entwickeln. Als Produkt unterliegt sie einer Bewertung durch Klienten und Abnehmer; als berufsspezifische Einstellung stellt sie die interne Leistungsdefinition der Berufsgruppe dar. Als interne Bewertung basiert sie im Wesentlichen auf dem beruflichen Selbstverständnis der Journalisten, das unmittelbar an die Frage gekoppelt ist, welche Vorstellung sie vom Wissen und Interesse ihrer Rezipienten haben. Sie bestimmt als normative Grundlage die gewünschten Berufsziele und die Wege, um diese zu erreichen. Daher sind die Beobachtung und Bewertung der Entwicklung ihrer Arbeitssituation sowie die Definition eigener Qualitätskriterien Hinweise für die Ausprägung ihres berufs-spezifischen Leistungsbewusstseins. Die Professionalisierung bzw. Europäisierung der Journalisten im Rahmen der beruflichen Leistung bezieht sich auf die Ausbildung spezifischer Leistungskriterien, die ihren Zuständigkeitsbereich kennzeichnen, sowie auf ihre Darstellung gegenüber unterschiedlichen beruflichen Bezugsgruppen (Inszenierung). Welches berufliche Selbstverständnis EU-Journalisten tatsächlich teilen (6.3.1), wie sie den ihnen eingeräumten Stellwert ihrer Arbeit beurteilen (6.3.2), welche erwünschten Handlungsziele und Qualitätsstandards sie für ihre Arbeit definieren (6.3.3) und inwieweit sich diese Leistungskriterien im Sinne einer Professionalisierung verändert haben (6.3.4), wird im Folgenden dargestellt.
6.3 Berufliche Leistung
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6.3.1 Berufliches Selbstverständnis Das journalistische Selbstverständnis168 gibt darüber Aufschluss, in welcher gesellschaftlichen Funktion sich die Journalisten in einem abstrakt-normativen Sinne sehen, welche Ziele sie im Arbeitsprozess erreichen wollen (unabhängig davon, ob sie es tatsächlich können) und welche journalistischen Mittel sie dafür als legitim erachten. Damit ist in einem konkret-materiellen Sinne die Beurteilung ihres beruflichen Produkts in Gestalt der EU-Berichterstattung verbunden, wie sie in den beiden folgenden Abschnitten dargestellt wird. Beide Leistungsdefinitionen resultieren aus dem zugrunde liegenden Publikumsbild. Auch wenn die unmittelbaren Abnehmer des journalistischen Produkts die Redaktionen sind, ist die Einschätzung, wie gut oder schlecht das Publikum über die Europäische Union informiert und wie positiv oder negativ es ihr gegenüber eingestellt ist, Grundlage des beruflichen Selbstverständnisses und der beruflichen Ziele von EU-Journalisten. Im Zentrum der von durchweg allen Journalisten selbst definierten beruflichen Ziele steht die klassische Funktionsbeschreibung des politischen Journalismus. Es ist das erklärte Ziel der Journalisten, das Publikum in der Nachrichtenberichterstattung über alle relevanten politischen Vorgänge wahrheitsgemäß zu informieren und mit unbedingt davon zu unterscheidenden Kommentaren zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen. Beides sollte idealerweise in einer interessanten und den Leser ansprechenden Weise erfolgen (1:111-123). Über diesen allgemeinen Grundsatz hinaus lassen sich aus den Aussagen der Journalisten drei prototypische Rollenbilder heraus destillieren, die mit charakteristischen journalistischen Arbeitszielen und Arbeitsmethoden verbunden sind: 1. Der neutrale Informationsdienstleister, 2. Der kritische Wächter und 3. Der verteidigende Anwalt.
168 Das journalistische Selbstverständnis bzw. das journalistische Rollenbild nimmt innerhalb der Journalismusforschung einen großen Raum ein. Auf der Basis von Befragungen, seltener von Interviews, und besonders vor dem Hintergrund normativer Erwartungen an die professionelle Leistung von Journalisten wurde eine Vielzahl von Typologien erstellt, die verschiedene Kriterien von Rollen(selbst) bild, Schreibintention und -stil, Recherchemethoden und Berufsethik zu bestimmten Typen vereinen (vgl. ursprünglich Köcher (1985); außerdem Schönbach et al. (1994) und Donsbach (1999)). Solche Typologien haben zwei Probleme: Zum einen handelt es sich um wissenschaftliche Konstruktionen, die sich so faktisch nicht finden lassen. In die Konstruktion fließen normative Vorstellungen über Journalismus und Selbstaussagen von Journalisten aus den empirischen Befragungen ein. So kann daraus nicht abgeleitet werden, ob sie tatsächlich entsprechend dieser Rollentypen handeln. Zum anderen ist fraglich, ob sie, selbst wenn sie nach einem selbst formulierten Rollenbild handeln wollten, es überhaupt könnten, da journalistisches Handeln in hohem Maße durch spezifische Organisationsbedingungen geprägt ist. Daher bezieht sich die Analyse des journalistischen Selbstbildes nicht auf die Frage, inwieweit die Journalisten einem bestimmten Rollenbild entsprechen und dieses umsetzen. Vielmehr geht es darum zu erschließen, welches Rollenbild die Interviewten vor dem Hintergrund bekannter Typen konstruieren und welche Ziele sie bei ihrer journalistischen Arbeit verfolgen.
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Der überwiegende Teil der Journalisten beschreibt sich selbst als „neutralen Informationsdienstleister“ (z.B. 9:92), der sein Publikum tagtäglich davon in Kenntnis setzt, was auf europäischer Ebene geschieht. Er folgt dem Strom der politischen Ereignisse und berichtet tagesaktuell, was er für seine Redaktion und damit für sein deutsches Zielpublikum relevant hält. Dabei kommt es ihm auf die nüchterne Bereitstellung von Fakten und die objektive Darstellung verschiedener Positionen an. Dazu müssen die EU-Journalisten – und damit markieren sie den entscheidenden Unterschied zur innenpolitischen Berichterstattung – bei der Informationsvermittlung in einem höheren Maß auf Erklärungen und Einordnungen zurückgreifen. Von der Komplexität der EU-Politik ausgehend und bei gleichzeitiger Annahme, dass ihre Rezipienten in Deutschland ebenso wie ihre Kollegen in den Redaktionen nach wie vor wenig über die Zusammenhänge der EU-Politik wissen, müssen EU-Korrespondenten in ihren Artikeln immer wieder grundlegende Informationen über Funktionen und Zusammenhänge des Institutionensystems einbringen: „Ich glaube, da muss man beim Leser nach wie vor weniger voraussetzen, als wenn es um deutsche Politik geht; denn mit dem Parteiensystem kennt sich einfach jeder besser aus als mit den Brüssler Abläufen. Man muss noch mal genauer klar machen, was ist: was kann die Kommission, wo sind ihre Befugnisse zu Ende, was hat die nationale Regierung für eine Rolle?“ (7:1008-1015)
So erläutern sie bei jeder thematisierten Verordnung, Richtlinie oder Entscheidung erneut, wie sie zustande kommt, welche Institution im Abstimmungsprozess welche Funktion hat und welche Auswirkung sie auf die Bundespolitik hat. Ein weiterer Typus zusätzlicher Informationen zielt auf die zeitliche Einordnung von Themen. So ist bei Gesetzgebungsverfahren und bei Gesetzesvorlagen wichtig zu differenzieren, in welchem Entscheidungsstadium sie sich gerade befinden und welche weiteren Schritte folgen (12:173-177). Durch die Langwierigkeit der politischen Prozesse sehen sich die Korrespondenten in ihrer Berichterstattung immer wieder gezwungen, den Vorlauf eines Themas zu ergänzen, um ihn im Gedächtnis des Medienpublikums zu aktualisieren und den tagesaktuellen Berichterstattungsanlass besser verständlich zu machen. Der hohe Erläuterungsbedarf von EU-Themen ist für die Korrespondenten mit zwei Problemen verbunden: Erstens geht mit der erforderlichen Kontextualisierung der Berichterstattungsinhalte eine vergleichsweise stärkere Platzrestriktion einher (z.B. 24:427f.). Sie beklagen, dass die die geforderte Zeilenzahl pro Artikel in Zeitungen oder die Dauer pro Beitrag im Rundfunk rückläufig ist und eine gegenstandsadäquate Darstellung der Themen in der ohnehin geringer gewichteten EU-Berichterstattung erschweren (vgl. 6.3.2). Insofern stellt sich die von den Kor-
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respondenten empfundene Beschränkung von EU-Berichterstattung nicht als geringerer oder rückläufiger Anteil von EU-Beiträgen pro Zeitung oder Nachrichtensendung dar, sondern als eine zunehmende Kürzung einzelner Beiträge. Aus ihrer Sicht verhindert dies, EU-Themen tiefer gehend und anschaulich zu präsentieren. Zweitens beklagen sie, dass bei der Übernahme von Agenturmeldungen oder beim Redigieren ihrer Artikel in den Zentralen durch Unwissenheit der Redakteure Zusammenhänge oftmals so gekürzt oder vereinfacht werden, dass sie schließlich zu Verwechselungen und falschen Darstellungen führen: „Bei den Zeitungen verzweifeln wir Korrespondenten, weil wir eins nie machen, nämlich die Überschriften zu ihren Artikeln. Und dann wird aus dem Europäischen Rat ganz schnell wieder der Europa-Rat.“ (10:787-791)
Die Erklärer- bzw. Übersetzer- oder Vermittlerrolle zieht sich durch das journalistische Selbstbild aller grundsätzlich informationsorientiert arbeitenden EU-Korrespondenten. Als Übersetzer verstehen sie sich, wenn sie betonen, dass es in ihrer Arbeit darum geht, komplexe Zusammenhänge und in der bürokratischen EU-Fachsprache formulierte Inhalte für die Leser zu vereinfachen. Bezeichnen sie sich als Vermittler, betonen sie das Ziel, den Rezipienten ihrer Beiträge den Bezug zu Deutschland und die Auswirkung auf ihr Leben klarzumachen (21:1049-1052; vgl. auch 12:166-180; 17:227-243; 24:258-277). Betrachtet man die Unterschiede zwischen einzelnen Medien, sehen die Korrespondenten von Nachrichtenagenturen ihre Aufgabe am stärksten in der Chronistenpflicht, also der Dauerbeobachtung politischer Prozesse und in der journalistischen Themensetzung (11:120-124). Für sie geht es darum, „in einer einfachen, nicht-technologischen Sprache zu erklären, wo in der EU die Reise hingeht“ (4:8087). Die Korrespondenten regionaler Tageszeitungen charakterisieren ihre journalistische Funktion mit dem Begriff „Volkshochschule“, der die Art und das Niveau der Erklärungen illustriert, die sich an ein durchschnittlich gebildetes, breites Publikum richten: „Als Korrespondent für Regionalzeitungen ist meine Aufgabe doch ganz klar, wichtige Sachen erklären, dann analysieren, dann kommentieren. Ich sage mal spaßeshalber, wir machen hier viel Volkshochschule, wir erklären viel: Welche Entscheidung fällt wie, warum fällt sie, was bedeutet das in den Auswirkungen? Also das Feuilletonistische muss man hier manchmal sehr stark zurückschrauben zugunsten des ganz knochentrockenen Erklärens, weil doch viele Abläufe, viele handelnde Personen dem Publikum in Deutschland nicht vertraut sind. Sie müssen auch bei recht einfachen Entscheidungen noch mal sagen, wie sie zustande kommen, was ist der Ministerrat,
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welche Funktion übernimmt die EU-Kommission, welche Mitspracherechte hat das Parlament? Deswegen ist man hier in einer Erklärerrolle.“ (2:147-167)
Obgleich die Redakteure überregionaler Qualitätszeitungen die journalistische Aufgabe des Erklärens dezidiert ablehnen und sich ausschließlich der unaufgeregten Vermittlung von Fakten verschreiben (5:214-235), verweisen ihre jeweiligen Korrespondenten ebenfalls auf die Notwendigkeit eines erklärenden und vermittelnden Brückenschlags von den Geschehnissen auf europäischer Ebene zur Berichterstattung auf nationaler Ebene. Auch unter Einschluss der Korrespondenten für audiovisuelle und Online-Medien macht es letztlich keinen Unterschied, für welches Medium berichtet wird. Regelmäßige Wiederholungen und grundsätzliche Erläuterungen EU-spezifischer Zusammenhänge werden in allen Medien für notwendig erachtet. Wie umfangreich und tiefgehend Erklärungen angeführt werden, ob sie journalistisch durch einen Erklärkasten ergänzt werden oder unmittelbar in den Artikel einfließen, bestimmt sich aus dem Bildungsgrad der Zielgruppe sowie dem im Medium zur Verfügung stehenden Platz. Abweichungen in der Interpretation des neutralen Informationsdienstleisters liegen ausschließlich in der unterschiedlichen journalistischen Funktion begründet. Die Redakteure betonen zwar gleichermaßen, dass bei EU-Themen weniger Wissen unter den Rezipienten vorausgesetzt werden darf. Dennoch legen sie mit dem Argument, dass Politik generell kompliziert ist, deutlich weniger Wert auf Erklärungen als elementare Bestandteile der EU-Berichterstattung (5:380-401; 20:340-352). Eine zweite, weitaus seltener genannte journalistische Rolle ist die des „kritischen Wächters (watchdog)“. „Brüssel ist eine politische Ebene wie jede andere. Hier wird Macht ausgeübt und da gilt der journalistische Grundsatz: Wer Macht hat, muss sich einer strengeren Kontrolle stellen als derjenige, der nur eine Meinung hat!“ (10:544-547)
Für solche Journalisten steht die Funktion der Medien als vierter Gewalt im Zentrum des journalistischen Selbstverständnisses. Ein den politischen Verhältnissen gegenüber kritisch eingestellter Journalismus kann Fehlentwicklungen und Missstände innerhalb der EU frühzeitig erkennen und im Zweifel gegen den Willen der Politik publik machen, so wie es im Korruptionsskandal der Europäischen Kommission im Jahre 1999 geschehen ist (21:1227-1234; 22:556-562). Mit wachsender Bedeutung der europäischen Politik sind daher ihrer Ansicht nach eine kritische Auseinandersetzung und eine schärfere Kontrolle erforderlich. Eng mit dem Selbstbild des Wächters ist die Recherchemethode eines „investigativen Journalismus“ verbunden.
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Was konkret mit dem Begriff des „investigativen Journalismus“ assoziiert wird, variiert unter Journalisten in zwei Richtungen: Einerseits steht „investigativ“ für einen professionell-distanzierten „Recherchejournalismus“, bei dem Journalisten nicht nur zugelieferte Informationen verarbeiten, sondern sich ihre Themen selbst suchen, den jeweiligen Hintergrund umfassend aufbereiten und dabei aktiv auf ihre Quellen zugehen. Andererseits verbinden viele Journalisten damit einen „Skandaljournalismus“, wie er in ihren Augen über viele Jahre von dem Stern-Korrespondenten Hans-Martin Tillack durch die Skandalisierung von EU-Institutionen und ihren Akteure betrieben wurde. Während ersterer als journalistische Zielorientierung breite Zustimmung findet und viele Journalisten diese Selbstbeschreibung für sich reklamieren, wird die Zielsetzung einer Skandalisierung um der öffentlichen Aufmerksamkeit willen massiv abgelehnt. Begründet wird die Ablehnung dieser Variante der Spürhundrolle mit dem Vorwurf an die Kollegen einiger Medien, im Rennen um gut verkäufliche „scoops“ vielfach Themen und Phänomene in einem überzogenen Maße aufzubauschen und dabei auf unseriöse Quellen zurückzugreifen: „Man ist kritisch der Institution gegenüber, nicht aber den Quellen“ (29:122-131; vgl. auch 3:719-726; 6:651-669; 14:497-511).169 Im kollektiven Selbstverständnis des Pressekorps werden der anlässlich des Korruptionsskandals der EU-Kommission möglich gewordene transnationale und transmediale Recherchejournalismus sowie seine mediale Skandalisierung positiv gedeutet. Allerdings ist diese Form journalistischer Arbeit nach Einschätzung langjähriger Korrespondenten eher untypisch, und es hat sie im damaligen Umfang auch nicht wieder gegeben (21:292-350; 12121225). Dies wird einerseits darauf zurückgeführt, dass nach der Einrichtung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung das klassische investigative Thema Korruption in Brüssel zunehmend weniger zu finden ist. Andererseits beklagen viele Korrespondenten, dass es ihnen als Einzelkämpfern unter der massiven Nachrichtenflut und der zunehmenden Konkurrenz aus Zeitgründen vielfach nicht möglich ist, investigativ und transnational kooperierend zu recherchieren (12:195-205; 21:297-301; 25:346-349; vgl. auch Quatremer 2002). Im journalistischen Selbstverständnis der kritischen Wächter ist die Skandalisierung der EU um der Skandalisierung willen tabu, nicht aber um der Kontrolle willen und zur Vermeidung negativer Entwicklungen in der Politik: „Also Skandale machen wir dann, wenn sie politisch relevant werden für Entscheidungsträger, aber nicht, wenn sie besonders bunt sind.“ (13:285)
169 Umgekehrt wirft Hans-Martin Tillack (2006) dem deutschen Pressekorps vor, dass sich neben vielen professionell recherchierten und mit professioneller Distanz geschriebenen Berichten aus Brüssel auch viele Beispiele für eine pro-europäische Voreingenommenheit der Korrespondenten finden lassen.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Das von manchen angestrebte Bild des kritischen Wächters als eines engagierten Recherchejournalisten kollidiert insofern mit dem des neutralen Informationsvermittlers, als unter den Bedingungen von tagesaktueller Berichterstattung in der Regel kaum Zeit für investigatives Recherchieren bleibt. Demnach bestimmt nicht das Rollenbild der Journalisten ihre Arbeit, sondern umgekehrt prägen ihre Arbeitsbedingungen das jeweilige Rollenbild. Wer mehr Zeit zur Recherche hat, beschreibt sich eher als „watchdog“ im Sinne eines kritisch-distanzierten Recherchejournalisten. Wer dagegen unter dem Druck des politischen Tagesgeschäfts lebt, empfindet sich eher als neutraler Informationsdienstleister und Chronist der Ereignisse. Langjährige Korrespondenten verweisen retrospektiv auf die grundsätzlich pro-europäische Haltung der 1980er Jahre im Selbstbild deutscher EU-Korrespondenten, als in der Berichterstattung „permanent versucht wurde, EU-Politik zu rechtfertigen“ (21:1156-1161). In den aktuellen Gesprächen findet man die Idee des „verteidigenden Anwalts“ nur noch ganz selten. Die Journalisten sind sich darin einig, dass es ihr journalistisches Berufsbild nicht erlaubt, Dinge besser darzustellen, als sie sind, oder ihre Meldungen in einer bestimmten Weise tendenziös zugunsten der EU zu gestalten. Im Gegenteil, als der Informationsvermittlung verpflichtete Journalisten trennen sie ihre persönliche Meinung strikt vom ihrem journalistischen Auftrag: „Es ist nicht unsere Meinung. Aber wir müssen häufiger als früher darüber berichten, wer alles etwas an Brüssel auszusetzen hat. Und das glaube ich, wird stärker werden. Dieses Land, Deutschland, ist in einer Krise. Es fühlt sich bzw. viele Menschen hier fühlen sich einfach irgendwie dominiert von außerhalb der deutschen Grenzen, und das richtet sich gegen Brüssel.“ (3:767-774)
Die Aussage illustriert, wie eng Journalisten ihre Arbeit an der politischen Stimmungslage der Gesellschaft orientieren. Während die 1980er Jahre vom sog. „permissiven Konsens“ geprägt waren, war der im Jahre 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht politischer Hintergrund für einen Stimmungswechsel im Pressekorps. Der mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion und dem Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verbundene Machtgewinn wurde fortan auch unter den Korrespondenten offener und kontroverser diskutiert. Zudem brachte eine neue Generation von jüngeren Korrespondenten in Brüssel eine kritischere Haltung gegenüber der EU mit (Mükke 2004; Meyer 2002a; Meyer 2002b). Diskutiert man die anwaltschaftliche Position hinsichtlich der Fragen, welche persönliche Einstellung die Journalisten gegenwärtig zur EU haben und welche
6.3 Berufliche Leistung
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Position sie im Arbeitsprozess einnehmen, differenziert sich das Bild der „neutralen Informationsdienstleister“ weiter. Die Korrespondenten bestätigen durchweg eine positive Haltung zum europäischen Integrationsprozess: „Wir haben ein ähnliches Verständnis, … wir sind eigentlich überzeugte Europäer, wir sehen keine Alternative zur EU …“ – Aussagen, die allerdings zugunsten der eigenen und professionellen Kritikfähigkeit sofort relativiert werden –„… das heißt ja nicht, dass man alles toll findet, was die EU macht“ (3:696ff.). So beschreiben sich sie sich durchweg als Europa-freundlich und beharren zugleich auf der kritisch-distanzierten Begleitung der politischen Entwicklung in ihrer Berichterstattung. Anders sieht das Verhältnis von Kritik und Verteidigung im Arbeitsprozess aus, wenn man die Haltung der Korrespondenten und die der in den Zentralen arbeitenden Redakteure vergleicht. Ein Redakteur verweist darauf, dass die Korrespondenten üblicherweise ihre eigenen Themen für besonders wichtig erachten, während er in seiner Funktion abwägen muss, ob ein Anschlag im Irak oder die Verfassungsdebatte auf dem europäischen Konvent wichtiger ist (5:55-60). Eine Redakteurin führt das auf den „Käseglockeneffekt“ des Postens außerhalb von Deutschland zurück (20:176). Umgekehrt berichten Korrespondenten, dass sie sich tatsächlich häufig gezwungen sehen, die Kommission gegenüber dem „Anti-Brüssel-Reflex“ ihrer Zentralen in Schutz zu nehmen (23:600-630). So versuchen sie, europäische Entwicklungen gegenüber ihren Kollegen zu verteidigen, und kämpfen zugleich gegen die ihnen von den Zentralen unterstellte mangelnde Distanz gegenüber ihrem Berichterstattungsobjekt. Die Wahrnehmungsunterschiede zwischen Korrespondenten und Redakteuren werden von allen darauf zurückgeführt, dass Korrespondenten generell mehr Verständnis für die Abläufe der Institution entwickeln, über die sie berichten. Verständnis deuten die Redakteure dabei als eine Mischung aus einem tiefergehenden Verstehen aufgrund eines tatsächlich spezialisierteren Wissens und aus einer größeren Nachsicht aufgrund einer höheren Identifikation bis hin zu einer unterstellten Solidarisierung mit dem Berichterstattungsobjekt (1:592f.; 596-615; 3:596-628; 5:55-60). Auf Seiten der Korrespondenten deckt sich die persönliche Haltung zur EU mit einer positiven Einstellung zum Berichterstattungsobjekt und ihrer Arbeitszufriedenheit in Brüssel. Die meisten halten die Europäische Integration für ein wichtiges und interessantes Projekt und empfinden ihre Arbeit in Brüssel durch die Internationalität, Themenbreite und Ereignisgeschwindigkeit als sehr spannend. In der Zusammenarbeit mit den Redaktionen verweisen sie auf deren geringes Wissen und Unsicherheit im Umgang mit EU-Themen (23:697-708). Das mangelnde Wissen der Kollegen stellt für die Korrespondenten insofern ein Problem dar, als damit eine starke Anfälligkeit der Redaktion für gängige EU-Stereotype einhergeht: „Die Vorurteile werden schlicht und einfach nachgebetet“ (7:345ff.).
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Auch wenn der „verteidigende Anwalt“ im Sinne eines politischen Verlautbarungsjournalismus für keinen der interviewten Journalisten ein legitimes professionelles Rollenbild darstellt, können die Korrespondenten im medieninternen Abstimmungsprozess dennoch als Anwälte der EU betrachtet werden. Das jeweilige Arbeitsumfeld auf dem Auslandskorrespondentenplatz oder in der Zentrale, die damit verbundenen unterschiedlichen Gesellschafts- und Medienkontexte, in denen sie sich jeweils bewegen sowie das unterschiedliche Wissen über den Berichterstattungsgegenstand und die unterschiedlich ausgeprägte Identifikation mit ihm führen zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung der politischen Entwicklung und ihrer Bedeutung. Insgesamt zeigt die Konstruktion des professionellen Selbstverständnisses, dass auch in der EU-Berichterstattung Information, Analyse und Kommentierung zu den klassischen Aufgaben politischer Journalisten gehören. Im Unterschied zu den 1980er Jahren erscheint es heute nicht mehr legitim, in der Berichterstattung eine die EU vertretende, anwaltschaftliche Position einzunehmen. Ebenso wenig wird es als legitim erachtet, die journalistische Wächterfunktion ausschließlich durch negative Skandalisierung der EU umzusetzen. Die meisten Journalisten fühlen sich unabhängig ihrer Generationszugehörigkeit einem neutralen Informationsjournalismus verpflicht, der eine kritische Distanz gegenüber seinem Berichterstattungsobjekt wahrt und unaufgeregt und sachorientiert über die Ereignisse in Brüssel berichtet. Für EU-Korrespondenten ist charakteristisch, was für Auslandsberichterstatter generell gilt: Sie wollen Verständnis, Problembewusstsein sowie Interesse für ihr Berichterstattungsfeld fördern. Da EU-Berichterstattung seltener und diskontinuierlicher verläuft, von geringerem Umfang ist und zumeist Sachverhalte verhandelt, die für das nationale Publikum unbekannt und alltagsfern sind, bedarf es einer ausführlicheren Erklärung und Kontextualisierung des Geschehens (vgl. auch Junghanns/Hanitzsch 2006: 422-425). In welchem Grad sich ein EU-Journalist als erklärender Übersetzer oder Vermittler betrachtet, ist von seiner Berufsposition und seinem Bezug zum Berichterstattungsgegenstand sowie von seinem Medium, den Platzkapazitäten und dem jeweiligen Zielpublikum abhängig.170 Die an das journalistische Selbstverständnis geknüpfte Frage, welche Recherchemethoden bevorzugt werden, ist in Brüssel keine vom Berufsbild abhängige Grundsatzfrage. Sie wird primär von den Arbeitsbedingungen und der indi-
170 Katrin Drehkopf (2006: 107-119) kommt in ihrer Magisterarbeit auf der Grundlage von Leitfadeninterviews mit deutschen EU-Korrespondenten im selben Untersuchungszeitraum zu einem ähnlichen Ergebnis.
