Theolo
ische Blicherei
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Systematische Theologie
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Theolo
ische Blicherei
Neudrucke und Berichte aus dem 20.Jahrhundert
Systematische Theologie
Anfänge der dialektischen Theologie
Rudolf Bultmann Friedrich Gogarten Eduard Thurneysen
17 Teil2
Anfänge der dialektischen Theologie
THEOLOGISCHE
BÜCHEREI
Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert· Band 17 Systematische Theologie
Anfänge der dialektischen Theologie Teil II Rudolf Bultmann
Friedrich Gogarten
Eduard Thurneysen
Herausgegeben von ]ürgen Moltmann
CHR. KAISER VERLAG MüNCHEN 1963
© 1963 ehr. Kaiser Verlag München Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung vorbehalten. - Printed in Germany Umschlagentwurf von Rudolf NieB Satz und Druck: Buchdruckerei Sommer & Söhne, Feuchtwangen
INHALT RUDOLFBULTMANN
9
Religion und Kultur Christliche Welt, 34.Jg. 1920, Nr.27, Sp. 417-421; Nr.28, Sp. 435-439; Nr. 29, Sp. 450-453
11
Ethische und mystische Religion im Urchristentum Vortrag, gehalten am 29. September 1920 auf der Wartburg. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 46, Sp. 725-731; Nr. 47, Sp. 738-743
29
Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments Zwischen den Zeiten, 3. Jg. 1925, Heft 4, S. 334-357
47
Die Frage der "dialektischen" Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Erik Peterson. Zwischen den Zeiten, 4. Jg. 1926, Heft 1, S. 40-59
72
FRIEDRICH GOGARTEN
93
Zwischen den Zeiten. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 24, Sp. 374-378
95
Die Krisis unserer Kultur Vortrag, gehalten am 1. Oktober 1920 auf der Wartburg. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 49, Sp. 770-777; Nr. 50, Sp. 786-791 Die Not der Absolutheit: Die religiöse Entscheidung . Offener Brief an Pfarrer D. Emil Fuchs. Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 8, Sp. 142-145. Abgedruckt nach: Die religiöse Entscheidung, Jena 1921, S. 5-11 E. Fuchs: Vom unbedingten Ernst unsrer Frömmigkeit Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 9, Sp. 153-157 E. Troeltsch: Ein Apfel vom Baume Kierkegaards Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 11, Sp. 186-189 Wider die romantische Theologie. Ein Kapitel vom Glauben. Christliche Welt, 36. Jg. 1922, Nr. 27, Sp. 498-502; Nr. 28, Sp. 514-519
101
122
128 134 140
Gemeinschaft oder Gemeinde
153
In: Von Glauben und Offenbarung, Jena 1923, S. 63-83
Historismus
171
Zwischen den Zeiten, 2. Jg. 1924, Heft 8, S. 7-25
Protestantismus und Wirklichkeit
191
Nachwort zu Martin Luthers "Vom unfreien Willen", München 1924. Abgedruckt nach: Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928, S. 13-43
EDUARD THURNEYSEN
219
Sozialismus und Christentum
221
Zwischen den Zeiten, 1. Jg. 1923, Heft 2, S. 58-80
Schrift und Offenbarung
247
Vortrag, gehalten auf Einladung der Theologenschaft der Universität Marburg am 20. Februar 1924. Zwischen den Zeiten, 2. Jg. 1924, Heft 6, S.3-30
Offenbarung in Religionsgeschichte und Bibel.
276
Zum Gedächtnis Bernhard Duhms. Zwischen den Zeiten, 6. Jg. 1928, Heft 6, S. 453-477
AUSKLANG
301
P. Schempp: Randglossen zum Barthianismus
303
Zwischen den Zeiten, 6. Jg. 1928, Heft 4, S. 529-539
Abschied von "Zwischen den Zeiten" . K. Barth / E. Thumeysen / G. Merz
313
Zwischen den Zeiten, 11. Jg. 1933, Heft 6, S. 536-554
F. Gogarten: Einleitung zu "Gericht oder Skepsis"
331
Eine Streitschrift gegen Kar! Barth. Jena 1937, S. 7-13
Literaturverzeichnis
338
INHALT DES ERSTEN TEILES (BAND 17/1)
Vorwort des Herausgebers
KARLBARTH Der Christ in der Gesellschaft (1919) Vergangenheit und Zukunft. Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt (1919) Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (1920) Der Römerbrief: Vorwort zur 1. Auflage (1919) Reaktionen auf den "Römerbrief" 1. Auflage: E. Brunner, "Der Römerbrief" von Kar! Barth (1919) A. ]ülicher, Ein moderner Paulus-Ausleger (1920) F. Gogarten, Vom heiligen Egoismus des Christen. Eine Antwort auf ]ülichers Aufsatz "Ein moderner Paulus-Ausleger" (1920) Der Römerbrief: Vorwort zur 2. Auflage (1921) Reaktionen auf den "Römerbrief" 2. Auflage: R. Bultmann, Kar! Barths "Römerbrief" in zweiter Auflage (1922) A. Schlatter, Kar! Barths "Römerbrief" (1922) Der Römerbrief: Vorwort zur 3. Auflage (1922) Grundfragen der christlichen Sozialethik. Auseinandersetzung mit Paul Althaus (1922) über den Begriff des Paradoxes: P. Tillich, Kritisches und positives Paradox (Eine Auseinandersetzung mit Kar! Barth und Friedrich Gogarten (1923) K. Barth, Von der Paradoxie des "positiven Paradoxes". Antworten und Fragen an Paul Tillich (1923) P. Tillich: Antwort an Kar! Barth (1923) F. Gogarten: Zur Geisteslage des Theologen. Noch eine Antwort an Paul Tillüh (1924) Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922)
HEINRICH BARTH Gotteserkenntnis (1919)
EMIL BRUNNER Die Grenzen der Humanität (1922) Die Mystik und das Wort. Einleitung: Unser Problem (1924) Gesetz und Offenbarung (1925) Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie (1925)
RUDOLF BUL TMANN
Rudolf Bultmann kam aus der exegetischen Arbeit, dem Durchbruch zur Formgeschichte (Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921), in die Weggemeinschaft jener Theologie »Zwischen den Zeiten". Wie sehr ihn aber über die exegetischen Fragen hinaus das theologische Problem einer überwindung des garstigen, breiten Grabens zwischen historischer und systematischer Theologie von Anbeginn an beschäftigte, zeigt seine großartige Rezension von Barths "Römerbrief" in der Christlichen Welt, 1922 (vgl. hier Band 1, S. 119), beweist sein Aufsatz über "Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testamentes" in Zwischen den Zeiten, 1925, und seine Einleitung über Geschichte und die Art der Betrachtung von Geschichte zum Jesusbuch 1926. Bultmann kam von Wilhelm Herrmann her (vgl. seinen Beitrag zur W. Herrmann-Festschrift, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 27, 1917, 76-87: "Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testamentes") und ist im Vergleich zu K. Barth wohl der treuere Schüler Herrmanns geblieben. Darin mag auch das starke kulturkritische Interesse begründet sein, das ihn in jenen Jahren der Krise und der Revolutionen ständig bewegte, wie es in dem Aufsatz "Religion und Kultur", Christliche Welt, 1920, zum Ausdruck kommt. Die Frage nach einer echten "dialektischen Theologie", ihrer Bedeutung für die Exegese geschichtlicher Zeugnisse und für die Wahrnehmung der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, ist von keinem so nachhaltig durchdacht worden. Doch gerade an der Formulierung dessen, was "dialektisch" sei an der "dialektischen Theologie", trennten sich die Wege zwischen Barth und Bultmann. Die zutage tretenden Divergenzen, wie sie schon in Bultmanns Rezension des "Römerbriefes" von Barth sichtbar sind, beherrschen heute weite Flächen der theologischen Problematik. Es konnten. hier nur Aufsätze abgedruckt werden, die nicht in die Aufsatzsammlung Bultmanns "Glauben und Verstehen", Band 1, 1933, aufgenommen worden sind. Der Aufsatz "Religion und Kultur", Christliche Welt, 1920, spiegelt deutlich den Einfluß W. Herrmanns wider. Der Vortrag "Ethische und mystische Religion im Urchristentum" in "Christliche Welt" 1920, wurde gehalten auf der Wartburg für die "Freunde der Christlichen Welt". Die Arbeit über "Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testamentes" in "Zwischen den Zeiten", 1925, zeigt die Ansätze zur Hermeneutik bei Bultmann vor der Ausbildung einer "existentialen Interpretation". Der Aufsatz über "Die Frage der dialektischen Theologie", Zwischen den Zeiten, 1926, stellt eine Auseinandersetzung mit Erik Peterson dar und zeigt Bultmanns Verständnis von "Dialektik". Hingewiesen sei auf die, in unseren Zeitraum gehörenden wichtigen Aufsätze in "Glauben und Verstehen", Band 1: "Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung", zuerst Theologische Blätter, 1924; "Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?", zuerst Theologische Blätter, 1925; "Kar! Barth, ,Die Auferstehung der Toten"', zuerst Theologische Blätter, 1926.
RELIGION UND KULTUR
1.
In den politischen Kämpfen pflegt die Frage nach der Bedeutung der Religion als Kulturfaktor bald heftig bestritten, bald noch heftiger behauptet zu werden. Das Zeugnis der Geschichte spricht anscheinend für die Kulturbedeutung der Religion, denn aus dem Schoße der Religion oder zum mindesten im engsten Zusammenhang mit ihr, von ihren Kräften getrieben und befruchtet, haben die großen Gebiete der Kultur den Anfang ihrer Entwicklung genommen. Das gilt zunächst für die Geschichte der Wissenschaft. Alle primitive Welterklärung ist religiös; auf die Fragen, die der erwachende Verstand an die kosmischen Vorgänge, wie an die staunenerregenden Vorgänge des Menschenlebens stellt, antworten die Gestaltungen der religiösen Phantasie. Was Blitz und Donner sind, wie das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen zu begreifen ist, woher Schlaf und Krankheit kommen, was Geburt und Tod bedeuten, - die erste Antwort gibt die religiöse Phantasie, mit der die Gedanken einer verstandesmäßigen Welterklärung zuerst untrennbar verbunden sind. Die erste Wissenschaft ist das Vorrecht der Priesterkaste; aus ihrem Kreise entsteht wie die erste Theologie, so auch die erste Astronomie; Zeiteinteilung und Kalender gehen auf sie zurück. Die systematisch-wissenschaftlichen Motive sind an der Hand der kultischen ins Leben getreten. Primitive Mathematik wie Medizin haben religiöse Ursprünge. In Priesterkreisen wird die Entstehung der Literatur gefunden werden müssen; heilige Urkunden sammeln die Tradition der Vorzeit, und in der Erklärung der Urkunden wachsen die Anfänge historischer Arbeit empor. - Ein prinzipiell gleiches Bild, wie es die Entstehung der alten Kulturen I zeigt, bietet das im deutlicheren Licht der Geschichte liegende Mittelalter unse,rer eigenen Kultur. Wie sie unter dem Schutz der Kirche gewachsen und gepflegt ist, bedarf kaum der Erinnerung. Philosophie und Geschichtswissenschaft sind im Rahmen der Theologie emporgewachsen, Universitäten
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Rudolf Bultmann
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und Schulen sind ganz wesentlich aus kirchlichen Zwecken entstanden und von kirchlichem Geist gepflegt worden. In der Geschichte der Kunst ist es nicht anders. Primitive Ornamentik steht im Dienst der Religion, wenn sie böse Geister fernhalten oder heilsame Kräfte festhalten will. Die Totenverehrung, die Stätte des Kultus geben Motive für künstlerische Betätigung; Tempel und Götterbilder entstehen, so daß es natürlich ist, daß uns beim Gedanken an antike Kunst zuerst und ganz wesentlich die Werke religiöser Kunst in den Sinn kommen; und ebenso liegt es, wenn wir an byzantinische oder mittelalterliche Kunst denken. - Für die Entstehung der Musik ist der Kultus mit Tänzen und Gesängen, und ebenso der Krieg, dessen Werk ursprünglich auch religiösen Charakters ist, mit seiner Kriegsmusik in gleicher Weise bedeutsam. Auch die Pflege der Musik ist wohl Sache einer priesterlichen Kaste; man denke an die Leviten des Alten Testaments. Und was die kirchliche Musik für die moderne Musik bedeutet hat, zeigt die Erinnerung an Oratorien und Messen wie an die Namen Bach oder Händel, Bruckner oder Reger. - Was uns von den Resten alter Literaturen erhalten ist, zeigt fast durchweg religiösen Charakter. In den Formeln des Kultus und des Zaubers entsteht eine primitive Dichtkunst. Wie aus dem Kult eine Lyrik erwächst, zeigen die alttestamentlichen Psalmen ebenso wie die griechische Lyrik. Aus dem Kultus des Dionysos ist das griechische Drama geboren, und was ist damit gesagt! Wo im Mittelalter ein neuer Ansatz zu dramatischen Spielen entsteht, ist es wieder die kirchliche Sphäre; in ihr wurzelt das Mysterium. Sollen wieder Namen genannt sein? "Aischylos wird in Ewigkeit leben als einer der erhabensten religiösen Dichter" (Wilamowitz); Dante ist ohne die kirchliche Kultur nicht denkbar; ebensowenig Wolfram von Eschenbach, ja auch Goethes Faust. Endlich die Geschichte der Sittlichkeit! Aufs engste verbunden sind im Primitiven die Begriffe "gut" und "böse" mit den religiösen Begriffen von "rein" und "unrein". Ritus und heiliges Recht spielen solche Rolle in der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins, daß sie auch auf entwickelter Kulturstufe oft unheilbar mit sittlichen Begriffen verworren sind. Und wo die Eigenart des sittlichen Bewußtseins sich geltend zu machen beginnt, bleibt doch Gott der Geber und Hüter des Sittengesetzes; die heiligen Schriften sind zugleich der Kodex des Rechtes, und "sittlich gut" und "fromm" gelten oft geradezu als identisch. Die sittliche Bewegung der Prophetie trat getragen von religiösem Erlebnis und Glauben in das Leben. Der Katholizismus des Mittelalters übte
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Religion und Kultur
13
seine Kulturarbeit der sittlichen Erziehung in der Form der kirchlichreligiösen Leitung. I
2. Dennoch wäre es falsch, auf diese Geschichtsbetrachtung das Urteil zu gründen; denn die Geschichte lehrt weiter, daß auf allen Gebieten des geistigen Lebens sich die Emanzipierung der Kultur von der Religion vollzieht. In der Geschichte der Wissenschaft: die eigentliche Blüte der Wissenschaft unseres Kulturkreises erwuchs in Ionien, in dem Gebiet der griechischen Kultur, wo mit der Lösung vom heimatlichen Boden zugleich das enge Band zwischen dem geistigen Leben und der Religion gelockert oder zerschnitten war. Hier entsteht die griechische Naturwissenschaft und Philosophie; hier die wissenschaftliche Prosa. Und im engeren Kreis unserer modernen Kultur erwächst wiederum die Blüte der Wissenschaft da, wo sie sich von der Kirche emanzipiert und sich in ihrer Selbständigkeit erfaßt: in den großen Geistesbewegungen des Humanismus und der Aufklärung; die mathematische Naturwissenschaft entsteht, die Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus. Und charakteristisch ist die Rolle, die dabei die heidnische Antike spielt. Wie endlich die moderne Naturwissenschaft, wie Medizin und Technik ihr Leben völlig frei von religiös-kirchlichen Motiven und Tendenzen haben, bedarf keines Wortes weiter. Parallel geht wieder die Entwicklung der Kunst. Kennen wir die bildende Kunst der Antike auch ganz wesentlich als religiöse Kunst, so zeigt doch die Besinnung, daß ihr der religiöse Charakter nur als ein für ihre Entstehung charakteristisches äußerliches Gewand anhaftet; in ihrem eigentlichen Wesen ist sie profan geworden. Die Göttergestalten der klassischen griechischen Kunst sind entgöttert; der Gott ist der schöne Mensch geworden. Dasselbe zeigt die Kunst der Hochrenaissance, der die kirchliche Sphäre wohl die stofflichen Motive liefert. Der Realismus, der in der Darstellung des schönen Menschen über den Typus der byzantinischen und frühitalienischen Kunst gesiegt hat, zeigt, daß auch hier der eigentliche Gegenstand der Kunst der Mensch in seinem weltlichen Lebensgefühl und seiner repräsentativen Existenz geworden ist. Wie das entsprechend von der modernen bildenden Kunst gilt, macht besonders der bis in unsere Zeit herrschende Impressionismus ganz klar. Und wirken in der modernsten Entwicklung des Expressionismus auch
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religiöse Motive, so steht doch einmal diese Kunst nicht im Dienst religiöser oder gar kultischer Zwecke, und so werden ihre Gestaltungen als Kunstwerke doch nicht an ihrem religiösen Inhalt, sondern an ihrer Formensprache gemessen. Es bedarf auch nicht längerer Ausführungen, wie die moderne Musik profan geworden ist in Lied und Oper wie in der Instrumentalmusik, wie prinzipiell nicht die Kirche, sondern der Konzertsaal der Ort des musikalischen Genusses ist. - In der Dichtkunst bietet Ionien wie für die Emanzipierung der Wissenschaft, so für die der Dichtung von der Religion das klassische Beispiel. In den homerischen Dichtungen sind die Gestalten frommen Glaubens zu denen des ästhetischen Spiels geworden; sind Lyrik und Drama auch aus dem Kultus entstanden: sie haben doch ihre eigenen Gesetze gefunden und haben ihren Sinn in der Selbstdarstellung oder Darstellung des Menschen. Nicht anders steht es in der modernen Dichtung. War vielleicht die Sittlichkeit am engsten mit der Religion verbunden, auch sie emanzipiert sich. Sowie in den alten Kulturen neben das Gefühl der kultischen Zusammengehörigkeit ein Gefühl der profanen Volks- und Arbeitsgemeinschaft tritt, wächst aus dem Volk ein Schatz profaner Spruchweisheit empor, die mit jenen Regeln des heiligen Ritus keinen Zusammenhang hat. Der alte Orient zeigt es ebenso wie die Antike, in der, aus der ionischen Kultur wiederum, die "Sprüche der sieben Weisen" entstehen. Und neben der unsystematischen Volksmoral entsteht, mit dem profanen Staat emporwachsend, das Bewußtsein um die Gesetze des guten Willens, entsteht ein profanes Recht mit der profanen Forderung der Gerechtigkeit. Am deutlichsten wird die Sachlage dadurch, daß es in dieser Entwicklung zu einem Konflikt zwischen sittlichem und religiösem Denken kommt. Im Alten Testament liegt dieser Konflikt zu Tage im Vergeltungsproblem: das Verhalten der Gottheit - und als ihr Walten muß man doch die Verteilung des I irdischen Geschickes ansehen - deckt sich nicht mit der Forderung des sittlichen Bewußtseins, der Forderung der Gerechtigkeit. Wie im Buch Hiob der Konflikt die Form gewinnt, die der Eigenart israelitischen Geistes entspricht, so bei den griechischen Tragikern Aischylos und Euripides in der Eigenart des Hellenentums: das Ringen mit den unhumanen Forderungen und Anschauungen eines alten Gottesglaubens oder der Protest gegen sie vom Standpunkt der humanen Sittlichkeit aus. In der Orestie des Aischylos hat dieser innerliche Kampf am gewaltigsten Gestalt gewonnen. - In der modernen Kultur hat sich die Emanzipation der Sittlichkeit von der Religion ohne einen solchen
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Religion und Kultur
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Konflikt vollzogen, wenn man ihn nicht vielleicht in der protestantischen Reformation sehen muß. Jedenfalls ist in der Aufklärung und in Kant wie im modernen Rechts- und Staatsleben die profane Ethik mehr und mehr zur Herrschaft gelangt.
3. Die Geschichte bietet also als Ergebnis die Autonomie der geistigen Kultur. Autonom ist die Wissenschaft, d. h. ihre Sätze richten sich nach den eigenen Gesetzen wissenschaftlichen Denkens und nicht nach einer heiligen Offenbarung oder Tradition. Sie ist voraussetzungslos, d. h. natürlich nicht: sie ist unmethodisch, sondern legt ihrer Arbeit natürlich ihre Methodik zu Grunde, aber es bedeutet: sie hat sich die Voraussetzungen für ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse nicht von einer außerhalb ihrer existierenden Größe - also in unserem Zusammenhang von der Religion - geben zu lassen. Mag auch mancher einzelne Forscher von kirchlicher oder religiöser Tradition abhängig oder beeinflußt sein, so haben doch die Sätze der Wissenschaft ihre Geltung nicht durch solche Beziehungen, sondern nur durch ihre Begründung innerhalb des wissenschaftlichen Gedankensystems. So zeigt sich der profane und autonome Charakter der Wissenschaft insbesondere darin, daß sie auf dem Gebiete der Naturerklärung und der Geschichtsforschung mit keinerlei supranaturalen Faktoren rechnen kann. - Autonom ist die Kunst, d. h. ihre Gestaltungen wollen an den Gesetzen künstlerischer Form gemessen sein, nicht an außerkünstlerischen Zwecken. Autonom ist die Sittlichkeit, worüber nach Kant eigentlich kein Wort mehr nötig sein sollte, und worüber doch in den Kämpfen um das Verhältnis von Staat und Kirche soviel Verständnislosigkeit laut wurde, als bedürfe es der Religion oder sei es deren Eigentümlichkeit, die sittliche Erziehung zu begründen. Die Gesetzgebung der Sittlichkeit wird vom vernünftigen Willen selbst erzeugt. Gott ist nicht der Geber des Sittengesetzes; denn welches wäre dann wohl Erkenntniskriterium für Gottes Willen? die Tradition etwa? sie wäre nur der Ausdruck für die sittliche Erkenntnis früherer Generationen, und da sie doch stets nur in Auswahl und mit Kritik benutzt wird, so wäre die letzte Instanz doch wieder das eigene sittliche Urteil. Die Offenbarung etwa? aber welche? die im eigenen Gewissen? das wäre nichts anderes als eben die Selbstgesetzgebung des vernünftigen Willens, also keine Erkenntnis religiöser Art,
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sondern ganz profane. Der fromme Mensch mag seine Vernunftbegabung in dieser wie in jeder anderen Hinsicht auf Gott zurückführen; das ändert nichts an der Tatsache, daß im Gebrauch seiner Vernunft nicht Gott zu ihm spricht. Die Anschauung aber, die Gott zum Hüter des Sittengesetzes macht, die der Religion zur Motivation des sittlichen Handelns bedarf, hat den Gedanken des Sittlichen überhaupt noch nicht erreicht. "Ich aber will nicht entscheiden, gegen wen in dieser Gedankenverbindung die meiste Verachtung liege, gegen Recht und Sittlichkeit, welche als der Unterstützung bedürftig vorgestellt werden, oder gegen die Religion, welche sie unterstützen soll" (Schleiermacher, Reden 32). " ... denn ich muß es nur gestehen, ich glaube nicht, daß es so arg ist mit den unrechten Handlungen, welche sie (die Religion) verhindert und mit den sittlichen, welche sie erzeugt haben soll" (a. a. O. 36). Kraft der Willensbildung ist nicht die Religion, sondern die Bildung des sittlichen Urteils und vor allem die Erziehung im Gemeinschaftsleben. Man kann sogar die Behauptung von der kulturfördernden Kraft der Religion umkehren. Nicht selten hat die Religion in der Geschichte der geistigen Kultur hemmend I gewirkt. Das Verhältnis des Urchristentums zur antiken Kultur ist bekannt. Die alte Kirche war eine geschichtliche Größe, die kompliziert und reich genug war, um in manchen Linien die Kontinuität der Kultur zu erhalten; aber in seinem Grundwesen war das Urchristentum kulturfremd und hat hemmend gewirkt nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst, sondern auch dem von Recht und Sittlichkeit. Man kann es nicht laut genug sagen, daß das Urchristentum eine spezifisch religiöse, nicht eine ethische Bewegung war. Es hat keine neuen ethischen Ideale gebracht; das christliche Liebesgebot bringt, sofern es eine ethische Forderung und nicht eine Regel des religiösen Gemeinschaftslebens ist, nichts Neues, nichts, was nicht auf der Höhe der antiken Ethik auch ausgesprochen wäre. Das Urchristentum hatte kein Organ für die spezifisch ethischen Probleme des Rechts, der sozialen Gemeinschaft (Sklavenfrage!), des Verhältnisses der Geschlechter etc. Das Verdienst, all diese Probleme behandelt und in einer für die ganze abendländische Kultur fortwirkenden Form lebendig gemacht zu haben, hat die Stoa. Oder man denke an die religiösen Forderungen der Blutrache (Orestie!), des Bannes (1. Sam 15!), an Glaubenskriege und Ketzerverfolgungen, an die konfessionelle Spaltung unseres modernen Kulturlebens und die dadurch
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Religion und Kultur
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veranlaßte schwere Hemmung der Entwicklung von Bildung und Kunst, Recht und Staat. Der Gegensatz wird am klarsten durch die prinzipielle Besinnung auf das Wesen von Kultur und Religion. Die Kultur ist die methodische Entfaltung der menschlichen Vernunft in ihren drei Gebieten, dem theoretischen, dem praktischen und dem ästhetischen. Für sie ist also wesentlich die Aktivität des menschlichen Geistes; er ist es, der die drei Welten der Kultur: die Wissenschaft, Recht und Sittlichkeit, und die Kunst, baut. Die Entwicklung der Kultur geht ferner methodisch vor sich, d. h. alle ihre Gestaltungen haben den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Mag im Verlauf der Kulturgeschichte das Moment des Zufälligen und Persönlichen, das Moment der Inspiration, Intuition u. dgl. als die psychische Situation, aus der die Gestaltungen der Kultur hervorgehen, eine noch so große Rolle spielen: ihr Recht als Größen der Kultur erweisen alle Gestaltungen nicht durch die Beziehung zu ihrem psychischen Ursprung, sondern in ihrer Bindung in die Gesetzmäßigkeit ihres Vernunftgebietes. Trägt derpythagoreische Lehrsatz auch den Namen seines Finders, so ist seine Richtigkeit nicht durch Autorität oder Charakter des Pythagoras verbürgt, sondern dadurch, daß er den Gesetzen mathematischen Denkens entspricht. Die Bildwerke der klassischen Kunst der Antike wirken, auch ohne daß wir von ihren Schöpfern das Mindeste wissen, weil die Sprache ihrer Form unser ästhetisches Urteil überzeugt. Eine gute Handlung gilt als gut nicht, weil sie unter irgendwelcher psychischen Verfassung lebendig wurde, sondern einzig und allein danach, ob sie an der Idee des Guten gemessen sich rechtfertigt. So gehört zum Wesen der Kultur der Charakter des Vberindividuellen; das Individuum kommt für sie gleichsam nur als Durchgangspunkt in der Selbstentfaltung des überindividuellen Geistes in Betracht. Die Gestaltungen der Kultur haben ihre Geltung nur in ihrem Inhalt, ganz abgesehen von ihrer tatsächlichen Verwirklichung. I
4. In allen drei Punkten erweist die Religion ihren Gegensatz zur Kultur. Sie ist, wie ich nach Schleiermacher sage, das Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit; um psychologische Interpretationen und Mißverständnisse fern zu halten, sagt man vielleicht besser: das Be-
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Rudolf Bultmann
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wußtsein schlechthiniger Abhängigkeit. Alles liegt, um recht zu verstehen, auf der rechten Erfassung des Begriffs "schlechthinig". Schlechthinig ist weder die Abhängigkeit des Sklaven, dessen besten Teil, dessen innerstes Ich mit seinen Gedanken und Gefühlen auch der mächtigste Herr nicht unterwerfen kann. Schlechthinig ist aber auch nicht die tausendfache Abhängigkeit, in der der moderne naturwissenschaftlich gebildete Mensch in seinem körperlichen und geistigen Leben sich in die Gesetzmäßigkeit des Naturverlaufs gefangen und gebunden weiß, weil der bloßen Gesetzmäßigkeit gegenüber keine innere Beugung möglich ist; das Ich lehnt sich vielmehr gegen diese Zumutung auf. Schlechthinige Abhängigkeit ist nur da möglich, wo der Mensch einer Macht begegnet, der sein Innerstes sich frei entfaltet, der er sich befreit und aufatmend in die Arme wirft - sich unterwirft in freier Selbsthingabe. Ist das Religion, so ist sie das Gegenteil von schöpferischaktivem Verhalten des Geistes, so besteht sie nicht im Schaffen, sondern im Sich-Schenkenlassen (wobei wiederum der psychische Zustand des erlebenden Individuums, den man als höchste Aktivität bezeichnen mag, gänzlich außer Betracht zu bleiben hat)1. Tief und fein ist es in der Inschrift, die in Immermanns "Merlin" die Pforte des heiligen Grales trägt, ausgesprochen: Ich habe mich nach eignern Recht gegründet, Vergebens sucht ihr mkh. Der Wandrer, welcher meinen Tempel findet, Den suchte ich!
