Johannes Bellmann · Thomas Müller (Hrsg.) Wissen, was wirkt
Johannes Bellmann Thomas Müller (Hrsg.)
Wissen, was wirk...
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Johannes Bellmann · Thomas Müller (Hrsg.) Wissen, was wirkt
Johannes Bellmann Thomas Müller (Hrsg.)
Wissen, was wirkt Kritik evidenzbasierter Pädagogik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17688-8
Inhalt
Evidenzbasierte Pädagogik: Grundzüge eines wissenschaftlichen Paradigmas Johannes Bellmann / Thomas Müller Evidenzbasierte Pädagogik – ein Déjà-vu? Einleitende Bemerkungen zur Kritik eines Paradigmas ...........................................9 Hans Jörg Sandkühler Kritik der Evidenz ................................................................................................33 Kenneth R. Howe Positivistische Dogmen, Rhetorik und die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung ...........................................................................57 Evidenz als Basis für Bildungsforschung und pädagogische Praxis Gert Biesta Warum „What works“ nicht funktioniert: Evidenzbasierte pädagogische Praxis und das Demokratiedefizit der Bildungsforschung ................................................95 Walter Herzog Eingeklammerte Praxis – ausgeklammerte Profession. Eine Kritik der evidenzbasierten Pädagogik ........................................................123 Hartmut Meyer-Wolters Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln ............................................................147 Georg Lind Verbesserung des Unterrichts durch Selbstevaluation. Ein Plädoyer für unverzerrte Evidenz ..................................................................173
Johannes Bellmann Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft .............................197 Evidenz als Basis für Bildungsforschung und Bildungspolitik Edwin Keiner Evidenzbasierte Pädagogik ohne historische und vergleichende Kontexte? Fragen und Befunde der Wissenschaftsforschung der Erziehungswissenschaft .....217 Thomas Müller / Florian Waldow Expertenwissen für Bildungsreformen. Beziehungen zwischen Bildungsforschung und Bildungspolitik in Schweden und Deutschland ...........................................................................235 Roland Reichenbach In der „Concorde-Falle“: Festhalten an unnötigen Reformen ..............................257 Gert Biesta Evidenz, Erziehung und die Politik der Forschung .............................................269 Verzeichnis der Autoren .....................................................................................279
Evidenzbasierte Pädagogik: Grundzüge eines wissenschaftlichen Paradigmas
Evidenzbasierte Pädagogik – ein Déjà-vu? Einleitende Bemerkungen zur Kritik eines Paradigmas Johannes Bellmann / Thomas Müller
Im Kontext Neuer Steuerung hat sich insbesondere im englischsprachigen Raum das Paradigma einer evidenzbasierten Pädagogik etabliert. Unter dem Motto „What works“ verspricht es, ein experimentell gesichertes und generalisierbares Wissen über die Wirksamkeit pädagogischer Technologien und bildungspolitischer Maßnahmen hervorzubringen. Evidenzbasierte Pädagogik zielt auf ein Wissen, was wirkt, und unterstellt damit nicht nur ein bestimmtes Wissen über kausale Zusammenhänge in der sozialen Welt, sondern auch einen Transfer dieses Wissens in Bildungspraxis und Bildungspolitik. „Wissen, was wirkt“ – der Titel dieses Sammelbandes ist doppeldeutig, da es in der evidenzbasierten Pädagogik aus unserer Sicht um zweierlei geht: Ihrem Selbstverständnis zufolge geht es um ein Wissen über das, was wirkt, d. h. ein wissenschaftliches Wissen über effektive Methoden und Interventionen in Bildungspraxis und Bildungspolitik. Unabhängig davon, ob diese Erwartungen hinsichtlich wirksamer Sozialtechnologien eingelöst werden, geht es in der evidenzbasierten Pädagogik noch um etwas anderes: um ein Wissen, das wirkt, d. h. ein Wissen, das bereits auf dem Wege seiner öffentlichen Darstellung und Kommunikation in unterschiedlichen Praxisfeldern wirksam wird, und zwar auch ohne dass effektive Methoden und Interventionen ergriffen werden. Diese zweite Dimension der Wirksamkeit wissenschaftlichen Wissens bekommt im Kontext Neuer Steuerung eine besondere Bedeutung. Evidenzbasierte Pädagogik bliebe deshalb unterbestimmt, wenn man sie allein als Beitrag zur Verwissenschaftlichung der erziehungswissenschaftlichen Forschung oder des pädagogischen Wissens generell interpretiert. Durch die forschungs- und bildungspolitische Förderung evidenzbasierter Pädagogik stehen gerade auch die Beziehungen zwischen Forschung, Praxis und Politik in sehr grundsätzlicher Weise zur Debatte. Während die erste Interpretation des Zusammenhangs von wissenschaftlicher Expertise und ge-
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sellschaftlicher Praxis zumeist einem technokratischen Modell folgt, entspricht die zweite Interpretation einem hypertechnokratischen Steuerungsmodell (vgl. Faulstich 2004, S. 97). Die zweite Interpretation gibt sich nicht damit zufrieden, wie die evidenzbasierte Pädagogik und ihre Protagonisten verstanden werden wollen, sondern betrachtet sie aus einer Außenperspektive, von der aus eine andere Erklärung für ihre Wirksamkeit und Konjunktur angeboten wird. Texte und Formulierungen von Vertretern evidenzbasierter Pädagogik geben freilich zuweilen kund, dass ihnen die Wirkungsweise hypertechnokratischer Steuerung nicht gänzlich fremd zu sein scheint. Ein Beispiel hierfür ist die Rede von einer „Steuerung durch Indikatoren“ (Tippelt 2009), die einen Hinweis darauf gibt, dass es nicht allein um eine Steuerung auf der Grundlage von Indikatoren zu gehen scheint, sondern die Indikatoren selbst als Steuerungsinstrumente angesehen werden. Indikatoren werden in diesem Zusammenhang als „empirisch relevante und empirisch belastbare Informationen“ (Tippelt/Reich-Claassen 2010, S. 23) verstanden, so dass „Steuerung durch Indikatoren“ gleichbedeutend ist mit Steuerung durch Informationen. Auch bei Jürgen Kluge, dem früheren Chef von McKinsey Deutschland, findet sich ein Verständnis für die Wirkungsweise hypertechnokratischer Steuerung, wenn er im Blick auf den Effekt von Untersuchungen wie PISA festhält: „Sobald Sie etwas messen, wird es besser“ (Kluge 2005). Messung und Evaluation sind nicht nur Voraussetzungen für darauf gestützte wirksame Maßnahmen und Interventionen; sie stellen vielmehr selbst bereits eine steuerungswirksame Maßnahme und Intervention dar. Was auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen mag, kann als Ausdruck „doppelter Hermeneutik“ (vgl. Giddens 1990/1995, S. 26) verstanden werden: Wissenschaftliches Wissen entdeckt nicht allein Regularitäten des sozialen Lebens und nutzt diese Einsichten zur sozialtechnologischen Hervorbringung erwünschter Resultate; wissenschaftliches Wissen wird auf dem Wege seiner öffentlichen Darstellung und Kommunikation zugleich Teil des sozialen Lebens. Akteure reagieren auf das Bild, das die Wissenschaft von ihnen zeichnet, und unterschiedliche Akteure versuchen aus dem ihnen angebotenen Wissen in unterschiedlicher Weise Kapital zu schlagen. Eine Vermutung dieses Bandes über „Wissen, was wirkt“ besteht darin, die Konjunktur und den Erfolg evidenzbasierter Pädagogik auch als Ausdruck einer hypertechnokratischen Steuerungsfunktion wissenschaftlichen Wissens zu verstehen. Im Folgenden möchten wir zuerst die Bedeutung der Begriffe „evidence“ und „Evidenz“ präzisieren sowie auf Übersetzungsprobleme hinweisen. Schwierigkeiten bei der Übersetzung gehen einher mit unterschiedlichen Sichtweisen darauf, was „evidenzbasierte Pädagogik“ im engeren Sinne kennzeichnet. Im Abgrenzung zu einem allzu inklusiven und integrativen Verständnis, das die Identität von evidenz-
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basierten und empirischen Ansätzen suggeriert, versuchen wir Kernannahmen des strengeren Paradigmas einer „Evidenzbasierung“ zu benennen, das Forschung, Praxis und Politik auf spezifische Weise relationiert. Es scheint unverzichtbar, diese strengere Paradigma zu identifizieren, um die Kritik evidenzbasierter Pädagogik nicht zu pauschalisieren und gerade dadurch ins Leere laufen zu lassen. In den darauf folgenden Abschnitten skizzieren wir zunächst die Debatte im englischsprachigen Raum, die sich nicht auf wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen beschränkt, sondern auch auf die hypertechnokratische Dimension evidenzbasierter Pädagogik eingeht. Um die Frage nach dem Déjà-vu weiterzuverfolgen, werfen wir anschließend einen kurzen Blick in die Wissenschaftsgeschichte. Danach weisen wir auf Akzentsetzungen und Tendenzen evidenzbasierter Pädagogik im deutschsprachigen Raum hin, die in interessantem Kontrast zum engeren Paradigma stehen. Die Einleitung schließt mit einer Vorstellung der einzelnen Kapitel und Beiträge dieses Bandes. „Evidence“ und „Evidenz“: Übersetzungsprobleme Die in der deutschsprachigen Diskussion üblich gewordene Übersetzung von „evidence-based“ mit „evidenzbasiert“ ist nicht unproblematisch: „Evidence“ meint im Englischen zunächst nur soviel wie „Nachweis“, „Hinweis“ oder „Beleg“, mit dem eine bestimmte Annahme oder ein bestimmtes Urteil gestützt wird: „Evidence as that which justifies belief“ (Kelly 2006). Das im Englischen vorherrschende Verständnis von „evidence“ (im Sinne von „Nachweis“, „Beleg“) läuft Tippelt und Reich-Claassen (2010) zufolge dem im Deutschen verbreiteten Verständnis von „Evidenz“ „nahezu diametral entgegen“ (ebd., S. 22). Vor dem Hintergrund dieser „im Deutschen und Englischen über Kreuz gehenden Begriffsverständnisse“ (Jornitz 2008, S. 207) könnte man in der Rede von „Evidenzbasierung“ oder „evidenzbasierter Pädagogik“ eher eine unglückliche Übersetzung sehen, die im Deutschen falsche Erwartungen weckt: „Evidence“ meint eben nicht das augenscheinlich auf der Hand Liegende, sondern die durch empirische Forschungsmethoden gewonnenen Belege oder Hinweise, die für die Wirksamkeit einer bestimmten Methode oder Maßnahme sprechen. Während „Evidenz“ Unmittelbarkeit unterstellt, meint „evidence“ stets etwas Mittelbares, nämlich die durch Forschungsmethoden vermittelten empirischen Erkenntnisse, die wiederum selbst nicht unmittelbare Wahrheiten darstellen, sondern nur die interpretationsbedürftige Grundlage für bestimmte Schlussfolgerungen. Dieser Gegensatz wird bestätigt, wenn man berücksichtigt, dass die moderne Wissenschaft geradezu angetreten ist, ein dem Augenschein widersprechendes ‚kontra-evidentes‘, methodisch vermitteltes Wissen zu produzieren (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 165).
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Stellt man „evidence“ und „Evidenz“ in dieser Weise diametral gegenüber, so wäre die Rede von „Evidenzbasierung“ und „evidenzbasierter Pädagogik“ in der deutschsprachigen Diskussion eher als missverständlich zurückzuweisen. Welche Gründe mag es nun dafür geben, dass diese Termini auch von denjenigen in Anspruch genommen werden, die die Übersetzungsproblematik klar sehen? Ein erster Grund mag darin liegen, dass „evidence“ und „Evidenz“ gar nicht so diametral zueinander stehen. Man muss nämlich sehen, dass auch im Englischen die Bedeutung von „evidence“ im Sinne von „Evidenz“ durchaus verfügbar ist. Das „Oxford English Dictionary“ (²1989) führt als ersten Eintrag zum Stichwort „evidence“ die Wortbedeutung: „The quality or condition of being evident; clearness, evidentness“ (ebd.). Diese Bedeutung ist im Spiel, wenn etwa über bestimmte Annahmen gesagt wird, sie seien „so evident that we require no grounds at all for believing them save the ground of their own very evidence“ (ebd.). Erst an späterer Stelle findet sich dann die im Englischen vorherrschend gewordene Wortbedeutung von „evidence“ als „Ground for belief; testimony or facts tending to proof or disprove any conclusion“ (ebd.). Während im ersten Fall das von sich selbst her unmittelbar Einleuchtende gemeint ist, geht es im zweiten Fall um empirische Indizien, die bestimmte Schlussfolgerungen nahelegen. Trotz der erheblichen Spannung zwischen beiden Wortbedeutungen schwingt also auch bei der im Englischen vorherrschenden Wortbedeutung von „evidence“ noch eine Zusatzbedeutung mit, die für den Erfolg der Redeweise von „evidence-based practice“ und „evidence-based policy“ nicht ganz unwichtig sein dürfte. Dies führt auf einen zweiten Grund für die Vermutung, dass „evidence“ und „Evidenz“ nicht ausschließlich in einem diametralen Gegensatz zueinander stehen: Beide haben nämlich insofern etwas Gemeinsames, als sie Teil einer Suche nach Gewissheit sind (vgl. Sandkühler in diesem Band). Analysiert man die Rhetorik von „evidence-based education“ oder „evidence-based policy“, so werden gerade nicht die skeptischen, erkenntniskritischen Dimensionen von „evidence“ betont, d. h. die Tatsache, dass es bestenfalls um methodisch erzeugte empirische Hinweise geht, deren Relevanz selbst wiederum von Interpretationen abhängt und die ggf. bestimmte Schlussfolgerungen nahelegen, aber in der Regel nicht zwingend erscheinen lassen. Wenn von „evidence-based practice“ oder „evidence-based policy“ die Rede ist, dann meint man mit „evidence“ zumeist das gesicherte Wissen, das als Grundlage des Handelns angesehen wird. Es geht eben nicht nur um „evidence“, sondern um eine „evidence base“: „the idea of an evidence base [...] suggests that evidence is the literal foundation for action because it provides secure knowledge” (Schwandt 2009, S. 199). Dem entspricht die Beobachtung, dass Hinweise häufig mit Beweisen gleichgesetzt werden: „The first thing to say about ‚evidence‘ is that it must not
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be confused with ‚proof‘ – a mistake too often made by politicians in their search for certainty and for solid foundations of their policies“ (Oancea/Pring 2008, S. 25). Auch die Gegenfiguren zur Evidenzbasierung verraten, dass sichere und verlässliche gegen unsichere und fragwürdige Grundlagen des Handelns gestellt werden, gesichertes wissenschaftliches Wissen gegen bloße Meinung, Ideologie, Intuition oder Vorurteil. So schreibt einer der prominentesten Protagonisten von „evidencebased education“: „Throughout the history of education, the adoption of instructional programs and practices has been driven more by ideology, faddism, politics, and marketing than by evidence” (Slavin 2008, S. 5). Im Rahmen einer politischöffentlichen Rhetorik verwundert es nicht, dass die skeptisch-erkenntniskritische Lesart von „evidence“ zugunsten einer affirmativen Lesart zurücktritt. Wissenschaftliche „evidence“ wird zu einer Ersatzevidenz stilisiert, von der Legitimationsgewinne für Entscheidungen in Situationen erhofft werden, die gerade durch „Evidenzmangel und Handlungszwang“ (Blumenberg 1971/2001, S. 417) gekennzeichnet sind. Dass bisweilen aber auch im wissenschaftlichen Diskurs um „evidence-based education“ die skeptisch-erkenntniskritische Relativierung von „evidence“ in den Hintergrund geraten kann, zeigt, dass der wissenschaftliche Diskurs selbst von politischöffentlicher Rhetorik Gebrauch macht, was auf neue Symbiosen von Bildungspolitik und Bildungsforschung hindeutet (vgl. Bellmann 2006). Im Kontext evidenzbasierter Pädagogik meint „evidence“ also stets ein bestimmtes Wissen für Handeln. Es ist deshalb wichtig zu sehen, dass „evidence“ in diesem Zusammenhang eine sehr viel präzisere Bedeutung hat, als es dem allgemeinen Begriff entspricht. Dem allgemeinen Begriff von „evidence“ nach können empirische Hinweise jedweder Art Grundlage für Schlussfolgerungen werden. Hierbei geht es keineswegs allein um durch wissenschaftliche Forschungsmethoden erzeugte Hinweise. Auch Detektive oder Journalisten interessieren sich für empirische Hinweise, um daraus Schlussfolgerungen im Blick auf bestimmte Fragestellungen zu ziehen. Im Umgang mit „evidence“ in diesem allgemeinen Sinne ist die Wissenschaft kein privilegiertes Feld, sondern es zeigt sich bei allen Differenzen eine Kontinuität zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Schlussfolgern. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass es in beiden Fällen um „inferential reasoning“ (vgl. Twining 2003, S. 94), also um schlussfolgerndes Denken und Urteilen geht, wobei „evidence“ nicht für sich spricht, sondern stets eine Relation einschließt: A wird als Hinweis für B betrachtet. Im Feld der Wissenschaften finden sich wiederum bedeutende Differenzen zwischen dem, was unterschiedliche Disziplinen als „evidence“ generieren und in Betracht ziehen. Was Historikern, Juristen oder Politikwissenschaftlern als „evidence“ gilt, ist etwas anderes als das, was experimentelle Wissenschaften wie die Medizin,
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die Pharmakologie oder die Agrarwissenschaft unter „evidence“ verstehen. Dies zeigt, dass die experimentellen Wissenschaften keinen privilegierten Zugang zu dem haben, was „evidence“ ausmacht (vgl. Schwandt 2009, S. 200). Das engere Paradigma und seine Vorbilder Im Kontext evidenzbasierter Pädagogik geht es allerdings um ein sehr viel engeres Verständnis von „evidence“, das nicht nur vieles ausschließt, was in anderen Wissenschaften – etwa der Rechts- und Geschichtswissenschaft – unter „evidence“ verstanden wird (vgl. Twining 2003, S. 95), sondern auch eine klare Differenz zum allgemeinen Verständnis von „evidence“ als Grundlage schlussfolgernden Denkens etabliert. Deshalb erscheint es sinnvoll, evidenzbasierte Pädagogik im Folgenden als ein Paradigma zu bezeichnen. In der englischsprachigen Debatte über „evidence-based education“ ist selbst vielfach vom Wiederaufflammen älterer „paradigm wars“ in den Sozialwissenschaften die Rede (vgl. Lather 2004; Denzin 2008). Darüber hinaus möchten wir mit dem Begriff des Paradigmas auf den in der deutschsprachigen Diskussion unterbelichteten Sachverhalt hinweisen, dass es sich bei evidenzbasierter Pädagogik um ein an strengen wissenschaftstheoretischen Kriterien und methodologischen Standards ausgerichteten Ansatz handelt, der nicht mit einem umfassenden Verständnis empirischer Bildungsforschung gleichgesetzt werden kann. Als Paradigma betrachten wir in diesem Zusammenhang ein grundsätzliches Verständnis davon, was Wissenschaft überhaupt ausmacht, insbesondere was wissenschaftliche Forschung ist und sein soll, an welchen Methodenidealen sich diese orientiert, welches Wissen auf dieser Grundlage erzeugt wird und welche Funktion dieses Wissen in der sozialen Welt erfüllt (vgl. auch Phillips 2006, S. 16). Drei Merkmale sind für das hier erörterte engere Paradigma besonders kennzeichnend: 1.
2.
3.
Zunächst meint „evidence“ ein durch bestimmte privilegierte wissenschaftliche Methoden, insbesondere randomisierte kontrollierte Studien (RCT – randomized controlled trials) generiertes Wissen. Diese Methodenpräferenz ist darin begründet, dass experimentelle Designs als Königsweg zur Generierung eines Wissens über kausale Zusammenhänge gelten. Im Kontext evidenzbasierter Pädagogik ist „evidence“ also stets Wissen über kausale Zusammenhänge – Wissen über das, was wirkt – und nicht jedwedes wissenschaftliches Wissen. Dieses Wissen über kausale Zusammenhänge soll nun zugleich ein Wissen für Handeln sein. Im Hintergrund steht die Annahme, dass man Wissen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auch in der sozialen Welt zugleich als Wissen
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über die bewusste Herbeiführung gewünschter Wirkungen nutzen kann: „evidence“ ist in diesem Sinne immer zugleich Wirkungswissen und Bewirkungswissen. Durch die enge Verknüpfung von Wirkungs- und Bewirkungswissen behauptet das Paradigma die praktische Relevanz von Wissenschaft. Wissenschaftshistorisch kann diese Verknüpfung zurückgeführt werden auf den bereits von Bacon gesehenen Nexus von Einsichten in kausale Zusammenhänge und deren Nutzung zur regelhaften Herbeiführung gewünschter Zustände (vgl. Bacon 1620/1990, S. 81). Hieran schließt ein positivistisches Selbstverständnis human- und sozialwissenschaftlicher Forschung an, das Comte (1848/1894) wie folgt beschrieben hat: „Der Positivismus besteht im wesentlichen aus einer Philosophie und aus einer Politik, die notwendig untrennbar sind, da die eine die Grundlage, die andere den Zweck des allumfassenden Systems bilden, in welchem Erkenntnis und gesellschaftliches Streben sich eng verknüpfen“ (ebd., S. 1). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Kritik evidenzbasierter Pädagogik nur Sinn macht, wenn man darunter ein strengeres Paradigma versteht. In dem vorliegenden Band geht es also keineswegs um eine Kritik einer durch unterschiedliche Methoden und Disziplinen empirischer Bildungsforschung „informierten“ Pädagogik. Gegen ein solches inklusives Verständnis gibt es kaum vernünftige Einwände. Aber das sehr viel exklusivere Paradigma evidenzbasierter Pädagogik schließt eben weder Methodenvielfalt ein noch lässt es komplexere Verhältnisbestimmungen von wissenschaftlichem Wissen und pädagogischer Praxis zu. Nur insofern evidenzbasierte Pädagogik ein dezidiertes Paradigma darstellt, kommt es überhaupt als Gegenstand von Kritik in Frage. Erst dann können die Prämissen des Paradigmas geprüft und seine begrenzte Geltung herausgearbeitet werden. Der Versuch, Erziehung in ein Feld evidenzbasierter Praxis zu verwandeln, knüpft an Vorläufer aus anderen sozialen Praxisfeldern an. Das übergeordnete Projekt lautet „evidence-based practice“ bzw. „evidence-based policy-making“ (z. B. Davies/Nutley/Smith 2000; vgl. auch Wiseman 2010), wobei insbesondere die Medizin anderen Praxisfeldern als Vorbild und Modell angesonnen wird (vgl. Meyer-Wolters in diesem Band). So wurde bereits 1993 die Cochrane Collaboration1 gegründet, deren Aufgabe in der Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten („Systematic Reviews“) über experimentelle Forschung in der evidenzbasierten Me-
1 Benannt nach dem Epidemologen und Begründer der evidenzbasierten Medizin Archibald Leman Cochrane (1909-1988). URL: http://www.cochrane.org/ (Stand: 20.02.2011).
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dizin besteht. Nach diesem Vorbild wurde 1999 die Campbell Collaboration2 ins Leben gerufen, die Übersichtsarbeiten für andere Politikfelder wie Gesundheitswesen, Justiz und Strafvollzug, Sozialfürsorge sowie Pädagogik zusammenstellt. Systematic Reviews werden als die zuverlässigste Form von Wirkungs- und Bewirkungswissen angesehen, da sie über die Ergebnisse von Einzelstudien hinausgehen, indem sie deren Resultate durch den Abgleich mit anderen Studien zu vergleichbaren Fragestellungen zu validieren suchen. Auffällig an der übergreifenden „What Works“-Bewegung ist, dass sie „Praxis“ in jedwedem Bereich als effektive Intervention nach dem Muster zweckrationalen Handelns versteht, ohne dabei den Spezifika der jeweiligen Praxisfelder Rechnung zu tragen. Die Differenzen zwischen einer medizinischen Intervention und einer pädagogischen „Intervention“ spielen dann keine Rolle (vgl. den ersten Beitrag von Biesta in diesem Band). Deshalb kommt auch die evidenzbasierte Pädagogik in der Regel ohne eine spezifische Theorie der Erziehung oder des Pädagogischen aus. Dies hat zur Folge, dass die Expertise evidenzbasierter Pädagogik kein disziplingebundenes Wissen benötigt, sondern grundsätzlich von jedem generiert und angewendet werden kann, der sich auf experimentelle Forschungsdesigns versteht (vgl. Keiner in diesem Band). Auf die Konsequenzen, die dies für eine Wissenschaft von der Erziehung hat, gehen wir am Ende dieser Einleitung ein. Die Kontroverse um „evidence-based education“ im englischsprachigen Raum Im englischsprachigen Raum hat das Paradigma einer evidenzbasierten Pädagogik eine lebhafte, kontrovers geführte Debatte ausgelöst. Dies liegt nicht zuletzt an verschiedenen forschungs- und bildungspolitischen Versuchen der Etablierung, Förderung und dauerhaften Institutionalisierung von „evidence-based education“, an denen sehr schnell deutlich wurde, dass es eben nicht allein um eine wissenschaftsinterne Diskussion über ein bestimmtes Methodenideal erziehungswissenschaftlicher Forschung geht. Nachhaltige Wirkung entfaltete die gesetzlich verankerte Förderung evidenzbasierter Pädagogik durch das 2002 verabschiedete Gesetzespaket „No Child Left Behind“ (NCLB), das die Vergabe nationaler Zuschüsse zur Bildungsfinanzierung der Bundesstaaten von der Nutzung wissenschaftlich erprobter Methoden und Interventionen abhängig macht und randomisierten kontrollierten Studien eine ausdrückliche Präferenz gibt (vgl. NCLB 2002, S. 1965). Im gleichen Jahr erschien ein im Auftrag des National Research Council (2002) von aus-
2 Benannt nach dem Sozialwissenschaftler Donald T. Campbell (1916-1996). URL: http://www. campbellcollaboration.org/ (Stand: 20.02.2011).
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gewählten hochrangigen Vertretern erziehungswissenschaftlicher Forschung erarbeiteter Bericht über „Scientific Research in Education“, der zwar qualitativen Untersuchungen eine explorative Funktion zugesteht, ansonsten aber ebenfalls quantitativen experimentellen Designs den Vorzug gibt (vgl. Howe in diesem Band). In der Scientific Community haben diese Formen der politischen Einflussnahme auf die erziehungswissenschaftliche Forschung und ihre Ausrichtung auf bestimmte Methodenideale Anlass zur Sorge und Kritik gegeben (vgl. exemplarisch das Heft 8/2002 von „Educational Researcher“ und das Heft 3/2005 von „Educational Theory“). Beobachter sehen in der Debatte eine Art Wiederaufnahme eines überwunden geglaubten methodologischen Paradigmenstreits in den Sozialwissenschaften (vgl. Hammersley 2008; Denzin 2008). Viele der in der aktuellen Kontroverse um „evidence-based education“ ausgetauschten Argumente sind tatsächlich nicht neu. Es fällt sogar auf, dass die Befürworter des Paradigmas die kritischen Argumente der Gegenseite sehr genau kennen und auflisten – freilich ohne erkennbare Konsequenzen für einen substanziellen Umbau der eigenen Position (vgl. Davies 1999; Tippelt 2009). Was dem Paradigma derzeit eine solche Konjunktur beschert, ist also nicht so sehr die Überzeugungskraft neuer Argumente – diesbezüglich könnte man durchaus meinen, man erlebe ein Déjà-vu. Die Konjunktur des Paradigmas resultiert aus unserer Sicht vielmehr aus der forschungs- und bildungspolitischen Stützung und Institutionalisierung evidenzbasierter Pädagogik, die im Kontext eines neuen, „indikatoren-“ bzw. „datengestützten“ Steuerungsmodells eine besondere Nachfrage erhalten hat. Zur Einordnung evidenzbasierter Pädagogik reicht deshalb auch eine rein methodologische und erkenntniskritische Diskussion nicht aus; sie muss ergänzt werden durch Perspektiven der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftssoziologie, die in der Lage sind, das Paradigma im Kontext forschungs- und bildungspolitischer Machtkämpfe zu verorten (vgl. Howe in diesem Band). Bei der Konjunktur und Durchsetzung evidenzbasierter Pädagogik spielen auch finanzielle Anreize eine Rolle. Zum einen ist dies im nichtkommerziellen Bereich der Forschungsförderung etwa durch das National Centre for Education Research der Fall, das gut ausgestattete Förderlinien für Studien mit experimentellen Designs aufgelegt hat. Zum anderen können sich mit evidenzbasierter Pädagogik auch handfeste kommerzielle Interessen verbinden, wenn die experimentell überprüften Methoden und Programme als „Produkte“ vermarktet werden, die das Gütesiegel einer etablierten Prüfstelle erhalten haben. Eine solche Prüfstelle ist das 2002 auf Initiative des U.S. Department of Education etablierte „What Works Clearinghouse“,3 das nicht nur Standards für erziehungswissenschaftliche Forschung über wirksame Me3 Vgl. die Homepage des „What Works Clearinghouse“; URL: http://ies.ed.gov/ncee/wwc/ (Stand: 20.02.2011).
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thoden und Interventionen erarbeitet hat, sondern auch überprüft, inwieweit bereits veröffentlichte Studien diesen Standards genügen. Unter den überprüften Studien sind auch solche, die die Wirksamkeit kommerzieller, durch Copyright geschützter didaktischer Materialen und Lernsoftware getestet haben. Das Gütesigel „Consistant with WWC Evidence Standards” kann also die Vermarktungschancen eines bestimmten Produkts deutlich verbessern. Dies führt dazu, dass Verlage z. T. selbst entsprechende „Wirksamkeitsstudien“ für ihre Produkte in Auftrag geben. Die Tatsache, dass randomisierte kontrollierte Studien in der Regel sehr teuer sind (vgl. Lind in diesem Band), könnte zusätzlich zur politisch gewollten (Um-)Gestaltung der Forschungslandschaft beitragen. Die Produktion von „Evidenz“ wird entweder von einer entsprechend lancierten staatlichen Forschungsförderung abhängig oder von renditeorientierten privaten Forschungsinvestitionen. An diesen forschungspolitischen Initiativen ist aus deutscher Sicht aufschlussreich, wie es der nationalen Ebene gelingt, auf ein föderales Bildungs- und Wissenschaftssystem Einfluss zu gewinnen. Nationale Fördermittel werden an bestimmte Bedingungen der Evidenzproduktion geknüpft, wodurch ein „streamlining“ der Forschungslandschaft zugunsten bestimmter Fragestellungen und dazu passender Methoden erreicht wird. Gleichzeitig werden im Sinne der „Methode der offenen Koordinierung“ Standards und Richtlinien für „gute“, d. h. förderungswürdige erziehungswissenschaftliche Forschung erlassen. Auf diese Weise kann auch in Bereichen, in denen die nationalstaatliche Ebene keine unmittelbare (rechtliche) Gestaltungskompetenz besitzt, ein nachhaltiger Einfluss ausgeübt werden. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick Wie bereits erwähnt, lautet ein Einwand der Kritiker evidenzbasierter Pädagogik, dass das Paradigma, welches diesem Ansatz zugrunde liegt, keineswegs neu ist. Vielmehr scheinen wissenschaftstheoretische und epistemologische Grundannahmen für dieses Paradigma zentral zu sein, die zum festen Repertoire eines positivistischen und technologischen Wissenschaftsverständnisses gehören (s. o.). Als wissenschaftshistorische Referenzpunkte wären hier die verschiedenen Spielarten des Positivismus zu nennen, von denen einige eher sozialwissenschaftlich und gesellschaftstheoretisch akzentuiert sind (vgl. Comte 1848/1894), während andere eher erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ansetzen (z. B. von Mises 1939/1990). Die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik erinnern kaum an die historischen Vorläufer, die von ihnen wiederbelebt werden. Dieses wissenschaftshistorische Desinteresse ist jedoch nicht unproblematisch. Es setzt auf ein Vergessen jener Auseinandersetzungen, die bereits zu früheren Zeitpunkten um positivistisches Denken
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stattgefunden haben – ob nun aus strategischem Interesse, d. h. zur Beförderung der eigenen Reformambitionen, oder aus Unkenntnis. Problematisch ist der Mangel an wissenschaftshistorischer Reflexion vor allem, weil er die Erträge dieser Kontroversen ungenutzt lässt und zum Wiederaufleben von Konflikten beitragen kann, die man bereits für überwunden hielt.4 Nur schlaglichtartig sei hier erstens an den Werturteils- und Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften erinnert – also an jene Grundsatzkontroverse um den Charakter sozialwissenschaftlicher Forschung, die u. a. in den 1960er Jahren zwischen Vertretern des Kritischen Rationalismus und Vertretern Kritischer Theorie geführt wurde (vgl. Adorno u. a. 1969). Zu denken ist zweitens an jene methodologischen „Paradigmenkämpfe“ in den Sozialwissenschaften, die u. a. um den Stellenwert von quantitativen gegenüber qualitativen Forschungsmethoden kreisen. Erträge dieser Methodenkontroversen bestehen darin, die Vorzüge einer Integration qualitativer und quantitativer Methoden ebenso verdeutlicht zu haben (vgl. Kelle 2007) wie die Unhintergehbarkeit eines „interpretative turn“ in der empirischen Sozialforschung (vgl. Howe 2004). Versucht man evidenzbasierte Pädagogik in den beiden genannten Diskussionen zu verorten, so lässt sich zur Frage der Werturteile sagen, dass sie der Sache nach für die Werturteilsfreiheit der Forschung plädiert, aber gerade dadurch Gefahr läuft, für Zwecksetzungen von außen instrumentalisiert zu werden. Im Hinblick auf den Methodenstreit in den Sozialwissenschaften optieren die Vordenker evidenzbasierter Pädagogik eindeutig für empirisch-quantitative Methoden. Allerdings geschieht dies auf sehr spezifische Weise, denn nicht jede Form quantitativer Forschung genügt ihren strengen Kriterien. Wie bereits erwähnt, sollen es vor allem randomisierte kontrollierte Studien sein, die das gesuchte Wirkungs- und Bewirkungswissen hervorbringen (z. B. Coe 1999; Slavin 2002). Die exklusive Beschränkung auf technologisches Wissen und die Methoden seiner Erzeugung deutet auf eine dritte Kontroverse hin, die innerhalb der empirischquantitativen Sozialforschung stattfindet und sich auf den Stellenwert von Experimenten bzw. experimentellen Designs bezieht. Die Proponenten evidenzbasierter Pädagogik sprechen sich hierbei für echte (genuine) Experimente aus, die durch eine Zufallszuweisung zu den Untersuchungsgruppen charakterisiert sind. Wiederbelebt werden damit Ansprüche an sozial- und erziehungswissenschaftliche Forschung, die bereits zu Beginn der 1960er Jahre formuliert wurden. Zu erinnern ist hier insbesondere an die Arbeit von Donald T. Campbell und Julian C. Stanley (1963), die 4 Das wissenschaftshistorische Desinteresse evidenzbasierter Pädagogik zeigt sich etwa darin, dass ihre Befürworter einseitig auf die praktische Erfolgsgeschichte des evidenzbasierten Paradigmas in anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern verweisen, die dort geäußerte Kritik und die dort beobachteten Nebenfolgen jedoch nicht ernsthaft diskutieren (z. B. Slavin 2002; vgl. hierzu auch den zweiten Beitrag von Biesta in diesem Band).
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die Aussagekraft echter experimenteller Untersuchungsdesigns hervorheben und diese von Quasi-Experimenten – die Zuweisung zu den Untersuchungsgruppen erfolgt hier nicht zufällig, sondern unter den ‚natürlich‘ auftretenden Bedingungen – sowie von Pseudo-Experimenten abgrenzen. Die von Campbell und Stanley formulierten Anforderungen scheinen von den Verfechtern evidenzbasierter Pädagogik überwiegend geteilt zu werden. In Verbindung mit den Maßstäben, die man der „evidenzbasierten Medizin“ entlehnt, scheinen sie den methodologischen Kern evidenzbasierter Pädagogik auszumachen. In Vergessenheit gerät dabei jedoch zuweilen, dass der späte Campbell die rigorosen Ansprüche an experimentelle Forschung und ihre Relevanz für die Produktion von Wirkungs- und Bewirkungswissen für verschiedene gesellschaftliche Handlungsfelder äußerst kritisch beurteilte. In der Reflexion der Reformerfahrungen in den USA der 1960er Jahre wies Campbell insbesondere darauf hin, dass die Kopplung politischer Entscheidungen an die Messung quantitativer Indikatoren zu systematischen Verzerrungen führt. Diese Verzerrungen resultieren aus der Reaktivität der Akteure, die für die Hervorbringung des mit den jeweiligen Indikatoren Gemessenen Verantwortung tragen (vgl. Campbell 1975; vgl. auch Lind und Reichenbach in diesem Band). Wenn man nun feststellt, dass das Paradigma evidenzbasierter Pädagogik an wissenschaftstheoretische, epistemologische und methodologische Positionen der Vergangenheit anknüpft, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven kritisiert wurden, stellt sich die Frage, wie es zu dem gegenwärtigen ‚Revival‘ kommen konnte. Neben den bereits benannten (reform-)politischen Gründen könnte man auch einen innerszientifischen Grund vermuten: Der Rückgriff auf positivistische Dogmen könnte als Gegenreaktion auf postmoderne Problematisierungen wissenschaftlichen Wissens interpretiert werden (vgl. St. Pierre 2002). Er wäre insofern Teil einer Pendelbewegung, die wohl das Gegenteil des vielfach eingeforderten kumulativen Wissensfortschritts in der Erziehungswissenschaft darstellen würde. Nach wie vor ist offen, ob die Wahl eines derart strengen und exklusiven Paradigmas die Versprechungen erfüllen kann, die es macht. Die Rigorosität des Paradigmas könnte sein Scheitern bereits implizieren. Damit wäre auch die Grundlage für eine weitere Pendelbewegung gelegt – diesmal jedoch in Richtung eines offeneren Wissenschaftsverständnisses. Nicht auszuschließen ist auch, dass die breite Kritik an evidenzbasierter Pädagogik zu einer Aufweichung des Paradigmas führt. Anzeichen hierfür sind im englischsprachigen Raum bereits zu erkennen. Sie manifestieren sich in moderateren Komposita wie „evidence-informed education“, die im Unterschied zu „evidence-based education“ nicht auch schon begrifflich Grundlegungsansprüche erheben. Auch im deutschsprachigen Raum sind Anzeichen für die Aufweichung des Paradigmas zu erkennen. Diese können als Respezifikationen im
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Sinne nationaler Eigentümlichkeiten beim Transfer eines abstrakten Modells verstanden werden. Auffällig ist nämlich, dass die Befürworter einer evidenzbasierten Pädagogik in der deutschsprachigen Diskussion weniger rigoros argumentieren, sondern nahezu jede Form empirischer Bildungsforschung als evidenzbasiert auszuweisen versuchen (s. u.). Der Preis dieser Strategie ist jedoch nicht gering, denn evidenzbasierte Pädagogik lässt sich so nicht mehr gegen konkurrierende Paradigmen empirischer Bildungsforschung in informativer Weise abgrenzen. Vor dem Hintergrund dieses kurzen wissenschaftshistorischen Rückblicks liegt es nahe, evidenzbasierte Pädagogik auch als einen Versuch zu verstehen, Legitimationsprobleme von Wissenschaft zu bearbeiten. Evidenzbasierte Pädagogik bearbeitet diese Probleme, indem sie die Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit von Wissenschaft für andere Subsysteme der Gesellschaft demonstrativ darstellt. Die Suche nach Gewissheit, die Bildungspolitik und pädagogische Praxis gleichermaßen umtreibt, kommt dieser Herangehensweise entgegen. Aus wissenschaftshistorischer und wissenschaftssoziologischer Perspektive mögen diese Suche und die an sie geknüpften Erwartungen naiv und anachronistisch erscheinen. Jedoch scheint die Bearbeitung von inner- und außerwissenschaftlichen Problemstellungen die Resonanz evidenzbasierter Pädagogik zumindest zum Teil erklären zu können: Indem etwa eine evidenzbasierte Bildungsforschung das Angebot formuliert, wissenschaftliches Expertenwissen als Basis für Politik und Praxis zur Verfügung zu stellen, bearbeitet sie zugleich die Auflösungstendenzen eines postmodernen Wissenschaftsverständnisses, das die Sonderstellung wissenschaftlichen Wissens radikal in Frage stellte (vgl. auch Maasen/Weingart 2005). Evidenzbasierte Pädagogik im deutschsprachigen Raum Im deutschsprachigen Raum reüssiert die Idee evidenzbasierter Pädagogik erst seit wenigen Jahren. Die Rede ist dabei nicht nur von „evidenzbasierter Bildungsforschung“ (Jornitz 2008), „evidenzbasierter Bildungspolitik“ (Weiß 2006; BMBF 2008) und „evidenzbasierter Bildungspraxis“ (vgl. Spiel 2009), sondern auch von „evidenzbasierter Steuerung“ (Tippelt/Reich-Claasen 2010) oder ganz generell von „evidenzbasierter Bildung“ (Böttcher/Dicke/Ziegler 2009). In den verschiedenen Beiträgen bezieht man sich in der Regel auf prominente Vertreter der „What works“-Bewegung und beleuchtet Elemente der von ihnen ausgelösten Debatte. Manche Befürworter der „Evidenzbasierung“ scheinen sich dabei einer eher vage definierten Bewegung anzuschließen, ohne das exklusive Forschungsparadigma von „evidence-based education“ und seine strengen Kriterien auszuweisen und zu diskutieren (vgl. hierzu Meyer-Wolters in diesem Band). Vergleichsweise nahe an
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den strengen Maßstäben des Paradigmas argumentieren Böttcher, Dicke und Ziegler (2009), die Wirkungsevaluation als zentralen Bestandteil evidenzbasierter Bildung behandeln. Sie beziehen Wirkungsevaluation auf das „Paradigma von Evidenz und Rechenschaftspflicht“ (ebd., S. 8) und verankern so evidenzbasierte Pädagogik im Kontext Neuer Steuerung, verzichten jedoch auf eine systematische Klärung dessen, was unter „Evidenz“ verstanden wird. Andere Autoren weichen das Paradigma derart auf, dass sich evidenzbasierte Bildungsforschung kaum noch von empirischer Bildungsforschung unterscheiden lässt. So schreiben Tippelt und Reich-Claasen (2010): „In der Erziehungswissenschaft ist die Evidenzbasierung eng verknüpft mit Entwicklungen in der empirischen Bildungsforschung seit ca. 20 Jahren und wird vor allem durch die internationalen (Schul-)Leistungsvergleichsuntersuchungen sowie nationale und regionale Bildungsberichte realisiert. Ziel evidenzbasierter Bildungsforschung in diesem Sinne ist es, systemrelevantes Steuerungswissen für Bildungsprozesse bereitzustellen und damit den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bildungspolitik und -praxis zu verbessern“ (ebd., S. 22). Auch andere Autoren werten Bildungsmonitoring und Vergleichsstudien als Beiträge einer evidenzbasierten Forschung (z. B. Stanat 2008). Vergleicht man diese Begriffsverwendung mit jenen Maßstäben, die etwa in Robert Coes (1999) „Manifesto for Evidence-Based Education“ formuliert sind, so fällt auf, dass gerade jene Forschungszugänge, die Coe explizit nicht einem evidenzbasierten Paradigma zurechnet – indikatorengestützte Bildungsberichterstattung (surveys) sowie Korrelationsanalysen (correlational research) –, in der deutschsprachigen Diskussion als Beiträge zu einer evidenzbasierten Bildungsforschung ausgegeben werden. Coe merkt an, „that evidence must come from experiments in real contexts. ‚Evidence‘ from surveys or correlational research is not a basis for action“ (Coe 1999; vgl. auch FitzGibbon 2003). Die in der deutschsprachigen Diskussion zu beobachtende Identifikation von ganz unterschiedlichen Formen empirischer Bildungsforschung mit evidenzbasierten Ansätzen führt jedoch zu einer Verwischung und macht den Kern des Paradigmas unkenntlich. Unser Eindruck ist, dass zwei Interessen mit dieser Identifikation verbunden sind: Erstens scheint es darum zu gehen, eine äußerst kontroverse Debatte, wie sie im englischsprachigen Raum seit mehr als zehn Jahren geführt wird, im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs zu vermeiden. Hierfür spricht insbesondere, dass es zum Tenor vieler Beiträge gehört, auf die Kritik an „evidence-based education“ hinzuweisen und diese Kritik als durchaus berechtigt darzustellen (z. B. Böttcher/Dicke/Ziegler 2009, S. 12ff.; Stanat 2008, S. 16; Tippelt 2009, S. 8ff.). Diese Diskursstrategie erschwert in gewisser Weise die kritische Auseinandersetzung mit den Prämissen und Effekten evidenzbasierter Pädagogik, denn die Anhänger dieses
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Ansatzes scheinen mögliche Einwände schon vorwegzunehmen. Zweitens scheint die Identifikation von evidenzbasierter und empirischer Bildungsforschung auf den Nachweis zu zielen, dass Evidenzbasierung ein längst etablierter Bestandteil der empirischen Bildungsforschung ist und eben keine Reformstrategie wie in den USA. Mit dem Begriff wird nicht der Anspruch erhoben, das wissenschaftliche Feld auf eine neue, rigorose Basis zu stellen, sondern vor allem die Informationen zur Verfügung zu stellen, die Praxis und Politik benötigen. So lässt sich für die deutschsprachige Diskussion einerseits festhalten, dass der Begriff der Evidenzbasierung von Forschungsansätzen reklamiert wird, die den strengen Kriterien des Paradigmas nur zum Teil oder auch gar nicht genügen; andererseits fällt auf, dass Forschungsansätze, die große Übereinstimmung mit dem Paradigma evidenzbasierten Pädagogik aufweisen, nicht oder nur sehr knapp auf den umstrittenen Terminus rekurrieren. Diese Ansätze werden gegenwärtig unter dem Begriff „Pädagogische Interventionsforschung“ subsumiert (vgl. Hascher/Schmitz 2010). Idealerweise verbindet dieser Forschungstypus Analyse mit Intervention (vgl. Terhart 2002, S. 104ff.); Leutner (2010) zufolge geht es darum, „die Wirkung einer Intervention zu evaluieren“ (ebd., S. 65) und hieraus „wertvolle Hinweise für eine evidenz-basierte Verbesserung der pädagogischen Theorie und Praxis“ (ebd., S. 67) abzuleiten. Den Stellenwert pädagogischer Interventionsforschung sieht Leutner darin, „pädagogische Praxis zu fundieren, und zwar sowohl im Sinne von Theoriebildung als auch im Sinne evidenzbasierter Gestaltung“ (ebd., S. 71) und damit über „‚pädagogische Folklore‘“ (ebd., S. 72) hinauszugelangen. Bei dem Versuch, solche Ansprüche zu erfüllen, können jedoch spezifische Transferprobleme auftauchen. Transferprobleme zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis „Evidence-based education“ beansprucht, auf einem wissenschaftlichen Wissen zu basieren, das gleichermaßen relevant für bildungspolitische Entscheidungen wie für praktisches pädagogisches Handeln ist. Gemeint ist, wie bereits erwähnt, ein empirisches-experimentelles Wissen darüber, was wirkt. Für die pädagogische Praxis soll eine Art von Regelwissen produziert werden, das der pädagogischen Profession eine ernstzunehmende wissenschaftliche Grundlage bietet. Für die Bildungspolitik soll hingegen belastbares Entscheidungswissen produziert werden, das als Grundlage für politische Maßnahmen dient. Doch die Vorstellung eines Transfers, der sowohl für pädagogische Praxis als auch für Bildungspolitik nützlich ist, wirft einige Fragen auf. Im Zentrum des Transfers steht die evidenzbasierte Bildungsforschung, denn sie ist es, die den Brückenschlag zur Praxis und zur Politik leisten soll und beiden ihre
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Dienste anbietet. Doch macht es überhaupt Sinn, von „evidenzbasierter Bildungsforschung“ (Jornitz 2008) zu sprechen? Bringt Bildungsforschung nicht selbst erst jene empirischen Befunde hervor, die anschließend zur Basis für Politik und Praxis werden sollen? Diese Fragen klären sich, wenn man den Doppelcharakter evidenzbasierter Bildungsforschung in Rechnung stellt. Denn neben den in Einzeluntersuchungen gewonnenen empirischen Befunden bilden systematische Übersichtsarbeiten bzw. Meta-Analysen den Kern evidenzbasierter Bildungsforschung. Sie basieren auf dem in experimentellen Einzeluntersuchungen generierten Wissen und synthetisieren dieses. Aus diesem Grund gelten sie als unverzichtbar für den kumulativen Wissensfortschritt in der Bildungsforschung; manche Befürworter evidenzbasierter Pädagogik betrachten sie deshalb auch als „the primary method for managing knowledge in the evidence movement approach“ (Oakley 2002, S. 3). Das Versprechen eines Brückenschlags zur Praxis und zur Politik wird von den Vertretern einer „evidence-based education“ oftmals mit einer Kritik bisheriger erziehungswissenschaftlicher Forschung verbunden. An ihr kritisiert man vor allem, dass sie weder nützliches Wissen für Politik noch für Praxis generiert habe; den Grund hierfür sieht man in ihrer unzureichenden Verwissenschaftlichung (z. B. Slavin 2002). Problematisch an dieser Kritik ist jedoch, dass sie zwei Argumente miteinander verbindet, deren Verbindung keinesfalls notwendig ist. Sie behauptet nämlich, dass die Erziehungswissenschaft zunächst einmal verwissenschaftlicht werden muss, um politisch und praktisch nützlich sein zu können. Verwissenschaftlichung wird so zur entscheidenden Voraussetzung für praktische und politische Nützlichkeit stilisiert. Doch man kann sich auch eine Erziehungswissenschaft vorstellen, die erfolgreich verwissenschaftlicht wurde und die theoretischen und methodischen Standards anderer Sozialwissenschaften erfüllt, ohne deshalb als Produzent eines sozialtechnologisch nützlichen Wissens für Politik und Praxis zu dienen. Indem Befürworter evidenzbasierter Bildungsforschung aber genau jenen Zusammenhang zwischen Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeit stiften, leisten sie einem Wissenschaftsverständnis Vorschub, dass sie selbst zuweilen als „pragmatisch“ bezeichnen und das wir weiter oben als positivistisch gekennzeichnet haben. Problematisch an einer Position, die Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeit direkt aneinander koppelt, ist auch die mitlaufende Abgrenzung gegenüber anderen Wissensformen, präziser: gegenüber anderen Formen pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Wissens (vgl. Oelkers/Tenorth 1991; Tenorth 1999, S. 432ff.). Diese Abgrenzung bezieht sich zum einen auf das als irrelevant geltende Wissen jener Forschung, die nicht zur Evidenzbasierung beiträgt. Ihr hält man in der Regel vor, sie beschränke sich auf „die nicht erfahrungsgestützte Orientierung an Ideen und Ideologien oder auch an pädagogischen Klassikern“ (Tippelt/Reich-Claasen 2010, S. 23).