6.3 Berufliche Leistung
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viduellen Erfahrung im Umgang mit dem journalistischen Gegenstand bestimmt. Investigativ arbeiten die Journalisten, die sich Zeitfenster schaffen können, also als freie oder als Fachjournalisten nicht unmittelbar in die politische Tagsberichterstattung involviert sind, und diejenigen, für die dank einer guten Personalausstattung kurzfristige Freiräume entstehen. Schließlich ist investigatives Arbeiten vor allem den Journalisten möglich, die sich in einem Themenfeld gut auskennen, über entsprechende Informationsnetzwerke verfügen und diese zu nutzen wissen. Da Neulinge in Brüssel in der Regel zunächst einmal überfordert sind, können sie durchaus in verschiedenen Quellen recherchieren, sind aber zumeist nicht in der Lage, aufgrund interner Informationen problematische Zustände oder Zusammenhänge aufzudecken. Die Ergebnisse spiegeln somit eine allgemeine Entwicklung im deutschen Journalismus wider. Das Rollenverständnis deutscher Journalisten besteht seit den 1990er Jahren aus mehreren, sich überlappenden Selbstbildern, die im Journalismus in den verschiedenen Mediengenres variieren. Die typischerweise auffindbaren Selbstbilder sind der neutral-aktuelle Informationsvermittler, der politisch kontrollierende Gegenpart zu Wirtschaft und Politik, der anwaltschaftlich-idealistische Kritiker und der hier weniger relevante serviceorientierte Ratgeber und Unterhalter. Dabei lässt sich in jüngster Zeit infolge eines Generationswechsels ein Trend vom anwaltschaftlichen hin zum neuen Informationsjournalismus belegen (vgl. 2000).
6.3.2 Stellenwert der EU-Berichterstattung Vor dem Hintergrund ihres erklärungsorientierten beruflichen Selbstbilds beobachten und bewerten Journalisten die allgemeine Entwicklung der EU-Berichterstattung als individuelles und kollektives Produkt ihrer Arbeit. Befragt man die Journalisten, wie sie den gegenwärtigen Stellenwert und die weitere Entwicklung der EU-Berichterstattung innerhalb ihrer Redaktion und in der Öffentlichkeit beurteilen, erhält man ein ambivalentes Bild.171 Die Einschätzung des Stellenwerts durch Korrespondenten und Redakteure der beiden überregionalen Qualitätszeitungen sowie Vertretern des öffentlich-recht-
171 Die Einschätzung der Journalisten deckt sich mit Befunden aus Inhaltsanalysen von EU-Berichterstattung deutscher Tageszeitungen. Sie kommen zum Ergebnis, dass der Umfang an EU-Berichten im Verlauf der letzten Jahre zugenommen hat, aber in der politischen Berichterstattung einen immer noch vergleichsweise geringen Stellenwert einnimmt; vgl. z.B. Sifft et al. (2007), Eilders/Voltmer (2003), Offerhaus (2002).
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lichen Hörfunks und Fernsehens ist auf einer allgemeinen Aussageebene nahezu identisch. Der Stellenwert der EU-Berichterstattung sei generell sehr hoch und habe im vergangenen Jahrzehnt deutlich zugenommen. Die Korrespondenten begründen die veränderte Gewichtung mit dem Verweis auf ihre eigene berufliche Existenz. Sie interpretieren die Tatsache, dass sich ihre Arbeitgeber überhaupt einen eigenen EU-Korrespondenten leisten oder bestehende Büros personell aufstocken, als eine gestiegenes und sich stabilisierendes Bewusstsein für die Bedeutung der EU (1:146ff.; 5:249f.; 20:380-382). Im Unterschied zu dieser Einschätzung sind viele Journalisten im Blick auf die gesamte Medienlandschaft deutlich kritischer. Der Stellenwert der EU-Berichterstattung in lokalen und regionalen Tageszeitungen sei immer noch zu gering, obwohl diese insgesamt weit mehr Leser erreichen als die überregionalen Qualitätszeitungen (21:609-616; 636f.; 23:669-708). Dies ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen bedient ein Korrespondent einer Regionalzeitung mit seinem Bauchladen im Unterschied zu seinen Kollegen der überregionalen Qualitätspresse und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Regel mehrere Regionalzeitungen. Die von ihnen ausgewählten EU-Themen müssen daher ausschließlich mit einen nationalen Bezug dargestellt werden, damit sie von allen Zeitungen im Bundesgebiet gleichermaßen verwendet werden können. Der lokale Bezug aber, durch den die Politik von Bürgern primär wahrgenommen wird und der für die empfundene Bürgernähe der EU von Bedeutung wäre, kann bei solch geringer personeller Ausstattung nicht recherchiert und hergestellt werden. Zum anderen verhindern die bisherige Ressort- und Arbeitsteilung, nach der Lokalredakteure nicht für EU-Themen zuständig sind, und ihre Unsicherheit im Umgang mit EU-Themen, dass sich Lokalredakteure aus eigenem Antrieb mit EU-Themen beschäftigen. So erfolgt EU-Berichterstattung gerade dort, wo die Vermittlung von EU-Politik und ihren unmittelbaren Auswirkungen auf eine Region ein breites Publikum erreichen würde, nur in einem minimalen Umfang.172 Eine ebenfalls geringe und, wenn im Einzelfall vorhanden, dann ausschließlich negative Berücksichtigung findet die EU in der Berichterstattung von Boulevardmedien. Die negative Darstellung wird von den Korrespondenten darauf zurückgeführt, dass ihre Kollegen nicht oder nicht mehr in Brüssel vertreten sind und dass das Hauptinteresse von Boulevardmedien aufmerksamkeitserregenden Skandalthemen gilt. Dementsprechend äußert der einzige Vertreter eines privaten Fernsehsenders, der als fester Freier auch für andere Medien arbeitet, dass er in dieser
172 Diese Einschätzung wird durch eine Inhaltsanalyse von Vetters (2007) bestätigt, die die Europäisierung von Qualitäts- und Regionalzeitungen vergleicht.
6.3 Berufliche Leistung
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Mediensparte „fast nichts loswerde“ (15:234). So spiegeln die Aussagen der Korrespondenten, was Inhaltsanalysen zeigen: Der Umfang an EU-Berichterstattung hat zwar insgesamt kontinuierlich zugenommen, bricht sich aber an unterschiedlichen Medien (Adam 2007: 42f.). Während die Politikbeobachtung der europäischen Ebene immer schon in Qualitätszeitungen stattgefunden und im Prozess zunehmender europäischer Integration weiter an Bedeutung gewonnen hat, findet das Thema in der Regionalpresse und in den Boulevardmedien keinen bzw. nur einen sehr reduzierten Niederschlag. Die allgemeine Aufwertung der EU-Berichterstattung hat Folgen für die Arbeit der Korrespondenten. Trotz des personellen Auf- und Ausbaus der Korrespondentenbüros in Brüssel schlägt sie sich in einem gestiegenen Arbeitsvolumen nieder. Während Journalisten in den 1980er Jahren einen Artikel pro Woche oder manchmal pro Monat ablieferten, schreiben sie heute täglich einen, in vielen Fällen sogar mehrere Artikel (6:111-117; 20:380ff.). Mit dem erweiterten Spektrum von Berichterstattungsthemen ist auch die Erwartungshaltung der Redaktionen an die journalistische Leistung gestiegen: War EU-Berichterstattung in den 1980er Jahren im Wesentlichen Berichterstattung über die Union als Agrargemeinschaft und die Entwicklung des Binnenmarkts, die „auf der 3. Seite des Wirtschaftsteils“ behandelt wurde, umfasst sie heute auch „große politische Themen“. Von institutionellen Themen wie den EU-Erweiterungen oder der EU-Verfassungsdebatte, über eine europäische Außenpolitik bis hin zu innen- und justizpolitischen Themen haben sich die inhaltlichen Schwerpunkte weiter in die Politik verlagert (2:621-625; 9:579-593). Besonders von Korrespondenten regionaler Tageszeitungen werden immer häufiger Einschätzungen und Kommentierungen verlangt (4:505-522). So zeigen die Anforderungen an Themenumfang, -spektrum und -aufarbeitung nicht nur den gestiegenen Stellenwert der EU-Berichterstattung, sondern auch die Möglichkeit der Korrespondenten, sich mit EU-Themen zu profilieren (im Unterschied zur von Wolfgang Klein beschriebenen Situation, vgl. S.182). Trotz des insgesamt gestiegenen Stellenwerts gibt es von Seiten der Korrespondenten deutliche Kritik an der Bewertung der EU-Berichterstattung. Grundsätzlich wissen sie zwar, dass die tägliche Gewichtung und damit die kurzfristige Stellung von EU-Berichterstattung immer von der konkurrierenden Nachrichtenlage abhängig ist. Dennoch beurteilen sie den Stellenwert der EU-Berichterstattung in den Medien im Vergleich zu ihrer realen Bedeutung als immer noch zu gering (1:129-132; 12:671-676; vgl. schon Krause (1991: 22). Priorität und Wahrnehmungsfokus der Zentralen liegen dominant auf der Hauptstadtpolitik, so dass bei zeitgleichen berichterstattungsrelevanten politischen Ereignissen im Zweifelsfall der „Brüsseler Krach gegen den Berliner Krach verliert“ (7:1040ff.; vgl. auch 24:339-349; 8:876-880). Handelt es sich unabhängig von ortsbezogenen Ereignis-
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sen um EU-Politik, wird diese der Bundespolitik untergeordnet, indem man sie durch die „nationale Brille“ betrachtet (7:143-149). Für die EU-Korrespondenten resultiert daraus der Eindruck, dass EU-Themen eine Sonderstellung einnehmen, da sie im Vergleich zur innenpolitischen Berichterstattung immer unter einem stärkeren Begründungszwang ihrer Bedeutsamkeit stehen (3:265-290; 7:1040-1055). Dass dies auch in den Redaktionen so wahrgenommen wird, bestätigen Redakteure, die äußern, dass trotz des Wissens um ihre Bedeutung EU-Themen langweilig seien und unter den Kollegen eine gewisse „Europa-Müdigkeit“ herrsche (1:377-386; 20:390-394; vgl. auch 5:715-719). Zudem sei die allgemeine Tendenz einer Renationalisierung von Politik und Gesellschaft zu beobachten, nach der man wieder mehr an innenpolitischen Themen und weniger an einer Öffnung nach außen interessiert sei. Insgesamt belegen die Einschätzungen zwar, dass der EU-Berichterstattung in den meisten Medien mehr Bedeutung zugeschrieben wird als früher. Aber sowohl Korrespondenten als auch Redakteure konstatieren einen Widerspruch zwischen ihrem „bedeutungsadäquaten“ und ihrem „tatsächlichen“ Stellenwert. Während sich beide Gruppen des gewachsenen und weiter wachsenden Einflusses der EU bewusst sind, ist der gegenwärtige Stellenwert in der Berichterstattung mit unterschiedlichen Bewertungen verbunden. Die Korrespondenten kritisieren den aus ihrer Sicht nicht „bedeutungsadäquaten“ Umgang der Redaktionen mit EU-Themen. Die Redakteure, die sich zwar des politischen Gewichts der Vorgänge auf europäischer Ebene bewusst sind, zeigen sich jedoch an ihren Rezipienten orientiert, indem sie den Stellenwert zugunsten des dominanten öffentlichen Interesses an nationalen Angelegenheiten relativieren. Dass Journalisten dazu neigen, das eigene Themenfeld als besonders wichtig zu erachten, ihre Beiträge aber erst in der Zentrale gegeneinander abgewogen werden, ist nicht ungewöhnlich. Gleichwohl erscheint die Handlungskonsequenz der Zentralen im Fall der Gewichtung der EUBerichterstattung gravierender. Auch die Redakteure beurteilen anders als früher EU-Berichterstattung als wichtig, räumen ihr aber dennoch einen deutlich geringeren Stellenwert ein.
6.3.3 Gewünschte Qualität der EU-Berichterstattung EU-Journalisten beobachten nicht nur die Entwicklung der EU-Berichterstattung, sondern haben auch eine klare Vorstellung davon, welchen Kriterien sie entsprechen und in welche Richtung sie sich weiter entwickeln sollte. Vor dem Hintergrund ihres beruflichen Selbstbilds und der ambivalenten Einschätzung des gegenwärtigen Stellenwerts definieren sie journalistische Professionalität mittels
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Qualitätskriterien, an denen sie die Entwicklung der Berichterstattung sowie ihr eigenes berufliches Handeln messen.173 Ob und inwieweit sich die gegenwärtig von EU-Journalisten definierten Qualitätskriterien sowie die darauf bezogenen Defizite von denen ihrer Vorgängerkollegen tatsächlich unterscheiden, kann durch die Interviews nicht rekonstruiert werden. Deutlich wird jedoch, dass die Korrespondenten ihre Arbeit anhand eines zentralen Kriteriums gegenüber vorhergehenden Generationen abgrenzen: Mit wachsender Größe des Pressekorps und erhöhtem Konkurrenzdruck habe die Unabhängigkeit der Berichterstattung zugenommen (13:808-816). Die Darstellungen der gegenwärtigen Korrespondentengeneration seien differenzierter und basierten auf einer kritischeren Haltung gegenüber dem Berichterstattungsobjekt (17:797804). Im Unterschied zum für die 1980er Jahre konstatierten Verlautbarungsjournalismus und anwaltschaftlichen Selbstverständnis der damaligen Korrespondenten (vgl. auch 6.3.1), wird hier der Anspruch auf eine von politischen Interessen oder anderen Einflüssen freie journalistische Arbeitsweise erhoben. Weitere Qualitätskriterien beziehen sich auf die Darstellungsweise von EUBerichterstattung. Auch wenn die überwiegende Zahl der Korrespondenten den Wissensstand des Publikums als sehr gering einschätzt und Skepsis äußert, ob überhaupt ein Interesse an EU-Politik vorhanden ist, geht er davon aus, dass die journalistische Arbeit einen Einfluss auf das Publikumsinteresse und -wissen hat: „Ich gehe fest davon aus, dass EU-Themen keine Quotenknaller sind. (…). Aber es kommt immer darauf an, wie sie gemacht sind und wie man sie vermittelt und in welcher Sendung.“ (22:594-608)
Nach Auffassung der Journalisten ist das Leserinteresse wesentlich von der Darstellungsqualität ihres journalistischen Produkts abhängig. So betonen die EU-Korrespondenten zwei zentrale Darstellungskriterien: Anschaulichkeit bei gleichzeiti-
173 Die Debatte um journalistische Qualität nimmt in der Journalismusforschung einen breiten Raum ein, wie zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema zeigen – zum Überblick vgl. Bucher (2003). Dass dieser Aspekt des Journalismus dennoch nicht in entsprechende Theorien eingebaut wurde, hängt zum einen mit dem Weber’schen Wertfreiheitspostulat zusammen, das eine wissenschaftliche Setzung von Qualitäten, Normen und Bewertungen verbietet, und zum anderen mit den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf den Journalismus selbst. Weitere Gründe für die Komplexität der Diskussion liegen in der unterschiedlichen Ausgangsdefinition von Qualität je nach Beobachter, da es sich um Zuschreibungen und nicht um Eigenschaften von Gegenständen oder Handlungen handelt, in der Vielfalt seiner möglichen Bezugsaspekte, in den Konflikten zwischen verschiedenen definierten Qualitäten, in der Abweichung zwischen der Definition von Qualitätsstandards und ihrer Umsetzung sowie in der potenziellen Veränderbarkeit von Qualitäten; vgl. Bucher (2003: 11ff.). Dennoch lassen die Aussagen der Journalisten Rückschlüsse auf die kollektive Definition von Qualitätsstandards und davon abweichenden Defiziten zu.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
ger sachlicher Präzision und ein klar erkennbarer Bezug zur nationalen Ebene. Sie streben an, was unter Journalisten generell als journalistische Professionalität gilt, nämlich Beiträge informativ und verständlich, anschaulich und unterhaltsam zu schreiben. Zudem soll EU-Politik, die sich durch hohe Komplexität auszeichnet (vgl. 6.1.2), nicht zu detailreich und zu kompliziert dargestellt werden, sondern sich in einer nichttechnologischen Sprache auf das Wesentliche beschränken (27:268ff.). Gerade aufgrund eher trockener Sachverhalte und karger Bilder sehen sie es als wichtig an, auf den Punkt zu texten und komplexe Zusammenhänge „mit ein bisschen Augenzwinkern zu versehen“ (10:246ff.). Anschaulich ist die Berichterstattung dann, wenn für den Leser „der Bogen zur nationalen Ebene“ (7:1017), also der Bezug zur nationalen Politik oder auf nationale Auswirkungen, erkennbar ist (vgl. dazu auch 6.4.2). Gleichzeitig verbinden die Journalisten mit dem Einbezug der nationalen Ebene die Forderung, dass die Entwicklung der europäischen Gesetzgebung möglichst frühzeitig auch auf nationaler Ebene diskutiert werden soll. EU-Berichterstattung ist selbst in den Augen der Korrespondenten von Qualitätsmedien, so ihre Kritik, gegenwärtig immer noch zu sehr an Ergebnissen ausgerichtet (10:181-186). Demgegenüber verlangen sie eine kontinuierliche Darstellung der politischen Auseinandersetzung auf dem Weg bis zur endgültigen Entscheidung. Auch wenn die komplizierte Materie „dank konsequenter Sachorientierung“ von der gegenwärtigen Journalistengeneration „sehr gut aufbereitet werde“, markieren die Korrespondenten zwei weitere Defizite, die sie mit entsprechenden Forderungen gegenüber den Heimatredaktionen versehen: Zum einen verweisen sie auf den geringen Anteil von Hintergrundberichterstattung im Vergleich zur tagesaktuellen Nachrichtenberichterstattung. Zum anderen reklamieren sie den geringen Anteil von EUThemen im regionalen Teil der Zeitungen. Die Kritik, dass ausführliche Hintergrundberichte zu selten Eingang in die Berichterstattung finden, geht auf das erklärungsorientierte Rollenverständnis zurück, das mit dem Anspruch verbunden ist, langfristig das geringe Wissen der Leser zu verbessern. Auffällig ist in diesem Zusammenhang ein starker Geschlechter- und Generationenbias zugunsten tiefergehender Hintergrundberichte. Ebenso wie deutsche Auslandskorrespondentinnen (vgl. Junghanns/Hanitzsch 2006: 424) kritisieren besonders EU-Journalistinnen den zunehmenden Kampf um Aktualität und Exklusivität im alltäglichen Nachrichtengeschäft: „Ich finde eigentlich, wir sollten Aktualitäten einfach nicht so wichtig nehmen und uns viel stärker auf Hintergründe konzentrieren. Das ist natürlich ein frommer Wunsch für eine Tageszeitung. Die will halt aktuell berichten, man steht unter diesem Konkurrenzdruck. Aber das ist meine persönliche Auffassung, dass das eigentlich der richtigere Weg wäre, sich Freiräume zu erkämpfen für Analysen, für Zusammenhänge, für Portraits, weil man ja durch Personen eben auch bestimmte Sachverhalte klar machen kann.“ (3:393-402)
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In ähnlicher Weise kritisieren Vertreter der älteren Journalistengeneration ein Phänomen, das für die Entwicklung des Journalismus allgemein und für die EU-Berichterstattung im Besonderen kennzeichnend ist. Sie beklagen die Tendenz zu kürzer werdenden Artikeln, einem „Häppchenjournalismus“, der ihnen den Raum für wichtige erklärende Informationen raubt. Zudem legen die Redaktionen neben der tagesaktuellen Nachrichtenberichterstattung immer weniger Wert auf alternative journalistische Darstellungsformen, die beispielsweise „jenseits der Tagesaktualität ein Thema von seiner Pro- und Contra-Seite ausführlich beleuchten“ (6:197-200). Die Korrespondenten betonen somit zwei mit der Beschleunigung von Produktionszeiten bei gleichzeitiger Verkürzung des Nachrichtenumfangs einhergehende Dysfunktionalitäten: Zum einen gehe aufgrund mangelnder Analyse für die Rezipienten die Orientierungs- und Meinungsbildungsfunktion der Medien verloren. Zum anderen verbliebe ihnen selbst aufgrund dieser Restriktionen zu wenig Zeit, die eigene Arbeit zu reflektieren. Trotz der positiv vermerkten, gewachsenen journalistischen Unabhängigkeit verweisen sie den Aktualitäts- und Konkurrenzdruck, der sowohl dem Erläuterungsbedarf von EU-Themen als auch der journalistischen Gründlichkeit in Recherche und Darstellung entgegensteht. Eine fundierte Hintergrundberichterstattung, der mehr Zeit für eine adäquate Recherche und mehr Raum im jeweiligen Medium zugewiesen würde (vgl. 6.2.3), so ihre Forderung, könnte dem starken Erläuterungsbedarf Rechnung tragen und langfristig dazu führen, das Wissen um und die Vertrautheit mit EU-Themen sowohl in den Zentralen als auch bei den Rezipienten zu vertiefen. Die Forderung von mehr regionaler EU-Berichterstattung richtet sich auf eine möglichst frühe Rückbindung EU-politischer Prozesse auf die nationale und regionale Ebene. In den Augen der Korrespondenten ist der Anteil von EU-Berichterstattung im regionalen und lokalen Nachrichtenteil bislang zu gering (17:649667). Wären EU-Themen in den Regionalteilen aller Medien präsenter bzw. würden ihre regionalen Auswirkungen in der Berichterstattung deutlicher hervorgehoben, würde das Relevanzbewusstsein in der Öffentlichkeit steigen, so ihre Annahme. Demnach sollten EU-Themen in der regionalen wie in der überregionalen Presse nicht nur im politischen Mantel, sondern auch vermehrt im Lokalteil von Zeitungen erscheinen. In diese Aufgabe, so die Korrespondenten, sollten verstärkt Lokalredakteure und Inlandskorrespondenten eingebunden werden; sie sollten geschult und mit EU-spezifischem Wissen vertraut gemacht werden, so dass sie die europäische Dimension von Themen auf lokaler Ebene in ihre Arbeit einbeziehen. Solche Forderungen sind insofern bemerkenswert, als dass die Korrespondenten hier keinen Anspruch auf alleinige Zuständigkeit für EU-Themen erheben, sondern im Sinne einer Professionalisierung des EU-Journalismus auch die Expertisierung ihrer Kollegen auf nationaler Ebene fordern.
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Während Unabhängigkeit der Berichterstattung und Leserfreundlichkeit der Darstellung grundlegende journalistische Ziele sind, illustrieren die Interviewaussagen, dass die Definition von EU-spezifischen Qualitätskriterien und die daraus resultierende Benennung von Defiziten der EU-Berichterstattung vor allem ein Anliegen der Korrespondenten sind. Sie leiten aus den Merkmalen von EU-Politik, für die Komplexität, fehlende Dramaturgie sowie zeitversetzte Verschränkung von Außenund Innenpolitik charakteristisch sind, unmittelbare journalistische Handlungsziele ab. Daraus ergeben sich aus der Sicht der Korrespondenten an die Zentralen gerichtete Forderungen einer umfangreicheren Hintergrundberichterstattung, einer stärkeren thematischen und personellen Einbindung der lokalen und regionalen Ebene sowie einer kontinuierlichen journalistischen Begleitung der politischen Prozesse. Dass die Durchsetzung solcher Forderungen nicht oder nur bedingt möglich ist, da sie einerseits auf grundlegende Tendenzen im Journalismus zurückgeht und andererseits von der redaktionellen Positionierung gegenüber der EU-Berichterstattung abhängt, wurde bereits in den vorhergehenden Abschnitten deutlich.
6.3.4 Zwischenbilanz: Berufliche Leistung In diesem Abschnitt standen die berufsspezifischen Einstellungen und Wertungen der EU-Journalisten im Mittelpunkt der Betrachtung. Es ging um das Verhältnis, das sie zu ihrem beruflichen Handeln und zum Produkt ihres Handelns haben. Ob sie ein EU-spezifisches journalistisches Selbstverständnis teilen, wie sie die Entwicklung der EU-Berichterstattung einschätzen und welche Rückschlüsse sie daraus für die Definition eigener Qualitätskriterien ziehen, sind Hinweise auf ihr berufspezifisches Leistungsbewusstsein. Ein Prozess der Professionalisierung im Sinne einer EU-bezogenen Inszenierung unterstellt ein zunehmendes Leistungsbewusstsein der Akteure, die ihren Zuständigkeitsbereich auch gegenüber unterschiedlichen Bezugsgruppen abgrenzen und kennzeichnen. Fasst man die Befunde der Leitfadeninterviews unter dieser Perspektive zusammen, zeigte sich im journalistischen Selbstverständnis die Inszenierung der Korrespondenten gegenüber den EU-Institutionen. Vor dem Hintergrund der in der Journalismusforschung vertretenen These, dass der durch eine jüngere Generation von EU-Korrespondenten aufgedeckte Korruptionsskandal in der EU-Kommission einen Wandel von einem „Verlautbarungsjournalismus“ hin zu einem „investigativen Journalismus“ eingeleitet habe (Meyer 2002b; Baisnée 2002), wurden hier Journalisten unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Berufserfahrung in Brüssel befragt. Tatsächlich bestätigen die Interviewergebnisse einen Einstellungswandel. Im gegenwärtigen beruflichen Selbstverständnis der EU-Journalisten wurde kein wesentlicher
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Unterschied zwischen den Generationen und zunächst auch nicht im Vergleich zu Journalisten der nationalen Ebene sichtbar. Die meisten Journalisten fühlten sich einem neutralen Informationsjournalismus verpflichtet, der je nach ihrer beruflichen Stellung, ihrem Medium sowie der vorhandenen Zeit- und Raumkapazität mit unterschiedlich intensiven Rechercheaktivitäten und -möglichkeiten verbunden ist. Die Aussagen illustrieren darüber hinaus, dass sich die journalistischen Recherchemethoden nicht verändert haben. Vielmehr wurde deutlich, dass Korrespondenten, statt Recherchen zu eigenen Themen anzustellen, nach wie vor in hohem Maß von Themen der politischen Agenda bestimmt werden und dass eine transnationale Zusammenarbeit eher zurückgegangen ist als zugenommen hat. Gleichwohl postulieren die Journalisten im Unterschied zu früher eine kritischere Haltung gegenüber den EU-Institutionen. Sie grenzen sich verstärkt vom Einfluss der Institutionen ab, indem sie neben offiziellen Verlautbarungen auch alternative Informationsquellen hinzuziehen und politische Entscheidungen stärker hinterfragen. Inwieweit sie dabei auf investigative Recherchemethoden im Sinne eines Missstände aufdeckenden und kontrollierenden Journalismus zurückgreifen, hängt von ihrer Berufserfahrung und ihren Arbeitsbedingungen ab. Bei genauerer Betrachtung des journalistischen Selbstbilds wurden Differenzen zwischen Korrespondenten und Redakteuren deutlich, die auf ihren unterschiedlichen lokalen Bezug zum Berichterstattungsgegenstand zurückgeführt werden können. Die Korrespondenten betonen ähnlich wie andere Auslandskorrespondenten die Notwendigkeit einer Einbettung der Berichterstattung in umfassende Erklärungen, da der Berichterstattungsgegenstand aus der Sicht der Rezipienten nicht nur komplex ist, sondern bislang vor allem außerhalb ihres alltäglichen Lebenszusammenhangs steht. Die Redakteure unterstreichen hingegen den pragmatischen Aspekt ihrer informationsvermittelnde Funktion, nämlich EU-Nachrichten nicht zu ausufernd darzustellen. Die Einschätzung des Stellenwerts zeigte ebenfalls Unterschiede zwischen Korrespondenten und Redakteuren. Während die Korrespondenten den geringen Anteil der EU-Berichterstattung im Verhältnis zur internationalen und zur nationalen Berichterstattung als nicht bedeutungsadäquat kritisieren, stellen die Redakteure diesen zwar fest, werten ihn aber nicht als problematisch. Noch deutlicher wurde das ausgeprägte Bewusstsein der Korrespondenten für die eigene berufliche Leistung bei der Definition von Qualitätskriterien und der daraus resultierenden Beschreibung empfundener Defizite. Um das allgemeine Wissen über EUPolitik zu verbessern, leiten sie aus den für EU-Politik typischen Merkmalen, die vielfach der medialen Selektionslogik entgegenstehen, Zielvorstellungen für die journalistische Darstellung ab wie zum Beispiel eine sachgerechte und anschauliche Aufbereitung von EU-Themen oder der Rückbezug von EU-Themen auf
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die nationale Ebene. Zur Verbesserung der Berichterstattung richten die Korrespondenten darüber hinaus Forderungen an die Heimatredaktionen. Dabei beziehen sie sich auf inhaltliche Defizite wie den geringen Anteil an Regional- und Hintergrundberichterstattung und auf strukturelle Defizite wie die bislang geringe Kontinuität der Berichterstattung sowie das mangelnde Wissen und Relevanzbewusstsein der Redakteure. Insgesamt wurde bei allen Aspekten innerhalb der Gruppe der EU-Journalisten ein Unterschied zwischen Korrespondenten und Redakteuren deutlich, der mit einer starken Inszenierung der Korrespondenten gegenüber den Heimatredaktionen einherging. Im Vergleich zu den Redakteuren vertreten sie ein erklärungsorientiertes Selbstbild und bewerten die Bedeutung der EU-Berichterstattung deutlich höher. In der Praxis kann dies mitunter zu medieninternen Konflikten führen, die sich an einer nicht adäquaten Berücksichtigung von EU-Themen und dementsprechend geringeren Zuweisung von Berichterstattungsraum im Vergleich zu innenpolitischer Berichterstattung oder an einer unterschiedlichen Bewertung von europäischen Themen und Positionen entzünden. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass die Korrespondenten für ihren Kompetenzbereich keine exklusive Zuständigkeit beanspruchen, sondern, wie an der Definition EU-berichterstattungsadäquater Qualitätskriterien sichtbar wurde, in der Expertisierung von Journalisten auf nationaler Ebene eine zentrale Verbesserungsmöglichkeit der Berichterstattung sehen. Inwieweit das berufliche Leistungsbewusstsein der deutschen EU-Korrespondenten im Vergleich zum deutschen Pressekorps der 1980er Jahre ausgeprägter ist, kann auf der Grundlage der Interviewaussagen nicht rekonstruiert werden. Deutlich wurde jedoch, dass die Korrespondenten gegenwärtig ihre Rolle und ihren Zuständigkeitsbereich aktiv sowohl gegenüber den EU-Institutionen als auch gegenüber den Heimatredaktionen definieren und mit klaren Leistungsansprüchen versehen. Während das verständigungsorientierte journalistische Rollenbild auch für Auslandskorrespondenten anderer Orte und Regionen charakteristisch ist ebenso wie das damit verbundene Ziel, durch adäquate Hintergrundberichterstattung ihre Inhalte leserfreundlich zu vermitteln, zeichnen sich die EU-Korrespondenten durch ihre Forderung aus, auch die Kollegen auf nationaler Ebene zu schulen und in die Berichterstattung mit einzubeziehen.