Die Erkenntnisse und Gedanken der Religion sind deshalb nicht notwendig und allgemeingültig, sondern haben schlechthin nur individuelle Geltung. Eine "Wundergeschichte" muß nach SchleierJ,llacher stets den Ursprung der Religion bilden (Reden 268). Torheit wäre es, zu fordern: "Nach und nach soll der Mensch religiös werden, wie er klug und verständig wird und alles andere, was er sein soll; durch den Unterricht und die Erziehung soll ihm dies alles kommen; nichts muß dabei sein, was für übernatürlich oder auch nur für sonderbar könnte gehalten werden" (a. ·a. O. 273 f.). "Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum (d.h. aber mit etwas Zufälligem!) 1 Man darf sich zu einer Verwechslung von Religion und Sittlichkeit auch nicht dadurch verleiten lassen, daß das sittliche Gebot Hingabe, Preisgabe, Opfer fordert; denn es fordert dies als Tat; die sittliche Hingabe ist Tat in eminentestem Sinn. Ganz anders die im religiösen Erlebnis erfahrene Abhängigkeit.
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Religion und Kultur
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anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen" I (ebd. 278). So wird der Grundunterschied von der Kultur klar: die Religion ist nicht in objektiven Gestaltungen vorhanden wie die Kultur, sondern im Verwirklichtwerden, d. h. in dem, was mit dem Individuum geschieht. Sein Werden, sein Leben ist ihr Sinn. Nun gewinnt, was vorhin über die Autonomie der Kultur gesagt wurde, eine noch deutlichere Beleuchtung von der Seite der Religion aus. Die Religion ist neutral gegenüber den Gestaltungen der Kultur; sie ist neutral gegenüber der Wissenschaft. Besteht diese in der gesetzmäßigen Verknüpfung ihrer Aussagen, so weiß die Religion hiervon nichts. "Bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen, jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen: von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem, was ihr begegnen kann, das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt" (Schleierm. Reden 58). "Die Philosophie wohl strebt diejenigen, welche wissen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wissen zu bringen, ... die Religion aber nicht diejenigen, welche glauben und fühlen, unter einen Glauben und ein Gefühl" (ebd. 63). Religionsunterricht, als ein Unterricht, der zur Religion oder in der Religion erziehen will, ist deshalb ebenso widersinnig und unmöglich wie eine Religionsphilosophie. Denn deren rechtmäßiger Gegenstand könnten ja nur Aussagen, also Objektivierungen des religiösen Erlebnisses sein; solche sind aber nie die Religion selbst. Ebenso ist die Religion neutral gegenüber der Kunst. Wie diese im Gestalten, im Objektivieren von Erlebnissen besteht, so ist die Religion nichts anderes als eben ein Erleben selbst. Und mag auch gerade das religiöse Erleben den Künstler am gewaltigsten erregen und zu seinen Gestaltungen drängen, so ist doch das, was die Gestaltungen zur Kunst macht, nur die der ästhetischen Gesetzlichkeit entsprechende Form. Weder ist ein Kunstwerk als Kunstwerk religiös, noch führt ästhetisches Genießen zur Religion. Neutral ist die Religion aber auch der Sittlichkeit gegenüber, wie Schleiermacher in den Reden mit unermüdlicher Energie ausführt. "Ihre Gefühle - sagt er von der Religion - sollen uns besitzen, wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt ihr aber darüber hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlassen und zu Taten treiben, so befindet ihr euch auf einem fremden Gebiet, und haltet ihr dies dennoch für Religion, so seid ihr - wie vernünftig und löblich
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Rudol! Bultmann
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euer Tun auch aussehe - versunken in unheilige Superstition. Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion" (5. 68 f.). "Dieser gänzliche Mißverstand, daß die Religion handeln soll, kann nicht anders als zugleich ein furchtbarer Mißbrauch sein, und, auf welche Seite sich auch die Tätigkeit wende, in Unheil und Zerstörung endigen. Aber bei ruhigem Handeln, welches aus seiner eigenen Quelle hervorgehen muß, die Seele voll Religion haben, das ist das Ziel des Frommen" (5. 71). "Wer hindert das Gedeihen der Religion? Nicht die Zweifler und Spötter; wenn diese auch gern den Willen mitteilen, keine Religion zu haben, so stören sie doch die Natur nicht, welche sie hervorbringen will; auch nicht die Sittenlosen, wie man meint; ihr Streben und Wirken ist einer ganz anderen Kraft entgegengesetzt als dieser; sondern die Verständigen und praktischen Menschen; diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr großes übergewicht ist die Ursache, warum sie eine so dürftige und unbedeutende Rolle spielt" (5. 144 f.). "Die Religion weiß nichts von einer solchen parteiischen Vorliebe (für das Sittliche); die moralische Welt ist ihr auch nicht das Universum; und was nur für diese gälte, wäre ihr keine Anschauung des Universums. In allem, was zum menschlichen Tun gehört, im Spiel wie im Ernst, im Kleinsten wie im Größten, weiß sie die Handlungen I des Weltgeistes zu entdecken und zu verfolgen" (5. 107). Ja, nicht nur im Spiel wie im Ernst, sondern auch im Unmoralischen wie im Moralischen. Und am klarsten wird dies Verhältnis daran, daß auch der "unmoralische" Mensch ein religiöser Heros sein kann. Man denke an Typen wie Augustin und Muhammed. Auch dies findet in der Regel, die in Immermanns "Merlin" für die Stätte des Grales gilt, seinen Ausdruck: Die Schelmenlist, Das höchste Kleinod für den Pfennig» Tugend" Sich zu erhandeln, hier verrufen ist, Auf Monsalvatsch gibts wilde, freche Jugend, Auf Monsalvatsch geraten kühne Sünder: Sigun', Amfortas, eitle Lüste suchend!
Ganz selbstverständlich also ist Religion Privatsache und hat mit dem Staat nichts zu tun. "Es kann keine Frage darüber sein, ob nicht ein priesterlicher (d. h. religiöser) Mensch seine Religion darstellen, sie
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mit Fleiß und Kunst, wie sichs gebührt, darstellen, und zugleich noch irgend ein bürgerliches Geschäft treu und in großer Vollkommenheit ausrichten könne. Warum also sollte nicht auch, wenn es sich eben so schickt, derjenige, welcher Profession macht vom Priestertum (das ist eben die Darstellung des religiösen Lebens), zugleich Moralist sein dürfen im Dienst des Staates? Es ist nichts dagegen: nur muß er beides nebeneinander, nicht in- und durcheinander sein 2 ; er muß nicht beide Naturen zu gleicher Zeit an sich tragen und beide Geschäfte in derselben Handlung verrichten sollen. Begnüge sich der Staat, wenn es ihm so gut deucht, mit einer religiösen Moral: die Religion aber verleugnet jeden moralisierenden Propheten und Priester; wer sie verkündigen will, der tue es rein" (Schleiermacher, Reden 222). " ... nachdem er (der Staat) seine moralische Bildungsanstalt für sich angelegt hat, was er doch in jedem Falle auch tun muß, lasse er sie (die "Priester") ihr Wesen ebenfalls treiben für sich und kümmere sich gar nicht um die priesterlichen Werke, die in seinem Gebiet vollendet werden, da er sie doch weder zur Schau noch zum Nutzen braucht, wie etwa andere Künste und Wissenschaften. Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! - das bleibt mein Catonischer Ratsspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe, sie wirklich zertrümmert zu sehen -. Hinweg mit allem, was einer geschlossenen Verbindung der Laien und Priester unter sich oder untereinander auch nur ähnlich sieht!" (ebd. 223 f.) Das Ideal ist eben deshalb auch nicht die Institution einer möglichst alle Volksgenossen umfassenden, rechtlich organisierten Kirche, nicht die Volkskirche, sondern kleine lebendige Gemeinschaften, Freikirchen, über deren Rahmen hinüber die wahrhaft Frommen zu der einen unsichtbaren, wahren Kirche gehören. Alles Übel schreibt Schleiermacher der Staatskirche zu. "Ihr habt Recht, zu wünschen, daß nie der Saum eines priesterlichen Gewandes den Fußboden eines königlichen Zimmers möchte berührt haben: aber laßt uns nur wünschen, daß nie der Purpur den Staub am Altar geküßt haben möchte; wäre dies nicht geschehen, so würde jenes nicht erfolgt sein" (Reden 210). "So oft ein Fürst eine Kirche für eine Korporation erklärte, für eine Gemeinschaft mit eigenen Vorrechten, für eine ansehnliche Person in der bürgerlichen Welt, ... so oft ein Fürst, sage ich, zu dieser gefährlichsten und verderblichsten aller Handlungen sich verleiten ließ, war 2 Vgl. das, was Herrmann gelegentlich über das Abwechseln von Glaubens- und Arbeitsgedanken gesagt hat.
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das Verderben dieser Kirche unwiderruflich beschlossen und eingeleitet. Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt solche Konstitutionsakte politischer Existenz auf die religiöse Gesellschaft; alles versteint sich, sowie sie scheint ... Die größere und unechte Gesellschaft läßt sich nun nicht mehr trennen von der höheren und kleineren, wie sie doch getrennt werden müßte; ... sie kann weder ihre Form noch ihre Glaubensartikel mehr ändern; ihre Einsichten, ihre Gebräuche, alles ist verdammt, in dem Zustande zu beharren, in dem es sich eben befand. Aber das ist noch nicht alles: die Mitglieder der wahren Kirche, die mit in ihr enthalten sind, sind von nun an von jedem Anteil an ihrer Regierung so gut wie ausgeschlossen mit Gewalt, das Wenige für sie zu tun, was noch getan I werden könnte" (ebd. 211 f.). Hätte der Staat das religiöse Leben sich selbst überlassen, dann wären ungestört "die Mitglieder der wahren Kirche im Besitz geblieben, ihr priesterliches Amt unter ihnen in einer neuen und besser angelegten Gestalt wieder anzutreten. Jeder hätte diejenigen um sich versammelt, die grade ihn am besten verstehen, auf die nach seiner Art am meisten gewirkt werden konnte, und statt der ungeheuren Verbindungen ... wären eine große Menge kleinerer und unbestimmter Gesellschaften entstanden.... 0 goldenes Zeitalter der Religion, wann werden die Umwälzungen der menschlichen Dinge dich künstlich herbeiführen, nachdem du auf dem einfachen Wege der Natur verfehlt worden bist! Heil denen, die dann berufen werden! ... Möchte doch allen Häuptern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf immer fremd geblieben sein auch die entfernteste Ahndung von Religion! ... Denn das ist uns die Quelle alles Verderbens geworden!" (ebd. 208 ff.) Diese Besinnung auf das Wesen von Religion und Kultur und ihr gegenseitiges Verhältnis wird zu Ende geführt durch einen abermaligen Blick in die Geschichte. Geistesgeschichte gibt es nur als die Geschichte von Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, als Darstellung der Selbstentfaltung der Vernunft im Ringen mit dem Natürlich-Stofflichen. Dagegen gibt es keine Geschichte der Religion. Es kann sie nicht geben, wenn das Leben der Religion nicht in objektiven Gestaltungen, sondern im individuellen Leben vorhanden ist. Die Momente dieses Erlebens bilden keinen gesetzlichen Zusammenhang weder der Kausalität noch der Teleologie. Sie bilden keine Richtung, in der Stufe auf Stufe fortbaut, so daß eine Generation ein religiöses Problem für die folgende Generation erledigt haben könnte und neue Probleme organisch hervorwachsen wie bei Sätzen der Mathematik oder des Rechts oder der
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Kunst. Es gibt in der Religion keine Probleme in diesem Sinn, sondern immer nur ein und dasselbe "Problem", das immer individuell aufs neue zu lösen ist: die Macht zu finden, der gegenüber freie Selbsthingabe möglich ist. Die religiösen Erlebnisse stehen also nicht in einem Verhältnis der Entwicklung zueinander, sondern sie sind da oder sind nicht da, und sie sind prinzipiell immer die gleichen. Eine Geschichte der Religion kann es so wenig geben, wie es eine Geschichte anderer geistiger Tatbestände geben kann, deren Wesen gleichfalls nicht in Objektivierung, in Gestaltung vorhanden ist, sondern im Vollzug, im Werden, im Verwirklicht-werden, wie etwa Vertrauen, Freundschaft und Liebe. Kein Mensch denkt daran, eine Geschichte des Vertrauens zu schreiben. Der Schein der Möglichkeit einer Religionsgeschichte entsteht dadurch, daß das religiöse Erleben wie alles Erleben zu Gestaltungen führt, zu Gedanken, Institutionen und Kunstwerken, deren Geschichte sich in der Tat schreiben läßt. Aber diese Objektivierungen sind nicht Religion, sondern zeugen nur von ihr, und einen geschichtlichen Zusammenhang bilden sie nur innerhalb der Geschichte der Kultur - nicht als eigene Geschichte. So ist denn die sogenannte Religionsgeschichte auf den Gebieten der Primitiven tatsächlich nichts anderes als Geschichte primitiver Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit, auf den Gebieten der sich entwickelnden Kultur wird sie zur Geschichte der sich entwickelnden Wissenschaft, der Sittlichkeit, des Rechtes und Staates, der Kunst. Man denke besonders an die Dogmengeschichte und die mittelalterliche Kirchengeschichte. Oder man sehe, eine wie geringe Rolle die Religion und ihr Leben in den üblichen Darstellungen der Kirchengeschichte spielt; eigentlich tritt sie nur da auf, wo es sich um die Darstellung bestimmter Persönlichkeiten handelt - ein Zeichen dafür, daß sie eben nur im Werden des individuellen Lebens existiert. Versteht man also unter "Kulturfaktor" eine geistige Macht, die Geschichte schafft und die in den objektiven Gestaltungen der Kultur ihre Existenz hat, so ist die Religion kein Kulturfaktor, und die Geschichte der geistigen Kultur als Problemgeschichte kann ohne Rücksicht auf die Religion geschrieben werden. Will man aber die Religion als eine Naturkraft, die überhaupt das menschliche Leben in Bewegung setzt, und die zur Schaffung von Kulturgütern führt, als Kulturfaktor bezeichnen, so muß man Leidenschaften wie Habgier I und Liebe auch Kulturfaktoren nennen, so sind Hunger und Krankheit, Verbrechen und Krieg auch als Kulturfaktoren gerechtfertigt, wie man denn in der
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Tat derartige Rechtfertigungen vor einigen Jahren noch hören konnte. Oder gibt es noch ein anderes Kriterium, kraft dessen die Religion vor der Kultur gerechtfertigt wäre? I (450)
5. Der Mensch ist nicht nur Vernunftwesen, sondern auch Naturwesen. Alle geistige Kultur ist nicht etwa nur veranlaßt durch die Natur, sondern überhaupt erst sinnvoll in Beziehung auf Natur. Der Wissenschaft ist die Beziehung auf Natur wesentlich, nicht in dem Sinne, daß die Wissenschaft ohne den Kampf ums Dasein nie entstanden wäre und ohne ihn in Folge der Trägheit der Menschen aufhören würde, sondern weil sie ohne diese Beziehung sinnlos würde, denn ihr Sinn liegt in der Bewältigung der Erfahrung. Höchstens Mathematik scheint es - könnte man ohne die Beziehung auf Natur treiben; aber auch sie wird sinnvoll erst im Zusammenhang der gesamten theoretischen Wissenschaft, die die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung zu ihrem Gegenstand hat. Alle Sittlichkeit hört auf, sobald es keine Welt des Natürlich-Stofflichen gibt, für deren Gestaltung die Sittlichkeit das Ziel vorschreibt. Alles Handeln bezieht sich auf Natur, aller Wille auf Widerstände, also auch alles Urteilen, das die Gesetzmäßigkeit des Wollens betrifft, auf Natur. Ebenso hat die Kunst ohne Beziehung auf das Natürlich-Stoffliche keinen Sinn. Es gibt keine bildende Kunst ohne Stein oder Farbe, keine Musik ohne Töne der Instrumente oder der menschlichen Stimme, keine Dichtung ohne den Naturlaut des Wortes. Und so wenig je die Realisation im Stoff der künstlerischen Idee adäquat ist, so sehr tendiert die Idee in der künstlerischen I Schauung nach der Verwirklichung im Stoff, so sehr besteht das Wesen der Kunst in der Gestaltung der Idee im Stoff. Damit ist es aber auch gerechtfertigt, daß es Individuen gibt, die in sich diese Beziehung von Kultur und Natur erleben. Nicht daß sie sich an der Kultur nicht beteiligen würden, wenn die Natur sie nicht mittels des Kampfes ums Dasein dazu zwänge, ist die Meinung, sondern daß sie Kulturwesen nur als Naturwesen sein können. Wie der Inhalt der geistigen Kultur zwar nicht dadurch sein Recht und seine Wahrhaftigkeit erweist, daß er verwirklicht wird, aber die geistige Kultur doch nur als sich verwirklichende existieren kann, so kann oder muß auch das Individuum nicht nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet
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werden, daß es der Durchgangspunkt der Selbstentfaltung der Vernunft ist, sondern auch unter dem, daß in seiner Teilnahme an der geistigen Kultur etwas mit ihm geschieht, daß es etwas wird, nämlich zu einem lebendigen Ich. Wir sind nicht nur Naturwesen, aber unser inneres Leben ist umso reicher, je kräftiger, je elementarer wir als Naturwesen sind. Desto schwerer und inhaltreicher ist - nicht etwa der Kampf, in dem die Natur überwunden, getötet werden soll, wie eine asketische Weltanschauung meint, sondern desto inhaltsreicher ist unser Werden als lebendiger Individuen, deren Inhalt immer durch die Spannung zwischen den beiden Polen Natur und Kultur bestimmt wird. Ohne die geistige Kultur bleiben wir im triebhaften Naturleben wie das Tier. Aber ohne die Natur wird das geistige Leben für uns sinnlos, wir haben keine Spannungen, keine Erlebnisse, kein lebendiges Ich. In diesen Spannungen erlebt der Mensch sein Schicksal, oder: es wird ihm darin sein Schicksal angeboten. Denn das ist die Frage, ob er das Geschehen, in das er gestellt ist, als einen inneren Besitz sich zu eigen machen kann, ob er es als sein Schicksal erkennen kann, in dem er eine einheitliche, sinnvolle Macht walten sieht, oder ob es ihm ein verworrenes und verwirrendes, sinnloses Geschehen ist, gegen das er sich sträuben muß, dem er sich verschließt. Kennt er Augenblicke, in denen ihm in solcher Spannung ein Reichtum des Lebens zuwächst, so bedeutet das: er erlebt solchen Reichtum als Schenkung. Denn dies Leben ist ja weder Natur noch methodisch geschaffene Gestaltung. Es liegt in diesem Sich-schenken-Iassen die Parodoxie vor, daß das Ich ganz auf seine eigene Kraft und Tätigkeit verzichtet, sich völlig abhängig weiß, und daß es doch spürt, daß in solcher Unterwerfung erst sein eigenes Leben :zur Freiheit gelangt, ja daß es nur ehrlich bleiben und Größe gewinnen kann in solcher Unterwerfung und Beugung. Dies Erlebnis also, sich solcher Schenkung öffnen zu können, ist das Erlebnis schlechthiniger Abhängigkeit, der freien Selbsthingabe, ist die Geburtsstunde der Religion. Insofern ist also jedes Erleben religiös; es wird zur Religion im eigentlichen Sinn, indem es zum Bewußtwerden, zum Genießen dieses Lebensgesetzes wird, zum Innewerdeneiner Macht, die solches Schicksal des Ich will und wirkt, und die das Ich also als die Macht über alles Wirkliche erlebt. Insofern ist Religion "Anschauung des Universums", wie Schleiermacher in den Reden sagt; das Wirkliche wird nicht etwa als ein System verstandesmäßig gedachter Gesetzmäßigkeit erfaßt, sondern jenseits der Welt der Erfahrung ist ein Punkt gewonnen, von
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dem aus alles Wirkliche als sinnvolle Einheit erscheint. Lagardes Satz, daß "Religion haben" heiße "einen Plan Gottes in seinem Leben finden", sagt nichts Anderes. Nicht an Erfahrungen oder Illusionen eines kindlichen Vorsehungsglaubens nach der Art Jung-Stillings oder falscherbaulicher Traktate ist gedacht, sondern an das Vermögen in seinem Schicksal die Macht zu erfassen, die das Ich reich und lebendig macht, die es erlöst von der Natur und vom Streben seiner selbst. Religion haben kann also auch heißen: sich sein Schicksal zu eigen machen, sich mit seinem Schicksal identifizieren. Und deutlich ist auch, wie Sinn und Macht dieses göttlichen Lebens als Jenseits erlebt wird, als Jenseits im Verhältnis zur Natur wie zur Kultur; ja der religiöse Begriff des Jenseits erhält erst jetzt einen deutlichen Sinn. Deutlich ist auch, wie natürlich es ist, daß an religiöses Leben sich so leicht immer wieder I das Streben nach einer Metaphysik ansetzt, und ebenso, warum diese Metaphysik unmöglich sein muß. - Vielleicht darf man fragen, ob Kants Postulat, daß die Welt der Erfahrung nach der sittlichen Idee gestimmt sein müsse, darin seinen tiefsten Sinn hat, daß für das Individuum die Verkettung in die Welt der Natur und der geistigen Kultur sinnvoll ist. Religion kann nur haben, wer in bei den Welten steht. Nicht die Kulturhöhe, aber die Teilnahme an der Kultur ist Voraussetzung, und ebenso das Wurzeln in den Lebenskräften der Natur. Auf die Zeiten, die einseitig von Geisteskultur beherrscht waren, pflegte eine Reaktion zu folgen, in der die elementaren Naturkräfte, aus denen das Ich gespeist wird, ihr Recht geltend machten, - oder vielmehr: es machte sein Recht geltend eben das Ich, dessen eigenes, ursprüngliches und geheimnisvolles Wesen in der Kultur unterzugehen drohte. Auf die Zeit der Aufklärung folgte die Romantik; gegen die Zeit der modernen naturwissenschaftlichen Kultur und der historischen Bildung sehen wir jetzt eine Reaktion einsetzen, vor allem in der Kunst, die auf die Zeit der Gotik als seelenverwandt zurückgreift, die über die Welt der Kultur hinaus in ein Jenseits hinübergreift, das mit seinen geheimnisvollen Kräften das Ich erfüllen und ihm das Gefühl eigenen Lebens geben soll. Religion kann nur selten ruhiger Besitz sein, da sie doch die Höhe des Erlebens darstellt.