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Die Abgrenzung bezieht sich aber auch auf das erfahrungsbasierte Wissen professioneller Pädagogen, deren Arbeitsfeld in eine evidenzbasierte Praxis transformiert werden soll (vgl. hierzu Herzog in diesem Band). Diese doppelte Abgrenzung kann man als Indiz für den exklusiven Charakter evidenzbasierter Bildungsforschung verstehen. Die Exklusivität steht in einer gewissen Spannung zur Rhetorik evidenzbasierter Bildungsforschung, die sich keinesfalls explizit gegen Methodenpluralismus und die Vielfalt von Wissensformen wendet. Indem sie aber eine Hierarchie wissenschaftlichen Wissens postuliert – mit systematischen Übersichtsarbeiten zu randomisierten kontrollierten Einzelstudien an der Spitze – nimmt sie doch eine klare Grenzziehung vor. Ähnliches lässt sich für den Transfer in gesellschaftliche Handlungsfelder wie Bildungspolitik oder pädagogische Praxis sagen: Wenn evidenzbasierte Ansätze das wissenschaftlich hochwertigste Wissen produzieren, dann liegt die Forderung nicht fern, genau dieses Wissen in der gesellschaftlichen Praxis anzuwenden – und zwar so, dass dieses Wissen andere, minderwertige Wissensformen ersetzt. An diesem Punkt scheinen sich die wissenschaftszentrierten Ambitionen evidenzbasierter Pädagogik mit sozialpolitischem Reformelan zu verbinden. Fraglich wird vor diesem Hintergrund, ob evidenzbasierte Bildungsforschung einen entscheidenden Beitrag zur Verwissenschaftlichung erziehungswissenschaftlicher Forschung leisten kann. Gerade die Suche nach Gewissheit, die die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik antreibt, weckt hieran Zweifel. Gewissheitsschwund ist nicht erst ein Phänomen, das die postmoderne Wissenschaftskritik ins Bewusstsein gehoben hat, sondern das konstitutiv zur wissenschaftlichen Forschung dazugehört (vgl. Sandkühler in diesem Band). Zweifelhaft ist, ob eine evidenzbasierte Bildungsforschung, die sich auf die Suche nach Gewissheit begibt, einem Wissenschaftsverständnis entspricht, das seine modernen und postmodernen Selbstproblematisierungen nicht nur kennt, sondern auch verarbeitet hat. Die Suche nach Alternativen, die der erziehungswissenschaftlichen Forschung Perspektiven jenseits einer sozialtechnologischen Verengung, aber auch jenseits traditioneller Reflexionstheorie eröffnen, gewinnt in diesem Kontext an Bedeutung. Die Konjunktur evidenzbasierter Pädagogik bedeutet für die Erziehungswissenschaft eine Verengung und Auflösung zugleich: Eine Verengung, insofern die (postmoderne) Pluralität der „Ansätze“ und „Methoden“ in der Erziehungswissenschaft radikal reduziert wird; eine Auflösung, indem die Zuständigkeit der Erziehungswissenschaft für ihren Gegenstandsbereich in einer noch weitergehenden Weise relativiert wird, als sich dies bereits im Rahmen der sog. „Bildungswissenschaften“ abzeichnet. Evidenzbasierte Pädagogik verwandelt die Erziehungswissenschaft nicht nur in ein interdisziplinäres Feld der Bildungsforschung, sondern in
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eine Evaluations- und Wirkungsforschung, die sich als integraler Bestandteil eines universellen Qualitätsmanagements versteht (vgl. Bellmann in diesem Band). Transferprobleme deuten sich aber nicht nur an, wenn evidenzbasierte Bildungsforschung als Beitrag zur Modernisierung der Erziehungswissenschaft ausgegeben wird. Auch der Transfer von der Forschung in die Bildungspolitik und in die pädagogische Praxis wirft Fragen auf. Zunächst zur Bildungspolitik: Auf der einen Seite verspricht ihr evidenzbasierte Pädagogik eine Grundlage, die sie entlastet, auf der anderen Seite bleibt bei diesem Versprechen noch offen, was die Bildungspolitik mit dem wissenschaftlichen Wissen tatsächlich anfängt. Dient es ihr aufgrund seiner behaupteten Strenge und Eindeutigkeit tatsächlich als ausschlaggebende Entscheidungsgrundlage? Wird es von ihr zur (nachträglichen) Legitimation von Entscheidungen genutzt? Oder benötigt sie es eher zu Kontrollzwecken und zum Ausweis der eigenen Steuerungsfähigkeit? Die mit der ersten Frage verbundenen Hoffnungen auf eine lineare Implementation wissenschaftlichen Wissens sind von der sozialwissenschaftlichen Verwendungs- und Politikberatungsforschung seit den 1980er Jahren in Zweifel gezogen worden (vgl. Bonß 2004). Neuere Ansätze in diesen Forschungsfeldern richten den Blick nicht mehr nur auf die technischinstrumentelle Funktion der Wissenschaft in der bzw. für die Politik und verabschieden die Annahme, es gebe ein „Rationalitätskontinuum zwischen wissenschaftlicher Expertise und gesellschaftlicher Praxis“ (Schützeichel 2008, S. 21). Stattdessen heben sie die symbolisch-instrumentelle, auf Legitimation gerichtete Funktion wissenschaftlichen Wissens in politischen Kontexten hervor (z. B. Meyer/Rowan 1977; vgl. auch Müller/Waldow in diesem Band) oder betonen den Stellenwert von Risiken und Nebenfolgen wissenschaftlichen Wissens (vgl. Böschen/Kratzer/May 2006) sowie die Bedeutung des durch wissenschaftliche Erkenntnisse mitproduzierten Nicht-Wissens (Wehling 2006). Die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik haben aus jenen Forschungszugängen, die ein sozialtechnologisches Transferverständnis problematisieren, bislang keine systematischen Schlussfolgerungen hinsichtlich einer veränderten Verhältnisbestimmung von wissenschaftlicher Evidenz und Bildungspolitik gezogen. Welche Transferprobleme deuten sich nun für die pädagogische Praxis an? Ihr gegenüber beansprucht evidenzbasierte Pädagogik, ein wirksames, veränderungsrelevantes Wissen zu liefern, das eine solide Basis für pädagogisches Handeln und pädagogische Professionalität bietet. Dieser Anspruch führt zu der Frage, was die pädagogische Praxis mit evidenzbasierten Wissensbeständen anfängt. Fraglich ist insbesondere, ob und, wenn ja, wie sich sicherstellen lässt, dass die Praktiker dieses wissenschaftliche Wissen auch (richtig) nutzen. In den Blick gerät damit die alte Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, die wissenschaftliche Pädagogik seit
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ihren Anfängen begleitet und heute von der erziehungswissenschaftlichen Verwendungs- und Rezeptionsforschung aufgegriffen wird (vgl. Keiner 2002). Terhart (2005) konzediert beispielsweise, dass „weder die Theorien, Modelle und Handlungsempfehlungen der Didaktik und Methodik noch die Resultate der empirisch-experimentellen, auf die Steigerung der Effektivität des Lehrerhandelns gerichteten Untersuchungen im Unterrichtsalltag besonders intensiv genutzt werden“ (ebd., S. 98). Auch die systematischen Vorschläge zur Unterscheidung pädagogischer Wissensformen zeigen, dass das in der Praxis generierte Wissen professioneller Pädagogen allenfalls lose gekoppelt ist an das disziplinäre Wissen der Erziehungswissenschaft (z. B. Vogel 1998; Tenorth 1999). Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Forschung der Praxis nicht schon dann nützt, wenn sie – wie im Falle evidenzbasierter Pädagogik – ein besonders strenges Methodenrepertoire verwendet und Nützlichkeit postuliert. Aktuelle Analysen aus der Transferforschung im Bildungsbereich weisen außerdem darauf hin, dass evidenzbasierte Reformstrategien einer Top-down-Logik folgen, wenn sie allein der Wissenschaft zubilligen, wirksames Wissen zu generieren, welches anschließend in der Praxis umgesetzt und verbreitet werden soll. Gräsel (2010) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass eine von Seiten der Praxis vollzogene Weiterentwicklung und Veränderung der jeweiligen Innovationen „eher als unerwünschte Entwicklung betrachtet wird“ (ebd., S. 15), weil – so ließe sich ergänzen – sie die Deutungshoheit der externen Experten unterminiert. Gräsel setzt dagegen auf partizipative Transferstrategien, die „Akteure mit unterschiedlicher Expertise“ (ebd.) einbeziehen. Dies stellt ohne Frage eine andere Herangehensweise dar als die vielfältigen Bemühungen um eine Dissemination von evidenzbasiertem Wissen, wie sie etwa das „What Works Clearinghouse“ unternimmt. Selbst wenn es evidenzbasierter Pädagogik gelingen sollte, die in sie gesetzten und von ihr forcierten Erwartungen zu erfüllen, bleibt das Problem bestehen, dass ein evidenzbasierter Ansatz dazu tendiert, die pädagogische Praxis aus dem Prozess der Wissensproduktion auszuschalten. Sollten sich die Versprechungen evidenzbasierter Pädagogik als nicht einlösbar erweisen, dann steht die pädagogische Praxis quasi mit leeren Händen da und kann keinen Gewinn aus der evidenzbasierten Pädagogik ziehen. Eher droht ihr, wie Kritiker einwenden, die Verkennung der in der Praxis vorhandenen professionellen Kompetenz und Urteilskraft (vgl. Biesta und Herzog in diesem Band). An diesem Punkt deutet sich an, dass evidenzbasierte Pädagogik in Praxis und Politik unterschiedliche Probleme erzeugt: Der pädagogischen Praxis wird ein feldunspezifisches Wirkungs- und Bewirkungswissen angesonnen, dessen Praktikabilität und Nutzen im Alltag der Profession bislang nicht erwiesen ist. Das Wissen darüber, was wirkt, enthält ein sozialtechnologisches Steuerungsversprechen, das sich
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als gleichermaßen unrealistisch wie feldinadäquat erweisen könnte. Anders stellt sich die Lage für die Bildungspolitik dar: Im Unterschied zur pädagogischen Praxis kann sie von evidenzbasierter Pädagogik auch dann profitieren, wenn solche Sozialtechnologien alten Typs scheitern. Ein Grund hierfür besteht darin, dass das von der Bildungspolitik für nützlich erachtete evidenzbasierte Wissen ein Wissen darstellt, das bereits im Modus seiner öffentlichen Darstellung und Kommunikation Wirksamkeit entfaltet – und zwar auch dann, wenn die vom Paradigma versprochenen effektiven Interventionen nicht ergriffen werden (können). In diesem neuen Typus einer „wissensbasierten“ hypertechnokratischen Steuerung entwickeln sich neue Funktionssymbiosen von Bildungsforschung und Bildungspolitik, die der evidenzbasierten Pädagogik eine nachhaltige Konjunktur bescheren könnten. Zu den Kapiteln und Beiträgen des Bandes Für den vorliegenden Sammelband konnten wir Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen und Teildisziplinen gewinnen. Auf dem 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, der im März 2008 in Dresden stattfand, hat ein Teil dieser Autoren zu einer Arbeitsgruppe mit dem Titel „Kulturen der Bildungsforschung und das Modell einer evidenzbasierten Pädagogik“ beigetragen. In einem ersten Teil versammelt der Band Beiträge, die evidenzbasierte Pädagogik als ein spezifisches wissenschaftliches Paradigma kritisch beleuchten. Im Anschluss an unsere einführenden Bemerkungen nimmt Hans Jörg Sandkühler eine philosophiegeschichtliche Einordnung des Evidenzbegriffs vor. Seine kritischen Rückfragen richten sich insbesondere auf die Gewissheitsunterstellungen, die mit Konzepten der Evidenz meist verbunden wurden, die sich aber als uneinlösbar erwiesen haben. Der hier in deutscher Übersetzung präsentierte Beitrag von Kenneth Howe konzentriert sich auf die positivistischen Annahmen der „neuen wissenschaftlichen Orthodoxie“, die gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Forschungskonzeptionen in den USA zugrunde liegen. Er diskutiert zugleich die rhetorischen Anteile von „scientifically-based research“. Der zweite Teil des Bandes enthält Beiträge, die näher eingehen auf Verbindungen zwischen evidenzbasierter Bildungsforschung und pädagogischer Praxis. Zunächst hinterfragt Gert Biesta die Prämissen der evidenzbasierten Pädagogik, die im englischsprachigen Raum Konjunktur hat. Dabei skizziert er nicht nur eine alternative Sichtweise auf professionelles pädagogisches Handeln, sondern problematisiert zugleich eine auf ihre technische Funktion verengte Bildungsforschung. Biestas vielfach zitierter Beitrag wird hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt. Walter Herzog beleuchtet die Probleme, die sich für die pädagogische Profession aus
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dem Versuch ergeben, Pädagogik in eine evidenzbasierte Praxis zu verwandeln. Er legt dar, dass „evidence-based education“ von einem fundamentalistischen Wissenschaftsverständnis ausgeht. Dem stellt er die Komplexität pädagogischer Praxis entgegen, die von einem technologischen Ansatz nicht erfasst werden kann. Anders setzt der Beitrag von Hartmut Meyer-Wolters an: Er fragt nach Parallelen zwischen evidenzbasierter Pädagogik und evidenzbasierter Medizin und zeigt, dass die Diskussion in der Medizin weitaus nuancierter verläuft als die Debatte um evidenzbasierte Pädagogik. Er verdeutlicht dabei, dass die strengen Kriterien evidenzbasierter Medizin für die Pädagogik einen anspruchsvollen Maßstab darstellen. Georg Lind konzentriert sich auf Personen- und Programmevaluationen als zwei Formen der Wirkungsforschung. Er hinterfragt diese kritisch und setzt sie zu dem alternativen Ansatz der Selbstevaluation in Beziehung, der weniger rigide in die pädagogische Praxis eingreift, weniger Nebenfolgen aufweist und die Selbststeuerungspotentiale der Praxis stärkt. Auch der Beitrag von Johannes Bellmann verbindet kritische Rekonstruktion mit konstruktiven Aspekten: Er problematisiert Vereinseitigungen des erziehungswissenschaftlichen Diskurses, der sich zwischen Reflexionstheorie und Sozialtechnologie bewegt, und fragt nach Perspektiven, die ein theorieorientierter Forschungszugang jenseits dieses Dualismus bieten könnte. In einem dritten Teil geraten die Versuche in den Blick, Evidenz zum Referenzpunkt für Bildungsforschung und Bildungspolitik zu machen. Edwin Keiner nutzt Methoden einer vergleichenden erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung, um die Konjunktur evidenzbasierter Pädagogik im englischsprachigen und im europäischen Kontext nachzuzeichnen. Er unterscheidet dabei drei Modelle der Ausgestaltung sozial- und erziehungswissenschaftlicher Forschung, die unterschiedliche Anschlüsse für evidenzbasierte Bildungspolitik eröffnen. Eine vergleichende Perspektive nehmen auch Thomas Müller und Florian Waldow ein: Sie fragen, wie neu der Anspruch ist, evidenzbasierte Bildungspolitik zu betreiben, und richten den Blick auf Schulreformen in Schweden und Deutschland, in denen die Bildungsforschung für die Bildungspolitik eine zentrale Rolle spielte. Roland Reichenbach widmet sich der Frage, warum man Reformvorhaben trotz offensichtlichen Misslingens fortsetzt. Im Rekurs auf organisationstheoretische Überlegungen geht er auf Besonderheiten von Schule ein, die einer evidenzbasierten Bildungsreform im Wege stehen. Abschließend lenkt Gert Biesta noch einmal den Blick auf die Erwartungen an ein Wissen, was wirkt. Er verdeutlicht, dass sich die wissenschaftliche Suche nach empirischer Evidenz nicht ablösen lässt von politischen Rahmenbedingungen und Interessen. Eine evidenzbasierte Kontrolle von Systemen der Erziehung könne nur gelingen um den Preis einer drastischen Komplexitätsreduktion dieser Systeme.
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Kritik der Evidenz Hans Jörg Sandkühler
1. ‚Evidenz‘ als Zauberwort und Münchhausen-Begriff ‚Evidenz‘ hat Konjunktur, auch in der Bildungstheorie und -politik – gerade so, als handle es sich um ein ‚evidentes‘ Konzept und nicht um eines, dessen man sich durch Kritik im Sinne Kants vergewissern muss: Zu fragen ist nach den Bedingungen der Möglichkeit von Evidenz. Robert Coes „A Manifesto for Evidence-Based Education“ belegt die mit dieser Konjunktur verbundenen Probleme: „‚Evidence-based‘ is the latest buzz-word in education. Before long, everything fashionable, desirable and Good will be ‚evidence-based‘. We will have Evidence-Based Policy and Evidence-Based Teaching, Evidence-Based Training” (Coe 1999). Und doch ist für ihn die Annahme, mit ‚evidence-based‘ stehe ein probates Mittel der Sicherung gegen bloße Spekulation, unbegründetes Meinen und empirisch ungesättigte Politik auf dem Rezept, „more than just trendy jargon. It refers to an approach which argues that policy and practice should be capable of being justified in terms of sound evidence about their likely effects. Education may not be an exact science, but it is too important to allow it to be determined by unfounded opinion, whether of politicians, teachers, researchers or anyone else” (ebd.). ‚Being justified in terms of sound evidence‘ heißt das Zauberwort, mit dessen Verwendung sich das Risiko ‚to be determined by unfounded opinion‘ aufzulösen scheint. ‚Evidenz‘ ist hier – wie auch in weiten Bereichen der Debatte – ein Synonym für forschungsmethodisch erzeugtes empirisches Wissen, für ‚experimentell erforscht und durch Wissenschaft empirisch begründet‘. Zwar führt Coe „Problems With Evidence“ an – sie ist für ihn „quite problematic“, u.a. wegen des Einwands der „value-laden nature of all ‚evidence‘“ –, doch lässt er sich nicht irritieren; weil „too many policies have been imposed on schools without adequate evidence about their likely effects and costs“, fordert er „a culture in which evidence is valued over opinion“: „We need to change that culture so that the question, ‚Where is the evidence?‘ becomes the first thing we think of when presented with a suggested change of practice or policy“ (ebd.).
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Auch die Bildungspolitik bedient sich des Zauberworts. In einer Rede zur Eröffnung einer Fachtagung zum zweiten nationalen Bildungsbericht hat W. MeyerHesemann, Staatssekretär im Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein, ausgeführt: „Für die Länder ist der Bildungsbericht ein wichtiges und mittlerweile unverzichtbares Element für eine evidenzbasierte Bildungspolitik. Sie zielt darauf, mit Hilfe wissenschaftlicher Verfahren die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist, und nicht, wie mancher sie gerne sehen möchte. Evidenzbasierte Bildungspolitik bedeutet, dass Bildungspolitiker auf der Grundlage wissenschaftlich belegten Wissens über den Zustand des Bildungssystems Entscheidungen treffen und auch die Effekte dieser Entscheidungen einer empirischen Überprüfung unterziehen. […] Für Bildungspolitiker bedeutet ein evidenzbasiertes Vorgehen auch, dass damit die bisher gewohnte weitgehende politische Deutungshoheit über den Zustand des Bildungssystems verloren geht und stattdessen empirische Befunde, deren Zustandekommen unabhängigen Wissenschaftlern zu verdanken ist, ergebnisoffen zur Kenntnis genommen werden müssen“ (Meyer-Hesemann 2008; Hervorhebung H.J.S.). Unterzieht man die Verwendung des Evidenz-Begriffs einer – auch die Geschichte der Evidenz-Kritik berücksichtigenden – Prüfung, so ist zunächst auf ein semantisches Problem aufmerksam zu machen: „Das Englische unterscheidet zwischen selfevidence und evidence. Als ‚self-evidence‘ wird das verstanden, was im Deutschen als Evidenz gilt: eine Offenbarung ohne weitere Legitimation: sich selbst evident sein. ‚Evidence‘ hingegen […] kann jedes ‚Mittel der Bestätigung und Rechtfertigung einer Annahme‘ sein, auch alles, ‚was Grundlage einer Meinung‘ […] ist. […] Diese im Deutschen und Englischen über Kreuz gehenden Begriffsverständnisse erschweren die Klärung dessen, was mit einer evidenzbasierten Pädagogik gemeint sein könnte“ (Jornitz 2008, S. 207). Ohne Berücksichtigung dieser Unterscheidung und der besonderen Semantik von ‚evidence‘, die hergestellt wird, müsste das Programm des ‚Evidence Based Education Network‘ unverständlich bleiben: „To create evidence“, „To disseminate evidence“, „To promote a culture of evidence“ und „To campaign against ‚non-evidence-based‘ policy and practice“ (vgl. CEM o. J.). Angesichts der Differenz zwischen ‚evidence‘ und ‚self-evidence‘ und der Bedeutungsgleichheit des deutschen Begriffs ‚Evidenz‘ und des englischen ‚self-evidence‘ könnte man vermuten, die Problematisierung des Evidenzbegriffs treffe die ‚evidence-based‘-Strategie nicht, weil sie starke Selbst-Evidenz gar nicht für sich beanspruche. Für diese Vermutung gibt es allerdings keine guten Gründe. Denn das zentrale epistemologische, mit ‚Evidenz‘ verbundene Problem, um das es im folgenden Beitrag gehen soll,1 ist mit dem Hinweis darauf, es gehe ‚nur‘ um eine empiri1 Im Folgenden greife ich auf Überlegungen in Sandkühler 2009 zurück.
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sche Forschungsstrategie, nicht gelöst. Meine These lautet: Evidence-gestützte empirische Strategien sind nur scheinbar schwächer als self-evidence-Ansprüche. Anders formuliert: self-evidence-Ansprüche überschatten alle evidence-gestützten empirischen Strategien. Der Unterschied besteht lediglich in der Quelle, aus der Wissen geschöpft werden soll: Für self-evidence wird spekulativ so etwas wie ein ‚natürliches Licht‘ angenommen, während evidence als Resultat von Empirie keiner spekulativen Annahmen zu bedürfen scheint. Doch in beiden Fällen wird Evidenz letztlich als sich selbst begründendes Konzept verstanden, das von den Problemen der Ungewissheit und der Notwendigkeit der Rechtfertigung von Wissen unbelastet ist. ‚Evidenz‘ wird in beiden Fällen zu einem Münchhausen-Begriff: Dass dieses oder jenes evident ist, ist evident. Die unterstellte Gewissheit aber ist durch nichts verbürgt, weder durch ‚die Realität‘ selbst, noch durch Experiment und Empirie, weder durch ‚die Tatsachen‘, noch durch ‚die Wissenschaft‘. Auch empirische Evidenz ist geglaubte Gewissheit, ein Wissen, von dessen Wahrheit man überzeugt ist. Ein problemgeladeneres Konzept als das einer evidenzbasierten Bildung und Erziehung hätte man in der Erziehungswissenschaft und für die Bildungspraxis und -politik nicht wählen können. Was es heißt, es wählen zu können, gehört zum Problemkontext: Die Wahl hat man nur, wenn etwas nicht in einem evidenten, aus sich selbst heraus einleuchtenden und keiner Rechtfertigung bedürftigen Wissen besteht. Das folgende Plädoyer für Evidenz-Kritik zielt sowohl auf self-evidence als auch auf evidence. 2. Evidenz – Die fragwürdige Gewissheit des Meinens und Glaubens Im Deutschen wird das Konzept ‚Evidenz‘ entweder dem Sachverhalt, der jemandem evident ist, oder dem Sachverhalt, dass jemandem etwas evident ist, zugesprochen (vgl. v. Kutschera 1982, S. 37). Evidenz soll jenes Wissen auszeichnen, dessen Gründe stärker sind als die Gründe, die eine bloße Meinung für sich in Anspruch nehmen kann (vgl. Chisholm 1979); als stärker gelten die Gründe dann, wenn sie von ‚der Realität‘ verbürgt sind und so ausgesagt werden, dass sie eine von Subjektivität unabhängige Geltung haben. Evidenz-Ansprüche sind Evidenz-Anrufungen: Man beruft sich auf das ‚Offensichtliche‘. Evidentes soll die Garantie seiner Wahrheit außer sich haben und deshalb als fester Grund der Zurückweisung skeptischer Einwände gelten können. Self-evidence soll die Voraussetzung eines Wissens sein, das einer Rechtfertigung nicht bedarf; evidence soll die Voraussetzung eines Wissens sein, das, weil es empirisches Wissen ist, immer schon gerechtfertigt ist. Evidentes wird so die Basis der Legitimierung zum einen epistemischer Behauptungen, zum anderen daraus abgeleiteter moralischer Entscheidungen, ethischer Normenbegründung und rechtlicher Forderungen.
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Doch was für den Alltagsverstand so selbstverständlich ist, ist seit jeher begleitet vom Streit darüber, was es bedeutet, dass Urteile die Eigenschaft haben sollen, so unmittelbar ‚aus der Sache selbst‘ einzuleuchten, dass man genötigt ist, sie für gültig/wahr zu halten. Besteht Evidenz in subjektivem Fürwahrhalten, in der Notwendigkeit eines Urteils oder in einer objektiven Tatsache? Im angelsächsischen Bereich gibt es eine Kontroverse vor allem darüber, ob Evidenzen „internal states of beliefs“ sind oder „the believed propositions themselves“ (Feldman 1992, S. 120). Im Rahmen der Theorie epistemischer Rechtfertigung vertreten Chisholm und Feldman einen Evidentialism mit der Kernthese, dass ein Glaube/eine Überzeugung genau dann und nur dann für eine Person epistemisch gerechtfertigt ist, wenn die Evidenz der Person diesen Glauben/diese Überzeugung stützt (vgl. ebd., S. 119). Scharfe philosophische Kritik an Evidenz-Annahmen formulieren der kritische Rationalismus und ihm verwandte Positionen: Wenn Evidentes nur Gegenstand der Intuition ist, nicht aber bewiesen werden kann, dann sind Evidenzen subjektiv; sie werden gesehen und leuchten ein – oder eben nicht; sie können deshalb keine Wissen begründende Funktion haben. Auch in der empiristischen und logischempiristischen Tradition und in nahezu allen Varianten analytischen Philosophierens stoßen Evidenzunterstellungen auf entschiedenen Widerspruch: Evidenz kann von subjektiver Gewissheit nicht unterschieden werden; wenn es kein Unterscheidungskriterium gibt, dann ist eine Berufung auf Evidenz unmöglich; wird ein Kriterium angenommen, „so scheint dies zu einem unendlichen Regress zu führen: dass in einem vorgegebenen Falle von Gewissheit die in dem Kriterium verlangten Merkmale vorliegen, muß ja selbst nicht bloß mit subjektiver Gewißheit, sondern mit Evidenz festgestellt werden“ (Stegmüller 1989, S. 47f.). Das Evidenz-Problem ist nicht lösbar: „alle Argumente für die Evidenz stellen einen circulus vitiosus dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch“ (Stegmüller 1969, S. 168f.) Selbst die Evidenz-Skepsis steht unter Vorbehalt: „Wir glauben nur, die Einsicht zu haben, dass man keine Beweisevidenz für diesen Glauben besitzen kann.“ (ebd., S. 186) De facto aber spielen Evidenzen in allen Wissenskulturen eine wichtige Rolle. Sie sichern Ausgangsorte für Meinungen, Glaubensinhalte, Überzeugungen und propositionale Einstellungen – und damit auf problematische Weise auch für das, was für Wissen gehalten wird. Evidenzen verweisen – nicht anders als Meinung, Glaube und Überzeugung – als auf etwas gerichtete epistemische Aktivität auf eines der zentralen Probleme der Epistemologie: das der Intentionalität.
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2.1 Intentionalität Durch F. Brentano zu einem zentralen Thema der Philosophie geworden, bezeichnet ,Intentionalität‘ die Gerichtetheit des Bewusstseins, und zwar auf Gegenstände als interne Gegenstände des Bewusstseins und nicht auf externe Objekte der Realität. Die Gerichtetheit intentionaler mentaler Einstellungen auf etwas setzt nicht voraus, dass dieses Etwas in einer Außenwelt existiert. Brentano charakterisiert in Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) psychische Phänomene durch ihre ,intentionale Inexistenz‘: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir [...] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht die Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden“ (Brentano 1973, I, S. 124f.). Intentionalität wirkt in Bezug auf Erkenntnisgegenstände vor allem in Form von Einstellungen, die allem Wissen, dass p vorausgehen. „Ich weiß, dass p“ im Sinne von „Es ist wahr, dass p“ muss deshalb übersetzt werden: Ein Subjekt S ,glaubt, dass p‘; p ist eine Proposition, der gegenüber S eine Einstellung der Anerkennung vertritt, dass p wahr ist. Man kann auch sagen: S ist überzeugt, dass p. Das Etwas, worauf sich die Einstellungen richten, muss als existierend unterstellt werden können; mehr ist als Voraussetzung nicht gefordert. Im epistemologischen Zusammenhang sind Einstellungen deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie sich, in Überzeugungen gründend, bereits in der Wahrnehmung geltend machen und im Kontext aller an einer epistemischen oder praktischen Handlung beteiligten psychischen Prozesse auf Erkenntnis- bzw. Handlungsobjekte gerichtet sind. Die relativ konstanten und fixiert auf Sachverhalte gerichteten Einstellungen haben drei Grundfunktionen für die psychische Aktivität: „Sie steuern die Aufnahme der Informationen des Individuums aus der Umwelt, bewerten sie im Hinblick auf die geforderte Verhaltensorganisation und richten die konkrete psychische Tätigkeit über die aktuelle Einstellung innerhalb eines Verhaltensaktes in angemessener Weise aus. Damit sind fixierte Einstellungen nichts anderes als die grundlegenden psychischen Einheiten für jegliches Verhalten einer Persönlichkeit“ (Vorwerg 1976, S. 10). 2.2 Propositionale Einstellungen Evidenz-Überzeugungen bilden die Grundlage für propositionale Einstellungen, also für bestimmte intentionale Zustände, welche die Beziehung eines Subjekts S zum Gehalt einer Proposition p bestimmen. Der propositionale Gehalt p gilt als die
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Erfüllungsbedingung für den Äußerungsanspruch eines Satzes (vgl. Detel 2007a, S. 71). Verben wie ,behaupten‘, ,glauben‘ und ,wünschen‘ folgt als direktes Objekt ein Nebensatz („dass p“). Dass es sich beim Objekt einer Proposition p um einen realen Sachverhalt handelt, ist aber keineswegs ausgemacht. Verben, die mentale Zustände oder Prozesse bezeichnen (wie: glauben, überzeugt sein, erwarten, bedauern, befürchten, wünschen, dass es schneit), Sprechaktverben (wie: sagen, behaupten, dass die Sonne scheint) und epistemische Verben (wie: wissen, kennen, dass x im Raum y liegt) drücken die subjektive Gerichtetheit auf Sachverhalte aus, deren Existenz unterstellt wird. „S glaubt, dass es regnet“ bedeutet zunächst nicht mehr als ein Verhältnis zwischen der Einstellung des Glaubens oder auch Wünschens bzw. Befürchtens von S und einem geglaubten Sachverhalt, dem kein empirisches Korrelat ,Regen‘ entsprechen muss. Die subjektiven propositionalen Einstellungen haben im Umgang mit (geglaubten etc.) Sachverhalten hohe Freiheitsgrade, und die Propositionen sind (oft) empirisch unterbestimmt. Propositionale Einstellungen infizieren Aussagen „dass p“. Die oben zitierte Aussage, evidenzbasierte Bildungspolitik „zielt darauf, mit Hilfe wissenschaftlicher Verfahren die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist, und nicht, wie mancher sie gerne sehen möchte“ (Meyer-Hesemann 2008), ist vom Wunsch oder Hoffnung des Sprechers infiziert, dass dies so sei – also keineswegs eine Wirklichkeit, „wie sie ist“, sondern wie er „sie gerne sehen möchte“. Diese Paradoxie wird aber durch die Berufung auf Evidenz-Basierung kaschiert. Im Unterschied zur schwachen Form „Ich meine, dass p“ (es könnte auch anders sein) bedeutet das mit direkter Rede verbundene, aber ohne „ich glaube“ ausgesprochene „p“: Es ist so und kann nicht anders sein. Wenn S zu p eine Einstellung der Anerkennung vertritt, dass p wahr ist, dann ist S überzeugt, dass p, und hält seine Überzeugung für gerechtfertigt und deshalb für Wissen. In der Überzeugungs-Einstellung zu p drücken wir eine der bloßen Wahrscheinlichkeit überlegene Gewissheit aus. Diese glauben wir als eine p angemessene Wahrheit haben zu können. „Ich weiß“ bezeichnet eine Relation zwischen mir und etwas, von dem ich annehme, dass es der Fall ist; ich glaube es nicht, wenn ich nicht annehme, dass es der Fall ist. Ich habe Gründe für meinen Glauben, und für „ich weiß“ soll gelten, dass mein „Wissen, dass p“ gerechtfertigt und nicht nur subjektiv wahr ist. Was aber heißt ,ist gerechtfertigt‘? Die Richtigkeit einer Aussage der Form „S weiß, dass p“ setzt – so die realistische Standard-Auffassung – mehr voraus als subjektive Gewissheit. Vorausgesetzt ist, dass (i) S glaubt, dass p, (ii) p wahr ist und (iii) S seinen Glauben, dass p, rechtfertigen kann (vgl. Musgrave 1993, S. 3). Es ist aber höchst fraglich, ob diese Voraussetzungs-Triade überhaupt vollständig erfüllbar ist. Falls ja, wäre von Wissen als gerechtfertigter Überzeugung oder gerechtfertigtem wahren Glauben zu sprechen –
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wenn der Unterschied zwischen Glauben und Wissen eindeutig feststellbar, wenn die Bedeutung von ,wahr‘ geklärt wäre und wenn die Kriterien und Standards von Rechtfertigung unstrittig wären. Dies ist aber keineswegs der Fall. In Theorien über propositionale Einstellungen wird in aller Regel von einem S wie von einem rational denkenden, isolierten Ich in Beziehung zu einem isolierten Sachverhalt gesprochen. Es ist sicher zutreffend: „To believe of oneself as oneself and of the time of belief as the then present time that one is then such-and-such is to believe at that time the first-person present-tense proposition for the property of being such-and-such” (Sosa 1983, S. 323). Aber in das „Ich weiß“ ist nicht nur eine Relation zwischen einem Ich-Subjekt und dem Sachverhalt eingeschrieben, sondern jedes „Ich weiß, dass p“ ist mit anderen Sätzen, einem ganzen Lexikon, einem Habitus und einer Sprache verbunden, in deren Gebrauch sich eine Lebenswelt, eine normative Lebens- und Werteinstellung, eine Wissens- und Handlungskultur sowie soziale Bedürfnisse, Interessen und Praxen spiegeln. Meine Äußerung „Ich weiß, dass“ (knowing that, Überzeugungswissen, faktisches Wissen; vgl. Detel 2007b, S. 48) ist auf komplexe Weise mit meinem Wissen als Kenntnis aus Vertrautheit (knowing by acquaintance) und meinem „Ich weiß, wie“ (knowing how, Regelwissen) vernetzt. Deshalb ist die Epistemologie als Evidenz-Kritik mit grundlegenden Fragen konfrontiert: (i) Unter welchen Bedingungen, nach welchen Maßstäben und in Befolgung welcher Regeln soll eine Meinung, ein Glaube, eine Überzeugung „dass p, ist evident!“ als gerechtfertigt und wahr gelten? (ii) Ist der Unterschied zwischen ,überzeugt sein, dass‘ und ,wissen, dass‘ klar bestimmbar? (iii) Sind sowohl durch self-evidence als auch durch evidence gestützte Sachverhaltsbehauptungen prinzipiell überzeugungsgeladen, kontextabhängig und relativ? Dies sind keine erst heute aufgeworfenen Fragen; sie haben eine Geschichte. 3. Eine kurze Skizze zur Geschichte von ‚Evidenz‘2 3.1 Wissen und Glauben ‚Evidentia‘ wird terminologisch von Cicero als Synonym von ‚perspicuitas‘ (Durchsichtigkeit) eingeführt. Sextus Empiricus verweist am Beispiel der Bewegung auf Vertreter der Auffassung, sinnlich Evidentes müsse als unbestreitbare Tatsache genommen werden: „Diese stützen sich vornehmlich auf die sinnliche Evidenz [...]. Daher antwortete auch einer der Kyniker nichts, als man ihm die Argumentation 2 Vgl. zur Geschichte des Evidenz-Konzepts Halbfass/Held 1972 und Sandkühler 1997.
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gegen die Bewegung vorlegte, sondern stand auf und schritt einher und zeigte damit durch die Tat und durch die Evidenz, daß die Bewegung existiert“ (Sextus Empiricus 1968, III, S. 66). Seit der spätantiken christlichen Aristoteles-Rezeption wird die speculatio im Rahmen der von Boethius so bezeichneten philosophia theologike (der Metaphysik der speculatio mentis divinae) zum Horizont von Evidenz, die nun als – argumentativ gesicherte – Intuition der göttlichen Gegenstände aufgefaßt wird. „Es ist der Lohn der wahren Erkenntnis, daß offenkundig das, was du bisher erörtert hast, sich einmal seiner spekulativen Schau als göttlich, zum anderen durch deine Argumente als unbesiegbar erwiesen hat“ (Boethius 1946, IV, S. 1). In der Scholastik wird für Duns Scotus der Ausdruck ens der allgemeinste und evidenteste (‚simpliter simplex‘), einer Definition nicht bedürfende Begriff, der damit auch ‚primus conceptus distincte conceptibilis‘ ist. Demgegenüber sind sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung (‚Anschauung‘ wird weitgehend als contemplatio gefaßt) im Mittelalter noch selten als Quellen von Evidenz privilegiert. Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist das in der scholastischen Philosophie im Kontext von Evidenz verhandelte zentrale Problem. Für Johannes Scotus Eriugena, der in De divisione naturae bloße Autoritätsbeweise kritisiert, um gegen sie Prinzipien der Rationalität einzufordern, ist Gott der Ursprung des Mannigfaltigen in der Natur; ewige Ideen sind als Urtypen schöpferisch aktiv (primordiales causae); der Allgemeinbegriff (das ‚Sein‘ als oberste Gattung) verbürgt in seiner realen Existenz die ‚realitas‘ des erkannten Einzelnen. Anselm von Canterburys „credo, ut intelligam“ (ich glaube, um zu erkennen; Proslogion Kap. 1) ist der Topos, in dem sich die Idee subjektiver Erkenntnisgewissheit mit der Annahme verbindet, was gedacht werden könne, müsse notwendig auch existieren. Thomas von Aquins Summa Theologiae hat eine Erkenntnislehre in Kritik am arabisch-islamischen Rationalismus (Ibn Rushd) auch mit dem Ziel entwickelt, den Glauben gegen die sich nun geltend machende naturforschende Empirie zu verteidigen. Einerseits erhält das Subjekt eine Zentralstellung in dem erkenntnistheoretischen Hauptsatz, alles, was erfaßt werde, sei auf die Art des Erfassenden erfaßt („quidquid recipitur, recipitur per modum recipientis“); in der Erkenntnis wird der Erkenntnisinhalt dem Objekt ‚ähnlich‘ (similitudo) durch Angleichung (assimilatio) an den Gegenstand; andererseits ist die adaequatio (das In-Übereinstimmung-Bringen des Erkennens mit dem Objekt) nicht durch den handelnden Intellekt selbst verbürgt (hier zeichnet sich strukturell der Typus späterer ‚Abbild‘-Theorien ab), sondern ontologisch durch das Prinzip der Kausalität, nach der es keine Erkenntnis ohne ontische Ursache gibt, und die Letztursache ist Gott als Wirkursache (causa efficiens), Endzweck (causa finalis) und reiner Akt (actus purus); die Möglichkeit der Erkenntnis des Existierenden ergibt sich
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aus der die Dinge bestimmenden essentia, dem Wesen, das Teilhabe am göttlichen Wesen ist. Für die nicht metaphysisch-realistisch orientierten Entwicklungen in der neuzeitlichen Philosophie ist der Nominalismus wegweisend geworden. Mit Duns Scotus’ Kritik am Aquinaten, der rigiden Trennung von Glauben und Wissen, der Betonung des mathematischen Erkenntnisideals und der Akzentuierung des Sprach- und Bedeutungsproblems scheinen bereits Prinzipien des späteren Empirismus auf. Die entscheidende Weichenstellung in Richtung einer Wiedereroberung des Terrains der Wissenschaft durch philosophische Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie leistet W. Ockham. Mit dem Ziel einer radikalen Trennung von Glauben und Wissen (und der politischen Konsequenz der Trennung von Kirche und Staat) beantwortet Ockham die Frage des Universalienstreits, ob die Allgemeinbegriffe selbständig neben den Dingen existieren, ob sie Abstraktionen von den Dingen sind oder nur Zeichen der Synthesis von Einzeldingen, strikt nominalistisch: Universalien sind sprachliche Zeichen, konstituiert durch Abstraktion; sie sind Symbole für die durch Erkenntnis erreichte Synthesis von Einzeldingen, und diese sind der erste Gegenstand der Erkenntnis. In der Untersuchung der Einheit der Naturerscheinungen verlieren die Annahmen Gottes als erster Ursache (causa essendi) und abgetrennter Substanzen außerhalb der Gegenstände der Natur ihre Berechtigung. Folgerichtig bestimmt Ockham Zeichen, Worte und Sätze als die eigentlichen Inhalte der Erkenntnis, so daß der Logik Vorrang vor der Ontologie und der Evidenz analytischer Urteile Vorrang vor metaphysischer Evidenz zukommt. „Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, daß kein Universale eine extramentale Substanz ist (substantia extra animam existens). [...] Kein Universale ist eine Einzelsubstanz (substantia singularis) und der Zahl nach eins. [...] Keine Einzelsubstanz ist irgendein Universale, sondern jede Substanz ist der Zahl nach eine und eine Einzelsubstanz, weil jede Substanz entweder ein Ding ist und nicht viele oder mehrere Dinge.“ (Ockham 1984, S. 67f.) 3.2 ‚Lumen naturale‘ und ‚lumen experientiae‘ In der Renaissance ist das Wissen des Seienden nicht mehr in der Art der scholastischen Metaphysik selbstverständlich; weil Seiendes nur durch die Aktivität der Erkenntnis auf zugrundeliegendes Sein rückbezogen werden kann, wird das Gewusste frag-würdig und zur Provokation für ein Selbstbewusstsein, das sich zunächst der Gründe, Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis vergewissern muss, um Aussagen über Sein und Seiendes und über die epistemische Beziehung zwischen äußerer und innerer Welt für gerechtfertigt halten zu können. In dem von der Mitte des 14.
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bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts währenden Prozess des Funktionswandels der Philosophie vom Mittel der Rechtfertigung der Evidenz des Glaubens hin zur ‚Wissenschaft‘ sind die Weichen für den entscheidenden Übergang zu Naturphilosophie und Naturwissenschaft um 1600 gestellt. Erkenntnis ist weder ‚Teilhabe‘ am göttlichen Licht noch von einem ‚Wesen‘ garantierte Übereinstimmung des Begriffs mit dem Sachverhalt noch erschöpft sie sich in der Rechtfertigung des glaubend Gewussten. Das neue Verständnis von Erkenntnis gründet im Bewusstsein der Unverzichtbarkeit einer analytisch-synthetischen Methode und methodologischer Reflexion; in Empirisierung und Verwissenschaftlichung der Erkenntnis wandelt sich die argumentierende Logik der imitatio zur Logik der inventio, der Entdeckung durch Forschung; die hervorragende Rolle der Methode als ars inveniendi (Kunstfertigkeit des Entdeckens) ergibt sich aus dem Übergang von der spekulativen metaphysischen Konstruktion der Wirklichkeit zu einer Empirie, die nicht – wie der häufig pejorative Wortgebrauch von ‚Empirismus‘ unterstellt – in spontaner Wahrnehmung und Erfahrung besteht, sondern der Anleitung eines methodisch kalkulierenden – und zunehmend mathematisch definierten – Verstandes bedarf. Im naturwissenschaftlichen Denken, vor allem im Experiment, entfaltet sich in der Moderne die Abkehr vom Reich der Offenbarung und von autoritätengebundener Hermeneutik als Hinwendung zum Reich der Natur und zum beobachtenden Selbstdenken und zu mathematischer Vermessung und Konstruktion der Welt. Nichts mehr kann Gegenstand des Verstandes sein, was nicht zuvor Objekt sinnlicher Wahrnehmung und experimenteller, mathematisch beschreibbarer Verfahren war. Galilei betont, „daß die natürlichen Wirkungen, die uns durch die Erfahrung der Sinne vor Augen geführt werden oder die wir durch zwingende Beweise erkennen, keinesfalls in Zweifel gezogen werden dürfen durch Stellen der Schrift, deren Worte scheinbar einen anderen Sinn haben, weil nicht jeder Ausspruch der Schrift an so strenge Regeln gebunden ist wie eine jede Wirkung der Natur“ (Galilei 1987, 1, S. 170). Der Weg in die Neuzeit der Wissenschaft beginnt mit dem Satz Galileis: „Die Philosophie ist in dem größten Buch geschrieben, das unseren Blicken vor allem offensteht – ich meine das Weltall –, aber das kann man nicht verstehen, wenn man nicht zuerst seine Sprache verstehen lernt und die Buchstaben kennt, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne diese Mittel ist es den Menschen unmöglich, ein Wort zu verstehen, irrt man in einem dunklen Labyrinth umher“ (ebd., S. 275). An die Stelle des Vertrauens darauf, es gebe Evidenz vermittels des lumen naturale der Vernunft, tritt die kritische Einsicht, „der Weg [müsse] bei dem unzuverlässigen, bald aufleuchtenden und bald verschwindenden Lichte der Sinne fortwährend
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durch das Dickicht von Erfahrungen und einzelnen Dingen gebahnt werden“ (Bacon 1990, S. 25). Das „lumen experientiae“ und die ‚Naturgeschichte‘ spenden nun „das Licht für die Entdeckung der Ursachen“ (ebd., S. 55), und Klarheit der Erkenntnis ist ohne eine Kritik der Vorurteile (idola) nicht mehr denkbar. Wegweisend für jede spätere, vor allem für Humes und Kants Evidenz-Kritik ist, dass bei Bacon die antispekulative Forderung, den ‚Tatsachen‘ ihr Recht zu geben, koexistiert mit dem methodologischen Zweifel, der aus der Einsicht in die intellektuelle Zurichtung der ‚Tatsachen‘ entsteht: „Der menschliche Verstand gleicht ja einem Spiegel, der die strahlenden Dinge nicht aus ebener Fläche zurückwirft, sondern seine Natur mit der Natur der Dinge vermischt, sie entstellt und schändet“ (ebd., S. 101). Wenn Mathematik Wahrnehmung und Erfahrung zu ordnen fähig ist und das methodisch geleitete Experiment an die Stelle der Grundlegung des Wissens durch metaphysische Spekulation tritt, muss die Idee der durch Teilhabe am Göttlichen verbürgten Evidenzen durch andere, möglichst gleichwertige Prinzipien der Evidenz ersetzt werden. Descartes fordert, „niemals etwas als wahr anzunehmen, was ich nicht klar (évidemment) als solches erkannte, d. h., alle Überstürzung und alle Vorurteile aufs sorgfältigste zu vermeiden und nichts mehr in meine Urteile aufzunehmen, als was sich so klar und so distinkt meinem Geist darbieten würde, daß ich keine Veranlassung haben würde, es in Zweifel zu ziehen“ (Descartes 1980, S. 20). Er führt ein, was von nun an Gegenstand der philosophischen Kontroverse sein wird: Von den Ideen „sind die einen mir eingeboren, andere von außen hinzugekommen, wieder andere von mir selbst gemacht“ (Descartes 1965, S. 30); die nichtempirischen Erkenntnisse der Mathematik sind „aus gewissen, mir eingeborenen Begriffen gebildet“. Descartes läßt den Begründungs-Regreß bei einer ersten Idee enden, „deren Ursache gleichsam das Urbild darstellt“ (ebd., S. 32ff.) – Gott, der, weil er gewiss denkbar ist, auch existiert: „da ich ja erstlich weiß, daß alles, was ich klar und deutlich denke, in der Weise von Gott geschaffen werden kann, wie ich es denke, so genügt es für mich, ein Ding ohne ein anderes klar und deutlich denken zu können, um mir die Gewißheit zu geben, daß das eine vom andren verschieden ist, da wenigstens Gott es getrennt setzen kann“ (ebd., S. 67). Ob aber Evidenz überhaupt ein Wahrheitskriterium biete, war bereits in dieser Zeit umstritten; für B. Pascal war es gerade die Vernunft, die es als evident erscheinen lasse, dass auch evidenten Sätzen nicht zu glauben sei. Nach Descartes werden die Prinzipien der Subjektivität der Evidenz-Erkenntnis und der Konstitution der Wirklichkeit durch das Wissen in der Regel nur noch dann angegriffen, wenn Evidenz als ontisch verbürgt behauptet wird.