6.4 Strategien journalistischer Professionalisierung Quer zu den drei Untersuchungsebenen lassen sich aus den Schilderungen der Akteure zwei zentrale Strategien der Professionalisierung herauskristallisieren. Die systematische Vernetzung der EU-Korrespondenten mit Kollegen und potenziell für die Be-
6.4 Strategien journalistischer Professionalisierung
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richterstattung relevanten Akteuren kann als Strategie der Expertisierung betrachtet werden (6.4.1). Sie zeigt, inwieweit die Korrespondenten das Potential nationaler und transnationaler Kontakte nutzen. Der Versuch, durch den strategischen Einsatz von Nachrichtenfaktoren die Platzierung von EU-Themen in den Medien zu beeinflussen und die „richtige“ Zuschreibung von politischen Verantwortlichkeiten durchzusetzen, entspricht einer Strategie der Inszenierung (6.4.2). Sie veranschaulicht, inwieweit die Korrespondenten einen Anspruch auf Veröffentlichung ihrer Themen gegenüber ihren Heimatredaktionen erheben und ihre Deutungen durchzusetzen versuchen.
6.4.1 Vernetzung Aus einer akteurstheoretischen Perspektive, die nach dem beruflichen Handeln und den Handlungsmotiven der Akteure fragt, geht aus den Interviews die systematische Vernetzung mit verschiedensten Akteuren als eine zentrale Handlungs- bzw. Professionalisierungsstrategie hervor: „Also ich würde auch nach meinem persönlichen Eindruck (sagen …), die besseren der Korrespondenten hier sind auch die (am) besten vernetzten.“ (13:541-543)
Die berufsinterne Definition von Professionalität liegt trotz des im journalistischen Selbstverständnis fest verankerten Distanzparadigmas überraschenderweise in der Anerkennung weitreichender und intensiver beruflicher Kontakte, die ein Journalist für seine Arbeit aufbaut und aufrechterhält: „Letztlich das Entscheidende ist, im Zweifel mit möglichst vielen Leuten zu reden, weil man dann am ehesten erfährt, was wieder irgendwo in der Pipeline liegt und was hervorkommen könnte, um dann entsprechend vorgewarnt zu sein.“ (8:756-759)
Insofern dient den meisten Journalisten der Aufbau eines Kontaktnetzwerks als Handlungsorientierung und anzustrebendes Professionalisierungsziel. Mit wem sich Journalisten vernetzen, zu welchem Zweck und auf welcher Grundlage dies erfolgt, kann anhand einer Zusammenfassung der Interviewaussagen illustriert werden. Innerhalb des aufzubauenden Kontaktnetzwerks stellen (a) Kollegen und (b) Akteure, die als potenziell relevante Informationsquellen für die Berichterstattung infrage kommen, die beiden zentralen Bezugsgruppen dar. Mit beiden Gruppen sind jeweils spezifische berufliche Interessen verbunden. Ad a) Ein enger Kontakt zu anderen Journalisten wurde von allen Korrespondenten als fundamental wichtig eingeschätzt. In der Eingewöhnungsphase dient er den
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Neuankömmlingen der Orientierung im komplexen Berufsumfeld EU sowie der Organisation der neuen Berufs- und Lebenssituation in Brüssel. Entwickeln sie frühzeitig Kontakte zu Brüssel-erfahrenen Kollegen, werden sie von ihnen mit lebensund berufspraktischen Hinweisen versorgt (vgl. 6.1.2). Die aufgebauten Kontakte bleiben in der Regel auch nach der Eingewöhnungsphase erhalten, insbesondere dann, wenn sie auch auf privater Beziehungsebene Bestand haben. Später dienen sie dem gleichwertigen Austausch beruflicher Erfahrungen und Einschätzungen. Im Arbeitsalltag haben enge Kontakte zu Kollegen üblicherweise die Funktion des Ausgleichs von Informationsdefiziten bei der Recherche. Er ist Voraussetzung für den wechselseitigen Austausch von Zitaten und O-Tönen oder eine wechselseitige Information über besuchte Veranstaltungen. Der fachliche Ratschlag bzw. die kompetente Auskunft von spezialisierteren Kollegen ist hilfreich, um die Bedeutung von Themen und Ereignissen einzuordnen, das eigene Wissen zu vertiefen und die eigene Perspektive im Gesamtkanon der Berichterstattung zu verorten (vgl. 6.2.3). In privaten Beziehungen wie im beruflichen Alltag überwiegen Kontakte zu Kollegen aus dem eigenen Land.174 Ein Journalist berichtet, dass man zwar üblicherweise eine Reihe von Kollegen anderer Nationen kennt, aber „viele letztlich in ihrem nationalen Kästchen bleiben“ (17:910-917; vgl. auch 25:123-128). Wo transnationale Verbindungen unter den Korrespondenten bestehen, gehen diese in der Regel nicht über einen beruflichen Informationsaustausch hinaus. Ein persönlicher Kontakt zu Kollegen aus anderen EU-Mitgliedsländern ist den meisten Korrespondenten im Berufsalltag wichtig. Er hat aber keine private Beziehungsqualität und einen vergleichsweise geringeren Stellenwert. Die Vernetzung mit Journalisten anderer Nationalitäten dient vor allem dem Ausgleich von Informationsdefiziten bei europäischen Großereignissen wie Gipfel- und Ministerratstreffen. Hier wird die Intransparenz der Ratsversammlungen durch den intensiven transnationalen Austausch über die in den jeweiligen nationalen Briefings vermittelten Positionen aufgehoben. Ein guter Kontakt zu Kollegen anderer Länder ist ebenfalls relevant, wenn es bei Themen mit europäischer Reichweite um zusätzliche Informationsbeschaffung durch Übersetzung von anderssprachigen Dokumenten oder um die Diskussion und Erläuterung landesspezifischer Ansichten und Positionen geht. Während Verbindungen zwischen Kollegen der eigenen Nationalität durch die Kombination aus pragmatischen Berufsinteressen und sozialen Beziehungen deutlich enger sind, steht der berufliche Austausch mit Kollegen anderer Nationalitä-
174 Eine Sonderposition nehmen Journalisten aus Österreich und der Schweiz ein. Sie sprechen die gleiche Sprache und stehen aufgrund der kulturellen Nähe eng mit dem deutschen Pressekorps in Verbindung (4:356f.; 399-405).
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ten dominant unter dem Vorzeichen pragmatischer Berufsinteressen. In beiden Fällen setzt die Vernetzung zum Austausch berufsrelevanter Informationen eine wechselseitig hohe Kompetenzeinschätzung der Journalisten voraus. Ad b) Für Journalisten ist darüber hinaus eine Vernetzung mit gesellschaftlichen Entscheidungsträgern als für die Berichterstattung potenziell relevanten Akteuren von Bedeutung. Um neben den offiziellen Verlautbarungen der politischen Akteure auf Pressekonferenzen oder mittels Pressemitteilungen an individuell interessante, zitierfähige Aussagen zu kommen, haben sich in Brüssel Hintergrundkreise etabliert (vgl. 6.2.3). Auf der Basis des persönlichen Kontakts und zu festgelegten Geheimhaltungskonditionen erhalten Journalisten wichtige Hintergrundinformationen, Positionen und Entscheidungen. „Also ich kenne es nur so mit Leuten, die man persönlich kennt. Weil Sie brauchen da ja auch ein gewisses Vertrauensverhältnis. Also die Idee von solchen Hintergrundgruppen besteht darin, dass Sie Entscheidungsträger, prominente Leute dazu bekommen, dass sie sich mit Ihnen ohne Mikrofon unterhalten.“ (13:555-560)
Der enge Kontakt zwischen politischen Entscheidungsträgern und Journalisten resultiert aus dem persönlich aufgebauten Vertrauensverhältnis und dem wechselseitigen Nutzen des Kontakts. Wechselseitiges Vertrauen ist insofern die notwendige Grundlage des Informationshandels, als sich der Journalist auf die Qualität der Information verlassen können muss. Im Gegenzug muss sich der politische Akteur auf die Einhaltung der vereinbarten Geheimhaltungs- oder Publizitätsregeln verlassen können. Eine weitere, zunehmend an Bedeutung gewinnende Abmachung kann auch im Austausch von „exklusiver Information“ gegen „exklusive Publizität“ bestehen, wie an der Financial Times gezeigt wurde (vgl. 6.2.1). Neben dem direkten Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern und ihren Pressesprechern ist es für EU-Korrespondenten sinnvoll, einen guten Draht in die Institutionen hinein aufzubauen. Kommissionsbeamte oder Assistenten von Parlamentariern gelten in vielen Sachengebieten als die kompetentesten Informanten, die zu einzelnen Themendossiers wichtige Detail- und Insiderinformationen liefern können. „Wenn ich an den Sachbearbeiter für die Übernahmerichtlinie, an den Beamten, der direkt den Entwurf in der Kommission bearbeitet, rankomme, ist er für mich eine Topquelle; nicht etwa der Sprecher des Kommissars. Für mich ist das der, der die Einzelheiten kennt.“ (21:1204-1208)
Da die Kommissionsbeamten einem strengen Auskunftsverbot gegenüber Journalisten unterliegen, ist hier wechselseitiges Vertrauen noch grundlegender. Nur durch
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
persönliche Gespräche aufgebaute Kontakte ermöglichen den Journalisten langfristig, wichtige Details zu Entwicklungen und Entscheidungen vor ihrer offiziellen Bekanntgabe unmittelbar durch einen Telefonanruf, eine Email oder per sms-Nachricht zu erhalten. Während die Kontakte zu Kollegen kontinuierlich gepflegt werden, sind Beziehungen zu politischen Akteuren, Sprechern und in die Institutionen hinein wesentlich fluktuierender. Sie müssen mit jeder Präsidentschaft und mit jeder Amtsperiode wieder neu aufgebaut werden (29:259-263). Wie für Kollegen gilt auch hier, dass ein Netzwerk aus Akteuren der eigenen Nationalität enger und dauerhafter ist und zudem leichter aufgebaut werden kann als der Kontakt zu Akteuren anderer Mitgliedsstaaten. Fasst man die beschrieben Situationen und Phänomene der Vernetzung zusammen, ergeben sich mit unterschiedlichen beruflichen Zielen auch unterschiedlich intensive Vernetzungsgrade:
Kollegen
Informationsquellen: • Politiker • Beamte • Lobbyisten • andere Akteure
Nationale Vernetzung
Transnationale Vernetzung
sehr intensiv
vorhanden
• private Kontakte • berufliche Kontakte: Informationsaustausch als Eingewöhnungshilfe, fachliche Expertise und Informationsergänzung
• keine bzw. kaum private Kontakte • vorwiegend berufliche Kontakte: Informationstausch zum Ausgleich von Informationsdefiziten der eigenen Berichterstattung
intensiv
selten
• zum Teil private Kontakte • in der Regel berufliche Kontakte: Tausch von Information gegen Loyalität bei vereinbarter Geheimhaltung oder Publizität
• keine privaten Kontakte • ausschließlich berufliche Kontakte: Information aus vorwiegend offiziellen Informationsquellen
Tabelle 10: Vernetzungsgrad und berufliche Ziele der Journalisten
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Zentrales Ziel und beruflicher Nutzen der Vernetzung bestehen für beide beruflichen Bezugsgruppen im Handel mit Informationen. Unter Kollegen werden Informationen zum Zweck der Expertisierung getauscht. Beim Austausch von Informationen zwischen Journalisten und ihren Informationsquellen bestehen die berufsspezifisches Interessen in der Expertisierung auf der einen und in der Zusicherung von Publizität auf der anderen Seite. Die soziale Grundlage der Vernetzung beruht auf wechselseitiger Kompetenzeinschätzung und wechselseitigem Vertrauen. Beide, der berufliche Wert des Tauschverhältnisses und seine soziale Grundlage bestimmen den Grad der Kontaktintensität und werden maßgeblich durch die Nationalität determiniert. Die hohe Bedeutung der eigenen Nationalität ergibt sich aus der Relevanz der Information als Tauschwert. In politischen Routinephasen sind es vor allem diejenigen Kollegen, die ebenfalls den deutschen Medienmarkt bedienen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gleiche Veranstaltungen besuchen und die genauso mit der deutschen Nachrichtenlage und der gerade vorherrschenden öffentlichen Meinung konfrontiert sind. Ihr fachliches Wissen und ihre Einschätzung politischer Positionen sind daher unmittelbar relevant für die eigene Berichterstattung. Dasselbe gilt für deutsche EU-Politiker, die aufgrund ihrer nationalen Rückbindung, die laufende Diskussionen bereits im Hinblick auf deutsche Interessen interpretieren und daher wissen, welche Informationen für Journalisten von Bedeutung sind (vgl. 6.2.1). Der gemeinsame kulturelle Hintergrund begünstigt darüber hinaus die wechselseitige Kompetenzeinschätzung und das wechselseitige Vertrauen. Während die Informationskultur mancher Länder als sehr offen beschrieben wird, vermuten die Journalisten hinter Informationen anderer Quellen häufig propagandistische Interessen politischer Akteure (vgl. Huber 2007: 34). Bei Politikern der eigenen Nationalität fällt ihnen die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von Aussagen leichter, da ihre politischen Motive vor dem gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Hintergrund weniger erklärungsbedürftig sind. Zudem reduziert die Verständigung in der gleichen Muttersprache inhaltliche und soziale Missverständnisse. Nicht zuletzt beruht der Grad der Nähe wie in allen Interaktionssituationen auf sozialen Anknüpfungspunkten und persönlichen Sympathien, die eine Vertrauensbildung begünstigen (23:403-410). Vergleicht man Stellenwert und Art der Vernetzung zwischen der älteren und der jüngeren Journalistengeneration, stellt man zwei wesentliche Unterschiede fest. Das frühere Pressekorps und der politische Apparat waren weitaus kleiner und das Netzwerk dementsprechend engmaschiger als heute. Die Akteure aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten kannten einander gut und waren vielfach miteinander befreundet. Die Journalisten hatten weitaus weniger Kollegen und Ansprechpartner, was in den 1980er Jahren zu nationalen und vielen transnationalen Kontakten führte. Sie ermöglichten mitunter Arbeitsabsprachen über Inhalte und Veröffentli-
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chungszeitpunkte. Heute findet eine Vernetzung der Journalisten untereinander sowie mit ihren Informationsgebern unter anderen Bedingungen statt. Das Pressekorps ist größer und der Wettbewerb um exklusive Veröffentlichungen stärker geworden. Die Interviews verweisen zwar immer noch eine vergleichsweise starke soziale Vergemeinschaftung des Pressekorps und eine intensive Bemühung um persönliche Beziehungen zu Repräsentanten des politischen Systems. Beides geschieht jedoch unter gegenwärtigen Arbeitsbedingungen vor allem aus berufsstrategischem Interesse und mit einer deutlich stärkeren Präferenz für deutsche Akteure. Dabei endet die Kooperation zwischen Journalisten an der Stelle, wo sie um die Exklusivität von Nachrichten kämpfen. Die Loyalität zu nationalen Politikern findet ihre Grenze dort, wo Journalisten Gefahr laufen, mit einer verfrühten Meldung einem politischen Spin zu unterliegen, der von Kollegen als unprofessionell bewertet wird. Die Expertisierung durch Vernetzung und Pflege informeller Kontakte ist eine für Journalisten charakteristische Strategie der individuellen Professionalisierung, da sie unter Wettbewerbsbedingungen eine notwendige Voraussetzung für den Zugang zu exklusiver Information bildet. Obwohl transnationale wie nationale berufliche Beziehungen unter Journalisten in Brüssel einer zunehmenden Formalisierung unterliegen (vgl. dazu Baisnée 2002: 111), sind sie als Strategie der Expertisierung charakteristisch für den Korrespondentenplatz. An keinem anderen Ort sind Journalisten aufgrund der Vielfalt und der regionalen Reichweite von Themen derart auf wechselseitigen Informationsaustausch angewiesen. Die dargestellte Veränderung der Vernetzungsqualität im Brüsseler Pressekorps ist ein Hinweis auf die kollektive Professionalisierung der EU-Journalisten. Wenngleich soziales Vertrauen die Grundlage des Informationshandels bildet, ist ihr Kontakt zu politischen Akteuren zunehmend von professionellem Misstrauen statt von privater Loyalität geprägt, die als ein Zurückdrängen politischer Einflüsse interpretiert werden kann.