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Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht. Auch der dich liebt, und der dein Angesicht erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht in deinem Atem schwankt, - besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt, so daß du kommen mußt in sein Gebet: du bist der Gast, der wieder weitergeht.
Diese Worte Rilkes gelten nicht etwa nur, wie man vielleicht abschätzig urteilen möchte, von einer gewissen "Mystik", sondern, wenn man ehrlich sein will, von jedem religiösen Leben. Wohl kann die Ruhe des Vertrauens im Frommen bleiben und ihre Wärme über sein ganzes Leben breiten. Eigentliche Religion aber ist nur in den Augenblicken des Erlebens vorhanden, und auch hier gilt, daß wir abwechseln zwischen Glaubensgedanken und Arbeitsgedanken. Und der größte Teil des religiösen Lebens besteht doch in Sehnsucht, im Drängen über die Wirklichkeit der Natur und Kultur hinaus, die, wie wir uns gestehen müssen, den Hauptinhalt des Lebens unseres Bewußtseins bilden. Daher ist die Religion bald naturfeindlich, asketisch, bald kulturfeindlich. Immer lebt sie vom Drängen nach dem Erlebnis, nach Erfüllung des Inneren, bald als Verlangen nach Heimat und Ruhe, heraus aus Kampf und Spannung, bald als heißer Durst nach Erlebnissen voll Tiefe und Leidenschaft, nach einem überwältigt-werden von dem größten Herrn, von dem vernichtet zu werden doch erst "leben" heißt. Entsprungen ist die Sehnsucht stets dem Triebe: Recht und Sinn des Ich zu empfinden, das als Ich eben weder bloßes Naturwesen noch Subjekt der geistigen Kultur ist, und das der Wirklichkeit seines Lebens nur im Erleben gewiß wird. In Paradoxien verläuft unser inneres Leben; die Spannungen sind ihm wesentlich; ein "vollkommener" Mensch könnte überhaupt keine Religion haben.
6. Ist die Religion ein Kulturfaktor? Im letztbeschriebenen Sinne gewiß, und zwar der stärkste. Ohne die Kraft des Erlebens würde die Kultur sinnlos, und so ist nun nicht eigentlich die Religion gerechtfertigt vor der Kultur, sondern die Kultur gerechtfertigt durch die Religion. Der Mensch ist nicht um der Kultur willen, sondern die Kultur um des Menschen willen. Was den Menschen zum Menschen
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macht, ist die Kraft der Religion, die Sehnsucht nach Erleben, die Kraft des Erlebens, der Glaube, im Erleben eine Wirklichkeit zu erfassen und in sie hineinzuwachsen, die über alle Freuden und Schmerzen, in die die Spannung zwischen Natur und Kultur hineinstellt, hinwegträgt und das Ich reich und lebendig macht. I Die Gefahr aller Kultur ist die, daß die Kultur vergöttlicht, und zumal daß ein bestimmter Kulturstand verabsolutiert und darüber das Ich des Menschen entleert wird. Es wird inhaltlos, erlebnisarm und flüchtet gleichsam vor sich selbst in die Kultur, die Stimme seiner Sehnsucht zum Schweigen zu bringen; und es macht die Kultur zum Selbstzweck, um sich damit der Frage des eigenen Sinnes und Zweckes zu überheben. Es glaubt an eine Menschheit ohne Menschen; es will die Menschheit glücklich machen "am Individuum vorbei, über das Individuum hinaus" (Werfel). Die Macht der Religion ist "die Gesamtheit des Gegensatzes zu jenem Glauben, daß der Menschheit über den Menschen hinweg zu helfen sei". Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Kultur gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele! Tiefen Ausdruck hat die Reaktion gegen die Kulturvergötterung bei Dichtern wie Dostojewski und Franz Werfel gewonnen. Und uns allen ist die Besinnung dringend nahegelegt durch die Tatsache des Kommunismus; er scheint doch bei seinen geistigen Führern der Protest gegen die Vergötterung der Kultur zu sein, und sein Recht liegt in der Negierung eines bestimmten Kulturstandes als eines absoluten. Insofern bildet er übrigens auch den schärfsten Gegensatz zur Sozialdemokratie, die ihn mit richtigem Instinkt ablehnt, weil sie zur Verabsolutierung der Kultur tendiert. Das Unrecht des Kommunismus, wenn ich ihn recht verstehe, liegt in der Verkennung, daß der eigentliche Sinn der Kultur kein Zustand, sondern eine Richtung ist, eine "ideelle Norm, die sich als solche über jede tatsächlich erreichte Stufe ihrer Entfaltung in einer möglichen Erfahrung erhebt"; und in der Verkennung, daß Kultur in diesem Sinne zum menschlichen Geistesleben notwendig gehört, daß ohne sie das Ich ebenso inhaltsarm wird wie bei ihrer Verabsolutierung. Vom Standpunkt der Kultur aus haben wir gewiß Grund, die Kontinuität der Kultur zu wünschen; vom Standpunkt der Religion aus liegt ein solcher Grund nicht vor. Fand einst im Urchristentum das Weltfremde der Religion in ihrer Eschatologie den Ausdruck, so wird heute der Kommunismus - von seinen nur wirtschaftlich interessierten Mitläufern natürlich abgesehen - der stärkste Ausdruck für das Sehnen nach religiöser Neugeburt sein. Innerlich überwunden werden kann er
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nicht durch Gewalt - wer weiß, ob er sich nicht doch die ganze Welt unterwirft? - sondern nur durch Anerkennung seines inneren Rechtes. Er kann uns zur vollen Deutlichkeit bringen, daß eine Verabsolutierung der Kultur den Menschen vernichtet, daß der Mensch vielmehr, wie die ganze Welt, so auch die ganze Kultur hinzugeben bereit sein muß, damit er seine Seele gewinne. Nur eine religiöse Neugeburt kann uns retten, vor der Verzweiflung über die Katastrophe unserer Kultur bewahren, uns innerlich über sie erheben und uns den Mut für die Zukunft geben. So sehr wir unsere Kräfte dem Neubau des Staates zu widmen haben: der Staat kann uns hier nicht helfen. Er kann für die Religion nichts tun, nur daß er sie ihrer Freiheit überläßt und sich bewußt bleibt, daß er nicht im Stande ist, das ganze Leben des Menschen zu umfassen und zu füllen. In ihm wird die Zusammenfassung aller Kulturarbeit und Kulturwerte wirklich. Aber für das Individuum gibt es Höheres als Kultur; sein Leben, sein Glück, das so zu heißen verdient, wird nicht erarbeitet, sondern als Geschenk empfangen. Höher als Schaffen steht das Erleben.
ETHISCHE UND MYSTISCHE RELIGION IM URCHRISTENTUM Vortrag gehalten 29. September 1920 auf der Wartburg I. Geschichtliche Darstellung: 1. Das alte Geschichtsbild und seine Auflösung; 2. Die Lage des geschichtlichen Problems. 11. Die Aufgaben der Selbstbesinnung auf Grund der geschichtlichen Erkenntnis: 3. Die Beurteilung der historisch-kritischen Arbeit durch die moderne Frömmigkeit; 4. Die Bedeutung dieser Beurteilung; 5. Die Bedeutung von Kultus und Mythus für die religiöse Gemeinschaft; 6. Religiöser Moralismus und ethische Religion; 7. Der heutige Ruf nach Mystik.
1. Das alte Geschichtsbild und seine Auflösung
Der erste durchgeführte Versuch eines geschichtlichen Verständnisses des Urchristentums war das Geschichtsbild F. C. Baurs; es hat die Darstellungen der urchristlichen Religionsgeschichte - herkömmlich "neu-
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testamentliche Theologie" genannt - bis in die neueste Zeit hinein beherrscht trotz aller Knderungen im Einzelnen. Herrschend nämlich blieb das Bemühen, die Geschichte der urchristlichen Religion als eine einheitliche, gradlinige Entwicklung zu begreifen, die durch die drei Stadien: Jesus, Paulus, Johannes, gekennzeichnet ist. Wohl erkennt man vielfach fremde Einflüsse, erkennt Verwicklungen und Modifikationen, aber sie werden eben an der einheitlichen Linie der Entwicklung gemessen. Als Wesen der christlichen Religion gilt dieser Auffassung durchweg der geistige Gehalt der Verkündigung Jesu, der bei Paulus und weiter bei Johannes zur bewußten Entfaltung und I Formung komme. Der Inhalt der christlichen Religion ist - zunächst verstanden aus der Antithese zum Judentum - ein rein geistiger, universalistischer Gottesglaube, für den alle kultischen und zeremoniellen Institutionen und alle gesetzlichen und nationalen Bindungen gefallen sind. Gott ist für diese Frömmigkeit der heilige Wille des Guten, das Gesetz des Guten und zugleich der Vater für den, der das Gute mit seinem eigenen Willen bejaht. Der Fromme findet Gott, wenn er das Gute will, - auch dann, wenn ihn sein Gewissen verurteilt; er erfährt ihn dann als die verzeihende Macht der Gnade (die sich in Jesus offenbart), die die Sünde richtet und den Sünder rettet. In seinem sittlichen Wollen findet der Mensch Gott und in seinem Gottesglauben gelangt er zur Erfüllung seiner Bestimmung als sittlicher Persönlichkeit; die Gottesliebe wird in der Nächstenliebe wirklich und erfahrbar. So ist die Gotteskindschaft zugleich Gabe und Aufgabe, und so ist in der Liebe bereits das neue Leben da. üb der Ton mehr auf die aktive Seite fällt: das Tun des Willens Gottes macht zu Kindern Gottes - oder auf die passive: die vergebende Gnade macht der Gotteskindschaft gewiß - zu Grunde liegt ein Begriff von Gott und Mensch in wesentlich ethischen Kategorien; Baur und Ritschi sind darin ganz einig. Dem entspricht die Deutung des "Reiches Gottes" in der Verkündigung Jesu; dem entspricht die Auffassung der Rechtfertigungslehre als des Zentralpunkts der Anschauung des Paulus. Dies Geschichtsbild wurde gewissermaßen schon untergraben durch einzelne Beobachtungen, deren Konsequenzen freilich zunächst nicht gezogen wurden. An der alten Kirchengeschichte wurde es zuerst deutlich, daß in die Geschichte der christlichen Religion alsbald ein ganz andersartiger Faktor eintritt: der Hellenismus; jedermann weiß es mindestens seit Harnacks Dogmengeschichte. In einem Aufsatz hat
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Harnack gelegentlich gezeigt!, wie die paulinische Rechtfertigungslehre in der alten Kirche durchweg unwirksam ist, beziehungsweise nur in halb- oder mißverstandenen Formeln nachwirkt bis auf Augustin. Harnack meinte zwar immer noch sagen zu dürfen, daß das Evangelium Jesu als konstituierender Faktor in der Geschichte der alten Kirche wirke. Demgegenüber hat z. B. Loeschcke in einer Skizze gezeigt, daß der Einfluß des Evangeliums auf die alte Kirche ein sehr geringer ist 2• Wann aber beginnt die Wirksamkeit des hellenistischen Faktors? Daß im Neuen Testament das Johannesevangelium starke Einflüsse hellenistischer Frömmigkeit aufweise, wurde früh erkannt, ohne daß man sich dadurch das Bild der einheitlichen Entwicklung stören ließ. Ebenso blieb es zunächst ohne große Folgen, daß man hier und dort bei Paulus den Einfluß hellenistischer Ausdrucksformen, Gedanken und Stimmungen beobachtete. Eine grundlegend neue Auffassung wurde eigentlich zum ersten Mal in Wredes Paulus (1905) ausgesprochen. Wrede sieht den unheimlichen, klaffenden Riß zwischen Jesus und Paulus mit voller Deutlichkeit. In seiner Darstellung der paulinischen Theologie wird die Rechtfertigungslehre aus dem Mittelpunkt in den Anhang verwiesen als apologetisches Stück oder Kampfeslehre, und in den Vordergrund treten Gedanken mythischen und mystischen Charakters. Fand Wredes Darstellung zunächst fast nur Widerspruch, so ist sie doch umso bedeutsamer, als sie zu einer Zeit entworfen war, als die religionsgeschichtliche Forschung in ihrer Anwendung auf das Neue Testament noch kaum begonnen hatte 3 • Die neue Epoche beginnt mit der energischen religionsgeschichtlichen Erforschung des Hellenismus und ihrer Fruchtbarmachung für das Neue Testament. Von Philologen haben Reitzenstein und Wendland, von Theologen Bousset und Heitmüller daran die größten Verdienste; vor allem Boussets glänzendes Werk Kyrios Christos (1913) ließ ein ganz neues Geschichtsbild erstehen: der Unterschied zwischen Jesus und Paulus ist in der Tat ähnlich zu sehen, wie Wrede gezeigt hatte. Aber der Einschnitt in der Geschichte des Urchristentums beginnt schon vor Paulus, nämlich gleich mit dem übergang I der christlichen Predigt vom palästinensischen auf den hellenistischen Boden. Paulus trat in ein schon vor ihm bestehendes hellenistisches Urchristentum ein; dies bildet 1 2
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ZThK I (1891) S. 82-178. Gerhard Loeschcke, Zwei kirchengeschichtliche Entwürfe. 1913. Von Ausnahmen wie Otto Pfleiderer abgesehen.
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unbeschadet seiner Eigenart und Bedeutung - die Voraussetzung für sein Christentum, und wesentliche Anschauungen des Paulus sind nur auf Grund dieser Voraussetzung zu verstehen. - Uns ist es jetzt fast unverständlich, wie man einst - zumal in der durch Wrede geweckten Debatte "Jesus und Paulus" - die hellenistische Gemeinde so lange ignorieren konnte. Freilich an eine Gemeinde als Faktor hatte ein Forscher erinnert, Jülicher4, aber an die palästinensische Gemeinde. Und in der Tat ist auch sie stärker in Rechnung zu setzen, als es früher geschah. Die Analyse der synoptischen Evangelien hat - vor allem seit Wellhausen - immer deutlicher gezeigt, wie wenig Sicheres wir von Jesus wissen, und wie sehr die Evangelien in erster Linie ein Zeugnis der palästinensischen Gemeinde sind. Nicht Personen dürfen in erster Linie verglichen werden, sondern Gemeinden: die palästinensische und das hellenistische Urchristentum. Ich muß hier nun methodische Erwägungen wie Vorfragen und Teilfragen übergehen und will nur an vier Beispielen die Lage des Problems erläutern. 2. Die L,age des geschichtlichen Problems 1. Die Erzählung vom Leben Jesu In der palästinensischen Gemeinde wurden Einzelstücke überliefert: Worte und Gespräche Jesu, Wundergeschichten und dergleichen. Jesus erscheint in ihnen als der eschatologische Bußprediger und Prophet der kommenden Gottesherrschaft, als Weisheitslehrer und Rabbi. Es kam auf palästinensischem Boden wohl auch zu (katechismusartigen) Sammlungen solcher Einzelstücke, aber nicht zu einem einheitlichen "Leben J esu". Dies schuf erst der Christus-Mythus der hellenistischen Gemeinde, für die Jesu Leben die Epiphanie des himmlischen Gottessohnes ist und damit als Einheit erscheint. Der erste uns bekannte Versuch solcher Darstellung mit Verwertung palästinensischen Materials ist das Markusevangelium. Wie hier das Leben Jesu auf dem Hintergrund des Mythus erscheint, so hat der Mythus auch neue Einzelstücke geschaffen wie die Tauf- und Verklärungsgeschichte, wie Mt 11, 27 u. a. Im 4
Adolf ]ülicher, Paulus und ]esus. 1907.
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Johannesevangelium endlich ist das palästinensische Gut fast völlig verdrängt; Jesus erscheint hier als der Gottmensch, sein irdisches Leben ist die Offenbarung des himmlischen Logos für die, die schauen können. Jenseits der Grenze des Neuen Testaments sind die Oden Salomos ein charakteristisches Beispiel dafür, wie der Mythus die Herrschaft über die Gestalt Jesu gewonnen hat. Man muß sich klar machen, wie in der Kirche bis in die neue Zeit hinein nicht der historische Jesus, die "Religion Jesu" wirksam war, sondern wesentlich der Christus-Mythus, wie ihn die moderne Frömmigkeit zum Teil wieder verlangt gegenüber dem historischen Jesus der "liberalen Theologie". Jener Mythus ist eine Schöpfung des hellenistischen Christentums, während die "liberale Theologie" auf die palästinensische Tradition zurückgriff. 2. Der Kyrioskult
Mit dem mythischen Christus hängt der kultische aufs engste zusammen. Die palästinensische Gemeinde kannte noch keinen Christuskult, keine Anrufung Jesu als des Herrn, wie sie überhaupt keinen eigentlichen Kult geschaffen hat. Für sie war Jesus der Prophet und Lehrer und vor allem der demnächst kommende "Menschensohn". In der hellenistischen Gemeinde erwächst alsbald ein neuer Kult, der Kult des Kyrios Christos. Er ist das Zentrum der Frömmigkeit der Gemeinden; in ihm wird der Einzelne mit dem Kyrios verbunden und werden alle Einzelnen zum "Leibe Christi" vereint. Er spendet die Kräfte, die den Einzelnen wie die Gemeinde durchfluten, die durch die Sakramente vermittelt werden. Die Vorstellung vom eschatologischen Menschensohn und von der eschatologischen Gottesherrschaft verblaßt. 3. Die Bekehrung des Paulus
Die früheren Versuche, die Bekehrung des Paulus psychologisch zu begreifen, I nahmen (von Holsten bis Weinel) wesentlich Röm 7 zur Grundlage, d. h. wie sie in der Rechtfertigungslehre des Paulus den Kernpunkt seiner Anschauung sahen, faßten sie die Bekehrung als das Ergebnis einer sittlichen Entwicklung auf. Im Zusammenhang damit wurde gewöhnlich als wesentlich dabei mitwirkender Faktor die Tradition der palästinensischen Gemeinde und, durch sie vermittelt, Worte und Person Jesu gewertet. Alle drei Voraussetzungen sind falsch: weder
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steht die Rechtfertigungslehre im Zentrum der paulinischen Anschauung, noch ist Röm 7 eine Darstellung der inneren Entwicklung des Paulus5 , noch kann von einer bedeutsamen Einwirkung der palästinensischen Tradition auf Paulus die Rede sein. Somit erscheint die Bekehrung des Paulus in einem ganz neuen Licht; sie ist das ekstatische Erlebnis eines hellenistischen Juden, das ihn in den Bann des Kyrioskults der hellenistischen Gemeinde zog. Die inneren Dispositionen müssen also ganz anderer Art gewesen sein.
4. Die soziologische Struktur des Urchristentums In seinem großen Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) charakterisiert Troeltsch den Typus der christlichen Gemeinde: sie ist nicht eine weltliche Arbeitsgemeinschaft mit einem Reform- oder Kulturprogramm, sondern sie ist eine rein religiöse Gemeinschaft mit überweltlichem Ziel und Kraftzentrum. Gegenüber den weltlichen Ordnungen verhält sie sich gleichgültig; doch kann diese Gleichgültigkeit sowohl zum Konservatismus gegenüber den gottgewollten Ordnungen werden wie zur Verachtung und Empörung gegen die teuflischen Schranken, die das Gottesreich hemmen. Diese Haltung der christlichen Kirche bis zum Beginn der Neuzeit sei im Urchristentum, ja letztlich in der Verkündigung Jesu begründet. Troeltsch gewinnt sein Geschichtsbild, indem er, unter dem Einfluß der alten Anschauung von der Einheit der urchristlichen Geschichte, Jesus nach Paulus und Johannes interpretiert. Er trägt unbefangen die paulinische Terminologie (Selbstheiligung, Berufung zur Gottesgemeinschaft, Mitwirken am Werke Gottes usw.) in die Verkündigung Jesu ein. In Wahrheit darf Jesus nicht von der folgenden hellenistischen Entwicklung, sondern nur von der vorhergehenden jüdischen Entwicklung aus verstanden werden. Troeltsch beschreibt ganz richtig das sittliche Ideal und die soziologische Struktur der hellenistischen Gemeinden: hier liegt eine spezifisch religiös orientierte Ethik vor, die Ethik eines religiösen Individualismus, der aus dem Erlebnis der Erfüllung mit dem göttlichen Geist und der mystischen Vereinigung mit dem Kyrios den Antrieb und das Ziel des sittlichen Handelns schöpft. Das Ziel ist ein transzendentes, und die Formel "Gott und die Menschenseele, die in Gemeinschaft mit ihm 5 Vgl. Wilhelm HeitmülIer, die Bekehrung des Paulus ZThK XXVII (1917) S. 136-153.
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unendlichen Wert gewinnt", trifft das Rechte, wenn auch Gott durch den Kyrios repräsentiert wird. Die Seelen, die mit dem Kyrios in Gemeinschaft treten, werden in dieser Gemeinschaft auch untereinander zu einer Liebesgemeinschaft verschlungen, die sich eben in der kultischen Gemeinde darstellt. Das Handeln besteht darin, daß der Mensch sich heiligt für diese Gemeinschaft, und daß er als Mitarbeiter Gottes neue Glieder für die Liebesgemeinschaft wirbt. - Ganz anders bei J esus, der ein solches überweltlich-mystisches Ziel des Handelns nicht kennt, für den Gott nicht das Ziel ist, mit dem die sich Heiligenden zu mystischer Gemeinschaft verbunden werden und so einen unendlichen Wert gewinnen und untereinander zu einer Liebesgemeinschaft verschlungen werden: Jesu Gott ist in erster Linie der heilige Wille, der vom Menschen den guten Willen fordert; und das Verhältnis des Menschen zu ihm ist das des Gehorsams und des Vertrauens. Jesus fordert im Gegensatz zum Judentum nicht Werke, sondern die gute Gesinnung, Wahrhaftigkeit und Unbedingtheit des Gehorsams unter das Gute. Diesen Sinn, nicht irgend einen mystischen, hat auch das Liebesgebot. Bei Jesus bestimmt nicht der Gottesgedanke den Inhalt und das Motiv der sittlichen Forderung, sondern umgekehrt erhält der Gottesgedanke seinen Inhalt durch das Bewußtsein der sittlichen Forderung, gen au wie bei den großen Propheten Israels, deren Tat die Reinigung der volkstümlichen Gottesvorstellung I vom Bewußtsein der sittlichen Forderung des Rechts und der Gerechtigkeit aus war. Da Troeltsch die Antithese völlig ignoriert, in der Jesu Verkündigung zur gesetzlichen Ethik des Judentums steht, sieht er nicht, daß Jesus als Abschluß und Erfüllung in die Geschichte des Judentums hineingehört, während mit Paulus und der hellenistischen Gemeinde etwas Neues beginnt. Man kann sich den Unterschied von Jesus und Paulus am einfachsten an ihrer Stellung zum Gesetz klar machen. Paulus argumentiert nicht wie Jesus von der sittlichen Forderung des Guten, der Wahrhaftigkeit und Unbedingtheit aus gegen das Gesetz, sondern für ihn ist das Gesetz durch Gottes Heilsveranstaltung aufgehoben, und das sittliche Handeln erscheint nun wesentlich nicht als der Gehorsam unter die Forderung des Guten, sondern als das Wirken des Geistes in den erlösten Gotteskindern. Die Beispiele werden einigermaßen gezeigt haben, daß man das palästinensische Urchristentum als ethische Religion charakterisieren darf. Gott ist der Willensgott der alttestamentlichen und jüdischen Tradition, und als sein Wille gilt eben in erster Linie das Gute. Er fordert den guten Willen und nichts als diesen, und er zählt den, der
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guten Willens ist, unter die Geretteten, die an der kommenden Gottesherrschaft teilbekommen. Er ist der gnädige Vater, der zu den Stillen im Lande und zu den bußfertigen Sündern sich neigt, und der die stolzen Musterfrommen und Werkheiligen verwirft. Das hellenistische Christentum wird demgegenüber als mystisch-kultische Religion zu bezeichnen sein. Gott ist hier nicht, oder nicht in erster Linie, der heilige Wille des Guten, die Wirklichkeit, die im Gehorsam gegen das Gute erfaßt wird, sondern er ist die überweltliche Wesenheit, Geist, Leben, Licht, "Wahrheit", Unvergänglichkeit im Gegensatz zu dem stofflichen, finsteren, toten Wesen der "Welt". Diese Frömmigkeit ist, wie die Mystik meist, dualistisch. Sie schaut deshalb auch die göttliche Wirklichkeit nicht an ihrem Wirken in Welt und Schicksal und erfaßt sie nicht innerhalb von Lebensaufgabe und Lebensschicksal, sondern in wunderbaren Erlebnissen, die den Frommen aus dieser Welt herausnehmen, in Ekstase und wunderbarer Gottesschau, in pneumatischen Erlebnissen und kultischen "Handlungen", die mit den Handlungen dieser Welt schlechthin unvergleichlich sind. Und zwar ist die Mystik in erster Linie Kultusmystik: der im Kult gegenwärtige Kyrios spendet die Gaben der übernatürlichen Welt, den "Geist"; er ist selbst der "Geist". Sein Bild ist Symbol und Quell der göttlichen Kräfte, und in der mystisch-kultischen Gemeinschaft mit ihm wird man in das Wesen der himmlischen Welt verwandelt, wird "verklärt". Konsequent ergibt sich also die bedeutsame Folgerung: Jesus und das palästinensische Urchristentum sind eine Erscheinung innerhalb des Judentums, eine jüdische Sekte, wenn man so will. Vom Standpunkt des Historikers muß man urteilen: das "Christentum" als selbständige geschichtliche Größe, als eine religiöse Gemeinschaft mit eigenen Formen des Mythus und Kultus und des Gemeinschaftslebens beginnt mit dem hellenistischen Urchristentum. Man wird das palästinensische Urchristentum als eine einheitlichere Größe als das hellenistische anzusehen haben. In diesem jedenfalls gibt es allerlei Schattierungen. Die Vorstellungen können geistiger oder massiver sein. Auch ist die Kultusmystik nicht der einzige Faktor, wenn auch der wichtigste. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht auf den Reichtum der Nuancen eingehe'n und nicht bei den verschiedenen Einflüssen, die sich geltend machen, verweilen. Ich muß aber, damit das neue Geschichtsbild verständlich wird, noch wenigstens an einigen Punkten das Problem erörtern, wie denn das palästinensische und das
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hellenistische Urchristentum überhaupt eine zusammenhängende geschichtliche Bewegung darstellen können.