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3.3 To enquire what is the nature of evidence Für die Moderne besonders folgenreich ist der Sprachgebrauch von ‚Evidenz‘, wie ihn D. Hume in An Enquiry concerning Human Understanding (1758) bestimmt. Er hält es nicht mehr für denkbar, „to enquire what is the nature of that evidence which assures us of any real existence and matter of fact, beyond the present testimony of our senses, or the records of our memory“ (Hume 1999, S. 108). Deshalb erläutert er als sein Ziel: „Die einzige Methode, die Wissenschaft mit einem Male von diesen verworrenen Fragen [der alten Metaphysik] zu befreien, ist eine ernsthafte Untersuchung der Natur des menschlichen Verstandes und der aus der exakten Analyse seiner Kräfte und seines Vermögens gewonnene Nachweis, daß er in keiner Weise für solche entlegenen und dunklen Aufgaben geeignet ist“ (Hume 1982, S. 25). Seine These lautet, dass die „ganze schöpferische Kraft des Geistes nur in dem Vermögen besteht, das uns durch die Sinne und Erfahrung gegebene Material zu verbinden, zu transponieren, zu vermehren oder zu verringern“ (ebd., S. 32f.). Es interessieren ihn nicht in erster Linie die aus „Relations of Ideas“ zu gewinnenden intuitiven oder demonstrativen Evidenzen der Mathematik, deren Sätze sich durch „bloße Denktätigkeit entdecken“ lassen, „unabhängig davon, ob irgendwo im Weltall etwas existiert“. Was ihn interessiert, sind die „Tatsachen (Matters of Fact)“, für die es keine Evidenz gibt, sondern nur die problematische Beziehung zwischen singulärem Sinnesdatum und der Idee der Gesetzmäßigkeit und Kausalität als ‚Vernunfterwägung‘. Seine Schlußfolgerung schränkt den Geltungsanspruch der aus Empirie gewonnenen Erfahrungssätze auf ‚Wahrscheinlichkeit‘ ein. Das von Hume gewählte Beispiel ist zu einem Topos moderner induktionskritischer Erkenntnisund Wissenschaftstheorie geworden: „Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder einsichtiger Satz als die Behauptung, daß sie aufgehen wird“ (ebd., S. 41). Humes Evidenz-Kritik wurde wegweisend. Ihre größte Wirkung hat sie in der Kritik Kants entfaltet. Seine Kritik der reinen Vernunft (1787/1983) richtet sich gegen das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft ohne vorangehende Kritik ihres Vermögens (vgl. KrV B XXXV). Unter Berücksichtigung der „Unterschiede in Ansehung der Evidenz“ ergibt sich eine Hierarchie der „Grundsätze des reinen Verstandes“: „1. Axiome der Anschauung 2. Antizipationen der Wahrnehmung 3. Analogien der Erfahrung 4. Postulate des empirischen Denkens überhaupt“ (KrV B 200). Weil realistische Abbild-Theorien zur Kritik der Erkenntnis nichts beigetragen haben, fordert Kant auf zu prüfen, „ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“ (KrV B XVI). Die „veränderte Methode der Denkungsart“ nimmt an, dass wir „von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst
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in sie legen“ (KrV B XVIII). Diese Kopernikanische Wende ist nicht von der Metaphysik ausgegangen, sondern – Kant hebt Galilei hervor – von den „Naturforschern“: „Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse“ (KrV B XIII). So kann es nicht verwundern, dass Kant in seiner Transzendentalen Methodenlehre (vgl. KrV B 741ff.) den Evidenz-Begriff (Evidenz ist „anschauende Gewissheit“) den „intuitiven“ Axiomen und den Beweisen der Mathematik zuschreibt, während aus diskursiven Erkenntnissen Evidenz nicht entspringen kann. 3.4 Induktion und Interpretation Zu den Legenden der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte gehört die Annahme, die positiven Wissenschaften hätten mit ihrer Kritik spekulativer Philosophie auch die seit Hume und vor allem mit Kant bedeutend gewordene philosophische Kritik der Erfahrung ad acta gelegt. Der für kurze Zeit in den 1830er Jahren in empirischen Wissenschaften triumphierende common sense, dem zufolge Evidenzen aus ‚sicheren Tatsachen‘ gewonnen werden können, sieht sich bald mit der Aufgabe konfrontiert, den Status von Tatsachen zu erklären. Sie werden innerhalb der Wissenschaften fragwürdig. Man begreift: Es gibt keine Empirie ohne ihr vorausgehende Theorie. Zur wichtigsten Form der vehement einsetzenden Selbstkritik des Empirismus wird die Logik der induktiven Wissenschaften. W. Whewell versteht in seiner History of the Inductive Sciences (1837) unter ‚induction‘ den „process of collecting general truths from the examination of particular facts“. Ins Zentrum des Interesses rückt aber die Problematik von „Facts and Ideas“. Auch Verteidiger von Induktion und Empirie müssen einräumen: „Sense and Reason. Neither of these elements, by itself, can constitute substantial general knowledge“. ‚Facts‘ sind immer „facts to reason upon“ (Whewell 1967, S. 5f.). Es zeichnet sich eine interpretationstheoretische Wende ab: „Nature is the Book, and Man is the Interpreter“. „Signs and Meaning are Ideas, supplied by the mind, and added to all [...] sensations [...]. The Sciences are not figurativly, but really, Interpretations of Nature.“ (ebd., S. 37f.) Das Fazit: „experience cannot establish any universal or necessary truths“ (ebd., S. 245). Kaum anders stellt sich die Problemlage in Mills Methodologie der Experimentalforschung in A System of Logic dar, in der es um die ‚Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation‘ geht: Wie ist „Verallgemeinerung aus der Erfahrung“ (Mill 1968, III, S. 358f.) möglich? Auch Mill weiß: „was man für ein Ergebniß der Beobachtung hält, ist gewöhnlich ein Gemenge, welches ein Zehntheil
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Beobachtung und neun Zehntheile Folgerungen enthalten mag“ (ebd., IV, S. 2). Man muss sich dem Problem der „abstrakten Ideen“ zuwenden, denn Induktion kann „ohne allgemeine Vorstellungen nicht von Statten gehen“: „aller Beweis und alle Entdeckung von Wahrheiten“ entspringt aus Induktion – und zugleich „aus der Auslegung von Inductionen“ (ebd., II, S. 331). 3.5 Zweifelhafte Gewissheit Der Logische Empirismus des Wiener Kreises und die aus ihm hervorgehenden Strömungen der Analytischen Philosophie haben die Idee der Evidenz weitgehend durch ihre Programme empirischer Bestätigung abgelöst. Gehören Evidenz-Erlebnisse auch zur Alltagserfahrung, können sie doch Theorien nicht begründen, weil es über ihre intersubjektive Allgemeinheit und Notwendigkeit keinen Konsens geben kann. Für „jeden Einzelnen“, betont R. von Mises (1939, S. 209), hängt „von seinem Bildungsgang, von unbewusst aufgespeicherten Erfahrungen usf. der Umfang dessen ab, was ihm als evident sich darbietet“. In seinen späten Aufzeichnungen Über Gewißheit hat L. Wittgenstein im Kontext seiner Annahme, dass die elementaren Sprachspiele im Lebensvollzug keine erzeugten oder gewählten Konstrukte sind – sie sind vielmehr derart mit den Lebensformen und deren alternativloser Gegebenheit verknüpft, dass von einem Naturgesetz des ‚Fürwahrhaltens‘ gesprochen werden müsse – notiert: „Der Unterschied des Begriffs ‚wissen‘ vom Begriff ‚sicher sein‘ ist gar nicht von großer Wichtigkeit, außer da, wo ‚Ich weiß‘ heißen soll: Ich kann mich nicht irren. [...] ‚Ich weiß...‘ scheint einen Tatbestand zu beschreiben, der das Gewußte als Tatsache verbürgt. Man vergißt eben immer den Ausdruck ‚Ich glaubte, ich wüßte es‘“ (Wittgenstein 1989, S. 120f.) Damit kann ontisch verbürgte Evidenz nicht mehr zusammengedacht werden: „Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserm Bezugssystem“ (ebd., S. 136). Diese Evidenz-Skepsis ist ein wesentliches Moment des ‚neuen wissenschaftlichen Geistes‘, vorbereitet seit H. von Helmholtz, durchgesetzt seit der wissenschaftlichen Revolution der Relativitätstheorie. Was unterschiedliche Begründungen der EvidenzSkepsis in Wissenschaften und Philosophie verbindet, ist die Inversion von Ontologie und Epistemologie und damit – so der Begründer der Épistémologie, G. Bachelard – die Absage an den „philosophe chosiste“ (den ‚Ding-gläubigen Philosophen‘); der Reismus (‚chosisme‘) ist nicht mehr „geeignet für eine Beschreibung der Phänomene moderner Naturwissenschaft“ (Bachelard 1951, S. 86; Übersetzung H.J.S.), denn wir haben, der „zeitgenössischen Physik folgend, die Natur verlassen, um einzutreten in eine Fabrik der Erscheinungen“ (ebd., S. 10). Die spontanen Evidenzen des Alltagsver-
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standes liefern uns – wie jeder naive Empirismus – „der Sklaverei unserer ersten Intuitionen“ (ebd., S. 86) aus; die vermeintlichen Evidenzen sind ‚Hindernis-Begriffe’ (‚notions-obstacles‘); sie führen zum Tod des Fragens und der wissenschaftlichen Neugierde (vgl. ebd.). 4. Epistemologische Grundlagen der Evidenz-Kritik 4.1 Wissenskulturelle Kontexte Etwas von der Welt wissen kann nicht bedeuten, einen Gegenstand, ein Ereignis, eine Tatsache in der Weise zu wissen, wie sie der Alltagsverstand spontan als ‚evident‘ unterstellt – in der Weise, wie fraglos hingenommene Gegenstände, Ereignisse und Tatsachen nun einmal sind. Die Welt, wie wir sie wissen, ist von Subjektivität geprägt. Die Namen und Bedeutungen von ,Realität‘ entstehen in Transformationen in die uns erscheinende Wirklichkeit – in Kulturen, in Zeichen und Symbolen, in denen Menschen ihre jeweiligen Welten entsprechend ihren Selbstbegriffen interpretieren und verstehen. Was meinen wir, wenn wir sagen, wir hätten etwas erkannt und wüssten es? Von Gewissheit sprechen wir, wenn wir von der Wahrheit des Erkannten überzeugt sind. Wie aber sprechen wir sinnvoll von Wahrheit, wenn wir der Annahme einer durch das Sein selbst garantierten Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Aussage kein Vertrauen mehr schenken? Die moderne Kritik der Möglichkeitsbedingungen von Wissen hat zur Einsicht geführt, dass Aussagen keine Kopien des zu Erkennenden sind, sondern mit Voraussetzungen geladene Artefakte:3 geladen mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und Interessen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens. Die gängige Standarddefinition von ,Wissen‘ lautet: Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung (justified true belief). Statt von Definition ist eher von Problem und Forschungsprogramm zu sprechen. Bevor wir nicht wissen, was Überzeugungen sind, wie die Wahrheit von Überzeugungen bestimmt werden kann und was die Mittel und Wege der Rechtfertigung sind, kann von einer Aufklärung über Wissen kaum gesprochen werden. 3 Ich argumentiere hier nicht in der Perspektive des ‚radikalen Konstruktivismus‘, sondern in einer um die Dimension ‚Wissenskulturen‘ erweiterten kantischen Perspektive der Wissens-Kritik. Die Adressaten meiner Kritik sind der metaphysische (ontologische und epistemologische) Realismus und das in empirischen Wissenschaften oft unterstellte empirizistische Empirie-Konzept, das von der Induktionskritik des 18. bis 20. Jahrhunderts unberührt ist (s.o., Abschnitt 3.3 bis 3.5).
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Der philosophische und wissenschaftliche Streit geht genau darum: Das erkennende Subjekt S1 wählt eine bestimmte Alltagsanschauung der Welt und in Philosophie und Wissenschaft ein bestimmtes ‚epistemologisches Profil‘ (G. Bachelard); es trifft die Wahl, Realist, Idealist, Naturalist etc. zu sein; S2 wählt eine andere Weltsicht, ein anderes Profil, S3 ein bestimmtes Begriffsschema, S4 eine bestimmte Rahmentheorie, S5 eine bestimmte Methodologie. Jede Wahl hat Kontexte: Traditionen, Kulturen, Lebensbedingungen, arbeitsteilige Spezialisierungen, Opportunitäten etc.; sie ist nicht un-bedingt frei. Jede Wahl hat Folgen. Der metaphysische Realist, der von einem direkten Bezug der Aussage zu Gegenständen, Ereignissen etc. ausgeht, kommt zu einem anderen Ergebnis als der interne Realist, der die Abhängigkeit seines Denkens und seiner Aussagen von einem semantischen und semiotischen Netzwerk, von einem Zeichen- und Beschreibungssystem, einräumt. Der interne Realist, für den das Wissen nicht unabhängig von Kontexten ist, ist davon überzeugt, mit dem faktischen Pluralismus der Erkenntnis- und Wissensformen und der Evidenzen sowie mit der Vielfalt der Theorien leben zu müssen und leben zu können. Was ist die Matrix von Wissen, wenn es als justified true belief bestimmt werden soll? Wissen, dass p ist kontextuell. Hierin gründet die Schwierigkeit einer Rechtfertigung des Wissens als wahr, die mehr sein soll als die Anerkennung, es sei wahr, denn Wissens-, Wahrheits- und vor allem Überzeugungskontexte sind „referentiell undurchsichtig“ (Kripke 2004, S. 117). Was behauptet ein Kontextualist? Zunächst nicht mehr als dies: „(1) Die Standards der Begründung, die bestimmen, was als gute Evidenzen oder Gründe für eine Meinung zählt, sind kontextabhängig, d. h. sie sind je nach historischen, kulturellen [...] oder wissenschaftlichen Bedingungen verschieden. (2) Insbesondere ist auch das, was jeweils als Fundament des Wissens zählt, kontextabhängig: es gibt kein universell charakterisierbares Fundament des Wissens. (3) Das Wissen, dass p der Fall ist, erfordert nicht den Ausschluss aller, sondern nur der relevanten Möglichkeiten, dass nicht-p der Fall sein könnte; diese relevanten Möglichkeiten können meist tatsächlich ausgeschlossen werden, aber welche Möglichkeiten relevant und irrelevant sind, ist kontextabhängig“ (Detel 2007b, S. 72). Alle Aussagen über die Wirklichkeit sind mit kontextuellen Begriffen, Bedeutungen und Theorien geladen. Was mit einem Satz gesagt wird, ist durch den Bedeutungsgehalt der Wörter bzw. Namen und dadurch bestimmt, wie diese kombiniert werden (semantische Kompositionalität); dies gilt für natürliche und für optionale Sprachen, auch z. B. für die Fachsprachen der Erziehungswissenschaft. Die Wahrheit, die wir unserem in Sätzen ausgedrückten Wissen zuschreiben, ist relativ, und dies bedeutet: Sie steht in Relation zu wissenskulturellen Kontexten.
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Um „Ich bin davon überzeugt“ in „Ich weiß“ übersetzen zu können, muss ich meine Überzeugung rechtfertigen. Dies ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn Rechtfertigung folgt nicht dem Diktat der Dinge, sondern einer Wahl: Das erkennende Subjekt steht vor der Wahl eines bestimmten epistemologischen Profils; es kann Realist, Idealist, Naturalist, sein. Jede Wahl hat Folgen für die Überzeugungsrechtfertigung. Vor die Wahl gestellt sind wir, weil die Welt der Dinge uns kein bestimmtes Wissen oktroyiert. Es gibt keine bedeutungsvollen Nachrichten eines Absenders mit dem Namen ,Realität‘, die uns als Adressaten zukommen. Wir selbst sind die Autoren der Bücher der Natur und der Geschichte, in denen der Realität Bedeutungen für Lebenswelten zugeschrieben werden. Die Subjektivitäts- und Relativitätslasten dieser Position sind offensichtlich und für die Praxis der Wissenschaften unbequem. Ist Relativismus angesichts der Vielfalt von Wahlmöglichkeiten unausweichlich? Die Welt bleibt die Welt. Nur ist keine Weltsicht durch Wahrheits- und Gültigkeitsbedingungen aus einem einzigen ausgezeichneten Seinsgrund privilegiert. Die Relationalität aller mit „Ich weiß“ beginnenden Sätze ist nicht zu umgehen. Als Ausweg aus dem mit dem Pluralismus drohenden Relativismus bietet sich eine Prozeduralisierung der Wissensrechtfertigung an – in Analogie zu den Verfahren, mit denen im Prozessrecht die Bildung der ‚freien richterlichen Überzeugung‘, der letzten Urteilsgrundlage, streng geregelt ist (vgl. hierzu Sandkühler 2009, S. 130-156). Die Analogie hat allerdings Grenzen: Revisionsinstanzen wie im Rechtssystem, in dem ein Urteil wegen regelwidriger Überzeugungsbildung aufgehoben wird, gibt es in der Epistemologie nicht. Aber wir können in Philosophie und Wissenschaft Regeln befolgen, nicht nur die der Logik. Zu den Verfahren, die ich vorschlage, gehört, im Interesse der Durchsichtigkeit und Wahrhaftigkeit des Argumentierens die Karten offen zu legen, mit denen man spielt: Die Argumente, für die Geltung beansprucht wird, sind zu datieren und mit der eigenen Unterschrift zu versehen. Die Regel lautet: Signaturen sollen auf die bei Wissensansprüchen geltend gemachten Präsuppositionen, Prämissen und Kontextbedingungen verweisen. Wer Evidentes in „Ich weiß“-Aussagen für sich in Anspruch nimmt, soll dessen Herkunft benennen: Ich komme zu Evidenz in der Wissenskultur WK im Überzeugungssystem Ü unter bestimmten epistemischen Bedingungen eB in einer bestimmten Sprache S. Wissenskulturen sind Ensembles epistemischer und praktischer Kontexte, die bei der Entstehung und in der Dynamik von Wissen wirksam sind und Ansprüche auf die Geltung von Evidenzen und Standards der Rechtfertigung von Wissen bestimmen. In Wissenskulturen eingeschlossen sind ein bestimmter epistemischer Habitus, bestimmte Evidenzen, Perspektiven und weltbildabhängige Präsuppositionen, bestimmte Überzeugungen, eigensinnige sprachliche, semiotische und semantische
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Üblichkeiten, besondere Auffassungen zu möglichen epistemischen Zielsetzungen, Fragen und Problemlösungen, kulturspezifische Praktiken und Techniken und in diesem Kontext anerkannte Werte, Normen und Regeln. 4.2 Evidenzen sind Überzeugungen Weil ‚Evidenz‘ und ‚self-evidence‘ Ausdrücke für das vermeintlich keiner Rechtfertigung bedürfende ‚Offensichtliche‘ sind und verbergen, was ihren Kern ausmacht – Überzeugungen zu sein –, ist Evidenz-Kritik notwendig. Dies gilt auch für die Unterstellungen, die der scheinbar ganz anders geartete Ausdruck ‚evidence-based‘ verbirgt: Auf Experiment und Empirie abzielend, scheint er sich von der Bedeutung ‚das Offensichtliche‘ grundlegend dadurch zu unterscheiden, dass ‚evidence‘ sich nicht einstellt, sondern hergestellt werden soll. Übersehen wird, dass auch für ‚evidence-based‘ Evidenzen im Sinne des ‚sich selbst zeigenden Lichts‘ unterstellt sind: Empirie – so die Präsupposition – erlaubt direkten Bezug (Referenz) auf die Realität, Empirie führt zu unleugbaren Tatsachen. Dass es keine Empirie gibt, die nicht theoriegeladen ist, und dass ‚Tatsachen‘ Interpretations-Artefakte sind, wird nicht gesehen. Die Forderung, etwas müsse ‚evidence-based‘ sein, gründet in starken Überzeugungen. Die Überzeugungen, die hier interessieren, sind eine Form von lebensweltlichen Einstellungen zu Sachverhalten in wissenskulturellen und praktisch-sozialen Kontexten. Überzeugungen fallen uns nicht etwa zu, weil ‚die Dinge‘ danach verlangten. Sie haben Gründe in menschlicher Aktivität, in Bedürfnissen und in Interessen im kognitiven und praktischen Umgehen mit der Welt. Überzeugungen sind konstitutiv für alle kognitiven, epistemischen und technischen – z. B. experimentellen – Weisen der Welterzeugung und für Evidenz-Unterstellungen. Überzeugungen sind subjektive Einstellungen von Individuen in transindividuellen Kontexten. Um intersubjektiv verstehbar oder akzeptierbar zu sein, müssen sich Überzeugungen mit gewöhnlichen Einstellungen kleinerer oder größerer sozialer Gruppen verbinden lassen. Der Großteil individueller Überzeugungen teilt seine Evidenzen mit dem in bestimmten Gruppen herrschenden common sense. Common sense ist die Art der (Re-)Präsentation von Wirklichkeit, „die beansprucht, die richtige zu sein“ (Geertz 1983, S. 275). Der common sense präsentiert die Dinge, die ihn interessieren, „so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge“ (ebd., S. 277). Für denjenigen, der habitualisierte Überzeugungen hat, gelten sie in der Regel vom Zeitpunkt abgeschlossener Überzeugungsbildung an als unproblematisch: „Es ist so und kann anders nicht sein.“ Das Haben einer Überzeugung und von Evidenzen immunisiert gegen Skepsis und Kritik. Deshalb hat G. Bachelard in
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La formation de l´esprit scientifique (1938) für eine ,Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis‘ plädiert: Das Haben von Objektivität und Wahrheit (vgl. Bachelard 1984, S. 202) sowie die „Besitzerfreuden und objektiven Gewißheiten“ (ebd., S. 211) sind einer Analyse und Kritik zu unterziehen. Die Beziehungen zwischen Überzeugungen als Verhaltensgewohnheiten, Wahrheitsansprüchen, Wissen und Handlungen standen im Zentrum des Interesses von Vertretern des Pragmatismus, so auch von William James’ „noetischem Pluralismus“ (James 2001, S. 116) Überzeugungen werden zwar „durch Tatsachen bestimmt, veranlassen zu Handlungen, welche neue Tatsachen kreieren, welche erneut unsere Überzeugungen bestimmen“ (ebd., S. 144). Aber die Tatsachen sind durch Begriffe als ,Denkmittel‘ und ,Werkzeuge‘ bearbeitet (vgl. ebd., S. 119). Deshalb ist die Wahrheit, die wir für unsere Sätze über Tatsachen beanspruchen, eine Funktion der Überzeugungen (vgl. ebd., S. 144). Es ist nicht möglich, das „Wirkliche von den menschlichen Anteilen im Prozeß unserer kognitiven Erfahrung zu trennen“ (ebd., S. 158). In den Überzeugungen tritt die Realität als unabhängig auf, „als etwas, das gefunden und nicht hergestellt wird“ (ebd., S. 154). Doch dies ist nur ein Auftritt auf der Bühne des Wissens. Wo wir einer ,originalen Wirklichkeit‘ zu begegnen glauben, „handelt es sich bereits um eine Fälschung“ (ebd., S. 157). Wir veranlassen den Auftritt der Realität in einer kognitiv geformten phänomenalen Welt, indem wir sowohl den Subjekten als auch den Prädikaten der Wirklichkeit etwas hinzufügen; wir erzeugen Wahrheiten, die in dieser Welt gelten (vgl. ebd., S. 161). James bilanziert: „Was wir über die Wirklichkeit aussagen, hängt also von der Perspektive ab, aus der wir sie betrachten. Daß die Wirklichkeit existiert, können wir nicht beeinflussen, aber was sie ist, beruht auf einer Auswahl; und diese Auswahl treffen wir. Sowohl der wahrnehmbare Bereich der Wirklichkeit als auch der Bereich der Beziehungen sind stumm: Sie sagen uns absolut nichts über sich. Wir sind es, die für sie sprechen müssen“ (ebd., S. 155).4 Für die epistemologische Analyse der Möglichkeitsbedingungen von Evidenzen und für eine normative Theorie der Überzeugungs- und Wissensbegründung bzw. Überzeugungs- und Wissensrevision ist eine Phänomenologie der Überzeugungen von Interesse. Tatsachen-Überzeugungen über Alltagswahrnehmungen des Nahen („dies ist Haus Nr. 15“) haben nicht den gleichen Status wie Basisüberzeugungen („die Außenwelt existiert unabhängig vom Bewusstsein und ist erkennbar“) oder moralische Überzeugungen großer Reichweite („die Menschenrechte gelten universal“) oder Metaüberzeugungen, d. h. Überzeugungen über Überzeugungen, etwa über den moralischen Wert oder die epistemische Begründetheit einer Überzeugung. 4 Zu den epistemologischen Prämissen und demokratietheoretischen Konsequenzen des Pragmatismus J. Deweys und zur Kritik an ‚evidence-based‘-Forderungen vgl. G. Biestas Beitrag in diesem Band.
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Überzeugungen können je nach Bedeutung für die Lebensführung flüchtig, relativ stabil oder in langen Lebensphasen konstant sein. Weltbildartige Grundüberzeugungen haben den Status von Axiomen; sie sind, so der Schein, selbstrechtfertigend. Sie bilden die Grundlage der Rechtfertigung weiterer Überzeugungen, vor allem in Verbindung mit der überzeugungsgestützten Abgrenzung von Überzeugungen Dritter bzw. mit deren Kritik und Ablehnung. Kohärenz – ja selbst Konsistenz – gibt es im Gesamt von Überzeugungen nur begrenzt. Trotz der Überzeugungen innewohnenden Tendenz zur Kohärenzbildung können miteinander unverträgliche Elemente koexistieren. Versuche, im Interesse der Sicherung personaler Identität einzelne neue oder revidierte Überzeugungen in das Überzeugungssystem zu integrieren oder das System selbst einzelnen Veränderungen anzupassen, können scheitern. Überzeugungen können als Denk- und Verhaltensgewohnheiten für Revisionen offen sein, müssen es aber nicht. Sie können kollektive und individuelle soziale und/oder epistemische Krisen überstehen und unter veränderten Rahmenbedingungen stabil bleiben, oder aber instabil werden, weil sie sich als Mittel der Orientierung und Lebensführung nicht bewährt haben oder vom common sense einer Überzeugungsgemeinschaft nicht mehr geteilt werden. ,Verhaltensgewohnheiten‘ sind ein für das Verständnis der Funktion von Überzeugungen und Evidenzen wichtiges Stichwort: Eine Überzeugung bzw. eine Evidenz ist, solange sie aufrecht erhalten wird, eine Gewohnheit, die nicht – zumindest nicht in erster Linie – an Wahrheitskriterien und/oder Moralitätskriterien gemessen wird. In einem von G. Ch. Lichtenbergs Aphorismen heißt es bereits, es sei „in vielen Dingen eine schlimme Sache um die Gewohnheit, sie macht daß man Unrecht für Recht, und Irrthum für Wahrheit hält“ (Lichtenberg 1902-1908, Bd. V, S. 103). Für gewohnte Überzeugungen gibt es keinen ,Gerichtshof der Vernunft‘ (Kant). Denkgewohnheiten, bis hin zu Aufklärungsverweigerung und Vorurteilen, stiften durch Stereotypen und Routine Selbst-Identität, Konformität mit Überzeugungsgemeinschaften und Voraussetzungen für die Identifizierung des Anderen und Fremden. Die Bedeutung von Evidenz-Gewohnheiten ist mit EnergieEinsparungseffekten vergleichbar: Sie ökonomisieren den Aufwand an Spontaneität, Reflexivität und Selbstkritik bzw. Kritik bei Einstellungen und Handlungserfordernissen. Gewohnheiten sind lebenserleichternd, weil sie Anforderungen nach Handlungs- und Wissensrechtfertigung minimieren. Man lässt sich von ihnen ,führen‘. Während Beobachtungsüberzeugungen, auf einzelne Phänomene bzw. Phänomenbereiche bezogen, wenig an Folgelasten mit sich bringen, haben Grundüberzeugungen eine viel weitergehende Funktion. Sie ziehen Folgeüberzeugungen mit domänenübergreifender Tendenz nach sich. Dies gilt nicht nur für religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugungen, sondern auch für die empirischen Wis-
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senschaften, deren Anspruch auf Exaktheit und Objektivität den Faktor ‚Überzeugung‘ de facto nicht eliminiert. Das mit Überzeugungen bzw. Evidenzen und ihrer Rechtfertigung verknüpfte epistemologische Problem besteht nicht darin, dass das Erkennen ,eigentlich’ darauf gerichtet wäre, die Realität als solche zu repräsentieren. Es besteht nicht darin, dass Überzeugungen korrekte Repräsentation dadurch unterliefen, dass sie propositionale Einstellungen nach sich zögen und die propositionalen Gehalte infizierten und so den ‚korrekten‘ mentalen Zugang zur Welt unmöglich machten. Überzeugungen hängen nicht davon ab, wie es sich in der Realität nun einmal verhält; sie sind Einstellungen innerhalb der phänomenalen Wirklichkeit zu dem, was nach menschlichem Maß für Realität gehalten wird. Überzeugungen über Sachverhalte können unzutreffend sein, weil die Realität keine Überzeugungsinhalte erzwingt und es Freiheit zu möglichen Wirklichkeits-Versionen gibt. Überzeugungen können falsch sein, wenn sie sich aufgrund von Sinnestäuschungen, falscher Verallgemeinerung einzelner Erfahrungen, semantischen Fehlern, Argumentationsfehlern und Fehlschlüssen oder ideologischen Zielen bilden. Irren ist menschlich. Man muss dies nur wissen. Die Problemlösung, für die ich plädiere, besteht in einer pragmatischen Kritik der Überzeugungen bzw. Evidenzen und in einer Prozeduralisierung der Überzeugungsbzw. Evidenzbildung. Eine solche Lösung ist wegen der Kovarianz von Überzeugungen und Wahrheitsansprüchen weder vom Alltagsverstand noch – in der Regel – bei empirischer bzw. experimenteller wissenschaftlicher Tätigkeit zu erwarten. Der Alltagsverstand und das Bewusstsein des Praktikers in der Wissenschaft sind von der starken Metaüberzeugung geleitet, dass (i) Überzeugung-Sachverhalte, richtiges Erkennen vorausgesetzt, Tatsachen entsprechen und (ii) aufgrund direkten Bezugs auf Tatsachen entweder eine Form objektiven Wissens sind oder – etwa im Fall von Hypothesen – zu objektivem Wissen führen. Auch der empirisch arbeitende Wissenschaftler sieht durch epistemologische Skrupel ‚die Tatsachen‘ gefährdet. Zur Tatsachen- und Evidenzkritik herausgefordert sieht er sich eher nicht.
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Kritik der Evidenz
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Positivistische Dogmen, Rhetorik und die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung* Kenneth R. Howe
Der Positivismus ist zu früh totgesagt worden. Obwohl man explizit artikulierte Versionen schon vor einiger Zeit in der Philosophie verworfen hat, floriert der Positivismus in unterschwelliger Form in vielen Bereichen weiter (z. B. Code 1993; Harding 2006; Lessl 2005). Einer dieser Bereiche ist die „neue wissenschaftliche Orthodoxie“ (Howe 2008) in der Bildungsforschung, die in dem Bericht des National Research Councils (NRC) „Scientific Research in Education“ (2002) kodifiziert und in darauf folgenden Dokumenten wie „Advancing Scientific Research in Education“ (2004) und in den „Standards for Reporting on Empirical Social Science Research in AERA Publications“ (2006) der American Educational Research Association (AERA) bestätigt wurde. In diesem Beitrag greife ich kurz meine früheren kritischen Analysen dreier positivistischer Dogmen der Bildungsforschung auf, wobei ich dafür argumentiere, dass die Bildungsforschung der Philosophie in Bezug auf das Verwerfen des Positivismus * Der Originalbeitrag „Positivist Dogmas, Rhetoric, and the Education Science Question“ ist 2009 erschienen in: Educational Researcher, 38. Jg., H. 6, S. 428-440. Für eine erste Fassung der Übersetzung danken wir Frau Corrie Kirchhoff. / Anmerkung der Herausgeber: Die Übersetzung im Originaltext häufig vorkommender Termini wie „the education science question“, „scientific research in education“ oder „education research“ stößt aus verschiedenen Gründen auf Probleme: (a) Der Begriff „education“ umfasst bekanntermaßen sowohl Bedeutungsdimensionen von „Erziehung“ als auch von „Bildung“. Unter dieser Voraussetzung wird „education research“ hier mit „Bildungsforschung“ übersetzt. Wenn ein beide Aspekte (Erziehung und Bildung) einschließendes Gegenstandfeld gemeint ist wie in „scientific research in education“, wird dies mit „wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik“ übersetzt. (b) Anders als im deutschen Sprachraum hat „education science“ weniger ein disziplinäres als ein interdisziplinäres Selbstverständnis, das mit entsprechenden Institutionalisierungsformen des Forschungsfeldes in „schools of education“ einhergeht. Da das, was gegenwärtig im Deutschen unter „Bildungsforschung“ verstanden wird, ebenfalls eine interdisziplinäre Orientierung hat, scheint eine Übersetzung von „education science“ mit „Bildungsforschung“ (statt „Erziehungswissenschaft“) angemessen. (c) Wenn in diesem Beitrag die „neue wissenschaftliche Orthodoxie“ charakterisiert wird, so knüpft dies an den engeren Begriff von „science“ als (Natur-)Wissenschaft an, der gegen Geisteswissenschaft („humanities“) konturiert wird. Dies gilt es mitzuhören, wenn von der Frage nach einer Wissenschaft (science) von der Erziehung die Rede ist.
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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folgen sollte.1 Diese Rückschau bereitet eine zweite Form der Analyse vor. Diese nimmt Bezug auf jenes Konturen gewinnende Forschungsfeld, das man zuweilen als „Rhetorik der Wissenschaft“2 bezeichnet, und untersucht, wie die unterschwellige Form des Positivismus in der Bildungsforschung weiterhin einflussreich bleibt und derzeit in der neuen wissenschaftlichen Orthodoxie wieder auflebt. Ich argumentiere dafür, dass man die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung, auf welche die neue Orthodoxie antwortete, in ihrer gegenwärtigen Rahmung nicht weiter verfolgen sollte, da sie in einem weiten rhetorischen Kontext thematisiert wurde, der eine positivistische Wissenschaftskonzeption voraussetzt. Anschließend skizziere ich kurz, wie diese Frage neu ausgerichtet werden könnte.3 Drei positivistische Dogmen und die neue wissenschaftliche Orthodoxie: Eine Kritik Dogma 1: Die Inkompatibilität quantitativer und qualitativer Methoden Das erste Dogma (oder die „Inkompatibilitäts-These“; Howe 1988, 2003) besagt, dass quantitative und qualitative Forschungsmethoden miteinander inkompatibel sind, so dass sie zwar in disjunktiver, aber nicht in integrierter Form miteinander kombiniert werden können (Howe 1985). Das heißt, dass für den Fall des gemeinsamen Einsatzes qualitativen Methoden andere Aufgaben zugewiesen werden müssen als quantitativen Methoden. Während erstere beispielsweise Kausalhypothesen generieren, testen letztere diese anschließend. Ursache der Unvereinbarkeit im Sinne einer Integration ist die Annahme, dass die verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen, die quantitativen und qualitativen Methoden mutmaßlich zu Grunde liegen – grob gefasst Interpretivismus und Positivismus –, selbst unvereinbar sind. Das grundlegende Problem dieser Argumentation besteht darin, dass sie eine falsche 1 Dieser Strang nimmt Fragmente von Howe 2003, 2005, 2008 sowie von Howe/MacGillivary 2009 auf. Teile der Analyse sind textnah paraphrasiert. 2 Die Rhetorik der Wissenschaft ist ein Forschungsbereich, der im Schnittfeld verschiedener wissenschaftlicher Arbeitsfelder liegt, insbesondere Philosophie, Soziologie und Kommunikationswissenschaft. Der Begriff der Rhetorik, der sich auf die Erforschung der Überzeugungskunst und Argumentation bezieht – die gut oder schlecht, manipulierend oder offen, logisch oder unlogisch eingesetzt werden kann – lässt sich mindestens bis auf Aristoteles zurückführen. Er soll dem gegenwärtig verbreiteten Verständnis gegenübergestellt werden, das von „bloßer“ oder „leerer“ Rhetorik ausgeht. 3 An dieser Stelle deute ich an, wie die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung neu ausgerichtet werden kann und warum. An anderer Stelle habe ich bereits eine deliberative demokratische (als Gegensatz zu einer technokratischen) Konzeption von Bildung vorgestellt (House/Howe 1999; Howe 2003) und die Rolle von Interdisziplinarität diskutiert. Ähnliches findet sich auch in dem Vorschlag von Kelly (2006), Bildungsforschung in Diskursethik zu begründen.
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Prämisse voraussetzt, der zufolge der Positivismus eine tragfähige erkenntnistheoretische Position ist, an der sich jegliche Forschungsmethode auszurichten habe. Positivisten im frühen bis mittleren 20. Jahrhundert sprachen wissenschaftlichem Wissen den erkenntnistheoretisch höchsten Rang zu und arbeiteten dessen Merkmale heraus, indem sie es u. a. von anderen intellektuellen Bemühungen, insbesondere spekulativer Metaphysik, abgrenzten. Sie vertraten zwei zentrale Lehrsätze: den Reduktionismus und die Unterscheidung zwischen synthetischer und analytischer Wahrheit (z. B. Quine 1970/1979). Der Reduktionismus beruht auf der Verifikationstheorie der Bedeutung, die besagt, dass die Bedeutung einer Aussage die Methode ihrer Bestätigung ist. Voraussetzung dafür, dass eine Aussage (kognitiv) bedeutungsvoll ist, ist deren Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit. Die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Wahrheiten unterteilt bedeutungsvolle Aussagen in zwei Gruppen. Synthetisch ist dabei eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt (Wahrheit oder Irrtum) theoretisch durch Beobachtung (z. B. „Auf dem Mars gibt es Leben“) bestimmt werden kann. Analytisch ist eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt entweder durch (a) formale Logik (z. B. „Alle Marsmenschen sind Marsmenschen“) oder (b) die Bedeutung ihrer Begriffe (z. B. „Alle Marsjunggesellen sind unverheiratet“) bestimmt werden kann. Während synthetische Aussagen a posteriori formulierte Aussagen seien (was heißt, dass die Ermittlung ihres Wahrheitsgehaltes empirische Untersuchung erfordert), seien analytische Aussagen a priori formuliert (was bedeutet, dass die Ermittlung ihres Wahrheitsgehaltes vollkommen unabhängig von empirischen Befunden ist und lediglich die Analyse der für sie konstitutiven Begriffe voraussetzt). Die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Wahrheiten und der Reduktionismus stehen in engem Bezug zueinander. Nach Quine (1970/1979) sind sie sogar „im Grunde identisch“ (ebd., S. 46). Analytische Aussagen sind der Grenzfall des Reduktionismus, da sie verifiziert oder falsifiziert sind, „komme was da will“ (ebd.). Demzufolge könnte der Reduktionismus als eine Position verstanden werden, die verlangt, dass wissenschaftliche Aussagen entweder synthetisch oder analytisch sind. Aussagen, die diese Bedingung nicht erfüllen, kommt keine kognitive Bedeutung zu; sie sind von daher nicht wissenschaftlich. Unter den ausgeschlossenen Aussagen sind jene, welche in idealistischen Philosophien verwendete, unbeobachtete und unbeobachtbare metaphysischen Entitäten beinhalten, etwa die Erklärung des Ganges der Menschheitsgeschichte unter Bezug auf die Entwicklung eines transzendenten absoluten Geistes. Ebenso ausgeschlossen sind weniger abstruse, erklärende Entitäten, wie Es, Ich und Über-Ich. In seiner berühmten, 1951 erstmals veröffentlichten Kritik hat Quine (1970/1979) die positivistische Wissenschaftskonzeption, einschließlich ihrer Ab-
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grenzung von Metaphysik, fundamental in Frage gestellt, und zwar durch unverblümte Kritik dessen, was er als die „zwei Dogmen des Empirismus“ bezeichnet: Reduktionismus und die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Wahrheiten. Quines Kritik war gekennzeichnet durch viele Drehungen und Wendungen und ein gutes Maß an philosophischer Esoterik, weshalb eine detaillierte Darstellung hier fehl am Platz wäre. Grob skizziert, entwickelte Quine zwei sich ergänzende Argumentationsstränge. Im ersten stellte er den oben definierten Typ (b) analytischer Aussagen in Frage, der davon ausgeht, dass man Konzepte wie Bedeutung, Synonymie und Definition verstehen kann ohne Rekurs auf aposteriorische/empirische Begriffe, also ohne Rekurs auf die Bedingungen des tatsächlichen Begriffsgebrauchs. Ginge es in solchen Aussagen lediglich um den tatsächlichen Gebrauch, wären sie von synthetischen Aussagen nicht zu unterscheiden, und ihr wichtigstes Charakteristikum, nämlich apriorisch verfasst zu sein, fehlte ihnen. Allerdings sind, so Quine, Versuche der Klärung, was analytische Aussagen apriorisch macht, gekennzeichnet durch Bezüge auf „schwer fassbare“ Entitäten, insbesondere „Bedeutungen“, die dann in Konzepten der Synonymie und Definition vorausgesetzt werden. Aber wo existieren Bedeutungen? In einer transzendenten platonischen Welt? In den Köpfen der Einzelnen? Andere Versuche, Analytizität zu klären, seien gekennzeichnet durch zirkuläre Argumente, welche die entscheidenden Konzepte in Bezug auf einander definieren und so der Klärung von Analytizität einen „Anschein von Hokuspokus“ (Quine 1970/1979, S. 35) verleihen. Zöge man alle überschüssigen Ausschmückungen ab, bliebe ein Argument der folgenden Art übrig: „Die Aussage, ‚alle Junggesellen sind unverheiratet‘ ist analytisch wahr, weil sie notwendigerweise wahr ist.“ Und warum ist sie notwendigerweise wahr? Weil sie analytisch wahr ist. In einem zweiten Argumentationsstrang prüft Quine, ob die Verifikationstheorie der Bedeutung der richtige Weg sein könnte, um schwer fassbare Entitäten zu umgehen und die Zirkularität zu durchbrechen. An dieser Stelle hinterfragt er die generelle Annahme der isolierten Überprüfbarkeit von Einzelaussagen. Diese Annahme wird vorausgesetzt, um Aussagen den zwei exklusiven Kategorien (synthetisch/analytisch) zuordnen zu können. In Quines Gegenentwurf heißt es hierzu, dass „unsere Aussagen über die Außenwelt nicht als einzelne Individuen, sondern als ein Kollektiv vor das Tribunal der sinnlichen Erfahrung treten“ (Quine 1970/1979, S. 45). Diese Auffassung wird als „Quine-Duhem-These“ bezeichnet, wonach Schlüsse, die aus gegen Erwartungen oder Vorhersagen verstoßenden Erfahrungen gezogen werden sollen, nicht geradlinig sind, was sie aber sein müssten, wenn es möglich wäre, Einzelaussagen zu überprüfen. Beispielsweise war das Phänomen am Horizont verschwindender Schiffe eine der wichtigen Beobachtungen, die den
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Glauben an die Erde als Scheibe in Frage stellten. Um dies jedoch als Herausforderung deuten zu können, muss man die geradlinige Ausbreitung von Licht voraussetzen. Es ist nun möglich, das „Kollektiv von Aussagen“ anzupassen, um den Glauben an die Erde als Scheibe aufrecht zu erhalten, indem man annimmt, dass Licht sich in Richtung Erde wie die Schnur eines Drachens beugt – je weiter die Entfernung, desto größer die Beugung. Demzufolge hat die Beobachtung am Horizont verschwindender Schiffe als Einzelaussage nicht die Kraft, die Theorie der Erde als Scheibe zu verifizieren oder zu falsifizieren. Quine versteht dieses Kollektiv von Aussagen als ein „konzeptuelles Schema“ oder als ein „Netz von Überzeugungen“ (Quine/Ullian 1978), welches er metaphorisch als Komposition von Glaubenssätzen beschreibt, die desto weniger revidiert werden, je näher sie dem Kern des Schemas stehen. Im Bereich des Kerns sind sogenannte analytische Wahrheiten zu finden. Dass diese Wahrheiten weniger zum Gegenstand der Revision werden, liegt an ihrer Vernetzung mit anderen Glaubenssätzen des gesamten Schemas und den mit ihrer Veränderung verbundenen Dominoeffekten, aber nicht daran, dass sie wahr sind, „komme was da will“. Selbst die Gesetze der Logik könnten mit ausreichend guten Gründen überarbeitet werden. So haben Forscher für den Umgang mit der quantenmechanischen Unsicherheit die Idee der dreiwertigen Logiken – wahr, falsch und unbestimmt – entwickelt. Der weitreichende und immer noch andauernde Einfluss von Quines Kritik des Positivismus4 beruht auf der grundsätzlichen Infragestellung der allgemeinen Idee, den empirischen Gehalt von Wissenschaft von ihrem vom Menschen hinzugefügten konzeptuellen Gehalt zu trennen. Hierin ist seine Kritik durch und durch pragmatistisch. Die Zurückweisung einer rein empirischen Grundlage der Wissenschaft, die von menschlichen Interessen, Zielen und Aktivitäten abgeschnitten ist, teilen John Dewey, Hilary Putman und Richard Rorty, um nur einige der prominentesten Vertreter des Pragmatismus zu nennen. Und natürlich ist da noch ihr Vorläufer William James (1908/1994), der in seinem Essay „What Pragmatism Means“ bemerkt: „Rein objektive Wahrheit, die nicht frühere Teile der Erfahrung mit neuer Erfahrung vermählte, eine Wahrheit, bei deren Befestigung die subjektive Befriedigung über diese Vermittlung keine Rolle gespielt hätte, ist nirgends zu finden. [...] Der Schlangenschweif des Menschlichen haftet an jeglichem Ding“ (ebd., S. 40f.).5 Thomas Kuhn, der Quine zustimmend in seinem bahnbrechenden Werk „Structure of Scientific Revolutions“ (1962) zitiert, könnte man ebenfalls den Pragmatis4 Quines Kritik zielte auf die empiristische Tradition im Allgemeinen, aber dieser Schwierigkeit werde ich hier ausweichen. Der Positivismus (eingeschlossen sind hierbei logischer Positivismus und logischer Empirismus) ist eine mustergültige Version des Empirismus. 5 Eine umfassendere Diskussion philosophischer Alternativen zur positivistischen Bildungsforschung, einschließlich des Bezugs des Pragmatismus zu diesen, findet sich bei Bredo (2006).
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ten zurechnen, auch wenn er üblicherweise eher als Wissenschaftshistoriker denn als Philosoph bezeichnet wird. Kuhn ist es, der den größten Beitrag geleistet hat, um dem pragmatistischen Standpunkt außerhalb philosophischer Kreise Bedeutung zu verschaffen. Entgegen dem Positivismus hat Kuhn die Idee einer rein empirischen Grundlage der Wissenschaft, auf deren Basis wissenschaftliche Theorie reibungslos kumulativ aufgebaut werden könne, zurückgewiesen. Er betonte, dass Beobachtung „theoriegeladen“ sei, geformt von menschlich geschaffenen „Paradigmen“, die Wissenschaftler unumgänglich in die Beobachtung einbringen würden. Die Wahl einer Theorie vor deren Konkurrenten setzt das Abwägen konkurrierender „Werte“ – Quine (1970) spricht von „pragmatischen Kriterien“ – voraus: Genauigkeit, Konsistenz, Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit (Kuhn 1977). Solch eine Auswahl kann nicht durch die Berufung auf ein überschaubares Verifikations-oderFalsifikations-Pferderennen, auf ein „entscheidendes Experiment“ oder ähnliches erfolgen. Zusätzlich zu den zwei Dogmen des Positivismus wankte die mit diesen verbundene Doktrin der „Einheit der Wissenschaft“, in welcher die Physik als Muster für jede Bemühung diente, die als Wissenschaft gelten sollte. Diese Doktrin hat Sozialwissenschaftler zu dem Versuch geführt, ihre eigene objektive Beobachtungssprache zu entwickeln – die Behaviorese. Zudem förderte diese Doktrin die Anschauung, sozialwissenschaftliche Forschung solle Daten unter Nutzung formalisierter Vorgehensweisen für kausale Schlussfolgerung, Erklärung und Vorhersage untersuchen. Der Test wissenschaftlicher Hypothesen war formalisierten Schlussfolgerungen im „Begründungszusammenhang“ vorbehalten. Weniger formalisierte, qualitative Daten und Rückschlüsse verwies man zurück in den „Entdeckungszusammenhang“, in dem Hypothesen gemutmaßt und versuchsweise entwickelt, nicht aber verifiziert oder falsifiziert werden konnten. Mit dem Zusammenbruch des Reduktionismus zerbrach die Legitimationsbasis der Behaviorese, deren Unzulänglichkeit für Beschreibungen ebenso aufgezeigt wurde (MacKenzie 1977; Strike 1974). Hieraus entsprang die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit „intentionaler“ Erklärungen, die das Verstehen und Erklären normenregulierten Verhaltens ermöglichen, von welchem Menschen – anders als sich bewegende Moleküle – geleitet werden. Zudem bemerkte man zunehmend, dass das alleinige Vertrauen auf formalisierte, quantitative Schlussfolgerungen für sozialwissenschaftliche Forschung unangemessen war. Die Idee, dass die Physik Leitbild für eine Konzeption der Sozialwissenschaft sein sollte, war überholt, wie Anthony Giddens (1976) feststellte: „Diejenigen, die immer noch auf einen Newton der Sozialwissenschaft warten, warten nicht nur auf einen Zug, der nicht ankommen wird, sie warten überhaupt auf dem falschen Bahnhof“ (ebd., S. 13).