6.4.2 Kampf um Deutungshoheit Eine weitere Handlungsstrategie der Professionalisierung, die aus den Aussagen aller Korrespondenten rekonstruiert werden kann, ist der Versuch, zum einen unter der Bedingung einer Konkurrenz zu weltpolitischer und innenpolitischer Nachrichtenlage EU-Themen im eigenen Medium erfolgreich zu platzieren und zum anderen das eigene Wissen und die eigene Perspektive auf die EU-Politik gegen häufig konträre Einschätzungen der Zentralen durchzusetzen. Die im Ringen um relevante Themen und Themendeutungen entstehende Konfliktlinie zwischen Korrespondenten und ihren Heimatredaktionen kann an zwei Beispielen
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illustriert werden: Sichtbar wird dies an der gezielten Instrumentalisierung von Nachrichtenfaktoren für die Themendarstellung, um die Wahrscheinlichkeit ihrer Beachtung zu erhöhen (a). An der zwischen Korrespondent und Zentrale variierenden Attribution von politischer Verantwortung zeigt sich, ob und unter welchen Bedingungen bestimmte Perspektiven in die EU-Berichterstattung eingehen (b). Beides ist abhängig vom Grad der Anbindung der Korrespondenten an die Heimatredaktion und wird im Prozess der Themenkoordination mit ihr ausgehandelt. (vgl. 6.2.2).175 Ad a) Vor dem Hintergrund der spezifischen Merkmalskonstellation von EUPolitik, bestehend aus Komplexität, Bürokratie und Fachterminologie, Langwierigkeit sowie Verschränkung innen- und außenpolitischer Entscheidungsprozesse (vgl. 6.1.2), dem ambivalenten Interesse der Redaktionen und dem unterstellten geringen Interesse und Relevanzbewusstsein des Publikums (vgl. 6.3.2) versuchen Korrespondenten, durch strategische Aufbereitung ihrer Themenbeiträge die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Platzierung im Medium zu erhöhen. So dienen Nachrichtenfaktoren nicht nur als Kriterien der Themenwahl (vgl. 6.2.1), sondern können zugleich für die Themendarstellung instrumentalisiert werden. Für EU-Berichterstattung ist die Herstellung eines Bezugs zu Deutschland von übergeordneter Bedeutung. Die nationale Dimension von EU-Politik kann mit allen weiteren Nachrichtenfaktoren in Verbindung gebracht werden. Im Einzelnen heißt das für die Themendarstellung, • die Relevanz von EU-Politik für Deutschland zu begründen, also darzustellen, warum etwas für Deutschland bedeutsam ist • die für EU-Politik charakteristische Dauer zu kompensieren, also vorzeitig darzustellen, wann etwas für Deutschland relevant wird • Prominenz zu erzeugen, also deutsche Politiker und EU-Politiker heranzuziehen, die sich zur EU-Politik äußern
175 Der Kampf um Deutungshoheit als Professionalisierungsstrategie ist durchaus anschlussfähig an den kommunikationswissenschaftlichen Forschungszweig, der das „framing“ von Nachrichten durch Journalisten untersucht. Deutungsrahmen, sog. „frames“, sind grundlegende Wahrnehmungsmuster, die der Einordnung von Sachverhalten und Ereignissen dienen und maßgeblich für die Ausrichtung sozialen Verhaltens sind; vgl. grundlegend Goffman (1996). Sie geben vor, welche Aspekte eines Gegenstands wichtig und welche Perspektiven auf den Gegenstand angemessen erscheinen (Benford/Snow 2000; Gamson/Modigliani 1989), ob Themen grundsätzlich als Probleme zu definieren sind, welche Schuldigen dafür bestimmt werden und welche Lösungen dafür infrage kommen (Entman 1993; Gerhards 1992). Die Gestaltung von Meldungen nach ihren Nachrichtenwerten und die Zuschreibung von Verantwortung sind Bestandteile des journalistischen „framebuilding“.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
• die für EU-Politik komplexe Struktur auf die deutsche Dimension zu reduzieren oder auf eine Konfliktkonstellation, in die Deutschland oder deutsche Akteure involviert sind, zu vereinfachen • zu personalisieren, also zu zeigen, welche deutschen Akteure eine Rolle spielen und • zu visualisieren, also zu zeigen, wie deutsche Akteure von EU-Politik betroffen sind. Die Relevanz ist der für EU-Politik zentrale Nachrichtenfaktor, da jede EU-Verordnung in jedem EU-Mitgliedsland unmittelbar wirksam wird und jede EU-Richtlinie früher oder später in ein nationales Gesetz umgesetzt werden muss. Mit zunehmender europäischer Integration gehen mittlerweile 60 bis 80% der nationalen Gesetzgebung auf einen europäischen Ursprung zurück. Zudem umfasst sie mittlerweile nicht nur Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern regelt auch andere Gesellschaftsbereiche. Da die steigende Relevanz von EU-Politik aber weder für die nationale Öffentlichkeit noch für manche Redaktionen offensichtlich ist, müssen die Korrespondenten „Argumente für ihr Thema finden“ (2:216; vgl. auch den stärkeren Begründungszwang in 6.3.2). So müssen sie nicht nur die Tatsache, dass, sondern auch das Ausmaß, inwieweit Deutschland von EU-politischen Entscheidungen betroffen ist, in ihrer Berichterstattung deutlich machen. Die Relevanz von EU-Themen wird für Rezipienten nämlich erst dann einleuchtend, wenn ihnen als Bürger oder Verbraucher vermittelt wird, was das jeweilige EU-Thema für sie bedeutet und welche Folgen auf europäischer Ebene getroffene Entscheidungen für sie haben (2:217-222). Damit eng verbunden ist der Nachrichtenfaktor Dauer, demzufolge punktuelle Ereignisse einen hohen und Langzeitereignisse einen niedrigen Nachrichtenwert besitzen. Bislang war EU-Berichterstattung überwiegnd an Ereignissen orientiert. Da sich europäische Gesetzgebungsprozesse in der Regel über lange Zeiträume erstrecken, wurden die einzelnen Stadien in der Medienberichterstattung kaum berücksichtigt (vgl. auch Defizite von EU-Berichterstattung in 6.3.3). Mittlerweile versuchen die Korrespondenten immer häufiger, möglichst frühzeitig auf europäische Entwicklungen und ihre potenziellen Auswirkungen auf Deutschland aufmerksam zu machen (7:118-134; 28:259-264). Auf diese Weise wirken sie der für EU-Politik charakteristischen Langfristigkeit entgegen, machen die Relevanz von Richtlinien für Deutschland schon in ihrem Entstehungsprozess auch für ein breiteres Publikum begreifbar und steigern somit ihren Nachrichtenwert. Auch der Nachrichtenfaktor Prominenz weckte bislang in der EU-Berichterstattung selten Aufmerksamkeit. Um aber dem Wechselspiel zu entkommen, dem-
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zufolge EU-Akteure auch deshalb unbekannt sind, weil niemand über sie berichtet, wählen Korrespondenten vorzugsweise deutsche Akteure als Informationsquellen oder zur Kommentierung bestimmter Entwicklungen. So versuchen sie, dem deutschen Publikum eine Identifikationsmöglichkeit zu geben und die Prominenz deutscher EU-Politiker zu steigern, auch wenn es sachlich nicht unbedingt geboten ist, wie folgendes Zitat belegt: „Und manchmal ist der Bezug zu Deutschland personell bezogen völlig blödsinnig. So sagte die Redaktion als die Türkei-Gespräche angefangen haben: ,Mach doch ein Interview mit Herrn Verheugen!‘ Ich sagte: ,Der ist doch gar nicht mehr Erweiterungskommissar.‘ – ,Ach so! Macht doch nichts! Mach es trotzdem, den kennt man doch trotzdem noch als Erweiterungskommissar!‘ Ich dann: ,Aber der redet nicht mehr über Erweiterung, die ist ihm jetzt egal! Der macht jetzt was ganz anderes!‘ – ,Frag doch! Frag doch!‘ Hat er natürlich nicht gemacht, war ja klar. Aber in der Redaktion ist das nationale Denken viel verfestigter als hier bei uns. Das merke ich auch, wenn es um Parlamentsthemen geht. Sobald das ein deutscher Abgeordneter ist, den man auch noch so ein bisschen kennt – toll! Ich würde viel lieber einen Griechen fragen, weil ich weiß, der hat davon viel mehr Ahnung. Aber das darf ich eigentlich nicht, weil er halt nur ein Grieche ist.“ (16:357-373)
Unter Korrespondenten audiovisueller Medien ist damit zudem die pragmatische Überlegung verbunden, dass Statements deutscher Akteure für das deutsche Publikum nicht übersetzt werden müssen. Um ihnen zu mehr Prominenz zu verhelfen, bieten die Korrespondenten den Redaktionen anlassbezogen immer häufiger ergänzende Porträts an, die EU-Kommissare oder EU-Parlamentarier durch Darstellung ihrer Biografie und ihrer politischen Funktion von ihrer menschlichen Seite zeigen. Auch den Faktoren Konflikt und Struktur wurde bisher ein geringer Nachrichtenwert zugeschrieben. Im Vergleich zur nationalen Politik, für die die konfliktgeladene Konstellation von Regierung und Opposition charakteristisch ist, sind Konflikte in der europäischen Politik anders strukturiert. Die Kommission vertritt nach dem Kollegialitätsprinzip ihre Positionen grundsätzlich kollektiv, sodass interne Auseinandersetzungen in der Regel nicht nach außen dringen. Durch die Abwesenheit einer Opposition arbeitet das Europäische Parlament stärker sachorientiert und weniger an den klassischen Konfliktlinien der Parteien entlang. Kontroversen in den Sitzungen des Europäischen Rates und der Ministerräte finden hinter verschlossenen Türen statt und sind daher keiner direkten Beobachtung durch die Medien ausgesetzt. Da nach der allgemeinen Medienlogik Themen umso eher Beachtung finden, je einfacher sie strukturiert und je konfliktgeladener sie
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
sind, war aufgrund der komplexen Struktur und der Abwesenheit von Konflikten mit EU-Themen ein geringer Nachrichtenwert verbunden. Doch die Merkmale von EU-Politik haben sich verändert. Entscheidungsfindungen setzen mittlerweile eine Abstimmung zwischen 27 Ländern voraus und führen im Zuge gewachsener Integrationsdichte mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Interessenkonflikten. Grundsatzfragen wie die Diskussion um Fragen der Erweiterung oder die Verfassungsdiskussion sind von großer Tragweite für die einzelnen Mitglieder und den Zusammenhalt der Union. So sind mit Erweitung der EU und verstärkten Diskussionen politischer Grundsatzfragen Konflikte als nachrichtenrelevante politische Ereignisse wahrscheinlicher geworden. Allerdings ist ein EUThema ohne ausreichende Hintergrunderklärung oder wiederholte Darstellung dessen, was beispielsweise den Rat in seinen Befugnissen von der Kommission unterscheidet, für das Medienpublikum nach wie vor nur schwer verständlich. Daher besteht die Strategie der Korrespondenten darin, EU-Themen durch Erläuterungen zu veranschaulichen und sie „national herunterzubrechen“ (11:337; 12:702; 22:124; vgl. 6.3.1 und Anschaulichkeit als Qualitätskriterium in 6.3.3). Das bedeutet, die komplexe Struktur europäischer Themen durch Reduktion des Darstellungsfokus auf nationale Bezüge zu vereinfachen. Hilfreich ist für die Korrespondenten, wenn es sich nicht ohnehin aus der Akteurskonstellation ergibt, auch innerhalb abstrakter politischer Auseinandersetzungen die Konfliktposition deutscher Akteuren herauszuarbeiten. Eine veränderte Darstellungsstrategie wird auch in den „zaghaften Versuchen der Personalisierung“ (2:609) von EU-Themen in der Routineberichterstattung deutlich. Während früher Entscheidungen der EU-Kommission berichtet und mit Bezug auf Kommissare oder Beamte als den Verantwortlichen dargestellt wurden, werden sie heute häufiger in den Zusammenhang der Betroffenen gestellt. Auch in diesen Fällen ist die Deutschland-Dimension relevant, indem die Auswirkungen auf verschiedene Gesellschaftsbereiche an den Bürgerinnen und Bürgern auf nationaler Ebene deutlich gemacht werden (10:282-294; 22:116-125). Für die Arbeitsweise von Fernsehkorrespondenten ist zudem charakteristisch, dass sie ihre Meldungen mit ansprechenden themenbezogenen Bildern ergänzen, die beim Publikum Emotionen wecken sollen. Um die über einen langen Zeitraum typische Visualisierung von EU-Nachrichten durch die Darstellung von Menschen in grauen Anzügen und gläsernen Gebäuden zu vermeiden, liefern sie Bilder, in denen die Betroffenheit Deutschlands durch deutsche Bürger oder Regionen optisch umgesetzt wird. Ad b) Der Kampf um Deutungshoheit zwischen Korrespondenten und Zentrale vollzieht sich in besonderem Maße im Feld der Attribution von politischer Verantwortung, also der Deutung, wer für EU-politische Entscheidungen ursächlich verantwortlich ist. Ebenso wie aus den zwischen Korrespondenten und Re-
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dakteuren existierenden Wahrnehmungsunterschieden von EU-Politik (vgl. 6.3.1 und 6.3.2) resultieren hieraus Aushandlungsprozesse um die Durchsetzung der „richtigen“ Zuschreibung, die man als individuelles Professionalisierungsziel der Journalisten betrachten kann. Anhand einer länder-, zeit- und medienvergleichenden Inhaltsanalyse von EUBerichterstattung haben Gerhards/Offerhaus et al. (2007; 2009) die Zuschreibungsund Bewertungsmuster von politischen Entscheidungen in den und durch die Medien untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten ein doppeltes Spiel betreiben, indem sie sich selbst als Urheber von politischen Erfolgen herausstellen, aber vielfach Entscheidungen des Rates als Misserfolge kritisieren und so der EU als „Sündenbock“ anlasten, obwohl sie diese selbst ursächlich mit zu verantworten haben. Korrespondenten wie Redakteuren ist dieser Zusammenhang durchweg bekannt; sie können ihn mit zahlreichen Beispielen belegen. Dennoch zeigen die Ergebnisse der Inhaltsanalyse, dass die Medien das „Täuschungsmanöver der nationalen Politik“ (19:342f.) weitgehend reproduzieren. Innerhalb des Untersuchungszeitraums von zehn Jahren schlug sich weder die durch verschiedene Studien belegte verstärkte Öffentlichkeitsarbeit der EU-Kommission (Brüggemann 2008; Hoesch 2003; Loitz 2001; Gramberger 1997) in der Berichterstattung nieder, noch konnte eine zunehmende interpretative Eigenleistung oder Korrekturfunktion der Medien festgestellt werden (vgl. Gerhards/Offerhaus et al. 2009: 554). Worauf kann dieser Widerspruch zurückgeführt werden? Warum spiegelt sich die Expertise der EU-Journalisten nicht in der Berichterstattung wider, geht man davon aus, dass sie um die Entstehungsprozesse EU-politischer Entscheidungen wissen? Wie die Sündenbockrolle der EU zustande kommt und warum sie sich unter nationalen Politikern so hartnäckig hält, begründen die Korrespondenten mit der strukturellen Position der politischen Akteure. In der Tatsache, dass alle Politiker auf nationaler Ebene unmittelbar wählerabhängig sind, sehen die Korrespondenten den „tief sitzenden Reflex, Brüssel immer für alles verantwortlich zu machen“ (10:375; vgl. auch 7:775-784; 10:379-411; 17:587-607). Diese in der Politik gängige Kommunikationsstrategie ermöglicht, von eigenen Fehlleistungen abzulenken und unpopuläre Entscheidungen anderen anzulasten, um die eigene positive Selbstdarstellung und die Wählergunst zu bewahren. Umgekehrt ermöglicht sie, mit Erfolgszuschreibungen an die eigene Person Wählersympathien zu gewinnen. Dass das „blame-game“ von den Nationalstaaten nach wie vor erfolgreich gespielt wird, liegt in der Komplexität des politischen Mehrebenensystems begründet. Die Verantwortung, so die Journalisten, kann immer dann von einem Akteur auf einen anderen geschoben werden, wenn Prozesse unübersichtlich sind und „keiner dabei gewesen ist, der schreit: Es war aber anders!“ (24:1046-1052).
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An dieser Stelle machen die Brüsseler Korrespondenten einen Unterschied zwischen ihrer Arbeit und der ihrer Kollegen auf nationaler Ebene sowie zwischen verschiedenen Medien. Für sie selbst sind die EU und ihre politischen Entscheidungsprozesse auf der Basis ihres professionellen Wissens durchschaubar. Sie beschreiben die EU, wenn auch mit Abstufungen zwischen den einzelnen Institutionen, aber gerade im Vergleich zur deutschen Bundesregierung oder anderen Behörden, als ein „vergleichsweise offenes Buch“ (17:520, vgl. auch Offerhaus 2008b). Dass die Intransparenz des Europäischen Rats durch transnationale Zusammenarbeit der Korrespondenten zumindest ansatzweise offen gelegt werden kann und sich der Zugang zu offiziellen EU-Dokumenten bis hin zur umfassenden Einsicht in die politischen Prozesse verbessert hat, wurde in Abschnitt 6.2.3 gezeigt. Ein grundlegendes Problem sehen die EU-Korrespondenten daher in der auf nationaler Ebene verbreiteten Unwissenheit über europäische Politikprozesse, die sowohl unter vielen Journalisten in den Heimatredaktionen als auch unter den Bürgern vorhanden ist. Der Charakter des Institutionensystems als ein „abstraktes Gebilde mit abstrakten Tätigkeiten und abstraktem Output“ (31:212) und das Argument, dass „Brüssel so schön weit weg ist“ (24:930-933), begünstigen vor dem Hintergrund eines mangelhaften Wissens über politische Zusammenhänge die starke Kraft von Vorurteilen und die Nachhaltigkeit der zahlreichen Europa-Mythen. Insofern schließt die Sündenbockfunktion bzw. das von den Korrespondenten als „Brüssel-bashing“ bezeichnete strategische Handeln der politischen Akteure erfolgreich an die öffentliche Wahrnehmung der Kommission an, die durch das „Allmachtsimage eines anonymen Beamtenapparats“ geprägt ist (3:539-555). Wenngleich unter den Journalisten die öffentliche Skandalisierung der EU als zentrales Phänomen der Boulevardmedien ausgemacht wird, kommt es auch in anderen Medien zu abweichenden Einschätzungen von Erfolg und Misserfolg europäischer Entscheidungen. Innerhalb der Qualitätsmedien variieren die Deutungen zwischen Korrespondentenbüro und Zentrale sowie zwischen den in Brüssel und den in Berlin arbeitenden Korrespondenten. Positionieren sich Regierungsvertreter mit EU-politischen Themen auf nationaler Ebene, haben die Hauptstadtkorrespondenten nahezu keine Möglichkeit, negative Zuschreibungen an die EU zu enttarnen. Ihr Informationsinput besteht aus den tagesaktuellen Äußerungen der politischen Akteure auf nationaler Ebene. Die Brüsseler Korrespondenten hingegen, die die Entwicklung von EU-Themen langfristig verfolgen und auf dem internationalen Akteursparkett die Möglichkeit haben, auf weitere Informationsquellen zurückzugreifen, unterliegen vergleichsweise weniger der Gefahr, sich allein auf die Äußerungen nationaler Akteure zu verlassen.
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„Da gibt es so eine Erfahrung bei den Fischer-Leuten auf dem EU-Gipfel ‘99 in Helsinki (…). Da hat das Auswärtige Amt gesagt: Irgendwie ticken die beiden Journalisten-Biotope vollkommen unterschiedlich. Die Berliner schreiben viel leichter das, was wir ihnen einflüstern. Die Brüsseler haben dann Gegenfragen – der Minister hat sich geärgert wegen dieser Fragen.“ (6:396-404)
Die Darstellung des Sündenbock-Phänomens aus der Sicht der Korrespondenten zeigt, dass es offensichtlich Wahrnehmungsunterschiede zwischen ihrer Position auf europäischer Ebene sowie Mediendarstellung und öffentlichen Meinung auf nationaler Ebene gibt. Bestünde das professionelle Ziel von EU-Journalisten darin, die Misserfolgszuschreibung an die EU zu korrigieren und diese Perspektive auch durchzusetzen, müssten sie einerseits den Zentralen und andererseits durch erläuternde Darstellungen in der Berichterstattung klarmachen, wie die relevanten Zuständigkeiten im jeweiligen Fall verteilt waren bzw. dass in vielen Fällen die eigene Regierung an der Initiierung von später kritisierten Richtlinien beteiligt war. Im Grundsatz betonen Korrespondenten wie Redakteure, dass sie „natürlich“ versuchen, in ihrer Berichterstattung dem „Brüssel-bashing“ der nationalen Politiker entgegenzuwirken (2:538). Für viele Einzelfälle wird dieser Grundsatz jedoch abgeschwächt. Mit Verweis auf die persönliche Berufserfahrung wird einschränkend bemerkt, dass es nicht möglich sei, gegen die eigene Redaktion und die öffentliche Wahrnehmung anzuschreiben: „Ich denke, man sollte die Medien da nicht überschätzen“ (4:275f.). Der Redakteur einer Qualitätszeitung wehrt solche Ansprüche ebenfalls ab: „Als informationsvermittelnde Tageszeitung sollten man versuchen, dem Leser so gut wie möglich darzustellen, was am Tag vorher passiert ist“ (5:214-219). Entsprechend ihrer neutralen, informationsvermittelnden Funktion in der tagesaktuellen Berichterstattung zitieren Journalisten daher aktuelle Äußerungen nationaler Politiker, aber bringen sie nicht oder nur selten mit länger zurückliegen Äußerungen oder politischen Entscheidungen in Verbindung. Ein Journalist beschreibt zudem das Problem, dass einem verzerrten Bild Vorschub geleistet werde, indem ergänzenden Kommentierungen, die der Gegendarstellung dienen könnten, durch ihre randständige Platzierung und Kürze ein geringerer Stellenwert innerhalb des Mediums zugewiesen wird (1:630-660). So relativieren die EU-Journalisten den Einfluss der Medien und ziehen medieninterne Gründe heran, die ein journalistisches Gegensteuern verhindern. Korrespondenten sehen sich darüber hinaus mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ihre Kollegen auf nationaler Ebene auf andere Informationsquellen zurückgreifen und stark von der öffentlichen Meinung geprägt sind. Gerade deshalb sind sie darum bemüht, ein EU-Thema auch dann weiter journalistisch zu beglei-
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
ten, wenn es auf nationaler Ebene plötzlich an Aufmerksamkeit gewinnt, weil es dort von nationalen Akteuren aufgegriffen wurde. „Es (das Thema: Dienstleistungsrichtlinie) blieb weiter in meiner Hand. In dem Fall allerdings war es schon so, dass ich in der Anfangsphase ein paar Tage kämpfen musste, dass das aus Brüssel gemacht wurde, eben weil dann plötzlich in Berlin ein, zwei Redakteure darauf angesprungen sind. Das hat relativ gut funktioniert. Es bedurfte ein, zwei Gespräche, aber letztlich war es dann so, dass wir die gesamte Berichterstattung über die Richtlinie aus Brüssel bespielt haben.“ (8:225-232)
Allerdings gelingt dies in der Regel nur Korrespondenten, die in engem Kontakt mit ihren Redaktionen stehen. In den meisten Fällen wechseln mit einer Verlagerung der Ortsbezüge von Berichterstattungsanlässen auch die journalistischen Zuständigkeiten. Die Definition der Europäischen Kommission bzw. der EU als Sündenbock ist offensichtlich seit jeher ein Phänomen, das von nationalen Politikern praktiziert und in der Medienberichterstattung reproduziert wird. Wolfgang Klein, der zwischen 1979 und 1985 Fernsehkorrespondent in Brüssel war, berichtet (1985: 48) für seinen Tätigkeitszeitraum, dass die von nationalen Politikern aufgebaute Sündenbockrolle nicht nur deren Interesse entsprach, sondern auch dem der Korrespondenten entgegenkam. Denn nur sie „hievte“ außerhalb der Berichterstattung über Gipfeltreffen Konfliktthemen in die Hauptnachrichtensendung. Während journalistische Negativzuschreibungen den Korrespondenten früher dazu dienten, überhaupt wahrgenommen zu werden, scheint die Durchsetzung einer korrigierenden Darstellung heute an den Strukturbedingungen der Berichterstattung zu scheitern. Da Journalisten an der Tagesaktualität orientiert sind und so aktuelle Äußerungen höher gewichten als lange zurückliegende politische Handlungen und da sie deutsche Politiker anderen europäischen Politikern als Quellen vorziehen, reproduzieren sie die Sündenbockrolle so lang, wie Politiker darin den Spielraum der Komplexität der Zusammenhänge, die Langwierigkeit der Prozesse und die damit verbundene Diskontinuität der EU-Berichterstattung für ihre Selbstdarstellung ausnutzen. Inwieweit Redakteure das Spiel enttarnen, hängt von ihrem Wissen und ihrem Willen ab, dies durch entsprechende Kommentierung zurechtzurücken. Korrespondenten kommen aufgrund ihrer Position seltener in die Lage, Kommentare zu schreiben, in denen sie die Verantwortlichkeiten klären können (so auch Krause, 1991: 25). Zudem sind Kommentierungen von EU-Themen in den Medien seltener und weniger prominent platziert. Schließlich orientieren sich Chefredakteure in den Zentralen am nationalen Stimmungsklima, das wiederum stark von aktuellen Äußerungen der nationalen Politik bestimmt ist, so dass sie
6.4 Strategien journalistischer Professionalisierung
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konträren Korrespondentendarstellungen gegenüber vergleichsweise skeptisch sind. Trotz Expertisierung der Korrespondenten, die durch ihr Wissen die strategische Kommunikation der Politiker enttarnen, scheitert ihre Inszenierung im Sinne der Durchsetzung ihres Wissens in der EU-Berichterstattung demnach an der Medienlogik und insbesondere an der Haltung der „Gatekeeper“ in den Heimatredaktionen.176 Insgesamt machen die systematische Instrumentalisierung von Nachrichtenfaktoren und das Ringen um die ‚richtige’ Zuschreibung von politischer Verantwortung deutlich, dass Korrespondenten versuchen, die Themenwahl und -deutung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Gerade weil EU-Themen und Ereignissen üblicherweise ein geringer Nachrichtenwert zugeschrieben wird, geben die Interviews Hinweise darauf, dass EU-Journalisten offensichtlich gelernt haben, das Fehlen von Nachrichtenfaktoren bzw. geringe Nachrichtenwerte bewusst zu kompensieren. Die Herstellung eines Deutschland-Bezugs ist für EU-Journalisten ähnlich wie für andere Auslandskorrespondenten eine ganz zentrale Präsentationsstrategie ihrer Beiträge (vgl. für Polen-Korrespondenten Siemes 2000: 183ff.).177 Auch das Ringen um die ‚richtige’ Zuschreibung von politischer Verantwortlichkeit illustriert den Kampf um unterschiedliche Deutungen europäischer Politik, der zwischen politischen Akteuren der nationalen und europäischen Ebene ausgetragen wird und sich in der Berichterstattung fortsetzt. Die Langwierigkeit politischer Prozesse auf europäischer Ebene, die im Gegensatz zur kurzfristigen tagesaktuellen Berichterstattung steht, ermöglicht Politikern, aktuelle Äußerungen zu tätigen, ohne mit früheren Positionen in Verbindung gebracht zu werden. Je nach Ebene des Informationsinputs resultieren daraus in der Berichterstattung Bewertungen der politischen Akteure und Sachverhalte, die zwischen Brüsseler Korrespondenten und Berliner Hauptstadtkorrespondenten bzw. Brüsseler Korrespondenten und Zentralen unterschiedlich ausfallen und in den seltensten Fällen medien-intern korrigiert werden. Diese Form der Inszenierung reicht jedoch nicht immer aus, um unter den Bedingungen nationaler und internationaler Nachrichtenkonkurrenz EU-Themen erfolgreich zu platzieren und vermeintlich „richtige“ Bewertungen durchzusetzen.
176 Ob den Korrespondenten selbst bei besserem Wissen um solche Zusammenhänge die Überzeugungsarbeit gegenüber der Redaktion misslingt, oder ob sie die nationale Perspektive der Zentrale bereits antizipieren und ihre Berichterstattung daraufhin ausrichten, kann anhand der Interviews nicht rekonstruiert werden. Hierzu ist ein inhaltsanalytischer Vergleich von Korrespondenten- und Redakteursartikeln aufschlussreich (vgl. Offerhaus 2010b). Auch Baisnée verwies schon darauf, dass es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen dem, was EU-Journalisten über bestimmte politische Dinge wissen, und dem, wie sie darüber schreiben (Baisnée 2002: 115) 177 Lingenberg et al. (2010) kommen bei ihren Länderstudien zum gleichen Befund, den sie zur Kennzeichnung dieser journalistischen Arbeitspraktik zusammenfassend als „doing nation“ betiteln.
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Aufgrund der Wahrnehmungsunterschiede zu den Redaktionen sind die Korrespondenten bei der Durchsetzung von Definitionsmacht unterschiedlich erfolgreich. Um ihre Definitionsmacht auszubauen, müssen sie in den Redaktionen Überzeugungsarbeit leisten. Ein wesentlicher Anteil bei der Durchsetzung von Themen und Deutungen liegt daher in den Aushandlungsprozessen zwischen ihnen und ihren Ansprechpartnern in den Zentralen. Je enger Korrespondenten an die Heimatredaktion angebunden sind und je besser und frühzeitiger es ihnen gelingt, die Reichweite und Bedeutung Europa-politischer Themen gegenüber der Heimatredaktion zu inszenieren, desto eher schaffen sie es auch, Themen mit vermeintlich geringerem Nachrichtenwert im Medium zu platzieren. In der Durchsetzung ihrer Perspektive sind Korrespondenten umso erfolgreicher, je besser sie die Vorgeschichte bestimmter Ereignisse oder die Position europäischer Akteure plausibel machen können. So verwundert es nicht, dass es besonders Korrespondenten mit engem Kontakt zur Zentrale wie im Fall von Qualitätsmedien möglich ist, eine solche Überzeugungsarbeit zu leisten.178 Dennoch stößt das strategische Handeln der EU-Korrespondenten an strukturelle Grenzen. Während die internationale Nachrichtenlage ein wichtiger Faktor ist, der trotz Instrumentalisierung der Nachrichtenfaktoren die Durchsetzung von EU-Themen verhindert, wird die Durchsetzung bestimmter Deutungen durch das starke Gewicht der an Tagesaktualität orientierten Berichterstattung sowie durch die mangelnde Abstimmung zwischen den verschiedenen Berichterstattungsplätzen begrenzt. Darüber hinaus gilt für beide Aspekte generell, dass die gewichtige Rolle der Zentralredaktion als „gatekeeper“ und ihre dominante Orientierung an gesellschaftlichen Resonanzen maßgebend für die Durchsetzung von Themen und ihren Deutungen sind.
6.5 Zusammenfassung und Fazit Im Blick auf die Professionalisierung des EU-Journalismus zeigen die Ergebnisse auf Akteursebene ein ähnliches Bild wie die Entwicklungen auf der Organisationsebene. Die Europäisierung der Politik im Rahmen des Integrationsprozesses hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und das professionelle Handeln von Journalisten. Auf struktureller Ebene ging mit der Bedeutungszunahme der EU ein
178 Dieser Zusammenhang kann auch in umgekehrter Richtung interpretiert werden: Der Korrespondent ist deshalb besonders nahe an die Zentrale angebunden, weil das Medium ohnehin ein großes Interesse an EU-Berichterstattung hat und entsprechend offen für die Themen und Positionen des Korrespondenten ist.