1. Die Kultusgottheit des hellenistischen Urchristentums ist nicht eine rein mythische Gestalt, sondern sie wird mit der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth identifiziert, den die palästinensische Gemeinde als Propheten und Lehrer verehrt und als Menschensohn erwartet. Den damit gegebenen Zusammenhang der palästinensischen und hellenistischen Ge- I meinde repräsentieren das Markus- wie das Johannesevangelium beide in ihrer Weise. 2. Die Eschatologie Als eschatologische Bewegung hatte die neue Gemeinschaft mit der Verkündigung Jesu ihren Ursprung genommen, und als Gemeinde der Endzeit fühlt sich die palästinensische Gemeinde. Als eschatologische Botschaft wurde das Evangelium in die hellenistische Welt getragen. Daß die Zeit kurz sei, daß in größter Eile das Evangelium in der Oikumene gepredigt werden müsse, war auch die überzeugung des Paulus. Auf die Ankunft des Herrn warten, lernten die hellenistischen Gemeinden unter den ersten Stücken. Unterschied die Eschatologie die hellenistisch-christlichen Gemeinden von andern synkretistischen Bildungen der Zeit, so verband sie sie mit der palästinensischen Gemeinde. Und verblaßte auch die Eschatologie allmählich, so gab sie doch für den Anfang ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den palästinensischen und hellenistischen Gemeinden. 3. Die übernahme der Tradition übernommen wurde von den hellenistischen Gemeinden zunächst das Alte Testament. Abgesehen davon, daß ein Teil seines Inhalts neben der Kultusmystik wirksam wird (eben die Eschatologie, dann der Moralismus u. a.), so gibt schon die übernahme als solche das Bewußtsein, in historischer Kontinuität mit Israel und damit mit der palästinensischen Gemeinde zu stehen. Man fühlt sich als das wahre Israel, man nennt Abraham seinen Vater, man bezieht die Verheißungen auf sich, man entnimmt den alttestamentlichen Schriften ein reiches Beweismaterial für die Apologetik u. a. übernommen wurde aber auch die palästinensische Tradition von Jesus. Und auch hier gilt: eine Tradi-
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tion hat als solche ein Schwergewicht, auch wenn ihr geistiger Gehalt nicht voll zur Auswirkung kommt; sie wirkt eigentümlich auf das Selbstbewußtsein und bedeutet eine Bindung von großer Kraft. 4. Der durch Personen und Institutionen gegebene Zusammenhang Die ersten hellenistischen Missionare waren Judenchristen, freilich hellenistische Judenchristen, die aus der palästinensischen Gemeinde vertrieben waren. Sie und die zuerst von ihnen gewonnenen Stammesgenossen (wie Paulus) sind die ersten Träger des Evangeliums in der hellenistischen Welt, und wenn auch hellenistische Juden, so doch Juden, für die der Zusammenhang mit Israel, mit Jerusalem selbstverständlich war. Ebenso wirkt auch als Bindung, daß in den ersten hellenistischen Gemeinden Judenchristen in der Regel einen gewissen Prozentsatz bilden. - Im Zusammenhang damit übernehmen die hellenistischen Gemeinden gewisse Formen der hellenistischen Synagogengemeinden, besonders für Gebet und Predigt, so daß neben den Kyrioskult der Wortgottesdienst tritt. Unter den Personen, die für diesen Zusammenhang maßgebend sind, bedarf aber die des Paulus noch besonderer Hervorhebung, einmal im Sinne der soeben genannten Tendenzen. Seine Bedeutung liegt nicht, wie es früher erschien, in erster Linie darin, daß er die Gesetzesfreiheit des hellenistischen Christentums erstritt. Die Bindung an das Gesetz war und wurde vor und neben ihm von Anderen in verschiedener Weise gelöst, worin schon das hellenistische Judentum ein Vorläufer gewesen war. Vielmehr besteht die Bedeutung des Paulus in dieser Hinsicht darin, daß er trotz der Freiheit vom Gesetz den Zusammenhang mit J erusalem und der palästinensischen Gemeinde festzuhalten vermochte und bewußt pflegte. Darin liegt auch die Bedeutung des sog. Apostelkonvents, der einst in der Baurschen Konstruktion eine besondere Rolle spielte: nicht die Freiheit der Heidenchristen wurde hier errungen; sie hätte sich auch ohne Paulus und seinen Sieg auf dem Konvent durchgesetzt; aber der Zusammenhang mit Jerusalem wurde erhalten. Deshalb ist die wichtigste Bestimmung des Konvents die unscheinbarste: die Sammlung für die jerusalemische Gemeinde; und die ferneren Bemühungen des Paulus für diese Kollekte gehören zum Wichtigsten seiner Tätigkeit. Aber die Bedeutung des Paulus geht weiter. Sie liegt vor allem darin, daß seine Briefe zur Literatur für das hellenistische Christentum wurden, und daß in diesen Briefen eine I eigenartige Verbindung von
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ethischer und mystischer Religion vorliegt. Elemente beider enthält in der Tat die Frömmigkeit des Paulus. Von Jesus unterscheidet er sich zunächst fundamental dadurch, daß er, bei gleicher, aber anders begründeter Polemik gegen die Gesetzlichkeit, das Heil nicht auf den guten Willen und Gottes Güte gründet, sondern auf die Heilstatsachen, von denen der Christus-Mythus redet, und auf den Glauben, der diese Heilstatsachen anerkennt, sich ihnen unterwirft. Fragt man aber - und das ist immer die entscheidende Frage für eine Religion -, worin Paulus Gott als den gegenwärtigen erfaßt, welches die innere Erfahrung ist, die ihn des Heils versichert, so ist das nicht die Heilsveranstaltung; denn Menschwerdung, Tod und Auferstehung des Christus können als solche ja garnicht Objekt der inneren Erfahrung werden. Und die Deutung dieser Tatsachen als den Menschen gewinnende und unterwerfende Offenbarungen Gottes (vgl. Luther und RitschI) spielt bei Paulus keine Rolle. Vielmehr ist es der "Geist", der den Paulus der Gotteskindschaft versichert; im pneumatischen Erleben erwächst die Gewißheit der Gnade Gottes. Und das Heil, soweit es schon jetzt erfahrbar ist, ist die Christusgemeinschaft, soweit es noch zukünftig ist, wiederum das "mit Christus sein". Die Mystik reicht also in das Zentrum der paulinischen Frömmigkeit. Aber der "Geist" ist dann doch auch wieder eine sittliche Macht und erweist seine Früchte im sittlichen Wandel; und der Christus ist doch nicht nur die (kultische) Symbolisierung der mystisch-pneumatischen Kräfte, sondern auch die Kraft, die im Berufsleben des Paulus waltet, deren er inne wird in dem Reichtum, den sein inneres Leben in Kampf und Leid gewinnt, also in seiner inneren Geschichte als sittliche Persönlichkeit, in seinem Schicksal, das er unter seiner Aufgabe erlebt. Und Gott ist für Paulus nicht die Ruhe und Stille des mystischen Gottes, sondern der Willens gott des Alten Testaments, der Geschichte und Schicksal von Welt und Menschen regiert. Die eigentümliche Verbindung von ethischer und mystischer Religion bei Paulus findet ihren Ausdruck in der Doppelheit der göttlichen Gestalten; das mystische Erleben hat seine Beziehung wesentlich zum Kyrios-Geist; Gott ist der, der das Geschehen in Zeit und Welt lenkt und der auch ihn zu seinem Amt berufen hat. I
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3. Die Beurteilung der historisch-kritischen Arbeit durch die moderne Frömmigkeit Ich übergehe die Frage, ob das Nebeneinander von ethischer und mystischer Religion bei Paulus als organisch zu bezeichnen ist, und wieweit diese eigentümliche Doppelheit in der weiteren Entwicklung wirksam gewesen ist. Ich wende mich von der historischen Darstellung zu der Frage, was die Geschichte uns für unsere Gegenwart lehrt. I Die historisch-kritische Arbeit beginnt in der modernen Strömung unserer Zeit der Geringschätzung zu verfallen. Ich verstehe die enttäuschten oder feindseligen Klagen, daß diese Arbeit religiös und kirchlich unfruchtbar sei. Ich glaube freilich, daß sie eine Aufgabe für die Kirche hatte und noch hat, wenn auch weder die wichtigste noch eine unmißverständliche oder gar ungefährliche. Man hat die moderne Richtung der Frömmigkeit, die sich von der geschichtlichen Arbeit abwendet, als Gnostizismus bezeichnet. Soweit mit Recht, als diese Frömmigkeit den Zusammenhang mit den geschichtlichen Mächten überhaupt zerreißen will und die Geschichte ganz in Mythus umdeutet, wie es mir in Barths "Römerbrief" allerdings der Fall zu sein scheint; ebenfalls, soweit diese Frömmigkeit reine Mystik ist. Anders aber liegt es bei einer andern Strömung, die ich in Gogarten eindrucksvoll repräsentiert sehe. Gogarten sagt (Religion weither S. 677): "Religion ist so wenig ohne Geschichtserlebnis zu denken, daß man fast von ihr sagen kann, sie sei selbst das Erleben der GeschiChte (wie gesagt nicht das Wissen der Geschichte). Jedenfalls ist sie ganz und gar durchsetzt von Geschichtserlebnis. " Diese Bindung an die Geschichte ist aber nicht mißiZuverstehen: "Man will nicht, um von den Fesseln und Engen des eigenen zeitlich-räumlichen Daseins befreit zu werden, sich an eine gewesene Zeit und ihre - trotz aller persönlichen Weite und Bedeutung - Beschränktheit binden lassen. Es geht in der Religion um die Ewigkeit, und die läßt sich nun einmal in keinen Zeitabschnitt fangen, und sei es der bedeutendste, der sich je auf Erden ereignete ... Es liegt der Religion schlechterdings gar nichts daran, in irgend einer vergangenen Zeit eirie Offenbarung der Ewigkeit zu finden und zu verehren, sondern sie will in ihrer Gegenwart die Ewigkeit finden." - Diese Frömmigkeit sträubt sich also dagegen, daß unser Zusammenhang mit der Geschichte auf möglichst genauer Kenntnis der Geschichte, auf der historisch-kritischen Arbeit beruhen müßte. Sie sträubt sich dagegen mit Recht. Sie sträubt sich ferner dagegen, daß eine Epoche oder eine
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Person der Vergangenheit, habe sie auch klassischen Charakter, einer Religionsgemeinschaft als normative Grundlage dienen könne. Nur in Größen, die sich über Zeit und Geschichte erheben, in Mythos und Kultus, komme der unerschöpfliche, stets neu geformte und zu formende Gehalt einer Religion zum Ausdruck. Auch das mit Recht. Zwei Vorwürfe werden also gegen die historisch-kritische Arbeit, oder wie man meist sagt, gegen die "liberale Theologie" (zu der auch ich mich rechne) erhoben. 1. Allgemein, daß die historisch-kritische Arbeit zur Voraussetzung der Frömmigkeit gemacht werde; 2. speziell, daß ein bestimmter Geschichtsabschnitt und eine bestimmte Person, der "historische Jesus", als normativ angesehen würden.
4. Die Bedeutung dieser B,eurteilung Der erste Vorwurf sagt sachlich Richtiges; wieweit er die einzelnen Vertreter der "liberalen Theologie" trifft, bleibe dahingestellt. Jedenfalls kann es nie die Aufgabe der historisch-kritischen Theologie sein, die Frömmigkeit zu begründen, sondern nur - wie es die Aufgabe aller Theologie ist - zur Selbstbesinnung zu führen, den geistigen Bestand des Bewußtseins klären und reinigen zu helfen. Wenn sich bei dieser Arbeit der Selbstbesinnung ergibt, daß der geistige Gehalt ein geringer ist, so verklage man nicht die Arbeiter der Selbstbesinnung, sondern man beklage die Kraftlosigkeit der Gemeinde, deren Symptom oder Exponent die Theologie immer ist. Wie sehr das der Fall ist, und wie sehr ihre Arbeit die der Selbstbesinnung ist, zeigt unsere gegenwärtige Situation und zeigt auch die vorhin angestellte geschichtliche Betrachtung. Die Erkenntnis des Unterschiedes palästinensischen und hellenistischen Urchristentums geht ja parallel der Bewegung in der modernen Frömmigkeit, die sich von der ehtisch oder moralistisch gerichteten Auffassung des protestantischen Christentums speziell Ritschlscher Prägung abwendet und eine starke Hinneigung zur Mystik zeigt. Wieweit die Erkenntnis der Forschung, ihre Fähigkeit zur Analyse religionsgeschichtlicher Erscheinungen, ihr Organ für die hellenistische Mystik selbst als I ursächlicher Faktor für die Wendung der neuen Frömmigkeit in Betracht kommt, wieweit sie ihre Folge ist, sei unentschieden. Genug, daß sie jedenfalls ein Symptom der Wandlung des Lebensgefühls unseres Zeitalters ist. Und so wird ihre Arbeit eben auch
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zur Klärung des Zeitbewußtseins beitragen. Das führt zum zweiten Vorwurf· Die "liberale Theologie" habe den "historischen Jesus" und seine Religion zur Grundlage der Frömmigkeit machen wollen und damit an Stelle des Mythus und Kultus, die doch einzig der Ausdruck für das Lebendige, Ewige, Übergeschichtliche einer Religion sein können, eine begrenzte geschichtliche Person gesetzt. Tatsächlich hat die "liberale Theologie" zunächst ihrerseits dagegen protestiert, eine beschränkte geschichtliche Form des Christentums als normativ anzusehen, nämlich das paulinische Christentum in seiner kirchlich dogmatischen Fassung. In der Reaktion dagegen hat in der Tat die "liberale Theologie" weithin die Verkündigung Jesu, die Religion Jesu als normative Form des Christentums hingestellt. Wir sehen jetzt, was das bedeutet; es bedeutet einmal die Entscheidung für das palästinensische gegen das hellenistische Christentum. Es bedeutet aber vor allem, daß als normative Form des Christentums eine geschichtliche Erscheinung angesehen wurde, die vom Standpunkt der Geschichte aus noch gar nicht als Christentum zu bezeichnen ist. Das Christentum als selbständige religiöse Gemeinde hat erst da seine Existenz, wo es sich eine eigene soziologische Form, wo es sich Mythus und Kultus geschaffen hat. Jesus war ein Jude und die palästinensische Gemeinde war eine jüdische Sekte. Eine Form der Religion, in der nur der geistige Gehalt der Verkündigung J esu lebendig wäre, ist in der Geschichte nur innerhalb des Judentums möglich gewesen. Sonst ist sie überhaupt nicht möglich oder nur in Kompromißbildungen, d. h. innerhalb einer anderen kirchlichen Gemeinschaft, deren Rückgrat - Kultus und Mythus usw. - anderen Ursprungs ist. Wie denn die "liberale Theologie" nur im Rahmen einer überkommenen Kirchlichkeit existiert hat. Wenn es der "liberalen Theologie" nicht gelingt, eigene neue AU5drucksformen für die religiöse Gemeinschaft, Kultus und Mythus zu finden, so wird sie für die Geschichte der Kirche ebenso eine Episode sein, wie der Rationalismus trotz aller Leistungen auf einzelnen Gebieten für die Kirche doch im Grunde nicht eine Epoche, sondern eine Episode war, weil er kein Organ für Kultus und Mythus hatte und es nicht vermochte, neue Formen religiösen Gemeinschaftslebens zu finden.
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5. Die Bedeutung von Kultus und Mythus für die religiöse G,emeinschaft Welche Konsequenzen ergeben sich? Unmöglich wäre die Konsequenz, sich für die andere Seite der Alternative zu entscheiden, für das hellenistische Urchristentum. Denn für dies gilt der Satz genau so, daß eine geschichtlich bedingte Form der Vergangenheit nicht normativ sein kann. Die Künstlichkeit katholisierender Repristination des alten Kults wie orthodoxe Verklärung des paulinischen Mythus und kirchlichen Dogmas ist von vornherein gerichtet. Das gilt auch von der enthusiastischen Erneuerung des paulinischen Mythus in der Zurechtmachung bei Barth. So sehr ich die religiöse Kulturkritik des Barthschen "Römerbriefs" begrüße6 , so wenig kann ich in dem Positiven, das er bringt, etwas anderes sehen als eine willkürliche Zustutzung des paulinischen Christusmythus. Das Urteil, das Barth über die "liberale Theologie" fällt, trifft damit ihn selbst in demselben Maße. Einen alten Kultus und Mythus kann man nicht künstlich erneuern; man kann auch nicht künstlich einen neuen schaffen. Was man, ehe priesterliche oder prophetische Naturen schöpferisch neugestalten, tun kann, ist nur dies, daß man an die gegenwärtige geschichtliche Situation anknüpft, sie weiterbildet, indem man rücksichtslos abschneidet, was veraltet und unwahrhaftig geworden ist, und einfügt, was sich zwingend geltend macht. Darüber aber ist in diesem Zusammenhang nicht zu handeln; I vielmehr ist hier die Aufgabe der Selbstbesinnung noch ,einen Schritt weiter zu führen. Kultus und Mythus ist nicht die Religion, sondern die notwendige Form für die Existenz einer religiösen Gemeinschaft. Der Christusmythus und Kyrioskult waren einst die Form für das hellenistische Urchristentum. Vielleicht darf man sagen, daß die mystische eine engere Beziehung zum Kult hat als die ethische Religion; an sich aber bedürfen beide solcher Formen; aber die letzte Frage kann doch nicht die nach den Formen sein, sondern die: Welche Religion fühlen wir in uns lebendig? Bekennen wir uns zu einer ethischen Religion, wie sie innerhalb des Judentums in Jesus und der palästinensischen Gemeinde lebendig war? oder zu einer Mystik, wie sie einst im hellenistischen Christentum in einer ebenfalls historisch bedingten Form herrschend gewesen ist? Die Fragestellung zeigt die Verfahrenheit und Hilflosigkeit unserer 6
Vgl. Religion und Kultur von demselben Verfasser, oben S. 11 ff.
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heutigen Lage. Wir kranken daran, daß wir nicht als religiöse Gemeinschaft klar und sicher hinweisen können auf das, was uns die deutliche Offenbarung Gottes ist. Denn so :würde die Frage würdiger und tiefer gestellt sein: Was gilt uns eigentlich als die Wirklichkeit Gottes? worin schauen, worin erleben wir ihn? worin offenbarter sich uns? 6. Religiöser Moralismus und ethische Religion Der tiefste Fehler der "liberalen Theologie" war m. E. die Verwechslung eines religiös gefärbten Moralismus mit ethischer Religion. Nur deshalb war es auch möglich, dem historischen Jesus eine solche Bedeutung zuzuschreiben; denn in dem, was uns von ihm erhalten ist, spielt das eigentlich Religiöse eine relativ geringe Rolle. Jesu Gottesglaube erscheint in manchen seiner Aussagen als ein kindlicher Vorsehungsglaube und naiver Optimismus, wie er auch in Psalmen und Weisheit Israels, sowie in dem naiven Volksglauben vieler Zeiten und Kulturen lebendig ist. In anderen Aussagen ist seine Gottesvorstellung die mythische der Eschatologie. Beide Vorstellungen wird man kaum als eigentlich religiös bezeichnen können. Das Heil, das J esus erhofft, die Gottesherrschaft, da Sünde und Leid von der Welt vertilgt sind und Gottes Willen auf Erden geschieht, ist eine Größe, in der sich sittliche Ideale mit weltlichen Hoffnungen und frommer Ehrfurcht verbinden, jedenfalls nicht ein spezifisch religiöses Gut. In den am meisten charakteristischen Aussagen erhält der Gottesgedanke seine Bestimmung durch den Gedanken des Guten. Gottes Wille ist die Forderung des Guten, wie vorhin ausgeführt. Das ist also nicht ein eigentlich religiöser Gottesbegriff, sondern, wie es naivem Denken stets eigentümlich ist, es erscheint die verpflichtende Macht des Guten unter der mythischen Vorstellung eines fordernden und strafenden, eines verzeihenden und lohnenden Gottes. Zur Religion wird dieser Glaube doch nicht dadurch, daß besondere psychische Zustände der Erschütterung oder Begeisterung ihn begleiten, sondern nur, wenn er einen neuen Inhalt gewinnt. Nämlich dann, wenn der Mensch, der sich der Forderung des Guten beugt, dabei eine innere Geschichte erlebt, in der er eine Wirklichkeit erfaßt, die nicht die des sittlichen Ideals ist, sondern eine Lebenswirklichkeit, aus der er sich emporwachsen, der er sich ganz unterworfen und von der er sich getragen fühlt; wenn der Mensch, der im Gehorsam des Guten steht,
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spürt, daß er dadurch ein Schicksal erlebt, durch das er verwandelt wird, wenn er durch Erlebnisse, die ihn durch Tiefen und Höhen führen, Erlebnisse, die in religiöser Sprache Sünde und Gnade heißen, hingelangt - nicht zur Erfüllung der sittlichen Forderung, sondern zur Erfüllung seines Seins. In der Religion handelt es sich nicht um das Tun, sondern um das Sein, nicht um die Gesinnung, die sich auf das Ziel des Guten richtet, sondern um das Erlebnis des Vergehens vor der Wirklichkeit Gottes und des Beschenktwerdens durch die göttliche Gnade, um Verwandeltwerden, um Neugeschaffenwerden zu einem Wesen, dessen Tat nicht die Erfüllung einer Forderung, sondern die Darstellung seines Seins ist. Ich will nicht darüber streiten, wieweit wir solches eigentlich religiöse Erleben, das bei Paulus zu wundervollem Ausdruck gekommen ist, bei I Jesus wahrnehmen können; jedenfalls erscheinen an dem Jesusbild, das die "liberale Theologie" entworfen hat, gemeinhin nur jene anderen Züge eines religiösen Moralismus. Otto hat die Wirklichkeit der Religion treffend als das "Ganz andere" bezeichnet. Die Welt des Guten ist nicht das "Ganz andere", sondern sie ist die Schöpfung unserer eigenen sittlichen Vernunft. Das "Ganz andere", von dem die ethische Religion redet, ist nicht die Forderung des Guten, sondern der Gott, der dem Menschen in seinen Erlebnissen unter dem Gehorsam des Guten begegnet. Ein solcher Mensch weiß: wenn er sich als Sünder fühlt, so richtet ihn im Tiefsten nicht das Gesetz des Guten, d. h. sein eigenes sittliches Gewissen, sondern er ist unrein vor dem "Ganz anderen". Und er weiß: wenn er sich begnadet fühlt, so erhebt ihn nicht die Würde des sittlichen Denkens, sondern in der Stille des "Ganz anderen" kann er Reinheit, kann er sich selbst wiederfinden. Er weiß: wenn ihm in Arbeit und Kampf inneres Leben zuwächst, so verdankt er das nicht der Idee des Guten, sondern der geheimnisvollen Macht des "Ganz anderen", die sein Schicksal durchwaltet und sein Leben trägt7 •
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7 Ich stimme dem, was Gogarten in seinem wundervollen Büchlein "Religion weither" und noch tiefer in seinem Eisenacher Vortrag über solches Erleben gesagt hat, aus vollem Herzen zu.