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Dogma 2: Die Dichotomie von Tatsachen und Werten Die Dichotomie von Tatsachen und Werten – die Annahme, Tatsachen und Werte würden unterschiedliche epistemische Domänen besetzen – ist die Grundlage der Wertneutralitätsdoktrin in den Sozialwissenschaften: die Mahnung an die Wissenschaftler, ihre Arbeit von Werten zu bereinigen und alle verbleibenden zu Verzerrungen zu erklären. Zu wenig wird wahrgenommen, dass die Dichotomie von Tatsachen und Werten durch und durch positivistisch ist, nichts weiter als ein Folgesatz des Reduktionismus. Werte würden Metaphysik gleichkommen, da sie weder logisch beweisbar noch durch Rückführung auf empirische Beobachtung verifizierbar oder falsifizierbar seien. Aus diesem Grund fehle es beiden an kognitiver Bedeutung, weshalb sie aus dem epistemischen Bereich des Wissens herausfielen. Da aber die Positivisten nicht in der Lage waren, das Prinzip des Reduktionismus gegen dessen Kritik aufrecht zu erhalten, „war die gesamte Begründung für die klassische Dichotomie von Tatsachen und Werten zusammengebrochen“ (Putnam 2002, S. 30, kursiv im Original). Und so erging es der Begründung einer wertneutralen Sozialwissenschaft. Ebenso wie sozialwissenschaftliche Forschung theoriegeladen ist, ist sie in zwei wesentlichen Punkten wertgeladen. Zum einen sind die von Sozialwissenschaftlern verwendeten deskriptiven Konzepte häufig „zweischneidig“ (Howe 1985, 2003), was bedeutet, dass sie sowohl eine deskriptive als auch eine evaluative Dimension beinhalten. Man denke nur an das Konzept der Leistung. Es wird für wertgeladene Beschreibungen genutzt. Leistung impliziert, anders als ein rein deskriptives Konzept wie beispielsweise die Zahl 5, eine positive Wertung. Weil eben solche zweischneidigen Konzepte regelmäßig (und unumgänglich) im deskriptiven Vokabular sozialwissenschaftlicher Forschung enthalten sind, enthält dieses auch die Werte von Forschern, politischen Entscheidungsträgern und Programmgestaltern, die an solcher Forschung teilnehmen, sie finanzieren oder nutzen. Neben ihrer Eingebundenheit in das deskriptive Vokabular der Sozialwissenschaft sind Werte, einschließlich politischer Werte, Teil sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden. Erstens werden politische Werte im Forschungsdesign bei der Bestimmung der Faktoren vorausgesetzt, die als „unabhängig“ oder gegeben angenommen werden (Root 1993). Beispielsweise könnte die Verteilung von Einkommensniveaus als gegeben angenommen werden. Wie Einkommensniveau und Leseleistung von Schülern zusammenhängen, könnte dann im Hinblick auf ein besseres Verständnis dessen, „was wirkt“, den Status quo vorausgesetzt, untersucht werden. Alternativ könnte man auch untersuchen, wie und warum Einkommensverteilung und Leseleitung von Schülern miteinander zusammenhängen, wenn man die Effektivität und Fairness einer schulzentrierten Bildungsreform und Rechenschaftspflicht einschätzt. Diese beiden Herangehensweisen stehen einander als konservative versus
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progressive Ansätze gegenüber und entsprechen in etwa der Gegenüberstellung experimenteller/quantitativer und interpretativer/qualitativer Methoden. Mit dieser Bemerkung möchte ich keineswegs behaupten, dass die Beziehung zwischen Forschungsmethoden und politischen Werten linear oder uniform ist. Es gibt nichts an randomisierten Experimenten, womit sie aus sich heraus schon zum Erhalt des Status quo beitragen würden, und im Gegenzug können ethnographische Studien den Status quo als Rahmen ihrer Arbeit hinnehmen, was sie auch häufig tun. Mein Ziel ist an dieser Stelle nicht, die Politik verschiedener methodologischer Herangehensweisen zu kritisieren oder zu loben. Stattdessen möchte ich auf den generellen Punkt hinaus, dass – egal welche Methoden man benutzt– Entscheidungen darüber, welche Faktoren in Design und Durchführung sozialwissenschaftlicher Forschung man als unabhängig festsetzt, unvermeidlich – und unvermeidlich politisch – sind. Zweitens schließt jedwede sozialwissenschaftliche Methodologie politische Werte ein, denn sie enthält unvermeidlich, wenn auch nur implizit, eine Konzeption demokratischer Politik. Man denke etwa an eine technokratische Position, die sich um die Schaffung von Wertneutralität bemüht, indem sie von präskriptiven Urteilen Abstand nimmt und sich selbst darauf begrenzt, Faktenwissen für den demokratischen Prozess zu generieren.6 Im Unterschied zu ihrer Selbstdarstellung ist die technokratische Konzeption aber nicht politisch neutral, weil sie vorschreibt, dass Sozialwissenschaftler ihren Weisen folgen sollten, etwa im Gegensatz zu den Weisungen deliberativer Demokratie (House/Howe 1999). Die zwei Dogmen und die neue wissenschaftliche Orthodoxie Wie bereits angedeutet, ist der 2002 erschienene NRC-Bericht „Scientific Research in Education“ (SRE) das Musterbeispiel für die neue wissenschaftliche Orthodoxie in der Bildungsforschung. Im SRE-Bericht wird eine Version des Prinzips der Einheit der Wissenschaft aufgenommen – „Im Grunde ist wissenschaftliche Forschung in allen Bereichen gleich“ (NRC 2002, S. 2) –, die anschließend in Hinblick auf „epistemologische oder grundsätzliche Prinzipien, welche das wissenschaftliche Unternehmen leiten, ausgearbeitet wird“ (ebd., S. 51f). Herausgearbeitet werden die folgenden sechs Prinzipien für wissenschaftliche Forschung (vgl. ebd., S. 52):
6 Obwohl durchaus weit verbreitet, ist diese Sichtweise nur selten dargelegt worden. Siehe jedoch Campbell (1982) und Shadish/Cook/Leviton (1995); eine weiter ausgearbeitete Kritik als die hier dargestellte findet sich bei Howe (2003) und Strike (2006).
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Stelle wichtige Fragen, die empirisch untersucht werden können. Verbinde Forschung mit relevanter Theorie. Nutze Methoden, welche die unmittelbare Untersuchung der Forschungsfrage ermöglichen. Lege eine schlüssige und klare Argumentation vor. Wiederhole und generalisiere studienübergreifend. Lege Forschung offen, um professionelle Prüfung und Kritik anzuregen.
Den Prinzipien 1 und 3 kommt in meiner Analyse besondere Bedeutung zu. Prinzip 1 ist Teil des Abgrenzungsproblems, da es zur Abgrenzung der Wissenschaft von anderen intellektuellen Unternehmungen in Anspruch genommen wurde. Es ist offensichtlich, dass beispielsweise die Philosophie, die durch den SRE-Bericht explizit aus dem Bereich der Wissenschaft ausgegrenzt wird (NRC 2002, S. 131, Fußnote), der allgemeinen Kennzeichnung wissenschaftlicher Forschung als „kontinuierlicher Prozess genauer Schlussfolgerung, getragen von einem dynamischen Wechselspiel zwischen Methoden, Theorien und Ergebnissen“ (NRC 2002, S. 2) durchaus gerecht wird. Es ist das zusätzliche Merkmal empirischer Überprüfbarkeit, das der Philosophie dem SRE-Bericht zufolge fehlt, und das, um meine hier anschließende Kritik vorauszuschicken, die Art von Dichotomie zwischen dem Empirischen und dem Konzeptuellen voraussetzt, die Quine in seiner pragmatistischen Kritik in Frage stellt. Prinzip 3 betont den Wert des Einsatzes einer Vielfalt an Methoden, die genau auf einzelne Forschungsfragen zugeschnitten werden. Dies ist ein wichtiges Thema, das den SRE-Bericht durchzieht und welches einige seiner Fürsprecher als Beweis dafür nehmen, dass in diesem eine moderate Position vertreten wird im Vergleich zu extremeren experimentalistischen Positionen auf der „rechten Seite“ eines Kontinuums (Phillips 2006). Der nachfolgende NRC-Bericht „Advancing Scientific Research in Education“ (2004) hat sich zum Ziel gesetzt, „Maßnahmen zur Verbesserung wissenschaftlicher Forschung in der Pädagogik zu ergreifen“ (NRC 2004, S. 1). Dieser Bericht schließt direkt an den im SRE-Bericht dargelegten Rahmen für die Bildungsforschung an: „Unsere Empfehlungen zur Erreichung dieses Ziels bauen auf den Bericht des National Research Councils Scientific Research in Education auf. Jener Bericht bot eine Darlegung dessen, was hochwertige wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik ausmacht; dieser Bericht schlägt Wege zu deren Förderung vor“ (ebd.). „Hochwertige wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik“ wurde durch die sechs im SREBericht dargelegten Prinzipien wissenschaftlicher Forschung definiert. Meiner Ansicht nach ist die neue Orthodoxie, wie sie im SRE-Bericht kodifiziert und in „Advancing Scientific Research in Education“ weitergeführt wird, zum gro-
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ßen Teil ein positivistischer Rückschlag. Der SRE-Bericht wird verteidigt, da er eine moderate Position abstecke, die extremere Positionen der „rechten Seite“ meidet, welche randomisierte Untersuchungen als methodologischen Goldstandard (re)etablieren und die Rolle und Statur qualitativer Forschung erheblich einschränken würden. Beispielsweise schreibt Denis Phillips (2006), selbst Mitglied des NRC-Komitees, das den SRE-Bericht vorgelegt hat: „Beim sorgfältigen Lesen [des SRE-Berichts] lässt sich erkennen, dass dieser sprichwörtlich auf Messers Schneide balanciert – einerseits behauptet er gegen diejenigen auf der linken Seite, dass nützliche, valide, wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik möglich ist; andererseits aber weist er darauf hin, dass eine enge Bestimmung der Natur wissenschaftlicher Exaktheit, wie sie auf der rechten Seite durch den Bezug auf randomisierte kontrollierte Experimente oder Feldversuche und ein enges Spektrum ähnlicher Designs vorgenommen wird, vollkommen fehlgeleitet ist“ (ebd., S. 19). Und zwei andere Mitglieder des NRC-Komitees, Margaret Eisenhart und Robert DeHaan (2005) schreiben: „Von Anfang an war sich das Komitee darin einig, dass [...] die gegenwärtige Praxis wissenschaftlicher Forschung eher deskriptiv orientiert, kontextabhängiger, weniger kumulativ und mehr intuitiv – in anderen Worten: qualitativer – verfasst ist als das idealisierte Modell des Experimentierens, das häufig als der Weg zur Erzeugung kausaler Erklärungen beschrieben wird. [...] Das Komitee würdigt die Wichtigkeit von Forschung außerhalb von ‚Wissenschaft‘ (science), einschließlich philosophischer, historischer und kritischer Arbeiten und ebenso deren Beiträge zur Pädagogik wie auch zu den Natur- und Sozialwissenschaften. [...] Im Rahmen unserer Beratungen haben wir den sozialen und kulturellen Kontext, den Einbezug von Beteiligten, politische Erwägungen und ethische Forderungen diskutiert, da wir all diese als inhärente Aspekte einer Untersuchung sozialer und pädagogischer Phänomene ansehen“ (ebd., S. 2f.). Auf Grundlage meiner (ich hoffe sorgfältigen) Lektüre des SRE-Berichtes komme ich zu dem Schluss, dass vieles von dem, was Phillips, Eisenhart und DeHaan in diesen Passagen zum Ausdruck bringen, im Bericht selbst wenig oder überhaupt nicht betont oder von entgegenstehenden Behauptungen in den Schatten gestellt wurde. (Auf diesem Weg charakterisiert Phillips wenigstens ein Mitglied des NRCKomitees als Vertreter der „rechten Seite“.) Auf jeden Fall spricht vieles für die Einschätzung, dass, was auch immer die Intentionen der Mitglieder des NRCKomitees sein mögen (und sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach verschieden), der SRE-Bericht nicht grundsätzlich von einer positivistischen/experimentalistischen Konzeption von Bildungsforschung abrückt. Dem SRE-Bericht zufolge verfahren Programme der Bildungsforschung kumulativ: von der Beschreibung und Hypothesenbildung über die Ermittlung von Kausal-
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beziehungen hin zum Verstehen der Mechanismen, die solchen Zusammenhängen zugrunde liegen. Obwohl qualitative Methoden quer durch den SRE-Bericht hindurch angepriesen werden, wird ihnen in der aussagekräftigsten Darstellung des Berichts in Kapitel 5 „Designs für die Durchführung wissenschaftlicher Forschung in der Pädagogik“ eine untergeordnete epistemologische und methodologische Rolle zugewiesen. Qualitative Methoden werden im Rahmen der ersten Phase wissenschaftlicher Forschung – der Beschreibung und Hypothesenbildung – eingesetzt. Sie können auch „wichtige Nuancen in den Blick bringen, potentielle Gegenhypothesen aufzeigen und zusätzliche Beweisquellen zum Beleg kausaler Behauptungen in komplexen pädagogischen Kontexten bereitstellen“ (NRC 2002, S. 125f.). Aber „wenn Forschung die Aufgabe zukommen soll, die Frage, ‚was wirkt‘ zu beantworten [...], muss sie auf andere Ebenen der Forschung gelangen“ (S. 108). Diese „anderen Ebenen“ sind, wie sich herausstellt, experimentelle Designs, und deren „Ideal“ sind „randomisierte Untersuchungen [...] zur Feststellung, ob einer oder mehrere Faktoren die Veränderung eines Outcome bedingen“ (S. 110). Ebenso wie in der positivistischen Konzeption leisten quantitative/experimentelle Methoden die wirkliche wissenschaftliche Arbeit im Begründungszusammenhang; qualitative/interpretative Methoden sind untergeordnet und in den Entdeckungszusammenhang zurückverwiesen. Der hohe epistemische Status, den der SRE-Bericht experimentellen Methoden zuweist, gründet in dessen Regularitätskonzeption der Kausalität, für welche folgendes elementares Beispiel steht: „T wirkt zur Erzeugung von O unter B“ (wenn T das Treatment, O das Outcome und B eine Gruppe von Bedingungsvariablen ist). Der SRE-Bericht sagt so gut wie nichts über das Konzept intentionaler Kausalität. Er verweist auf „volitionale“ Charakteristika menschlichen Verhaltens und deutet das Konzept intentionaler Kausalität als Problem für experimentelle Forschungsdesigns: „Im Zentrum von Erziehung und Bildung stehen Menschen: Lernende, Lehrer, Eltern, Bürger und Politiker. Die Volition, oder der Wille, dieser Individuen senkt den Grad an Kontrolle, der Forschern über den Prozess möglich ist.“ (NRC 2002, S. 86). In Übereinstimmung mit dem positivistischen Prinzip der Einheit der Wissenschaft und dessen Ausschluss intentionaler Kausalität deutet der SRE-Bericht die Differenz zwischen Kausalschlüssen in der Physik und den Wissenschaften vom Menschen hinsichtlich einer Dimension: der Präzision, mit der Gesetzmäßigkeiten ermittelt werden können. Weil Menschen sich unberechenbarer verhalten als Protonen, muss die Bildungsforschung im Vergleich zur Forschung der Physik mehr Quellen von „Rauschen“ und größere „Fehlergrenzen“ bewältigen (NRC 2002, S. 83).
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Für den SRE-Bericht liegt der Schwerpunkt der Bildungsforschung auf der Ermittlung von Kausalbeziehungen (Gesetzmäßigkeiten) zur Bestimmung dessen, was wirkt. Weitgehend unterbelichtet bleibt im SRE-Bericht aber, dass die Frage „Was wirkt?“ elliptisch für die Frage steht „Was wirkt zur Erzeugung gewünschter Bildungsoutcomes?“. Und diese gewünschten, für relevant erklärten Outcomes – die Os in „T wirkt zur Erzeugung von O unter B“ – werden mittels jener zuvor beschriebenen Art zweischneidiger Konzepte wie Lese- und Schreibkompetenz (literacy), Leistung, Bürgerschaft, Kooperativität und ähnlichem ausgewählt. Wie zuvor erwähnt führen Bildungsforscher durch die Nutzung solcher Konzepte regelmäßig – und unvermeidlich – Werte bestimmter Subgruppen von Bildungsforschern, politischen Entscheidungsträgern, Lehrplanentwicklern usw. in das deskriptive Vokabular wissenschaftlicher Bildungsforschung ein. So sind in die Struktur der Erforschung dessen, was wirkt, durchweg Wertorientierungen eingewebt, auch wenn sie nur selten erkannt oder sorgfältig untersucht werden. Der SRE-Bericht wendet sich verhalten gegen die Art und Weise, wie Bildungsforschung oft von wechselnden politischen Winden hin und her geworfen wird und empfiehlt, diese besser zu schützen. Das dritte seiner „Entwicklungsprinzipien für Wissenschaftsförderung durch eine bundesstaatliche Bildungsforschungsinstitution“ lautet: „Die Institution ist gegen unangemessene politische Einflussnahme abzuschirmen“. Formen unangemessener politischer Einflussnahme umfassen das „Mikromanagement von Entscheidungsprozessen, die Verformung der Forschungsagenda durch ausschließliche Ausrichtung auf kurzfristige Ziele und den Gebrauch der Institution als Werkzeug zur Durchsetzung einer bestimmten Politik oder Position“ (NRC 2002, S. 139f.). Anderweitig hat der SRE-Bericht nichts zur Beziehung zwischen Bildungsforschung und demokratischer Politik zu sagen. Diese Zurückhaltung, zusammen mit der generell positivistischen Grundhaltung des Berichtes, deutet darauf hin, dass er die zuvor kurz beschriebene technokratische Konzeption aufnimmt, sei es auch nur aufgrund fehlender gegenteiliger Aussagen. Im Zentrum dieser Konzeption steht die Idee, dass Bildungsforschung und demokratische Politik separate Bereiche einnehmen. Ob, inwieweit und zu welchen finanziellen Kosten „T zur Erzeugung von O unter B wirkt“ – solche Fragen zu untersuchen, fällt in das Gebiet der Bildungsforschung; die Entscheidung darüber, welche Os im Lichte der von Bildungsforschern bereitgestellten Informationen untersucht und angestrebt werden sollten, fällt hingegen in das Gebiet demokratischer Politik. Die technokratische Konzeption der Rolle der Bildungsforschung für demokratische Politik passt zu einer aggregativen Demokratie – eine Theorie mit deutlich positivistischer Ausrichtung, da sie politische Richtlinien durch die Aggregation von Präferenzen (Werten) festsetzt, von denen angenommen wird, dass sie außerhalb des
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Zugriffs kritischer Untersuchung und Beratung liegen. Die Aggregationstheorie ist in letzter Zeit innerhalb der Bildungsforschung verstärkt in die Kritik geraten (Strike 2006), auch in Folge des Wiederauflebens deliberativer Demokratie (z. B. Gutmann/Thompson 2004; Young 2004). Zwei grundsätzliche Kritikpunkte können aus deliberativer Perspektive vorgebracht werden. Erstens dient der Ausschluss gewünschter Bildungsoutcomes (die Os in „T wirkt zur Erzeugung von O“) von Kritik und Revision dazu, den Status quo der Güter- und Machtverteilung, der im Großen und Ganzen ungerecht ist, zu verfestigen. Ein solcher Ausschluss schließt so wiederum die Möglichkeit effektiver Partizipation an Prozessen der Bildungsforschung und politischer Entscheidungsfindung von Seiten vieler Bürger aus. Zweitens bedarf die technokratische Konzeption eher der Verteidigung, als dass sie vorausgesetzt werden kann. Dass eine solche Verteidigung erfolgreich sein könnte, ist eher unwahrscheinlich. Die Möglichkeit – und die Wünschbarkeit –, politische Werte aus der Bildungsforschung herauszufiltern, basiert auf dem Untergang geweihten positivistischen Prinzipien. Ich könnte falsch liegen, wenn ich dem SRE-Bericht und der neuen Orthodoxie eine technokratische Konzeption sozialwissenschaftlicher Forschung zuschreibe. Vielleicht lässt sich eine technokratische Konzeption auch besser verteidigen, als es mir scheint. Nichtsdestotrotz ist es vielsagend, dass – in Übereinstimmung mit der technokratischen Konzeption – es nicht zu den Anliegen der neuen Orthodoxie gehört, die Frage nach politischen Werten bei der Bestimmung dessen, was gute Bildungsforschung ausmacht, zu stellen. Dogma 3: Die Dichotomie von empirischen Wissenschaften und Geisteswissenschaften Das dritte Dogma der Bildungsforschung ist die Dichotomie zwischen empirischen Wissenschaften und Geisteswissenschaften. C. P. Snow charakterisierte die umfassende Gemeinschaft der Wissenschaften vor knapp 50 Jahren in seinem berühmten Buch The Two Cultures (1959) entlang dieser Trennlinie. Die Kluft zwischen empirischen Wissenschaften und Geisteswissenschaften hatte in der Bildungsforschung für eine Weile nicht weit unter der Oberfläche gelauert, ist aber durch die neue wissenschaftliche Orthodoxie größer und sichtbarer geworden. Der SRE-Bericht unterscheidet wissenschaftliche Forschung (scientific research) von anderen Arten wissenschaftlicher Arbeit (other kinds of scholarship) im Bereich der Pädagogik anhand des Kriteriums empirischer Überprüfbarkeit, was so ausgelegt wird, dass die Geisteswissenschaften ausgeschlossen sind (Philosophie und Geschichte sind ausdrücklich genannte Beispiele; vgl. NRC 2002, S. 131, Fußnote). Auf diese Weise werden die Geisteswissenschaften von derjenigen intellektuellen
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Tätigkeit gesondert, die als Schlüssel zur Verbesserung von Bildungspolitik und pädagogischer Praxis gesehen wird. Obwohl der SRE-Bericht auf die Idee hinweist, dass wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik von den Geisteswissenschaften lernen könnte, lässt das Fehlen jeglicher Ausarbeitung den Hinweis zu einem bloßen Lippenbekenntnis werden. Im Anschluss an das Erscheinen des SRE-Berichtes richtete die AERA eine Arbeitsgruppe zur Festsetzung von Standards für die Bildungsforschung ein, deren Endprodukt unter dem Titel „Standards for Reporting on Empirical Social Science Research in AERA Publications“ (AERA 2006) erschien. Im Verlauf ihrer Tätigkeit wurde die Arbeitsgruppe dazu aufgefordert, den Fokus von allgemeinen Standards auf Standards für „empirische sozialwissenschaftliche Forschung“ zu verengen und somit die Geisteswissenschaften und ähnliche Forschung auszuschließen. Der erste Absatz der Standards (AERA 2006) lautet wie folgt: „Die American Educational Research Association (AERA) ist erfreut, Richtlinien für die Berichterstattung empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung in AERA-Publikationen bereitzustellen. Diese Richtlinien gelten für Berichte der Bildungsforschung, die in der empirischen Tradition der Sozialwissenschaften gründen. Sie beziehen sich auf das, was gemeinhin unter qualitativen und quantitativen Methoden verstanden wird, sind aber nicht auf diese begrenzt. Andere für die Bildungsforschung ebenso wichtige Formen wissenschaftlicher Arbeit umfassen Forschungskritik, theoretische, konzeptuelle oder methodologische Essays, die Kritik von Forschungstraditionen und Praktiken und wissenschaftliche Arbeiten, die mehr in den Geisteswissenschaften verwurzelt sind (z. B. Geschichte, Philosophie, Literaturanalyse, kunstbezogene Forschung). Die letztgenannten Formen wissenschaftlicher Arbeit stehen außerhalb des Blickfelds dieses Dokuments“ (ebd., S. 33) Dass eine Trennlinie zwischen „empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung“ und „anderen Formen wissenschaftlicher Arbeit“ existiert, wird hier zu Beginn des Dokumentes als gegeben vorausgesetzt und setzt den Rahmen für die dann folgenden Standards. Diese sind aus meiner Sicht gut ausgearbeitet und stellen sehr nützliche Richtlinien für die Art Forschung bereit, für die sie Gültigkeit beanspruchen. Das Problem ist aber, dass es nicht der Bereich empirischer Forschung ist – der ausschließliche Bereich empirischer Forschung –, für welchen die Standards Gültigkeit beanspruchen, es sei denn, empirisches Wissen ließe sich – entgegen der pragmatistischen Widerlegung des Positivismus – isolieren. Nachdem man den Geltungsbereich der Standards eingeschränkt hat, um diese auf eine reduktionistische Konzeption empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung auszurichten, hat die AERA eine zweite Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Standards für geisteswissenschaftlich ausgerichtete Bildungsforschung geschaffen,
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die im Januar 2009 von der AERA-Ratsversammlung verabschiedet wurden („Standards for Reporting on Humanities-Oriented Research in AERA Publications“; AERA 2009). Das Resultat der Trennung von Standards, so als ob es welche für empirische Sozialwissenschaften und andere für die Geisteswissenschaften gäbe, trägt zur Verfestigung des Gegensatzes zwischen empirischen Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften bei, da die beiden Gruppen von Standards an diese Gegenüberstellung geknüpft sind. So war eines der Probleme, welche die Arbeitsgruppe zu geisteswissenschaftlichen Standards (in der ich Mitglied war) äußerst belasteten, wie geisteswissenschaftliche Forschung so gefasst werden kann, dass sie einen anderen erkenntnistheoretischen und methodologischen Bereich besetzt als die empirischen Sozialwissenschaften. Dies liegt darin begründet, dass geisteswissenschaftlich orientierte (humanities-orientied) und empirisch orientierte Bildungsforschung keinen Gegensatz bilden. Stattdessen unterscheiden sie sich nur graduell voneinander, ihre methodologischen Grenzen verschwimmen und in der Forschungspraxis verbindet man sie oftmals miteinander. Die Arbeitsgruppe hat die Beziehung zwischen den beiden Standardgruppen letzten Endes mittels Überschneidung und Komplementarität konzeptualisiert: „Geisteswissenschaftlich ausgerichtete Forschung ist empirisch. Weil große Teile der Bildungsforschung in den Sozialwissenschaften ebenfalls empirisch sind, kommt es zu einer Überschneidung zwischen den beiden Domänen, und die Standards, die für die Evaluation von geisteswissenschaftlich ausgerichteter Bildungsforschung geeignet sind, ergänzen die Social Science Standards der AERA und überschneiden sich hin und wieder mit diesen“ (AERA 2009, S. 482). Das dritte Dogma ist ebenso ein positivistischer Rückschlag wie die beiden ersten Dogmen. Die Idee, dass empirische Testbarkeit als Kriterium für die Ziehung einer Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft herangezogen werden könnte, ist eine Version des zentralen Lehrsatzes des Reduktionismus, mit welchem der Positivismus unterging. In den Sozialwissenschaften hat sich die Trennlinie besonders durch das Aufkommen interpretativer Methodologie verwischt, in welcher sich Ziele, erforderliche Kompetenzen und Vokabular von Geisteswissenschaften und empirischen Sozialwissenschaften maßgeblich überlappen. Forschung in den Geisteswissenschaften ist nicht frei von empirischem Inhalt. Ebenso ist auch die Forschung in den empirischen Sozialwissenschaften nicht frei von normativen Inhalten, die für die Geisteswissenschaften charakteristisch sind. Wie in Quines „Netz von Überzeugungen“ gibt es hier eher ein Kontinuum als eine Dichotomie und eine damit einhergehende Differenz im jeweiligen Fokus der Aufmerksamkeit: Geisteswissenschaftlich ausgerichtete Fragen unterscheiden sich von eher empirisch ausgerichteten Fragen der Sozialwissenschaften hauptsächlich darin,
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wie leicht sie durch relativ direktes empirisches Testen verifiziert oder falsifiziert werden können, was wiederum mit der Problematik der Definition disziplinärer Traditionen in Zusammenhang steht. Zum Beispiel ist die Frage, ob erweiterte Möglichkeiten der Schulwahl Modell für ein mehr oder weniger gerechtes System der Verteilung von Bildungsgütern sind – eine Frage, die von den Geisteswissenschaften, insbesondere der politischen Philosophie, untersucht wird – weiter entfernt von eher direkter empirischer Überprüfung als die Frage, ob erweiterte Möglichkeiten der Schulwahl ethnische Isolation befördern – eine Frage der empirischen Sozialwissenschaft. Eine Antwort auf die erste Frage aber ist nicht unabhängig von einer Antwort auf die zweite. Vielmehr wäre die zweite Frage gar nicht von Interesse, stünde sie nicht auf irgendeine Weise in Bezug zur ersten. Die neue Orthodoxie und die Rhetorik der Wissenschaft Die Konzeption von Bildungsforschung, wie sie die neue Orthodoxie exemplifiziert, rückt nicht wesentlich von einer positivistischen Konzeption ab. Sie spiegelt die epistemische Unterscheidung zwischen Begründungszusammenhang und Entdeckungszusammenhang wider und schmälert hierbei die tatsächliche erkenntnistheoretische Bedeutung interpretativer/qualitativer Methoden im Rahmen intentionaler Erklärungen. Ihre Berufung auf ein reduktionistisches empirisches Kriterium – „Wissenschaftsprinzip 1“ des SRE-Berichtes (NRC 2002, S. 54f.) – führt dazu, dass Werte außerhalb des Bereiches der Wissenschaft verortet werden. Diese sollen in politischen Foren ausgearbeitet und von geisteswissenschaftlich orientierten Forschern unter Nutzung ihrer speziellen nicht-(un-?)wissenschaftlichen Methoden bedacht werden. Aber die Probleme mit der neuen Orthodoxie gehen über deren Antwort auf die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung hinaus. Sie wurzeln darin, wie man diese Frage zunächst rahmt, und in der Analysemethode, welche man anschließend auf der Suche nach der Antwort nutzt. Ian Hacking (1999) gibt einen guten Ratschlag hinsichtlich der Annäherungsweise an definitorische Kontroversen: „Definiere nicht zuerst, frage, was bezweckt werden soll“ (ebd., S. 5). Wie sich zeigt, hat es nicht nur einen Zweck, der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung nachzugehen, sondern mehrere. Die folgenden drei haben dabei Priorität: 1.
Es wird die Bildungsforschung verbessern, indem es für Bildungsforscher in der Ausübung ihres Handwerks Leitlinien bereit stellt und indem es eine Reihe von Standards für die Evaluation der Qualität der Forschung bereitstellt.
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Es dient der Bildungsforschung als ein Mittel, um Unterstützung, einschließlich finanzieller Unterstützung, durch ihre Förderer, wie die Regierung und private Stiftungen, zu erhalten oder zu verstärken. Es wird vermeiden helfen, dass der Gemeinschaft der Bildungsforscher eine fremde Wissenschaftskonzeption von außen, zum Beispiel durch den U.S. Kongress, untergeschoben wird.
Der ersten Zweckbestimmung kommt das reinste Motiv zu. Sie ist Musterbeispiel für das Ziel, wissenschaftliche Normen intern, innerhalb der Gemeinschaft der Bildungsforschung, auszuarbeiten, und sie ist das scheinbare Grundprinzip in Dokumenten wie dem SRE-Bericht und den Standards der AERA für die empirische sozialwissenschaftliche Forschung. Die zweite und dritte Zweckbestimmung sind, mehr als die erste, Angelegenheiten professioneller Klugheit und könnten als Antworten auf externe Erwägungen verstanden werden. Es ist wohl offensichtlich, dass sich die drei Zweckbestimmungen untereinander nicht ausschließen. Aber mehr als dass sie miteinander vereinbar sind, sind sie unauflöslich mit der Rhetorik verwoben, welche die Ausgestaltung der neuen Orthodoxie antreibt. Vor allem die Bestimmungen 2 und 3 motivierten dazu festzulegen, was wissenschaftlicher Bildungsforschung zugerechnet wird; sie beeinflussten ganz offensichtlich die Form, welche die neue Orthodoxie annahm. Die neue Orthodoxie richtet sich mit einer Stimme an interne und externe Adressaten, wenn sie versucht, den Bereich der Bildungsforschung abzugrenzen, der als „wissenschaftlich“ gilt. Daher ist die Rhetorik der neuen Orthodoxie mehrdeutig in ihren Absichten und in ihren Adressaten, auf die sie Bezug nimmt. Diese Mehrdeutigkeit wird von der verwendeten Analysemethode verdeckt. Die Methode des SRE-Berichtes setzt voraus, dass die grundsätzlichere Frage nach der Trennlinie zwischen Wissenschaft und anderen intellektuellen Bestrebungen keine Probleme mit sich bringt und bestimmt anschließend die Arten der Bildungsforschung, welche zur Wissenschaft zählen. Die Methode des SRE-Berichtes basiert auf einer Form des Essentialismus, in der, an Platon erinnernd, die Identifikation von Beispielen wissenschaftlicher Bildungsforschung darauf hinausläuft, nach hinlänglichen Ähnlichkeiten zu vorher schon existierenden und stabilen Ideen Ausschau zu halten. Diese Verfahrensweise ist durchaus fragwürdig. Das Scheitern der anhaltenden Versuche der Positivisten, die erkenntnistheoretischen Bedingungen für Wissenschaft im Rückgriff auf das Prinzip des Reduktionismus festzulegen, auf dessen Grundlage man die positivistische Trennlinie hätte ziehen können, beendete das positivistische Programm in der Philosophie fast vollständig. Wie der Niedergang
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des Positivismus die neue wissenschaftliche Orthodoxie unterhöhlt, ist eine Geschichte, die im ersten Abschnitt dieses Artikels dargestellt wurde. Nun wende ich mich einer Kritik des Essentialismus der neuen Orthodoxie zu. Die essentialistische Antwort auf definitorische Kontroversen Ich beginne mit einem Beispiel aus einer Kontroverse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ob das Konzept des Todes neu zu definieren sei –, das eine essentialistische Herangehensweise an eine wichtige definitorische Herausforderung gut veranschaulicht. Anschließend betrachte ich die Kontroverse um den Begriff der Chancengleichheit im Bildungssystem. (1) Das Konzept des Todes: Fortschritte in medikamentöser Behandlung und andere medizinische Behandlungsmethoden haben eine neue Klasse „hirntoter“ Patienten geschaffen, die nur am Leben erhalten werden könne durch besondere Behandlungen wie Antibiotika, künstliche Ernährung und insbesondere Beatmungsmaschinen. Diese Patienten scheinen einige Charakteristika Lebender zu besitzen, zum Beispiel Herzschlag, Verdauung und körperliche Ausscheidung, gleichzeitig aber Kennzeichen Toter, wie dauerhaftes Fehlen von Bewusstsein, Spontanatmung, Hirnreflexe und Schmerzreaktion. Der Psychiater Willard Gaylin (1974) bezeichnete diese Grauzonenpatienten in seinem schaurigen Artikel „Das Ernten der Toten“ als „Neomorts“ (Neugestorbene). Er schlug vor, dass Neomorts eventuell an lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen bleiben sollten, um als regenerative Blutbank zu dienen, um frische Organe für Transplantationen bereitzuhalten usw. Gaylins provokanter Artikel war Teil eines sich intensivierenden Diskurses darüber, ob die bestehende Definition des Todes – Herz- und Atmungsstillstand – überarbeitet werden sollte. Kritiker der revisionistischen Haltung bestritten, dass Hirntod und Tod gleichzusetzen seien und verlangten, dass hirntote Patienten entsprechend behandelt werden sollten. Unter anderem hielten sie daran fest, dass hirntote Patienten nicht für tot erklärt und ihre Organe entfernt werden sollten, solange ihre Herzen noch schlagen und sie mit Hilfe einer Beatmungsmaschine atmen. Dem hielten die Revisionisten entgegen, dass sie keine Neudefinition des Todes, sondern lediglich neue Kriterien zu dessen Identifikation anbieten.7 Eine Form des Revisionismus bildete die Ganzhirn-Definition des Todes als gesamte und unumkehrbare Zerstörung des Hirns, einschließlich des Hirnstammes. (Der Hirnstamm von Patienten im Wachkoma wie 7 Sicherlich ist dies eine allzu starke Vereinfachung. Es gab andere Alternativen und nuanciertere Versionen als die, die ich beschrieben habe (siehe DeGrazia 2007). Aus meiner Sicht biete ich eine hinreichend genaue skizzenhafte Charakterisierung (siehe auch Schiappa 2003).
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Terri Schiavo ist intakt, weshalb diese der Ganzhirn-Definition zufolge nicht tot sind.) Den Fürsprechern dieser Definition zufolge ist die totale und unumkehrbare Zerstörung des gesamten Hirns das, was Tod schon immer bedeutete, trotz der verschiedenen Wege, auf denen Tod empirisch festgestellt worden sein mochte. Beatmungsgeräte verdecken den Tod nur; die Ganzhirn-Konzeption ist keine Neudefinition des Todes, sondern eher die Nutzung neuer Kriterien zu dessen Identifikation. Eine zweite Form des Revisionismus ist die auf höhere Hirnfunktionen bezogene Personalitäts-Definition, die besagt, dass es der Tod einer Person ist, der bestimmt werden muss, nicht der Tod eines Organsystems. Von dieser Position aus meinte Tod schon immer den permanenten Verlust von Bewusstsein und den Verlust der Fähigkeit zu sozialer Interaktion; vor medizinischen Fortschritten war die permanente Bewusstlosigkeit geradezu mit Atmungs- und Herzstillstand gleichzusetzen. (Terri Schiavo hätte aus dieser Sicht tot sein können, während sie weiter atmete, je nach den Einzelheiten ihres Zustandes und deren Interpretation.) Schlussendlich erlangte die Ganzhirn-Definition weithin Akzeptanz und wurde im Uniform Determination of Death Act (National Conference of Commissioners on Uniform State Laws 1980) kodifiziert, der von 43 Staaten verabschiedet wurde. In der Kontroverse darüber, ob die Definition zu überarbeiten sei, und wenn ja, welche der verschiedenen, miteinander konkurrierenden Definitionen angenommen werden sollte, ging es scheinbar um die grundlegenden Merkmale des Konzeptes des Todes: darum zu erfassen, was Tod ist – und immer war – und nicht darum, wie man ihn neu bewerten sollte. Aber so entwickelte sich die Debatte in der Realität nicht. Statt Licht in das Dunkel zu bringen und aufzudecken, was Tod wirklich ist, was angeblich durch Veränderungen in Wissen und Fähigkeiten der Gesundheitsfürsorge unsicher geworden war, debattierte man, ob die Definition des Todes die gleiche bleiben oder in Reaktion auf sich verändernde Interessen und Umstände umgearbeitet werden sollte. Die große Akzeptanz der Ganzhirn-Definition ist nicht darauf zurückzuführen, dass ihre Fürsprecher das Wesen des Todes zutreffend bestimmt hatten. Stattdessen waren größtenteils pragmatische Gründe ausschlaggebend. Man wandte sich Antworten auf Fragen zu wie: Haben hirntote Individuen irgendeine Art Lebensqualität, was ihr Menschsein betrifft? Wie zuverlässig kann der Tod unter einer gegebenen Definition bestimmt werden (ein ernsthaftes Problem für diejenige Definition, die auf den Status als Person abhebt)? Ist die Versorgung hirntoter Individuen eine unnötige – da vergebliche – medizinische Aufwendung, die medizinische Kosten sinnlos in die Höhe treibt und die Mittel, die für Überlebende aufgewendet werden könnte, verkleinert? Ist das Existieren in einem Stadium der Bewusstlosigkeit, unfähig zu interagieren und sich um basale Körperfunktionen zu kümmern, ein Angriff auf die Würde des Patienten? Und wird im Verlauf der
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langwierigen Behandlung die Erinnerung an die Patienten im Gedächtnis der Überlebenden zerstört? Könnte der Bedarf an lebensfähigen Organen für Transplantationen Ärzte dazu verleiten, den Tod vorschnell festzustellen, um Organe verfügbar zu machen? (2) Das Konzept der Chancengleichheit im Bildungswesen: Ein ähnlicher Prozess wie in der Kontroverse um das Konzept des Todes lief in der Kontroverse um das Konzept der Chancengleichheit im Bildungswesen (equal educational opportunity) ab. James Coleman (1968), ein Nicht-Essentialist hinsichtlich dieses Themas, schlug vor, Chancengleichheit als Gleichheit von Outcomes zu begreifen, was verschiedene Essentialisten anschließend als konzeptuelle Konfusion bezeichneten (z. B. Burbules/Sherman 1979; Jencks 1988; O’Neill 1976). Ihnen zufolge liegt die Bedeutung des Chancenbegriffs darin, dass die Bereitstellung einer Chance und die Schaffung eines erwünschten Outcomes zwei verschiedene Dinge sind. Menschen seien frei Chancen zu nutzen oder nicht; und wenn sie Chancen nutzen, könnten sie nichtsdestotrotz scheitern, ein erwünschtes Outcome zu erreichen. Die nicht-essentialistische Antwort hierauf ist, dass linguistische Intuitionen hinsichtlich des Konzeptes von Chancengleichheit, die auf einer Geschichte seines Gebrauchs beruhen, in Abhängigkeit vom zur Diskussion stehenden Problem zu modifizieren wären (Gutmann 1999; Howe 1997). Im Falle der Chancengleichheit müssen Chancen „effektiv“ (Coleman 1968) oder „wünschenswert“ (Howe 1997) sein, kein „leeres Versprechen“ in dem Sinne, dass es unmöglich erscheint, sie tatsächlich wahrzunehmen (so in der Argumentation des San Francisco School Board in Lau v. Nichols [1974], chinesischsprachige Kinder hätten die gleichen Chancen wie ihre englischsprachigen Mitschüler: gleiche Räume, Bücher, Lehrer etc.) oder „kostspielig“ in dem Sinne, dass die Unterdrückung von Gruppenmitgliedern der Preis sei, den diese für ihren Erfolg zahlen müssen (wie im Fall der Schulen, die homosexuelle Jugendliche zum Verbergen ihrer Neigungen drängen). Wenn man also in sinnvoller Weise von Chancen sprechen möchte, die effektiv und wünschenswert sind, dann kann man dies nicht unabhängig von der Frage tun, inwiefern sie tatsächlich in der Lage sind, gewünschte Outcomes zu erzielen. Die eigentliche Frage ist dann nicht, was das Wesen der Chancengleichheit ist, sondern wie Chancengleichheit gedacht werden sollte, um dem Zweck ihrer Schaffung dienlich zu sein. Es ist eine gleichzeitig pragmatische und politische Frage, die sich auf den Grad bezieht, in dem Interventionen in das Leben von Schülern zur besseren Angleichung ihrer Lebenschancen innerhalb und außerhalb der Schule ergriffen werden sollten (Coleman 1968). Was hat all dies nun mit der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung zu tun? Auch dieser Frage hat man sich in einer scheinbar essentialistischen Manier
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angenähert, welche die ihr zugrundeliegenden rhetorischen Aspekte verschleiert. Gemeinsam ist den Kontroversen um Hirntod, Chancengleichheit und Bildungsforschung die grundsätzliche essentialistische Annahme, dass sich die Kontroverse um die Frage dreht (oder drehen sollte), was X ist. Diese Herangehensweise ist typisch für definitorische Kontroversen (Schiappa 2003). Die besondere Wendung besteht darin, dass die neue Orthodoxie nicht versucht, das Wesen der Bildungsforschung direkt zu enthüllen, sondern zunächst eine Reihe allgemeiner Kriterien für Wissenschaft als unproblematisch unterstellt und dann versucht, die verschiedenen Arten von Bildungsforschung anzugeben, die diesen entsprechen. Die pragmatische Antwort auf definitorische Kontroversen Für die pragmatische Alternative zum Essentialismus – der Gegenspieler in den Beispielen Hirntod und Chancengleichheit – beinhalten definitorische Kontroversen „soll“- statt „ist“-Fragen. Sie fragt danach, wie X verstanden werden sollte, statt danach, was X ist, und sieht (Neu-)Definitionen als „rhetorisch herbeigeführt“ (Schiappa 2003). Diese Herbeiführung kann wenigstens zwei Formen annehmen: (a) zu „definitorischen Brüchen“ führende Diskurse um Handlungen und politische Maßnahmen (wie die Beispiele Hirntod und Chancengleichheit zeigen) und (b) Kontoversen um Legitimität und Autorität (wie im Falle der Bildungsforschung). Diese beiden Formen können miteinander einhergehen und tun dies sicherlich auch oft. Dennoch steht die zweite Form bei der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung im Vordergrund. Wie bereits aufgezeigt, behandelt die neue Orthodoxie die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung eher im Rahmen von „ist“- als von „soll“-Aussagen und geht davon aus, dass das, was Wissenschaft ist, im Großen und Ganzen unproblematisch bestimmt werden kann. Hierbei erhebt sie die Wissenschaft stillschweigend über das rhetorische Schlachtfeld, welches Debatten über das, was sein sollte, kennzeichnet, und reklamiert diese Stellung dann auch für die Bildungsforschung. Aber wie steht es mit der Wissenschaftskonzeption, auf der die neue Orthodoxie gründet? Steht sie tatsächlich über dem rhetorischen Schlachtfeld? Obwohl es nicht zu der Art von Dingen gehört, die sich üblicherweise in Standarddarstellungen wissenschaftlicher Methoden in Büchern und Kursen finden, musste Wissenschaft im Laufe ihrer Geschichte ihre Schirmherren hegen und pflegen, um zu überleben. Zu diesem Zweck beschrieb sie sich selbst als etwas, das mehr ist als bloß eine bestimmte Art überzeugender Argumentation. Francis Bacon, ein früher Verteidiger der Wissenschaft, behauptete, dass wissenschaftliches Denken Beispiel sei für ein „von Meinungen rein gewaschenen Geist“ (zitiert nach Lessl
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2005, Absatz 15). Sofern sie richtig gemacht ist, sei Wissenschaft (ihrem Wesen nach) objektiv und stelle die sicherste Basis für Wissen bereit. Sie ist frei von Eigeninteresse und Politik; sie ist die reine Suche nach Wahrheit, die nicht daran gebunden ist, wie ihre Resultate interpretiert und genutzt werden können; sie ist der Schlüssel, um Probleme zu lösen und sozialen und technologischen Fortschritt zu erzielen. Hierdurch ist Wissenschaft, laut Thomas Lessl (2005), eine „Meisterin der Verschleierungen“ (Absatz 15). Sie habe danach gestrebt, ein „priesterliches Ethos zu schaffen – durch die Behauptung, sie selbst sei die einzige Vermittlerin von Wissen oder wenigstens von wirklich wertvollem Wissen [...] und solle von daher eine vergleichbare Autorität genießen“ (Absatz 27). Das Problem ist, dass viel von dem, was priesterliche Wissenschaft zu sein beansprucht, in ernsthafte Kritik geraten ist. Thomas Kuhn durchdringt den (positivistischen) Deckmantel der Wissenschaft auf verschiedene Weisen, wobei er soweit geht, eine Analogie zwischen wissenschaftlichen und politischen Revolutionen zu behaupten, um auf die mit der Aufstellung wissenschaftlicher Theorien verbundenen rhetorischen Kämpfe hinzuweisen. Wie bereits angesprochen, werden verschiedene Werte wie Genauigkeit, Reichweite, Einfachheit, Konsistenz und Umfang zugrunde gelegt und gewichtet. Bei der Bestimmung, welche Theorie sich durchsetzen sollte, kommt eine Urteilsform ohne formale Regeln zum Tragen – und ohne aufzudeckende „ist“Aussagen. Es geschieht in einem Prozess überzeugender Argumentation. Kuhns Fokus lag auf den Naturwissenschaften. Die positivistische Sozialwissenschaft geriet ebenfalls in die Kritik, und in grundsätzlicherer Art geschah dies mit dem Aufkommen dessen, was Rabinow und Sullivan (1979) als „interpretative Wende“ bezeichnen. Von besonderem Interesse ist hier die Kritik des Paares Objektivität–Wertneutralität, das in Bacons Ideal des wissenschaftlichen Geistes als „von Meinungen rein gewaschen“ prägnant zusammengefasst ist. Feministische „Standpunkttheoretikerinnen“ haben die Seite der Objektivität dieser Paarung in Frage gestellt, indem sie zeigten, dass mehr als nur die Beachtung der Regeln traditioneller, positivistischer Sozialforschung bezüglich Design, Stichprobenziehung, Analyse usw. notwendig ist, um Objektivität in der Sozialforschung zu erreichen. Denn auch wenn diese Quellen der Verzerrung der Objektivität vermieden werden, ist noch nichts über die Gefahr gesagt, die aus der historischen Dominanz bestimmter Gruppen in der Sozialwissenschaft resultiert (insbesondere weißer Männer), die einschränkt, was wahrgenommen werden kann und welche Hypothesen aufgestellt werden können. Harding (1993) kehrt die Behauptung um, positivistische Sozialforschung sei zu objektiv: „Es ist nicht so, dass [der Positivismus] zu streng oder zu ‚objektivierend‘ ist [...], er ist nicht streng oder objektivierend genug“ (ebd., S. 50f.).
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Harding entwickelt die Idee „starker Objektivität“, die „erfordert, dass die Subjekte des Wissens auf die gleiche Ebene der Kritik und der kausalen Analyse gestellt werden wie die Objekte des Wissens“ (ebd., S. 69). Das Erreichen dieses Objektivitätsgrades setzt den Einbezug eines weitaus größeren Spektrums an ForscherInnen und TeilnehmerInnen voraus, als es in der Sozialforschung bisher die Regel war, insbesondere von Gruppen, die bisher ausgeschlossen waren. Gerade weil solche Gruppen marginalisiert worden sind, verspricht der Einbezug ihrer Perspektive – oder ihres „Standpunktes“ – eine Verbesserung des Verständnisses der Funktionsweise sozialer Prozesse im Vergleich zu solchen Verständnisweisen, die ausschließlich aus dem Mainstream entstanden sind, wo das durch alternative Standpunkte Verfügbare weitgehend unsichtbar war. Lorraine Code (1993) betrachtet das epistemologische Schema, das häufig im Mittelpunkt philosophischer Analyse stand: „S weiß, dass A“, wobei S der Wissende ist und A (eine Aussage) das Objekt des Wissens darstellt. Code wendet sich gegen die Objektivitätskonzeption des Schemas, in welchem die Subjekte des Wissens zu einer Abstraktion werden, so dass „kompetent“ Wissende (Ss) austauschbar sind. Ebenso problematisiert sie die in diesem Schema enthaltene Abstraktion bezüglich des Wissens, die Menschen betreffende Aussagen (As) nicht von Aussagen unterscheidet, die physische Objekte betreffen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen geschichtlichen Situation setzt das Schema „S weiß, dass A“, statt die mit der Unterscheidung von Wissenden einhergehende Subjektivität zu vermeiden, einfach voraus, dass die Subjektivität weißer männlicher Sozialwissenschaftler auf alle übertragen werden kann (oder übertragen werden sollte). Und zudem impliziert das Schema, dass Menschen in der gleichen, „wenig subtilen“ Weise zu verstehen sind wie die Gegenstände der Physik. Code zufolge sind die Theorie- und Wertorientierungen von Forschern nicht unabhängig von ihrer sozialen Position oder dem weiten soziohistorischen Kontext. Beide spielen eine wichtige Rolle, weil sie bestimmen, welche „Fakten“ denkbar sind und voraussichtlich gefunden werden. Ebenso tragen Menschen, anders als physikalische Objekte, subjektive Züge. Daher, so argumentiert sie, „erfordert Objektivität die Berücksichtigung von Subjektivität“ (ebd., S. 32). Was die Seite der Wertneutralität des Paares Objektivität–Wertneutralität betrifft, so hat der bewusste Einbezug marginalisierter Gruppen in die Sozialforschung (als Teilnehmer und als Forscher) eine ganz offensichtliche politische Dimension in Bezug auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Das ist nichts, was Denkerinnen wie Harding problematisch finden – im Gegenteil. Für Harding (2006) ist die Verbindung von Sozialwissenschaft mit politischen Stellungnahmen unvermeidlich, wie „unbewusst“ solche Stellungnahmen den Forschern auch immer sein mögen.