6.5 Zusammenfassung und Fazit
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Auf- und Ausbau von Korrespondentenbüros und damit eine deutliche Vergrößerung des Pressekorps in Brüssel einher. Die Erweiterung und Vertiefung der Union führte zu einer Zunahme von politischen Akteuren als relevanten Informationsquellen sowie zu einer wachsenden Zahl potenziell berichterstattungsrelevanter Ereignisse. Für die Journalisten bedeutet die zunehmende Relevanz des EU-Themas, die sich an der Aufwertung des Korrespondentenplatzes Brüssel in den Heimatredaktionen und an der wachsenden Anzahl zu veröffentlichender Artikel bemessen lässt, einen zunehmenden Wettbewerb. Sie beschreiben ihr professionelles Handeln gegenwärtig als von einem massiven Aktualitäts- und Konkurrenzdruck geprägt, der den allgemeinen „run“ nach exklusiven und möglichst frühzeitig zu veröffentlichenden Meldungen befördert und zugleich tiefergehende Recherchen sowie eine ausführliche Hintergrundberichterstattung verhindert. Schließlich führte die Digitalisierung als technischer Fortschritt im Bereich der Datenverarbeitung und -verbreitung sowie im Bereich der elektronischen Kommunikation zu einer Verdichtung und Beschleunigung des Informationshandels. Sie schuf engere Verbindungen zwischen Journalisten und ihren Informationsquellen ebenso wie eine engere Anbindung an die Heimatredaktion. Die Europäisierung der Politik und damit einhergehende Kommerzialisierung von EU-Nachrichten sowie die Digitalisierung von Kommunikations- und Informationstechnologien veränderten das professionelle Handeln der Korrespondenten auf individueller Ebene im Umgang mit den EU-Institutionen als ihren zentralen Informationsquellen wie auch mit ihren Kollegen und Heimatredaktionen. Das Verhältnis der Korresponden zu den EU-Institutionen ist bis heute von der jeweils vorherrschenden politischen Stimmungslage im europäischen Integrationsprozess geprägt. Sie bestimmt das Verhalten der Institutionen gegenüber den Journalisten und prägt andererseits die Haltung der Journalisten gegenüber den Institutionen. In den 1980er Jahren, der Zeit des politischen Stillstands der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG), nahmen die Korrespondenten die Rolle der Aufklärer und Verteidiger des politischen Systems ein. Sie identifizierten sich mit den Zielen der Gemeinschaft und verstanden sich als Beförderer der europäischen Idee. Für diese Zeit ist eine enge Beziehung zwischen Korrespondenten und politischen Akteuren charakteristisch. Sie machte sich unter anderem daran fest, dass es den Journalisten des damals wesentlich kleineren Pressekorps jederzeit möglich war, EU-Kommissare persönlich anzusprechen. Das tägliche Mittagsbriefing der Kommission war zudem die nahezu einzige offizielle und somit zentrale Informationsquelle. Der politische Einschnitt, der das Verhältnis der Korrespondenten zu ihrem Berichterstattungsobjekt veränderte, stellt der Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1992 dar. Mit Vertragsschluss übertrugen die Mitgliedsstaaten Souveränitätsrechte auf die nun als Union organisierte europäische
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6 Berufliches Handeln und die Professionalisierung auf Akteursebene
Staatengemeinschaft, die vorher ausschließlich auf nationaler Ebene lagen. Die Verhandlungen um Maastricht spaltete die politische Einstellung der Korrespondenten in „EUphoriker“ und eine wachsende Zahl von „EU-Skeptikern“, die die gängigen Ängste vor EU-Zentralismus, überbordender Bürokratie sowie Machtaneignung und -missbrauch thematisierten. Nicht nur Berichte über die EU, sondern auch ihre Haltung gegenüber der EU wurde kritischer (vgl. auch Mükke 2004: 14). Ein Zeichen für grundlegende Veränderungen im Verhältnis zwischen EUInstitutionen und Pressekorps war der durch „transnationale Skandalisierung“ (Meyer 2002b: 111) verursachte Rücktritt der Santer-Kommission im Jahre 1999. Die Vergrößerung des Pressekorps hatte eine neue Generation EU-kritischer und investigativ arbeitender Journalisten nach Brüssel gebracht, die die Veruntreuung von EU-Geldern sowie einen Fall von Vetternwirtschaft in der Europäischen Kommission aufdeckten. Auf Seiten der Kommission führte dieses Trauma sowie die in den folgenden Jahren zurückgehende öffentliche Unterstützung in den Mitgliedsländern zu einem massiven Ausbau der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und damit gleichzeitig zu einer größeren Abschirmung der Presse gegenüber EUKommissaren und EU-Beamten. Seither ist die Entwicklung von einer Formalisierung der Pressekontakte gekennzeichnet, mit der eine Verbesserung der Informationsbereitstellung, aber auch eine wachsende Distanz zwischen Politikern und Journalisten einhergegangen ist. Wenngleich der professionelle Umgang mit den EU-Institutionen kritischer geworden und das Verhältnis zu seinen Akteuren deutlich abgekühlt ist (vgl. Stabenow 1997: 17), ging damit kein Bedeutungsverlust persönlicher Beziehungen einher. Im Gegenteil, im Wettbewerb um Nachrichten ist das Bestreben der EUKorrespondenten, zusätzlich zu offiziellen Verlautbarungen durch Hintergrundgespräche und individuelle Treffen wichtige Informationen zu erschließen, ein zentrales Merkmal ihres beruflichen Handelns. Auffällig ist jedoch, dass sie dabei einen zunehmend größeren Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit deutschen EUAkteuren legen. Ihre Informationen und Positionen sind vor dem Hintergrund nationaler Interessen von vorherrschender Bedeutung, da sie die Berichterstattung für das deutsche Medienpublikum attraktiver machen. Zudem ist der Kontakt für die Korrespondenten aufgrund gleicher Sprache und kultureller Gemeinsamkeiten leichter zu erschließen. Lange Zeit galt nicht nur die starke Vergemeinschaftung mit politischen Akteuren, sondern auch die enge länder- und medienübergreifende Zusammenarbeit der Korrespondenten als ein wesentliches Merkmal des Korrespondentenplatzes Brüssel. Anlässlich nicht-öffentlicher Ratstreffen ist der transnationale Informationsaustausch unter Kollegen bis heute essentiell für die journalistische Arbeit. Die seit Mitte der 1990er Jahre veränderte politische Stimmungslage, die
6.5 Zusammenfassung und Fazit
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einsetzende Aufwertung der EU-Politik sowie der Generationswechsel innerhalb des Pressekorps ermöglichten im Zusammenhang des Korruptionsskandals kurzfristig transnationale Recherchen. Eine kleine Gruppe von Korrespondenten aus Medien fünf verschiedener Länder kooperierten in der Informationsbeschaffung und koordinierten ihre Veröffentlichungen dergestalt, dass sie nicht nur die EUKommission unter Druck setzten, sondern auch die Nachrichtenagenda der restlichen Medien bestimmten (vgl. zu den Details Meyer 2002a; Meyer 2002b). Obwohl die Journalisten für national getrennte Medienmärkte arbeiten, konnte sich ein „transnationaler Investigativjournalismus“ im Sinne einer transnationalen Zusammenarbeit bei Recherchen nicht etablieren (vgl. Quatremer 2002). Im Gegenteil, die hier dargelegten aktuellen Entwicklungen deuten auf einen Rückgang des bislang üblichen transnationalen Informationsaustauschs hin. Die Präferenz für nationale Informationsquellen wie auch die rückläufig Zusammenarbeit unter Journalisten sind im Wesentlichen auf den seit Mitte der 1990er Jahre verschärften Wettbewerb um EU-Nachrichten zurückzuführen, der mit einem rasanten Anwachsen des Pressekorps sowie einem zunehmendem Zeit- und Konkurrenzdruck für Journalisten einherging. Während die „nationale Versäulung der Informationsgebung“ (Gerhards 1993: 107) aufgrund länderspezifischer Pressebriefings in Brüssel lange Zeit durch transnationalen Informationsaustausch kompensiert wurde, finden sich bei Presseanlässen immer häufiger nationale Gruppierungen oder solche kulturell ähnlicher Nationen zusammen. Der ursprünglich auch private Beziehungen einschließende Anteil von über die eigene Nation hinausreichenden Kontakten sowie der darauf beruhende selbstverständliche berufliche Informationsaustausch werden durch eine wachsende Anonymität im Pressekorps reduziert. Zudem arbeiten Journalisten unterschiedlicher Nationen in Brüssel nicht mehr konkurrenzlos nebeneinander. Die Jagd nach exklusiven Nachrichten führte zur Entstehung einer brüsselinternen Medienhierarchie und zu einem sich über nationale Grenzen hinweg durchsetzenden Intermedia-Agenda-Setting. Da das lange für Brüssel charakteristische Kollegialschema von Offenheit und Zusammenarbeit immer häufiger von einzelnen Journalisten durchbrochen wird, sehen sie insgesamt davon ab, brisantes Informationsmaterial an Kollegen weiterzugeben. Außerdem sind investigative Recherchen für einzelne Journalisten aufgrund der geringen Personalausstattung im überwiegenden Teil der Medien und des allgegenwärtigen Zeitdrucks kaum mehr möglich. Statt ihre Arbeit arbeitsteilig zu koordinieren, folgen die Korrespondenten im Wettbewerb der überwiegend tagesaktuell berichterstattenden Medien den Themen der politischen Agenda. Schließlich reduziert die starke Orientierung der Korrespondenten am nationalen Bezug von EU-Themen die Notwendigkeit eines transnationalen Informationsaustauschs und das Interesse an gemeinsamen Recherchen. Wollen Korrespondenten EU-Berichte in den Heimatre-
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daktionen erfolgreich platzieren, zählt vor allem der nationale Themenausschnitt der Darstellung, so dass für einen Großteil der Routineberichterstattung länderspezifisches Insiderwissen der Kollegen anderer Nationalitäten von untergeordneter Bedeutung ist. Das Verhältnis der Korrespondenten zu den Heimatredaktionen ist von einer ambivalenten Entwicklung gekennzeichnet. Mitte der 1980er Jahre war das Interesse der leitenden politischen Redakteure an einer kontinuierlichen Berichterstattung über die damalige Europäische Gemeinschaft sehr gering (vgl. dazu Krause 1995). Typische EU-Themen waren technische Fragen der Marktintegration, der Produktharmonisierung und des Außenhandelns, die im Wirtschaftsteil behandelt wurden und arm an Nachrichtenwerten waren. Die wenigen institutionellen Themen erschienen in Artikeln der Außenpolitik. Wegen der geringen Nachfrage der Redaktionen und der vergleichsweise seltenen Kontakte zu ihren Brüsseler Auslandsbüros waren die Korrespondenten in der komfortablen Lage, EU-Beiträge innerhalb sehr großer Zeitspannen zu produzieren. In den darauffolgenden Jahren änderte sich die politische Konstellation nachhaltig: Durch die verschiedenen Erweiterungsrunden dehnte sich der politische Raum der Europäischen Union kontinuierlich aus. Zudem erfasste ihr Einflussbereich durch die Vertiefung ihrer Politik immer mehr Politikbereiche, die ursprünglich national geregelt waren. Der allgemeinen Gleichgültigkeit der 1980er Jahre folgte ein wachsendes Interesse an EU-Politik und ihren nationalen Auswirkungen sowie eine deutliche Erweiterung des Themenspektrums der Berichterstattung. Für die Korrespondenten bedeutete diese Entwicklung einen zunehmenden Arbeitsumfang und eine stärkere Anbindung an die Heimatredaktion. Zugleich brachten der enger werdende Kontakt, die intensivere Beobachtung des Europapolitischen Geschehens auf nationaler Ebene sowie die verstärkte Kontrollmöglichkeit der Zentralen durch die regelmäßigen Meldungen von Nachrichtenagenturen konfligierende Wahrnehmungen hervor. Während für das professionelle Handeln der Redakteure in Berichterstattung, Kommentierung oder Redaktion eine Orientierung an den Äußerungen deutscher Politiker und an der öffentlichen Meinung des deutschen Medienpublikums typisch ist, sind die Korrespondenten mit der Genese politischer Entscheidungen auf europäischer Ebene besser vertraut. Vor diesem Hintergrund bewerten und rechnen sie politische Verantwortlichkeiten anders zu. Inwieweit sie im Konfliktfall ihre Perspektive gegen Unkenntnis, nationale Vorurteile und falsche Schuldzuschreibungen durchsetzen können, hängt von der Verhandlungsbereitschaft der Heimatredaktionen ab, stößt aber in vielen Fällen an Grenzen. Obwohl EU-Themen mittlerweile eine größere Relevanz und damit ein höherer Nachrichtenwert zugeschrieben wird, gelten sie im Vergleich zu außen- und innenpolitischen Themen als langweilig und nur dann als bericht-
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erstattungswert, wenn sie auf nationaler Ebene Resonanz erzeugen. Daher versuchen die Korrespondenten durch die Herstellung nationaler Bezüge die Wahrscheinlichkeit einer Platzierung ihrer Beiträge zu erhöhen. Zudem stehen EUThemen nicht nur in starker Konkurrenz zu Themen mit höherem Nachrichtenwert, sondern sind in ihrer Komplexität per se auch weniger publikumsattraktiv, wenn sie nicht durch ergänzende Erläuterungen verständlicher gemacht werden. So legen Korrespondenten sehr viel Wert auf erläuterende Darstellungen und Hintergrundberichte, die wiederum je nach Medium durch redaktionell definierte Platzrestriktionen begrenzt werden. Die durch Konkurrenz und Anonymität zurückgehende transnationale Vernetzung der Korrespondenten, die im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit bevorzugte Verwendung deutscher Informationsquellen sowie ihr Bemühen um eine starke Herausarbeitung nationaler Bezüge stellen zentrale Erklärungen für die nationale Perspektive in der deutschen EU-Berichterstattung dar. So ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte bzw. wie es normative Vorstellungen von einem die Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit befördernden EU-Journalismus nahe legen, eine europäische Perspektive Hinweis auf einen professionalisierten Journalismus. Sondern unter Wettbewerbsbedingungen ist die Dominanz der nationalen Perspektive offensichtlich ein Resultat des professionellen Handelns und somit Teil des journalistischen Professionalisierungsprozesses. Insgesamt stellt sich die Professionalisierung des EU-Journalismus auf Akteursebene im Wesentlichen als eine Angleichung der Arbeitsanforderungen an das im politischen Journalismus typische Arbeiten unter den Bedingungen von ständigem Zeitdruck, verschärftem medialen Wettbewerb und einer wachsenden Informationsflut dar, denen die Korrespondenten mit einer Anpassung an die dafür charakteristischen Handlungsorientierungen begegnen. So konnte gezeigt werden, dass sie ihre Themen im Rahmen der politischen Agenda wählen und sich dabei an der Nachrichtenwertigkeit von Themen sowie an anderen Medien orientieren. Zur Recherche ihrer Themen pflegen sie enge Kontakte zu ihren Informationsquellen, wobei ihr berufliches Selbstbild stärker von einer neutralen, informationsvermittelnden Funktion als von einem anwaltschaftlich verteidigenden Journalismus gekennzeichnet ist. Damit geht die Markierung einer zunehmend größeren professionellen Distanz der Journalisten im Verhältnis zu ihrem Berichterstattungsobjekt einher, die als Inszenierung des Journalismus gegenüber der Politik interpretiert werden kann. Gegenüber abweichenden Bewertungen von EU-Themen der Heimatredaktionen haben sie Strategien zur Durchsetzung ihrer Themen und Themendeutungen entwickelt. Während die Korrespondenten im Prozess der Routinisierung bzw. Expertisierung ihrer Berufstätigkeit zunehmend nach ihrer beruflichen Eigenlogik handeln und nicht mehr von den Schwerpunktsetzungen der Politik
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bestimmt werden, gelingt ihnen eine solche Eigenständigkeit im journalistischen Handeln gegenüber den Zentralen nicht. Durch die arbeitsteilige Struktur und das hierarchische Verhältnis zwischen Korrespondent und Zentrale wird die Professionalisierung der EU-Korrespondenten von der Zentralredaktion begrenzt. Dass sich der Korrespondentenplatz Brüssel, obgleich seine Veränderungen allgemeinen Handlungsmustern und Trends im Journalismus entsprechen, in einer spezifischen Weise von anderen Korrespondentenplätzen unterscheidet, wurde im Vergleich mit anderen Korrespondentenrollen deutlich: Auf der einen Seite entspricht das Berufsprofil der EU-Korrespondenten im journalistischen Werdegang, in den Berufsroutinen sowie im beruflichen Selbstverständnis in weiten Teilen dem von klassischen Auslandskorrespondenten (zur Funktion vgl. Fischer 1982; zum Begriff und Rechtsstatus vgl. Marx 1982). Festangestellte Auslandskorrespondenten sind üblicherweise formal sehr hoch gebildete, männliche Journalisten, die berufserfahren in ihre Tätigkeit einsteigen (vgl. Junghanns/Hanitzsch 2006: 418ff.; Siemes 2000: 115). Mit dem sich in Brüssel durchsetzenden Rotationssystem ist nicht zwangsläufig eine Korrespondentenkarussellfahrt zu anderen Auslandskorrespondentenplätzen verbunden (vgl. Neudeck 1985: 21), wohl aber immer häufiger die Aufwertung und Fortschreibung einer journalistischen Karriere. Aufgrund der Tatsache, dass die von Nachrichtenagenturen und öffentlicher Meinung beeinflusste Heimatredaktion die entscheidende Selektionsinstanz bildet, die ablauftechnisch nach und hierarchisch gesehen über den Auslandskorrespondenten steht, können EU-Journalisten ebenso wie Auslandskorrespondenten generell nicht bzw. nur in einem eingeschränkten Maß als „gatekeeper“ angesehen werden. Sie versuchen den Kampf um redaktionellen Raum aber zu ihren Gunsten zu gestalten, indem sie über Erfahrungswerte verfügen, aufgrund derer sie bestimmte Themen wählen und durch die Herstellung eines Deutschland-Bezugs bestimmte Themenaspekte betonen (vgl. Siemes 2000: 183ff.). Eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen EU-Journalisten und Auslandskorrespondenten besteht in dem im journalistischen Selbstbild verankerten Erklärungsanspruch. Trotz der grundsätzlich neutralen Informationsorientierung versuchen sie in besonderer Weise, komplexe Zusammenhänge in der Berichterstattung zu erklären und zu interpretieren (vgl. Junghanns/Hanitzsch 2006: 422425). Aus der Positionierung außerhalb der Redaktion folgen schließlich die für Auslandskorrespondenten charakteristische größere Unabhängigkeit im journalistischen Arbeiten und die Zuschreibung einer größeren Sachkompetenz. Beides wird bei EU- wie auch bei Auslandskorrespondenten durch die Gegenkontrolle auf der Basis von Nachrichtenagenturen und durch die mittlerweile technisch mögliche, engere Anbindung an die Redaktion ein Stück weit kompensiert (vgl. Siemes 2000: 183).
6.5 Zusammenfassung und Fazit
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Auf der anderen Seite entsprechen Arbeitsumfeld und Berufsroutinen von EUJournalisten typischen Merkmalen von Hauptstadtkorrespondenten im In- und Ausland, insbesondere aber denen ihrer Kollegen in Berlin. Zentral sind hier das Phänomen des „pack journalism“ (Schudson 2003: 139) und die Existenz einer „Interpenetrationszone“ (Hoffmann 2003: 54) zwischen politischem System und Mediensystem, also einer in der Handlungspraxis eng verflochtenen Zusammenarbeit von Journalisten mit politischen Akteuren und ihren Pressesprechern. Im Unterschied zu Auslandskorrespondenten mit großen Berichterstattungsgebieten und häufig notwendigem Rückgriff auf Sekundärquellen arbeiten Hauptstadtkorrespondenten in der Regel mit Primärinformationen, sofern sie sich einen direkten und persönlichen Zugang zu ihren Informationsquellen erschließen können. Denn ebenso wie in anderen Hauptstädten bestimmen Status und Nationalität eines Mediums sowie die Sozialkompetenz eines Journalisten den Zugang zu den Quellen (vgl. Engesser 2007: 122f.). Mit wachsender Zahl von am politischen Prozess beteiligten und darauf Einfluss nehmenden Akteuren sind hier ebenfalls neben formalen Anlässen des Pressekontakts insbesondere informelle Netzwerke und Treffen im Rahmen von Hintergrundkreisen von entscheidender Bedeutung für die Weitergabe berichterstattungsrelevanter Informationen. Schließlich wirken sich in besonderem Maße medialer Wettbewerb, die Dynamisierung des Informationsumsatzes durch digitale Technik und die Medienorientierung der zahlreichen am politischen Prozess beteiligten Akteure auf die Qualität der Recherche aus (für Berlin vgl. Kramp/Weichert 2008: 55). Wenngleich die Ähnlichkeiten zu jeweils anderen Korrespondentenrollen offensichtlich sind, liegt insgesamt das Spezifische der EU-Korrespondenten mit ihrer typischen Ausbildung, Handlungsstruktur und professionellen Einstellung sowie dem Rahmen typischer Arbeitsbedingungen gerade darin, dass sie die Merkmale beider Berufsrollen, die der Auslandskorrespondenten wie auch die der Berliner Hauptstadtkorrespondenten, in sich vereinen. Dies wiederum spiegelt die eingangs dargestellte Ambivalenz des EU-Themas wider, die in der politischen Struktur der EU als Mehrebenensystem angelegt ist und sich in seiner Form als innen- wie auch als außenpolitischer Gegenstand der Berichterstattung fortsetzt.
III Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus – Interpretation und Bewertung der Befunde
7 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
Die Europäische Union hat im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses zunehmend an Einfluss auf ihre Mitgliedsländer gewonnen. Gleichzeitig aber ist, wie an den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 sowie an vielen Medienschlagzeilen sichtbar, insbesondere in der Bevölkerung der Gründerstaaten das Image der EU schlecht und ihre Unterstützung so gering wie noch nie. Für die wissenschaftliche Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit wurden Inhaltsanalysen von EU-Berichterstattung zentral. Ergebnisse der mittlerweile zahlreichen Untersuchungen zeigen die stets ereignisbezogene Aufmerksamkeit der Massenmedien und den von einem niedrigen Niveau ausgehend langsamen, aber kontinuierlich zunehmenden Umfang der Routineberichterstattung. Dennoch – und hier stehen die Ergebnisse konträr zur Hoffnung auf eine sich ausbildende europäische Öffentlichkeit – dominieren bei EU-induzierten Themen und Ereignissen konstant nationale Akteure und deren Perspektive. Wie lassen sich diese Ergebnisse hinsichtlich der Rolle und Arbeitsbedingungen von EU-Journalisten erklären, interpretiert man die seit 1990 kontinuierlich steigende Anzahl von Korrespondenten in Brüssel als wachsendes Bewusstsein der Medien für die Bedeutung dieses politischen Machtzentrums? Beantworten lässt sich die Frage nur mit einem genauen Blick auf die berufliche Entwicklung der EU-Journalisten, d.h. den Veränderungen von Arbeitsroutinen und -bedingungen derjenigen, die als Öffentlichkeitselite und Meinungsführer im „two-step-flow of communication“ auf die Berichterstattung von EU-Themen spezialisiert sind und entsprechende Entscheidungen zu Themenwahl und -darstellung treffen. Da – so die erste der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegende Annahme – vor allem die professionellen Bedingungen journalistischer Arbeit das Ausmaß und die qualitative Entwicklungsrichtung der Nachrichtenberichterstattung prägen, ist für die Frage nach der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit nicht nur eine Analyse der Berichterstattung, sondern auch die Untersuchung ihrer Urheber und ihrer Produktionsbedingungen im Zeitverlauf zentral. Journalismus umfasst nicht nur das journalistische Produkt oder die Tätigkeit einzelner Journalisten, sondern stellt ein Berufsfeld dar, das eine eigene institutionelle Infrastruk-
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tur ausgebildet hat und in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Als solcher unterliegt er – so die zweite grundlegende Annahme – gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Mithilfe des berufssoziologischen Professionalisierungskonzepts konnten vor dem Hintergrund einer politischen Europäisierung die Folgen für den Journalismus und seine institutionelle Infrastruktur beleuchtet werden: Was das berufliche Handeln und die Arbeitsbedingungen im EU-Journalismus kennzeichnet, ob und in welchem Maße sich der Journalismus im Verlauf der europäischen Integration professionalisiert hat und wo die Grenzen der Professionalisierung liegen, lauten die forschungsleitenden Fragen der Arbeit. Um diese Fragen zu beantworten, wurde ein theoretischer Bezugsrahmen entwickelt, der • eine system- und eine akteurstheoretische Perspektive miteinander verbindet, • den aus der Professionssoziologie abgeleiteten und modifizierten Begriff der Professionalisierung für eine berufssoziologische Studie dimensioniert und definiert, • das Konstrukt für eine Untersuchung mit verschiedenen empirischen Zugängen operationalisiert. Aus der Perspektive einer akteurstheoretisch fundierten Systemtheorie wurde die Professionalisierung als Binnendifferenzierung von Berufen aufgefasst, in deren Verlauf sich analog zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme sukzessive eine eigene Funktion und ein eigener Sinn herausbilden, die auf Dauer gestellt werden. Dabei stellt der systemeigene Sinn die generalisierte Handlungsorientierung der Akteure dar. Aus berufssoziologischer Sicht kann Professionalisierung als ein Prozess der Institutionalisierung von beruflichen Handlungen definiert werden, der sich auf zwei weiteren Dimensionen beschreiben lässt: 1. als ein Prozess zunehmender Expertisierung und 2. als ein Prozess zunehmender Inszenierung. Die Expertisierung entspricht einer Spezialisierung des beruflichen Wissens und die Inszenierung einer zunehmenden Abgrenzung der Berufstätigkeit durch Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit. Empirisch wurde der Professionalisierungsprozess auf zwei Ebenen untersucht. Die Merkmale der Professionalisierung des EU-Journalismus standen auf der Organisationsebene im Fokus der Analyse (Institutionalisierung von Organisationsstrukturen). So wurde die Europäisierung verschiedener Arbeits- und Berufsorganisationen, also die EU-/Europabezogene Expertisierung und die Inszenierung des EU-/Europa-Bezugs, in ihrer Entstehung und ihrem Entwicklungsprozess geprüft. Außerdem wurden die Merkmale und Strategien einer EU-/Europa-spezifischen Expertisierung und Inszenierung auf Akteursebene ermittelt (Institutionalisierung von Handlungsstrukturen). Hier standen Aussagen von EU-Journalisten zu ihrem Berufsprofil, ihrer beruf-
7.1 Die Ergebnisse aus System- und Akteurstheorie kombinierender Sicht
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lichen Tätigkeit unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen, ihren beruflichen Einstellungen sowie deren jeweilige Veränderungen im Zentrum der Analyse. Das folgende Kapitel fasst die Ergebnisse der Organisations- und Dokumentenanalyse und der Leitfadengespräche zusammen und interpretiert sie in Abschnitt 7.1 aus einer System- und Akteurstheorie kombinierenden Sicht. In Abschnitt 7.2 werden die empirischen Befunde jeweils für die beiden berufssoziologischen Dimensionen Expertisierung und Inszenierung zusammengefasst, die Grenzen ihrer Entwicklung aufgezeigt und vor dem Hintergrund journalistischer Autonomie und Selbstkontrolle interpretiert. Das Schlusskapitel (8.) verweist abschließend auf die Grenzen des Untersuchungsdesigns, bilanziert den theoretischen und empirischen Ertrag der vorliegenden Arbeit und gibt einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen.
7.1 Die Ergebnisse aus System- und Akteurstheorie kombinierender Sicht Das allgemein-theoretische Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung galt der Frage, ob unter den Bedingungen der Europäisierung des politischen Systems sowie den kontextualisierenden Prozessen der Kommerzialisierung und Digitalisierung eine Professionalisierung des EU-Journalismus im Sinne einer auf die EU-/Europa-bezogenen Binnendifferenzierung des Teilsystems Journalismus stattgefunden hat. Interpretiert man die Befunde der Organisationsanalyse und der Experteninterviews aus der Perspektive einer akteurstheoretisch fundierten Systemtheorie, so sprechen sie dafür, dass es im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses tatsächlich zu einer solchen Binnendifferenzierung gekommen ist. Für alle drei zentralen Definitionsmerkmale von Teilsystemen, die Herausbildung einer spezifischen Funktion (7.1.1), die Herausbildung eines systemeigenen Sinns (7.1.2) und die Herausbildung einer strukturell verfestigten Leistungsrolle (7.1.3) können im Journalismus empirisch abgestützte Entwicklungen beschrieben werden.