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7. Der heutige Ruf n,ach Mystik Soll der Protestantismus nicht im religiösen Moralismus stecken bleiben, so darf er nicht die Gesinnungsethik Jesu allein predigen; denn diese ist als solche keine Religion, sondern er muß das Spezifische des religiösen Lebens kennen und zum Bewußtsein bringen, er muß von der Offenbarung Gottes reden können und für sie den mythischen und kultischen Ausdruck finden. Damit aber wäre nicht geholfen, daß man Anleihen bei der Mystik macht und die ästhetische reizvolle Form und Terminologie der Mystik benutzt, um Gefühlsstimmungen zu erzeugen. Der heutige Ruf nach Mystik ist verständlich. Er bedeutet vielfach sicher gar nicht den Willen zur eigentlichen Mystik, sondern nur das Verlangen nach religiösem Leben überhaupt. Man muß sich klar sein, worin das Wesen der Mystik beruht. Der Gott der Mystik ist nicht der Willensgott, der im Schicksal waltet und im Gehorsam unter das Gute verehrt und als gnädiger Vater ·erfahren wird. Der Mystiker dagegen glaubt Gott im Jenseits von Welt und Geschichte zu schauen. Mit der Mystik ist entweder ein pessimistischer Dualismus verbunden, der in Welt und Schicksal nicht das Walten Gottes wahrzunehmen vermag, sondern der das Weltgeschehen als trügerischen Schein oder als das Spiel teuflischer Mächte ansieht, - oder ein pantheistischer Naturalismus, der Gott in dem ewig gleichschwebenden Leben der Natur schaut, die geschichtslos ist. Der Mystiker erlebt Gott nicht in seiner inneren Geschichte des Kämpfens und Wachsens im Gehorsam unter das Gute, sondern indem aller Kampf verklingt, und alles Tun, auch das des Guten, versinkt im Schweigen oder in der Ekstase. Ich fälle kein Urteil über Recht oder Unrecht des ethischen und mystischen Typus der Religion. Ich frage auch nicht, ob sich beide Typen der Religion in einer höheren Einheit finden; das würde die Frage der Selbstbesinnung, um die es sich zunächst handelt, verschleiern. Ich weiß aber wohl, daß es bei aller Gegensätzlichkeit der reinen Formen übergänge und Kombinationen in den Individuen gibt, und daß beide Typen in ihren Außerungen große Verwandtschaft zeigen können. Auch die ethische Religion kennt die Andacht und das Schweigen. Auch der Willensgott, der Gott des Schicksals hat eine Stille, in der alles Drängen, alles Ringen zur ewigen Ruhe wird. Aber damit wird er noch nicht zum Gott der Mystik.
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8. Schluß Ausschlaggebend für eine Religion sind weder die Ausdrucksmittel von Kultus und Mythus noch die psychischen Zustände, in denen der Fromme Gott erlebt, sondern nur der geistige Inhalt einer Religion, die Wirklichkeit, die er als Gott bezeichnet. Die psychischen I Formen, das Grauen und Erschauern, das Zittern und Entzücken können sich mit jeder echten Religion verbinden, wie sie auch ohne Religion vorhanden sein können. Nicht ob der Mensch bestimmte psychische Zustände hat, oder ob er an einem Kultus teilnimmt und einen Mythus "glaubt", macht ihn fromm, sondern nur dies, daß er von einer Offenbarung Gottes reden kann, daß er Gott als eine Wirklichkeit gefunden hat, die ihn überwältigt und begnadet, in der er den Sinn seines Lebens findet. In der Mystik ist es die Ruhe und Stille, das leere "Sein", in das die Seele selbstvergessen gleitet, in der ethischen Religion ist es der schaffende Lebenswille, der uns in unserm Schicksal als Kämpfer im Gehorsam unter das Gute zur Erfüllung unseres inneren Lebens reifen läßt.
DAS PROBLEM EINER THEOLOGISCHEN EXEGESE DES NEUEN TESTAMENTS I. Für die Exegese der lutherischen Orthodoxie ist die Schrift ein Buch von Lehren, die auf mich, den Leser, direkten Bezug haben, d. h. die nicht mein theoretisches Wissen bereichern, sondern mich über mich selbst aufklären und mein Leben bestimmen wollen. Sofern diese autoritativen Lehren als allgemeine Wahrheiten angesehen werden, zieht der ältere Rationalismus nur die Konsequenz aus dieser Auffassung der Schrift, indem er Ernst damit macht, daß die Schriftlehren wirklich allgemeine Wahrheiten sind. Denn sind sie das, so sind sie Vernunftwahrheiten, da die Vernunft die Instanz ist, um über den allgemeingültigen Charakter von Sätzen zu entscheiden. Was sich an Unvernünftigem in der Schrift findet, wird also umgedeutet oder als Akkommodation bzw. als zeitgeschichtliche Beschränktheit erklärt. Indem nun
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aber die Beobachtung des zeitgeschichtlich Beschränkten, Individuellen zum Selbstzweck der Betrachtung wird, weil es eine Differenzierung der einzelnen Schriften und Gruppen gestattet und damit die geschichtliche Darstellung ermöglicht, vollzieht sich innerhalb des Rationalismus die Wendung, und es entsteht die moderne zeitgeschichtliche Erklärung. Dabei fällt in der Folge der ursprünglich betonte Gegensatz zwischen dem zeitgeschichtlich Beschränkten und den ewigen Vernunftwahrheiten weg, und statt dessen wird das Individuelle als Fall einer allgemeinen Gesetzlichkeit verstanden, die die Einheit der Geschichte begründet. Diese Gesetzlichkeit nun kann verschieden gedacht sein. Nach der idealistischen, speziell Hegelschen Geschichtsauffassung, die durch die Tübinger Schule zu langdauernder Herrschaft in der neutestamentlichen Exegese gelangte, ist sie eine teleologisch bestimmte. Die Kräfte, die die Geschichte bewegen, sind die Ideen, die die Mo- I mente der Selbstentfaltung des absoluten Geistes darstellen, die ihre Wirklichkeit aber nur in dem konkreten, durch die individuellen Erscheinungen hindurchgehenden Prozeß haben, in dem der absolute Geist zu sich selbst kommt. Mehr und mehr tritt an die Stelle oder neben die dieser Geschichtsauffassung zugrunde liegende idealistische Auffassung vom Menschen eine andere naturalistische, nach der der Mensch das Produkt der Verhältnisse ist, und demgemäß wird die Gesetzlichkeit der Geschichte als kausal bestimmte gedacht. Die Gedanken, Ideale, Institutionen einer Epoche oder eines Individuums werden möglichst weitgehend als Resultat einer Entwicklung erklärt. Und wird dabei die Persönlichkeit (ihr Irrationales!) als Faktor mitgerechnet, so ist doch die dabei zugrunde liegende Auffassung der Persönlichkeit die gleiche naturalistische. Das Irrationale, womit hier gerechnet wird, ist kein anderes als das, womit etwa die geologische Erdgeschichte auch rechnet; denn warum die Gegebenheit der Gesteinsarten gerade so und nicht anders ist, kann sie natürlich auch nicht ableiten. Und das Irrationale, das X, ist ja im Grunde das Eingeständnis dafür, daß das Sein der Personen gerade nicht in dem gesehen wird, was das Wesen der Geschichte ausmacht. Im einzelnen können die kausalen Kräfte, die die Geschichte bewegen, verschieden gedacht sein. Der Mensch kann biologisch gesehen sein, ausgestattet mit verschiedenen Anlagen des Denkens und Empfindens, des sittlichen Wollens usw., und die Geschichte besteht in der Entwicklung dieser Anlagen. Da man von hier aus nicht zu einer Zeit-
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geschichte kommen würde, sondern nur zu einer Naturgeschichte des Menschen, so werden für das Zustandekommen der geschichtlichen Bewegung die Antriebe, die in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Notwendigkeiten liegen, in Anspruch genommen. Ja, diese können allein das Bild beherrschen, und die Geschichte des Christentums kann zur Soziologie werden. Andrerseits kann die biologische Auffassung des Menschen auch vom Individuum auf die Menschheit als Gattung übertragen werden, so daß die ganze geschichtliche Bewegung als biologisch gesehene Morphologie dargestellt werden kann. Wie hier überall der Mensch mehr oder weniger psychologisch gesehen ist, so kann der psychologische Gesichtspunkt auch zum herrschenden gemacht werden, auf die Gefahr hin, daß damit wieder die Erfassung der geschichtlichen Bewegung verloren geht und die Interpretation zu einer psychologischen Analyse der Individuen und Gruppen wird. Die Gefahr wird in der Regel nicht gesehen, weil lohne grundsätzliche Klarheit alle andern Deutungen von Mensch und Geschichte mit in Anspruch genommen werden. Im wesentlichen aber herrscht der psychologische Gesichtspunkt in der sog. religionsgeschichtlichen Exegese, wie sich gleich darin verrät, daß sie die "Lehren" der Schrift hinter den Erlebnissen und Stimmungen zurücktreten läßt und auf sie reduziert, daß sie die "Frömmigkeit" zum Thema der Geschichtsdarstellung macht. Kultus und Mystik gewinnen das besondere Interesse; Institutionen werden möglichst aus ihrer Genesis aus (psychologisch zu verstehenden) primitiven Zuständen erklärt. Die Konsequenz wird gelegentlich in einer m. E. zu Unrecht als phänomenologisch bezeichneten Betrachtungsweise gezogen, die den Gesichtspunkt der geschichtlichen Kausalität bewußt zurückdrängt und als Phänomenologie eine verbesserte Psychologie verträgt. Als Reaktion gegen die kausalgesetzliehe und psychologistische Auffassung des Menschen und der Geschichte wird gegenwärtig eine auf anderm Gebiet durch Männer wie Gundolf, Bertram und Reinhardt vertretene Betrachtungsart auch auf das Neue Testament übertragen, in der der Mensch als "Gestalt" gesehen ist, d. h. von ästhetischen Gesichtspunkten aus. Ein schöpferischer Fond, ein Kraftzentrum wird angenommen, aus dem in einem Urerlebnis und in weiteren Erlebnissen die Gestalt erwächst, geformt durch die Kräfte, die vom Zentrum der Persönlichkeit strahlen. Zu einer geschichtlichen Bewegung im Sinne der Entwicklungsgeschichte kann es hier kaum kommen, wenn nicht wieder die Völker und Kulturen auch als Gestalten gesehen werden,
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womit dann der biologische Gesichtspunkt, der in der N amfolge Goethes von vornherein in dieser romantischen Betrachtung wirksam ist, wieder zur Herrschaft kommen würde.
II.
In all diesen Fällen ist die ursprüngliche Haltung aufgegeben, wonach der Text auf den Leser seinen Anspruch erhebt, d. h. nicht sich betrachten lassen, sondern den Leser in seiner Existenz bestimmen will. In all diesen Fällen ist der Text vielmehr aus der Distanz gesehen; man will sehen, "was da steht", von der Voraussetzung aus, daß das wahrnehmbar, ja nur wahrnehmbar sei unter Absehen von der eigenen Stellungnahme; unter der Voraussetzung also, als könne man die Texte interpretieren, ohne zugleich die Samen zu interpretieren, von denen sie reden. Auf Grund der so interpretierten Texte will man die Geschichte verstehen, ohne sich zu fragen, ob es nicht vielleicht in der Geschichte wesentliche Realitäten gibt, die man nur in den Blick bekommt, wenn man die Distanzbetrachtung aufgibt, I wenn man zur Stellungnahme bereit ist. Freilich sagt die neutestamentlime Exegese nicht, daß einen das, was da steht, schließlich nichts angeht. Aber die Exegese selbst wird nicht durch dies "tua res agitur" bestimmt, sondern geht aus von der abwartenden, neutralen Haltung des Exegeten. Die zeitgeschichtliche und psychologistische Exegese vor allem stellt fest, daß dies und jenes damals unter solchen geschichtlichen Umständen und psychologischen Bedingungen gedacht, gesagt, getan worden ist, ohne über Sinn und Anspruch des Gesagten zu reflektieren. Sofern das Einzelne eine über den Moment hinausgehende Bedeutung hat, hat es sie insoweit, als es unter dem Gesichtspunkt der Gesetzlichkeit (meist der kausalen) gesehen wird, und damit wird die Geschichte zu einem großen Relationszusammenhang, in dem jede einzelne Erscheinung etwas Relatives ist. Und es kann hier das Unternehmen entstehen, verlorene Geschichte zu rekonstruieren. Ist sie richtig konstruiert, so steht sie für den Betrachter auf gleicher Stufe mit der auf Grund der gegebenen Quellen gesehenen. Nun hilft es nichts, wollte man hier wie anderwärts etwa Rückkehr zur idealistischen Geschichtsschreibung fordern. Denn nur scheinbar liegt es bei ihr anders, daß sie nämlich den Text lese unter dem Gesichtspunkt des" tua res agitur". Dieser Eindruck entsteht dadurch, daß hier
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die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen als Objektivierungen des Geistes in seiner geschichtlichen Bewegung verstanden werden, an der ja auch das interpretierende Subjekt teilnimmt, das so in der Interpretation Klarheit gewinnt über das Wesen des Geistes und damit über sich selbst. Hier findet zwar die Zuordnung des interpretierenden Subjekts zur Geschichte statt, während es in den andern Fällen gleichsam daneben steht. Aber doch ist auch hier die Distanz des Betrachters zur Geschichte nicht überwunden, denn der Exeget sieht in diesem Falle sich selbst aus der gleichen Distanz wie die Geschichte, weil er sich dabei ja nur als Spezialfall des Menschen ansieht und alles Individuelle als Ausdruck der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung auffaßt. Das bedeutet: die Zuordnung des existentiellen Subjekts zur Geschichte findet gar nicht statt - wenigstens wenn die Existenz des Menschen nicht in dem Allgemeinen, in der Vernunft, sondern im Individuellen, in den konkreten Momenten des Hier und Jetzt liegt. Eben deshalb sieht der idealistische Betrachter in der Geschichte nichts, was in dem Sinne Anspruch auf ihn macht, daß ihm hier Neues gesagt würde, das er nicht schon potentiell hat, über das er nicht, vermöge seines Anteils an der allgemeinen Vernunft, schon verfügt. Er findet nichts, was ihm als Autorität begegne, er findet in der Geschichte immer nur sich selbst, indem der Gehalt der Geschichte auf I die Bewegung der Ideen reduziert wird, die in der Vernunft des Menschen angelegt sind. Er verfügt also von vornherein über alle Möglichkeiten des geschichtlichen Geschehens. Auch hier kann deshalb das Unternehmen als sinnvoll erscheinen, verlorene Geschichte zu rekonstruieren. . Gerade dies aber ist die entscheidende Frage: ob wir der Geschichte so gegenübertreten, daß wir ihren Anspruch auf uns anerkennen, daß sie uns Neues zu sagen hat. Geben wir die Neutralität dem Texte gegenüber auf, so bedeutet das, daß die Wahrheitsfrage die Exegese beherrscht. Der Exeget ist also letztlich nicht an der Frage interessiert: was bedeutet das Gesagte (als bloßes Gesagtes) an seiner zeitgeschichtlichen Stelle, in seinem zeitgeschichtlichen Zusammenhang? sondern er fragt letztlich: von was für Sachen ist die Rede, zu welchen Realitäten führt das Gesagte? Das heißt aber doch, da es sich nicht um die Erklärung von Natur, sondern um das Verständnis der Geschichte handelt, zu der wir selbst gehören: was bedeutet es für mich und wie ist es in seiner sachlichen Begründung zu verstehen? Dabei bleibt es vorläufig ein offenes Problem, in welchem Zusammenhang beide Fragen in der konkreten Arbeit des Exegeten stehen, ob und inwiefern, die eine nicht
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ohne die andere beantwortet werden kann. Wie es denn überhaupt nicht der Sinn dieser Selbstbesinnung ist, auf Grund einer neuen Methode sämtliche alten Methoden abzutun, sondern nur zu fragen, wie weit sie führen, wenn uns dar an liegt, an die Wirklichkeit der Geschichte heranzukommen. Es sei vorläufig so formuliert: die zeitgeschichtliche Exegese fragt: was ist gesagt? und wir fragen statt dessen: Was ist gemeint? Natürlich fragt in gewissem Sinn auch die zeitgeschichtliche Exegese: was ist gemeint? Aber sie stellt diese Frage so, daß die ganze Geschichte gleichsam auf eine Fläche, eine Karte, aufgezeichnet ist und nun aus möglichst umfassender Kenntnis des umliegenden Gebietes ein Feld oder ein Punkt auf dieser Karte erkannt werden soll. Alles Licht, das die Kenntnis der Zeitgeschichte verleiht, wird gleichsam auf einen Punkt konzentriert, den es zu erkennen gilt. Die Sachexegese sieht dagegen diese Karte der Zeitgeschichte gleichsam transparent und möchte das hindurchleuchtende Licht erfassen, das jenseits der Fläche der Zeitgeschichte steht, und glaubt, erst so erfassen zu können, was gemeint ist. Das Bild ist natürlich unvollkommen; denn so könnte etwa die Psychologie ihre Arbeit an der Geschichte auch beschreiben. Indessen würde sie sich nur noch weiter von dem, was im Text gemeint ist, entfernen, weil sie von vornherein alle Aussagen nur als .Kußerungen eines bestimmten, gesetzmäßig verlaufenden psychischen Lebens I nimmt, während hier danach gefragt wird, welche Sachen mit den Aussagen gemeint sind. Der im Text redende Verfasser hat ja auf jeden Fall nicht eine Aussage machen wollen, die ihren Sinn in dem zeitgeschichtlich fixierbaren, relativen Moment erschöpft, sondern einen jenseits des Relationszusammenhangs liegenden Sachverhalt treffen wollen. Wer z. B. die Rechtfertigungslehre des Paulus dadurch interpretiert, daß er ihre Aussagen aus dem Bekehrungserlebnis des Paulus ableitet, bringt vielleicht heraus, was Paulus gesagt, aber sicher nicht, was er gemeint hat. Versteht man die Anschauung des Paulus, daß der Christ nicht mehr sündige, aus seinem Enthusiasmus, d. h. aus seiner psychischen Verfassung der Begeisterung, in der es für ihn selbstverständlich sei, daß der Christ nur noch das Gute tun könne, und nimmt man etwa noch traditionelle Vorstellungen von der Entsündigung im messianischen Zeitalter zur Hilfe - so erklärt man zur Not die Aussagen des Paulus als Vorgänge im Entwicklungsprozeß eines psychisch geeignet disponierten Juden; man erklärt aber nie und nimmer, was Paulus eigentlich gemeint hat, auf welchen Sachverhalt er hinweisen wollte. Wer das "religiöse Leben" oder das
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"Lebensgefühl" des Paulus zum Thema seiner Paulusinterpretation macht, interpretiert offenbar etwas, was den Paulus nicht im mindesten interessiert hat, sondern ein zeitgeschichtliches oder psychisches Phänomen. Dabei lasse ich die Frage offen, ob und wieweit solche Interpretationen Vorarbeit leisten können, um an die Sache selbst heranzukommen. Es läßt sich also auch sagen: sowohl die zeitgeschichtliche (und psychologische) Exegese wie die Sachexegese wollen das Wort des Textes interpretieren. Jene aber steht unter der Gewohnheit, das Wort von vornherein als notwendigen Ausdruck eines redenden Individuums (das auch eine soziologische Bildung sein kann) zu verstehen, wobei es wenig ausmacht, ob das Individuum als Subjekt psychischer Komplexe und Funktionen gesehen ist, oder ästhetisch-idealistisch als Persönlichkeit, Charakter oder Gestalt, oder naturalistisch-evolutionistisch als Exponent einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation. In all diesen Fällen vermag das Wort des Textes nicht im eigentlichen Sinne zum Interpreten zu sprechen, da er von vornherein und grundsätzlich über alle Möglichkeiten dessen, was gesagt werden kann, verfügt, nämlich mittels des Prinzips seiner Betrachtungsweise. Nun ist aber zweifellos der ursprüngliche und echte Sinn des Wortes" Wort" der, daß es auf einen außerhalb des Redenden liegenden Sachverhalt hinweisen, diesen dem Hörer erschließen und damit dem Hörer zum Ereignis werden will. Der etwaige Einwand einer idealistischen Exegese, daß sie dieser Forderung genüge, I beruht auf der Tatsache, daß sie das redende Individuum zwar nicht als psychisches oder zeitgeschichtlich bestimmtes Subjekt auffaßt, und also seine Aussagen als Hinweise auf transsubjektive Sachverhalte deuten kann. Aber diese Sachverhalte sind nicht die hier gemeinten, da sie ja dem Hörer gar nicht zum Ereignis werden können. Vielmehr, da ihr Inhalt das System der Vernunft, das Wesen des vernünftigen Geistes ist, enthalten sie nur das, worüber der Interpret als vernünftiges Subjekt von vornherein verfügt. Die Sachexegese will also mit dem ursprünglichen und echten Sinn des Wortes "Wort" Ernst machen, indem sie es verstehen will als Hinweis auf Sachverhalte. Der Charakter dieser Sachexegese wird noch genauer dadurch bestimmt, daß sich für sie die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Sachkritik herausstellt, einer Kritik nämlich, die zwischen Gesagtem und Gemeintem unterscheidet und das Gesagte am Gemeinten mißt. Sofern die zeitgeschichtliche Exegese von irgendwelchen Aussagen des Textes konstatiert, sie seien etwa primitiv oder unbehofen, unklar oder widerspruchsvoll, scheint auch sie Sachkritik zu treiben. Aber hier ist der
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Maßstab die formale Logik oder der Gesichtspunkt der immanenten Entwicklung, nicht die Sache, über die geredet wird. Das ist nur scheinbar anders, wenn in der zeitgeschichtlichen Exegese der Text vom Standpunkt des modemen Bewußtseins aus kritisiert wird, worin z. B. Baumgartens Erklärung des ersten Johannesbriefs im Göttinger Bibelwerk groß ist. Da nach den eigenen Voraussetzungen die zeitgeschichtliche (wie die psychologische) Exegese für ihre Aussagen nur relative Geltung beanspruchen kann, ist diese Art von Kritik eine naive Inkonsequenz und besagt im Grunde gar nichts. Man ist ihr gegenüber nur voll Verwunderung, warum sie überhaupt einen Text für andere als antiquarisch interessierte Leser interpretiert, da sie alles besser weiß, als der Text; warum ruft sie überhaupt den Leser zum Neuen Testament? Die mit der Sachexegese geforderte Sachkritik kann ihren Maßstab nur aus der durch den Text -erschlossenen Sache, über die sie nicht vorher verfügt, gewinnen. Die in solcher Sachkritik sich vollziehendf' "Stellungnahme" hat also nichts mit "Werturteilen" zu tun, die nachträglich über den geschichtlichen Befund gefällt würden. Die Sachexegese steht daher in einer eigentümlich zweideutigen oder widerspruchsvollen Situation, da sie zum Gemeinten nur durch das Gesagte kommt und doch das Gesagte am Gemeinten mißt. Das bedeutet aber, daß sie nie zu allgemeingültigen Sätzen als "Ergebnissen" kommt, sondern stets in lebendiger Bewegung ist1• I IU. Die Differenzierung der beiden Fragen: was ist gesagt? und was ist gemeint? ist eine primitive, vorläufige Formulierung. Aber der Unterschied, auf den diese Differenzierung hinzielt, kann nun weiter deutlich werden, wenn gefragt wird, auf Grund welcher Voraussetzungen gefragt wird: was ist gemeint? bzw. wenn gefragt wird nach dem Gebiet, auf dem das Gemeinte liegt und nach seiner Zugänglichkeit für den Exegeten. Denn jene beiden Fragen fallen offenbar nicht auseinander, wenn das Gemeinte nichts anderes ist als ein zeitgeschichtliches Faktum. Insofern freilich zeitgeschichtliche Fakten (z. B. der Tod Jesu oder die Missionsreisen des Paulus) nicht als solche, sondern in einer bestimmten 1 Daß solche Exegese nichts mit "Intuition" zu tun hat, braucht wohl kaum ausdrücklich gesagt zu werden.