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Code (1993) zufolge sind Wertorientierungen ebenfalls nicht immun gegenüber kritischer Überprüfung (und sollten dies auch nicht sein). Doch wie sie verdeutlicht, lässt die auf die Trumpfkarte „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass...“ gestützte Objektivitätsprätention positivistischer Sozialwissenschaft die kritische Prüfung von Werten un-(anti-)wissenschaftlich werden (vgl. ebd., S. 27), mit dem Ergebnis, dass „Forschung dort aufhört, wo sie beginnen sollte“ (ebd., S. 30). Sozialforschung und politische Werte Die Behauptung, dass Sozialwissenschaft unumgänglich mit Politik durchsetzt ist, war ein wiederkehrendes und zentrales Thema in meiner Analyse. An diesem Punkt könnte eine Konkretisierung durch zwei greifbare Beispiele von Vorteil sein. Daher werde ich in einem Exkurs zwei relativ bekannte Fälle betrachten, zunächst die „Lysenko-Affäre“, ein unter Philosophen berühmtes Beispiel für die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik, das oft genutzt wird, um die Übel ihrer Durchmischung aufzuzeigen (z. B. Phillips/Burbules 2000). Trofim Lysenko war ein ukrainischer Agrarwissenschaftler, der in den 1930er Jahren in einen Streit zwischen sowjetischen Genetikern und Lamarckisten eintrat, den er schließlich für sich entschied. Der Streit drehte sich um die Akzeptanz der jeweiligen Erbtheorien, insbesondere im Hinblick auf die Getreideproduktion. Eine wichtige Frage in dem Streit war, welche Art Theorie am besten zu den materialistischen Grundsätzen des Marxismus passt und damit auch zur politischen Revolution. Beide Seiten behaupteten, ihre Theorie passe am besten, und bezeichneten den Gegner als Bourgeois. Obwohl er selbst nicht Mitglied der Kommunistischen Partei war, redete Lysenko den politischen Machthabern, Stalin eingeschlossen, sehr wirkungsvoll nach dem Mund, um für seine eigene Version der lamarckistischen Position zu werben und Akzeptanz zu gewinnen. Lysenko betonte die (angeblichen) empirischen Belege seiner praktischen Erfolge, während er seine Fehler vertuschte und Genetiker als Elfenbeinturm-Intellektuelle charakterisierte, die ihre Zeit damit verbringen würden, Manipulationen an Merkmalen der Fruchtfliege vorzunehmen. Er griff die Genetiker auf aggressive Art und Weise an, was soweit ging, dass er sie als Klassenfeinde bezeichnete und ihren Widerspruch mit Hilfe der sowjetischen Regierung zum Schweigen brachte, was in manchen Fällen hieß, diese einsperren zu lassen. In der Gemeinschaft der sowjetischen Wissenschaftler wurde Lysenkos Theorie schließlich als vollkommen falsch erkannt und verworfen, allerdings erst nachdem sie verheerende Folgen für die sowjetische Agrarproduktion hatte.
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Lysenko war zu einer bestimmten Zeit in der sowjetischen Geschichte erfolgreich, in der der Wetteifer zwischen genetischer und lamarckistischer Theorie von sowjetischen Wissenschaftlern als genuin wissenschaftliche Streitigkeit aufgefasst wurde. Hinzu kommt, dass das Materialismusprinzip, ein Grundsatz der politischen Theorie des Kommunismus, im Hinblick auf den ontologischen Status von Genen sowohl epistemologisch als auch metaphysisch zur Debatte stand, was die Bedeutung von „politisch“ in diesem rhetorischen Kontext verkompliziert. Es ging um viel mehr als nur eine strategische Frage von Seiten der Wissenschaftler, wie Unterstützung durch politische Mächte für die von ihnen favorisierte Theorie sichergestellt werden konnte. Lysenko war in der Tat ein Meister schlechter Wissenschaft, und Politik war hierbei in beträchtlichem Maße im Spiel. Aber war die Wissenschaft schlecht, weil sie per se von Politik durchsetzt war oder weil sie von schlechter, antidemokratischer Politik durchsetzt war, wodurch Andersdenkende ausgeschaltet wurden und die Beurteilung empirischer Befunde durch die wissenschaftliche Gemeinschaft zweitrangig wurde gegenüber Lysenkos Fähigkeit, seine Theorie an die politischen Mächte zu verkaufen? Man denke nun an den berühmt-berüchtigten J. Philippe Rushton, einen kanadischen Psychologen, dessen Lebensinhalt darin lag, Rasse in Verbindung zu bringen mit Intelligenz, Hirngröße, einer Reihe moralischer Verhaltensweisen und Penisgröße (wobei hier die Beziehung umgekehrt ist). Asiaten stehen zuoberst, gefolgt von Weißen und Afrikanern. Wie die Autoren von The Bell Curve (Herrnstein/Murray 1994) und Arthur Jensen (Rushton war Jensens Co-Autor), hat Rushton Datenmengen und statistisches Analysematerial in seinen Arbeiten zusammengetragen, vermeintlich objektiver Wissenschaft folgend, wo immer sie auch hinführt. Lässt man die Berechtigung der Behauptungen Rushtons hinsichtlich seiner Daten und Methodologie beiseite, so ist weder einzusehen, wie man sein Werk von Politik trennen kann, um es nur in Bezug auf dessen Daten und Analysemethoden zu beurteilen, noch warum dies getan werden sollte. Warum sollte, wie Code fragt, die Untersuchung hier enden? Warum sollten wir nicht fragen, warum Rushtons Werk von Interesse ist und für wen? Wer unterstützt es? Was bedeutet dieses Werk für die Politik? Für die Demokratie? Für diejenigen, die es als minderwertig darstellt? Sozialforschung besteht nicht aus der Sammlung und Organisation roher Fakten, die einfach so herumliegen. Falls es überhaupt Sinn macht, in der Sozialforschung von rohen Fakten zu sprechen, existieren solche Fakten lediglich relativ zu einem wissenschaftlich-politischen Bezugsystem (Howe 2003). Im Falle Rushtons würde die Feststellung von Verbindungen zwischen Rasse und erwünschten menschlichen
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Eigenschaften seine Vererbungs- und Evolutionstheorie einer Hierarchie der Rassen bestätigen, was wiederum dazu beitragen würde, die bestehende soziale Hierarchie dem anzupassen, was die Wissenschaft als unveränderlich erkannt hat, wodurch rassistische politische Maßgaben rational erscheinen. In diesem Licht betrachtet hat Rushtons Arbeit unverkennbar antidemokratische Dimensionen. Sie ist offensichtlich schlecht für die Beziehung zwischen den Rassen und schädlich für die, welche sie herabsetzt. Wegen der großen Übereinstimmung unter den Merkmalen der Rassen, die selbst Vertreter eines biologischen Rassendeterminismus einräumen müssen, ergeben sich aus ihr keine politischen Schlussfolgerungen für eine rassenbasierte Verteilung von Chancen und Positionen. Wenn nicht die Prinzipien von Leistung und Gerechtigkeit durch ein rassisches Kastensystem ersetzt werden, müssen Chancen auf Basis individueller Qualifikationen verteilt werden. Wenn man also davon ausgeht, dass die Konzepte von Wissenschaft und Objektivität nicht auf Wesenheiten beruhen – warum sollte man deren positivistische Spielarten wählen, die so dünn sind, dass man auf ihrer Grundlage Arbeiten wie die von Rushton gar nicht in ihrer Gesamtheit beurteilen kann, um ihren wissenschaftlichen Wert zu bestimmen. In einer liberalen Demokratie gibt es gute Gründe, die Art von Forschung, wie Rushton und seinesgleichen sie betreiben, nicht zu verbieten oder zu zensieren. Aber Zweifel sind angebracht, ob zu diesen Gründen zählt, dass Rushtons Werk ein Beispiel für gute, objektive Wissenschaft ist (oder sein könnte). So sind Rushtons Finanzierungsquellen nicht unwichtig, um den wissenschaftlichen Wert seiner Arbeit zu beurteilen. Eine seiner wichtigsten Quellen ist beispielsweise der Pioneer Fund, der in den späten 1930er Jahren gegründet wurde, um die Verbreitung der Eugenik zu unterstützen, für die sich Rushton einsetzt und für die seine Forschung zu Rasse und Intelligenz grundlegend ist (Jackson 2006). Dass Rushton von Geldgebern wie dem Pioneer Fund gesponsert wurde, ist natürlich kein hieb- und stichfestes Argument gegen ihn. Aber mit Bayes gesprochen, steht dieser Sachverhalt gewiss in engem Zusammenhang mit der Erhöhung der AprioriWahrscheinlichkeit, dass – welche Forschungsergebnisse Rushton auch immer zu Tage fördert – seine rassistischen Vorurteile bestätigt werden. (Anmerkung: Argumente ad hominem sind nur dann unangemessen, wenn irrelevante Merkmale des Charakters und des Hintergrundes einer Person eingebracht werden, was hier nicht der Fall ist.) Die Moral von der Geschichte ist im Falle Rushtons die gleiche wie im Falle Lysenkos, und sie besteht nicht darin, eine Trennung von Wissenschaft und Politik anzustreben, schon gar nicht, wenn es um eine auf Sozialpolitik ausgerichtete Wis-
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senschaft geht. Selbst wenn eine solche Trennung wünschenswert wäre, so ist es doch unmöglich, diese zustande zu bringen; und die Illusion, sie sei möglich, gewährt den Rushtons dieser Welt Schutz unter dem Schirm, den die positivistische Rhetorik der Wissenschaft zur Verfügung stellt. Die Moral von Rushtons und Lysenkos Geschichte ist, dass schlechte Politik – undemokratische, eigennützige, autoritäre Politik – zu schlechter Wissenschaft führt. Entsprechend sollte das politische Bezugssystem, in welches wissenschaftliche Forschung eingebunden ist, beständiger kritischer Prüfung unterzogen werden. Ein sehr wichtiger Grund für die Beschäftigung mit Fällen wie Rushton und Lysenko besteht darin, dass wir in der Auseinandersetzung mit ihnen erkennen können, wie man Glaubwürdigkeit, Prestige, Unterstützung und Einfluss erlangen kann, wenn man in der Lage ist, den Mantel der Wissenschaft für sich zu beanspruchen. Ian Hacking (1999) stellt diesen Aspekt der Konzeption von Wissenschaft mit seinem Terminus „elevator words“ (Aufzugsworte) heraus. Andere „elevator words“ sind z. B. Fakten, Wahrheit, Realität, Objektivität und Wissen. Ein wichtiges Merkmal solcher „elevator words“ ist deren zirkuläre Definition. Eine bestimmte Wissenschaftskonzeption findet Aufnahme bei einer Reihe von Konzeptionen von Fakten, Wahrheit, Realität, Objektivität, Wissen etc., die kreisförmig miteinander verbunden sind, so dass die Überarbeitung der Bedeutung eines Konzeptes unweigerlich die Überarbeitung der Bedeutung anderer Konzepte erforderlich macht. Die Weise, in welcher die Konzepte von Objektivität und Wissenschaft in den Untersuchungen Hardings und Codes verknüpft sind, ist ein Beispiel für diese Zirkularität. Ein zweites wichtiges Merkmal von „elevator words“, und das, was mich hier am meisten interessiert, besteht darin, dass sie trotz ihrer Abgehobenheit – Wittgenstein (1958) würde sie wohl „sublimiert“ (ebd., Abschnitt 38) nennen – keinen festen Wesensgehalt haben. Vielmehr sind sie Produkte des Sprachgebrauches und als solche instabil und veränderbar. Weil so viel davon abhängt, welche Definitionen sie annehmen, stehen sie, wie Hacking bemerkt, im Zentrum einiger ziemlich „giftiger“ Auseinandersetzungen. Ich bin mir nicht sicher, ob es angemessen ist, die Auseinandersetzung um eine Wissenschaft von der Erziehung als „giftig“ zu bezeichnen, aber zumindest bislang wirkte sie polarisierend.8 8 Verschiedene bedeutende Zeitschriften haben diesem Thema ganze Hefte oder Sonderkapitel gewidmet, z. B. ein großes Kapitel über wissenschaftliche Bildungsforschung in Educational Researcher (Heft 8/2002); ein ganzes Heft von Qualitative Inquiry (Heft 4/2004); ein Symposium zur Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung in Educational Theory (Heft 2/2005) sowie ein Heft des Teacher College Record (Heft 1/2005), welches den Implikationen wissenschaftlicher Bildungsforschung für qualitative Untersuchungen gewidmet war. Zusätzlich zu dem zuvor erwähnten Kapitel des Educational Researcher sind mehrere Artikel erschienen, die auf verschiedenste Art der neuen Orthodoxie kritisch gegenüber stehen, z. B. Bullough (2006); Freeman u. a. (2007); Hostetler (2005) und Johnson/Onwuegbuzie (2004).
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Bedenken gegen eine rhetorische Darstellung der Wissenschaft Aber wenn diese rhetorische Darstellung der Wissenschaft richtig ist – wenn es kein Priesteramt gibt – dann ist alles erlaubt. Oder? Nein! Wenn man Wissenschaft als rhetorisch charakterisiert, wie es aus meiner Sicht für Kuhn, Harding, Code und Hacking zutrifft, so muss man nicht bestreiten, dass Wissenschaft „eine hochgradig leistungsfähige Form der Untersuchung“ (Lessl 2005, S. 2) darstellt. Man bestreitet lediglich, dass wissenschaftliche Behauptungen über und außerhalb von überzeugenden Argumentationen stünden, dass Wissenschaftler bei der Durchführung ihrer Forschungen für bestimmte Schwächen unanfällig seien (wie eingeschränkte Perspektivität, Ich-Bezug, Widerstand gegen Neues, ein Interesse an der Höhe ihres Gehalts und ähnliches mehr). In Bezug auf jeden einzelnen dieser Punkte verfehlen Wissenschaftler das Kriterium des „von Meinungen frei gewaschenen Geistes“. Die Charakterisierung der Wissenschaft als rhetorisch führt auch nicht notwendigerweise dazu, dass die Frage „Ist X eine Wissenschaft?“ beliebig wäre. Ebenso wie es trotz der Grauzone, die durch das Phänomen des Hirntodes in den Vordergrund trat, eindeutige Fälle des Lebens und des Todes gibt, existieren eindeutige Fälle von Wissenschaft und Nichtwissenschaft, trotz der Grauzone, welche durch die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung deutlich wurde. Physik, Biologie und Chemie sind paradigmatische Fälle von Wissenschaft, während Wahrsagerei und Astrologie für Nichtwissenschaft stehen. Viele Fälle dazwischen sind weniger eindeutig, unter anderem etliche, die „Wissenschaft“ in ihrem Namen tragen. Von welcher Art Wissenschaft sind Informatik (computer science) und Kognitionswissenschaft? Wie steht es mit dem Kreationismus? Und dann sind da noch Pflegewissenschaft, Bibliothekswissenschaft und Milchwissenschaft. Was sollten wir zu diesen sagen? Warum? Ist die Mathematik eine Wissenschaft? Frauenforschung? Ethnic studies? Intuitionen können auf diese Fragen keine sicheren Antworten geben, da keine Wesensbestimmungen oder Verwendungsgeschichten existieren, auf welche sie sich gründen könnten. Pragmatische (nicht-beweisende) Argumente sind gefordert, was mich zu dem Punkt zurückbringt, welchem Zweck eine Argumentation dient, wenn sie in der einen oder anderen Weise auf die Frage antwortet, ob ein X eine Wissenschaft ist. Vorstellbar wäre ein nur taxonomisches Interesse, was vielleicht zu einem Elfenbeinturm-Philosophen passen würde. Viel verbreiteter ist allerdings ein Interesse daran, den Mantel der Wissenschaft zu verleihen (oder abzusprechen) und die Vorteile, die dies für das in Frage stehende X bringt. Wie zuvor gezeigt wurde, verschafft die Möglichkeit, den Mantel der Wissenschaft für sich zu beanspruchen, Vorteile wie Prestige, Glaubwürdigkeit, Unterstützung und Einfluss.
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Schlussendlich behaupte ich nicht, es sei niemals sinnvoll zu fragen, ob ein X als Wissenschaft gelten kann. Man denke an Wahrsagerei oder Astrologie. Keine der beiden zählt meiner Ansicht nach zur Wissenschaft, da deren Vertreter Gegenevidenzen zu ihren Behauptungen gleichgültig gegenüber stehen und sich nicht darum bemühen, die Mechanismen, die ihrem Handwerk zugrunde liegen, aufzuzeigen und darzulegen, wie diese zu dem passen, was sonst noch über die Funktionsweisen der Welt bekannt ist. Man betrachte nun Kreationismus oder „intelligent design“. Im Gegensatz zu Wahrsagerei und Astrologie beansprucht die Theorie des intelligent design das Gleiche zu tun wie die Evolutionstheorie, nur besser – unter anderem durch den Einbezug von Wahrscheinlichkeitstheorie. Was führt also Kritiker dazu, der Theorie des intelligent design nicht nur abzusprechen, dass sie gerechtfertigter ist als die Evolutionstheorie, sonder jene insgesamt außerhalb des Spektrums der Wissenschaft zu verorten? Die bündige Antwort ist, dass intelligent design auf religiöser Autorität beruht, was der von Wissenschaft geforderten Art der Legitimation von Annahmen widerspricht. Worin auch immer der Wert dieser Kritik von Wahrsagerei, Astrologie und intelligent design bestehen mag, der Wert auf sie einzugehen ist ziemlich offensichtlich. Wenn Wahrsagerei und Astrologie keine Wissenschaften sind, sind Praktiker, welche unter Berufung auf den Mantel der Wissenschaft Bezahlung für ihre Dienstleistungen verlangen, Trickbetrüger. Wenn intelligent design keine Wissenschaft ist, dann ist dessen Einführung an Schulen, als wenn es sich um eine Wissenschaft handelte, kein Gewinn für das Wissenschaftscurriculum, sondern die Einführung einer versteckten Form von Religionserziehung (dies ist genau das Argument, was den Richter John E. Jones überzeugt hat, die Einführung von intelligent design in das Wissenschaftscurriculum durch das Dover, Pennsylvania School Board für illegal zu erklären; Associated Press 2005). Der Wert der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung ist weniger eindeutig als der der vorangegangenen Beispiele, zum großen Teil deshalb, weil diese Frage in der zuvor beschriebenen Weise mehrdeutig ist. Angesichts der hohen auf dem Spiel stehenden Einsätze in Verbindung mit der Unsicherheit in einer großen Grauzone, ist die Grenzziehung der neuen Orthodoxie um jene Arten von Bildungsforschung, welche für wissenschaftlich erachtet werden, und deren Abtrennung von anderer Forschung fragwürdig, polarisierend und kontraproduktiv. Die Grenze ist fragwürdig wegen ihrer ebenso essentialistischen wie intuitiven Methodik und der mit ihr verbundenen Nichtbeachtung der Schwierigkeit des Abgrenzungsproblems. Sie ist polarisierend, denn der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung nachzugehen (jedenfalls außerhalb philosophischer Seminarräume), hat unumgänglich Folgen für jene, die man einer höherstehenden Klasse von Forschern zuordnet,
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gegenüber jenen, die man ausschließt. Ich vermute, dass die Marginalisierten sich dieser Dimension der neuen Orthodoxie wie auch des Autoritarismus, der in ihrer Doktrin der Einheit der Wissenschaft verkörpert ist, wesentlich bewusster sind, als jene, die man zu den echten Bildungsforschern zählt (Harding 2006; vgl. auch Moss 2005 und St. Pierre 2002). Schließlich ist die Grenze aufgrund ihrer unangemessen polarisierenden Wirkung kontraproduktiv. Fazit Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es ungünstig zu fragen, was Bildungsforschung konstituiert. Die Frage befördert (bewusst oder nicht) eine eigennützige Parteilichkeit, da sie den Höhergestellten ermöglicht, die von ihnen bevorzugte Definition von Wissenschaft zu nutzen, kurzerhand Anfechtungen und alternative Sichtweisen von der Diskussion um Bildungspolitik und pädagogische Praxis auszuschließen – gemäß dem Satz: „Was du sagst, ist vielleicht interessant, aber es ist nicht wissenschaftlich“. Der Ausschlusseffekt ist wahrscheinlich weniger unmittelbar als hier dargestellt, aber er ist verbreitet im Bereich der Finanzierung und beim Zugang zu politischen Entscheidungsträgern. Dennoch wäre es unklug, die grundsätzliche Idee ganz und gar zurückzuweisen, dass eine Wissenschaft von der Erziehung eine gute Sache wäre. Wir sind lediglich noch nicht in der Lage, sie auf befriedigende Weise zu bestimmen. Bis dahin muss die Idee einer Wissenschaft von der Erziehung bedingt zurückgewiesen werden: Falls es die neue Orthodoxie sein sollte, die mit einer Wissenschaft von der Erziehung gemeint ist, dann ist diese Konzeption zu technokratisch, unkritisch, engstirnig, exklusiv usw., um eine gute Sache zu sein. Sicherlich stellt die Zurückweisung der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung eine enorme rhetorische Herausforderung dar. Eine grobschlächtige Form von unterschwelligem Positivismus ist die herrschende Wissenschaftskonzeption im weiteren rhetorischen Kontext, der die Öffentlichkeit, politische Entscheidungsträger und, wie ich vermute, eine große Zahl von Wissenschaftlern einschließt. In der Zurückweisung der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung sieht eine bedeutende Anzahl von ihnen zweifellos den Versuch, sich einer Rechenschaftspflicht für (sogenannte) Forschung zu entziehen, die aus einer Kombination subjektiver, nicht generalisierbarer, parteilicher, überkritischer, unverständlicher, nutzloser, spekulativer Vermutungen besteht. Aus Sicht des anderen Lagers haben grobschlächtige Positivisten in der Gemeinschaft der Bildungsforscher den neoklassischen Experimentalismus bekräftigt (Howe 2004), wie er von Campbell und Stanley (1963) vertreten wurde, für die experimentelle Methoden „das einzige
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Mittel“ (ebd., S. 2) sind, um Streitigkeiten in der Pädagogik zu schlichten, festzustellen, „was wirkt“, und einen kumulativen Wissensfortschritt in Gang zu bringen. Das Wiederaufleben solchen Denkens hat zur Erneuerung des Paradigmenstreits beigetragen.9 In den Augen einer bedeutenden Anzahl anderer Vertreter aus der Gemeinschaft der Bildungsforscher, die sich explizit von einer positivistischen Wissenschaftskonzeption distanzieren würden, ist die im SRE-Bericht kodifizierte neue Orthodoxie Antwort auf die zuvor dargelegte dritte Zweckbestimmung der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung: Sie soll verhindern, dass der Gemeinschaft der Bildungsforscher von außen eine fremde Wissenschaftskonzeption untergeschoben wird (Eisenhart/Towe 2003; Phillips 2006). Im SRE-Bericht wurde Sorgfalt darauf verwandt herauszustellen, dass qualitative Methoden ein wichtiger Teil von Bildungsforschung sind. Auch im Vorwort der Standards für empirische Sozialwissenschaft der AERA wurde sorgfältig vermieden, Vorschriften für die Durchführung empirischer Forschung aufzustellen oder anzudeuten, andere Formen von Bildungsforschung, einschließlich geisteswissenschaftlich orientierter Forschung, fehle es an Bedeutung. Aus dieser Perspektive ist die neue Orthodoxie ein Kompromiss mit den Entscheidungsträgern, um der Verordnung einer noch restriktiveren Konzeption wissenschaftlicher Forschung in der Pädagogik vorzubeugen. Das Bemühen um einen solchen Kompromiss ist unter den gegenwärtigen Umständen durchaus vernünftig, da es gute Gründe gibt, den rhetorischen Kontext ernst zu nehmen, auf welchen der Kompromiss zu reagieren sucht. Dementsprechend lehne ich die hinter dem SRE-Bericht stehende grundsätzliche Motivation nicht ab. Es ist das Ergebnis, das ich für problematisch halte. Aufgrund der weiter oben dargestellten Gründe, insbesondere der Marginalisierung qualitativer Methoden und der Geisteswissenschaften, fehlt es den Anhängern der neuen Orthodoxie an Bewusstsein dafür, in welchem Ausmaß sie das Rad zurückdrehen in die Zeit vor dem Paradigmenstreit und der Blüte von Campbells und Stanleys Konzeption guter Bildungsforschung. Die Frage ist also, ob es einen Weg gibt, mit dem gegenwärtigen rhetorischen Kontext umzugehen, ohne sich der neuen Orthodoxie gleich anzuschließen. Ich habe einige grundsätzliche Vorschläge. Es wäre wohl von Nutzen, sich noch einmal die Parallelen vor Augen zu führen, die es zwischen dem Feld der Pädagogik und anderen interdisziplinären Bestrebun9 Robert Boruch (2002) beispielsweise hat die Behauptung aufgestellt, dass Bildungsforscher, die dem neoklassischen Experimentalismus widersprechen, „ideologischen Positionierungen“ (ebd., S. 37) verhaftet seien. Eine ähnliche Analyse findet sich bei Thomas Cook (2002). Und obwohl ich den SRE-Bericht nicht mit neoklassischem Experimentalismus gleichsetze, erkennen Pamela Moss (2005) und Elisabeth St. Pierre (2002) in dem Bericht eine reaktionäre Positionierung gegenüber einem unscharf charakterisierten Postmodernismus.
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gen in der sozialen Welt gibt, die Forschung in Praxis einflechten, insbesondere in der Medizin. Das Aufkommen „evidenzbasierter Medizin“ gab einen bedeutenden Anstoß für das, was „wissenschaftsbasierte“ pädagogische Praxis genannt wurde und was wiederum die Ausformulierung der neuen Orthodoxie vorantrieb. Auch die evidenzbasierte Medizin begreift randomisierte Experimente als den Goldstandard, um einen Bestand an wissenschaftlichem Wissen aufzubauen, der in der Praxis zur Anwendung gebracht werden soll. Allgemein betrachtet gründet sie in der gleichen positivistischen Rhetorik der Wissenschaft, welche die Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung rahmt. Allerdings existiert eine lange Liste an Kritikpunkten hinsichtlich evidenzbasierter Medizin (vgl. Farley 2007; Loewy 2007; Strauss/McAlister 2000), die enge Parallelen aufweisen zur Kritik an einer wissenschaftsbasierten pädagogischen Praxis, wie sie die neue Orthodoxie definiert: Die Frage nach ihrer Effektivität wurde noch nicht an deren eigenen strengen Maßstäben gemessen; randomisierte Experimente sind häufig nicht durchführbar; randomisierten Experimenten fehlt es oft an externer Validität aufgrund der speziellen Bedingungen, unter denen sie durchgeführt werden und aufgrund von Stichprobenverzerrungen durch Selbstrekrutierung; das Modell angewandter Wissenschaft schränkt praktisch Arbeitende oft ein, da es die Bedeutung des Know-how unterschätzt, das aus klinischer Erfahrung und Urteilskraft stammt; die für die Praxis bereitgestellte Orientierung ist verhältnismäßig unbedeutend, da verfügbares Wissen oft nicht auf spezifische Situationen angewendet werden kann und der Bestand an Studien, welche das Kriterium der Angemessenheit erfüllen, recht begrenzt ist. Jeder dieser Kritikpunkte problematisiert die Möglichkeit einer auf die Beantwortung von „Was wirkt“-Fragen bezogenen evidenzbasierten Medizin und fordert diese so anhand ihrer eigenen Maßstäbe heraus. Evidenzbasierte Medizin kann auch grundsätzlicher infrage gestellt werden, wiederum parallel zur Kritik an der neuen Orthodoxie im Bereich der Pädagogik. Die evidenzbasierte Medizin grenzt aus ihrem Bereich der Untersuchung dessen, „was wirkt“, politische Werte betreffende Fragen aus – beispielsweise die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung – und ist von daher nicht in der Lage, die erhebliche Kluft im Gesundheitssystem in den Vereinigten Staaten zu thematisieren, von der genau die gleichen Bevölkerungsschichten betroffen sind, die unter der Kluft der Schulleistungen leiden (Lynch 2001). Die Konzentration der evidenzbasierten Medizin auf „wirksame“ Behandlungen kann sozialer Gerechtigkeit sogar entgegen stehen, indem es schwieriger wird, die Gesundheitsversorgung von einem Standpunkt außerhalb des Systems zu evaluieren (Loewy 2007), indem man etwa Nicht-Mediziner ermächtigt, als Evaluations-Funktionäre die Standards der Gesundheitsversorgung am
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Ziel der Gewinnorientierung auszurichten (Rodwin 2001). Evidenzbasierte Medizin lässt zudem soziale und kulturelle Aspekte von Patienten außen vor (mit Ausnahme ihrer Behandlung als Kovariablen), die in engem Zusammenhang mit der Erklärung und Verbesserung erwünschter Outcomes stehen. Dass evidenzbasierte Medizin in die Kritik geraten ist, löst natürlich nicht die Frage einer Wissenschaft von der Erziehung. Aber es ist von Bedeutung, dass Kritiker einer übermäßig engen, positivistisch inspirierten Wissenschaftskonzeption als Basis praktischen Handelns nicht auf das Feld der Pädagogik beschränkt sind. Ebenso wie evidenzbasierte pädagogische Praxis gemäß der neuen Orthodoxie bezieht sich auch evidenzbasierte Medizin nur auf einen Teil dessen, was im Horizont der Frage „Was wirkt?“ liegt (oder liegen sollte). Vielleicht wird diese Beobachtung zu einer Wiederaufnahme der Frage nach einer Wissenschaft von der Erziehung beitragen, insbesondere mit Rücksicht darauf, wie begrenzt – und begrenzend – die vorherrschende Konzeption ist. In ähnlicher Weise könnte mehr dafür getan werden, wichtige Unterschiede zwischen Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften herauszustellen und die verschwommenen Grenzen zwischen den Geisteswissenschaften und der mehr empirisch orientierten sozialwissenschaftlichen Forschung zu betonen. Das kontingente und umstrittene Wesen des Konzeptes der Bildungsforschung könnte ebenfalls stärker herausgearbeitet werden, genau wie die spezifischen Beiträge, welche die Geisteswissenschaften zu oder in der Bildungsforschung bei der Bestimmung dessen, „was wirkt“, leisten können. Noch einmal: „Was wirkt?“ steht elliptisch für „Was wirkt zur Erzeugung gewünschter Bildungsoutcomes?“. Die Untersuchung dessen, was im Rahmen menschlichen Strebens wertgeschätzt werden sollte – was wünschenswert ist – steht in weiten Teilen geisteswissenschaftlicher Forschung im Zentrum. Eine Bildungsforschung, die diese Fragestellung über Bord wirft, wirft ihren Kompass über Bord.
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Evidenz als Basis für Bildungsforschung und pädagogische Praxis
Warum „What works“ nicht funktioniert: Evidenzbasierte pädagogische Praxis und das Demokratiedefizit der Bildungsforschung* Gert Biesta
Einleitung: Erziehung als evidenzbasierte Praxis Die Idee, dass Erziehung eine evidenzbasierte Praxis sein oder werden sollte und dass Unterrichten eine evidenzbasierte professionelle Tätigkeit sein oder werden sollte, hat in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern an Bedeutung gewonnen (z. B. Davies 1999; Atkinson 2000; Oakley 2002; Slavin 2002; Feuer/Towne/Shavelson 2002; Simons 2003; Cutspec 2004; Thomas/Pring 2004). In Großbritannien ist der Anstoß zur evidenzbasierten Pädagogik auf kritische Berichte über den Stand der Bildungsforschung zurückzuführen, die vom Department for Education and Employment sowie dem Office for Standards in Education (OFSTED) in Auftrag gegeben wurden (Hillage Report 1998; Tooley/Darby 1998). Diese Berichte äußerten ernsthafte Zweifel an der Qualität und Relevanz der Bildungsforschung. Sie wandten u. a. ein, dass die Bildungsforschung keine Antworten auf Fragen gebe, die von staatlicher Seite an die Entwicklung bildungspolitischer Programme gestellt werden, dass sie professionellen Pädagogen keine klaren Richtlinien für ihre Arbeit zur Verfügung stelle, dass sie bruchstückhaft, nicht-kumulativ und methodisch fehlerhaft sowie oftmals tendenziös und politisch motiviert sei (Pring 2000). * Der Originalbeitrag „Why ‚What works’ won’t work: Evidence-based Practice and the Democratic Deficit in Educational Research“ ist 2007 erschienen in: Educational Theory, 57. Jg., H. 1, S. 1-22. Für eine erste Fassung der Übersetzung danken wir Frau Silke Runne, Frau Rahel Wesner und Herrn Martin Lange. / Anmerkung der Herausgeber: Der in diesem Text häufig verwendete Begriff „educational research“ ist mehrdeutig: Er wird sowohl für erziehungswissenschaftliche Forschung in einem weiten, qualitative Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften einschließenden Sinne verwendet als auch für ein enger gefasstes Paradigma empirischer, evidenzbasierter Bildungsforschung. So rekurriert der Autor mit dem Terminus „educational research“ einerseits auf die wiederholt geäußerte Kritik an der mangelnden Kumulativität und Praxisrelevanz erziehungswissenschaftlicher Forschung, andererseits verweist er selbst auf das Demokratiedefizit des neueren Typs empirischer, evidenzbasierter Bildungsforschung. Ungeachtet dieser Mehrdeutigkeit wird „educational research“ hier um der Konsistenz der Übersetzung willen durchgängig mit „Bildungsforschung“ übersetzt.
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Fragen nach der Qualität und Relevanz der Bildungsforschung wurden nicht nur von politischen Entscheidungsträgern und pädagogischen Praktikern geäußert, sondern kamen auch aus den Reihen der Bildungsforscher. So beschuldigte David Hargreaves – in einer Vorlesung über Unterrichten als forschungsbasierte professionelle Tätigkeit – die Bildungsforschung, sie habe nicht das relevante Wissen kumuliert, um Unterrichten zu einer forschungsbasierten professionellen Tätigkeit zu entwickeln (Hargreaves 1996; vgl. auch Hargreaves 1997; 1999). Es ist wichtig zu verstehen, dass sich Hargreaves’ Kritik nicht nur auf die Bildungsforschung bezog, sondern auch eine Botschaft an die pädagogische Praxis enthielt. Einerseits betonte er, dass die Bildungsforschung nicht den Bildungsforschern überlassen werden darf, sondern von zentraler Stelle inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen benötigt, um an Praxisrelevanz zu gewinnen. Andererseits besagt seine Kritik, dass die pädagogische Praxis nicht den Meinungen der Pädagogen überlassen werden sollte, sondern dass deren Arbeit auf Forschungsevidenz basieren sollte. Mit anderen Worten ruft Hargreaves hier zu einer Transformation der Bildungsforschung auf, damit die pädagogische Praxis in eine evidenzbasierte Praxis transformiert werden kann. Die Forderung nach einer doppelten Transformation, die sowohl die Bildungsforschung als auch die pädagogische Praxis betrifft, macht den Kern der evidenzbasierten Pädagogik aus (vgl. Davies 1999, S. 109; Fox 2003). In Großbritannien hat die Forderung nach einer Transformation von Bildungsforschung und pädagogischer Praxis zu einer Reihe von Initiativen geführt, die darauf zielen, die Kluft zwischen Forschung, Politik und Praxis zu überwinden. Unter anderem versuchte man die Ergebnisse der Bildungsforschung in systematischen Forschungsberichten zusammenzufassen1 und diese Ergebnisse verschiedenen pädagogischen Institutionen schneller zur Verfügung zu stellen.2 Man versuchte auch von zentraler Stelle, Schwerpunkte für die Bildungsforschung zu setzen, und zwar in inhaltlicher wie in methodologischer Hinsicht. In methodologischer Hinsicht erhält die experimentelle Forschung einen Schub – den Befürwortern evidenzbasierter Pädagogik zufolge stellt sie die einzige Methode dar, die imstande ist, zuverlässige Befunde über das zu liefern, „was wirkt“ (vgl. Hargreaves 1999; Oakley 2002; Cutspec 2004, S. 1f.). In den USA wurden ähnliche Bedenken an der Qualität und Bedeutung der Bildungsforschung geäußert. Diese Diskussionen hatten weitaus dramatischere Folgen als in Großbritannien; manche meinen, sie haben das Feld der Bildungsforschung 1 Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit des „Evidence for Policy and Practice Information and Coordinating Centre“ (EPPI-Centre) (vgl. hierzu Oakley 2002 sowie Evans/Benefield 2001; Hammersley 2001a) 2 Ein Beispiel hierfür ist „Evidence-Based Education UK“, ein Netzwerk für Lehrer, die wissen wollen, „was wirkt“ in der pädagogischen Praxis (vgl. CEM o. J. sowie Coe 2002).
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radikal verändert (z. B. Eisenhart/Towne 2003). Schon in den 1980er Jahren äußerte man die Idee, die Bildungsforschung sollte uns sagen können, „what works“ (vgl. Bennett 1986). Doch erst in den späten 1990er Jahren kam es dazu, dass diese Denkweise Einfluss gewann auf die Gesetzgebung für die staatliche Forschungsförderung. Seit dem Erlass des neuen Gesetzes für die Elementar- und Sekundarschulbildung im Jahr 2001 („No Child Left Behind“) scheint der „Goldstandard“ randomisierter kontrollierter Studien die bevorzugte, wenn nicht gar die vorgeschriebene Methode der Bildungsforschung zu sein (vgl. Slavin 2002, S. 15; Cutspec 2004, S. 5). Zwar deutet einiges darauf hin, dass eine weitere und umfassendere Definition dessen, was als wissenschaftliche Forschung in der Pädagogik gilt, im Entstehen begriffen ist (vgl. National Research Council 2002; Feuer/Shavelson/Towne 2002; Erickson/Gutierrez 2002). Doch die Forderung, Kausalanalysen mit Hilfe experimenteller Forschung durchzuführen, um herauszufinden, „was wirkt“ (vgl. Slavin 2002; 2004; Mosteller/Boruch 2002), bleibt dominant. Das Plädoyer für evidenzbasierte pädagogische Praxis hat auf beiden Seiten des Atlantiks zu einigen Diskussionen geführt. Verfechter der evidenzbasierten Pädagogik betonen, dass es für die Bildungsforschung höchste Zeit sei, dem Muster zu folgen, das „die Art von fortschreitender und systematischer Verbesserung“ erzeugt habe, „die charakteristisch ist für erfolgreiche Teile unserer Wirtschaft und Gesellschaft im 20. Jahrhundert wie Medizin, Agrarwirtschaft, Transportwesen, Verkehr und Technologie“ (Slavin 2002, S 16). Sie behaupten, „der wichtigste Grund für die herausragenden Fortschritte in Medizin, Agrarwirtschaft und anderen Bereichen [sei], dass Praktiker empirische Befunde als Grundlage der Praxis akzeptieren“ (ebd.). Dies gelte insbesondere für randomisierte kontrollierte Studien, die „die Effektivität (oder den Mangel an Effektivität) einer für die Anwendung bestimmten Behandlung frei von vernünftigem Zweifel“ (ebd.) feststellen können. Einige Befürworter behaupten sogar, dass jede Praxis, die nicht auf wissenschaftlichem Wissen basiert, minderwertig sei und letztendlich ausgeschlossen werden sollte. Im Manifesto for Evidence-Based Education steht zum Beispiel, das Unterrichten sei „zu wichtig, um zuzulassen, dass es von unbegründeten Meinungen bestimmt wird, ob sie nun von Politikern, Lehrern, Wissenschaftlern oder jemand anderem stammen“ (Coe 1999). Der Autor des Manifests fordert eine Kultur, „in der wissenschaftliche Befunde mehr zählen als die eigene Meinung“ (ebd.), und argumentiert, dass jeder Ansatz der Entscheidungsfindung, der nicht evidenzbasiert ist, schlichtweg „vorwissenschaftlich“ sei. In diesem Sinne schreibt er, es sei „ein Ärgernis, dass man Politiker, politische Entscheidungsträger und selbst Lehrer einfach dabei gewähren ließ, gemäß ihren Vorurteilen zu handeln, ohne empirische Befunde zu beachten oder
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sich gar in einer ernsthaften und sachkundigen Debatte über deren Qualität und Bedeutung zu engagieren“ (Coe 1999; vgl. auch Cutspec 2004, S. 2). Die Gegner der Idee evidenzbasierter Pädagogik haben zahlreiche Fragen aufgeworfen, die die Eignung des evidenzbasierten Ansatzes für das Feld der Pädagogik betreffen. Einige Autoren haben die Homologie von Pädagogik und Medizin in Frage gestellt und auf die unterschiedliche Bedeutung von evidence in den beiden Feldern hingewiesen (vgl. Davies 1999; Pirrie 2001; Simons 2003; Nutley/Davies/Walter 2002). Andere Autoren haben die positivistischen Annahmen hinterfragt, die der evidenzbasierten Pädagogik zugrunde liegen, und das enge Forschungsverständnis kritisiert, das mit der evidenzbasierten Pädagogik einhergeht (vgl. Atkinson 2000; Elliot 2001; Berliner 2002; St. Pierre 2002; Erickson/Gutierrez 2002; Oliver/Conole 2003). Nach wie vor wird auch die betriebswirtschaftliche Herangehensweise der evidenzbasierten Pädagogik und deren linearer top-down-Ansatz in Bezug auf Verbesserungen in der Pädagogik kritisiert (vgl. Brighton 2000; Hammersley 2001b; Ridgway/Zawojewski/Hoover 2000; Davies 2003; Fox 2003; Olson 2004). Schließlich wendeten sich viele Autoren dagegen, dass die zentrale Rolle, die Werte in der Bildungsforschung und in der pädagogischen Praxis haben, unberücksichtigt bleibt (vgl. Davies 1999; Burton/Underwood 2000; Hammersley 2001b; Elliot 2001; Willinsky 2001; Sanderson 2003; Oliver/Conole 2003). Ein positives Ergebnis dieser laufenden Diskussionen besteht darin, dass einige Befürworter des evidenzbasierten Ansatzes in der Pädagogik anfingen, in nuancierterer Weise über die Verbindung zwischen Forschung, Politik und Praxis zu sprechen, wobei sie die pädagogische Praxis als „durch Evidenz informiert“ (evidence-informed), „durch Evidenz beeinflusst“ (evidence-influenced) oder „evidenzbewusst“ (evidenceaware) bezeichnen (vgl. Sebba 1999; Hargreaves 1999; Nutley/Davies/Walter 2002). Auch wenn sich darin ein gewisses Verständnis für die komplexen Formen andeutet, wie Forschung Politik und Praxis informieren könnte (vgl. Greenhalgh/Worrall 1997; Eraut 2003; Simons u. a. 2003), behaupten viele Autoren nach wie vor, der einzige Weg zu einer echten Verbesserung in der Pädagogik sei im „Goldstandard“ von randomisierten kontrollierten Studien zu finden – jenem methodischen Ansatz, welcher die Effektivität von Behandlungen „frei von vernünftigem Zweifel“ (Slavin 2002, S. 16) aufzeigen kann. In diesem Essay möchte ich einen kritischen Blick auf das Konzept der evidenzbasierten Praxis werfen und auf die Art und Weise, wie es bislang im Feld der Erziehung gefördert und umgesetzt wurde. Ich glaube zwar, dass Spielraum besteht, die Kommunikation und Interaktion zwischen Bildungsforschung und pädagogischer Praxis zu verbessern – ein zentrales Problem, seitdem die Pädagogik zu einer akademischen Disziplin geworden ist (vgl. Thiersch 1978; Miedema 1986; Lagemann
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2000). Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass evidenzbasierte Praxis, so wie sie momentan präsentiert und gefördert wird, das bestmögliche Modell darstellt, um dieses Problem anzugehen. Beunruhigt bin ich vor allem über die Spannungen, die zwischen einer wissenschaftlichen und einer demokratischen Kontrolle von pädagogischer Praxis und Bildungsforschung bestehen. Auf der Seite der Forschung scheint evidenzbasierte Pädagogik ein technokratisches Modell zu bevorzugen, bei dem vorausgesetzt wird, dass die einzig relevanten Forschungsfragen Fragen der Effektivität von pädagogischen Maßnahmen und Techniken sind. Dabei wird – neben anderen Dingen – vergessen, dass das, was als „effektiv“ gilt, entscheidend abhängt von Urteilen darüber, was pädagogisch wünschenswert ist. Auf der Seite der Praxis scheint evidenzbasierte Pädagogik die Möglichkeiten von professionellen Pädagogen massiv einzuschränken, solche Urteile in einer Weise zu fällen, die sensibel und relevant für ihren Handlungskontext ist. Die Konzentration auf das, „was wirkt“, macht es schwierig (wenn nicht gar unmöglich) danach zu fragen, zu welchem Zweck etwas wirken sollte und wer eben dies festlegen sollte. Um meine Argumentation zu entwickeln, werde ich drei Grundannahmen evidenzbasierter Pädagogik prüfen. Erstens frage ich, inwieweit man die pädagogische Praxis mit der medizinischen Praxis vergleichen kann – jenem Feld, in dem die Idee evidenzbasierter Praxis zuerst entwickelt wurde. Zweitens erörtere ich, wie wir die Rolle des (Forschungs-)Wissens im professionellen Handeln verstehen sollten. Mein besonderes Interesse gilt dabei der Frage, welche Art von Epistemologie am besten zu einem professionellen Handeln passt, das durch Forschungsergebnisse informiert ist. Drittens thematisiere ich die Erwartungen an die praktische Relevanz von Forschung, die mit der Idee evidenzbasierter Praxis einhergehen. In allen drei Fällen werden zugleich Fragen aufgeworfen, die das Wesen von pädagogischen Entscheidungsprozessen betreffen und die Rolle, die Forschung dabei spielen kann. Gefragt wird in diesem Zusammenhang auch, wem es erlaubt ist und erlaubt sein sollte, an Entscheidungen darüber, was pädagogisch wünschenswert ist, beteiligt zu sein. Der Rahmen, den die evidenzbasierte Praxis zur Verfügung stellt, um die Rolle der Forschung in der pädagogischen Praxis zu verstehen, reduziert nicht nur die Bandbreite von Entscheidungsprozessen auf Effektivitäts- und Effizienzfragen, sondern schränkt auch die Möglichkeit für eine Beteiligung an solchen Entscheidungen ein. Deshalb argumentiere ich in meinem Fazit, dass wir unsere Sicht auf die Beziehungen zwischen Forschung, Politik und Praxis erweitern müssen, damit wir im Blick behalten, dass Pädagogik eine durch und durch moralische und politische Praxis ist – eine Praxis, die Gegenstand beständiger demokratischer Problematisierung und Beratschlagung sein muss. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird es einfach nicht funktionieren, ausschließlich auf das Wert zu legen, „was wirkt“.