7.1.1 Herausbildung einer spezifischen Funktion Dass die europäische Ebene des politischen Systems im Verlauf der historischen Entwicklung der Europäischen Union durch die sukzessive Erweiterung ihres Raums an Mitgliedsstaaten und durch die zunehmende Vertiefung ihrer Politik an Gewicht gewonnen hat, wurde in Abschnitt 4.1 dargestellt. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ist mit demokratischen Systemen die Erwartung verbunden, dass ihre politischen Prozesse transparent sind und den Bürgerinnen und Bürgern durch die Massenmedien so vermittelt werden, dass sie in der Lage
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sind, sich darüber zu informieren, sich eine politische Meinung zu bilden und ihrer Aufgabe als wählenden Staatsbürgern nachzukommen. Da aber die bedeutsamer werdenden politischen Entwicklungen auf europäischer Ebene nicht transparent waren und die wachsende Fülle politischer Ereignisse nicht oder nur in einem begrenzten Ausmaß durch Massenmedien beobachtet wurde, wurde das „Öffentlichkeitsdefizit der Europäischen Union“ zum Bezugsproblem des Journalismus. Die bis dahin existierende Organisation des nationalen Mediensystems konnte den wachsenden Vermittlungsbedarf nicht mehr abdecken. Dieser gesellschaftlich relevanten Problemlage folgte der Journalismus mit einer auf die EU bezogenen Binnendifferenzierung als Lösungssystem insoweit, als zunächst europäische Medienprojekte – zum Teil „top-down“ von der EU initiiert, zum Teil „bottom-up“ als Pilotprojekte transnationaler Kooperationen – gestartet wurden, die sich aber nicht etablieren konnten (vgl. 5.1.1). Gleichzeitig setzte auf nationaler Ebene eine weitere Reaktion auf die Problemlage ein, indem innerhalb etablierter Medien arbeitsteilige Prozesse durch Einrichtung oder personelle Aufstockung von Korrespondentenbüros institutionalisiert wurden (vgl. 5.1.2). Die Feststellung, dass der spezifischen Ausdifferenzierung dieses Auslandspostens im Vergleich mit bereits existierenden Korrespondentenbüros eine Aufwertung folgte, zeigt den gewachsenen Stellenwert des EU-Journalismus als spezifischer Funktion für die Gesellschaft (vgl. 6.1.1). Dass es sich um ein spezialisiertes Problemlösungssystem mit gestiegenen Kompetenzanforderungen handelt, wurde an den Schlüsselqualifikationen ihrer Akteure als Einstiegsvoraussetzung sowie an den Spezifika der während der Eingewöhnungsphase stattfindenden Spezialisierungsprozesse deutlich (vgl. 6.1.1 und 6.1.2). Die thematische Unsicherheit der nicht regelmäßig mit EU-Berichterstattung beschäftigten Redakteure stellt ebenfalls einen Indikator für den hohen Spezialisierungsgrad dieser Funktion dar. Zur dauerhaften Absicherung der EU-spezifischen Expertise wurden europäische Ausbildungseinrichtungen gegründet und in Deutschland – allerdings in einem sehr geringen Maß – Spezialisierungsmöglichkeiten in die allgemeine journalistische Ausbildung integriert (vgl. 5.2.1).
7.1.2 Herausbildung eines systemeigenen Sinns Der Befund, dass sich EU-Journalismus zunehmend an der für Massenmedien typischen Eigenlogik orientiert, kann als Entstehung einer Sinnstruktur des sich binnendifferenzierenden Teilsystems interpretiert werden. Obwohl die Berichterstattung inhaltlich in einem hohen Maße von Tagesaktualität und der politischen Agenda der Institutionen bestimmt ist, zeigt die Untersuchung, dass unter den Be-
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dingungen einer wachsenden Fülle von politischen Ereignissen und eines zunehmenden ökonomischen Wettbewerbs Journalisten sich mehr und mehr an den für die Themenselektion relevanten Nachrichtenfaktoren orientieren (vgl. 6.2.1). Im Unterschied zur Europa-Berichterstattung der 1980er Jahre liefert das politische System zwar immer noch den potenziellen Input für das Mediensystem, aber das Mediensystem bestimmt in einem höheren Maße, was und vor allem, in welchem Kontext ein politisches Ereignis relevant ist. Zudem verweisen die Aussagen der Journalisten auf die wachsende Bedeutung des Intermedia-Agenda-Settings von EUThemen durch wenig verbreitete, aber elitenorientierte Leitmedien ebenso wie durch die weit verbreiteten Boulevardmedien. So orientieren sich die Medien innerhalb des Mediensystems mittlerweile auch in der EU-Berichterstattung wechselseitig aneinander und greifen von Leitmedien gesetzte Themen auf. Beides, die Orientierung an Nachrichtenfaktoren und das intermediale Agenda-Setting, führen im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Rezipienten immer häufiger zu medialen Themenkarrieren, die nicht mehr unmittelbar an die Tagespolitik der EU gebunden sind.179 Ebenfalls Teil der Eigenlogik des Mediensystems ist die generalisierte Handlungsorientierung von Journalisten am binären Code Publizität und Nichtpublizität. Der Kontextfaktor einer weitreichenden Kommerzialisierung des Mediensystems bedeutet auch für den EU-Journalismus einen zunehmenden Wettbewerb um Exklusivität und Erstveröffentlichung politischer Informationen. Zu diesem Zweck streben EU-Journalisten bei ihren Recherchen eine enge Vernetzung mit den für die Berichterstattung relevanten Akteuren an, von denen sie im Austausch gegen Publizität die für die Berichterstattung bedeutsamen Informationen erhalten (vgl. 6.4.1). Bei den genannten Befunden handelt es sich um die Orientierung an der für den Journalismus typischen Sinnstruktur. Insoweit ist diese charakteristisch für das Teilsystem Journalismus, nicht aber spezifisch für EU-Journalismus. Dagegen zeigte die sich im journalistischen Selbstverständnis ausdrückende Sinnstruktur, die unter Korrespondenten eine stärkere Erklärungsleistung zum Ziel hat, sowie die damit verbundene unterschiedliche Bewertung der Berichterstattung deutliche Differenzen zwischen den beruflichen Orientierungen der EU-Journalisten auf europäischer und auf nationaler Ebene (vgl. 6.3.1). Aus dem Widerspruch, der sich
179 Hierbei handelt es sich allerdings um die Einschätzung der interviewten EU-Journalisten. Um empirisch fundierte Aussagen treffen zu können, inwieweit EU-Themen durch die Orientierung an Nachrichtenfaktoren und konkurrierende Medien häufiger als früher Themenkarrieren entwickeln, sind inhaltsanalytische Überprüfungen notwendig. Vgl. Einzelfallanalysen zu EU-Themenkarrieren wie dem Korruptionsskandal, BSE, der Haider-Debatte oder dem Türkei-Beitritt bei van de Steeg (2005), Wimmel (2005), Eder (2000).
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aus tatsächlichem und gewünschtem Stellenwert sowie der intendierten Qualität der Berichterstattung aus Sicht der EU-Korrespondenten ergibt (vgl. 6.3.2 und 6.3.3), resultieren von den Redakteuren abweichende Handlungsziele und -strategien. Während sich die Redakteure bei der journalistischen Aufbereitung von EU-Themen weitgehend am angenommenen Publikumsinteresse und an der öffentlichen Meinung orientieren (vgl. 6.2.2 und 6.3.2), versuchen die Korrespondenten, durch Herstellung und Betonung nationaler Bezüge die Veröffentlichung von EU-spezifischen Inhalten sowie ihre spezifischen Deutungen gegenüber den Zentralen durchzusetzen (vgl. 6.4.2). Auch wenn noch nicht von einer spezifischen Sinnstruktur des EU-Journalismus gesprochen werden kann, scheint sich hier doch in Ansätzen eine rollenabhängigen Differenzierung von akteursspezifischen Sinnstrukturen anzudeuten.
7.1.3 Herausbildung einer strukturell verfestigten Leistungsrolle Auch im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit die beiden zuvor genannten Differenzierungsmerkmale in einem Prozess zunehmender struktureller Verfestigung von Handlungen in Sinnsysteme auf Dauer gestellt werden, konnten EU-bezogene Entwicklungen festgestellt werden. Nicht nur die Ausdifferenzierung der Berufsposition „EU-Korrespondent“ in einer Vielzahl von Medien (vgl. 5.1.2), sondern auch die Ausdifferenzierung eigens auf EU-Journalismus spezialisierter Ausbildungsinstitutionen wie das Erich-Brost-Institut oder das European Journalism Centre können als eine Institutionalisierung von Organisationsstrukturen betrachtet werden, die eine längerfristige, wenn nicht sogar dauerhafte Binnendifferenzierung sicherstellen (vgl. 5.2). Dabei zeigte die gleichbleibend geringe Existenz des Europa-Bezugs in den journalistischen Ausbildungscurricula der Universitäten, dass die europäische Dimension im Journalismus eher ein Spezialisierungsgebiet darstellt und nicht zum festen Bestandteil der allgemeinen Ausbildung geworden ist (vgl. 5.2.1). Obwohl journalistische Berufsverbände als Standesorganisationen keine große Bedeutung für die einzelnen Journalisten haben, ist innerhalb dieser kollektiven Organisationsform beruflicher Interessen durch die Einrichtung von Europa-Fachgruppen in beiden deutschen Berufsverbänden mittlerweile ein strukturell fixierter Bezug zur EU vorhanden. In Brüssel hat die Institutionalisierung der berufsspezifischen Interessen der Korrespondenten insofern an Gewicht gewonnen, als der seit 1975 existierende Berufsverband API nicht mehr nur als Repräsentant und Dienstleister, sondern immer häufiger auch als Interessenvertreter gegenüber den EUInstitutionen auftritt (vgl. 5.3).
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Strukturelle Verfestigungen des sich differenzierenden Sinnsystems wurden nicht nur an Institutionalisierungsprozessen von Organisationen und europäischen Bezügen innerhalb dieser Organisationen sichtbar, sondern auch durch die Verfestigung von Handlungsstrukturen auf Akteursebene. Entsprechend der generalisierten Handlungsorientierung an der Eigenlogik des Journalismus kennzeichnet die Handlungstruktur von EU-Korrespondenten eine Themenwahl nach Nachrichtenfaktoren, für die insbesondere der Deutschland-Bezug von EUThemen entscheidend ist (vgl. 6.4.2). Des weiteren gehören die zunehmende Beobachtung konkurrierender Medien, der mittlerweile häufigere Kontakt und die vergleichsweise engere Anbindung an die Heimatredaktion sowie der Zugang zu Informationsquellen über formalisierte Pressekontakte und – von weit größerer Bedeutung – über informelle Wege zu den charakteristischen Berufsroutinen von EU-Korrespondenten (vgl. 6.2). Allerdings handelt es sich bei diesen Befunden um allgemein für den Journalismus charakteristische Handlungsstrukturen. Einzig die für Brüssel typische enge nationale und transnationale Zusammenarbeit von Journalisten unterscheidet ihr berufliches Handeln von dem ihrer Kollegen an anderen Korrespondentenstandorten. Aber selbst diese Zusammenarbeit scheint sich mit zunehmendem medialen Wettbewerb mittlerweile auf das für die Berichterstattung notwendige Mindestmaß zu reduzieren (vgl. 6.4.1). Neben der Ausbildung von systemspezifischen Merkmalen sind Grenzziehungen für ein sich aus- oder binnendifferenzierendes Teilsystem von konstitutiver Bedeutung. Interpretiert man die Befunde zur Binnendifferenzierung des Journalismus mit Blick auf seine Grenzen, muss man zwei unterschiedliche Grenzen des Teilsystems unterscheiden, die unterschiedlich stark ausgeprägt sind: a) die Systemgrenze nach innen definiert, wer darin zum EU-Journalismus und wer zu anderen Subsystemen des Journalismus gehört; b) die Systemgrenze nach außen definiert, wer zum System Journalismus und wer zu seiner Umwelt gehört. Ad a) Abgrenzung nach innen: Auch wenn die theoretischen Vorüberlegungen und der empirische Zugang zur Binnendifferenzierung zunächst von einer Medien-, Ressort- und Funktionsrollen-übergreifenden Vorstellung von EU-Journalismus und EU-Journalisten ausgingen – verbindend sollte per definitionem allein der inhaltliche Bezug sein –, zeigte die Untersuchung, dass für die interne Abgrenzung der EU-Berichterstattung eine entlang dieser Strukturen organisierte Binnendifferenzierung konstitutiv ist. Europäische und EU-spezifische Medien konnten sich im Mediensystem nicht durchsetzen. Innerhalb nationaler Medien bestimmen jedoch ausdifferenzierte Funktionsrollen von Journalisten als Korrespondenten auf nationaler und europäischer Ebene sowie als EU-Berichterstattung koordinierenden Chefredakteure auf nationaler Ebene dominant die Zuständigkeit für die EU-Berichterstattung. Dementsprechend unterscheiden sie sich in ihrer insti-
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tutionalisierten Aufgabenzuweisung auf redaktioneller Ebene wie auch in ihren jeweiligen Handlungsmustern und -motiven auf individueller Ebene. Aus dieser journalismusinternen Grenzziehung resultieren nicht nur Unterschiede in der Deutung von EU-Themen, die immer noch dominant der Außenpolitik zugerechnet werden, sondern auch Konflikte, die sich an der unterschiedlichen Gewichtung der EU-Berichterstattung und an der unterschiedlichen Darstellung ihrer Inhalte entzünden. Gleichzeitig ist das journalistische System bemüht, diese Konflikte gering zu halten und ein weiteres Auseinanderdriften der beiden Seiten jenseits des medieninternen Grenzverlaufs zu verhindern. Eine weiter reichende Spezialisierung wird durch das Rotationssystem der Stellenbesetzung strukturell verhindert, indem die Korrespondenten nach Ablauf einer reglementierten Zeit der Berufstätigkeit in Brüssel andere Berufspositionen einnehmen (vgl. 6.1.1). Auf der Ebene der beruflichen Handlungspraxis geschieht dies dadurch, dass innerhalb der Korrespondentenbüros die Festlegung weiterer Arbeitsteilungen zugunsten eines Generalistenanspruchs aufgehoben wird (vgl. 6.2.2). Die von den EU-Korrespondenten geforderte Einbindung von Journalisten auf nationaler Ebene in die Berichterstattung sowie die Forderung, ergänzend zur Etablierung fachspezifischer Einrichtungen die EU-spezifische Expertisierung aller Journalisten zu fördern, zielt ebenfalls auf die Reduktion von Deutungskonflikten innerhalb des EU-Journalismus (vgl. 6.3.3). Ad b) Abgrenzung nach außen: Trotz unterschiedlicher Subfunktionen ist allen Leistungsrollenträgern die Orientierung am Sinn des übergeordneten Systems Journalismus gemeinsam. Auch wenn die politische Agenda der europäischen Institutionen den tagesaktuell berichtenden Medien in einem hohen Maße Themen der Berichterstattung vorgibt, was in der Funktion politischer Berichterstattung begründet liegt und demnach ebenso charakteristisch für die innenpolitische Berichterstattung ist, bestimmen auf europäischer Ebene zunehmend Nachrichtenfaktoren und die Orientierung an anderen Medien die Themenwahl. So ist auch im EU-Journalismus aufgrund der zunehmenden Zurückdrängung politischer Einflüsse zugunsten einer journalistischen Handlungsorientierung und Eigenlogik die Grenze zwischen politischem und journalistischem System klar erkennbar. Das Verhältnis der beiden Systeme Politik und Journalismus wird auf einer Makroebene in unterschiedliche Richtungen interpretiert (vgl. grundlegend Jarren 1988). Das im journalistischen Selbstverständnis vermittelte Unabhängigkeitsparadima geht auf Akteursebene davon aus, dass Journalisten der Politik gegenüber eine kritische Distanz wahren müssen, um ihrer Rolle als objektive und informationsvermittelnde Berichterstatter gerecht zu werden. Dieser Auffassung stehen verschiedene Thesen gegenüber, die das Verhältnis von Politik und Journalismus auf Systemebene beschreiben: Zum wird eine Abhängigkeit des Journalis-
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mus von der Politik behauptet; eine andere Vorstellung postuliert die Übermacht des Journalismus gegenüber der Politik; und eine dritte Annahme betont ihr wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Aus systemtheoretischer Perspektive sind das politische und das journalistische System in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften insofern interdependente Systeme, als beide Systeme wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Unter dem Druck der allgegenwärtigen Massenmedien – so eine Annahme – wird die Politikdarstellung gegenüber der Politikherstellung immer bedeutender. Das politische Sys-tem passt sich daran an, indem es Informationen liefert, die durch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Berichterstattung bereits aufbereitet sind. Gleichzeitig ist auch der Journalismus von der Politik abhängig, indem er unter zunehmendem Konkurrenzdruck auf aktuelle und exklusive Informationen zur Veröffentlichung angewiesen ist. Das journalistische System muss sich daher entsprechende Strukturen zur Sicherung des Informationszugangs schaffen. Beide Systeme sind so trotz ihrer operativen Geschlossenheit umweltoffen und anschlussfähig. Dennoch bleibt ein für strukturell gekoppelte Systeme typisches Abgrenzungsproblem bestehen. In der journalistischen Handlungspraxis bedeutet die strukturelle Kopplung der Systeme insbesondere für Korrespondenten, dass sie sehr eng mit ihren Informationsquellen zusammenarbeiten. Dies wird an ihrer hohen Motivation zur persönlichen Vernetzung deutlich. Durch die regelmäßigen Begegnungen im Arbeitsalltag entsteht eine Nähe, die nicht zum professionellen Distanzparadigma der journalistischen Rolle passt. Während EU-Politiker aus machtpolitischen Gründen versuchen, über persönliche Kontakte den Veröffentlichungsprozess berechenbarer zu machen, ist die Gradwanderung der Korrespondenten in Brüssel zwischen unumgänglicher Nähe und beruflicher Distanz sehr schmal. Das Rotationssystem, das die Abgrenzung nach innen verhindert, bewirkt an dieser Stelle eine Abgrenzung des EU-Journalismus nach außen. Es ermöglicht den Journalisten in ihrem Tätigkeitszeitraum den Aufbau von Berufsroutinen zur Bewältigung der Brüsselspezifischen journalistischen Arbeitsprozesse in der rund einjährigen Eingewöhnungsphase und eine Spezialisierung ihrer Tätigkeit in den Folgejahren. Zugleich verhindert es aber, dass sie aufgrund der notwendigerweise aufzubauenden persönlichen Kontakte und durch die kontinuierliche Vertiefung des fachlichen Wissens derartig vom politischen System absorbiert werden, dass sie ihre professionelle Distanz verlieren. Auch auf institutioneller Ebene lassen sich Abgrenzungsprozesse beobachten. Die EU hat in den vergangenen Jahren ihre Aktivitäten im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit stark ausgebaut, so dass ihre Maßnahmen unmittelbarer an den Zuständigkeits- und Arbeitsbereich des Journalismus anschließen. Zu diesem
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Zweck hat sie ihre Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit umstrukturiert und zahlreiche Maßnahmen zur Anpassung der Informationsbereitstellung an die Bedürfnisse der Medien unternommen. Des weiteren versucht sie, die Rahmenbedingungen der Informationsweitergabe durch die für Journalisten geltenden Sicherheitsmaßnahmen bei großen politischen Ereignissen zu definieren. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass es mittlerweile regelmäßig zu Konfrontationen zwischen politischem und journalistischem System kommt, denen der Journalismus mit einer durch den Berufsverband kollektiv organisierten Abwehr begegnet. So zeigt die gewachsene Bedeutung der API zur Sicherung der journalistischen Arbeitsbedingungen und zur Abwehr politischer Eingriffe in den journalistischen Aufgabenbereich die vom EU-Journalismus aktiv forcierte Grenzziehung gegenüber den EU-Institutionen. Insgesamt belegen die Befunde, dass in einer system- und akteurstheoretischen Perspektive tatsächlich eine Professionalisierung des EU-Journalismus stattgefunden hat. Sie lässt sich allerdings nicht einfach als eine lineare Entwicklung in Analogie zu einer Teilsystembildung beschreiben, im Verlauf derer ein Teilsystem innerhalb seines Systems zunehmend an Autonomie gewinnt. Die Professionalisierung des EUJournalismus als EU/Europa-bezogene Binnendifferenzierung des Journalismus stellt sich je nach Bezugssystem ungleich komplizierter dar. Sie lässt sich als Entwicklung beschreiben, in der sich der EU-Journalismus innerhalb des Journalismus mit einer zunächst starken Innengrenze und einer schwachen Außengrenze (Ausdifferenzierung entsprechender Berufspositionen, aber geringe journalistische Autonomie gegenüber dem politischen System) herausgebildet hat. Im weiteren Zeitverlauf hat sich seine Grenze nach außen verstärkt, während weitere Professionalisierungsbestrebungen auf eine Abschwächung der Innengrenze (Aufhebung fachlicher Differenzen und exklusiver Zuständigkeiten bei stärkerer Autonomie gegenüber dem politischen System) hindeuten. Es hängt also vom jeweiligen Bezugssystem ab, in welche Richtung man die Ergebnisse interpretiert. Im Hinblick auf das politische System hat eine Professionalisierung des EU-Journalismus stattgefunden, die sich an einer medienspezifischen Handlungsorientierung und an der Entwicklung von einer schwachen zu einer starken und institutionell abgesicherten Außengrenze festmacht. Damit bestätigen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse die Beobachtung einer Entwicklung, auf die bereits Vorgängerstudien hingewiesen haben und die man als eine Normalisierung der Arbeitsbedingungen im EU-Journalismus bezeichnen kann. Während das gegenseitige Verhältnis von Politik und Medien auf EU-Ebene lange Zeit von
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politischen Verlautbarungen auf der einen und von Ignoranz auf der anderen Seite gekennzeichnet war, nähern sich die Arbeitsverhältnisse in Brüssel an das Tempo und den Informationswettbewerb des Berliner Hauptstadtjournalismus an. Innerhalb des journalistischen Systems hat im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses mit einem starken Schub nach Abschluss des Maastrichter Vertrags über die Europäische Union im Jahre 1992 eine Professionalisierung als EU-bezogene Binnendifferenzierung stattgefunden, die sich insbesondere auf der Organisationsebene zeigt. Neben der Prioritätenverschiebung vieler Redaktionen auf eine umfangreichere EU-Berichterstattung kam in Ausbildungsfragen bislang hauptsächlich der Europäischen Union bzw. der Europäischen Kommission eine Schlüsselrolle zu. Durch die umfangreiche finanzielle Förderung von europäischen Projekten zur Journalistenausbildung und -zusammenarbeit sowie durch das European Journalism Center als zentrales Weiterbildungsinstitut für EU-Themen im Mediensektor ermöglichte sie den Aufbau einer Infrastruktur, die zur Binnendifferenzierung in ihrer gegenwärtigen Ausprägung beitrug. Nur so ist das überraschende Ergebnis zu erklären, dass die strukturelle Verfestigung der Leistungsrolle durch Ausbildungsorganisationen der sukzessiven Verfestigung ihrer Handlungen vorausgeht und nicht umgekehrt, wie es die soziologische Theorie eigentlich nahe legt (vgl. 3.2). Jedoch steht dieser Befund in Einklang mit der These von Rainer M. Lepsius, demzufolge im europäischen Integrationsprozess die Institutionenbildung der Bewusstseinsbildung vorausgeht (Lepsius 1999: 206). Da das Fortschreiten des Differenzierungsprozesses sowohl von der wahrgenommenen politischen Relevanz der EU für Deutschland als auch in hohem Maße von ökonomischen Bedingungen abhängt, ist die weitere Entwicklung der journalistischen Infrastruktur offen. Viele von politischer Seite geförderte europäische Ausbildungsbildungsprojekte wurden wieder eingestellt. Der Zuwachs der in Brüssel akkreditierten deutschen Journalisten stagniert bzw. ist seit dem Jahre 2005 rückläufig. Damit verbundene redaktionelle Entscheidungen über den künftigen Stellenwert der EU-Berichterstattung sind noch nicht abzusehen und vermutlich vom weiteren Verlauf des politischen Integrationsprozesses abhängig. Vor dem Hintergrund, dass viele Korrespondenten trotz gewachsener Bedeutung des Korrespondentenplatzes nach wie vor Schwierigkeiten haben, EU-Themen und ihre Deutung gegenüber ihren Heimatredaktionen durchzusetzen, bzw. EU-Themen gegenüber innenpolitischen Themen ein geringerer Stellenwert eingeräumt wird, ist keine Ausdifferenzierung eines Teilsystems EU-Journalismus zu erwarten. Im Gegenteil: Sollten, wie von Korrespondenten gefordert und in Ansätzen schon praktiziert, EU-Themen immer häufiger auch von innenpolitischen Korrespondenten und Redakteuren sowie von Journalisten anderer Ressorts behandelt werden, ist eher mit einer Abschwächung der bisher vorhandenen Innengrenze zu rechnen.
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Demnach sind zunehmende thematische Vielfalt, stetige Ambivalenz zwischen den politischen Ebenen und unterschiedliche Bedeutungszuschreibung die Ursachen für den schwindenden Stellenwert der Innengrenze und liefern somit die Begründung dafür, dass die Binnendifferenzierung des EU-Journalismus nicht bis hin zu einer dem Lokal- oder Wissenschaftsjournalismus vergleichbaren Ausdifferenzierung einer Binnenkategorie reicht.
7.2 Die Ergebnisse aus berufssoziologischer Sicht Aus einer berufssoziologischen Perspektive wurde die Professionalisierung von Berufen in den Prozess der Expertisierung als einer Spezialisierung des beruflichen Wissens und in den Prozess der Inszenierung als einer zunehmenden Abgrenzung des Tätigkeitsfelds durch Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit unterschieden. Aus systemtheoretischer Sicht entsprechen die Prozesse der Herausbildung eines spezifischen Sinns, der das System kennzeichnet und von anderen unterscheidet. Aus einer akteurstheoretischen Sicht kommt die spezifische Sinnstruktur den generalisierten Handlungsorientierungen der Akteure gleich, die ihr berufliches Handeln in einer das System charakterisierenden Weise steuern. So beschreiben beide Dimensionen sowohl (passive) Merkmale der Systemdifferenzierung als auch (aktive) Strategien der rational handelnden Akteure. Analog zu den Merkmalen der Binnendifferenzierung des Journalismus liegt es auf der Hand, dass die im Untersuchungszeitraum festgestellten Entwicklungen auch auf diese beiden Dimensionen bezogen werden können. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Expertisierungs- und Inszenierungsprozesse skizziert, zudem Grenzen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Akteursgruppen markiert (7.2.1 und 7.2.2) und die Bedeutung der Ergebnisse vor dem Hintergrund journalistischer Autonomie und Selbstkontrolle diskutiert (7.2.3).