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Absicht berichtet werden, erhebt sich natürlich auch die Frage: was ist gemeint? im differenzierten Sinn. Und zwar natürlich nicht in dem Sinne, als sei nach der subjektiven Absicht und Verfassung des Berichterstatters gefragt, womit statt des einen zeitgeschichtlichen Faktums nur ein anderes erfaßt wäre. Die Differenzierung der beiden Fragen tritt ein, je nachdem die Möglichkeiten des Gemeinten über die bloße zeitgeschichtliche (oder psychische) Faktizität hinausgehen. Und allgemein ist zu sagen, daß das Gebiet des Gemeinten so weit reicht, als die Möglichkeiten des Menschen reichen. Die Zugänglichkeit für den Interpreten hängt also davon ab, wieweit er für den Umfang des für den Menschen Möglichen aufgeschlossen ist. Letztlich hängt also die Frage nach der Verständnismöglichkeit eines Textes daran, welche Aufgeschlossenheit der Exeget für seine Existenzmöglichkeit als menschlicher Möglichkeit hat, welche Auslegung von sich als Menschen der Exeget hat. Hat man aber die Frage so weit getrieben, so sieht man plötzlich, daß jene anfängliche Unterscheidung einer neutralen und einer Stellung nehmenden Exegese, einer betrachtenden und einer den Anspruch des Textes ergreifenden - daß diese Unterscheidung auch nur primitiv und unzulänglich ist. Sie war veranlaßt durch die Auffassung der modernen Exegese von sich selbst, aber diese Auff3:ssung ist eine Selbsttäuschung. In Wahrheit gibt es keine neutrale Exegese. Es gibt kein bloßes Auslegen dessen, "was da steht", sondern in irgendeiner (und zwar jeweils bestimmten) Weise geht die Auslegung des Textes immer Hand in Hand mit der Selbstauslegung des Exegeten. Da wir nämlich der Geschichte nicht so gegenüberstehen wie der Natur, über die wir uns im Distanz nehmenden Denken orientieren können, sondern da wir selbst in der Geschichte stehen und ein Teil der Geschiehte sind, ist jedes Wort, das wir über die Geschichte sagen, I notwendig auch ein Wort über uns selbst, d. h. es verrät, wie wir unsere eigene Existenz interpretieren; es zeigt, welche Aufgeschlossenheit wir für die Möglichkeiten unserer Existenz als menschlicher haben. Der Idealist befragt den Text danach, auf welcher Entwicklungsstufe im Gang der Selbstentfaltung des Geistes seine Aussagen stehen bzw. welcher Sinn ihnen zukommt, gemessen an dem ideellen Gehalt des Geistes; welchen Erkenntnischarakter etwa auf wissenschaftlichem oder ethischem Gebiet die Aussagen haben. Er offenbart damit, daß für ihn das eigentliche Sein des Menschen in der Vernunft, in den Ideen vorliegt. Der Romantiker kennt den Menschen nur als Gestalt, als Persönlichkeit, d. h. letztlich
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als Kunstwerk, als geformten Stoff. Für ihn ist die eigentliche menschliche Weise zu existieren das ästhetische Schauen und Gestalten. Für den Psychologen ist der Mensch das Subjekt psychischer Komplexe und Vorgänge; die eigentliche menschliche Weise zu existieren bedeutet für ihn, sich in psychischen Zuständen, in Stimmungen und Erlebnissen befinden. Insofern also eine bestimmte Selbstauslegung jeder Exegese zugrunde liegt, ist keine Exegese neutral; und insofern läßt sich auch sagen, daß jede Exegese einen Anspruch des Textes anerkennt, weil nämlich jedesmal ein in den Möglichkeiten des Textes liegender Anspruch, sich zu erfassen, vernommen wird. Insofern erweist sich auch die Unterscheidung der beiden Fragen: was ist gesagt? und was ist gemeint? als unzulänglich, weil ja keine Exegese einfach den Wortlaut des Textes reproduzieren will und kann, sondern irgendwie sagen möchte, was gemeint ist. Indessen zielten doch jene Unterscheidungen auf einen tatsächlichen, grundsätzlichen Unterschied. Denn das bleibt bestehen: alle jene Möglichkeiten der Exegese gehen davon aus, daß der Exeget grundsätzlich über die Möglichkeiten des Gesagten bzw. Gemeinten verfügt; daß das Wort des Textes für ihn nicht Ereignis (zeitliches Ereignis) wird; daß der Text ihm nicht als Autorität gegenübertritt, der ihm wesenhaft Neues zu sagen hat2 • Das bedeutet aber, daß alle diese Möglichkeiten ausgehen von der Auffassung der menschlichen Existenz als einer verfügbaren, gesicherten. Ihnen steht gegenüber die Sachexegese als diejenige, die auf einer grundsätzlich anderen Auffassung der menschlichen Existenz beruht. Hier wird nämlich die menschliche Existenz nicht in dem Allgemeinen gesehen, das dem Menschen als Exemplar der Gattung Mensch zukommt, sondern in seinem individuellen Leben, das sich in der Zeitlichkeit bewegt mit ihren Momenten des Einmaligen und I Unwiederholbaren, mit ihren Ereignissen und Entscheidungen. Das heißt, daß unsere Existenz für uns nicht verfügbar, gesichert ist, sondern ungesichert, problematisch, daß wir also bereit sind, Worte als Worte zu hören, Fragen zu hören, die Entscheidung für uns bedeuten, den Anspruch eines Textes zu hören als Autorität, an der es sich zu entscheiden gilt. Dann ist vollends klar, daß der Forderung, die Existenz des Menschen nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen zu sehen, nicht 2 Das wird sogar ausdrüddidJ. zum Prinzip gemacht, wenn die Forderung der "Kongenialität" des Exegeten aufgestellt wird.
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durch die Auffassung des Menschen als "Gestalt" genügt wird. Denn eine Interpretation, die die innere Form einer Gestalt erschaut, sieht an der konkreten Existenz des Menschen vorbei; sie sieht das konkrete Hier und Jetzt auch als einen Fall des Allgemeinen; nur daß hier das Allgemeine nicht die für das Denken faßbare Gesetzlichkeit ist, sondern das individuelle Gesetz der betreffenden Gestalt. So kann man seine Existenz nur interpretieren, wenn man sich ihr als zeitloser, oder besser: als vergangen er gegenüberstellt, also gerade dann nicht, wenn man sein Hier und Jetzt als Momente der Entscheidung kennt, die in eine Zukunft führen als in ein ganz anderes. Die Deutung eines Menschen als Gestalt ist immer nur als nachträgliche möglich, wenn das ganze Leben abgeschlossen vorliegt. Das heißt: die Bedeutung der Zeitlichkeit für die Existenz des Menschen ist hier verkannt. Und das ist auch dann nicht anders, wenn das Werden der Gestalt unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung gesehen wird. Denn die Bewegung, um die es sich hier handelt, enthält nicht das Moment der Zeitlichkeit; diese ist vielmehr als wirkliche eliminiert und dient nur noch als Ordnungsschema, d. h. im Werden der Entwicklung zerlegt sich das Sein in seine Momente, aber so, daß auf jeder Stufe ideell das Ganze da ist und die einzelnen Momente nichts Neues bringen, also keinen Entscheidungscharakter haben. Das kommt klassisch in Goethes Urworten (~CG[!1w:;) zum Ausdruck: "Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten, bist alsobald und fort und fort gediehen, nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, so sagten schon Sibyllen und Propheten; und keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
Nun ist auch die Möglichkeit gegeben, dem Vorwurf des Subjektivismus grundsätzlich zu entgehen. Natürlich ist jede Exegese als Unternehmen eines Subjekts subjektiv. Für die übliche modeme Exe- I gese in ihren verschiedenen Spielarten bietet sich die Möglichkeit, über diesen primitiven Subjektivismus hinauszukommen, in ihrer Methode. Sie gerät freilich durch ihre Methode in einen neuen Subjektivismus hinein, da die Methode ja nur die aus der zugrunde liegenden Auslegung menschlicher Existenz folgende Betrachtungsweise ist. Wer mit andern gemeinsam im Bereich einer bestimmten Deutung menschlicher
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Existenz steht und damit über eine bestimmte Methode verfügt, der kann »objektiv" erklären - für diesen Bereich. Wer jedoch solche Bindung an eine vorgegebene Auslegung menschlicher Existenz als verfügund betrachtbarer abweist, gibt damit eine Methode auf und gibt den Anspruch auf objektive Ergebnisse der Interpretation auf. Aber er endet damit nicht im vollendeten Subjektivismus, und zwar deshalb nicht, weil er den Anspruch, die Autorität des Textes anerkennt. Denn die einzige Garantie für die "Objektivität" der Exegese, bzw. dafür, daß in ihr die Wirklichkeit der Geschichte zu Worte kommt, ist eben die, daß der Text auf den Exegeten selbst als Wirklichkeit wirkt. Voraussetzung ist also, daß der Exeget in keinem Sinne vorher über die Möglichkeiten des Gesagten, bzw. Gemeinten verfügt, also daß er die Meinung preisgibt, mittels einer Methode feststellen zu können, was geschichtliche Wirklichkeit ist. Kurz gesagt: die Möglichkeit einer »objektiven" Exegese ist allein durch die Sachhaltigkeit der Geschichte selbst gewährleistet. Und diese kommt zu Worte nur, wo der Exeget bereit ist, den Text als Autorität reden zu lassen. Das bedeutet aber nicht, daß er als toter Spiegel die Geschichte abspiegelt, oder daß er das Bild der Geschichte photographiere, sondern daß er in existentieller Lebendigkeit steht. Die Naivität, mit der z. B. die psychologische Exegese jeden sachlichen Anspruch des Textes abzulehnen pflegt, zeigt deutlich, daß der Exeget nicht innerlich lebendig ist, daß ihm seine Existenz nicht problematisch ist. Und deshalb kann er nie dazu kommen, zur Sachhaltigkeit der Geschichte vorzudringen. Wer dagegen das Wort des Textes als Wort hören will, bekennt damit, daß die Möglichkeiten für die menschliche Existenz nicht von vornherein abgesteckt und nicht in der konkreten Situation durch Vernunft, Charakter, psychische und zeitgeschichtliche Bedingungen determiniert sind, sondern daß sie offen stehen, daß sich in jeder konkreten Situation neue Möglichkeiten öffnen, und daß das menschliche Leben dadurch charakterisiert ist, daß es durch Entscheidungen führt. Durch das Wort, das neu in seine Situation hineintritt, wird der Exeget in die Entscheidung gestellt, und dadurch wird das Wort für ihn Ereignis. Also Ereignis ist es nicht als objektiv zu betrachtendes Wort, sondern nur für den existentiell lebendigen Hörer. Je klarer es , somit ist, daß Geschichtsauslegung zugleich Selbstauslegung ist, um so deutlicher ist es auch, daß die Exegese ausdrücklich von der Frage der Selbstauslegung geleitet sein muß, wenn sie nicht dem Subjektivismus verfallen will.
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IV. Ehe wir diesen Gedanken aber weiter verfolgen, soll das Gesagte an einigen Beispielen illustriert werden. H. ]. Holtzmann (Lehrbuch der Neutestamentl. Theologie2, 1911, I S. 224) interpretiert Jesu Gottesglauben als eine besonders hohe Entwicklungsstufe des Gottesglaubens der Menschheit. Für Jesus bedeute Gott die "Repräsentation des Seinsollenden als Liebesmacht". Während nämlich das primitive Gottesbild, das auf der Personifikation von Naturkräften beruhe, allmählich hinter der Unendlichkeit des Kausalzusammenhangs verschwinde, gewinne es an "Widerstandsfähigkeit und Konsistenz", je mehr es "eine feste Stellung im Zusammenhang der Ansprüche und Bedürfnisse des persönlichen Geistes einnimmt und zum unentratsamen Koeffizienten des Vollzuges sittlicher Vorgänge im Selbstbewußtsein wird". - Bedarf es eines Beweises, daß hier der Interpret in einem epigonenhaften Idealismus oder Rationalismus die eigentliche Existenz des Menschen im vernünftigen Selbstbewußtsein des Geistes sieht? ist diese Exegese neutral, oder beruht sie nicht vollständig auf einem vorgegebenen Prinzip, das über die Möglichkeiten des Textes verfügt? Wenn Holtzmann (a. a. o. 11 S. 164) die paulinische Anschauung von der Sündlosigkeit der Christen als die Formel eines "himmelstürmenden Idealismus" deutet, so schiebt er ganz naiv dem Text seine eigene idealistische Auffassung vom Menschen unter, wie denn überhaupt Holtzmann wie andere Exegeten die Sündlosigkeit, von der Paulus redet, nur als die Verwirklichung eines Ideals (ein dem Paulus ganz fremder Begriff), bzw. als die Richtung auf dies Ideal hin deuten können. Das Wesen der %a.LY~ EY'tOAfj 1. Joh 2,8 wird von Holtzmann naiv idealistisch interpretiert: es werden sich "stets neue Bedürfnisse und neue Aufgaben der Liebe einstellen". Daß der Text selbst die Weisung gibt, das "neu" im Sinne der Eschatologie zu verstehen, wird nicht gespürt, weil von jener Auffassung des Menschen aus die Einsicht in den Sinn der Eschatologie überhaupt verschlossen ist. Ebenso idealistisch erklärt Holtzmann 1. Joh 3, 14: "Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben hinübergeschritten sind; denn wir lieben die Brüder": "Liebe ist der Tatbeweis dafür, daß man I im Leben steht; tote Geister wissen nichts von Liebe, ihr Dasein ,schleicht matt und schläfrig dahin' (Rothe), weil es die Höhe des wahrhaft persön-
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lichen Lebens nicht erreicht. Wer nicht liebt . .. bleibt wie einer vis inertiae folgend, im Tode, im Grabe des Naturlebens." Charakteristisch ist auch Rothes Wort, das Baumgarten zur betr. Stelle zitiert: "Nur im Heraustreten des Individuums aus seinen engen Grenzen, in diesem sich an die anderen mitteilen und eben hierdurch wieder die andern in sich aufnehmen und sein eigenes enges Sein bereichern und erweitern durch die sich ihm mitteilende Fülle des Seins der anderen - wird das menschliche Einzelwesen sich bewußt, daß es lebe." Im Text muß unter Liebe doch wohl etwas anderes verstanden sein als die Entfaltung des geistigen Lebens der Persönlichkeit, da die Möglichkeit der Liebe, die ja ein neues Gebot ist, als an die Wirklichkeit der Offenbarung geknüpft angesehen wird. Baumgarten bezeichnet (im Göttinger Bibelwerk) den Inhalt von 1. Joh 1, 1-4 als zunächst abstrakt, meint aber, er gewinne an Anschaulichkeit, wenn man beachte, daß er in volles, warmes Gefühl getaucht sei. Er rechnet also mit Lesern, die für das Gefühl, mit dem ein Text vorgetragen ist, zugänglich sind, ja für die dieses mit" warmem Gefühl" erfüllt zu werden, offenbar das Motiv ist, mit dem sie sich an die Geschichte wenden. Zu 1, 10 ("Wenn wir sagen: wir haben nicht gesündigt, machen wir ihn zum Lügner und sein Wort ist nicht in uns") wird ausdrücklich abgewiesen, das Wort vom Gedanken der Offenbarung aus zu deuten; es sei viel mehr aus der Empfindung zu verstehen: "in der Empfindung herrscht das Bedürfnis vor, denen, die im geheimen Rat Gottes gesessen zu haben wähnen, den ärgsten Vorwurf zu machen, daß sie ihn zum Lügner machen ... " Besonders charakteristisch aber ist Baumgartens Erklärung von 1. Joh 2, 9: "Wer sagt, er sei im Licht, und haßt seinen Bruder, der ist in der Finsternis bis jetzt": Es sei nicht zuzugeben, daß jeder Mangel an Liebe wirklicher Haß sei; das meine der Verfasser auch wahrscheinlich gar nicht im Ernst. Es gäbe ja im "wirklichen Leben" so viele Übergänge und Mittelfarben! Entsprechend heißt es zu 3, 14: man könne sich doch dem Bruder gegenüber auch gleichgültig verhalten. Natürlich! Wenn der Mensch nur als psychisches Subjekt gesehen ist, wenn Liebe und Haß als psychische Erscheinungen genommen werden, so gibt es kein Entweder-Oder für die Haltung des Menschen, sondern nur Übergänge und Nuancen. Aber der Text redet vielleicht von einer anderen Wirklichkeit, als dem "wirklichen Leben", das der Exeget im Sinne hat, von einer Wirklichkeit, die Bengel kannte I in seiner
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lakonischen Exegese: "ubi non est amor, odium est3 • Cor non est vacuum". Er redet von Liebe und Haß deshalb nicht als von den Zuständen eines psychischen Subjekts, die durch alle möglichen Zwischenstufen über das Stadium der Neutralität hinüber einander begegnen, sondern von Liebe und Haß als existentiellen Möglichkeiten, für die es nur ein Entweder-Oder gibt. In der psychologischen Menschenauffassung steckt auch Windischs Erklärung des 1. Joh; so wird (zu 3, 9) erklärt, daß der "ideale Zustand" derSündlosigkeit des Christen aus der Gotteszeugung als "einem einmaligen aber nachwirkenden Erlebnis" abgeleitet werde; so wird 3, 14 gedeutet: "durch eine Bekehrung sind wir zum Leben und zur Liebe geführt worden"; so wird 4, 20 als eine "psychologische Begründung" des Liebesgebots bezeichnet. Für die romantische Exegese, die nach Gestalt und Persönlichkeit fragt, mag wieder Baumgartens Erklärung von 1. Joh dienen; er interpretiert 1, 1-4 so, daß er die geschichtliche Realität des Erlösers (unter der er offenbar nur die zeitgeschichtliche Bestimmbarkeit verstehen kann) auf den "Charakter" Jesu reduziert; aber das ist ja nur ein verschwindender Fall unter all den Versuchen, Jesus als Persönlichkeit zu sehen. Man fragt dabei doch jedenfalls nach etwas, was für den existentiellen Menschen im allgemeinen gleichgültig ist (wenigstens für die Personen des Neuen Testaments); er ist nämlich nicht an seiner Persönlichkeit interessiert, sondern an der Sorge um seine Existenz, bzw. an der Frage um die Wahrheit seines Sorgens. Die Erinnerung, daß auch Sokrates und Caesar, Hildebrand und Dante, Goethe und Napoleon Gestalten, Charaktere oder Persönlichkeiten sind, sollte darauf aufmerksam machen, daß hier jedenfalls nicht nach dem gefragt wird, was im Neuen Testament gemeint ist. In der Tat erhebt sich ja die Frage nach Gestalt und Persönlichkeit aus der gleichen Distanz, von dem gleichen Zuschauerstandpunkt aus wie die Fragen der idealistischen oder psychologischen Exegese; der Mensch ist hier von außen, als Kunstwerk, gesehen, und seine Existenz ist nicht erfaßt als in den konkreten Momenten des Hier und Jetzt auf dem Spiele stehend, als der Zeitlichkeit mit ihren Entscheidungsmomenten ausgeliefert. Warum aber stelle ich diesen Beispielen einer Exegese, die die Wirklichkeit der Geschichte nicht erfaßt, keine Gegenbeispiele gegenüber? 3 Das weiß aber z. B. auch Scheler: über Ressentiment und moral. Werturteil, 1912, S. 25.
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Weil die von der Existenzfrage bewegte Exegese eben nur in der Lebendigkeit des Vollzuges existiert. Es läßt sich also nie ein I Beispiel anführen, das zeigen könnte: so wird es gemacht, und es läßt sich auch nie behaupten: diese meine Exegese ist von der Existenzfrage bewegt. Denn die Einsicht in die Tatsache, daß es so sein müsse, gibt noch keine Gewähr dafür, daß es wirklich so ist. Und da die Gewähr dafür, daß in einer Exegese die Wirklichkeit der Geschichte zu Worte kommt, immer nur durch die Wirklichkeit der Geschichte selbst gegeben sein kann, steht uns kein Kriterium darüber zur Verfügung, wann das der Fall ist. In dieser Situation also stecken wir, und das Ziel unserer Besinnung kann nie sein, nun doch wieder ein Verfügungsrecht über die Geschichte zu gewinnen, sondern nur, uns unsere Situation ganz klar zu machen. V. Wenn wir also die Frage wieder aufnehmen nach dem Gebiet, auf dem das im Text Gemeinte liegt, und nach seiner Zugänglichkeit für den Exegeten, so ist klar geworden, daß wir damit nach den Möglichkeiten fragen, die aus unserer Begegnung mit der Geschichte für unsere Existenz erwachsen. Es ist aber auch klar geworden, daß wir eine Antwort auf diese Frage nicht erwarten dürfen als eine Voraussetzung, von der aus der Text zu befragen wäre. Denn dann würden wir ja gerade vorher über die Möglichkeiten unserer Existenz verfügen, über die uns der Text erst etwas sagen soll. Wir wiesen jede Exegese ab, die die Möglichkeiten menschlicher Existenz als abgeschlossen und übersehbar ansieht, und hielten das für die einzig mögliche Haltung, daß wir das Bewußtsein von der Problematik unserer Existenz haben. Konkret ließe sich die Frage, unter der ein Text interpretiert wird, dann vielleicht so formulieren: wir suchen zu verstehen, in welcher Hinsicht der Text die Auslegung seines Verfassers von dessen Auffassung seiner Existenz, als der eigentlichen Möglichkeit zu existieren, ist. Wir würden bei dieser Frage Aufschluß über unsere eigene existentielle Möglichkeit suchen; wir treten damit dem Text gegenüber ähnlich wie den Menschen, mit denen wir in den Beziehungen des Lebens stehen, in denen wir überhaupt erst eine Existenz gewinnen, nämlich in den Beziehungen von Ich und Du. Es ist dann klar, daß es eine Rekonstruktion der wirklichen Geschichte nicht geben kann, so wenig das Verhältnis vom Ich zum Du, von Freund zu Freund, von Gatte zu
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Gatte, von Vater zu Kind konstruierbar ist. Und doch spielt sich in diesen Beziehungen unsere eigentliche Existenz ab; in ihnen sind wir. Und wie diese Beziehungen für uns zeitliche Ereignisse sind und zwar solche, die den Charakter der Entscheidung tragen, so vollzöge sich die existentielle Begegnung der Geschichte in zeitlichen Momenten, die unsere Entscheidung fordern. I Das würde zunächst bedeuten, daß wir den Entwicklungsgedanken preisgeben müssen, wo es sich um die wirkliche Erfassung der Geschichte handelt. Denn er setzt voraus, daß die Möglichkeiten für den Menschen als übersehbar, verfügbar gelten. Denn von Entwicklung können wir nur reden, wo wir über das sich entwickelnde Subjekt mit unserer Einsicht verfügen, also den Menschen und seine Möglichkeiten kennen. »Kennen" natürlich nicht im quantitativen Sinn, sondern so, wie wir eine Linie kennen, wenn wir zwei ihrer Punkte kennen. Der Entwicklungsgedanke ist der Ausdruck des Verfügenkönnens über die Geschichte, und sein Symptom ist der Gedanke der Rekonstruierbarkeit. Wie die Betrachtung der Geschichte unter dem Entwicklungsgedanken unserer Exegese den Charakter des zeitlichen Ereignisses raubt, so ist es der Entwicklungsgedanke auch, der aus der Geschichte die Zeitlichkeit, d. h. aber die eigentlich menschliche Weise zu existieren, eliminiert. Natürlich nicht die meßbare, sog. objektive Zeit; aber eben diese ist nicht die wirkliche, sondern sie dient nur zur Chronologie als Ordnungsreihe für die Relationen, deren Zusammenhang der Entwicklungsgedanke klar machen will, während das wirklich zeitliche Geschehen gleichgültig geworden ist. Für die Zeit, mit der der Entwicklungshistoriker rechnet, wäre es z. B. einerlei, wie schnell oder wie langsam die Zeit läuft, und der ganze Relationszusammenhang könnte ebensogut in einen Moment zusammengepreßt, wie in die Unendlichkeit zerdehnt gedacht werden. Für einen Intellekt, der den ganzen Relationszusammenhang überschauen könnte, wäre die Zeit gar nicht da; er könnte das ganze Geschehen auch in ein anderes Ordnungssystem als das zeitliche eintragen. Entsprechend ist eben für solchen Betrachter der Geschichte die Betrachtung zeitlos, während die existentielle Begegnung mit ihr ein zeitliches Ereignis ist, in welchem das Wort des Textes seinen Charakter der Zeitlichkeit behält. Und zwar wäre dies Ereignis, sofern unsere Existenz als unsere eigentliche Möglichkeit zu leben, sich in unserm Tun vollzieht, freie Tat. Natürlich nicht so, als fühlte man sich auf Grund eines verstandenen Textes zu einer Tat veranlaßt, sondern das Verstehen selbst ist
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die Tat. Als freie steht sie außerhalb meiner Verfügung und vollzieht sich nur in der Entscheidung, so daß ich nicht gleichsam daneben stehen und sie kontrollieren kann. Sie kann also nicht zum Prinzip einer Methode gemacht werden, sondern erwächst als Entscheidung aus der im Text gestellten Frage, und sofern sie solche durch die Geschichte herausgeforderte Entscheidung ist, ist sie Gehorsam gegenüber der Autorität der Geschichte. I Dies: das Wissen um die Unsicherheit unserer Existenz, das Wissen, daß unsere Existenz in unsere freie Tat der Entscheidung gelegt ist; dazu eine Haltung der Gechichte gegenüber, die sie als Autorität anerkennt und dadurch aus der Distanz des Betrachters in die Gegenwart der Entscheidung gerückt sieht, wäre die Voraussetzung jeder Exegese. Ehe aber gefragt wird, was dann das Eigentümliche der Exegese des Neuen Testaments oder einer theologischen Exegese ist, muß noch einmal betont werden: es handelt sich nicht um die Proklamierung einer neuen Methode. Die Frage, wieweit die Kompetenz der Methoden für die wirkliche Erfassung eines Textes reicht, wieweit jede konkrete Arbeit der Exegese immer methodisch sein muß, sei ausdrücklich zurückgestellt. Zunächst kommt es darauf an zu sehen, daß eine Methode die wirkliche Geschichte nicht erfaßt, weil sie immer nur erfaßt, worüber wir grundsätzlich verfügen. Das wird um so klarer, wenn man bedenkt, daß Interpretation ja in der Regel auch die Vermittlung des Textes an einen Dritten sein soll, über den (in seinem existentiellen Sein) ich ja auch nicht verfüge. Und deshalb lassen sich, wie schon gesagt, mit der geforderten Exegese nie definitive Ergebnisse erarbeiten, die ja nur dazu dienen könnten, die Geschichte tot zu machen, weil sie den Charakter der Zeitlichkeit verloren haben und dem Dritten den Weg zur existentiellen Begegnung mit der Geschichte versperren. Die Ergebnisse einer existentiell bewegten Exegese lassen sich also nicht im gleichen Sinn rechtfertigen und begründen wie die einer methodischen Exegese. Die Möglichkeiten des Textverständnisses lassen sich sowenig nachher wie vorher abgrenzen, sondern sind unerschöpflich wie die Möglichkeiten, die aus der Begegnung von Ich und Du erwachsen.