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Professionelles Handeln in der Pädagogik Das Konzept evidenzbasierter Praxis ist in der Medizin entstanden. Ursprünglich entwickelt für die medizinische Ausbildung, avancierte evidenzbasierte Medizin schnell zur Hauptströmung in der klinischen Praxis und in der klinischen Entscheidungsfindung. Das Konzept breitete sich jedoch nicht nur von der Medizin in die meisten anderen Bereiche des Gesundheitswesens aus (z. B. Zahnmedizin, Krankenpflege, Physiotherapie, Ergotherapie), sondern wurde auch in davon entfernten Feldern professionellen Handelns – etwa in der sozialen Arbeit, in der Bewährungshilfe, im Personalmanagement und schließlich in der Pädagogik – befürwortet und übernommen (vgl. Sackett u. a. 1996; Sackett u. a. 1997, Davies/Nutley/Smith 2000). Auf den ersten Blick scheint evidenzbasierte Praxis einen attraktiven Rahmen zu bieten, um Forschung und professionelle Praxis einander näherzubringen. Die eigentliche Frage ist jedoch, ob sie einen neutralen Rahmen bietet, der sich problemlos auf jedes Feld beruflichen Handelns anwenden lässt, oder ob es sich um einen Rahmen handelt, der eine bestimmte Sicht auf professionelle Praxis mit sich bringt (vgl. Hammersley 2001a; Elliott 2001). Wenn letzteres der Fall ist – und ich werde zeigen, dass dies so ist –, dann müssen wir prüfen, ob sich dieser Rahmen für das Feld der Erziehung eignet. Welches Modell professionellen Handelns liegt evidenzbasierter Praxis zugrunde? Zentral ist die Idee der effektiven Intervention (vgl. Evans/Benefield 2001, S. 528; Oakley 2002, S. 278; Slavin 2002, S. 16ff.; Hoagwood/Johnson 2003). Evidenzbasierte Praxis begreift professionelles Handeln als Intervention; bei der Suche nach empirischen Belegen für die Effektivität von Interventionen schaut sie auf die Forschung. Die Forschung muss, anders gesagt, herausfinden, „was wirkt“, und viele meinen, die wichtigste wenn nicht einzige Art, dies zu tun, bestehe in experimenteller Forschung – vor allem in randomisierten kontrollierten Studien. So schreibt ein Befürworter evidenzbasierter Pädagogik: „Die einzig wertvollen empirischen Belege dafür, ob etwas in einer bestimmten Situation funktioniert, stammen daher, es auszuprobieren. […] Soll Praxis auf empirischen Befunden basieren, dann müssen diese Befunde aus Experimenten in realen Kontexten hervorgehen. ‚Evidenz‘ aus Umfragen oder Korrelationsstudien ist keine Basis für praktisches Handeln“ (Coe 1999). Auch das „Evidence for Policy and Practice Information and Co-ordinating Centre“ am Londoner Institute of Education vertritt die Auffassung, das derzeitige Interesse an einer durch Evidenz informierten Pädagogik sei „Teil einer allgemeinen Tendenz in Großbritannien und andernorts, politische Maßnahmen und professionelle Praxis auf robuste empirische Belege für deren Effektivität zu gründen“ (EPPICentre o. J.). Martin Oliver und Grainne Conole (2003) fassen die Situation wie folgt zusammen: „Der evidenzbasierten Praxis liegt vor allem die Effektivität am
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Herzen. Man hat behauptet, mithilfe von Experimenten kann es am besten gelingen, sie zu erforschen […]. Die von der evidenzbasierten Praxis bevorzugte Form des Experiments ist die randomisierte kontrollierte Studie. Bevorzugt wird sie aufgrund der Suche nach Kausalität […]. In der Tat ist diese Methode zum Synonym für evidenzbasierte Praxis geworden; im US-amerikanischen Recht bezog man sich auf sie, um festzulegen, was als ‚strenge‘ Forschung gilt und wie evidenzbasierte Praxis umgesetzt werden sollte“ (ebd., S. 388). Die Vorstellung, professionelles Handeln sei effektive Intervention, lässt erstens darauf schließen, dass evidenzbasierte Praxis von einem kausalen Modell professionellen Handelns ausgeht (Burton/Chapman 2004, S. 60; Sanderson 2003, S. 335-338). Kennzeichnend hierfür ist die Vorstellung, dass Fachleute etwas tun (eine Behandlung durchführen, in einzelnen Situationen eingreifen), um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Deshalb spielt die Frage der Effektivität – die Frage danach, „was wirkt“ – in der gesamten Diskussion über evidenzbasierte Praxis solch eine zentrale Rolle. Kennzeichnend für effektive Interventionen ist, dass ein gesicherter Zusammenhang zwischen der Intervention (als Ursache) und ihren Ergebnissen oder Erträgen (als Wirkung) besteht. Es ist wichtig festzuhalten, dass „Effektivität“ instrumentellen Wert hat: Sie bezieht sich auf die Qualität von Prozessen, ohne irgendetwas darüber auszusagen, was eine Intervention bewirken soll. Dies bedeutet unter anderem, dass es keinen Sinn macht, von effektivem Unterrichten oder effektiver Schulbildung zu sprechen; die Frage, die immer gestellt werden muss, lautet: effektiv im Hinblick worauf? Dies hängt mit dem zweiten Merkmal der Idee des professionellen Handelns als Intervention zusammen. Demnach scheint evidenzbasierte Praxis von einer Trennung von Mitteln und Zielen professionellen Handelns auszugehen (vgl. Elliott 2001, S. 558, S. 560). Evidenzbasierte Praxis unterstellt die Ziele professionellen Handelns als gegeben; für relevant hält sie allein jene Fragen der Profession und der Forschung, die sich darauf richten, wie man diese Ziele am effektivsten und effizientesten erreicht. Insofern geht evidenzbasierte Praxis mit einem technologischen Modell professionellen Handelns einher. Auch wenn beide Annahmen auf dem Gebiet der Medizin gültig sein mögen – obwohl ich hinzufügen muss, dass sie meiner Meinung nach nur dann gültig sind, wenn man eine bestimmte Konzeption von Medizin und eine bestimmte Definition von Gesundheit voraussetzt –,3 denke ich nicht, dass sie ohne weiteres auf das Feld der Erziehung übertragen werden können. Das erste Problem besteht in der Rolle
3 Ich würde behaupten, dass die Annahmen nur dann gültig sind, wenn man den Menschen aus einer eher mechanistischen Sichtweise heraus betrachtet und wenn man annimmt, dass „Gesundheit“ ein unproblematischer und unumstrittener Begriff ist. Für eine weitere Diskussion der Unterschiede zwischen Pädagogik und Medizin siehe Davies 1999; Evans/Benefield 2001; Hammersley 2001a.
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der Kausalität: Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass sich der Zustand eines Schülers deutlich von dem eines Patienten unterscheidet – das Schüler-Dasein ist keine Krankheit und Unterrichten ist kein Heilverfahren – lautet das wichtigste Argument gegen die Vorstellung, Erziehung sei ein kausaler Prozess, dass es sich bei Erziehung nicht um einen Vorgang physischer Interaktion handelt, sondern um einen Vorgang symbolischer oder symbolisch vermittelter Interaktion (vgl. Burton/Chapman 2004, S. 59; Hammersley 1997; Olson 2004). Wenn Unterrichten irgendeinen Effekt auf das Lernen haben sollte, dann deshalb, weil Schüler das, was man ihnen beibringt, interpretieren und sich bemühen, dessen Bedeutung zu verstehen. Nur durch Prozesse (wechselseitiger) Interpretation ist Erziehung möglich (vgl. Biesta 1994; Vanderstraeten/Biesta 2001). Zwar versuchen viele, Erziehung in eine Kausaltechnologie zu verwandeln (oftmals ausgehend von der Idee, dass wir nur mehr Forschung benötigen, um alle Faktoren, die das Lernen bestimmen, zu identifizieren und letzten Endes zu kontrollieren). Doch die simple Tatsache, dass Erziehung kein Prozess des „Drückens und Ziehens“ (push and pull) ist – systemtheoretisch gesprochen: dass Erziehung eine offenes und rekursives System ist – zeigt: Gerade die Unmöglichkeit einer Technologie der Erziehung ist es, die Erziehung möglich macht (vgl. Biesta 2001, 2004b). Man mag einwenden, dass dieses Argument nur im Hinblick auf den Lerninhalt gilt und zusammenbricht, sobald wir andere „Faktoren“ betrachten, die das Lernen beeinflussen, z. B. den Unterrichtsstil, die Gruppengröße oder auch die Schularchitektur. Auch wenn es möglich sein mag, starke Korrelationen zwischen diesen Faktoren und dem Lernen festzustellen, beweist das noch immer nicht, dass die Beziehung zwischen beiden kausal ist. Der zugrundeliegende „Mechanismus, der kein Mechanismus ist“, der die Verbindung zwischen „Input“ und „Output“ herstellt, besteht in den Interpretationen des Lernenden, in den verschiedenen Arten, wie Lernende die Bedeutung von Situationen erschließen, in die sie geraten. Wenn wir denn Aktivitäten der Lehrenden als Interventionen bezeichnen möchten – und man könnte argumentieren, dass Unterrichten stets auf die eine oder andere Weise in einen vorhandenen Lauf von Ereignissen interveniert –, sollten wir diese Interventionen nicht als Ursachen betrachten, sondern als Gelegenheiten für Schüler, zu antworten und durch ihre Antwort etwas aus ihnen zu lernen (Burton/Chapman 2004, S. 61f.; Biesta 2006). Dies führt mich zu der zweiten Annahme über professionelles Handeln, die in der evidenzbasierten Praxis enthalten ist: die Idee, dass sich Erziehung als technologischer Prozess begreifen lässt – ein Prozess, in dem eine klare Trennung zwischen Mitteln und Zielen besteht, und ein Prozess, in dem man annimmt, dass die Ziele gegeben sind und dass sich die einzig relevanten Fragen von Profession und For-
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schung darauf beziehen, wie man diese Ziele am effektivsten und effizientesten erreicht. Es gibt zwei Schwierigkeiten, wenn man diesen Gedankengang auf die Erziehung überträgt. Zur ersten Schwierigkeit: Selbst wenn wir in der Lage wären, die effektivste und effizienteste Art zu bestimmen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, könnten wir uns dagegen entscheiden, dementsprechend zu handeln. Ein großer Teil empirischer Forschungsergebnisse deutet darauf hin, dass die einflussreichsten Faktoren für den Schulerfolg der familiäre Kontext und, noch wichtiger, die kindlichen Erfahrungen innerhalb der ersten Lebensjahre sind. Demnach wäre es für eine erfolgreiche Erziehung am effektivsten, Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie in einer „idealen“ Umgebung unterzubringen. Obwohl es viele Maßnahmen gibt, die versuchen, in das familiäre Umfeld einzugreifen und die Erfahrungen von Kindern in den ersten Lebensjahren zu formen, halten es die meisten Gesellschaften für nicht wünschenswert, den Weg zum Lernerfolg zu wählen, der am effektivsten ist. Dies zeigt, dass Wissen über die Effektivität von Interventionen als solches keine hinreichende Basis für Entscheidungen über pädagogisches Handeln bietet. Stets steht die Frage im Raum, ob bestimmte Interventionen wünschenswert sind (vgl. Sanderson 2003). Wenn es um Erziehung geht – und das ist die zweite Schwierigkeit, das ZweckMittel-Denken auf diesen Bereich anzuwenden – müssen wir nicht nur fragen, ob unsere erzieherischen Handlungen, Strategien und – wenn man das Wort gebrauchen möchte – Interventionen für sich genommen wünschenswert sind; stets müssen wir auch fragen, welches die erzieherischen Effekte unserer Handlungen sind. Wir könnten tatsächlich eindeutige empirische Befunde dafür haben, dass körperliche Strafen in jedem Fall die effektivste Art seien, störendes Verhalten zu verhindern oder zu kontrollieren. David Carr (1992) zufolge „sollte die Praxis dennoch vermieden werden, denn sie lehrt Kinder, dass es angebracht oder zulässig ist, als letzten Ausweg Gewalt anzuwenden, um den eigenen Willen durchzusetzen“ (ebd., S. 249). Dieses Beispiel zeigt, dass Mittel und Ziele in der Pädagogik nicht in einer technologischen oder äußerlichen Weise verbunden, sondern intern und konstitutiv aufeinander bezogen sind. Die Mittel, die wir in der Erziehung einsetzen, verhalten sich nicht neutral zu den Zielen, die wir erreichen wollen. Es ist nicht der Fall, dass wir in der Erziehung einfach jedes Mittel einsetzen können, solange es nur „effektiv“ ist. Carr verdeutlicht, dass die Mittel, die wir einsetzen, „qualitativ zum Charakter […] der Ziele beitragen, die sie hervorbringen“ (ebd.). Deshalb handelt es sich im Grunde genommen bei Erziehung mehr um eine moralische Praxis als um eine technologische Unternehmung (ebd., S. 248; vgl. auch Elliott 2001). Diese Betrachtungen deuten darauf hin, dass das in der evidenzbasierten Praxis enthaltene Modell professionellen Handelns – die Vorstellung, Erziehung sei eine
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Behandlung oder Intervention, die als kausales Mittel fungiert, um bestimmte, vorab feststehende Ziele zu erreichen – für das Feld der Erziehung ungeeignet ist. Für die Erziehung benötigt man ein Modell professionellen Handelns, das die nichtkausale Natur pädagogischer Interaktionen ebenso anerkennt wie die Tatsache, dass die Mittel und Ziele der Erziehung weniger in einer äußerlichen als in einer internen Beziehung zueinander stehen. Anders gesagt: Man muss die Tatsache anerkennen, dass Erziehung vielmehr eine moralische als eine technische oder technologische Praxis ist – eine Abgrenzung, die auf Aristoteles’ Unterscheidung zwischen phronesis (praktische Klugheit) und techne (instrumentelles Wissen) zurückgeht (Nikomachische Ethik, Buch VI). Die wichtigste Frage für professionelle Pädagogen ist daher nicht die nach der Effektivität ihrer Handlungen, sondern die nach dem potentiellen erzieherischen Wert dessen, was sie tun, d. h. nach der pädagogischen Erwünschtheit von Lerngelegenheiten, die aus ihren Handlungen folgen (wobei um jeden Preis ein performativer Widerspruch zwischen dem, was professionelle Pädagogen predigen, und dem, was sie praktizieren, verhindert werden sollte). Aus diesem Grund ist die „What works“-Agenda evidenzbasierter Praxis im Fall der Erziehung zumindest unzureichend und wahrscheinlich deplaziert, denn bei einem pädagogischen Urteil geht es nicht einfach darum, was möglich ist (ein faktisches Urteil), sondern darum, was pädagogisch wünschenswert ist (ein Werturteil). Ian Sanderson fasst zusammen, worin die Problematik jener instrumentellen Vernunft besteht, die der evidenzbasierten Praxis zugrunde liegt: „Indem sie den Fokus auf ‚formales‘ wissenschaftliches und technisches Wissen richten, vernachlässigen [die auf instrumenteller Rationalität beruhenden Antworten] zum einen die Schlüsselrolle, die ‚praktische Klugheit‘ und ‚informelles‘ implizites Wissen beim Problemlösen spielen. Indem sie Rationalität begreifen in Bezug auf Mittel, um vorgegebene Ziele zu erreichen, vernachlässigen [die auf instrumenteller Vernunft beruhenden Antworten] die ethisch-moralische Dimension des Problemlösens“ (Sanderson 2003, S. 340). Professionelles Handeln in der Erziehung und, wie Sanderson verdeutlicht, in vielen anderen professionellen Bereichen erfordert stets die Berücksichtigung der normativen Dimension. Fachkräfte müssen Urteile fällen über „die Handlungsweise, die unter den spezifischen Bedingungen in einem Kontext informeller Regeln, Heuristiken, Normen und Werte am angemessensten ist“ (ebd., S. 341). Sanderson schlussfolgert daraus, dass „die Frage für Lehrer nicht einfach lautet: ‚Was ist effektiv?‘. Weiter gefasst, lautet sie vielmehr: ‚Was eignet sich für diese Kinder unter diesen Umständen?‘“ (ebd.). Vorzuschlagen, dass Erforschung von dem, „was wirkt“, normative professionelle Urteilskraft ersetzen kann, heißt nicht nur, einen unzulässigen Sprung vom „Sein“ zum „Sollen“ zu vollziehen; es heißt auch, prakti-
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schen Pädagogen das Recht zu verwehren, nicht entsprechend der empirischen Befunde über das, „was wirkt“ zu handeln, wenn sie zu dem Schluss gelangen, dass ein solches Vorgehen pädagogisch nicht wünschenswert ist (vgl. auch Burton/Chapman 2004). Professionelle Urteilskraft und praktische Epistemologie Dass professionelle Urteilskraft wesentlich zur pädagogischen Praxis gehört und eher moralischer als technischer Natur ist, bedeutet nicht, dass die Ergebnisse der Bildungsforschung keinen Informationswert für professionelle pädagogische Urteile haben können. Bis hierher wurde nur geschlussfolgert, dass Erziehung als eine moralische, nicht-kausale Praxis verstanden werden sollte, und das heißt, dass professionelle Urteile in der Erziehung letztlich Werturteile und nicht einfach technische Urteile sind. Die zweite Frage, der ich deshalb nachgehen möchte, lautet, wie wir den Einfluss von Forschungsergebnissen auf pädagogische Praxis verstehen sollten. Um diesen Punkt zu klären, müssen wir uns epistemologischen Fragen zuwenden – und es ist auffällig, wie wenig Aufmerksamkeit man diesem Aspekt in der bisherigen Diskussion schenkte (Ausnahmen sind z. B. Berliner 2002; Sanderson 2003; Burton/Chapman 2004). Die zentrale Frage dabei lautet, welche Art von Epistemologie geeignet sein könnte, um die Rolle des Wissens im (professionellen) Handeln angemessen zu verstehen. Um eine Antwort auf diese Frage zu entwickeln, werde ich genauer auf die Arbeiten von John Dewey eingehen, der meiner Ansicht nach eine der überzeugendsten und elaboriertesten „praktischen Epistemologien“ in der westlichen Philosophie vorgelegt hat (vgl. Biesta/Burbules 2003). Zuvor möchte ich aber betonen, dass evidenzbasierte Praxis ein relativ breites Spektrum von Vorstellungen darüber umfasst, wie die Verbindung von empirischen Befunden bzw. ‚evidence‘ und Praxis zu verstehen und herzustellen ist. Vertreter einer Extremposition nehmen an, dass Forschung uns „die Wahrheit“ bieten kann, dass sich „die Wahrheit“ in Handlungsregeln übersetzen lässt und dass die Praktiker diese Regeln lediglich befolgen müssten, ohne die besondere Situation, in der sie sich befinden, weiter zu reflektieren oder zu berücksichtigen. Beispiele für einen solchen Kochbuch-Ansatz sind die National Literacy Strategy und die National Numeracy Strategy, die von der britischen Regierung eingeführt wurden, um an Grundschulen das Leistungsniveau in Englisch und Mathematik anzuheben. (Dass zunehmend klar wird, dass diese Strategien nicht das erreichen, was sie erreichen sollten, deutet darauf hin, dass an diesem Ansatz etwas ernsthaft falsch ist.) Evidenzbasierte Medizin geht mit mehr Bedacht an die Verwendung von empirischen Forschungsbefunden in der medizinischen Praxis, was vor allem darauf zurückzuführen
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ist, dass sie im Kontext von klinischen Problemlösungen entwickelt wurde. Die Definition evidenzbasierter Medizin von David Sackett u. a. zeigt deutlich, dass man die Befunde empirischer Forschung eher als einen Faktor im Prozess klinischer Entscheidungen betrachtet, aber nicht als den einzigen, der die klinische Praxis steuert: „Evidenzbasierte Medizin ist der gewissenhafte, explizite und umsichtige Gebrauch der gegenwärtig besten empirischen Befunde (evidence) bei Entscheidungen über die Behandlung einzelner Patienten. Diese Praxis bedeutet, individuelle klinische Erfahrung mit den besten externen empirischen Befunden aus systematischer Forschung zu integrieren, die vorhanden sind“ (Sackett u. a. 1996, S. 71.). An anderer Stelle schreiben die Autoren: „Gute Ärzte nutzen sowohl ihre individuelle klinische Expertise als auch die besten empirischen Befunde, die vorhanden sind, und nichts davon allein reicht aus. Ohne klinische Expertise riskiert die Praxis, von empirischen Befunden tyrannisiert zu werden, denn auch exzellente externe empirische Befunde können für einen einzelnen Patienten unanwendbar oder ungeeignet sein“ (ebd., S. 72). In der Pädagogik scheint das Bild weniger nuanciert zu sein. Während eingeräumt wird, dass Lehrer nicht umhinkommen, Forschungsergebnisse an ihre Situation vor Ort anzupassen, behaupten die Vertreter evidenzbasierter Pädagogik, dass wir bei politischen Maßnahmen, also in der Situation, „in der alle Schulen gezwungen sind, ihr Vorgehen zu ändern […], empirische Befunde dafür haben müssen, dass Maßnahmen funktionieren (oder zumindest keinen Schaden anrichten) werden. Das gilt sowohl für Schulen, die unter dem höchsten Druck stehen, am wenigsten aufgeschlossen sind und sich wahrscheinlich für nichts freiwillig melden, als auch für Schulen, die bereits exzellent sind und zurecht keinen Grund sehen, irgend etwas zu ändern“ (Coe 1999). Am wichtigsten ist hier, dass trotz unterschiedlicher Ansichten darüber, wie Forschung in der pädagogischen Praxis genutzt werden kann und soll, die nahezu einhellige Erwartung besteht, Forschung könne uns sagen, „was wirkt“, sie könne uns „robuste empirische Befunde“ (sound evidence) liefern über die wahrscheinliche Wirkung von politischen Maßnahmen und praktischen Handlungen und in einem allgemeineren Sinne „robuste empirische Befunde der Effektivität“. Ob diese Erwartungen berechtigt sind, hängt letztlich von den epistemologischen Annahmen ab, die dem Verständnis dessen, was Forschung leisten kann, zugrunde liegen. An dieser Stelle sind Deweys Ideen von Bedeutung, und zwar sowohl im Hinblick darauf, was wir von Forschung erwarten können als auch darauf, wie Forschung in der pädagogischen Praxis „verwendet“ werden kann. Der wichtigste Aspekt von Deweys Theorie des Erkennens besteht darin, dass sie nicht von einem Dualismus zwischen immateriellem Geist und materieller Welt
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ausgeht – ein Dualismus, der spätestens seit René Descartes den Rahmen moderner Epistemologie bildet, in dem die Realität aufgeteilt wurde in res cogitans (den erkennenden „Stoff“) und res extensa (den Raum einnehmenden „Stoff“). Dewey schlug eine Theorie des Erkennens vor, die nicht bei der unmöglichen Frage ansetzt, „wie ein Wissender, der rein individuell oder ‚subjektiv‘ ist und dessen Sein gänzlich psychisch und immateriell ist […], und eine zu erkennende Welt, die rein universell oder ‚objektiv‘ ist und deren Sein gänzlich mechanisch und physisch ist“ (Dewey 1911/1978, S. 441), je einander erreichen können. Stattdessen näherte er sich der Frage der Erkenntnis innerhalb eines handlungstheoretischen Rahmens, in dem Erkennen als „eine Art des Handelns“ verstanden wird. Daher empfiehlt es sich, Deweys Position als eine Theorie des Erkennens (knowing) zu bezeichnen und nicht als eine Theorie der Erkenntnis (knowledge) (vgl. Biesta 2004c). Das zentrale Konzept in Deweys Theorie des Erkennens ist der Begriff der Erfahrung. Erfahrung bezieht sich nicht auf Bewusstsein oder geistige Erkenntnis, sondern auf die Transaktionen zwischen lebenden Organismen und ihrer Umwelt. Diese Transaktionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine doppelte Beziehung konstituieren: „Der Organismus wirkt in Übereinstimmung mit seiner eigenen Struktur, sei sie einfach oder komplex, auf seine Umgebung ein. Die in der Umgebung bewirkten Veränderungen wirken in der Folge auf den Organismus und seine Aktivitäten zurück. Das lebende Geschöpf erfährt, erleidet die Folgen seines eigenen Verhaltens. Diese enge Verbindung zwischen Tun und Leiden oder Auf-sichnehmen bildet das, was wir Erfahrung nennen“ (Dewey 1920/1989, S. 132). Dewey zufolge ist Erfahrung jene Weise, wie lebende Organismen, menschliche Organismen eingeschlossen, mit „der Welt“ verbunden sind, zu ihr gehören, in sie verwickelt sind. Im Gegensatz zu dem, was das dualistische Weltbild vorschlägt, ist Erfahrung „kein Schleier, der den Menschen die Natur verhüllt“ (Dewey 1925/1995, S. 9), sondern „ein Mittel, ständig weiter ins Innere der Natur vorzudringen“ (ebd.). Dies ist die zentrale Einsicht von Deweys „transaktionalem Realismus“ (Sleeper 1986). Deweys transaktionales Verständnis von Erfahrung stellt einen Rahmen bereit, in dem sich Erkennen nicht mehr auf einen immateriellen Geist bezieht, der auf die materielle Welt blickt und bemerkt, was in ihr vor sich geht – eine Sichtweise, die Dewey Beobachtertheorie der Erkenntnis (spectator theory of knowledge) nennt. Für ihn bezieht sich Erkennen nicht auf eine Welt „da draußen“, sondern betrifft die Beziehung zwischen unseren Handlungen und deren Folgen – dies ist die zentrale Idee seiner transaktionalen Theorie des Erkennens (vgl. Biesta 2004c). Da es beim Erkennen darum geht, die Beziehung zwischen unseren Handlungen und deren Folgen zu begreifen und nachzuvollziehen, kann es uns helfen, unsere Handlungen besser zu kontrollieren – besser zumindest, als wenn wir blind nach
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Versuch und Irrtum vorgehen. „Aber wenn die Möglichkeit zur Kontrolle besteht“, so Dewey (1925/1995), „ist Erkenntnis die einzige Kraft zu ihrer Realisierung“ (ebd., S. 38). Es ist wichtig zu verstehen, dass „Kontrolle“ hier nicht als vollständige Beherrschung verstanden wird, sondern als Fähigkeit, unsere Handlungen auf intelligente Weise zu planen und zu leiten. Diese Fähigkeit ist in den Situationen am wichtigsten, in denen wir nicht sicher sind, wie wir handeln sollen. Dies kommt zum Ausdruck in Deweys Definition des Erkennens, das zu tun hat mit der „Verwandlung undurchsichtiger und ungeklärter Situationen in solche, die besser beherrscht und bedeutungsvoller sind“ (Dewey 1929/2001, S. 296). Erkennen ist allerdings auch wichtig, um zu einer intelligenteren Herangehensweise in den anderen Erfahrungsfeldern zu gelangen. Dies drückt Dewey in der Behauptung aus, dass das Erkennen „die Kontrolle von Gegenständen zu Zwecken nicht-kognitiver Erfahrungen erleichtert“ (ebd., S. 101). Für unsere Diskussion ist Deweys transaktionale Theorie des Erkennens deshalb wichtig, weil sie uns einen Rahmen zur Verfügung stellt, um die Rolle zu begreifen, die Erkenntnis in unserem Handeln spielt. Um Deweys Ansatz zu verstehen, muss man beachten, dass wir keinerlei Erkenntnis benötigen, um handeln zu können. Wir benötigen keine Informationen über „die Welt“, bevor wir in ihr handeln können. Als lebende Organismen sind wir einfach immer schon aktiv; wir stehen immer schon in Transaktionen mit unserer Umwelt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir aus unseren Transaktionen mit der Welt nicht lernen. Das ganze Konzept der Erfahrung besteht genau darin, dass wir die Folgen unseres „Tuns“ erleiden und uns infolge dessen ändern. Dewey (1938/2002) zufolge führt Erfahrung zu einer „Veränderung der organischen Strukturen, die weiteres Verhalten bedingt“ (ebd., S. 47). Er hat solche Veränderungen als Gewohnheiten bezeichnet. So gesehen sind Gewohnheiten keine Handlungsmuster, sondern Prädispositionen zum Handeln: „Das Wesen der Gewohnheit ist eine erworbene Prädisposition zu Bahnen und Methoden des Reagierens, nicht zu besonderen Akten […]. Gewohnheit bedeutet eine besondere Empfänglichkeit oder Zugänglichkeit für gewisse Klassen von Reizen, ständigen Neigungen oder Abneigungen, jedenfalls viel mehr als die bloße Wiederkehr besonderer Akte“ (Dewey 1922/2004, S. 37). Daher bilden Gewohnheiten „die Basis organischen Lernens“ (Dewey 1938/2002, S. 47). Grundsätzlich erwerben wir unsere Gewohnheiten durch Versuch und Irrtum oder, theoretisch gesprochen, durch Experimentieren. In einem sehr fundamentalen Sinne besteht im Experimentieren die einzige Möglichkeit, überhaupt irgendetwas zu lernen: Wir lernen, weil wir etwas tun und daraufhin die Folgen unseres Tuns erleiden. Allerdings besteht für Dewey ein bedeutender Unterschied zwischen einem blindem Vorgehen nach Versuch und Irrtum – Experimentieren ohne Überlegung
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und Richtung – und dem, was er intelligentes Handeln nennt. Der Unterschied zwischen beiden hat mit einem dazwischentretenden Denken oder Reflektieren zu tun, d. h. mit dem Gebrauch symbolischer Operationen. Um Deweys Ansichten über die Rolle des Denkens im Handeln zu verstehen, muss man sehen, dass wir nur in solchen Situationen lernen bzw. neue Gewohnheiten erwerben, in denen die Transaktion zwischen Organismus und Umwelt unterbrochen ist. Solange die Transaktion „reibungslos“ vonstatten geht – d. h. wenn unser Handeln mit unserem Erleiden koordiniert ist – sind wir offensichtlich im Besitz aller benötigten Gewohnheiten. Die Situation stellt sich anders dar, wenn wir nicht in der Lage sind, koordinierte Transaktionen aufrechtzuerhalten, d. h. wenn wir nicht „wissen“, wie wir reagieren sollen. Umgangssprachlich ist dies die Situation, in der wir auf ein Problem stoßen. Dewey hat solche Fälle als unbestimmte Situationen bezeichnet. Um diese Situationen aufzulösen, müssen wir eine angemessene Reaktion finden, d. h. eine Handlungsstrategie, die die Koordination wiederherstellt. Anders ausgedrückt: Um angemessen zu reagieren, müssen wir erkennen, was das Problem ist. Allerdings sind das Finden der Lösung und das Finden des Problems Dewey zufolge zwei Seiten einer Medaille. Denn erst nachdem wir eine geeignete Reaktion gefunden haben, erkennen wir wirklich, was das Problem war. Versuch und Irrtum sind ein Weg, eine geeignete Reaktion zu finden. Manchmal hat dieses Vorgehen Erfolg, manchmal nicht. Abgesehen davon, dass Versuch und Irrtum ein nicht sehr effizientes Verfahren der Problemlösung sein kann, besteht auch das Risiko, dass manche Versuche, ein Problem zu lösen, sich nicht rückgängig machen lassen. Das bedeutet, wenn sie das Problem nicht lösen, können wir das Problem unter Umständen überhaupt nicht mehr lösen. Dewey zufolge besteht der Ausweg aus diesem Dilemma darin, mit verschiedenen Handlungsrichtungen auf einer symbolischen Ebene zu experimentieren, statt im äußeren Tun. Eben dies leistet das Denken: Es ist „eine dramatische Probe in der Phantasie für die verschiedenen konkurrierenden Handlungsrichtungen“ (Dewey 1922/2004, S. 137). Die Wahl einer bestimmten Handlungsrichtung „findet statt, wenn man in der Phantasie auf ein Objekt stößt, das einen zureichenden Ansporn zur Wiederaufnahme äußeren Tuns bildet“ (ebd., S. 139). Ob diese Wahl letztlich zu einer koordinierten Transaktion führt – ob das Problem gelöst wird – zeigt sich natürlich erst, wenn wir tatsächlich handeln. Denken und Überlegen können weder Probleme lösen, noch dafür garantieren, dass die ausgewählte Reaktion Erfolg hat. Aber sie können dazu beitragen, dass die Auswahl intelligenter erfolgt als bei blindem Versuch und Irrtum. Gerade weil unser experimentelles Problemlösen in symbolische Operationen eingebettet ist – in Denken und Überlegen, in Sprache, Geschichten, Theorien,
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Hypothesen, Erklärungen etc. –, lernen wir nicht nur auf der Ebene der Gewohnheit; wir erweitern auch unsere „symbolischen Ressourcen“, um zukünftigen Problemen zu begegnen. Wir könnten sagen, dass wir Erkenntnis gewonnen haben, solange wir nicht vergessen, dass es sich nicht um eine Erkenntnis über „die Welt“ handelt, sondern über die Beziehungen zwischen unseren Handlungen und deren Folgen in dieser konkreten Situation. Deweys transaktionalem Ansatz zufolge ist dies letztlich die einzige Art und Weise, in der uns die Welt je „erscheinen“ wird. Die obige Darstellung des reflektierten experimentellen Problemlösens – Dewey hat diesen Prozess als Forschung (inquiry) bezeichnet – bildet das Gerüst für Deweys Darstellung des Erkenntnisgewinns. Hier verdeutlicht er, warum Erkennen etwas ist, das wir im wahrsten Sinne des Wortes tun, da wir Erkenntnis ausschließlich durch unser Handeln erlangen können. Allerdings kommt Erkenntnis, verstanden als eine symbolische Darstellung der Beziehung zwischen unseren Handlungen und deren Folgen, nur zustande, wenn wir unsere „existentiellen Operationen“ in „symbolische Operationen“ einbetten – wenn wir, anders gesagt, unsere Handlungen in Denken, Überlegungen und Theoriebildung einbetten. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen hieraus besteht darin, dass Forschung uns keinerlei Informationen über eine Welt „da draußen“ liefert, sondern nur über mögliche Beziehungen zwischen Handlungen und deren Folgen. Beim alltäglichen Problemlösen lernen wir etwas über die möglichen Beziehungen zwischen unseren Handlungen und deren Folgen. Bei randomisierten kontrollierten Studien lernen wir etwas über mögliche Beziehungen zwischen experimentellen Behandlungen und gemessenen Ergebnissen. In keinem der beiden Fälle gelangen wir jedoch zu Wahrheiten über eine Welt „da draußen“. Vielmehr führen beide Arten der Forschung zu „gerechtfertigten Behauptungen“ (warranted assertions) über Beziehungen zwischen dem, was wir getan haben, und dem, was daraus folgte.4 Das bedeutet, dass Forschung uns nur zeigen kann, was möglich ist, oder, um genau zu sein, was möglich war. Forschung kann uns, kurz gefasst, sagen, was gewirkt hat, aber sie kann uns nicht sagen, was wirkt. Deweys Darstellung des Forschungsprozesses sagt uns allerdings nicht nur etwas darüber, wie wir Erkenntnis gewinnen, sondern auch darüber, wie wir Probleme lösen. In Bezug auf letzteres bietet Dewey uns ein Modell professionellen Handelns an, und, was noch wichtiger ist, eine Sicht auf die Rolle der Erkenntnis im Handeln. Drei Aspekte sind in Deweys Darstellung besonders wichtig: Erstens besteht professionelles Handeln für Dewey nicht darin, bewährte und erprobte Rezepte zu befolgen, sondern darin, konkrete und gewissermaßen stets einzigartige Probleme anzugehen. Deweys transaktionale Sicht impliziert, dass wir – ungeachtet der Struk4 Für eine ausführliche Diskussion darüber, was dies für unser Verständnis von Erkenntnisgegenständen und Wahrnehmungsgegenständen bedeutet, siehe Biesta/Burbules 2003, S. 48-50 und S. 92-100.
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tur, Form und Dauer unserer Transaktionen mit der Welt – nicht erwarten können und sollten, dass Situationen über die Zeit gleich bleiben, insbesondere nicht in der sozialen Welt. Zweitens geht Erkenntnis, die in vorherigen Situationen gewonnen wurde – oder Erkenntnisse, die andere in andersartigen Forschungssituationen gewonnen haben – nicht in Form einer Regel oder Vorschrift in den Prozess reflektierten Problemlösens ein. Deweys Aussage, „(k)ein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung kann in eine Augenblicksregel der Erziehungskunst verwandelt werden“ (Dewey 1929/2002, S. 108), bedeutet nicht nur, dass Forschung uns nur über Möglichkeiten Auskunft zu geben vermag – darüber, was funktioniert hat, und nicht darüber, was funktionieren wird. Gemeint ist damit auch, dass wir beim reflektierenden Problemlösen nicht „alte“ Erkenntnisse benutzen, um zu erfahren, was wir tun sollen; wir benutzen „alte“ Erkenntnisse als Leitfaden – zunächst, wenn wir zu verstehen versuchen, was das Problem sein könnte, und dann für die intelligente Wahl möglicher Handlungsstrategien. Anders gesagt: „Alte“ Erkenntnisse helfen uns dabei, intelligenter an das Problemlösen heranzugehen. Allerdings geht Probieren über Studieren. Denn die darauf folgende Handlung „verifiziert“ zweierlei: die Angemessenheit unseres Problemverständnisses und die Eignung der vorgeschlagenen Lösung.5 Drittens könnte dies darauf hindeuten, dass Dewey nichts gegen eine technologische Sicht professionellen Handelns einzuwenden hätte, solange wir nicht zuviel oder das Falsche von der Forschung erwarten und solange wir im Hinterkopf behalten, dass sich professionelle Urteilskraft immer auf Situationen bezieht, die in gewissem Sinne einzigartig sind. Doch für Dewey besteht Problemlösen nicht einfach darin, das richtige Mittel zu finden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Seiner Ansicht nach sollte intelligentes Problemlösen sowohl Mittel als auch Ziele umfassen. Wir müssen nicht nur „reale Materialien“ (Dewey 1938/2002, S. 570) im Hinblick auf ihre Funktion „als materiale Mittel, eine geklärte Situation zu bewirken“ (ebd.) beurteilen. Zur gleichen Zeit und im selben Prozess müssen wir Ziele „auf der Basis der verfügbaren Mittel, durch die sie erreicht werden können“ (ebd.) beurteilen. Der Sinn des Forschungsprozesses besteht darin, „Mittel und Konsequenzen (Ziele) in strikter Korrespondenz zueinander“ (ebd.) einzurichten. D. h. im Forschungsprozess benötigen wir das, was Dewey „Zwecke“ (ends-in-view) nennt. Zwecke sind Hypothesen, die grundlegend sind für den geregelten Ablauf einer Untersuchung. Das Fazit hieraus lautet, dass wir weder in unserer Rolle als Forscher noch in unserer Rolle als professioneller Pädagoge vorgefertigte Problemdefinitionen und vorbestimmte Ziele akzeptieren sollten. Dewey hat überzeugend dargelegt, dass sowohl 5 Zu Deweys Sicht auf Verifikation vgl. Biesta/Burbules 2003, S. 68-71.
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in der Forschung als auch in der professionellen Praxis alle Ziele hypothetischer Natur sind und dass solche Hypothesen „in strikter Korrelativität mit realen Bedingungen als Mitteln“ (ebd., S. 571) gebildet, entwickelt und geprüft werden müssen. Genauso sollten wir vorgefertigte Problemdefinitionen als Hypothesen betrachten, die sich durch den Forschungsprozess ändern können. Deweys Standpunkt lautete, mit anderen Worten, dass wir nicht nur in Bezug auf Mittel experimentell sein sollten, sondern auch in Bezug auf Ziele und die Interpretation von Problemen, denen wir uns zuwenden. Nur auf diese Weise kann uns Forschung im Bereich des Sozialen dabei helfen herauszufinden, ob das von uns Gewünschte erreichbar ist, und ob es überhaupt wünschenswert ist, es zu erreichen. In Deweys „pragmatischer Technologie“ geht es folglich nicht um Sozialtechnologie oder soziale Kontrolle im engeren Sinne des Wortes (vgl. Hickman 1990). Das Handeln im Bereich des Sozialen kann nur dann intelligent werden, wenn man dessen intrinsische Beziehung zu menschlichen Absichten und Folgen, also die politische Natur der Forschung im Bereich des Sozialen, vollständig berücksichtigt. Deweys praktische Epistemologie bietet somit eine interessante Alternative zum Modell evidenzbasierter Pädagogik. Es gibt zwei entscheidende Unterschiede: Erstens hat Dewey gezeigt, dass „Evidenz“ – wenn es denn so etwas gibt – uns keine Handlungsregeln vorgibt, sondern nur Hypothesen für intelligentes Problemlösen zur Verfügung stellt. Wenn wir, um den Sachverhalt aus einer leicht veränderten Perspektive zu betrachten, eine Epistemologie einfordern, die praktisch genug ist, um zu verstehen, wie Wissen die Praxis unterstützen kann, müssen wir einräumen, dass das Wissen der Forschung nichts darüber aussagt, was funktioniert und funktionieren wird, sondern nur darüber, was in der Vergangenheit funktioniert hat. Nur als Instrument für intelligentes, professionelles Handeln können wir dieses Wissen nutzen. Zweitens unterscheidet sich Deweys Ansatz dadurch von traditionellen Sichtweisen evidenzbasierter Praxis, dass er anerkennt, dass sich weder Forschung noch professionelles Handeln allein auf die effektivsten Mittel konzentrieren kann oder sollte, um vorbestimmte Ziele zu erreichen. Forscher und Praktiker sollten sich auch daran beteiligen, Ziele zu untersuchen, und zwar in enger Verbindung mit der Untersuchung der Mittel. Die systematische Untersuchung dessen, was wünschenswert ist, stellt nicht nur eine Aufgabe für Bildungsforscher und praktische Pädagogen dar, sondern betrifft im Falle der Erziehung die Gesellschaft insgesamt. Sanderson argumentiert ähnlich, wenn er die Notwendigkeit diskutiert, „den Fokus von Evaluationen über die ‚technischen‘ Belange der Effektmessung, der Ursachenidentifikation und der Beurteilung dessen, ‚was wirkt‘, hinaus zu erweitern. Den Fokus von Evaluationen auf diese Weise auszuweiten, heißt auch, deren Methodologien über ‚analytische Techniken‘ hinaus zu erweitern, um Methoden und flankierende
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institutionelle Rahmenbedingungen einzubeziehen, die eine umfassende, freie und offene normative Debatte unter allen anregen, die von einer jeweiligen politischen Maßnahme betroffen sind, einschließlich der Nutzer von Dienstleistungen und der Bürger“ (Sanderson 2003, S. 343). In einer demokratischen Gesellschaft ist der Zweck der Erziehung nicht gegeben, sondern permanent ein Gegenstand der Diskussion und Beratschlagung. Wie ich bereits an anderer Stelle angemerkt habe, hat das derzeitige politische Klima in vielen westlichen Staaten es zunehmend erschwert, eine demokratische Diskussion über die Ziele der Erziehung zu führen (vgl. Biesta 2004a, 2005). Die praktischen Funktionen der Bildungsforschung Mit der Idee evidenzbasierter Praxis geht eine weitere Annahme einher, die ich kurz erörtern möchte. Sie hängt mit den Vorstellungen und Erwartungen darüber zusammen, wie Forschung für die pädagogische Praxis genutzt werden und nützlich sein kann. Gemäß der Idee, die hinter dem „What works“-Slogan steht, sollte Forschung Informationen über effektive Strategien für pädagogisches Handeln bereitstellen. Ich habe bereits gezeigt, dass pädagogische Praxis mehr ist als die simple Anwendung von Strategien oder Technologien, um vorbestimmte Ziele zu erreichen. Es steht immer die Frage nach der Erwünschtheit und dem pädagogischen Wert solcher Strategien im Raum, und es geht immer um die Besonderheit bestimmter Kontexte, in denen Probleme zu behandeln sind. Anhand der Arbeiten von Dewey habe ich zudem verdeutlicht, dass Forschung nur zeigen kann, was gewirkt hat, aber nicht, was wirkt oder zukünftig wirken wird. Das bedeutet, dass Forschungsergebnisse nicht einfach in Handlungsregeln übersetzt werden können. Wissen über die Beziehung zwischen Handlungen und Handlungsfolgen können nur verwendet werden, um professionelles Problemlösen intelligenter zu machen – nicht mehr und nicht weniger. Während ich dafür plädiert habe, dass Forschung nicht nur die Effektivität pädagogischer Mittel, sondern auch die Erwünschtheit pädagogischer Ziele untersuchen sollte, fokussiert evidenzbasierte Praxis lediglich die erste Aufgabe. Indem sie dies tut, unterstellt sie, dass Forschung für pädagogische Praxis nur relevant sein kann, indem sie instrumentelles oder technisches Wissen zur Verfügung stellt (vgl. Willinsky 2001; Sanderson 2003). In seiner Erörterung der Frage, wie sozialwissenschaftliche Forschung praktisch relevant sein kann, bezeichnet Gerard de Vries (1990) diese spezifische Form, soziale Praxis mittels Forschung aufzuklären, als technische Funktion der Forschung. In ihrer technischen Funktion erzeugt Forschung Mittel, Strategien und Techniken, um vorgegebene Ziele zu erreichen. De Vries argumentiert jedoch, dass das nur eine
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Möglichkeit ist, wie Forschung praktisch relevant sein kann. Es gebe mindestens eine weitere Möglichkeit, wie Forschung Praxis aufklären kann: indem sie die soziale Realität anders versteht und ein anderes Bild von ihr zeichnet. Hierin besteht nach de Vries die kulturelle Funktion der Forschung. De Vries’ Unterscheidung ist erstens bedeutsam, weil sie uns zu erkennen erlaubt, dass die Bereitstellung instrumentellen Wissens nicht die einzige Möglichkeit ist, wie Bildungsforschung pädagogische Praxis aufklären und fördern kann. Während das Ermitteln, Testen und Evaluieren verschiedener Formen pädagogischen Handelns eine wichtige Aufgabe der Bildungsforschung darstellt, kann Forschung ebenso wertvoll sein, um praktischen Pädagogen zu einem anderen Verständnis ihrer Praxis zu verhelfen und sie darin zu unterstützen, ihre Praxis anders zu sehen und sie sich anders vorzustellen. Einen Klassenraum im Hinblick auf Verhaltensziele oder im Hinblick auf „legitime periphere Partizipation“ zu betrachten, kann einen Riesenunterschied machen. Eine andere theoretische Perspektive einzunehmen, kann uns in die Lage versetzen, ein Problem zu verstehen, das wir vorher nicht verstanden haben, oder ein Problem zu sehen, das wir vorher nicht gesehen haben (man denke etwa daran, wie feministische Forschung dazu beigetragen hat, Probleme offenzulegen). Dies kann dazu beitragen, dort mit Handlungsmöglichkeiten zu rechnen, wo wir dies vorher nicht taten. Die kulturelle Funktion der Bildungsforschung ist somit nicht weniger praktisch als die technische Funktion. Ein Kernproblem der Idee evidenzbasierter Praxis besteht darin, dass sie über die kulturelle Option einfach hinwegsieht. Sie richtet sich allein darauf, Mittel für gegebene Ziele hervorzubringen (vgl. Sanderson 2003, S. 332, S. 340), und reduziert Forschungsfragen „auf die Pragmatik technischer Effizienz und Effektivität“ (Evans/Benefield 2001, S. 539). Sie hat lediglich eine technologische Erwartung an Forschung. De Vries’ Unterscheidung ist noch unter zwei weiteren Gesichtspunkten wichtig für unsere Diskussion. Auch wenn man die technische von der kulturellen Funktion unterscheiden kann, heißt dies nicht, dass es notwendig ist, beide als getrennt voneinander zu betrachten. Einerseits zeigt de Vries, dass uns andere Interpretationen häufig dabei helfen, neue Probleme und neue Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, und somit zu anderen oder exakteren „technischen“ Fragen für weitere Forschung führen können. In dieser Hinsicht kann die kulturelle Funktion der Bildungsforschung der technischen Funktion den Weg bereiten. Wenn Forschung andererseits erfolgreich ihre technische Funktion erfüllt, d. h. wenn sie Strategien und Ansätze hervorbringt, die Probleme erfolgreich lösen, könnte uns das möglicherweise davon überzeugen, Situationen im Sinne des Rahmens zu sehen und zu verstehen, der für den technischen Ansatz maßgeblich ist. Technische und kulturelle Herangehensweisen durchdringen und verstärken sich so meist gegenseitig.