7.2.1 Expertisierung des deutschen EU-Journalismus Der Prozess der Expertisierung beschreibt die Spezialisierung des beruflichen Wissens auf EU-/Europa-bezogene Inhalte und Fertigkeiten. Berufliche Expertise wurde als die sachgerechte Anwendung von Kenntnissen und Fertigkeiten zur Lösung bestimmter Probleme definiert, die einerseits auf einem Sach- und Fachwissen und andererseits auf einem beruflichen Erfahrungswissen beruht. Aufgrund der inhaltlich vagen Bestimmung von journalistischer Tätigkeit kann eine Expertisierung Unterschiedliches bedeuten. Zur EU-spezifischen Expertise gehören nicht nur
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ein umfangreiches Sachwissen in zentralen Themenbereichen wie europäische Politik, Wirtschaft und Recht, das grundlegende journalistische Fachwissen wie Kenntnis der relevanten Informationsquellen oder die Fähigkeit, Artikel in einer verständlichen Art und Weise zu schreiben, sondern auch eine Reihe von Schlüsselqualifikationen wie Fremdsprachen- und Sozialkompetenz, um sich im Mikrokosmos Brüssel zurechtzufinden. Als theoretisch fundiertes, systematisches Wissen wird die mit der Berufsposition der EU-Journalisten verbundene Expertise in unterschiedlichem Maße von Organisationen sichergestellt und kann auf individuellem Weg von den Akteuren angeeignet werden. Der kontinuierliche Zugewinn an Berufserfahrung stellt eine weitere Form individueller Expertisierung dar. Die Organisations- und Dokumentenanalyse zeigte die zunehmende Institutionalisierung EU-spezifischer Expertise innerhalb verschiedener Organisationen. So konnte eine auf EU-Berichterstattung bezogene Arbeitsteilung festgestellt werden, die sich im Wesentlichen innerhalb der jeweiligen Medienorganisationen vollzogen hat und an der wachsenden Korrespondentenzahl in Brüssel deutlich wurde (vgl. 5.1.2). Die Entscheidung vieler Medien, anstelle der Verarbeitung von Nachrichtenagenturmaterial auf die Informationen eines eigenen „Spezialisten“ vor Ort zurückzugreifen, kann als eine längerfristig angelegte Höherbewertung des EU-/ Europa-spezifischen Wissens interpretiert werden. Ab diesem Zeitpunkt sollten Journalisten die politischen Prozesse auf europäischer Ebene dauerhaft beobachten und Informationen aus erster Hand liefern. Dabei wiesen Qualitätsmedien eine weiter reichende Expertisierung auf als Regional- und Boulevardmedien, indem in ihren personell besser ausgestatteten Büros einzelne Korrespondenten jeweils bestimmten Ressorts zuarbeiten. Die Expertisierung der Berufsrolle innerhalb der journalistischen Ausbildung wurde an der Neugründung von europäischen Ausbildungsorganisationen und -projekten deutlich (vgl. 5.2.2). Im Rahmen der deutschen universitären Journalistenausbildung waren EU-Bezüge zwar in Ansätzen, nicht aber als kontinuierliche Europäisierung der journalistischen Grundlagenausbildung zu erkennen. Allerdings konnte die hier durchgeführten Organisations- und Curriculumsanalyse nicht erfassen, inwieweit die Universitäten durch ein zusätzliches Angebot von EU-/Europa-bezogenen Fächern und Disziplinen, mit denen Studierende ihr Journalistik-Studium ergänzen können, auch eine EU-/Europabezogene Ausbildung sicherstellen. Die Existenz solcher zusätzlicher Ausbildungsschwerpunkte wurde auf Akteursebene vor allem im Ausbildungsprofil jüngerer Korrespondenten deutlich. Schließlich tragen auch die auf nationaler Ebene aktiven Berufsverbände durch ihre kurzfristigen Weiterbildungsangebote in einem geringen Umfang zu einer Expertisierung des EU-Journalismus bei (vgl. 5.3.1). Die Befunde illustrieren, dass die Akademisierung des EU-Themas, also die Aufnahme der europäischen Dimension in die theoretisch fundierte und systematisierte
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Ausbildung von Journalisten, einer Spezialisierung ihres beruflichen Wissens dient. Somit wird im Sinne einer Binnendifferenzierung des Journalismus das EU-Thema als berufliches Spezialisierungsfeld strukturell abgesichert. Die Aussagen aus den Leitfadengesprächen eröffneten zweierlei. Die Expertisierung auf der Organisationsebene spiegelte sich vor allem im Berufsprofil jüngerer EU-Journalisten wider. Da die Herausbildung einer EU-spezifischen Ausbildungsinfrastruktur eine relativ neue Entwicklung darstellt, ist damit zu rechnen, dass diese sich auf individueller Ebene erst in künftigen Journalistengenerationen in stärkerer Ausprägung niederschlagen wird. Stattdessen charakterisierte ein bislang für Auslandskorrespondenten typisches Set an Schlüsselqualifikationen ihren Weg nach Brüssel (vgl. 6.1.1). Weiterhin zeigte sich, dass EU-Korrespondenten trotz des vorhandenen Angebots an Weiterbildungsmöglichkeiten die Vertiefung ihrer beruflichen Expertise im Wesentlichen an den Organisationen vorbei betreiben. Die Gründe dafür liegen in den Arbeitsbedingungen des Berufsalltags. Geringe Personalausstattung, der unmittelbare Einstieg in die Berufstätigkeit sowie der alltägliche Arbeitsumfang reduzieren Freiräume für Weiterbildungen und verhindern Übergangsphasen, in denen sich die Journalisten einer strukturierten Wissensaneignung widmen können. So besteht die Expertisierung der EU-Korrespondenten von Anbeginn ihrer Arbeit vor allem in einem learning by doing und ist durch die systematische Vernetzung mit möglichst vielen verschiedenen Akteuren als zentrale Handlungsstrategie gekennzeichnet. Journalisten gelten als umso professioneller, je besser sie vernetzt sind und das „know-how“ vieler Fachleute nutzen können. Das Verstehen der komplexen EU-spezifischen Zusammenhänge ist der erste Schritt auf dem Weg zum beruflichen Ziel, diese einfach, aber sachlich korrekt und ansprechend darzustellen. Da sich die Expertisierung als ein im Berufsalltag dauerhaft notwendiger Prozess darstellt, ist der Ausbau des Netzwerks auch über die Eingewöhnungsphase hinaus von Bedeutung. Ein engmaschiges Netzwerk ermöglicht schnelle Informationsgewinne, einen umfangreichen Informationsaustausch und eine kontinuierliche Vertiefung des Sach- und Fachwissens (vgl. 6.1.2 und 6.4.1). Die Aussagen der Leitfadeninterviews erlauben kein Urteil darüber, ob ein Journalist über ein Mehr oder Weniger an beruflicher Expertise verfügt und demnach als mehr oder weniger professionalisiert gelten darf. Dennoch gehen aus den Beschreibungen und Bewertungen ihrer Arbeitsbedingungen systematisch verschiedene Ausprägungen von Professionalität hervor, die jeweils charakteristisch für Journalisten unterschiedlicher Generationen, Medien und Funktionen sind: Zusätzlich zu ihren individuellen Expertisierungsbestrebungen generieren die Journalisten kontinuierlich Wissen durch Berufserfahrung. Der Zugewinn an Berufserfahrung drückt sich in der Routinisierung journalistischer Handlungsabläufe und in
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zunehmender Souveränität im Umgang mit EU-Themen aus, die aus der wiederholten Bearbeitung bestimmter Themendossiers oder bestimmter Abläufe politischer Prozessen resultiert. So liegt es auf der Hand, dass die ältere Journalistengeneration in ihren Berufsanfängen zwar weniger auf ihre Tätigkeit vorbereitet war, aber aufgrund langjähriger Berufserfahrung der jüngeren Generation an EU-spezifischer Expertise deutlich überlegen ist. Im Zuge der Ausdifferenzierung von Berufspositionen kann eine Expertisierung von Journalisten dort weit voranschreiten, wo Korrespondentenbüros wie im Fall von Nachrichtenagenturen oder Qualitätszeitungen personell gut ausgestattet sind. Trotz des selbst gesetzten Anspruchs, Themengeneralisten zu bleiben, können sie Themen längerfristig und intensiver verfolgen als ihre Kollegen anderer Medien. Im Gegensatz dazu stehen Boulevardmedien, die keine festen Korrespondenten in Brüssel haben und deren Journalisten nur temporär zu Gipfeltreffen oder anderen EU-Anlässen anreisen. Diese haben keine Möglichkeit und ihre Redaktionen kein Interesse, sich vor Ort und durch eine kontinuierliche Berichterstattung von EUThemen langfristig auf dieses journalistische Themenfeld zu spezialisieren. Auch für Regionalzeitungen arbeitende Korrespondenten haben schlechtere Bedingungen für eine Expertisierung. Damit wird ihnen nicht das grundlegende Wissen über EUspezifische Zusammenhänge abgesprochen, sondern darauf verwiesen, dass sie aus strukturellen Gründen eine vergleichsweise geringere Möglichkeit haben, einzelne Themen längerfristig und intensiver zu verfolgen. Sie müssen in höherem Maße zwischen unterschiedlichen EU-Themen springen und können ihr EU-spezifisches Wissen, da die von ihnen belieferten Zeitungen in der Regel in unterschiedlichen Regionen angesiedelt sind, nicht hinsichtlich der spezifischen Relevanz für diese Regionen vertiefen. Den unterschiedlichen Funktionen von Korrespondenten oder Redakteure entsprechend, ist mit deren definiertem Aufgabenbereich ein starkes Wissensgefälle verbunden. Während die EU-Institutionen und ihre Politik den alleinigen Berichterstattungsgegenstand der EU-Korrespondenten darstellen, sind Nachrichten- und Chefredakteure mit der Selektion von Themen und dem Redigieren von Artikeln befasst, von denen EU-Politik nur ein Themenfeld innerhalb der nationalen und internationalen Berichterstattung ist. In diesem Zusammenhang verwiesen vor allem die Korrespondenten auf starke Wissensdefizite unter den Redakteuren. Viele Themen, die auf nationaler und regionaler Ebene relevant sind, haben mittlerweile eine europäische Dimension gewonnen, die aus ihrer Sicht unbedingt in der Berichterstattung berücksichtigt werden muss. Demgegenüber ist ihrer Meinung nach die EU-spezifische Expertise unter den Redakteuren völlig unzureichend, zumal wenn sie in leitender Funktion EU-Themen auswählen und auch zunehmend häufiger darüber schreiben müssen.
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Inwieweit freie im Vergleich zu festangestellten Journalisten im gleichen Tätigkeitszeitraum tatsächlich eine umfangreichere EU-Expertise entwickeln, geht aus den Interviews nicht hervor. Dennoch kann aufgrund der Gespräche darauf verwiesen werden, dass ihre Arbeitsbedingungen es eher zulassen, neben ihrem berufsspezifischen Handlungswissen auch ihr EU-spezifisches Sachwissen zu vertiefen. Da sie in der Regel nicht so streng an den Ablauf der politischen Ereignisse gebunden sind und ihre journalistische Arbeit multimedial verwerten können, ist ihnen eine fundiertere Einarbeitung in Themen sowie die Aufbereitung in Gestalt einer themenvertiefenden Hintergrundberichterstattung eher möglich. Insgesamt zeigen die empirischen Ergebnisse sowohl Merkmale der Expertisierung, die durch die Institutionalisierung eines theoretisch fundierten und systematisierten Wissens in entsprechenden Organisationen gesichert wird, als auch ein Merkmal der Expertisierung, das im Generationenvergleich an der Veränderung des Ausbildungsprofils von EU-Korrespondenten deutlich wurde. Darüber hinaus kann man in der Vernetzung eine zentrale Strategie der Expertisierung erkennen, mittels derer sich Journalisten unabhängig von wissensvermittelnden Organisationen EU-spezifisches Wissen aneignen. Die Grenzen der Expertisierung auf der Organisationsebene werden durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen definiert. Auf der Akteursebene liegen ihre Grenzen in den jeweils medienabhängigen Arbeitsbedingungen des Berufsalltags, die den Wissenserwerb durch systematische Aus- und Weiterbildung begrenzen, und im Rotationssystem begründet, das den Wissenserwerb durch Berufserfahrung in Brüssel begrenzt.180
7.2.2 Inszenierung des deutschen EU-Journalismus Der Prozess der Inszenierung beschreibt die zunehmende Abgrenzung der Berufstätigkeit durch Reklamation von Zuständigkeit und Deutungshoheit gegenüber anderen beruflichen Bezugsgruppen. Die Inszenierung eines Zuständigkeitsbereichs kann dabei die rhetorische Markierung von berufstypischen normativen Handlungsorientierungen sein, auch wenn die berufliche Praxis tatsächlich anders aussieht. Sie kann aber auch die Markierung einer tatsächlichen Grenze bedeuten, die der Verteidigung berufspezifischer Handlungsorientierungen gegenüber Fremdeinflüssen dient.
180 Arbeiten EU-Korrespondenten nach ihrer Tätigkeit in Brüssel wieder auf nationaler Ebene, bleibt aus systemtheoretischer Perspektive das EU-spezifische Wissen der Korrespondenten innerhalb des journalistischen Systems erhalten und trägt somit zur Abschwächung der Innengrenze bei (vgl. Abschnitt 7.1.3).
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Auf der Organisationsebene sind es vor allem Berufsverbände, die den Journalismus im Allgemeinen und den EU-Journalismus im Speziellen in seiner berufsspezifischen Handlungslogik und in seinen beruflichen Interessen nach außen hin vertreten. Auf nationaler Ebene wurde die zunehmende Inszenierung des Europa-Bezugs durch die Einrichtung von Europa-Fachgruppen innerhalb der Berufsverbände und ihre Selbstorganisation im jeweiligen europäischen Dachverband deutlich (vgl. 5.3.1). Mit dem gewachsenen Einfluss Europa-rechtlicher Bestimmungen auf den Journalismus wurde ein institutionalisierter Rahmen zur ihrer Bearbeitung und, wenn als notwendig erachtetet, zur kollektiv organisierten Abwehr dieser Eingriffe geschaffen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine spezifische Inszenierung des deutschen EU-Journalismus gegenüber der EU-Politik, sondern um eine verstärkte Vertretung berufsspezifischer Interessen des deutschen Journalismus auf europäischer Ebene. In auf EU-Journalismus spezialisierter Weise konnte auf europäischer Ebene eine zunehmende Inszenierung durch die wachsende Bedeutung des Berufsverbands API als kollektiver Interessenvertreter gegenüber den EU-Institutionen und dem belgischen Staat gezeigt werden. Er ist der maßgebliche Interessenvertreter der EU-Korrespondenten in Brüssel (vgl. 5.3.2). Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahren zahlreiche transnationale Journalistennetzwerke entstanden, die der Schaffung von beruflichen Synergieeffekten und der koordinierten Vermarktung europäischer Medieninhalten dienen (vgl. 5.3.3) Im Hinblick auf die Inszenierung des EU-Journalismus auf Akteursebene fiel auf, dass es zum Befragungszeitpunkt keine signifikanten Unterschiede zwischen den Journalisten verschiedener Generationen oder Medien gab. Entgegen der Erwartung, dass die ältere Generation eher einem anwaltlichen Institutionenjournalismus und die jüngere Generation einem kritischen Investigativjournalismus anhängt, vertraten die meisten Journalisten das berufliche Selbstverständnis des neutralen Informationsvermittlers (vgl. 6.3.1). Durchweg alle Journalisten artikulierten eine ausdrückliche Abgrenzungsrhetorik gegenüber den EU-Institutionen ebenso wie gegenüber zahlreichen anderen Informationsquellen. Diese wurde an der negativen Bewertung der EU-Kommunikationspolitik deutlich, in deren Maßnahmen die Journalisten Eingriffe in ihren Zuständigkeitsbereich sahen. Zudem zeigte die postulierte professionell-kritische Distanz gegenüber allen Informationsquellen ihren Anspruch, sich nicht von den Positionen anderer Akteure instrumentalisieren zu lassen, sondern „eigene“ Schlüsse zu ziehen (vgl. 6.2.3). Die Inszenierung des EU-Journalismus wurde auch gegenüber den Heimatredaktionen deutlich. Das erklärungsorientierte Rollenbild der EU-Korrespondenten (vgl. 6.3.1), ihre Beurteilung des Stellenwerts als nicht bedeutungsadäquat (vgl. 6.3.2), die Definition von Defiziten und geforderten Qualitäten der EU-Berichterstattung (vgl. 6.3.3) sowie der Anspruch, ihre Perspektive auf die
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7 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
EU-Politik in den Heimatredaktionen durchzusetzen (vgl. 6.4.2), unterschied sie in ihren Einstellungen maßgeblich von den Redakteuren. Während die Redakteure den Stellenwert der EU-Berichterstattung als angemessen hoch bewerteten, drückte sich die Inszenierung des EU-Journalismus in der Definition von Leistungs- und Zuständigkeitsansprüchen der Korrespondenten gegenüber den Heimatredaktionen aus. Sie forderten mehr Raum und Zeit für tiefergehende Recherchen und eine ausführlichere Hintergrundberichterstattung. Zudem reklamierten sie die Aufwertung des Stellenwerts von EU-Korrespondenten regionaler Tageszeitungen. Bezüglich ihrer Kollegen auf nationaler Ebene kritisierten sie das geringe Wissen über EU-spezifische Zusammenhänge. Sie betrachteten dies als wesentliche Ursache für ihre Schwierigkeit, die Relevanz ihrer Beiträge zu vermitteln und gegen nationale (Vor-)Urteile anzuschreiben. Während die Korrespondenten gegenüber dem politischen System eindeutige Zuständigkeitsansprüche für die Auswahl, Aufbereitung und Veröffentlichung politischer Informationen erhoben und von der EU initiierte, konkurrierende Medienangebote heftig kritisierten, war ihr Anspruch auf das Themenfeld der EU-Berichterstattung gegenüber den Heimatredaktionen weniger exklusiv. Hier kämpften die Korrespondenten zwar um die Durchsetzung ihrer Themen und Perspektiven, forderten aber auch eine stärkere Einbindung von Redakteuren und Fachjournalisten in die EU-Berichterstattung. Zudem bedauerten sie den bislang geringen Austausch mit den Berliner Hauptstadtkorrespondenten und Vertretern anderer europäischer Korrespondentenplätze. So zielt die Inszenierung ihrer professionellen Tätigkeit weniger auf die exklusive Zuständigkeit für das journalistische Themenfeld, sondern mehr auf die Deutungshoheit in den von ihnen produzierten Beiträgen. Insgesamt zeigen auch hier die empirischen Ergebnisse sowohl Merkmale einer in Organisation und Aktivität von Berufsverbänden institutionalisierten Inszenierung als auch Merkmale individueller Inszenierung innerhalb des deutschen Pressekorps. Letzteres wurde am veränderten beruflichen Selbstverständnis der EU-Korrespondenten deutlich. Zudem ist im – wenn auch nur bedingt erfolgreichen – Ringen der Korrespondenten um die Platzierung und Deutung von EU-Themen gegenüber den Heimatredaktionen eine Strategie der Inszenierung erkennbar. Auf Akteursebene setzt sich der Journalismus die Grenze seiner Inszenierung gegenüber den EU-Institutionen und -Akteuren im Wesentlichen selbst, da neben normativer Rhetorik medialer Wettbewerb und Berufserfahrung die jeweiligen Handlungsspielräume von Journalisten definieren. Gegenüber den Heimatredaktionen findet die Inszenierung der EU-Journalisten ihre Grenze am Wissen und an den Prioritätssetzungen der Chefredakteure, denen qua Funktion die Letztentscheidung über die einzelnen Beiträge obliegt.
7.2 Die Ergebnisse aus berufssoziologischer Sicht
7.2.3
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Autonomie und Selbstkontrolle im deutschen EU-Journalismus
Die Prozesse der Expertisierung und Inszenierung sollen abschließend vor dem Hintergrund der beruflichen Autonomie und Selbstkontrolle des EU-Journalismus reflektiert werden. Berufliche Autonomie, wie sie Professionen als charakteristisches Merkmal zugeschrieben wird, bezieht sich auf die professionseigene Kontrolle des Berufszugangs, die Exklusivität ihrer Zuständigkeit sowie auf die Unabhängigkeit von Laienurteilen. Sie bedeutet eine weitgehend selbstständige Regelung von Problemen der Berufsgruppe im Rahmen ihrer berufsspezifischen Kompetenzen. Auch wenn es im Journalismus nicht zu einer mittels Zugangskontrolle institutionalisierten Berufsschließung kommen darf (vgl. 2.2.2), sind der durch Expertisierung und Inszenierung erreichte Grad an beruflicher Selbstkontrolle und Autonomie zentrale Themen für ihn und die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Funktion. Anstelle eines zertifizierten Zugangs, der systematisch erworbene Spezialkenntnisse von EU-Journalisten ausweist, ist die Selbstkontrolle der berufseigenen Ethik und EUspezifischen beruflichen Kompetenzen von Bedeutung.181 Sie bezieht sich auf das professionelle Selbstbild und auf das als legitim erachtete professionelle Handeln, das die Berufsangehörigen in Brüssel vertreten (vgl. dazu genauer Offerhaus 2010a). Berufliche Selbstkontrolle wurde und wird, wie aus den Interviews hervorgeht, im Brüsseler Pressekorps vor allem informell und im täglichen Kontakt der Kollegen ausgeübt (vgl. 6.1.3). Im fachlichen Austausch und in der wechselseitigen Bewertung von Kollegen werden gemeinsame Einstellungen definiert und etabliert. Die überwiegend ablehnende Haltung gegenüber der Arbeitsweise eines Vertreters des Skandaljournalismus verdeutlicht den vorherrschenden Konsens unter den Korrespondenten, seine Recherchemethoden und skandalisierende Berichterstattung als nicht legitim zu erachten (vgl. 6.3.1). In ähnlicher Weise thematisieren viele Korrespondenten den Ausbruch der Financial Times Europe aus dem Kollegialschema, die in Brüssel zwar die Rolle eines Leitmediums einnimmt, der dadurch aber ein starker Institutionenspin zugeschrieben wird (vgl. 6.2.1). Solche Konfliktlinien sind insoweit als eine Form beruflicher Selbstkontrolle zu betrachten, als dass über die Thematisierung von Regelbrüchen ein gemeinsamer Konsens innerhalb der Berufsgruppe hergestellt und aufrechterhalten wird. Ebenso wie das
181 Einen beispielsweise durch die API geregelten und an bestimmte Ausbildungsbedingungen geknüpften Zugang zur Korrespondententätigkeit in Brüssel gibt es nicht. Durch ländervergleichende Forschung ist dennoch zu klären, ob und inwieweit Länder wie Italien oder Spanien, in denen Ausbildung und Berufszugang berufsverbandlich geregelt sind, einen EU-Bezug in ihre Ausbildung integriert haben und sich Journalisten zunächst in spezifischer Weise qualifizieren müssen, bevor sie als EU-Korrespondenten arbeiten.
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7 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
berufliche Selbstbild durch den kommunikativ verhandelten Einschluss oder Ausschluss bestimmter legitimer Arbeitsweisen definiert wird, verdeutlicht der Status einzelner Journalisten innerhalb des Pressekorps die Kriterien beruflicher Kompetenz. Das vergleichsweise hohe Prestige berufserfahrener Journalisten, die schon lange mit den für die EU-Berichterstattung typischen Abläufen und Sachfragen vertraut und zudem gut vernetzt sind, ist ein Hinweis auf die Definition spezifischer beruflicher Kompetenzen innerhalb der Gruppe (vgl. 6.4.1). In der Häufigkeit, wie sie als Ansprechpartner von anderen Journalisten kontaktiert und wie ihre Veröffentlichungen von Kollegen gelesen und gegebenenfalls übernommen werden, sind sie die Personen, an denen „best-practice“-Vorstellungen definiert und gemessen werden. Dass eine auf diese Weise ausgeübte berufliche Selbstkontrolle von der Größe der Berufsgruppe abhängt und entsprechenden Veränderungen unterliegt, zeigt die von den Korrespondenten beschriebene Entwicklung des professionellen Selbstbilds im Zuge der Vergrößerung des Brüsseler Pressekorps (vgl. 6.5). In den 1980er Jahren etablierte sich im damals noch deutlich kleineren Pressekorps ein berufliches Selbstbild, demzufolge sich die Korrespondenten als Vermittler des europäischen Integrationsprozesses verstanden. Der enge soziale Verbund der Journalisten schuf gemeinsame politische Positionen, die die Korrespondenten auch in ihren Veröffentlichungen vertraten. Wer sich dem Konsens widersetzte, musste mit Ausschluss aus den relevanten Informationsnetzwerken unter den Journalisten rechnen. Mit Vergrößerung des Pressekorps und zunehmendem Wettbewerb ist diese Form der brüsselinternen Selbstkontrolle nicht mehr ohne weiteres gegeben. Die normativen Orientierungen wurden vielfältiger und die Verhältnisse innerhalb des Pressekorps anonymer. Dies hatte zur Folge, dass heute nicht mehr überschaubar ist, wer unter welchen Bedingungen an seine Informationen kommt. Zudem sind journalistische Regelbrüche, wie an den beiden Beispielen beschrieben, zwar kommentier-, aber nicht mehr unmittelbar sozial sanktionierbar. Vor dem Hintergrund veränderter Arbeitsbedingungen kann der Erlass des Brüsseler Medienkodex durch die Internationale Journalistenföderation als Versuch interpretiert werden, dieser Entwicklung durch die Institutionalisierung einer beruflichen Selbstkontrolle entgegenzuwirken (vgl. 5.3.2). Er betont die Werte eines unabhängigen Journalismus in einer Situation, in der Journalisten im Wettbewerb um Exklusivität dazu neigen, institutionsinterne Informationen vorschnell zu veröffentlichen und auf die von den mittlerweile zahlreichen in Brüssel ansässigen Lobbyisten angebotenen, quasi medienfertigen Informationen zurückzugreifen. Aber wie im Rahmen des deutschen Pressekodex sind auch in Brüssel, abgesehen von öffentlichen Rügen, keine Sanktionen mit dem Verstoß gegen die professionellen Regeln verbunden (zum deutschen Pressekodex vgl. Noelle-Neumann et al. 1996: 86f.).