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VI. Nun geht die bisherige Besinnung davon aus, daß es unsere Sache ist, von uns aus die Frage nach unserer Existenz zu stellen und als so Fragende der Wirklichkeit der Geschichte zu begegnen. Das aber ist eine abstrakte Situation, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, da wir an keinem Punkte außerhalb der Geschichte stehen und gleichsam zum erstenmal in sie eintreten können. Und doch ist diese Situation der Ausgangspunkt aller profanen Exegese, sofern sie sich selbst versteht. Inwieweit nun und in welcher Weise auf den verschiedenen Gebieten profaner Geschichtswissenschaft, also etwa der Geschichte des Staates, der Literatur, der Kunst, der Mathematik, die Bewegtheit durch die Existenzfrage vorhanden ist und wie sie in der I konkreten Geschichtsschreibung wirkt, das zu untersuchen, kann ich mir nicht als Aufgabe stellen4 • Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß das Interesse für ein bestimmtes Geschichtsgebiet, wenn die Arbeit auf ihm nicht eine bloße Beschäftigung ist, auf einer bewußten oder unbewußten Wahl unter den verschiedenen Möglichkeiten der Erschließung menschlicher Existenz beruht, und daß, sofern diese Wahl aus existentieller Lebendigkeit erwachsen ist, diese Lebendigkeit dauernd in der geschichtlichen Arbeit wirken wird. Und zwar insoweit, als die Erkenntnisse 4 Ich darf aber wohl auf Diltheys Bemühen um den Sinn geschichtlicher Interpretation hinweisen und zugleich darauf, wie seine Gedanken besonders in der modernen Literaturwissenschaft fortwirken. Ein Beispiel ist R. Ungers Abhandlung "Literaturgeschichte als Problemgeschichte" (Schriften der Königsb. Gel. Ges. I geisteswiss. Kl. 1, 1924). Im Anschluß an Dilthey faßt er Dichtung als Lebensdeutung, so daß ihm die Literaturgeschichte zur Problemgeschichte wird, wobei dann "Problem" nicht als rationalistischer Begriff gemeint ist, sondern als Existenzbegriff, so daß die Problemgeschichte nicht zur dialektischen Bewegung formaler ästhetischer Begriffe wird, sondern zu einer "Phänomenologie der Lebensprobleme" . Die "Rätselund Schicksalsfragen des Daseins" (wie Natur und Geist, Liebe und Tod) bilden den Gehalt der Dichtung, damit aber auch den Gegenstand der Literaturgeschichte. Diese ist also gar nicht möglich ohne bewußte Stellungnahme zu den Sachen selbst und hat deshalb im Gegensatz zur alten historisch-philologischen Methode den Zusammenhang mit der Philosophie zu suchen. Bei dieser Gelegenheit sei aber auch darauf hingewiesen, daß kein anderer als Albert Eichhorn es wußte, daß Geschichtsphilosophie ein notwendiger Bestandteil der Geschichtswissenschaft sei, daß Historiker nur sei, wer die Gegenwart verstehe (H. Greßmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, 1924, S. 8); wie er dehn auch eine Vorlesung über die theologischen Hauptbegriffe (Sünde, Glaube, Inkarnation) las (a. a. O. S. 13) und in seiner Abhandlung über die Rechtfertigungslehre der Apologie (1887) auf ein Verständnis der Vorgänge des Glaubenslebens selbst abzielte (S. 10).
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auf all diesen Gebieten nicht als von außen gesehener Stoff aufgefaßt und angehäuft werden, sondern als sie zur Erfassung unserer durch die Wahrheitsfrage bewegten Existenz führen sollen. Das Lernen auf diesen Gebieten steht unter der Wahrheitsfrage, und damit geschieht jeder Schritt der Erkenntnis unter der Voraussetzung der Bereitschaft zur radikalen Preisgabe des bisher Erkannten, also auf Grund radikaler Voraussetzungslosigkeit. Die philosophische Exegese endlich wird die Geschichte nicht um der Einzelkenntnisse auf irgendeinem Gebiet willen befragen, sondern wird von vornherein ausdrücklich von der Frage nach den Möglichkeiten menschlicher Existenz geleitet sein, und zwar eben von der Voraussetzung aus, daß der Mensch von sich aus die Existenzfrage stellen kann und die Möglichkeit der freien Tat hat, in der er seine Existenz gewinnt.
VII. Nun ist das Eigentümliche für die Exegese des Neuen Testaments dies, daß sie zwar im Kreis der profanen Exegese bleiben kann, daß ihr aber die Behauptung des Neuen Testaments entgegentritt, der Mensch verfüge über seine Existenz nicht einmal insoweit, daß er von sich aus die Existenzfrage stellen könne und die Möglichkeit der freien Tat habe; all das gäbe es nur für den Glauben. Es wäre dann also die entscheidende Frage für das Verständnis des Neuen Testaments, ob die Forderung des Glaubens anerkannt wird oder nicht. Ja, aber damit wäre die Situation des Exegeten als eine I ganz unmögliche charakterisiert. Denn nicht nur, daß ihm die Möglichkeit dieser Entscheidung abgesprochen wird - das Neue Testament behauptet sogar, daß er von sich aus gar nicht wissen könne, was Glaube ist, da dies Wissen erst Ergebnis der glaubenden Exegese sein könnte. Und es muß doch das Fragen selbst, wenn es richtiges Fragen sein soll, glaubendes Fragen sein! Die Bereitschaft zum glaubenden Fragen müßte also beim Exegeten vorausgesetzt sein? Das ist aber offenbar sinnlos und würde ein Oberden-eigenen-Schatten-springen fordern. Es zeigt sich, daß die ganze Reflexion nicht vollzogen werden kann, wenn sie prinzipiellen Charakter hat, d. h. wenn sie den Exegeten in jener unrealen, abstrakten Situation sieht, in der der profane Exeget stehen will; wenn sie absieht von seiner konkreten Situation. Diese ist aber die, daß die Exegese des Neuen Testaments zur Aufgabe wird für den, der in der Tradition
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der Kirche des Wortes steht. Nur wenn dies bedeutet - nicht, daß ich von außen gesehen als zeitgeschichtliches Individuum, sondern daß ich mit meiner Existenz in der Tradition des Wortes stehe, gibt es solche Bereitschaft des glaubenden Fragens. So wenig es deshalb eine besondere Methode theologischer Exegese gibt, so wenig gibt es eine Möglichkeit, eine theologische Exegese des Neuen Testaments "prinzipiell" zu rechtfertigen. Die rechte Befragung des Textes kann nur eine glaubende sein, d. h. eine im Gehorsam gegen die Autorität der Schrift begründete. Wie Paulus den Glauben als (J1ta'X.o~ fordert, ohne daß sich die Autorität des Wortes zu legitimieren brauchte, wie bei Johannes die t-tap'{;up{a nicht eine neben dem Worte stehende Legitimation für dieses, sondern eben das Wort selbst ist, so gibt es offenbar nur eine fachgemäße Exegese des Neuen Testaments, die aus dem Gehorsam hervorgeht. zav '{;tC &EAr,) '{;O &D..1Jt-ta ao'{;ou 7tOtEtV, "(vwcrE'{;at 7tEpl '{;'7ic otoax'7iC, 7tO'{;EPOV h '{;OU &EOU zcr'{;w ~ Z"(W Gm' zt-tau'{;ou AIXAW (Joh 7, 17). Die Tat dieses Gehorsams ist die Voraussetzung der Exegese, und über diese Tat verfüge ich nicht, da sie freie Tat ist, also nicht meiner abwartenden Stellungnahme überlassen, sondern I nur im Getanwerden wirklich, und da ich - was auf das gleiche hinauskommt - nicht in einer abstrakten Situation vor die Entscheidung dieser Tat gestellt werde, sondern in der konkreten, in der das Ganze meiner Existenz zusammengefaßt ist und auf dem Spiele steht. Eine theologische Exegese wäre also eine solche, für die der Glaube Voraussetzung wäre, aber dann kann sie eben auch nur getan, wissend gewagt, kann nicht begründet und gerechtfertigt werden, da wir über die Voraussetzung nicht verfügen. Damit ist die Frage erledigt, ob man etwa auch Augustin, Luther oder Schleiermacher oder gar die Bhagavadgita ebenso interpretieren müsse wie das Neue Testament. Sofern ich prinzipiell reflektiere, mich also in einer abstrakten traditionslosen Situation sehe, gibt es hier keine Verschiedenheit. üb aber bei solcher Interpretation glaubendes Hören Ereignis wird, darüber läßt sich eben prinzipiell nichts ausmachen. Damit ist aber die Exegese in der gleichen Lage wie die Theologie überhaupt, die auch nur sinnvoll ist unter der Voraussetzung des Glaubens, und die doch über diese Voraussetzung nicht verfügt, die aber doch getrieben werden muß. Denn ein Verzicht auf die Theologie würde auch den Verzicht auf den Glauben bedeuten und würde beweisen, daß der Sinn der Offenbarung als der Rechtfertigung des Sünders nicht verstanden ist. Denn Theologie bedeutet die begriffliche
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Darstellung der Existenz des Menschen als einer durch Gott bestimmten. Da sie aber weder über Gott noch über den existentiellen Menschen verfügt, kann sie nie ein Reden aus Gott, sondern nur ein Reden über Gott und über den Menschen sein. Und sie kann ihr Recht nur dadurch erweisen, daß sie sich stets daran erinnert, daß solches Reden ein Reden des sündigen Menschen ist, das gar nicht beansprucht, ein Reden aus Gott zu sein, und das gerade in der Erkenntnis dieser Schranken gerechtfertigt sein kann, da Gott den Sünder rechtfertigen will. Diese Erinnerung aber bedeutet nicht die Beziehung auf eine verfügbare Voraussetzung oder eine Hypothesis wissenschaftlichen Arbeitens, sondern sie bedeutet die Beziehung auf die Offenbarung, die nur im Akt wirklich sein kann. Ein Verzicht auf die Theologie aber wäre deshalb ein Verzicht auf den Glauben, weil sie die Bedeutung der Rechtfertigung für den konkreten Menschen mit seinen Unternehmungen - also in diesem Fall dem Unternehmen der Theologie - nicht erkennen und die Verheißung für ihn und seine Arbeit verschmähen würde. Pecca fortiter, heißt es hier5. Weil nun die Textauslegung nicht von der Selbstauslegung zu I trennen ist und diese in der Exegese des Neuen Testaments gerade explizit wird, und weil andrerseits die Selbstauslegung des Menschen als geschichtlichen Individuums sich nur in der Auslegung der Geschichte vollziehen kann, so fallen im Grunde Theologie und Exegese oder systematische und historische Theologie zusammen. Jene kann also nicht die "kritische Besinnung auf den Glaubensgrund" und die systematische Entwicklung ihrer Sätze aus einem verfügbaren Datum zu ihrer Aufgabe machen 6 • Eine biblische Theologie andrerseits wäre ja nach dem Gesagten nicht die Feststellung eines Komplexes zeitgeschichtlicher Aussagen bzw. Phänomene oder des Bewußts·eins der neutestamentlichen Autoren. Sondern in ihr vollzöge sich die existentielle Begegnung mit der Wirklichkeit dieser Geschichte. Freilich ist in der konkreten Arbeit eine Trennung der systematischen und der historischen Aufgabe gerade deshalb notwendig, damit die Bezogenheit beider aufeinander immer wieder neu erfahren wird. Die systematische Theologie hätte dann die begriffliche Explikation der Existenz des Menschen als durch Gott bestimmter zu ihrem direkten Thema zu machen, während für die historische Theologie dies nur indirekt das Thema sein könnte, 5 Dies habe ich eingehender ausgeführt in dem Aufsatz "Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?" ThBI IV (1925) Nr. 6. 6 Vgl. Gogarten, ZZ III (1925) Heft 1 S. 78.
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und sie direkt nur darzustellen hat, welche Auslegung des Menschen in den Texten gegeben wird, und zwar so, daß sie diese Auslegung aus der Begrifflichkeit der Vergangenheit in die Begrifflichkeit der Gegenwart bringt. Damit ist Theologie in jedem Falle ein wissenschaftliches Unternehmen, da sie die Aufgabe des begrifflichen Denkens ist. Und ihre Wissenschaftlichkeit erleidet dadurch keine Einbuße, daß sie sich darüber klar ist, daß die zur Begrifflichkeit erhobenen Inhalte nicht rationalen Ursprungs sind. Ihre zweideutige Situation ist für sie, angesichts ihres die Existenz des Menschen betreffenden Themas, nur deutlicher als für jede andere Geschichtswissenschaft, die doch letztlich auch in einer zweideutigen Situation steckt, da sie nirgends das Unternehmen eines abstrakten Menschen ist. Dagegen kann die Theologie nicht den Anspruch erheben, direkt Wortverkündigung zu sein. Denn als wissenschaftliche Arbeit kann sie es immer nur zu Sätzen von relativer Gültigkeit bringen, während die Wortverkündigung nur Sinn hat, wenn ihre Sätze den Anspruch des Definitiven für die konkrete Situation (und anders als für die konkrete Situation gibt es keine Wortverkündigung) erheben. Die Bewegtheit, die daraus erwächst, daß ein Glaubenssatz keine allgemeine, zeitlose Wahrheit ist, sondern I nur in dem Akte wirklich ist, in dem die Offenbarung .Ereignis wird, ist beiden gemeinsam. Aber die begriffliche Arbeit der Theologie, auch der exegetischen, kann auch im konkreten Moment nie als abgeschlossen gelten, sondern hat den Charakter, daß sie immer besser werden muß, was in gleichem Sinne von der Wortverkündigung zu fordern sinnlos wäre, wenn diese wirklich ist, was sie sein soll. Die Kirche muß eine immer bessere Theologie fordern, aber nicht eine immer bessere Wortverkündigung, sondern nur Wortverkündigung überhaupt. Sofern nun für die exegetische Theologie als die Arbeit begrifflichen Denkens das Neue Testament nur indirekt, aber nicht direkt Wort Gottes ist, läßt sich ihr Hauptthema im Anschluß an die theologische Tradition völlig korrekt als "Neutestamentliche Theologie" formulieren. Sie macht dann nur Ernst damit, daß Gottes Wort ein zu den Menschen gesprochenes verhülltes Wort ist, daß die in der Schrift vorliegende Offenbarung verhüllte Offenbarung ist. Es begegnet uns also in der Schrift ein Reden, das sich zunächst darbietet als ein Reden über Gott und über den Menschen, denn es ist in der menschlichen Sphäre gesprochen. Wie es zwischen Ich. und Du keine unmittelbare
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Begegnung gibt, sondern nur die im Wort mit seinem Charakter, Ausdruck zu sein für Etwas, verhüllte, so gibt es keine unmittelbare Offenbarung, sondern nur die im menschlichen Wort verhüllte. Wie eben gerade diese Tatsache die Notwendigkeit der exegetischen Theologie begründet, die Aussage des Textes in die Begrifflichkeit der Gegenwart zu erheben, so erwächst ihr damit die für alle Exegese bestehende Notwendigkeit der Sachkritik. über ihre Begründung und ihre Zweideutigkeit sprachen wir schon (S. 340); sie wird hier von neuem deutlich, denn an der Erhebung der Aussagen des Textes in die Begrifflichkeit der Gegenwart muß es sich herausstellen, wieweit die Sache, um die es im Texte geht, im Gesagten äquivalenten Ausdruck gefunden hat. Barth7 hat schon recht, daß die Kritik das Mißverständnis vermeiden muß, als meine sie, das 'ltysufLaG xrnO"'tou stände im Text konkurrierend neben anderen Geistern. Aber es ist doch Ernst damit zu machen, daß im Texte, als den Aussagen von Menschen, das 'ltYSUfLlX XPLO"'tOU überhaupt nicht direkt zu sehen ist, und daß, sofern Paulus von der "Sache" redet, er als menschlich Redender einen Standpunkt vertritt, den man nicht nur mit andern Standpunkten vergleichen kann, sondern von dem man auch fragen kann, ob er selbst ihn immer festgehalten hat. Wenn man überhaupt theologische Exegese als Wissenschaft treiben will, so darf man sich durch die Frage nicht schrecken lassen: "Auf welche Stelle könnte I man etwa den Finger legen mit der Behauptung, daß da nun ausgerechnet das 'ltYSUfLlX XPLO"'tOU zu Worte komme?" In der Tat, solche Unterscheidung hat man zu treffen; und jene Frage kann nur wieder an die eigentümliche Situation des Exegeten erinnern, der von der Existenzfrage bewegt ist und daher weiß, daß er über kein Kriterium verfügt, die Wirklichkeit der Geschichte abschließend zu erfassen (S. 347 f. 350). Er kann jedoch um deswillen nicht auf bestimmte Aussagen verzichten; aber er kann erst recht nicht den Charakter des Textes als Wortes Gottes zur verfügbaren Voraussetzung der Exegese machen. Jene Verpflichtung zur Sachkritik ist ihm also wahrlich kein Anlaß zum übermut, sondern die beständige Erinnerung an die Verpflichtung zur Selbstkritik und zwar im existentiellen Sinne. Die Sachkritik hat sich auch nicht durch die Frage verwirren zu lassen, ob nicht eine Textstelle, die kritisch beanstandet wird, doch weil innerhalb des neutestamentlichen Kanons stehend - ein Wort der Offenbarung werden könnte. Vorausgesetzt, die kritische Beanstandung 7
Vorwort zur dritten Aufl. des Römerbriefs, 1923 S. XXI.
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wäre richtig, so könnte jenes ja etwa dann der Fall sein, wenn die betreffende Stelle von andern Stellen her interpretiert wird, also z. B. durch Allegorese (die zwar nie als Methode, aber durch ihren Inhalt gerechtfertigt sein könnte). Aber mit dieser Möglichkeit darf man offenbar nicht rechnen. Vielmehr: ebenso wie der Kanongedanke den Charakter der Kontingenz der Offenbarung sichern will und das Mißverständnis abwehrt, als handle es sich in der Offenbarung um allgemein einsichtige Wahrheiten oder um den Glauben besonders glaubenskräftiger Individuen, so muß durch' die Kritik gesichert werden, daß der Offenbarungsgedanke nicht zur verfügbaren Voraussetzung für die Exegese wird, als sei je die Forderung der existentiellen Begegnung mit der Wirklichkeit, von der der Text redet, aufgehoben als die (nicht verfügbare!) Voraussetzung für das Verständnis des Textes. Weil es keine unmittelbare Begegnung mit Gott gibt, sondern weil seine Offenbarung im Wort verhüllt ist, kann es für die Exegese auch keine Berufung auf ein inneres Licht, kann es keine "pneumatische" Exegese geben, die mit dem Pneuma als vorausgegebenem Besitz des Exegeten rechnet. Ein Pneuma, das verfügbar wäre ohne Bindung an das Wort, gibt es für uns nicht. Die Exegese kann nur von der Interpretation des Wortes ausgehen. Da die Arbeit der Exegese begriffliche Arbeit ist, und da das Wort des Textes nie die Sache selbst, sondern Ausdruck für die Sache ist, wird dem Exegeten auch die Sache nur zugänglich, wenn er das Wort versteht. Das Wortverständnis ist freilich mit der ganzen Zweideutigkeit belastet, die I dadurch entsteht, daß Worte nicht nur der einmalige Ausdruck für das Hier und Jetzt der konkreten Situation sind, sondern daß sie daneben auch Wörter sind, die ihre eigene Geschichte haben, und zwar daß sie jenes nur sein können, sofern sie dieses sind. Der Exeget muß also, ohne sich einzubilden, damit dem Sinn eines Wortes im konkreten Hier und Jetzt schon erfaßt zu haben, grundsätzlich die ganze Geschichte der Wörter des Textes kennen. Damit ist die ganze historisch-philologische Arbeit am Neuen Testament legitimiert, ja gefordert, die ihren speziellen Charakter dadurch erhält, daß das Neue Testament griechisch geschrieben ist. Pointiert könnte man sich ausdrücken, daß diese Arbeit auf die Herstellung eines Lexikons hinausläuft. Da aber die Wörter der Sprache keinen fixierten Sinn haben wie Etiketten, sondern bestimmt sind ebenso durch die Eigentendenz eines Wortes von seinem Ursprung her wie durch seine Geschichte und den weiteren und engeren Zusammenhang, in dem es auftritt, könnte dies Lexikon ja kein Nachschlage-
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wörterbuch für Schüler sein, sondern die Aufgabe der Grammatik wie der ganzen begriffs- und religions geschichtlichen Forschung ist darin eingeschlossen. Da die Worte eines Textes an ihrer Stelle aber erst verstanden werden können in wechselseitigem Verständnis der Sache, über die geredet wird, so kann die Arbeit offenbar nicht so angefaßt werden, daß die historisch-philologische Forschung zuerst als Vorbedingung eine zeitgeschichtliche Erklärung liefert, der dann die Sachexegese ihre Erklärung nachzuschicken hätte, so daß nun doch, um mit Barth zu reden, Niebergall im fünften Bande das Wort erhielte 8 • Dann ist es aber auch mißverständlich, zu sagen, daß die historische und die theologische Exegese in verschiedenen Räumen stattfänden9 , vielmehr ist zu betonen, daß das Auseinanderfallen der historischen und der theologischen Exegese für beide Seiten ein unhaltbarer Zustand ist und man von Rechts wegen den historisch-philologischen Kommentaren nicht einen theologischen hinterdreinsenden kann. Im tatsächlichen Vorgang der Exegese steht die historische und die theologische Exegese in einem nicht analysierbaren Zusammenhang, weil ja die echte historische Exegese auf der existentiellen Begegnung mit der Geschichte beruht, also mit der theologischen zusammenfällt, wenn anders das Recht dieser eben auf der gleichen Tatsache beruht. Und jene existentielle Begegnung ist ja nicht etwas, was als Unternehmen gemacht werden könnte und als solches seinen Platz in oder hinter der methodischen philologischhistorischen Erklärung erhielte.
DIE FRAGE DER "DIALEKTISCHEN" THEOLOGIE Eine Auseinandersetzung mit Peterson Wenn Sokrates im OtIXAEYE:cr&cn die Wahrheit zu finden meint, so liegt dem die Anschauung zugrunde, daß der einzelne Mensch in seiner empirischen Verfassung nicht über die Wahrheit verfügt, daß diese aber im gemeinsamen Reden, im Gespräch, zutage kommen kann. Denn 8
Vorwort zur zweiten Auflage deli- Römerbriefs, 1922, S. 11.
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K. Barth, Die Auferstehung der Toten, 1924, S. V.
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der einzelne hat kein Kriterium für wahr und falsch; gelingt es aber im Gespräch, daß der eine durch den andern überführt oder überzeugt wird, so liegt eben darin ein Kriterium. Im fortlaufenden Gespräch, im Fragen und Antworten, im Prüfen und überführen muß also die Wahrheit immer mehr zur Klarheit kommen. Darin liegt die überzeugung, daß die Wahrheit schon von vornherein in einer verborgenen Weise im Reden vorhanden war, daß jedes Reden als solches in irgendeinem Maß an der Wahrheit teil hat .. Es liegt darin aber noch ein anderes: daß auch im weiteren Reden die Wahrheit immer nur in einer gewissen Verborgenheit vorhanden sein wird; denn das Fragen und Antworten geht immer weiter. Das Erkennen gelangt also immer nur schrittweise zu den Voraussetzungen, auf Grund derer seine jeweiligen Sätze Geltung haben; und es gilt, nach immer tiefer liegenden Voraussetzungen zu suchen, um schließlich zu der Voraussetzung zu gelangen, die selbst keiner andern mehr bedarf. Dieser Prozeß ist unendlich, und doch ist er sinnvoll, denn die aA1j.&wx ist das unendliche Ziel nicht als ein Etwas, das je (wenn auch erst im Unendlichen) zur Gegebenheit werden könnte, sondern sie ist immanent im ganzen Prozeß des Gesprächs (des Denkens) enthalten. I Sie ist die "unanschauliche Mitte" jeweils zwischen zwei Aussagen. Es darf nur nie vergessen werden, daß der ganze Prozeß des Erkennens ein dialektischer, ein Gespräch, ist, in dem keine Aussage für sich genommen, absolute Wahrheit beanspruchen darf, sondern immer nur wahr ist in der Beziehung auf jene Mitte, und daß diese Beziehung dadurch garantiert wird, daß jeder Satz mit seinem Gegensatz zusammengebracht wird, daß es zu jedem Satz seinen Gegensatz zu finden gilt. Die Wahrheit, die hier jeweils erkannt wird, ist also freilich nie die Wirklichkeit, sondern immer nur die Möglichkeit. - Und übrigens zeigt sich, daß zum Begriff dieses OUXA8yccr.&o:~ gar nicht zwei (oder mehr) wirkliche Personen gehören, sondern daß das Denken als solches ein O~O:AEyca&o:~ ist, das sich geradesogut auch als Monolog eines einzelnen abspielen könnte. Die Zweiheit der O~O:AcY0!1cYO~ hat nur den Sinn, den dialektischen Charakter des Redens (Denkens) als solchen zu garantieren. In diesem Gespräch gilt es nun auch, daß die Frage die Antwort ist und umgekehrt. Denn wenn sich im Wechsel von Frage und Antwort die immanente Bewegung des AOYOC vollzieht, so muß jede Frage, sprechende Bewegung des fortschreitenden Denkprozesses als Antwort sofern sie als einzelner AOYOC am A6yoC des Ganzen teil hat, die entauslösen. Eine Frage erhält also nicht eine zufällige, sondern die not-
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wendige Antwort. Die Antwort ist durch die Frage determiniert, wie die Frage durch die Antwort der früheren Stufe determiniert war und die neue Antwort eine neue Frage auslösen muß. So ist also auch im Grunde jene Beziehung auf eine Voraussetzung (und letztlich auf die Voraussetzung) ein Setzen der Voraussetzung selbst, das mit dem Reden als solchem erfolgt, sofern eben jeder Aoyot;; am ganzen AOYOt;; teil hat. Also handelt es sich nicht um das zufällige Setzen einer "Arbeitshypothese" irgendeines denkenden Individuums, sondern um die immanent mit jedem Reden, das den Anspruch auf Wahrheit erhebt, gesetzte Voraussetzung. Ist nun hier die Wahrheit nie die Wirklichkeit, das Dahaben einer Gegebenheit, so ist sie im Grunde nur das Gesetz des Erkennens selber; d. h. im Erkennen erfaßt der Erkennende nichts anderes als das Erkennen selbst. Und besteht dabei die Meinung, daß man in solchem Erkennen das Wesen der Dinge und seiner eigenen Existenz erfasse, so zeigt sich darin, daß man das Sein der Dinge und seiner selbst nirgends anders als in den AOYO~ sieht. Im "Ernst" kann man nicht von anderem Seienden reden; denn alles als Objekt Begegnende harrt der Auflösung in AOYO~, der Reduktion auf AOyO~. Redet man dann von Gott, so hat dies Reden keinen "Ernst", wenn man sich I darüber täuscht, daß Gott hier nichts anderes bedeuten kann, .als jene erste Voraussetzung alles Denkens, die als Voraussetzung zugleich der Inbegriff der Gesetzlichkeit alles Denkens ist. Aber auch, wo man von jener Täuschung frei ist, gilt: so von Gott reden, heißt in der Tat nicht von Gott reden, so ernst im übrigen dies Reden sein mag. Ist nun, wie Peterson uns vorwirft und wie auch mancher .andere meint, das Reden der "dialektischen" Theologie ein solches Reden von Gott, das dazu noch, da es sich dann über seinen eigenen Sinn täuschte, in keinem Sinne "Ernst" wäre? Auch in der "dialektischen" Theologie handelt es sich um ein Gespräch auf Grund der Voraussetzung, daß die einzelne Aussage nicht über die Wahrheit verfügt, keine allgemeine Geltung hat, sondern daß sie ihren Sinn nur gewinnt in Verbindung mit einer Gegenaussage auf Grund der Beziehung beider Aussagen auf eine unanschauliche Mitte. Auch in der "dialektischen" Theologie redet man davon, daß die Frage die Antwort und die Antwort die Frage sei. Aber gleich hier wird deutlich,. daß es sich bei aller formalen Ähnlichkeit um etwas fundamental Verschiedenes handelt, so daß man fragen muß, ob es wirklich gerechtfertigt ist, von "dialektischer" Theologie zu reden.