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Angesichts der bisherigen Überlegungen könnte man die technische und die kulturelle Funktion als zwei Optionen verstehen, unter denen Forscher eine auswählen. Dies dürfte jedoch nicht immer der Fall sein. De Vries argumentiert, dass die Funktion, die Bildungsforschung haben kann, größtenteils von mikro- und makropolitischen Bedingungen abhängt, unter denen Wissenschaftler arbeiten. In Fällen, in denen ein starker Konsens über die Ziele der Erziehung besteht oder, um die Perspektive zu ändern, Erziehungsziele nicht hinterfragt werden können, ist die technische Funktion die einzig mögliche Funktion von Forschung. Wenn ein solcher Konsens nicht besteht oder wenn der bestehende Konsens zu zerbrechen droht, hat die Forschung die Möglichkeit, eine kulturelle Funktion zu übernehmen, indem sie andere Deutungen einer Situation bietet. Ob Forschung eine technische oder eine kulturelle Funktion erfüllen kann, hängt somit nicht allein von den Entscheidungen und Absichten der Wissenschaftler ab, sondern ganz entscheidend von der Umwelt, in der Wissenschaftler arbeiten. De Vries verbindet seine Analyse mit der Idee der Demokratie. Er legt dar, dass eine demokratische Gesellschaft eine Gesellschaft ist, in der die Sozialforschung nicht auf eine technische Funktion beschränkt ist, sondern auch eine kulturelle Funktion ausüben kann. Eine demokratische Gesellschaft ist mit anderen Worten dadurch gekennzeichnet, dass eine offene und fundierte Diskussion über Problemdefinitionen sowie über die Ziele und Zwecke unserer erzieherischen Anstrengungen stattfindet. Deshalb ist die Tatsache, dass die gesamte Diskussion über evidenzbasierte Praxis nur technische Erwartungen an die praktische Funktion der Forschung zu haben scheint, unter dem Gesichtspunkt der Demokratie beunruhigend. Schlussfolgerungen In diesem Essay habe ich drei Grundannahmen evidenzbasierter Pädagogik geprüft. Zunächst habe ich das Modell professionellen Handelns untersucht, das mit evidenzbasierter Pädagogik einhergeht. Daraufhin habe ich argumentiert, dass Erziehung nicht als Intervention oder Behandlung verstanden werden kann, weil pädagogische Praxis ihrem Wesen nach nicht-kausal und normativ ist und weil Mittel und Ziele in der Erziehung intern miteinander zusammenhängen. Dies impliziert, dass professionelle Pädagogen Urteile darüber fällen müssen, was pädagogisch wünschenswert ist. Solche Urteile sind von Natur aus normativ. Kritisiert habe ich den Vorschlag, dass die Erforschung dessen, „was wirkt“, solche Urteile ersetzen kann. Dieser Vorschlag impliziert nicht nur einen unzulässigen Sprung vom „Sein“ zum „Sollen“, sondern leugnet auch das Recht praktischer Pädagogen, nicht gemäß den empirischen Befunden über das, „was wirkt“, zu handeln, wenn sie zu dem Urteil
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gelangen, dass ein solches Handeln pädagogisch nicht wünschenswert ist. An der evidenzbasierten Pädagogik ist daher nicht nur problematisch, dass sie die Rolle von Normen und Werten in pädagogischen Entscheidungen nicht hinreichend beachtet (vgl. Elliott 2001; Simons 2003); problematisch ist auch, dass sie die Möglichkeiten von professionellen Pädagogen einschränkt, von ihrer Urteilkraft darüber, was in bestimmten Situationen pädagogisch wünschenswert ist, Gebrauch zu machen. An dieser Stelle zeigt sich das Demokratiedefizit evidenzbasierter Pädagogik. Ein ähnliches Problem wurde in der Diskussion der epistemologischen Annahmen evidenzbasierter Praxis deutlich. Im Rückgriff auf Deweys praktische Epistemologie habe ich verdeutlicht, dass uns Forschung nicht mit Handlungsregeln versorgen kann, sondern nur mit Hypothesen für intelligentes Problemlösen. Forschung kann uns nur etwas darüber sagen, was in einer bestimmten Situation funktioniert hat, aber nicht darüber, was in einer zukünftigen Situation funktionieren wird. Die Aufgabe eines professionellen Pädagogen besteht dabei nicht darin, allgemeine Regeln in bestimmte Handlungsweisen zu übersetzen. Vielmehr geht es darum, Forschungsergebnisse zu nutzen, um das eigene Problemlösen intelligenter zu machen. Hierzu gehört nicht nur das Abwägen und Beurteilen der Mittel und Techniken der Erziehung, sondern auch das Abwägen und Beurteilen der Ziele der Erziehung – und dies steht in enger Verbindung mit dem Abwägen und Beurteilen der Mittel. Daher stellt Deweys praktische Epistemologie die Idee evidenzbasierter Pädagogik in zweierlei Hinsicht in Frage: Zum einen stellt sie in Frage, wie evidenzbasierte Praxis die Leistungen der Forschung für die pädagogische Praxis begreift; zum anderen stellt sie das technokratische Modell in Frage, wonach man die Diskussion auf technische Fragen danach, „was wirkt“, beschränken kann und soll. Dewey hilft uns zu verstehen, dass normative Fragen für sich genommen ernsthafte Forschungsfragen sind – Fragen, die Teil einer umfassenden, freien und offenen normativen Debatte unter all jenen sein müssen, die Anteil an der Erziehung haben (dazu sollten nicht nur die gehören, die unmittelbar interessiert sind an Erziehung, sondern alle Bürger). Dass das derzeitige Modell evidenzbasierter Pädagogik nicht zu solchen Schlussfolgerungen zu führen scheint, ist ein weiteres Indiz für das Demokratiedefizit des evidenzbasierten Ansatzes. Im dritten Schritt meiner Argumentation ging es darum, wie evidenzbasierte Pädagogik die Beziehungen zwischen Forschung, Politik und Praxis begreift. Dass die Verbindung zwischen Forschung, Politik und Praxis nicht nur auf technische Fragen beschränkt ist, sondern sich auch daran ausrichten kann, dass Forschung mit verschiedenen Sichtweisen auf die pädagogische Wirklichkeit und verschiedenen Vorstellungen der Zukunft aufwartet, war dabei meine zentrale Idee. Ich habe nicht nur darauf hingewiesen, dass evidenzbasierte Pädagogik scheinbar nicht bemerkt,
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dass Forschung sowohl eine technische als auch eine kulturelle Funktion ausüben kann, sondern auch darauf, dass beides sehr reale und praktische Konsequenzen haben kann. Ich habe auch gezeigt, dass der Grad, in dem die Forschung eine technische und kulturelle Aufgabe erfüllt, als ein Indiz für die demokratische Qualität einer Gesellschaft gelten kann. Darum kann und muss das gegenwärtige Klima, in dem Regierungen und politische Entscheidungsträger von der Bildungsforschung zu verlangen scheinen, nur ihre technische Aufgabe zu erfüllen, als Gefahr für die Demokratie als solche verstanden werden (vgl. Hammersley 2001a, S. 550). Aus diesem Grund ist es wirklich notwendig, unsere Sicht auf die Beziehungen zwischen Forschung, Politik und Praxis zu erweitern und dafür zu sorgen, dass sich die Diskussion nicht länger darauf beschränkt, wie man am effektivsten bestimmte Ziele erreichen kann, sondern auch Fragen der Erwünschtheit dieser Ziele mit anspricht. Mit Dewey möchte ich hier betonen, dass wir uns immer die Frage stellen müssen, ob unsere Ziele wünschenswert sind angesichts des Weges, auf dem wir diese Ziele erreichen können. Eine weitere Frage, die in der Erziehung gestellt werden muss, ist die nach der pädagogischen Qualität unserer Mittel, also danach, was Schüler durch unseren Gebrauch bestimmter Methoden und Strategien lernen werden. Aus dieser Perspektive ist es enttäuschend, dass sich die ganze Diskussion über evidenzbasierte Praxis auf technische Fragen konzentriert – Fragen danach, „was wirkt“ –, während die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit normativen und politischen Fragen darüber, was pädagogisch wünschenswert ist, vergessen wird. Wenn wir die Beziehungen zwischen Bildungsforschung, Bildungspolitik und pädagogischer Praxis wirklich verbessern wollen, brauchen wir einen Ansatz, in dem technische Fragen der Erziehung in enger Verbindung mit normativen, pädagogischen und politischen Fragen darüber, was pädagogisch wünschenswert ist, gestellt werden können. Das Ausmaß, in dem eine Regierung dem Forschungsfeld nicht nur erlaubt, solche Fragen zu stellen, sondern Forscher aktiv darin unterstützt und ermutigt, über vereinfachende Fragen nach dem, „was wirkt“, hinaus zu gehen, ist sehr wohl ein Indiz dafür, inwieweit eine Gesellschaft demokratisch genannt werden kann. Vom Standpunkt der Demokratie aus betrachtet, wird es einfach nicht funktionieren, sich nur auf das zu konzentrieren, „was wirkt“.6
6 Ich möchte mich bei Sophia Krzys Acord für ihre unentbehrliche Hilfe bei der Durchführung einer Literaturrecherche zur evidenzbasierten Pädagogik bedanken.
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Eingeklammerte Praxis – ausgeklammerte Profession Eine Kritik der evidenzbasierten Pädagogik Walter Herzog
„Evidence never speaks for itself …“ (Ray Pawson) Was wir unter evidenzbasierter Politik und Praxis zu verstehen haben, bleibt oft unbestimmt. Der Forderung, politisches und praktisches Handeln auf Evidenz zu gründen, scheint selber Evidenz zuzukommen, womit der Eindruck entsteht, eine begriffliche Klärung sei entbehrlich. Darin liegt ein wesentlicher Grund für die schnelle und breite Diffusion des Konzepts in verschiedene Politik- und Praxisbereiche (vgl. Trinder/Reynolds 2000). Bereits ist von einem „evidence-based everything“ (Oakley 2002) die Rede, das inzwischen auch die Pädagogik erfasst hat. Trotz intuitiver Plausibilität ist jedoch keineswegs klar, was von einer Disziplin, die sich auf Evidenz und Evidenzbasierung beruft, zu erwarten ist. In der Pädagogik schwanken die Reaktionen zwischen der Ankündigung einer bevorstehenden Revolution – „Education is on the brink of a scientific revolution“ (Slavin 2002, S. 15) – und der Abqualifizierung des Unterfangens als „fundamentally misguided“ (Pirrie 2001, S. 125). Entgegen der Rhetorik des Begriffs besteht also sehr wohl Klärungsbedarf. Mein Versuch, etwas Licht ins Dunkel der evidenzbasierten Pädagogik zu bringen, setzt bei der Beobachtung an, dass die Begriffe Politik und Praxis meistens zusammen genannt werden. Es scheint nicht um evidenzbasierte Politik oder Praxis zu gehen, sondern um Politik und Praxis. Der Evidenzbegriff dient als Klammer, um Politik und Praxis zu verbinden, was sich dahingehend deuten lässt, dass mittels evidenter Erkenntnisse auf die Gestaltung der Praxis eingewirkt werden soll. Das weckt den Verdacht, bei der evidenzbasierten Pädagogik könnte es sich nicht um ein pädagogisches, sondern um ein politisches Programm handeln, dessen Zweck in der besseren Kontrolle der pädagogischen Praxis liegt. Für die pädagogischen Berufe hieße dies, dass sie in ihrer Professionalität bedroht wären.
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ausgehend von diesem Verdacht werde ich mich im Folgenden der Frage zuwenden, was wir unter Evidenz überhaupt zu verstehen haben (1). Danach werde ich mich mit dem Treatment-Begriff befassen, dessen doppelte Bedeutung – treatment als praktische Behandlung (2) und treatment als experimentelle Intervention (3) – ins Zentrum der evidenzbasierten Pädagogik führt. Nach einer kritischen Analyse des Wissenschaftsverständnisses, das dem Evidenzbegriff zugrunde liegt (4), werde ich auf die konstitutive Differenz zwischen Forschung und Praxis verweisen (5) und am Beispiel des Lehrerberufs zeigen, wie durch die enge Anbindung der Praxis an die Politik die Professionalität pädagogischer Berufsarbeit missachtet wird (6). Abschließen werde ich mit einem kurzen Fazit (7). 1. Mehr als ein Slogan? Im New Oxford Dictionary of English findet man unter dem Eintrag evidence folgende Erklärung: „the available body of facts or information indicating whether a belief or proposition is true or valid“ (Pearsall 2002, S. 638). Unter evident heißt es: „plain or obvious; clearly seen or understood“ (ebd.). Das erinnert ein wenig an Sherlock Holmes, der seinen Freund Watson stets davor warnte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Erst wenn die Fakten auf dem Tisch liegen, lasse sich ein Fall schlüssig beurteilen. Tatsächlich sind mit Evidenz oft nicht mehr als die Tatsachen gemeint, auf die sich Politik und Praxis bei ihren Entscheidungen stützen sollen. Beklagt werden der ideologische Charakter bildungspolitischer Maßnahmen, das auf bloßer Erfahrung beruhende Handeln pädagogischer Praktiker und das Vorherrschen des gesunden Menschenverstandes in Fragen von Schule und Erziehung. Statt die effektiven Wirkungen pädagogischer Handlungen in Rechnung zu stellen, begnüge man sich mit den guten Absichten und Motiven, die ihnen zugrunde liegen. Mit dem Verweis auf Fakten wird allerdings nicht hinreichend klar, worum es bei der evidenzbasierten Pädagogik geht. Denn selbstverständlich wird auch in Erziehung und Unterricht erwartet, dass man sich an Tatsachen hält und nicht einfach nach Willkür und Gutdünken verfährt. Insofern setzt das Konzept einer evidenzbasierten Politik und Praxis auf einen Slogan (vgl. Hammersley 2004, S. 134), der durch seine suggestive Plausibilität verhindert, dass dem Ansinnen Widerstand erwächst (vgl. Trinder 2000, S. 3). Als pädagogischer Slogan stehen Evidenzen zudem für Verbesserungen, was nicht nur Boruch, de Moya und Snyder (2002, S. 74) vermerken, wenn sie von besseren Leistungen und besserem Wohlbefinden der Kinder sprechen, sondern auch von Walberg (2006, S. VII) herausgestrichen wird, wenn er sich dank evidenzbasierter Pädagogik eine höhere Produktivität der Schulen verspricht.
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Der Begriff der Evidenz heftet sich damit an den Begriff des Wissens, wie ein Dokument der EU-Kommission zeigen kann. Das Dokument Towards more knowledgebased policy and practice in education and training, in dem ausgiebig von evidenzbasierter Politik und Praxis die Rede ist, fordert „more systematic use of evidence as a basis for the modernisation of education and training systems“ (SEC 2007, S. 4). Dabei verwendet die Kommission ein liberales Verständnis von Wissen: „Relevant evidence can take many forms, such as experience and evaluation of practice, the results of independent or commissioned scientific analyses, quantitative and qualitative research, basic and applied research, and the development of statistics and indicators“ (ebd., S. 5). Diese offene Definition von Wissen unterscheidet sich allerdings von den meisten Ansätzen evidenzbasierter Politik und Praxis, die ausschließlich auf wissenschaftliches Wissen setzen. Wenn daher die Sozialpädagogen McNeece und Thyer (2004) von Evidenz sprechen, dann meinen sie „the best scientific evidence that is currently available“ (ebd., S. 9; Hervorhebung W. H.) und „the best available research evidence“ (ebd., S. 14; Hervorhebung W. H.). Der Begriff der Evidenz meint weder einfach Tatsachen noch bloßes Wissen, sondern Wissen, das aus wissenschaftlicher Forschung hervorgeht. Insofern geben McNeece und Thyer (2004) eine treffende Definition, wenn sie schreiben: „One of the simplest definitions of EBP [evidence-based practice, W. H.] is that it is ‚treatment based on the best available science‘“ (ebd., S. 8). Auffällig ist das Wort treatment. Es verweist einerseits (wie hier) auf Praxis (treatment als Behandlung durch einen Arzt oder Sozialarbeiter), steht andererseits aber auch für eine bestimmte Forschungsmethode, die von den Verfechtern der evidenzbasierten Politik und Praxis favorisiert wird, nämlich das (randomisierte) Experiment, bei dem die Versuchspersonen der Experimentalgruppe einer gezielten Intervention (treatment) unterworfen werden. Erneut stoßen wir auf eine Klammer. Wo Politik und Praxis durch die Klammer der Evidenz zusammengehalten werden, bildet das Wort treatment die Klammer, um Forschung und Praxis aneinander zu binden. Tatsächlich führt die doppelte Verklammerung der Praxis durch die Politik auf der einen Seite und die Forschung auf der anderen Seite ins Zentrum der evidenzbasierten Pädagogik. Das möchte ich im Folgenden aufzeigen, indem ich zunächst die konzeptuellen Grundlagen und danach die methodologischen Präferenzen der evidenzbasierten Pädagogik untersuche. 2. Erneuerung technologischer Erziehungsphantasien Die praktischen Ansprüche, die von der evidenzbasierten Pädagogik erhoben werden, implizieren, dass die wissenschaftliche Forschung nicht Ausdruck eines ‚reinen‘
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Erkenntnisinteresses ist, sondern im Dienste der Wirksamkeit von Interventionen steht. Es geht um „better evidence on the impact of educational practices“ (Boruch/Mosteller 2002, S. 1), um „good evidence about the effect of interventions in education“ (Boruch/de Moya/Snyder 2002, S. 51), um „evidence about what interventions work better“ (Boruch/Mosteller 2002, S. 2) und um „research into effective practices that can make a difference“ (Walker et al. 1998, S. 16). Mit Praktiken und Interventionen sind Schulprogramme, Reformkonzepte, Unterrichtsmethoden, Präventionskampagnen und andere pädagogische Maßnahmen gemeint. Beklagt wird, dass die erziehungswissenschaftliche Forschung kaum in der Lage sei, Wissen über die Effektivität und Effizienz von Interventionen zur Verfügung zu stellen (vgl. Hargreaves 1996; Slavin 2002). Und dort, wo Wissen vorhanden sei, lasse es sich nicht schlüssig interpretieren: „Much has been spent to evaluate educational innovations, but not much has been learned about what works and can be used to improve schools and student performance“ (Cook/Payne 2002, S. 150). Das Stichwort lautet what works? Um diese Frage kreisen letztlich alle Bemühungen um eine evidenzbasierte Politik und Praxis (vgl. Pawson 2006, S. 20). Gefragt sind nicht einfach Tatsachen oder blankes Wissen, sondern „knowledge about what works“ (Subotnik/Walberg 2004, S. 1), d. h. Wissen über Maßnahmen, deren Erfolg nachgewiesen ist (vgl. Boruch/de Moya/Snyder 2002; Davies/Nutley/Smith 2000). Die wissenschaftliche Forschung soll zeigen, wie man es besser machen kann. Genau in diesem Sinn ist der Evidenzbegriff zu verstehen. Evidenz meint „evidence about what works“ (SEC 2007, S. 14).1 Das Wissen, das die evidenzbasierte Politik und Praxis einfordert, ist nicht Orientierungs- und nicht Begründungswissen, sondern Verfügungswissen. Das kommt in einem OECD-Bericht über die schweizerische Bildungsforschung2 deutlich zum Ausdruck. Ausgearbeitet vom Centre for Educational Research and Innovation (CERI), einer Abteilung der Bildungsdirektion der OECD, urteilt der Bericht in der Perspektive einer evidenzbasierten Pädagogik.3 Gemessen wird die Bildungsforschung an ihrem Beitrag „to the creation, collation and distribution of a knowledge base on which practitioners and policy makers can draw“ (CERI 2007, S. 3). Im Bericht über die Schweiz wird nicht nur das geringe Forschungsaufkommen, son-
1 Das Institute of Education Sciences (IES) des U.S. Department of Education richtete 2002 ein What Works Clearinghouse (WWC) ein, dessen Aufgabe darin besteht, „to provide educators, policymakers, researchers, and the public with a central and trusted source of scientific evidence on what works in education“ (Boruch/Herman 2006, S. 269). 2 Ich unterscheide nicht zwischen erziehungswissenschaftlicher und Bildungsforschung. 3 Es handelt sich um den fünften Bericht in einer Serie, die sich zuvor der Bildungsforschung in England, Neuseeland, Mexiko und Dänemark angenommen hatte (vgl. CERI 2007, S. 3). Den Bericht über England hat Keiner (2005) zum Anlass einer kritischen Analyse genommen.
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dern auch dessen mangelnde Qualität bemängelt (ebd., S. 19ff.). Wo empirisch geforscht werde, würden qualitative Methoden überwiegen; quantitative Studien mit repräsentativen Stichproben und generalisierbaren Ergebnissen seien kaum vorhanden. Der Bericht kommt zum Ergebnis, „that current research practice cannot address the needs of policy makers and practitioners fully and appropriately“ (ebd., S. 22). Gefordert werden eine nationale schweizerische Forschungspolitik im Bereich der Bildung und eine politische Steuerung der Bildungsforschung (ebd., S. 28f.). Dies mit dem Argument, dass „policy makers are in need of outcome-oriented, systemlevel studies based on quantitative methods, in order to be able to provide evidencebased policy-making“ (ebd., S. 34). Es sei dringlich, den „impact of research results on policy-making and educational practice“ (ebd., S. 47) zu erhöhen.4 Der Bericht stellt unmissverständlich die Bedürfnisse von Bildungspolitik und Bildungspraxis in den Vordergrund. Gemessen am Anspruch, Evidenzen für politische Entscheidungen zu liefern (vgl. CERI 2007, S. 3), wird der schweizerischen Bildungsforschung fehlende sozialpolitische Relevanz vorgeworfen.5 Die Legitimation für diese massive Defizitdiagnose liefert ein Grundlagenbericht der OECD (2007) zu Evidence in Education. Darin wird für die Bildung eingeklagt, was in der Medizin längst normal sei, nämlich ein Handeln, das sich an der besten verfügbaren Evidenz hinsichtlich dessen, was wirksam ist, orientiert. Unverholen ist von „policy-driven research“ (ebd., S. 131, passim) die Rede. Was wir brauchten, sei eine erziehungswissenschaftliche Forschung, „that can prove [!] which educational practices are superior to others“ (ebd., S. 145; im Original hervorgehoben). Es gehe darum, „to learn more about what works in education“ (ebd., S. 35) und „to accumulate a secure [!] body of knowledge about effective educational practices“ (ebd., S. 39). Die Evidenz evidenzbasierter Pädagogik bemisst sich offensichtlich am direkten praktischen Nutzen erziehungswissenschaftlichen Wissens. Dahinter verbirgt sich ein technologisches und utilitaristisches Verständnis von Wissenschaft (vgl. Solesbu-
4 Dementsprechend erhalten nationale und interkantonale Institutionen mit politischer Trägerschaft ausnahmslos Lob für ihre steuernden Leistungen im Bereich der schweizerischen Bildungsforschung, so das Bundesamt für Statistik (BFS), das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT), die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und der Conseil suisse de la recherche en éducation (CORECHED), während die universitäre Bildungsforschung vor allem Kritik einstecken muss. 5 So („lack of socio-political relevance“) lautet explizit die Formulierung im Hintergrundbericht zum CERI-Bericht, der von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) ausgearbeitet wurde (vgl. SKBF 2006, S. 63). Auch in diesem Hintergrundbericht ist ausführlich von „evidence-based knowledge of the education system“ (ebd., S. 24), „knowledge-based education policy“ (ebd., S. 14), „evidence-based system governance“ (ebd., S. 25) und „evidence-based policy research“ (ebd., S. 59) die Rede.
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ry 2001). Die Wissenschaft soll der Politik dienlich und der Praxis nützlich sein, indem sie Forschung betreibt, „that helps us not just to understand society but offers some guidance on how to make it better“ (ebd., S. 4). Um uns richtig entscheiden zu können, müssen wir so viel wie möglich wissen „about what works, for whom, under what circumstances and with what outcomes“ (SEC 2007, S. 5).6 Diesbezüglich scheint die erziehungswissenschaftliche Forschung fast hoffnungslos rückständig zu sein. Während Medizin, Agrikultur und das Ingenieurwesen den Schritt ins 21. Jahrhundert längst getan hätten, mache die Erziehungswissenschaft erst Anstalten, das 19. Jahrhundert zu verlassen. Eine Forschungswissenschaft sei sie trotzdem noch nicht geworden. „The scientific revolution that utterly transformed medicine, agriculture, transportation, technology, and other fields early in the 20th century almost completely bypassed the field of education“ (Slavin 2002, S. 16).7 Dementsprechend fehle den pädagogischen Berufen eine ausreichende Wissensbasis. Vom Ziel einer „research-based profession“ scheinen insbesondere die Lehrkräfte noch weit entfernt zu sein (vgl. Hargreaves 1996). Den Maßstab zur Beurteilung der erziehungswissenschaftlichen Forschung bildet die Steigerung der pädagogischen Produktivität durch die schärfere Kontrolle der ‚Produktionsbedingungen‘ (sprich: der Schulen und Lehrkräfte). Wohin die Erwartungen gehen, zeigt Hargreaves (1997), der eine erziehungswissenschaftliche Forschung fordert, die schlüssig und entschieden nachweist, „that if teachers do X rather than Y in their professional practice, there will be a significant and enduring improvement in outcome“ (ebd., S. 413). Das erinnert an Brezinka und sein Konzept einer Erziehungswissenschaft als Technologie (vgl. Herzog 1988). Diese würde Aussagen zulassen, „die über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Eintreten gewollter Wirkungen informieren“ (Brezinka 1978, S. 153). Ihre Aufgabe bestünde in der Freilegung von Kausalbeziehungen, „um Möglichkeiten des Eingreifens oder der Einflussnah6 Fraglich ist, ob unter dem Anspruch auf Wissen über die Wirksamkeit von Maßnahmen der Begriff der Forschung überhaupt angemessen ist und nicht eigentlich von Evaluation die Rede sein müsste. Tatsächlich wird in einigen Publikationen zur evidenzbasierten Politik und Praxis eher von Evaluation als von Forschung gesprochen, so zum Beispiel bei Boruch, McSweeny und Soderstrom (1978), bei Cook und Payne (2002) oder bei Pawson (2006). Wenn allerdings die methodische Qualität der eingeklagten Evidenz zur Diskussion steht, dann wird stets rigorose Forschung gefordert, da Evaluationen unter unvollständig kontrollierten Bedingungen durchgeführt würden (vgl. z. B. Fitz-Gibbon 2000, S. 69f.). 7 Die undifferenzierte Gleichsetzung von Erziehung mit Agrikultur, dem Transportwesen und der Herstellung von Industriegütern hat in den USA eine lange Tradition und findet sich z. B. auch bei Herbert Walberg, der nicht nur ein Modell „pädagogischer Produktivität“ vertritt, sondern die Erziehung ohne Hemmungen mit der Stahl- und Automobilindustrie sowie der Produktion von Geräten der Unterhaltungselektronik vergleicht (vgl. Fraser et al. 1987, S. 147f.). Kein Wunder, dass er sich auch vehement für eine evidenzbasierte Pädagogik einsetzt (vgl. Subotnik/Walberg 2004, 2006).
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me durch erzieherisches Handeln aufzufinden“ (ebd., S. 60). Wo Hargreaves (1996) „evidence about what works with whom under what conditions and with what effects“ (ebd., S. 7) einfordert, da erhofft sich Brezinka (1981) Erkenntnisse, die Voraussagen der Art ermöglichen: „wenn bestimmten Educanden gegenüber unter bestimmten Umständen in bestimmter Weise gehandelt wird, dann werden bestimmte Veränderungen in ihrer Persönlichkeit erfolgen“ (ebd., S. 13). Mehr als eine Wiederbelebung technologischer Erziehungsphantasien hat die evidenzbasierte Pädagogik in konzeptueller Hinsicht offenbar nicht zu bieten. 3. Das Experiment als methodischer Standard Der Anspruch auf Wissen über wirksame Interventionen erklärt die einmütige Vorliebe für das Experiment als Forschungsmethode unter den Anhängern evidenzbasierter Politik und Praxis. Allein das Experiment soll in der Lage sein, Kausalbeziehungen verlässlich aufzudecken (vgl. Cook/Payne 2002; Paik 2006; Slavin 2002; Towne/Hilton 2004). Wissen um Kausalitäten ist aber unabdingbar, wenn die Wirksamkeit praktischer Maßnahmen beurteilt werden soll. Das Experiment scheint sich schon rein sprachlich als methodischer Standard evidenzbasierter Politik und Praxis zu empfehlen. Denn der Intervention qua Behandlung (treatment) in der Praxis entspricht die Manipulation (treatment) einer unabhängigen Variablen in der experimentellen Forschung.8 Mit dem Experiment wird das Ziel verfolgt herauszufinden, ob die Beziehung zwischen treatment und outcome tatsächlich besteht und als Kausalrelation interpretiert werden kann (vgl. Paik 2006, S. 12f.). So meint Slavin (2002), das Experiment sei „the design of choice for studies that seek to make causal conclusions“ (ebd., S. 18). Insofern erhebt die evidenzbasierte Pädagogik einen Qualitätsanspruch an die erziehungswissenschaftliche Forschung, der sich vom „Gold-Standard“ der evidenzbasierten Medizin herleitet (vgl. Pirrie 2001). Dieser liegt im randomisierten Kontrollversuch (randomized control trial).9 8 Die Anbindung des Kausalitätsbegriffs an die Logik des Experiments weist diesen als interventionistisch bzw. manipulationistisch aus (vgl. Woodward 2003). Ob dies ein zureichendes Verständnis von Kausalität ist, muss hier offen bleiben. 9 Der randomized control trial (RCT) wird auch randomized experiment, randomised control experiment, randomized controlled experimentation, random assignment experiment, randomised experimental design, randomized control-group experimentation, randomized field experiment oder randomized field trial (RFT) genannt (vgl. Boruch/de Moya/Snyder 2002; Cook/Payne 2002; Davies/Nutley/Tilley 2000, S. 253; OECD 2007, S. 33; Phillips 2006; Subotnik/Walberg 2006, S. 2; Towne/Hilton 2004). Der Begriff des field trial steht eher für größere (large-scale) Studien (v.a. im sozial- und erziehungswissenschaftlichen Bereich), während mit dem RCT eher Laborversuche (v.a. im medizinischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Bereich) gemeint sind.
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Beim randomisierten Kontrollversuch erfolgt die Zuordnung der Versuchspersonen zu den Untersuchungsbedingungen (Experimental- und Kontrollgruppe) nach dem Zufallsprinzip. Dieses bietet Gewähr, dass die vielen Faktoren, die neben dem treatment den Ausgang eines Experiments beeinflussen können, zufällig zwischen den Untersuchungseinheiten verteilt sind und sich dadurch gegenseitig neutralisieren (vgl. Cook/Payne 2002; Paik 2006). Im Idealfall werden Experimente zudem als Doppelblindversuche durchgeführt, bei denen weder den Versuchspersonen noch dem Versuchsleiter bekannt ist, welcher Untersuchungsgruppe die Probanden zugeteilt sind. Dadurch lassen sich Erwartungs- und Experimentiereffekte vermeiden, welche die interne Validität einer Untersuchung negativ beeinflussen können (vgl. Adair 1973, S. 36ff.). Gut kontrollierte Experimente sind zudem replizierbar, was der experimentellen Forschung einen zusätzlichen Wert verschafft. Es sind solche echten Experimente, die auch in der Pädagogik Garantie bieten sollen, dass jene Evidenz beschafft wird, die notwendig ist, um die praktischen Fortschritte zu erzielen, die angezeigt scheinen. „The results of such experiments [true experiments, W. H.], particularly when replicated under many, varied conditions, provide the most dependable basis for policy and practice, as clearly demonstrated and even required for definitive conclusions in agronomy and medicine“ (Subotnik/Walberg 2004, S. 1). Damit wird der Qualitätsanspruch unübersehbar. Nicht jede Art von Evidenz, auch nicht jede Art von wissenschaftlicher Evidenz und nicht einmal jede Art von Forschungsevidenz ist gleichermaßen gut, um politische und pädagogische Entscheidungen zu treffen. Die Methoden der Forschung stehen in einer hierarchischen Ordnung, die von prä-experimentellen über quasi-experimentelle zu (echten) experimentellen Designs führt (vgl. Paik 2006; U.S. Department of Education 2007, S. 13ff.).10 Die gleiche Hierarchie, wenn auch etwas differenzierter, findet sich bei McNeece und Thyer (2004), die im Einzelnen die folgende Rangierung vornehmen: „Systematic Reviews/Meta-Analyses, Randomized Controlled Trials, Quasi-Experimental Studies, Case-Control and Cohort Studies, Pre-Experimental Group Studies, Surveys, Qualitative Studies“ (ebd., S. 10). Interessanterweise steht auf dieser Liste nicht das randomisierte Experiment an der Spitze, sondern die Meta-Analyse, ein Verfahren der statistischen Integration von Einzelstudien. Mit der Favorisierung der Meta-Analyse sind McNeece und Thyer (2004) allerdings nicht allein. Auch für Oakley ist die systematische Aufbereitung und Integra-
10 Der Begriff des Quasi-Experiments ist allerdings unklar und umfasst oft auch Experimente mit parallelisierten Untersuchungsgruppen (matched experiments), während in anderen Fällen erst dann von einem Quasi-Experiment gesprochen wird, wenn keine Kontrolle der Zuordnung der Versuchspersonen zu den Untersuchungsbedingungen vorliegt.
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tion von Forschungsergebnissen „the primary method for managing knowledge in the evidence movement approach“ (Oakley, zit. nach Thomas 2004, S. 10). Die Verlässlichkeit einer Evidenz gilt als größer, wenn sie von mehreren, ähnlich gelagerten Studien bestätigt wird. Forschungssynthesen und Meta-Analysen stehen daher im Vordergrund der Agenturen, die sich auf die Förderung evidenzbasierter Politik und Praxis spezialisiert haben, wie der Cochrane Collaboration, der Campbell Collaboration oder dem What Works Clearinghouse des U.S. Department of Education. Gemessen am Standard kumulativer Evidenz erscheint die erziehungswissenschaftliche Forschung erneut als defizitär: „Educational research is conspicuously weak in its ability to continuously develop and refine a body of knowledge which is quasi-universally acknowledged as well-founded“ (OECD 2007, S. 27). Im pädagogischen Bereich werden von Meta-Analysen daher keine baldigen Durchbrüche erwartet wie im Falle der medizinischen Forschung, aber mit einem steten Voranschreiten der Qualität von Erziehung und Unterricht wird sehr wohl gerechnet: „Once we have dozens or hundreds of randomized or carefully matched experiments going on each year on all aspects of educational practice, we will begin to make steady irreversible progress“ (Slavin 2002, S. 19).11 4. Ein fundamentalistisches Wissenschaftsverständnis Hat uns die Auseinandersetzung mit dem Treatment-Begriff ins Zentrum der evidenzbasierten Pädagogik geführt, so ist zugleich deutlich geworden, wie politisch deren Ziele sind. Die doppelte Verklammerung von Politik und Praxis über den Evidenzbegriff auf der einen Seite und von Forschung und Praxis über den Treatment-Begriff auf der anderen Seite fügt sich zu einem Dreieck, an dessen Spitze die Politik steht und dessen Basis durch die Eckpunkte Forschung und Praxis markiert wird. Für die Politik ergibt sich die verführerische Aussicht, über die Kontrolle der Forschung auf die Praxis einzuwirken. Die politischen Ziele geben der evidenzbasierten Pädagogik den Charakter einer Bewegung.12 Dafür spricht auch die gelegentlich geradezu penetrante Verwendung von 11 Die Meta-Analyse ist allerdings ein konservatives Reviewverfahren, da es ältere Forschungsergebnisse gegenüber neueren überbewertet (einfach weil es mehr davon gibt). Bei der heute gängigen Publikationspraxis ist zudem damit zu rechnen, dass Daten aus der gleichen Studie unter verschiedener Autorschaft mehrfach publiziert werden. Schließlich besteht die Gefahr, dass abweichende Befunde unterschlagen werden (weil sie eine geringere Chance haben, publiziert zu werden). Was den letzten Punkt anbelangt, kann die Qualität einer Meta-Analyse verbessert werden, wenn auch unpublizierte Ergebnisse aufgenommen werden (vgl. Lipsey/Wilson 1993; Morrison 2001, S. 78f.). 12 Der Begriff evidence movement findet sich verschiedentlich in der einschlägigen Literatur (vgl. z. B. Eraut 2004, S. 93; Hammersley 2004; Oakley 2002; Slavin 2002, S. 19; Trinder 2000, S. 1).
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Superlativen. Beansprucht wird nicht einfach Evidenz, sondern „the best available evidence“ (McNeece/Thyer 2004, S. 12), „the most appropriate forms of evidence“ (OECD 2007, S. 16), „the highest possible standard of evidence“ (Slavin 2002, S. 18), „the highest standards of scientific research and evaluation“ (Davies 1999, S. 109), „the best possible insights into ‚what works‘“ (OECD 2007, S. 151) etc. Allerorts ist von rigoroser Forschung, echten Experimenten und robusten Ergebnissen die Rede (vgl. Baron 2007; Davies/Nutley/Smith 2000, S. 6; Davies/Nutley/Tilley 2000, S. 251, 257; Fitz-Gibbon 2000, S. 73ff., 81; Hargreaves 1997, S. 412; OECD 2007, S. 15, 30; Paik 2006; Slavin 2002; Subotnik/Walberg 2006). Eingeklagt werden nicht nur Fakten, sondern „solide Fakten“ (EAC 2009, S. 1), nicht nur Evidenzen, sondern „uncontested evidence“ (Fitz-Gibbon 2000, S. 83) und „hard evidence of ‚what works‘“ (Hargreaves 1997, S. 410), nicht nur Wissen, sondern „secure knowledge about what works“ (OECD 2007, S. 45), „research-proven tools“ (Baron 2007, S. 33), „proven research-based methods“ (Walker et al. 1998, S. 8) und „definitive findings about what effectively and efficiently raises achievement“ (Subotnik/Walberg 2006, S. 1). Im Glauben, es lasse sich endgültig und unwiderruflich beweisen, welche pädagogischen Maßnahmen am wirksamsten sind, werden Erwartungen an ein Wissen geschürt, das dem politischen Handeln eine unerschütterliche Grundlage bietet. So verteidigt Baron (2009) das randomisierte Experiment mit dem Argument, „that evidence of effectiveness generally cannot be considered definitive [!] without ultimate [!] confirmation in well-conducted randomized trials“ (ebd., S. 32). Als ob die Fehlbarkeit und Revidierbarkeit nicht zentrale Merkmale der wissenschaftlichen Methode wären. Die Erwartung, Politik und Praxis ließen sich durch Forschung in einen Zustand endgültiger und unumstößlicher Gewissheit versetzen, verweist auf ein fundamentalistisches Wissenschaftsverständnis. Auch wenn Descartes im Kontext der evidenzbasierten Pädagogik kaum je Erwähnung findet und der Evidenzbegriff eher über Bacon als über Descartes hergeleitet wird, liegt sein methodischer Ansatz, der die Wissenschaft auf klare und deutliche Intuitionen verpflichtet, nicht weit von dem entfernt, was im Rahmen der Evidenzbewegung unter Erkenntnis verstanden wird.13 13 Descartes ging es wie Bacon um die Begründung der Wissenschaft. Sein Cogito-Argument hat die Funktion eines Modells, an dem die empirische wissenschaftliche Forschung gemessen werden soll. In seinen Reflexionen über die wissenschaftliche Methode spielt das Experiment zwar explizit keine Rolle, doch hat er es im Rahmen eigener Studien sehr wohl angewandt, und auch das in den „Meditationen“ angestellte Gedankenexperiment zum Bienenwachs (vgl. Descartes 1960, S. 26ff.) zeugt von seiner Kenntnis der experimentellen Methode. Descartes’ Beiträge zur Naturwissenschaft hatten allerdings wenig Bestand, was vor allem daran liegt, dass er ein wesentliches Moment moderner Wissenschaft nicht begriffen hatte, dass nämlich die Forschung nicht von Prinzipien, sondern von Hypothesen ausgeht (vgl. Jaspers 1937, S. 39f., 52f., 58f.).
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Als Ziel der wissenschaftlichen Forschung erachtet Descartes, „die Erkenntniskraft darauf auszurichten, dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt“ (Descartes 1972, S. 3). Die Wissenschaft ist einem Gebäude vergleichbar, das auf sicherem Fundament ruht und Aussicht auf Vollendung, d. h. die Fertigstellung des epistemischen Konstruktionsprozesses, bietet. Ausgehend von dem, „was wir in klarer und evidenter Intuition sehen oder zuverlässig deduzieren können“ (ebd., S. 9), zählt nur das als Baustein der Erkenntnis, was uns mit letzter Sicherheit als wahr erscheint. Bekanntlich hat Descartes das so gewonnene Wissen für praktisch äußerst nützlich erachtet. Der Zweck der Wissenschaft liegt nicht darin, „diese oder jene Schulfrage zu lösen“ (Descartes 1972, S. 4); vielmehr geht es darum, dass „in den einzelnen Vorfällen des Lebens der Verstand dem Willen vorschreibe, was zu wählen sei“ (ebd.). Wie groß auch immer die methodischen Differenzen zwischen Descartes und der Evidenzbewegung sein mögen, im Anspruch auf eine Erkenntnis, die sich nicht nur fundieren und kumulativ erweitern, sondern auch praktisch nutzen lässt, besteht eine hohe Übereinstimmung zwischen den beiden Positionen. In der Wissenschaftstheorie ist der epistemische Fundamentalismus jedoch längst in Misskredit geraten. Dass sich die Wissenschaft auf ein sicheres Fundament stellen lässt, gilt mittlerweile als Illusion: „die Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund. Es ist eher ein Sumpfland, über dem sich die kühne Konstruktion ihrer Theorien erhebt“ (Popper 1989, S. 75f.). Da es weder reine Gedanken noch reine Sinnesdaten gibt, kann es auch keine unumstößliche Evidenz geben. Durch wissenschaftliche Forschung kann im Prinzip jederzeit alles umgestoßen werden. Der Wissenschaft fehlt aber nicht nur ein epistemisches Fundament, sie erweist sich auch als zutiefst soziales Unternehmen. Von Ludwik Flecks „Denkkollektiv“ über Hans-Georg Gadamers „Interpretationsgemeinschaft“, Karl-Otto Apels „Kommunikationsgemeinschaft“, Gernot Böhmes „Argumentationsgemeinschaft“, Jürgen Habermas’ „Verständigungsgemeinschaft“ bis zu Thomas Kuhns „Wissenschaftlergemeinschaft“ wurde mehrfach auf die soziale Basis der wissenschaftlichen Erkenntnis hingewiesen. Mit Dewey (1938/2002) lassen sich in wissenschaftlichen Aussagen „wohlbegründete Behauptungen“ sehen, deren Akzeptanz nicht aus der Konfrontation mit der Wirklichkeit folgt, sondern im Diskurs einer Forschergemeinschaft verhandelt wird. Entscheidend für die Qualität wissenschaftlicher Aussagen ist nicht eine wie auch immer geartete singuläre Evidenz, sondern der kritische Umgang mit den verschiedenen Evidenzen, die aktuell verfügbar sind, um eine Aussage zu stärken. Entscheidend ist mit anderen Worten, „how the evidence is used in the course of argumentation“ (Phillips 2006, S. 25; im Original ganze Stelle hervorgehoben). Darin sieht Phillips
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den Platin-Standard wissenschaftlicher Forschung, den er vom Gold-Standard des randomisierten Experiments abhebt. Das aber heißt, dass sowohl die Wissenschaft wie die experimentelle Forschung systematisch falsch verstanden werden, wenn Evidenz mit Fakten, Gewissheit und Beweisen gleichgesetzt wird. Das gilt umso mehr für Disziplinen, deren Forschung rigiden Standards nur schwer zu genügen vermag. Dazu gehört zweifellos die Erziehungswissenschaft. Gegen den hohen Anspruch, den randomisierte Experimente stellen, ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Dass die strengen Anforderungen an die Aufdeckung von Kausalbeziehungen in der Erziehungswissenschaft aber oft nicht eingelöst werden, liegt nicht an der methodischen Schwäche der Disziplin, sondern an ihrem Gegenstand. Mit Berliner (2002) sollten wir nicht zwischen harten (hard) und weichen (soft), sondern zwischen schwierigen (hard) und einfachen (easy) Disziplinen unterscheiden. „Easy-to-do science is what those in physics, chemistry, geology, and some other fields do. Hard-to-do science is what the social scientists do and, in particular, it is what we educational researchers do“ (ebd., S. 18). Berliner nennt drei Gründe, weshalb die pädagogische Forschung schwierig ist: Erstens die starken, unkontrollierbaren Einflüsse, die in der Forschungssituation von kontextuellen Faktoren ausgehen und die Generalisierung der Ergebnisse auf Gesetzesniveau verunmöglichen. Zweitens die Myriaden von Interaktionen n-ter Ordnung zwischen den Variablen einer Untersuchung, die den Forscher in ein wahres Spiegelkabinett versetzen können, in dem er sich nur mehr schwer zurechtzufinden vermag. Und drittens die kurze Halbwertszeit erziehungswissenschaftlichen Wissens, die durch die historische Relativität und den sozialen Charakter pädagogischer Phänomene bedingt ist. Die drei Merkmale des pädagogischen Gegenstandes machen die Erziehungswissenschaft zur „hardest science of all“ (ebd.). Auch wenn die Erziehungswissenschaft auf einen Gegenstand verwiesen ist, der sich nicht leicht erforschen lässt, heißt dies nicht, dass das Experiment dafür nicht geeignet ist. Berliner (2002) empfiehlt in keiner Weise, vom Anliegen der Kausalforschung Abstand zu nehmen. Problematisch ist nicht das Experiment, sondern dessen fundamentalistische Interpretation durch die evidenzbasierte Pädagogik. Zu erwarten, wir würden dank der politisch motivierten Stärkung der experimentellen pädagogischen Forschung bald in der Lage sein, das Bildungssystem effektiver und effizienter zu steuern, ist naiv. Es ist nicht nur aus wissenschaftstheoretischen und methodologischen Gründen naiv, sondern auch, weil sich die evidenzbasierte Pädagogik ein falsches Bild von der pädagogischen Praxis macht. Genauer gesagt, macht sie sich überhaupt kein Bild von der pädagogischen Praxis, weil sie davon ausgeht, Praxis würde über evidenzge-
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sicherte Interventionen allererst erzeugt. Dieses technokratische Verständnis von Praxis ist die direkte Folge des fundamentalistischen Verständnisses von Wissenschaft und erweist sich gleichermaßen als unhaltbar. Dies möchte ich am Beispiel des Lehrerberufs zeigen, wobei ich mich auf zwei miteinander verbundene Themen konzentriere: die Komplexität des Berufsfeldes von Lehrkräften und die Professionalität ihrer Berufsarbeit. 5. Komplexität als Merkmal pädagogischer Praxis Über die hohe Komplexität der Unterrichtssituation als Kernbereich des Berufsfeldes von Lehrkräften ist man sich mehrheitlich einig. Kaum jemand bestreitet, dass Lehrerinnen und Lehrer unter Bedingungen handeln, die schwer durchschaubar, nur bedingt planbar und nicht wirklich kontrollierbar sind. Komplexität ist zu unterscheiden von Kompliziertheit (vgl. Davis/Sumara 2006; Dörner 1993; Mitchell 2008). Das Experiment als wissenschaftliche Methode ist auf Kompliziertheit ausgerichtet, d. h. auf die Analyse von Systemen, die aus isolierbaren Elementen und deren Beziehungen bestehen. Solche Systeme lassen sich Schritt für Schritt untersuchen. Demgegenüber beruht Komplexität zwar auch auf Elementen und deren Beziehungen; diese sind aber nicht unabhängig voneinander, sondern auf spezifische und zumeist dynamische Art miteinander verbunden (vgl. Dörner 1993, S. 60ff.). Insofern unterscheidet sich Komplexität von Kompliziertheit dadurch, dass erstere organisiert ist (vgl. Weaver 1948). Sie hat nicht bloß eine Ordnung, wie auch statistische Phänomene eine Ordnung aufweisen, sondern stellt eine Organisation dar, die – wie im Falle von Lebewesen – vom System selber aufrechterhalten wird. Insofern die experimentelle Methode auf Kompliziertheit zugeschnitten ist, beruht der Erfolg der Naturwissenschaften darauf, dass ihr Gegenstand entweder kompliziert ist oder als kompliziert interpretiert wird. Tatsächlich meint der Physiker Hans-Peter Dürr (1995), der Weg der Naturwissenschaft beruhe auf der Reduktion von Komplexität, die annäherungsweise als Kompliziertheit behandelt werde. „Die Methode, die dabei angewendet wird, ist die der Analyse, der Zerlegung, der Fragmentierung“ (ebd., S. 106), d. h. des Experiments. Indem ein komplexer Gegenstand behandelt wird, als ob er kompliziert wäre, lassen sich die strengen Kriterien der experimentellen Forschung einlösen. In diesem Sinn kann auch die Erziehungswissenschaft experimentell forschen, wobei vermeintlich minderwertige Methoden wie Quasi-Experimente, Beobachtungsstudien, Korrelations- und Regressionsanalysen, Fallstudien oder Simulationen der Logik des Experiments keineswegs widersprechen. Insofern auch bei diesen
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Verfahren analytisch vorgegangen wird und die Bedingungen der Datenerhebung kontrolliert werden, genügen sie der Definition, die Kerlinger (1973) für die wissenschaftliche Forschung gibt: „Scientific research is systematic, controlled, empirical, and critical investigation of hypothetical propositions about the presumed relations among natural phenomena“ (ebd., S. 11; im Original hervorgehoben). Obwohl das Wort Experiment in dieser Definition nicht vorkommt, lehnt sich Kerlinger offensichtlich an den Kriterien der experimentellen Methode an. Das Experiment mag zwar den Gold-Standard empirischer Wissenschaft verkörpern, experimentelle Erkenntnis ist aber nicht nur im Rahmen von Experimenten im engeren Sinne möglich, „sondern in allen Fällen, wo man im Lichte genau gefasster Problemstellungen zur Beobachtung übergeht“ (Schnädelbach 2004, S. 119). Die Komplexität des pädagogischen Gegenstandes impliziert daher nicht, dass er der experimentellen Forschung unzugänglich ist. Doch wie weit die Kausalstruktur der Erziehungswirklichkeit auf diese Weise aufgedeckt werden kann, ist eine offene Frage. Indem das Bild, das die erziehungswissenschaftliche Forschung von der pädagogischen Wirklichkeit zeichnet, immer auf Approximationen und Simplifizierungen beruht, ist jedoch nicht zu erwarten, dass jemals definitiv und unfehlbar dargelegt werden kann, welche Ursachen mit welchen Wirkungen in welcher Beziehung stehen. Der von der evidenzbasierten Pädagogik erhobene Anspruch auf ein Wissen, das die Bedingungen exakt bezeichnet, unter denen pädagogische Zielzustände interventionistisch erreicht werden, wäre selbst dann nicht einlösbar, wenn die Erziehungswissenschaft ganz auf experimentelle Forschung umstellen würde. Für die pädagogischen Praktiker stellt sich damit das Problem, dass das erziehungswissenschaftliche Wissen, das ihnen zur Verfügung steht, immer von beschränktem Nutzen sein wird. Während der Forscher ein komplexes Phänomen behandeln kann, als ob es kompliziert wäre, steht dem Praktiker diese Option nur selten zur Verfügung. Er muss mit Bedingungen rechnen, die im Experiment per Design ausgeschlossen werden: Multikausalität, Interaktionen zwischen bedingenden Faktoren, nichtlineare Beziehungen, Feedbackschlaufen, dynamische Prozesse, die das Kausalgefüge laufend verändern etc.14 Da in komplexen Situationen wie dem Unterricht zwar nicht alles mit allem, aber vieles mit vielem in Verbindung steht, ist es nicht leicht, analytisch zu bestimmen, welches die relevanten Faktoren sind. Lehrkräfte sehen sich Ereignissen ausgesetzt, die nur schwer vorhersehbar sind, oft gehäuft auftreten, kaum Zeit für ein gründliches Nachdenken zulassen und schnel14 Des Weiteren beruht die Logik des Experiments auf der Maximierung der internen Validität, d. h. auf der umfassenden Kontrolle der Untersuchungsbedingungen, was unvermeidlich zur Folge hat, dass die externe Validität eines Experiments reduziert wird. Dies erschwert nicht nur die Generalisierbarkeit experimentell gewonnener Befunde, sondern auch deren Übertragbarkeit auf außerexperimentelle Situationen wie den Unterricht.
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les Reagieren erfordern (vgl. Herzog 1999, 2002, S. 419ff.). Komplexität heißt auch, dass keine Situation mit einer anderen genau übereinstimmt. In der pädagogischen Realität kann daher keinesfalls erwartet werden, wie Brezinka (1978, S. 132) unter Berufung auf den Gesetzesbegriff postuliert, dass unter gleichen Umständen Gleiches geschieht. Das aber heißt, dass das Wissen, das die erziehungswissenschaftliche Forschung der pädagogischen Praxis anbieten kann, nicht ausreicht, um das Handeln einer Lehrkraft zu determinieren, auch dann nicht, wenn es ausschließlich experimenteller Natur wäre. Die Vorstellung, pädagogische Berufsarbeit lasse sich mittels Evidenzen, die aus randomisierten Experimenten gewonnen werden, auf eine operative Basis stellen und der Notwendigkeit subjektiver Entscheidungen entziehen, ist abwegig.15 Und zwar nicht deshalb, weil das Wissensdefizit des Praktikers einer rückständigen Erziehungswissenschaft anzulasten wäre, sondern weil es auf einer konstitutiven Differenz zwischen Forschungs- und Handlungssituation beruht. Dies fällt allein deshalb nicht auf, weil die Evidenzbewegung keinen Bedarf nach einer Theorie der Praxis hat (vgl. Hammersley 2004, S. 136f.). Vor lauter Erwartungen auf mehr Effektivität und Effizienz täuscht man sich über die Frage hinweg, wie Bildungsprozesse überhaupt funktionieren (vgl. House/Lapan 1997, S. 593f., 604f.). Wie selbstverständlich wird ein technologisches Modell pädagogischer Praxis vorausgesetzt, das nur in einer Richtung denkt, nämlich von der Wissenschaft zur Praxis. Dass die Mittel der Wissenschaft auch dazu genutzt werden könnten, um sich erst einmal ein Bild von der pädagogischen Praxis zu machen, kommt der evidenzbasierten Pädagogik nicht in den Sinn. Sie übersieht damit, dass zwischen Forschung und Praxis eine Vielfalt von Beziehungen besteht, die keineswegs auf den Sonderfall der bloßen Anwendung von Wissen reduziert werden kann (vgl. Herzog 2002, S. 576ff., 2004, 2009, S. 183ff.).