7.2 Die Ergebnisse aus berufssoziologischer Sicht
287
Eng mit der Selbstkontrolle, also der Frage, welche Ziele die Journalisten verfolgen wollen, ist die Autonomie von EU-Journalisten verbunden, also die Frage, wie souverän und selbstbestimmt sie handeln können. Dabei geht es zum einen um ihre Autonomie gegenüber den politischen Institutionen der EU und zum anderen um die Autonomie gegenüber ihren Heimatredaktionen. Betrachtet man die Veränderungen im journalistischen Selbstverständnis und in den journalistischen Handlungsorientierungen der Brüsseler Korrespondenten, haben sie ihre Autonomie gegenüber der Politik deutlich ausgebaut. Gleichzeitig wird ihre Autonomie durch veränderte Arbeitsbedingungen erheblich eingeschränkt. Zeitdruck, Wettbewerb und geringe personelle Ausstattung zwingen die meisten Journalisten, dem Aktualitätsstrom der politischen Ereignisse zu folgen. Ferner ermöglicht ihnen der professionelle Ausbau von PR-Aktivitäten zahlreicher Akteure, offizielle Mitteilungen ohne weitere Gegenprüfung und Recherche zu vermelden. Dieser Widerspruch stellt jedoch kein spezifisches Problem des EU-Journalismus dar. Vielmehr handelt es sich um ein typisches Phänomen des politischen Journalismus, der sich im Spagat von neutraler politischer Informationsvermittlung und normativer Anforderung einer kontrollierenden „vierten Gewalt“ bewegt (Altmeppen/Löffelholz 1998). Die Autonomie der Medien als die Freiheit von politischen und insbesondere staatlichen Einflüssen gilt als normativ erwünschte Voraussetzung für die Ausübung dieser Aufgabe. Gleichzeitig wird daran die ambivalente Stellung des Journalismus zwischen seiner gesellschaftlichen Funktion und seiner ökonomischen Umsatzorientierung deutlich (vgl. 2.2.2). Demnach kollidiert die Orientierung an den Berufsnormen der Aktualität und Exklusivität als wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren mit anderen journalistischen Berufsnormen wie der Sorgfaltspflicht, der Verantwortlichkeit oder der Ausgewogenheit in der Darstellung. Auch im beruflichen Alltag ist es schwierig, den Grad der journalistischen Autonomie eindeutig zu bestimmen, da er maßgeblich von der intensiven Nähe und Zusammenarbeit zwischen Journalisten, Pressesprechern und Politikern geprägt ist (zur Nähe von Journalisten und Politikern vgl. auch Hoffmann 2003; Pfetsch 2000; Donsbach et al. 1993). Die auf Gegenseitigkeit und Tausch angelegten wechselseitigen Beziehungen werden mitunter als symbiotisch kritisiert, gleichwohl sie notwendige Voraussetzung für die politische Berichterstattung sind (vgl. 6.4.1). Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass die Resonanz der EU-Korrespondenten auf politische Verlautbarungen je nach Situation und Rahmenbedingung variiert und eine Expertisierung im Sinne einer Spezialisierung des Wissens ihre Autonomie gegenüber den EU-Institutionen durchaus vergrößert. Anders stellt sich die Autonomie der EU-Korrespondenten gegenüber ihren Heimatredaktionen dar. Sowohl die Organisationsstruktur als auch die berufliche Praxis zeigten, dass ihre Autonomie gegenüber der Zentrale in den meisten Me-
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dien sehr gering ist. Wenngleich die EU-Berichterstattung in den Redaktionen insgesamt aufgewertet wurde, haben die wenigsten Korrespondenten einen Einfluss auf die Platzierung und endgültige Darstellung ihrer Beiträge. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, wählen viele Korrespondenten EU-Themen bereits a priori mit Blick auf die Wünsche ihrer Redaktion. Auch dies ist zunächst kein spezifisches Problem des EU-Journalismus, sondern ein grundsätzliches Phänomen der (Auslands-)Berichterstattung. Erst in den Zentralen wird unter Abwägung der internationalen Nachrichtenlage endgültig entschieden, welche Themen ihrer Bedeutung nach ausgewählt werden und wieviel Raum sie erhalten (Altmeppen 1999). Dieser in der Organisationsstruktur von Medien begründete Zusammenhang kollidiert indessen mit den typischen Merkmalen von EU-Themen und der nicht eindeutig ausgehandelten normativen Gewichtung der EU-Berichterstattung. Da diese per se eine innenpolitische Dimension hat, sie in einem Kontext langfristiger politischer Prozesse steht und gegenüber den nationalen Politikabläufen vergleichsweise komplex erscheint, stellt sich die Frage, wieviel Autonomie in der Themengewichtung und -gestaltung für Korrespondenten sinnvoll und notwendig wäre. Die Spezialisierung ihres Wissens verschafft ihnen zwar gegenüber den Zentralen ein höheres Maß an Autonomie qua EU-spezifischer Kompetenz. Dennoch wird ihre Autonomie von Chefredakteuren als konkurrierenden Laien kontrolliert und begrenzt. Die von Redakteuren vorgetragene Bewertung als „wichtig, wenngleich uninteressant“ würde für die Anerkennung des EU-spezifischen Wissens als Expertenwissen und damit für eine größere Handlungs- und Deutungsautonomie der Korrespondenten sprechen. Aber die innenpolitische Dimension von EU-Themen liefert zugleich das zentrale Argument gegen eine starke Autonomie und damit fachliche Abschottung der EU-Korrespondenten gegenüber den national geprägten Sichtweisen der Journalisten in den Heimatredaktionen. Welche Implikationen und Folgen haben die festgestellten Strukturen des Wissenserwerbs und die Strukturen der Abgrenzung nun für die Autonomie des EUJournalismus? Wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, wird der Grad der Differenzierung und der Autonomie des EU-Journalismus insbesondere von der Stärke der Innengrenze bestimmt. Die Untersuchung zeigte auf beiden Untersuchungsdimensionen, dass sich der Journalismus professionalisiert, sich also durch den Aufund Ausbau einer auf EU-Journalismus bezogenen journalistischen Infrastruktur binnendifferenziert hat. Zugleich wurden seine Grenzen an verschiedenen Stellen sichtbar. Ob und inwieweit diese Grenzen verschiebbar sind, hängt letztlich von der Frage ab, ob und inwieweit eine weitere Professionalisierung als potenzielle Ausdifferenzierung des EU-Journalismus nicht nur möglich, sondern auch funktional für EU-Berichterstattung ist.
7.2 Die Ergebnisse aus berufssoziologischer Sicht
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Eine weitere Expertisierung würde die Ausdifferenzierung weiterer Korrespondentenpositionen, die unterschiedliche Ressorts oder möglicherweise sogar ein spezielles EU-Ressort bedienen, eine Spezialausbildung für potenzielle EUKorrespondenten und eine möglichst lange Berufstätigkeit in Brüssel implizieren. Während die journalistische Autonomie gegenüber dem politischen System in dem für einen politischen Journalismus charakteristischen Maß bereits weitgehend hergestellt ist, würde eine weitere Inszenierung eine exklusive Zuständigkeit und ein höheres Maß an Autonomie der Korrespondenten gegenüber den Heimatredaktionen bedeuten. Allerdings wäre ein solcher Sonderstatus des EU-Journalismus vor dem Hintergrund der engen Verzahnung von EU-Politik und nationaler Innenpolitik geradezu dysfunktional. Auch den Untersuchungsergebnissen zufolge zeichnet sich in den strukturellen Gegebenheiten der journalistischen Praxis ebenso wie in den Zielvorstellungen der Akteure eher eine Abschwächung der Innengrenze ab. Da die Hierarchie in der Nachrichtenselektion für den journalistischen Produktionsprozess grundlegend ist, konstituiert sich die Grenze insbesondere in der unterschiedlichen Zuständigkeit und im Wissensgefälle unter Journalisten verschiedener Funktionen. Während die Definition journalistischer Zuständigkeit bereits den politischen Entwicklungen folgt – EU-Themen haben als Innenpolitik ein größeres Gewicht, werden in umfangreicherem Ausmaß von politischen Akteuren auf nationaler Ebene verhandelt und finden entsprechend häufiger Eingang in die nationale Berichterstattung –, steht zur Abschwächung der Innengrenze eine Expertisierung hinsichtlich EU-relevanter Sach- und Fachinformationen der neben den Brüsseler Korrespondenten auf nationaler Ebene nun ebenfalls „zuständigen“ Journalisten noch aus. Betrachtet man die strukturellen Bedingungen des Wissenserwerbs durch eine akademische Ausbildung und durch das typische „learning by doing“ im journalistischen Berufsalltag, hat das Implikationen für eine weitere Expertisierung. Vor dem Hintergrund einer intendierten Abschwächung der Innengrenze zugunsten einer Europäisierung des gesamten Journalismus ist diese nur durch eine stärkere Europäisierung der journalistischen Grundausbildung sowie durch Strukturen des kollegialen Austauschs und der medieninternen Zusammenarbeit möglich. Konkret würde dies im Berufsalltag eine engere Kooperation von Korrespondenten an verschiedenen Korrespondentenstandorten sowie zwischen Korrespondenten und Redakteuren bedeuten, was dank Digitalisierung ohne weiteres möglich wäre. Zur EU-spezifischen Aus- und Weiterbildung müsste der Austausch, der in Brüssel unter Kollegen gang und gäbe ist, medienintern institutionalisiert werden. Auf diese Weise könnte den Journalisten der Heimatredaktionen durch einen intensivierten täglichen Kontakt sowie regelmäßigen Besuchen des Brüsseler Korrespondenten-
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7 Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus
büros, Hintergrundwissen und aktuelle Informationen zu relevanten EU-politischen Zusammenhängen, Ansprechpartnern und Informationsquellen vermittelt werden. Zur Stabilisierung und Erweiterung der Außengrenze gegenüber den politischen Institutionen auf EU-Ebene legen die Ergebnisse eine Sicherung der Abgrenzungsstruktur durch eine verbesserte personelle Ausstattung der Korrespondentenbüros nahe. Die Gestaltung der personellen Übergänge durch eine zeitversetzte Rotation würde einen kontinuierlichen Wissenstransfer innerhalb der Büros absichern. Zudem könnte unter verschärften Wettbewerbsbedingungen ein mit mindestens zwei Personen besetztes Büro die journalistische Handlungsautonomie insoweit vergrößern, als dadurch ein konkurrenzfreier Meinungs- und Materialaustausch, eine journalistische Selbstkontrolle durch Gegenlesen der Artikel und größere Freiräume zur Recherche möglich würden.
8 Methodische Grenzen, wissenschaftliche Erträge und Forschungsausblick
Mit der system- und akteurstheoretischen Bestimmung von Professionalisierung sowie der damit gewählten Komplexität der empirischen Untersuchungsanlage gingen zwei Einschränkungen einher, die es vor der abschließenden Bilanzierung der wissenschaftlichen Erträge zu bedenken gilt: Eine erste Einschränkung ist bei der Interpretation der theoretischen Dimensionen zu berücksichtigen. Da die hier als Prozessbeschreibung angelegten Begriffe der Expertisierung und Inszenierung sowohl strukturelle Merkmale als auch individuelle Strategien der Professionalisierung bezeichnen und als Institutionalisierungsprozess in ihrem zeitlichen Verlauf auf einer Organisations- und einer Akteursebene untersucht wurden, brachte dies auf empirischer Ebene eine Fülle von Indikatoren aus unterschiedlichen Berufszusammenhängen hervor. So bildeten die mit einer Akademisierung der Ausbildung und mit einer Arbeitsteilung verbundene Spezialisierung der Berufsanforderungen ebenso wie die aktive Spezialisierung des Berufswissens durch Aus- und Weiterbildung, durch Vernetzung und durch Berufserfahrung jeweils Indikatoren der Expertisierung. Noch vielfältiger in ihrer Bedeutung waren die der Inszenierung zugewiesenen Indikatoren. Unter Inszenierung wurden alle Mittel einer zunehmenden beruflichen Grenzziehung betrachtet. Auf Organisationsebene bezeichnete sie die kollektive Vertretung von Berufsinteressen gegenüber unterschiedlichen Bezugsgruppen. Auf Akteursebene wurden darunter die Entstehung und Veränderung des beruflichen Selbstbilds verstanden, das den Zuständigkeitsbereich und die damit verbundene normative Handlungsorientierung kennzeichnet. Ein weiterer Fokus lag auf den Handlungen der EU-Journalisten zur Sicherung ihrer Zuständigkeit und Deutungshoheit gegenüber anderen beruflichen Bezugsgruppen. Interpretiert man die Befunde auf den beiden Dimensionen, hat man es immer mit einem ganzen Bündel von Merkmalen und deren unterschiedlichen Ausprägungen zu tun. Erschwerend kommt hinzu, dass die im Begriff der Inszenierung angelegten Abgrenzungsprozesse in ihrer Prozesshaftigkeit nur schwer beschreibbar sind. Dementsprechend vorsichtig ist das Verhältnis von empirischer Evidenz und theoretischer Abstraktion zu betrachten.
A. Offerhaus, Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus, DOI 10.1007/978-3-531-92725-1_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Methodische Grenzen, wissenschaftliche Erträge und Forschungsausblick
Die zweite Einschränkung ergibt sich aus der Operationalisierung des Zeitverlaufs, also der längsschnittbezogenen „Messung“ von Veränderungen auf den jeweiligen Dimensionen. Vor dem Hintergrund einer Kontinuumsvorstellung ist die Untersuchung einer Curriculumsentwicklung von Universitäten ein geeigneter Indikator für den Expertisierungsprozess, da sich ihre Inhalte gut quantifizieren und in einem Zeitverlauf beschreiben lassen. Die Institutionenanalyse der Berufsverbände als Indikator der Inszenierung blieb dagegen punktuell. Hier konnten über die zeitliche Abfolge von Gründungen einzelner Organisationen hinaus Entwicklungen nur qualitativ beschrieben werden: Der Berufsverband hat zu einem Zeitpunkt x einen Berufskodex erlassen; zu einem Zeitpunkt y führte er eine bestimmte Organisationsstruktur ein; der Berufsverband hat an Bedeutung gewonnen, indem er ab dem Zeitpunkt z in einem bestimmten Bereich das Ausmaß seiner Aktivitäten erhöhte. Neben zukünftig möglichen Ergänzungsuntersuchungen wäre für eine vertiefende historische Aufarbeitung institutioneller Entwicklungen und ihrer Verdichtung zu prozessbezogenen Informationen ein intensiveres Aktenstudium notwendig. Dort, wo Dokumente einer institutionellen Selbstbeschreibung fehlen, könnten Experteninterviews mit Vertretern der entsprechenden Organisationen der Beleuchtung von Hintergründen und Entwicklungen dienen. Auf Akteursebene ist die Operationalisierung des Zeitverlaufs noch problematischer, da neben Angaben zu Strategien der individuellen Professionalisierung einzelner Akteure auch Professionalisierungsaussagen getroffen werden, die lediglich auf retrospektiven Einschätzungen zu den Veränderungen der Akteursgruppe beruhen. Wenngleich dies aus der Anlage des Untersuchungsdesigns von vorneherein absehbar war (vgl. 4.3.3), bleibt eine solche Bestimmung der Professionalisierung von Akteuren letztlich methodisch unbefriedigend. Eine der Organisationsebene vergleichbare Validität von Professionalisierungsaussagen ist auf Akteursebene prinzipiell nicht erreichbar, da Interviews immer nur eine Momentaufnahme darstellen. Auch vergangenheitsbezogene Aussagen sind als soziale Konstruktionen zu betrachten, die von den Akteuren vor dem Hintergrund ihrer gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und -einstellungen (re-)interpretiert werden. Eine exaktere Beschreibung von Zeitverläufen bestimmter Phänomene auf Akteursebene wäre lediglich durch qualitative Paneluntersuchungen möglich, also durch regelmäßige und in größeren zeitlichen Abständen durchzuführende Interviews. Insgesamt handelt es sich daher bei den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung eher um die Darstellung der Professionalisiertheit des deutschen EUJournalismus zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt und weniger um die Abbildung eines kontinuierlichen Professionalisierungsprozesses. Trotz der beiden genannten methodischen Einschränkungen, die zwangsläufig mit einer komplexen theoretischen Perspektive und einem mehrmethodischen Untersuchungsde-
8 Methodische Grenzen, wissenschaftliche Erträge und Forschungsausblick
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sign einhergehen, brachte die Studie gerade aufgrund ihrer theoretischen und empirischen Anlage generalisierbare Ergebnisse für verschiedene Disziplinen hervor. Diese bieten wiederum Anschlussmöglichkeiten für weitere Untersuchungen und Fragestellungen. Erstens liefert sie einen grundlegenden Beitrag zur Berufssoziologie, da hier das Konzept der Professionalisierung an die allgemeinen theoretischen Perspektiven der Soziologie angeschlossen und ein mehrmethodisches Design zur empirischen Untersuchung von Professionalisierungsprozessen jenseits von Professionen entwickelt wurde. Professionalisierung wurde als ein Prozess der Institutionalisierung von beruflichen Handlungen definiert, der sich auf den Dimensionen zunehmender Expertisierung und Inszenierung beschreiben lässt. Für beide Dimensionen konnten auf Organisations- wie auf Akteursebene entsprechende Entwicklungen festgestellt werden, die allerdings nur bedingt miteinander korrespondierten. Auffällig war stattdessen, dass der Organisationsbildungsprozess bislang weitgehend an den Akteuren vorbeilief. Zudem brachten die Leitfadeninterviews zwei „neue“ Professionalisierungsstrategien der Akteure hervor, die sich in beide Dimensionen einordnen ließen. Die möglichst weitreichende Vernetzung der EU-Journalisten mit Kollegen wie auch mit anderen, als sachverständig relevanten Akteuren kann als eine Strategie der Expertisierung, der Kampf um Deutungshoheit der Korrespondenten gegenüber den Heimatredaktionen als Strategie der Inszenierung ihres professionellen Handelns interpretiert werden.182 Beide Strategien stellen wichtige berufliche Erfolgsfaktoren und Machtressourcen von EU-Korrespondenten dar. Während aus einer machttheoretischen Perspektive die Professionalisierung von Berufen als ein Prozess erfolgreicher Berufsschließung auf der Basis institutionalisierter Autonomie und Selbstkontrolle betrachtet wird, zeigen die beiden Strategien der Professionalisierung dieses Bestreben auch ohne institutionalisierte Absicherungen. Somit sind neben dem Professionalisierungsprozess auf dem „klassischen“ Weg der kollektiven Organisation von Berufsinteressen auch individuelle Wege der Professionalisierung möglich. Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, dass Berufe, die ähnliche berufsstruktu-
182 Wie eng beide Dimensionen miteinander verbunden sind, zeigte auf empirischer Ebene die Tatsache, dass die der Expertisierung dienende Vernetzung der EU-Journalisten mit gleichzeitiger Abgrenzungs- und Distanzrhetorik, also einer Inszenierung ihres beruflichen Handelns einhergeht. Einerseits sind sie auf die Expertise der mit ihnen kooperierenden Akteure angewiesen, andererseits legen ihnen die journalistischen Berufsnormen nahe, sich gegenüber Fremdeinflüssen abzuschirmen. Auf theoretischer Ebene wurde in Abschnitt 3.2 darauf verwiesen, dass die Sinnstruktur eng an die Funktion des Berufs gekoppelt ist, so dass die Abgrenzung der Sinnstruktur nach außen nicht ohne den Verweis auf die innere Sinnstruktur möglich ist.
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relle Merkmale wie der Journalismus aufweisen, indem sie beispielsweise keine institutionalisierte Zugangskontrolle haben oder haben dürfen, oder indem sie nicht oder nur bedingt in Arbeitsorganisationen eingebettet sind, auch ähnliche Strategien der Professionalisierung anwenden.183 So wäre durch berufsvergleichende Studien zu prüfen, inwieweit diese beiden Handlungsstrategien unter den gegenwärtigen Arbeitsmarkt- und Wettbewerbsbedingungen generalisierend als typisch moderne Strategien der Professionalisierung aufgefasst werden können. Vernetzung und Durchsetzung von Deutungshoheit wären demnach in vielen beruflichen Bereichen eine individuelle bzw. individualisierte Strategie eines erfolgsorientierten beruflichen Handelns, die eine kollektive Strategie der Institutionalisierung von Berufswissen und -interessen ersetzt. Dabei schließt Vernetzung den auf wechselseitigem Vertrauen basierenden Kontakt zu Berufskollegen wie zu Kunden und Klienten ein. Ein Netzwerk von Berufskollegen würde unter modernen Arbeitsbedingungen weniger der organisierten Monopolisierung von Märkten oder der Durchsetzung berufsinterner Leistungskontrollen dienen als vielmehr dem informationsgenerierenden Erfahrungsaustausch und der (Ab-)Sicherung von Karrierechancen in Berufsfeldern mit unsicheren Beschäftigungslagen wie bei freiberuflicher Arbeit oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Zudem würde der auf Vertrauen basierender Kontakt zu Kunden unter den Bedingungen von Konkurrenz und Wettbewerb die ökonomisch verwertbare Legitimation und Anerkennung der beruflichen Leistung sicherstellen. Zweitens liefert die Studie einen Beitrag für die Journalismusforschung, indem sie am spezifischen Fall des EU-Journalismus einen beginnenden Prozess der Binnendifferenzierung des Systems Journalismus beschreibt und seine Grenze aufzeigt. Die Professionalisierung des EU-Journalismus lässt sich als Entwicklung charakterisieren, in der sich der EU-Journalismus innerhalb des Journalismus anfangs mit einer starken Innengrenze und einer schwachen Außengrenze herauszubilden begann und in dessen weiterem Verlauf Professionalisierungsbestrebungen auf eine Verstärkung der Außengrenze und eine Abschwächung der Innengrenze hindeuten. Dieser Zusammenhang verweist auf komplexe Wandlungsprozesse im Journalismus, die als Anpassungsprozesse an veränderte Um-
183 Künstler weisen eine Reihe von Berufsmerkmalen auf, die mit denen von Journalisten vergleichbar sind. Trotz eines hohen formalen Qualifizierungsniveaus sind die Qualifizierungsinhalte nicht mit einem festen Berufsbild, mit reguliertem Zugang auf den Arbeitsmarkt und einem sicheren Einkommen verbunden. So sind sie ebenfalls auf eine informelle Durchsetzung ihrer Berufsinteressen angewiesen. Obwohl es durchaus auch Künstlerverbände gibt, dient vor allem der Auf- und Ausbau von persönlichen Netzwerken der Steigerung der individuellen Reputation (Inszenierung) sowie der Abschöpfung eines berufsrelevanten Wissens (Expertisierung), vgl. Haak/Schmid (2001).
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weltbedingungen betrachtet werden können, aber nicht notwendigerweise zu einer abschließenden Binnendifferenzierung führen müssen. Aus der Feststellung, dass der Stellenwert der Innengrenze des EU-Journalismus entscheidend für seine Binnendifferenzierung ist, resultiert die Aufgabe einer weiteren Beobachtung ihrer künftigen Entwicklung. Empirisch gewendet heißt das, dass eine Wiederholung sowie eine Erweiterung einer solchen Professionalisierungsstudie auf andere Journalistengruppen wünschenswert wäre. Die interviewten Redakteure dieser Untersuchung waren hauptsächlich „gatekeeper“, also Journalisten, die als Ressortleiter über Beiträge der EU-Korrespondenten entscheiden, zuweilen EU-Themen kommentieren, aber nur in Ausnahmefällen selbst mit Berichten zur EU-Berichterstattung beitragen. Demnach bleibt es weiteren Studien vorbehalten zu untersuchen, wie es um die EU-bezogene Professionalisierung von Hauptstadtkorrespondenten sowie von Redakteuren und Fachjournalisten bestellt ist. Denn das, was die Brüsseler Korrespondenten mit Nachdruck fordern, scheint im journalistischen Alltag vielfach schon Realität geworden zu sein: Immer mehr Redakteure und Fachjournalisten müssen im Unterschied zu EU-Korrespondenten, die bei EU-Themen einen nationalen Bezug herstellen, bei nationalen Themen die europäische Dimension in ihrer Berichterstattung berücksichtigen. Darüber hinaus könnten nach journalistischer Funktion differenzierte Inhaltsanalysen Aufschluss darüber geben, inwieweit sich die Einflusssphären unterschiedlicher Korrespondentenplätze tatsächlich auf die Perspektiven in der Berichterstattung niederschlagen. Schließlich liefert die Studie drittens einen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse der Konstitutionsbedingungen einer europäischen Öffentlichkeit: Nicht das Medienprodukt, sondern seine Produktionsbedingungen und Produzenten standen im Zentrum der Untersuchung. Hierbei gaben die Experteninterviews detaillierte Einblicke in die Berufsroutinen und Arbeitsbedingungen der EU-Korrespondenten in Brüssel. Sie deckten Ähnlichkeiten und Besonderheiten im Vergleich zu anderen Korrespondentenrollen sowie den Einfluss allgemeiner Trends im Journalismus auf ihre Arbeit auf. Die Untersuchung zeigt, dass im Zuge der europäischen Integration eine Professionalisierung des EU-Journalismus stattgefunden hat, deren Ausmaß auf Organisationsebene stark von ökonomischen Faktoren abhängt. Insofern wird europäische Öffentlichkeit im Sinne einer massenmedialen EU-Berichterstattung immer noch maßgeblich von nationalen Qualitätsmedien hergestellt, die entsprechende Ressourcen für die Arbeit mehrerer spezialisierter Korrespondenten bereitstellen. Die in Inhaltsanalysen festgestellte segmentierte Europäisierung bzw. dominierende nationale Perspektive ist als Teil des journalistischen Professionalisierungsprozesses zu verstehen und sowohl auf das professionelle Handeln der Journalisten als auch auf die strukturellen Bedingungen der Berichterstattung zurückzuführen.
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Im Hinblick auf eine Professionalisierung des gesamteuropäischen EU-Journalismus wäre es nicht zuletzt aufschlussreich zu untersuchen, inwieweit der für den deutschen EU-Journalismus festgestellte Zusammenhang einer sich im Prozess der journalistischen Binnendifferenzierung verstärkenden Außengrenze bei gleichzeitiger Tendenz zur Abschwächung der Binnengrenze bzw. einzelne Aspekte im Zusammenhang von institutionellen Arbeitsbedingungen und individueller Berichterstattungspraxis sich auch in anderen europäischen Ländern nachweisen lassen. Ist beispielsweise die Herstellung des nationalen Bezugs ein universelles Merkmal einer Europa-weiten Professionalisierung von EU-Journalisten und damit charakteristisch für die EU-Berichterstattung in allen europäischen Ländern? Welchen Einfluss haben Ausbildungsinstitutionen und Berufsverbände in den jeweiligen Ländern auf die Professionalisierung ihrer Korrespondenten und Redakteure? Ist auch in anderen europäischen Ländern eine Professionalisierung auf den einzelnen Dimensionen erkennbar und wenn ja, bis zu welchem Grad? Dies sind Fragestellungen einer inter- und transnational vergleichenden Journalismusforschung, einem noch recht jungen Forschungsfeld, innerhalb dessen zwar einzelne berufliche Aspekte des Journalismus wie Ausbildung (Fröhlich/ Holtz-Bacha 2003; 1997; Kopper 1993) oder journalistisches Selbstverständnis (Donsbach/Patterson 2003) bereits im Ländervergleich untersucht wurden. Darüber hinausreichende ländervergleichende Untersuchungen von berufsbezogenen Fragestellungen, die auch die gesellschaftlichen und institutionellen Kontexte des Journalismus in den einzelnen europäischen Ländern berücksichtigen, sind dagegen vergleichsweise selten. Hier könnten die Professionalisierung des EU-Journalismus in einzelnen Ländern vor dem Hintergrund kulturell unterschiedlich geprägter Rahmenbedingungen untersucht und Hypothesen dazu formuliert werden, welche Faktoren die Entwicklung begünstigen oder behindern. Obgleich in verschiedenen theoretischen und empirischen Beiträgen der Journalismusforschung bereits darauf verwiesen wurde, dass es einen „europäischen Journalismus“ im Sinne eines Europa-weit einheitlichen Journalismus (noch) nicht gibt (Ruß-Mohl 2003; 2000; Lünenborg 2000b; 2000a), bleiben Untersuchungen Europa-weiter Konvergenz- und Divergenzentwicklungen im Journalismus ein für die Konstitutionsbedingungen von europäischer Öffentlichkeit wichtiges Forschungsfeld.
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