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Doch ist das schließlich gleichgültig, wenn nur der Sinn nicht mißverstanden wird. Es ist aber klar, daß die Rede: die Frage ist die Antwort und umgekehrt, von uns "Dialektikern" nur mit Bezug auf eine einzige, bestimmte Frage gebraucht wird: die entscheidende Frage, die der Mensch selbst ist in seiner Existenz. Und die Antwort ist gleichfalls eine einzige, bestimmte: die Rechtfertigung des Sünders durch Gott. Wohl wird die Antwort sofort wieder zur Frage, wenn sie vom Menschen ergriffen wird, wenn sie als Satz, losgelöst von dem dadurch bezeichneten wirklichen Geschehen, verstanden wird. Aber sie wird dann nicht zu einer neuen Frage, sondern zur alten, und die Antwort, die sie erhält, ist wieder nicht eine neue, sondern die alte. Also handelt es sich nicht um einen fortschreitenden Denkprozeß, sondern um ein Verharren auf einem Punkt oder meinetwegen um ein Kreisen um einen Mittelpunkt. Jeder Versuch "fortzuschreiten" würde damit bestraft werden, daß der vermeintlich Fortschreitende sich alsbald zuruckgeschleudert sieht in die alte Frage. Die Frage ist nämlich gar nicht vom Menschen aus gestellt, so wenig wie die Antwort durch das Fragen des Menschen determiniert ist. Denn solange der Mensch fragt, ist die Antwort nicht die Frage (Barth, Ges. Vortr. 161); sie ist es erst dann, wenn Gott gefragt hat; d. h. aber: in Frage steht der wirkliche Mensch in I seiner Jeweiligkeit, nicht der abstrakte Mensch. Da der Mensch aber über seine Existenz gar nicht verfügt (er steht ja nicht neben ihr, sondern in ihr, er lebt sie, ist sie in ihrem Verlauf), so sieht er die Frage, unter der er steht (nämlich, daß er Sünder ist), nur dann, wenn Gott sie ihm zeigt. Zeigt Gott sie ihm aber, so ist die Frage die Antwort, und zwar nicht, indem die Frage beseitigt oder "aufgehoben", d. h. im weiteren Prozeß des Erkennens als ein Schritt auf die Antwort hin verstanden wäre, sondern die Antwort muß eben die Frage sein (Barth, Ges. Vortr. 167), d. h. der Sünder ist der Gerechtfertigte. Also das Sein der Antwort, die die Frage ist, ist nicht ein durch die Bewegung des AOYOC konstituiertes oder im AOYOC fundiertes Sein, sondern das wirkliche Sein in der existentiellen Konkretheit des Menschen, dessen Sein hier eben nicht in den A6YOL gesehen ist, sondern in seiner geschichtlichen, in der Zeit zwischen Geburt und Tod verlaufenden Wirklichkeit. Die Wahrheit, um die es hier geht, ist nicht abstrakte Möglichkeit, sondern konkrete Wirklichkeit. Wie die Frage, in der wir stehen, unsere existentielle Situation ist (ob wir darum wissen oder
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nicht), und weder unser subjektives Fragen, noch eine Station in der Bewegung des Denkprozesses ist, so ist auch die Antwort nur wirklich als von Gott gesprochene, als das unsere Existenz neu begründende Geschehen (Barth, Ges. Vortr. 165). Und hierin sind wir mit Peterson ganz einig: ",Das gottselige Geheimnis' ist da, bevor es vom menschlichen Geist aktualisiert werden kann, bevor der Glaube sich ihm zu nähern, der menschliche Wille sich mit ihm in Einklang zu setzen vermag" (ZZ 1925, 294). Es ist ein ewiges Geschehen, sofern es nie einen Status (weder in der empirischen Geschichte der Menschheit noch der des Individuums) schafft, der geistige oder seelische Gegebenheit wäre, sondern immer wieder durch das Wunder des Heiligen Geistes neu wird. Aber ein ewiges Geschehen, das also nicht als die ewige Bewegung des AOYOC einsichtig wäre, sondern das nur wirklich ist, sofern es von Gott aus geschieht und in unserer Zeitlichkeit eben durch das Wunder des Heiligen Geistes Ereignis wird. Aber eben dieser Begriff des ewigen Geschehens läßt das dialektische Verfahren (um nicht Methode zu sagen!) als die angemessene Redeweise der Theologie erscheinen. Denn indem ich von diesem ewigen Geschehen rede, als hielte es gleichsam auch nur einen Moment still für die Betrachtung und Fixierung in der Aussage, habe ich es schon verfälscht, und nur der beständige Vorbehalt, daß es so nicht gemeint sei, kann meinen Aussagen ihr Recht geben. Und dieser Vorbehalt wiederum wird praktisch, indem ich zum Satz den Gegensatz stelle. Wie das I aussieht, das ist von Barth (Ges. Vortr. 172) gezeigt -, soweit man das eben "zeigen" kann; denn im Grunde kann man es nicht, weil man hier überhaupt nichts in abstracto demonstrieren kann. Hier nämlich ist das Gespräch keine Fiktion, sondern es handelt sich in Satz und Gegensatz stets um das vom und zum wirklichen Menschen Gesagte, so daß umgekehrt die monologische Form theologischer Entwicklung Fiktion ist. Diese "Dialektik" ist dann aber nichts weniger als ein Gespräch, das als solches seine Voraussetzung setzt. Gerade dies vermag der theologische Dialektiker nicht (Barth, Ges. Vortr. 174), d. h. er vermag überhaupt nicht, seinem Reden Sinn und Wahrheit (= Wirklichkeit!) zu geben, weil er über die Voraussetzung nicht verfügt. Sein Reden ist deshalb nur Zeugnis von der Wahrheit Gottes, die "in der Mitte" liegt (Barth, Ges. Vorti. 173). Diese Wahrheit ist ja das Geschehen von Gott aus, Gottes Tat, d. h. für den Redenden weder vorausgesetzt als das immanente Denkgesetz, das jeder Aussage ihren Sinn gibt, nom
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vorgestellt als die vollendete Erkenntnis am Ende des unendlichen Weges alles OLIXAEjscr&IXL; sondern sie ist das Geschehene (in der Zeit Geschehene), auf das er sich bezieht, auf das er hinweist. Und nicht dadurch wird sein Reden ein Prozeß in infinitum, daß er immer Neueres, Wahreres von Gott sagen müßte, sondern dadurch, daß er den Hinweis auf das Geschehene sofort wieder dagegen sichern muß, als ein Hinweis auf ein objektiv nachweisbares Faktum der Menschheits- oder Seelengeschichte mißverstanden zu werden; denn es ist ja ein ewiges Geschehen! Der "Ernst dieser "Dialektik besteht also gerade darin, daß das Gespräch als allein angemessene Redeform dafür angesehen wird, daß von Gott die Rede ist. Gerade darin, daß sie sich nicht einbildet, den Ernst Gottes zu erreichen (Peterson, Was ist Theologie 7), gibt sie Gott die Ehre. Weder ist Gott hier eine dialektische Möglichkeit, noch ist hier von "Gott überhaupt oder vom "Menschen überhaupt die Rede, sondern vom offenbaren Gott und vom konkreten Menschen, d. h. freilich nicht vom empirischen Menschen (von seinen Erlebnissen oder dgl.), sondern vom existentiellen Menschen, den es nicht in der Abstraktion, sondern nur in seiner Wirklichkeit gibt!. Die Antwort auf die Frage, was ist Theologie? lautet also zunächst (vgl. Peterson, Was ist Th. 5), daß es Theologie nur in I dem gibt, daß von der Offenbarung Gottes als einem ewigen Geschehen, aber einem Geschehen, geredet wird; daß es freilich keine Theologie gibt, die in allgemeinen Sätzen von Gott redet, keine Theologie, die an Stelle Gottes redet, bzw. die den Ernst Gottes zu erreichen meint. Im Grunde aber kommt die Differenz zwischen Peterson und uns gar nicht in dieser Abgrenzung zum Ausdruck. Denn soweit Peterson hier gegen uns polemisiert, beruht seine Polemik auf einem - freilich verbreiteten - Mißverständnis. Daher gilt alles bisher Gesagte eigentlich vielmehr gegen unsere anderen Gegner als gegen Peterson. Unsere eigentliche Differenz aber ruht in folgendem: Wenn das OLctAEjscr&IXL der Theologie auf ein (von Gott aus erfolgtes) Geschehen als seine Voraussetzung hinweist, so ist damit gegeben, daß der Gegenstand der Theologie, sofern in ihr von Gott geredet wird, im Grunde allerdings CC
CC
CC
CC
1 Was heißt übrigens »empirisch"? Der »empirische" Mensch ist doch auch nur der in einer bestimmten Betrachtungsweise gesehene, nämlich der im von sich selbst absehenden Hinsehen erfaßte, d. h. als Naturding gesehene Mensch, nicht der wirkliche, mit dem wir im Miteinandersein von vornherein verbunden sind. Der empirische Mensch ist also eine Abstraktion.
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gar kein ~ka;AEy€cr&a;L zuläßt (soweit gehen wir also als Dialektiker!), sondern daß die einzig angemessene Art, von ihm zu reden, die Botschaft, die Verkündigung ist. Aber eben dieser Tatsache, d. h. ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit der Verkündigung (als ihrer Voraussetzung, nicht ihrer Folge!) ist sich die "dialektische" Theologie bewußt, und darin unterscheiden wir uns von Peterson. Denn er gewinnt seine theologischen (dogmatischen) Begriffe nicht aus dem Ereignischarakter ihres Gegenstandes und verliert deshalb den direkten Zusammenhang der Theologie mit der Verkündigung. Er gewinnt seine Begriffe vielmehr aus der "Seinsordnung" (vgl. ZZ 1925, 290) mittels einer sog. Wesensschau. Wie das aber zugeht, zeigt am deutlichsten sein Aufsatz über den Lobgesang der Engel (ZZ 1925, 141-153). Hier beschreibt er zunächst die "höhere Seinsform" des Mystikers vom Blickpunkt des Mystikers aus; der Mystiker ist also eigentlich das Objekt der Betrachtung, und die Betrachtung ist im Grunde eine historische. Plötzlich aber ist unter der Hand dieser Blickpunkt mit dem der Wesensschau vertauscht, und die Mystik ist nun als Objekt gesehen, und sie wird als wirkliche Seinsweise mit der vom Mystiker intendierten einfach gleichgesetzt2 • So aber werden von Peterson beständig Wesenheiten ausgespielt, die in Wahrheit nur Begriffe einer jeweils bestimmten geschichtlichen Seinsauslegung sind, und die damit, daß sie vorhanden sind, noch nicht ihr Recht und ihre Gültigkeit ausgewiesen haben. Im Grunde liegen deshalb Wahrheit und Sein gerade für ihn, und nicht, wie er uns vorwirft, für uns in der Sphäre der AOYOL. Denn aus den AOYOL allein erhebt er seine Wesen-I heiten. Wenn dann freilich zu diesen Wesenheiten auch das gehört, daß sie auctoritas besitzen, je nachdem, welche Stelle sie in der Offenbarung einnehmen, so ist doch nicht einzusehen, wie es auf diesem Wege der Wesensschau zur Erfassung einer auctoritas kommen kann, und auch nicht, wieso die auctoritas hier etwas anderes sein kann als etwas, das man an diesen Wesenheiten konstatierend wahrnimmt. Von der auctoritas eines Wesens kann ich im Ernste doch nur reden, wenn diese auctoritas nicht etwas an ihm, sondern sein Sein ist, und wenn sie es für mich ist. Die Debatte zwischen uns müßte deshalb ganz anders geführt werden (und sie wird es hoffentlich noch); sie müßte von der Frage nach den Seinsbegriffen3 und nach der Möglichkeit, echte theologische Begriffe zu gewinnen, ge2 3
Vgl. H. Schlier, ZZ 1925, S. 410 A. 1. Vgl. H. Schlier, ZZ 1925, S. 410-414.
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führt werden. In der Polemik gegen unechte theologische Begriffe, gegen Rationalismus, Psychologismus und Historismus (also z. B. auch gegen Althaus) sind wir ja mit ihm ganz einig. Die Art seines Angriffs gegen uns und seine speziellen Vorwürfe haben zur Folge, daß unsere eigentliche Differenz hier immer nur indirekt oder gelegentlich zum Vorschein kommt. Aber wir müssen uns doch zunächst gegen seine Vorwürfe verteidigen. Die "dialektische" Theologie also hat gerade darin ihren "Ernst", daß sie die Ungleichheit ihres Redens mit dem göttlichen Reden, diesen ihren wie aller Theologie letzten Unernst sehr ernst nimmt. Dieser letzte Unernst bedeutet, daß alles auch noch so ernste Reden von Gott tatsächlich unter dem Vorbehalte des allein wirklich ernstmachenden Ernstes Gottes, wie er sich im Jüngsten Gerichte manifestiert (Peterson, Was ist Th. 7), steht. Diesen Vorbehalt bringt die "dialektische" Theologie zum Ausdruck. Unter diesem Vorbehalt allein würde Petersons Reden ein Recht haben, wenn schon es ein statisches Reden ist, das diesen Vorbehalt nicht zum Ausdruck bringt. Man kann natürlich fragen, warum nicht auch in statisch-undialektischer Weise von Gott geredet werden dürfe, in der Weise also, wie nach Peterson das Reden des Dogmas verläuft. Und es wäre zu antworten: daß dies allerdings geschehen darf und vielleicht auch geschehen muß, aber doch nur unter der einen Bedingung, daß dem, der so redet (und wenn es die Kirche wäre!), das Bestehen jenes ewigen, in der Göttlichkeit Gottes und der Menschlichkeit des Menschen ruhenden Vorbehalts so selbstverständlich ist, daß er gar nicht besonders zum Ausdruck gebracht zu werden braucht. Dann wäre freilich das statische Reden im höchsten Sinne dialektisch, eben in seinem ganz und gar Undialektischsein. I Aber das gilt für Peterson nicht. Er meint den vollen Ernst Gottes in seinem dogmatischen Reden gegenwärtig zu haben, das ja nicht mehr ein "Reden" sondern ein "Sprechen" ist. Er hat diesen Ernst, weil das Reden, das er hier meint, nicht sein Reden, sondern das der Kirche ist, die nichts anderes ist als die Verlängerung des furchtbaren, ewigen Ernstes Gottes in Christus in diese Zeit und Welt hinein. "Das Dogma liegt in der Verlängerung des Redens Christi von Gott, und darum ist die Autorität des Dogmas ... die Autorität Christi, die sich hier ,ausspricht'" (Peterson, Was ist Th. 21 f.). Und .zwar - und das ist das Entscheidende - wird diese ,Verlängerung' aufgefaßt als eine direkte, ungebrochene, keineswegs immer neu durch Gottes Wunder im Heiligen Geiste begründete wirkliche Verlängerung, sondern als eine einfache
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und undialektische Kontinuität der Offenbarungsgeschichte mit der Kirchengeschichte. Hier liegt unser eigentlicher Gegensatz. Vielleicht könnten wir alle Aufstellungen Petersons aufnehmen und mitsprechen, - denn wir sind wie gesagt eins mit ihm in der scharfen Gegnerschaft gegen allen Psychologismus und Historismus -, aber doch nur unter dem Vorbehalt, daß diese Kontinuität gebrochen wäre durch den Vorbehalt des Heiligen Geistes, welcher bedeutet, daß Gottes Ernst wirklich Gott selber vorbehalten bleibt und niemals an eine irdische Instanz, und wenn es die Kirche wäre, ein für allemal delegiert werden kann. übrigens dürfte sich auch Kierkegaard nicht über den Charakter und Sinn des dialektischen Verfahrens getäuscht haben. Gerade in der Schrift, auf die Peterson gelegentlich anspielt, in "Furcht und Zittern", sagt er sehr deutlich, daß der Dialektiker als Dialektiker es nicht weiter bringt als der gewöhnlichste und einfältigste Mensch (S. 28). Er wußte: "Ich kann die Bewegung des Glaubens nicht vollziehen" (29). "Die letzte Bewegung, die paradoxe Bewegung des Glaubens zu vollziehen, ist mir schlechthin unmöglich" (48). "Ich kann die Bewegungen des Glaubens wohl beschreiben, ausführen kann ich sie nicht" (33). Der Glaube wird gerade in "Furcht und Zittern" deutlich gegen die Resignation der Schwermut abgegrenzt. Und auch darüber, was Ernst sei, wußte Kierkegaard Bescheid und meinte gerade durch die Dialektik den Ernst der Sache zu wahren. "Der Ernst ist gerade, daß Christus keine direkte Mitteilung machen kann" (Einübung im Christent. 120). Wer Christus direkt reden läßt, der macht ihn menschlich "zu einem öffentlich ernsten Manne, beinahe so ernst wie der Pfarrer" (119). "Es wird damit begonnen, die direkte Mitteilung zu verweigern: das ist der Ernst" (124). "Alles I christliche Erkennen, wie streng auch seine Form sein mag, muß Sorge sein; das eben ist das Erbauliche. Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit der Persönlichkeit und so (christlich) der Ernst. Die Erhabenheit des gleichgültigen Wissens ist (christlich) so wenig höherer Ernst, daß sie (christlich) Scherz und Eitelkeit bedeutet. Der Ernst ist wieder das Erbauliche" (Krankh. z. Tode 3). "Die Spekulation kann sich ... mit der Sünde nicht befassen ... Wirklich ist nur das Einzelne, und so existiert Sünde nur als Sünde des Einzelnen. Das ist der Ernst ... , daß sie meine und deine Sünde ist - und so auch Sünde des spekulativen Denkers, der doch auch ein Einzelner ist. Soll er nun aber in seinem spekulativen Denken von dem Einzelnen (also auch von sich selbst als einem Einzelnen)
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absehen, so kann er nur ohne Ernst, also leichtsinnig an seine Sünde denken. In der Tat ist alles Gerede der Spekulation von der Sünde, ethisch (also sachgemäß, also richtig) betrachtet, leichtsinnig" (Krankh. z. T. 113 f.). Wenn Gott Mensch wird, "so ist dies Faktum der Ernst des Daseins. Und der Ernst in diesem Ernst ist wieder, ~daß darüber jeder eine Meinung haben soll" (123). Wer nur experimentiert (und das würde ja der Dialektiker Petersons tun), der "kennt keine Macht über sich; daher fehlt ihm der Ernst; und er kann nur einen Schein von Ernst vorspiegeln, indem er seinen Experimenten mit sich selbst die allerhöchste Aufmerksamkeit schenkt. Das ist, ob es ihm noch so ernst ist, nur affektierter Ernst, also eben kein Ernst. Wirklicher Ernst liegt nur in dem Gedanken, daß Gott auf den Menschen sieht" (63). "Bloß das Gottesverhältnis ist Ernst. Das Ernstliche ist gerade das, daß die Aufgabe auf eine höchste Höhe hinaufgedrückt wird, weil einer da ist, der den Druck der Ewigkeit anwenden kann. Der Ernst liegt darin, daß die Begeisterung über sich eine Macht hat und ihren Meister bei sich" (Leben und Walten der Liebe 199). "Ernst ist eines Menschen Verhältnis zu Gott; Ernst ist in dem, was ein Mensch so tut, denkt, sagt, daß er dabei an Gott denkt" (329). Ernst ist also nichts anderes als die unbedingte Sachlichkeit, und der Ausdruck des Willens, sachlich zu reden, ist die Dialektik, wie denn das Verhältnis zum Leben überhaupt ein dialektisches ist. "Der Ernst des Lebens ist das: in der alltäglichen Wirklichkeit die Idealität sein und ausdrücken zu wollen. Aber sie auch wirklich zu wollen: so daß man nicht, zu seinem eigenen Verderben, geschwind ein für allemal einen Strich darüber macht, sie auch nicht aufgeblasen wie einen Traum eitel nimmt (0, in beiden Fällen trauriger Mangel an Ernst!), sondern sie demütig in der Wirklichkeit will" (Einübung i. Chr. 164; dort auch über die Dialektik dieses Ernstes S. 199). "Der I kannte den Ernst nie, der nicht vom Ernst gelernt hat, daß man auch zu ernsthaft tun kann" (Leben u. W. d. Liebe 349). "Es kann einer gerade nicht ernsthaft vom Tode reden, wenn er nicht die im Tode liegende Hinterlist, die ganze tiefsinnige Schalkhaftigkeit des Todes zu benutzen weiß" (361). Ist über den Sinn der theologischen "Dialektik" Klarheit erreicht, so versteht sich die Auseinandersetzung mit den einzelnen Vorwürfen Petersons eigentlich von selbst. Wir sind mit ihm darin einig, daß für die Zeit zwischen Christi erster und zweiter Ankunft an Stelle alles dialektischen Fragens das Punkturn des Glaubens getreten ist (Peterson W. i. Tb. 8). Denn unser "dialektisches" Verfahren hat ja gar nicht
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den Sinn, als via dialectica den Glauben zu begründen oder zu ersetzen, sondern es erhebt sich auf dem Grunde des Glaubens und ist der Versuch, dem Glauben angemessen zu reden. Wir sind mit ihm darin einig, daß zum Glauben wesentlich gehört, daß er Gehorsam ist (a. a. 0.), und daß also in der Theologie konkrete Autorität und konkreter Gehorsam laut wird, daß in ihr Offenbarung vorausgesetzt und wirksam ist (a. a. O. 9). Wir wissen so gut wie er und Kierkegaard, daß die Existenz des Dialektikers als solchen kein Gehorsam ist, und wir hüten uns, sie dafür .auszugeben. Wir wissen also so gut wie er, daß der Gehorsam des Glaubens ganz undialektisch ist. Aber die entscheidende Frage ist doch: in welcher Weise wird in der Theologie Offenbarung "vorausgesetzt"? In welcher Weise wird in ihr konkrete Autorität und konkreter Gehorsam laut? Daß die Offenbarung weder eine Gegebenheit historisch-empirischen Charakters, noch eine Hypothesis im Prozeß des radikalen Denkens ist, weiß Peterson so gut wie wir, und seine Theologie hat wie die unsere die Absicht, über einen abstrakten Offenbarungs-, Autoritäts- und Glaubensbegriff hinauszukommen. Sein eigener Offenbarungsbegriff ergibt sich aus seiner Auffassung vom Sein des Menschen, als eines Wesens, das in dem Stufenbau von Seinsformen an einer bestimmten Stelle des Kosmos eingeordnet ist und die Möglichkeit hat, die ganze kosmische Seinsordnung in der Spekulation zu begreifen, ja auch seine eigene Seinsform zu steigern zu einer höheren, der göttlichen Seinsform näheren. Diese letztere Möglichkeit, so muß man Peterson doch wohl interpretieren, ist gegeben durch die Tats