15 Davies, Nutley und Smith (2000, S. 2) unterscheiden eine „judgement-based professional practice“ von einer „evidence-based practice“ und geben damit zu verstehen, dass auf Evidenz beruhendes Handeln ohne Beurteilung und Begründung durch den Handelnden auskommt. Dies bezeugt nochmals das technologische Verständnis von Praxis, das der Evidenzbewegung zugrunde liegt. Die Unterscheidung zwischen einer urteils- und einer evidenzbasierten Praxis deckt sich mit der Abgrenzung einer evidenzinformierten (evidence-informed) von einer evidenzbasierten (evidence-based) Praxis (vgl. Cordingley 2004, S. 79ff.). Während im einen Fall angenommen wird, die Evidenzen der wissenschaftlichen Forschung seien über die Vermittlung eines Urteilsprozesses an das praktische Handeln gebunden, wird im anderen Fall davon ausgegangen, Forschung und Praxis stünden in einer direkten, rein technologisch begründeten Beziehung.
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6. Entgrenzung von Disziplin und Profession Das Fehlen einer Theorie pädagogischer Praxis hat zur Folge, dass die evidenzbasierte Pädagogik auch über keinen Begriff pädagogischer Professionalität verfügt. Restauriert wird ein Verständnis von Erziehungswissenschaft, wie es von der „geisteswissenschaftlichen“ Pädagogik (wenn auch auf andere Weise) vertreten wurde. Danach ist die Pädagogik als Wissenschaft praktisch und legitimiert, das pädagogische Handeln autoritativ anzuleiten (vgl. Flitner 1976). Für eine Differenzierung nach Disziplin und Profession besteht kein Bedarf, da die Aufgaben der Profession von der Disziplin voll übernommen werden. Professionalität als qualifizierte Form von Berufsarbeit gründet in der Differenz von Forschung und Praxis, wie wir sie diskutiert haben (vgl. Abschnitt 5). Es gilt als charakteristisch für Professionelle, dass sie über eine Wissensbasis verfügen, die unzureichend ist, um ihre Arbeit rational zu verrichten. Was Professionelle auszeichnet, ist zwar „akademisches Wissen eines relativ esoterischen Typs, das zudem oft wissenschaftlichen Status hat“ (Stichweh 1994, S. 296). Doch erweist es sich in entscheidender Hinsicht als insuffizient, da es „der Tendenz nach […] eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen (gibt), […] die es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen“ (ebd.). Dass sich Professionelle bei ihrem Handeln ausschließlich auf wissenschaftliches Wissen stützen könnten, gilt als utopisch. Professionen haben sich im Prozess des Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung herausgebildet, und zwar in Funktionssystemen, die der Behandlung von Personen zugewandt sind: im Religions-, Rechts-, Gesundheits- und Bildungssystem (vgl. Kurtz 2005, S. 144ff.). Unterricht ist zwar nicht Arbeit an individuellen Personen, doch handelt es sich auch bei der Lehrtätigkeit um eine Form von people processing, weshalb der Lehrerberuf sehr wohl den Professionen zugerechnet werden kann. Im Falle von Religion, Recht, Gesundheit und Bildung haben wir es mit sozialen Systemen zu tun, deren Kommunikation – im Unterschied zu Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft – über Codes läuft, die nicht technisierbar sind. Die positive Seite des Codes (Sinn vs. Sinnlosigkeit, Recht vs. Unrecht, Gesundheit vs. Krankheit, Bildung vs. Unbildung) muss über die Kommunikation unter Anwesenden erreicht werden (vgl. Kurtz 2005, S. 150ff.), womit die Chancen auf kommunikativen Erfolg, d. h. Verstehen und Akzeptanz der mitgeteilten Information, reduziert sind. Das ist im Bildungssystem besonders offensichtlich. Durch Kommunikation können Bildungsprozesse zwar initiiert, aber nicht determiniert werden. Kein Lehrer kann einem Schüler das Lernen abnehmen. „Teaching is a transaction between the
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teacher and the learner, not the delivery of something to the learner“ (Pring 2004, S. 210). Bildung ist kein Produktionsprozess, der von außen gesteuert werden könnte, sondern ein Veränderungsprozess, der in Systemen stattfindet, die sich selber organisieren und aus eigener Kraft neu formieren (vgl. Herzog 2002, S. 202ff., S. 277ff.). Ohne Bereitschaft der Lernenden, dem Appell der Lehrkraft zu folgen, bleibt der Unterricht wirkungslos. An dieser Stelle erweist sich die Abkunft der evidenzbasierten Pädagogik von der evidenzbasierten Medizin als Pferdefuss. Das medizinische Modell der Verabreichung eines Arzneimittels zum Zweck der Behandlung eines Patienten ist schlicht falsch, wenn es auf pädagogische Verhältnisse übertragen wird. Anders als Medikamente, die auf einer biochemischen Basis wirken, muss pädagogischer Erfolg kommunikativ erzeugt werden und kann daher nicht „automatisch“ eintreten (vgl. Pawson 2006, S. 51ff.). Wo der Behandlung im medizinischen Fall als solcher Wirksamkeit zugeschrieben werden kann, weil sich die Einnahme des Medikaments als trivial erweist, da nimmt sich die Situation im pädagogischen Fall ganz anders aus. Hier entpuppt sich das Treatment als das eigentliche Problem, weil es nicht im gleichen Sinne wirken kann wie ein Medikament. Eine pädagogische Intervention ist nur erfolgreich, wenn sie vom Adressaten aktiv angenommen wird, was in keiner Weise trivial ist. Für die Beurteilung der Professionalität des Lehrerhandelns heißt dies, dass zwischen gutem und effektivem Unterricht zu unterscheiden ist (vgl. Fenstermacher/Richardson 2005). Dies nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus ethischen Gründen. Denn es kann nicht egal sein, wie einem Schüler etwas beigebracht wird. „Not only must the content be appropriate, proper, and aimed at some worthy purpose, the methods employed have to be morally defensible and grounded in shared conceptions of reasonableness“ (ebd., S. 189). Es gibt daher Standards für guten Unterricht, die unabhängig davon sind, ob der Unterricht erfolgreich ist oder nicht, und Standards für erfolgreichen Unterricht. Da zwischen Lehren und Lernen weder logisch noch kausal eine direkte Beziehung besteht, ist eine reine Beurteilung des Outputs von Unterricht inakzeptabel. Das Technologiedefizit der Erziehung, das damit angesprochen wird (vgl. Luhmann/Schorr 1979/1988), ist für das Erziehungssystem und den Lehrerberuf keineswegs spezifisch, sondern betrifft jede Profession, die Arbeit an Menschen verrichtet, die zur Mitarbeit aufgerufen sind, wenn die Interventionen des Professionellen Erfolg haben sollen. Anders als Geld, Macht oder Wahrheit, die sich technisch nut-
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zen lassen,16 ist die Kommunikation in Systemen der Humanbehandlung (people processing) nicht technisierbar. Zudem wäre es verfehlt, in pädagogischen Situationen Erfolgsmedien wie Geld oder Macht einzusetzen, um die Wirksamkeit der Kommunikation zu erhöhen, d. h. pädagogischen Erfolg zu erzwingen. Praktiker stehen zudem oft vor dem Problem, dass unklar ist, welche Situation überhaupt vorliegt. Was sie daher brauchen, ist nicht in erster Linie technisches, sondern diagnostisches Wissen. Hier ist die Lage der Lehrkräfte mit derjenigen von Ärzten vergleichbar, wie Eraut (2004) in Bezug auf den Standard des randomisierten Experiments darlegt: „We must note […] that this ‚gold standard‘ research applies almost exclusively to treatment […]. It assumes the diagnosis is correct and will normally not apply to patients with multiple conditions […]. Diagnostic decisions usually rely on a wide range of practice-based evidence; and the diagnostic process is best described in terms of a doctor recognizing the pattern created by piecing together several disparate types of information […] – all of which need interpretation by doctors and often by other health professionals as well“ (Eraut 2004, S. 96; Hervorhebungen W. H.). Diese auf den praktischen Arzt bezogene Schilderung trifft genauso auf den Lehrer zu, der es zudem nicht nur mit einzelnen Individuen, deren Verfassung er ergründen muss, zu tun hat, sondern mit ganzen Schulklassen, deren soziale Dynamik zusätzliche Ansprüche an seine diagnostische Kompetenz stellt. Das heißt nicht, dass die wissenschaftliche Forschung bei der Aufgabe der Diagnose nicht helfen kann, doch die dezidierte Ausrichtung der evidenzbasierten Pädagogik an Interventionen, Maßnahmen und Programmen zeigt, dass ein zentraler Bereich der Lehrertätigkeit ausgeblendet bleibt. Angestrebt wird die Automatisierung des Lehrerhandelns, basierend auf unumstößlichen Evidenzen über die Wirksamkeit von Methoden und Verfahren, womit die interpretativen Leistungen der Lehrkräfte, ihre praktischen Erfahrungen, ihr Urteilsvermögen und Improvisationstalent im Dunkeln bleiben. Im Dunkeln bleiben die Kompetenzen, die den Lehrerberuf als Profession auszeichnen. 7. Fazit Für die evidenzbasierte Pädagogik ergibt sich ein fragwürdiges Fazit. Ihre geringe Sensibilität gegenüber der Praxis professionellen Handelns bestätigt den Verdacht, dass die politischen Interessen, die der Evidenzbewegung zugrunde liegen, stärker 16 Luhmann (1997) spricht in diesem Fall von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die er, weil sie die Schwelle der Nichtakzeptanz von Kommunikation erniedrigen, auch Erfolgsmedien nennt (vgl. ebd., S. 204f., S. 316ff.).
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sind als ihr wissenschaftliches Credo. Der Code der Politik ist die Macht, und um diese geht es, wenn nach Evidenzen verlangt wird. Evidenzen werden benötigt, um gegenüber der pädagogischen Praxis mit Autorität auftreten und die politischen Ziele mit Nachdruck durchsetzen zu können. Eine ökonomisch motivierte Bildungspolitik erzeugt eine Kultur der Performativität (what works), die nicht nur die Evidenzbewegung, sondern auch die Standardbewegung kennzeichnet (vgl. Gleeson/Husbands 2003; Radtke 2003). Liegt der Fokus der ersteren auf den Methoden, die bessere Ergebnisse erzielen lassen, legt letztere den Akzent auf die schärfere Beobachtung und Kontrolle der erzielten Ergebnisse. Kaschiert wird in beiden Fällen der technokratische Ansatz, der die politische Einflussnahme auf das Bildungswesen leitet (vgl. Herzog 2007, 2008, 2010). Marston und Watts (2003) sprechen zurecht von der Gefahr, „that ‚evidencebased policy‘ will become a means for policy elites to increase their strategic control over what constitutes knowledge about social problems in a way that devalues tacit forms of knowledge, practice based wisdom, professional judgment, and the voices of ordinary citizens“ (ebd., S. 158). Das Demokratiedefizit, das die Evidenzbewegung charakterisiert und das sie gleichermaßen mit der Standardbewegung teilt, spiegelt sich in der Indifferenz der evidenzbasierten Pädagogik gegenüber den Eigenheiten der pädagogischen Praxis und den Leistungen pädagogischer Professionalität. Zum Machtprogramm der evidenzbasierten Pädagogik gehört daher nicht nur die Wiederbelebung eines technologischen Verständnisses von Schule und Unterricht, sondern auch die Degradierung der Lehrkräfte zu ausführenden Organen der Bildungspolitik. Professionelle sind auf Vertrauen angewiesen, um ihrer Berufsarbeit kompetent nachgehen zu können (vgl. Schimank 2005, S. 151ff.). Das Vertrauen muss nicht blind sein, darf aber nicht durch eine verfehlte äußere Kontrolle untergraben werden. Genau dies scheint die evidenzbasierte Pädagogik jedoch anzustreben. Durch die Verklammerung von Politik, Forschung und Praxis entzieht sie den Lehrkräften das Vertrauen, auf das sie für die professionelle Ausübung ihres Berufes angewiesen wären. Indem sie Profession durch Administration ersetzt, unterminiert die evidenzbasierte Pädagogik die professionelle Basis des Lehrerberufs und trägt zu dessen Deprofessionalisierung bei.
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Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln Hartmut Meyer-Wolters
Pädagogisches Handeln – evidenzbasiertes Handeln: Ein unüberbrückbarer Gegensatz? Wenn ich im Folgenden von pädagogischem Handeln spreche, so ist dies dem eingeführten Sprachgebrauch geschuldet, aber in gewisser Weise irreführend. Ich gehe im Ausgang von den Finkschen Konzepten der Beratungs- und Fragegemeinschaft (vgl. Fink 1970; vgl. dazu auch Meyer-Wolters 1992, S. 159ff., S. 223ff. sowie Meyer-Wolters 1997) bezogen auf die gegenwärtige Situation durchgängig davon aus, dass pädagogisches Handeln im Kern ein Aushandeln von Bedeutungen ist. Es ist damit weder ein ingenieurmäßiges oder handwerkliches Hervorbringen von Produkten durch kunstgerechtes oder wissenschaftlich abgesichertes Einwirkung auf ein Rohmaterial noch ein wissenschaftlich armiertes Problemlösen noch die kommunikative Hervorbringung von gemeinsam geteilter Bedeutung durch symmetrische Kommunikation. Die Situation des pädagogischen Handelns scheint mir vielmehr dadurch gekennzeichnet zu sein, dass die am pädagogischen Handeln Beteiligten sich in einer Situation des „Widerstreits“ befinden, in der „es keine argumentative Lösung geben kann und die Beteiligten in ihren (heterogenen) Interpretationswelten verbleiben, weil diese ihnen zu wichtig sind, als daß sie durch Gegenargumente aufgegeben würden. Aber auch in diesen Fällen geht es schließlich darum, daß sich die Beteiligten in ihrem Zusammenleben arrangieren; diese Arrangements beruhen aber nicht auf Argumentationskonsensen, sondern höchstens auf Ergebniskonsensen“ (Reichenbach 2000, S. 804). Meine vorläufige Chiffre für das Hervorbringen von gemeinsam geteilter Bedeutung ist deshalb ‚mutual dealings‘. Gemeint ist damit ein Aushandlungsprozess zwischen mehr oder weniger ungleichen ‚Geschäftspartnern‘ mit unterschiedlichen und wechselseitig in vielen Bereichen undurchschaubaren Interessen und Machtmitteln. Beim Verhandeln werden in symmetrischer und asymmetrischer ‚Kriegsführung‘ wechselseitig viele und auch unfaire Mittel getestet und eingesetzt. Am Ende stehen irgendwie gemeinsam geteilte Bedeutungen, die
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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auch im pädagogischen Feld das Ergebnis aller möglichen Verhandlungsstrategien jenseits von fairen Verhandlungen sein können.1 „Der Ausdruck pädagogisches Handeln hat sich weithin eingebürgert, um jedwede Form erzieherischer Tätigkeiten zu bezeichnen. Er hat die Stelle eingenommen, die in der Tradition von dem Ausdruck ‚Erziehung‘ besetzt war. [...] Also was meinen wir, wenn wir von pädagogischen Handlungen sprechen? Die Antwort scheint nicht schwer zu finden zu sein. Es gibt eine unabsehbare Zahl von Handlungen, Verhaltensweisen und Arrangements, die wir ohne zu zögern als pädagogisch bezeichnen können. [...] Pestalozzi hat für diesen Umgang der Eltern mit ihrem Kind von ‚Allbesorgung‘ gesprochen. [...] In seiner ‚Erziehungslehre‘, die Jean Paul zuerst im Jahre 1807 unter dem Titel ‚Levana‘ herausgebracht hat, sagt er in der Vorrede: ‚Über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben, da sie die Entwicklungen einer ganzen, obwohl verkleinerten Welt im kleinen (eines Mikrokosmus des Mikrokosmus) zu besorgen und zu bewachen hat.‘“ (Prange/StrobelEisele 2006, S. 12f.) „Im landläufigen Verständnis vieler Patienten verheißt der Begriff Evidenz ‚den allwissenden Arzt auf dem Weltniveau der medizinischen Forschung und Erkenntnis‘ [...]. Das Ansinnen der Evidenzbasierten Medizin, die beste verfügbare Erkenntnislage in der individuellen Situation des Patienten anwendbar zu machen, hat bei Patienten Erwartungen auf viele Qualitätsverbesserungen in der Krankenversorgung ausgelöst.“ (Sänger/Quadder/Brunsmann 2007, S. 51) Und, so könnte man hinzufügen, vom evidenzbasierten pädagogischen Handeln wird Ähnliches erwartet, nämlich die Anwendung der besten verfügbaren Erkenntnislage in individuellen Erziehungs- und Bildungssituationen. Vergleicht man beide Aussagen, so lässt sich unschwer vorhersagen, dass es nicht ganz einfach sein wird, evidenzbasiertes pädagogisches Handeln zu etablieren. „Alles auf einmal“ klingt nicht nach einem Handlungskonzept, das sich an erfahrungswissenschaftlicher Forschung orientiert. Diese stellt eher Hypothesen auf über den Zusammenhang von wenigen Faktoren, die nicht nur zeitlich assoziiert auftreten, sondern in einem Kausalzusammenhang stehen oder wenigstens mit statistisch quantifizierbarer Wahrscheinlichkeit miteinander verbunden sind. Auf den ersten Blick scheint es offensichtlich zu sein, dass pädagogisches Handeln kein evidenzba1 Menschen und Menschengruppen (Erzieher und Zöglinge und Eltern und Miterzieher und Vorordnungen etc.), die ihren Anteil an bzw. ihre Sicht der gemeinsamen Lebenswelt miteinander aushandeln, können ihren Anteil in solchen Verhandlungen sichern durch Säuberung, Segregation, Integration und schließlich auch durch Inklusion. Es gab historisch und gibt weiterhin all diese Möglichkeiten auch im pädagogischen Feld. Dass Pädagogen überwiegend die Inklusion und vielleicht noch die Integration im Blick haben, ist nachvollziehbar. Es sollte aber nicht blind für die anderen Möglichkeiten machen, die zudem z. T. sehr viel leichter auf Evidenz basiert werden können.
Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln
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siertes Handeln ist und dass es nicht ganz einfach sein wird, die beiden Konzepte des „alles auf einmal“ und der empirischen Überprüfung von Hypothesen zusammenzubringen. Trotzdem möchte ich zeigen, dass beide Konzepte mehr miteinander gemein haben, als es auf den ersten, polemisch verstellten Blick scheinen will. Dazu werde ich die in Rede stehenden Phänomene des pädagogischen Handelns und der Evidenzorientierung in sieben Perspektiven in den Blick nehmen. In diesen Perspektiven skizziere ich: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 1.
das Phänomen des pädagogischen Handelns in der Tradition des pädagogischen Denkens; die immanente Evidenzorientierung des pädagogischen Handelns; die Provokation des erziehungswissenschaftlichen Diskurses durch das Konzept des evidenzbasierten pädagogischen Handelns; die elaborierter geführte Diskussion in der Medizin; die Auswirkungen des Konzepts der evidenzbasierten Medizin auf das ärztliche Handeln; die defizitäre Diskussion des evidenzbasierten Handeln in der Erziehungswissenschaft sowie die Chancen und Risiken der defizitären erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Das Phänomen des pädagogischen Handelns in der Tradition des deutschen pädagogischen Denkens
Folgt man Klaus Prange und Jean Paul, so gibt es kein Phänomen aus dem weiten Feld menschlichen Lebens und Zusammenlebens, das nicht unmittelbar als pädagogisches Handeln oder zumindest mittelbar als bedeutsam für pädagogisches Handeln angesprochen werden kann. In dieser Optik ist das ganze Leben Erziehung und Bildung oder für Erziehung und Bildung bedeutsam. Erschwerend kommt hinzu, dass Erziehung und Bildung keine eindeutig festliegenden Gegenstände sind, auf die sich die erziehungswissenschaftliche Forschung und/oder das pädagogische Handeln umstandslos richten könnten. Die Gegenstände befinden sich vielmehr als Vergegenständlichungen von menschlichen Vorstellungen, Gedanken- und Ideengebäuden in einem ständigen Auslegungsprozess. In ihrer je konkreten Gestalt werden sie fortlaufend historisch-kulturell rekonstruiert, dekonstruiert und neu konstruiert. Es gibt deshalb auch nicht die Auffassung von Bildung und Erziehung, auf die sich Forschung und/oder Handeln beziehen könnten, sondern immer mehrere Auffassungen, die miteinander konkurrieren und/oder
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koexistieren und/oder interagieren. Hier soll nur an einige wenige Konzepte erinnert werden. Im alltäglichen Verständnis meint man mit pädagogischem Handeln eine mehr oder weniger durchdachte und geplante Abfolge von Maßnahmen, die allein durch ihre Intention, das Verhalten von Kindern und Jugendlichen hin auf irgendwelche, aber jeweils bestimmte Leitvorstellungen zu verändern, zu Erziehungsmaßnahmen werden. Fehlt diese Intention, so werden die Maßnahmen nicht mehr als Erziehungsmaßnahmen identifiziert. Verdeutlichen kann man sich diesen Sachverhalt sehr leicht durch den Blick in ein Synonym-Wörterbuch. Dort findet man als Synonyme von erziehen z. B. belehren, unterrichten, bilden, formen, prägen, unterweisen, auf etwas hinweisen, anweisen, zurechtweisen, mahnen, tadeln, strafen, belohnen, beaufsichtigen, drohen, ermuntern, ermutigen, üben, einüben, einprägen, zeigen, vormachen, anleiten, behüten, entgegenwirken, unterstützen, loben, schimpfen und spielen. Zu pädagogischem Handeln werden diese alltäglichen Tätigkeiten erst durch die Intention der Veränderung des Wissens, Könnens, der Einstellung und/oder des Verhaltens von Kindern oder Jugendlichen bis dahin, dass sie der Intention, die dem pädagogischen Handeln zugrunde lag, ähnlich werden. In der Tradition des pädagogischen Denkens lässt sich von Erziehung in diesem Sinne das Phänomen der Bildung abheben. Bildung wird zum einen verstanden als intentionale Vermittlung von allgemein bedeutsamen Kenntnissen und Fertigkeiten. Als solche wird sie auch transitive Bildung genannt und dem Unterricht zugerechnet. Zum anderen kennt die Tradition des pädagogischen Denkens ein Verständnis von Bildung, das dem Erwerb von Urteilsfähigkeit in Auseinandersetzung mit etwas Fremden dienen soll und als reflexive Bildung näher bestimmt wird. In einer weiteren Traditionslinie kann man zwischen Bürgerbildung und Menschenbildung unterscheiden, wobei Bürgerbildung die Ausbildung von Kräften oder Fähigkeiten meint, die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zwar im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens insgesamt aufeinander bezogen, aber individuell unterschiedlich zugänglich sein können und in unterschiedlicher Wiese ausgebildet werden müssen, während Menschenbildung die vollständige und proportionierliche Ausbildung aller Kräfte und Fähigkeiten jedes Individuums meint, und zwar unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und Notwendigkeiten. Von Erziehung und Bildung wird regelmäßig noch die Ausbildung unterschieden. Unter Ausbildung wird dann eine transitive Bildung verstanden, die besonders auf berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten konzentriert ist. Die transitive Bildung im Sinne allgemeiner Kenntnisse und Fertigkeiten wird dann häufig als allgemeine, d. h. nicht-berufliche Bildung näher gekennzeichnet und meint die Vermittlung nicht unmittelbar berufsorientierter Kenntnisse und Fertigkeiten.
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Schließlich spricht man noch von Erziehung im Sinne eines Umgangs, da insbesondere die Familie als Hauptort der Erziehung keine Erziehungseinrichtung ist, sondern ein Ort des Zusammenlebens und der Auseinandersetzung. Dies führt dazu, dass in vielfacher Weise auf das Aufwachsen Einfluss genommen wird, ohne dass eine erzieherische Intention damit verbunden ist. D. h. Intentionen, die ganz anderen Lebensnotwendigkeiten entsprechen, wirken auf Kinder und Jugendliche wie Erziehung ein. Dies ist zunächst Erziehung im erweiterten Sinne, dann auch funktionale Erziehung genannt worden. In sozialwissenschaftlicher Diktion meint Sozialisation etwa dieses Phänomen. Es gibt damit auch eine Auffassung von Erziehung, in der Handlungen, die gar nicht erzieherisch gemeint sind, erziehend wirken. Diese Erziehung, die mitlaufend in jedem Umgang und durch jede menschlich gestaltete Umgebung, in der man aufwächst, geschieht, kann nun aber auch wieder intentional genutzt werden, indem etwa bei Herbart der Umgang in erzieherischer Absicht modifiziert wird oder bei Rousseau und Dewey eine Umgebung besonderer Art bereitgestellt wird. Weitere Differenzierungen wären möglich: Etwa Aufwachsen als endogene Entwicklung, Aufwachsen als endogene Entwicklung, die exogen beeinflusst werden kann, Aufwachsen als vollständig exogen beeinflussbare Entwicklung sowie Sozialisation, Personalisation, Lernen u. a. Alle konzeptionellen Perspektivierungen sind historisch hoch aufgeladen, so dass man gar nicht so einfach Übereinstimmung darüber erzielt, welche Phänomene die gemeinsam verwendeten Begriffe eigentlich erfassen. Von einer Klassifizierung im Sinne der Klassifikationssysteme der Medizin2 ist die Erziehungswissenschaft offensichtlich noch weit entfernt. Fragt man nach dieser knappen Musterung verschiedener Auffassungen von Erziehung und Bildung nach dem gemeinsamen Problem, das ihnen zugrunde liegt, so zeigt sich ohne Gewaltsamkeit, dass immer ein Prozess des Übergangs gemeint ist von einem Zustand, der mehr oder weniger weit von der normalen Erwachsenheit entfernt ist, zur normalen Erwachsenheit oder – auch das wieder eine Interpretationsmöglichkeit – von einem natürlichen, rohen Zustand des Menschen zu einem künstlichen, kultivierten Zustand. Das Problem dabei ist offenbar immer, dass erstens die so oder so angestrebte Veränderung im Innern des Menschen geschehen oder zumindest verankert werden muss und dass zweitens die Veränderung nicht automatisch als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung erfolgt, sondern zumindest des Anstoßes, oft aber auch eines andauernden pädagogischen Handelns bedarf. 2 Siehe die International Classification of Diseases (ICD) (vgl. WHO 2011) oder das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM).
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Diese gemeinsame Grundannahme verweist auf anthropologische Gegebenheiten, die pädagogisches Handeln auch dann notwendig machen, wenn dessen Zweck-Mittel-Zusammenhänge nicht oder nur unzureichend bekannt sind. Zum einen sind Menschen leibliche und damit bedürftige Wesen, die sich nur im permanenten Austausch mit der Umwelt am Leben erhalten. In pädagogischer Optik führen Bedürftigkeit und Unbehilflichkeit mit Pestalozzi gesprochen zum Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten, die die Unbehilflichkeit beheben und die Bedürfnisse befriedigen – oder zum Tod. Der Erwerb dieser Kenntnisse und Fertigkeiten führt zum Besitz von materiellen und immateriellen Gütern, die in gewisser Weise Kenntnisse und Fertigkeiten auf Vorrat sind. Der Besitz mildert die Unbehilflichkeit und dient der Befriedigung von Bedürfnissen, ohne die Bedürftigkeit allerdings endgültig in Bedürfnislosigkeit verwandeln zu können zu können. In der Sicht der Evolutionsbiologie müsste man heute hinzufügen, dass auch durch Mutation und Selektion Kenntnisse und Fertigkeiten erworben werden. Zum zweiten sind Menschen wie alle höheren Lebewesen als Einzelwesen sterblich. Ihre begrenzte Unsterblichkeit ist generativer Art. Damit stellt sich das Problem der Erhaltung des erworbenen Besitzes im Wechsel der Generationen durch Vererbung. Die Lösung des Problems ist die genetische Vererbung bezüglich der natürlichen Anlagen, das Erbrecht bezüglich der Vererbung von materiellen Gütern sowie Erziehung und Bildung bezüglich der Vererbung von immateriellen Gütern. Zum dritten sind die natürlichen Anlagen des Menschen so unspezifisch, dass er viele verschiedene Gestalten und Lebensweisen annehmen kann. Der Mensch ist bereits mit Herder gesprochen nicht eindeutig auf eine oder einige Sphären festgelegt. Die fehlende Spezialisierung geht so weit, dass sie sich als natürliche Verhaltensunsicherheit in allen Bereichen des Lebens äußert. Diese muss durch künstliche Verhaltensvorschriften kompensiert werden. M. a. W. die plastischen Anlagen verlangen nach Gestaltung, ohne dass dieser Gestaltung eine bestimmte Gestalt vorgegeben ist. Der Mensch kann und muss sich in der Sicht der Tradition des pädagogischen Denkens deshalb Zwecke setzen, ohne dass vorgegeben ist, welche Zwecke er sich setzen soll. Trotzdem es weder verbindliche Erziehungs- und Bildungsziele gibt und trotzdem die Gangstruktur der Vererbung immaterieller Güter nicht endgültig aufgeklärt ist,3 gelingt es immer irgendwie Menschen erwachsen werden zu lassen. In traditio3 Bei Dewey wird das Problem in folgender Bemerkung deutlich: „Gegenstände kann man im Raum transportieren, kann sie körperlich bewegen. Glaubensüberzeugungen und Sehnsüchte können nicht als Dinge hier herausgezogen und anderswo eingesetzt werden. Wie aber können sie übertragen werden? Da es unmöglich ist, sie durch Ansteckung zu verbreiten oder im wörtlichen Sinne einzuimpfen, besteht unsere Aufgabe zunächst darin, die Methoden zu entdecken, mit deren Hilfe den Jungen die Gesichtspunkte der Eltern übereignet werden, mit denen die Alten die Jungen sich selbst geistig ähn-
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neller Sprachregelung fasst man dies Phänomen in die Aussage, dass eine irgendwie gelingende pädagogische Praxis der sie verstehenden, erklärenden, leitenden oder skeptisch analysierenden pädagogischen Theorie und/oder Erziehungswissenschaft immer schon vorausgeht. Bislang haben wir Erziehung und Bildung damit soweit bestimmt, dass es sich dabei irgendwie um eine Formierung im Innern des Menschen handelt, die ebenso unbestimmt irgendwie das Ergebnis von (funktionaler und/oder intentionaler) Erziehung ist und dass diese innere Formierung des plastischen Menschen zu einem bestimmten Menschen aufgrund von Gegebenheiten in der Natur des Menschen unumgänglich ist. Erziehung und Bildung werden zudem als Prozesse verstanden, in denen verschiedene Aufgaben nacheinander oder parallel hervortreten und bewältigt werden müssen. Erziehung wird z. B. schon von Kant in der Vorlesung über Pädagogik beschrieben als Prozess, der in einer bestimmten zeitlichen Abfolge die Maßnahmen der Wartung, der Disziplinierung, der Kultivierung und der Zivilisierung umfasst.4 Nicht ganz so variantenreich wie die Versuche, das Phänomen des pädagogischen Handelns begrifflich zu fassen, sind die Versuche, die Profession der pädagogisch Handelnden in Abgrenzung zu anderen Professionen näher zu bestimmen. Von alters her ist das pädagogische Handeln verglichen worden mit den ein „Rohmaterial“ mehr oder weniger gewaltsam schöpferisch umformenden Tätigkeiten des Bildhauers, Töpfers, Schmiedes, Gärtners, Bauern oder Hirten. Für die moderne Gesellschaft geht Hans-Hermann Groothoff 1972 diesbezüglich immer noch davon aus, dass selbst die pädagogische Zentralprofession des Lehrers als Profession umstritten ist: „Hierzu soll von der These ausgegangen werden, daß die Professionalisierung des Lehrerberufs als einer der konstitutiven Massenberufe der modernen ‚entwickelten‘ Gesellschaften im Gegensatz zur Professionalisierung anderer vergleichbarer lich machen“ (Dewey 1916/1964, S. 27). Einige Seiten vorher heißt es: „Dasjenige, was sie gemeinsam besitzen müssen, um eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft zu bilden, sind Ziele, Glaubensüberzeugungen, Wünsche, Kenntnisse, gegenseitiges Verstehen, geistige Ähnlichkeit, wie die Soziologen sagen. Diese Dinge können nicht auf physischem Wege von einem zum anderen weitergegeben werden wie Ziegelsteine; man kann sie nicht miteinander teilen wie einen Kuchen, indem man sie in Stücke schneidet. Die Kommunikation, die Anteil an einer gemeinsamen Auffassung sichert, besteht darin, dass ähnliche Dispositionen des Intellekts und des Gefühls, verwandte Formen des Reagierens auf Erwartungen und Anforderungen geschaffen werden“ (ebd., S. 19). 4 Erziehung und Bildung führen auf diesem Wege von der Freiheit des Menschen in ihrer Naturform (Wildheit, Willkür, willkürliches Kräftespiel) zur Freiheit des Menschen in ihrer Kulturform (Kultiviertheit, Beachtung institutionalisierter Regeln). Die Moralisierung als auf allen Stufen zu berücksichtigende Aufgabe der Erziehung, die diese Stufen insgesamt überbietet und bei Kant zur Idealform der Freiheit hinführt, lasse ich hier unberücksichtigt, weil sie für Gesellschaften und Kulturen zwar eine Zielvorstellung sein kann, aber schon bei Kant nicht als Notwendigkeit für den Bestand von Gesellschaften gesehen wird (Kant 1803/1983; vgl. auch Meyer-Wolters 1997, S. 220-223).
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Berufe wie z. B. des Arztes oder auch des Verwaltungsfachmanns oder des Ingenieurs nicht eigentlich gelungen ist, und zwar ebenso wenig unter der Kategorie des ‚Lehramtes‘, obwohl die neue Schulgesetzgebung diesen Begriff wieder ins Spiel gebracht hat, wie unter der des ‚Spezialisten‘ für Erziehung und Unterricht, obwohl eben dies durch die neuere, an der industriellen Gesellschaft orientierte Berufssoziologie versucht worden ist. Im übrigen weist bereits diese Unsicherheit auf ein Problem hin, das mehr und mehr von allen Autoren als das zentrale Problem herausgestellt wird, ob nämlich dem Lehrerberuf eine Sonderstellung gegenüber den für die industrialisierte Gesellschaft konstitutiven Berufen zukommt oder nicht. Soll er primär ein Spezialist (Sozialingenieur) für Information und als solcher wiederum auf bestimmte Materialien und bestimmte Adressaten spezialisiert sein, oder soll er primär ein Amt ausüben und – ungeachtet der Tatsache, daß er es keineswegs nur mit in Not geratenen Menschen zu tun hat – neben den Seelsorger, den Anwalt und den Arzt treten? Konstitutiv für das erste Modell ist die Technik, konstitutiv für das zweite Modell ist dagegen, wenn auch keineswegs allein, so doch in erster Linie, die Ethik. Beide Modelle passen und passen auch wieder nicht“ (Groothoff 1972, S. 15f.). Deutlich wird hier bereits, dass die genannten Bezugsprofessionen des Bildhauers, Töpfers, Schmiedes, Gärtners, Bauern oder Hirten herstellende und/oder handelnde Professionen sind und dass die von Groothoff genannten Professionen des Seelsorgers, Anwalts, Arztes, Verwaltungsfachmanns und Ingenieurs zudem ihnen spezifisch zugehörige Handlungswissenschaften ausgebildet haben. Deutlich wird auch, dass im gegenwärtigen Diskurs anders über die Professionalisierung des pädagogischen Handelns gesprochen wird. Forderungen nach Professionalisierung der Berufstätigkeit zielen heute überwiegend auf ein pädagogisches Handeln, das Kenntnisse und Fertigkeiten sowie Einstellungen und Verhaltensweisen in einer erfolgsorientierten und erfolgskontrollierten Weise entweder durch Interventionen direkt modifiziert oder im Kontext von konstruktivistischen Konzepten, über die intentional kalkulierte Gestaltung von lern- und verhaltensanregenden Umgebungen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass immer wieder darauf aufmerksam gemacht wird, dass das Zentrum des pädagogischen Handelns zwar die unmittelbare Kommunikation zwischen Individuen ist, dass darüber aber nicht vergessen werden darf, dass pädagogisches Handeln in pädagogisch mehr oder weniger förderlichen Umgebungen stattfindet, die als Vorordnungen insgesamt über Ziele, Mittel und Intentionen des pädagogischen Handelns zumindest mitbestimmen und außerdem der Beratung durch erziehungswissenschaftliche Expertise zugänglich sind.
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„Wie bereits bemerkt, muß die Erziehungswissenschaft immer auch in Analogie zu Staat und Staatwissenschaft und Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft gesehen und entwickelt werden. In diesem Zusammenhang hat man gelegentlich zwischen Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft zu differenzieren versucht, wobei dem Bildungswesen als Organisation von Lehren und Lernen die Bildungsforschung zugeordnet werden sollte, während der unmittelbare erzieherische Umgang von Lehrer und Schüler Gegenstand der Erziehungswissenschaft sein sollte. [...] Im Blick auf das Bildungswesen – aber nicht nur in Hinblick auf dieses – geht es einmal um eine mehr oder weniger differenzierte Vorordnung der Prozesse, auf die man zielt, zum anderen um diese Prozesse selbst. Gesetze, Richtlinien, Curricula sowie Schule, Klasse, Gruppe strukturieren den Unterricht und damit die Lernprozesse; diese selbst aber sind ebensowohl kommunikative als auch individuelle Prozesse, in denen eigene Probleme enthalten sind. Zwar können auch diese Prozesse auf Modelle und damit auf Regeln gebracht werden, doch bleiben sie in hohem Maße Sache der beteiligten Personen und damit des gegenseitigen Verstehens oder auch Mißverstehens und damit einer immer auch offenen Auseinandersetzung.“ (Groothoff 1975, S. 36f.) Blickt man zusammenfassend auf das Feld, das in der Pädagogik traditionell erzieherisch oder erzieherisch bedeutsam genannt wird, so lassen sich in der deutschen Theorietradition bei allen Differenzen einige Grundübereinstimmungen festhalten: Das Feld der Erziehungsphänomene lässt sich unterteilen in Settings, die ausdrücklich als Erziehung gemeint sind, und Settings, die nicht so gemeint sind, aber wie Erziehung wirken. Die intentional bestimmten Settings sind darauf gerichtet, durch Intervention (okkasionell oder längerfristig geplant und angelegt) eine Veränderung zu bewirken, die als Verbesserung im Sinne einer vorausliegenden normativen Intention verstanden wird. Die Verbesserung hat heute keinen absoluten Bezugspunkt und Maßstab, sondern folgt historisch und kulturell zufälligen, aber zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation bestimmten oder bestimmbaren Normen. Die Akteure des intentionalen pädagogischen Handelns können professionelle oder nicht-professionelle Akteure sein. Die Professionalisierung des pädagogischen Handelns ist bei den professionellen Akteuren nicht abgeschlossen. Ihr Selbst- und Professionsverständnis ist umstritten. Dies ist auch eine Folge davon, dass sich das Feld des professionellen pädagogischen Handelns heute über die gesamte Lebensspanne ausgedehnt hat, weshalb nicht mehr durchgängig von einem Gefälle als konstitutiver Differenz des pädagogischen Handelns ausgegangen werden kann und Unterrichten und Erziehen als zentrale Settings überlagert werden durch zahlreiche andere Formen pädagogischen Handelns. Schließlich agieren die pädagogisch Handelnden immer in mehr oder weniger günstigen Umgebungen, die durch Vorordnungen
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bestimmt sind, auf sie zumeist keinen unmittelbaren Einfluss haben, die sie also allenfalls als Bedingungsfelder bei Planung und Handeln berücksichtigen können. Die pädagogisch vorgeordneten Umgebungen sind zudem selbst Teil eines umfassenden Systems von Umgebungen, das sich mit Uri Bronfenbrenner (1981) als ein aufeinander aufbauendes und einander wechselseitig beeinflussendes ökologisches Gesamtsystem beschreiben lassen, das – anders als bei Bronfenbrenner – außerdem unter der Perspektive von Machtmechanismen analysiert werden müsste. 2.
Die immanente Evidenzorientierung des pädagogischen Handelns oder evidenzbasiertes pädagogisches Handeln als alltägliche Selbstverständlichkeit
Pädagogisches Handeln ist in all seinen Settings und Konfigurationen auf das Erreichen von Zielen unter Einsatz von Mitteln ausgerichtet. Es orientiert sich deshalb auch immer mehr oder weniger ausdrücklich an Vorannahmen über den Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Mitteln und dem mehr oder weniger direkten Erreichen von Zielen. Solche Vorannahmen müssen nicht durch wissenschaftliche Forschung gestützt sein oder gar mit deren aktuellen Ergebnissen übereinstimmen. Es handelt sich in der Regel um individuelle Heuristiken, die sich auf einfache, persönliche Erfahrungsmuster stützen, um Entscheidungen zu begründen. Der Vorteil von individuellen Heuristiken ist, dass sie zu schnellen Entscheidungen führen, ihr Nachteil, dass die Entscheidungen nur subjektiv erfahrungsbasiert sind. Da Handeln ebenso wie das Unterlassen von Handeln an Intentionen gebunden ist, also auf Ziele gerichtet ist und für die Erreichung der Ziele bestimmte Mittel einsetzt oder eben nicht einsetzt, ist pädagogisches Handeln immer auch an Überzeugungen gebunden darüber, was die erstrebenswerte Ziele sind und wie man sie erreichen kann. Weil die individuelle Heuristik sich auch durch Erfahrung auf- und umbaut, gibt es mitlaufend immer so etwas wie eine Evaluierung des eigenen Handelns, also einen Abgleich von Erwartungen und eintretendem Handlungserfolg. Der dabei unterstellte Zusammenhang von eigenem Handeln und beobachteten oder angenommenen Effekten ist im Kontext von individuellen Heuristiken unsicher, weil jede Veränderung in die gewünschte Richtung als Handlungserfolg interpretiert werden kann, auch wenn kein ursächlicher, sondern nur ein zeitlicher Zusammenhang besteht. M. a. W. die mitlaufende Evaluierung eigenen Handelns ist anfällig für den logischen Fehlschluss post hoc, ergo propter hoc. Noch deutlich schwieriger gestaltet sich eine mitlaufende Evaluierung des Zusammenhangs von Handeln und dem Nicht-Eintreten von unerwünschten Ereignissen oder dem Unterlassen von
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Handeln und dem Eintreten bzw. Nicht-Eintreten von Ereignissen (vgl. dazu Meyer-Wolters 2001). Die bisherige Darstellung legt es nahe, dass es pädagogisch Handelnde gibt, die Intentionen verfolgen, sich dabei an individuellen Heuristiken orientieren und die Tragfähigkeit der Heuristik evaluieren, und dass es Behandelte gibt, die all das erleiden. Pädagogisches Handeln ist aber entgegen diesem Anschein interdependent auf Mithandeln, Gegenhandeln, Nicht-Handeln etc., also immer auf fremdes Handeln bezogen, das selbst Intentionen verfolgt, sich an individuellen Heuristiken orientiert und diese Heuristiken fortlaufend evaluiert. Es ist deshalb immer auch ein Aushandlungs- und Übersetzungsprozess bezogen auf Ziele, Mittel und die Ko-Konstruktion von Ergebnissen und die Wertung als gelungenes oder nicht gelungenes Handeln (vgl. zu einem vergleichbaren Aushandlungs-Problem des Forschungshandelns Meyer-Wolters 2008). Die Vorordnungen des pädagogischen Handelns sind einerseits vorhanden, andererseits verdanken sie sich selbst auch wieder dem Handeln in anderen (politischen, ökonomischen, rechtlichen, öffentlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen etc.) Kontexten. Die Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Vorordnungen verdankt sich damit selbst einem Handlungsgeflecht, das seinerseits bei jedem Akteur durch Intentionen, Heuristiken und mitlaufende Evaluationen gekennzeichnet ist. Hier sind die Heuristiken unter Umständen keine individuellen Heuristiken, aber auch als gruppenspezifische Heuristiken ebenso zufällig und täuschungsanfällig wie die individuellen Heuristiken (vgl. Reichenbach 2000; Reichenbach/Oser o. J.). Insgesamt muss pädagogisches Handeln also wenigstens drei miteinander konkurrierende Intentionen, Heuristiken und Evaluationen ausbalancieren, die als „interne Evidenzen“ vorhanden sind und im pädagogischen Handeln miteinander interagieren.5
5 Die hier vorgetragene Einschätzung stimmt weitgehend mit den Einschätzungen in der Diskussion im Kontext von evidenzbasierter Medizin überein. Dort wird allerdings das hier individuelle Heuristik genannte Phänomen interne Evidenz genannt und das System der Vorordnungen nicht eigens als interdependenter Faktor einbezogen, sondern als Bedingung vorausgesetzt: „Evidenz (evidence) ist alles, was uns glauben macht, dass etwas der Fall ist. Man unterscheidet zwischen interner und externer Evidenz. Die interne Evidenz ist die Summe der Befunde, Erfahrungen (Expertise), Meinungen und Vorstellungen, die Arzt und Patient von jeweils eigener Seite in eine Begegnung mit einbringen. Unter externer Evidenz werden Befunde aus der wissenschaftlichen Literatur verstanden“ (Kühlein/ Forster 2007, S. 39).
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3.
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Die Provokation des erziehungswissenschaftlichen Diskurses durch das Konzept des evidenzbasierten pädagogischen Handelns oder: Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln als Feld der Polemik
Die durch das Konzept des evidenzbasierten pädagogischen Handelns ausgelöste Polemik ist m. E. nicht zuletzt darin begründet, dass einerseits von der empirischen Bildungsforschung suggeriert wird, evidenzbasiertes pädagogisches Handeln ermögliche die Anwendung der besten verfügbaren Erkenntnislage in individuellen Erziehungs- und Bildungssituationen und dass andererseits von der Mehrzahl der pädagogisch Handelnden vermutet wird, dass ihr Handeln durch die Hinwendung zur Evidenz standardisiert und gemäß den dadurch vorgegebenen Standards extern überprüft werden soll. Erschwerend kommt hinzu, dass evidenzbasiertes pädagogisches Handeln in Deutschland unter dem gleichen Verdacht steht wie evidenzbasierte Medizin, nämlich eine von Politik und/oder Interessengruppen oktroyierte Maßnahme zur Einschränkung der Handlungsfreiheit und zur bloßen Kostenreduktion zu sein.6 Wenn das Konzept des evidenzbasierten pädagogischen Handelns in dieser Optik zunächst und vor allem als eine externen Regeln folgende summative Evaluation wahrgenommen wird, so ist unschwer vorherzusagen, dass die Mehrzahl der pädagogisch Handelnden es ohne nähere Prüfung ablehnen wird. In dieser Situation kann ein Seitenblick auf die zunächst ebenso polemisch und kontrovers geführte Diskussion der evidenzbasierten Medizin weiterhelfen, weil diese zumindest im Diskussionszusammenhang des Deutschen Netzwerks Evidenzba-
6 „Die internationale Geschichte der EbM, besonders des Begriffs, ist nicht sicher zu klären (D. Sackett pers. Mitteilung 1998). Er taucht als solcher in den 1980er-Jahren in der nordamerikanischen Literatur auf. [...] Bis die EbM Deutschland erreichte, vergingen rund 15 Jahre. Der erste, der auf diese nordamerikanische und dann bald auch britische Entwicklung bei uns aufmerksam machte, war wahrscheinlich der Sozialmediziner David Klemperer mit einem 1995 veröffentlichten Aufsatz über ‚Qualität und Qualitätskontrolle in der Medizin‘. [...] Die klinisch tätigen Ärzte waren und sind in ihrer Mehrzahl eher auf der Seite der Kritiker zu finden. EbM hat in Deutschland bisher vor allem Karriere in Form der evidenzbasierten Versorgung gemacht. Schon 1999 fand sie Eingang in das Sozialgesetzbuch V. [...] Die Bedeutung des Konzepts und der Methoden der EbM ist sozialrechtlich bis heute fortlaufend gestärkt worden. [...] Damit erschien EbM in Deutschland im Gewand einer ‚Revolution von oben‘. Dieser Geburtsfehler ist bis heute nicht behoben. EbM konnte unter diesen Bedingungen kaum als das wahrgenommen werden, was sie historisch gesehen ist: eine intraprofessionelle Entwicklung der Selbstvergewisserung und Selbstregulierung der Medizin. Wenn sie die ärztliche Freiheit berührt, dann – wie Hill in Hinblick auf Archibald Cochrane kommentierte – als ‚internal challenge‘. Hierzulande wird sie hingegen vielfach wahrgenommen als eine von der Gesundheitspolitik oktroyierte Maßnahme zur Einschränkung der ärztlichen Freiheit und zur bloßen Kostenreduktion.“ (Raspe 2007, S. 22)
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sierte Medizin inzwischen viele Problemstellungen differenzierter diskutiert, als sie in der Erziehungswissenschaft angesprochen werden.7 4.
Die elaborierter geführte Diskussion in der Medizin oder: Vier Voraussetzungen evidenzbasierten Handelns in der Medizin
Voraussetzung 1: Handlungswissenschaftliche Fundierung des ärztlichen Handelns Grundbedingung für evidenzbasiertes ärztliches Handeln ist das Vorhandensein einer Quelle von externer Evidenz. Quelle externer Evidenz kann in einem Handlungssystem wie der Medizin nur eine zugehörige und das Handlungssystem fundierende Handlungswissenschaft sein, die zugleich Erfahrungswissenschaft und Normwissenschaft ist. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass Evidenz vor allem durch biomedizinische Grundlagenforschung erhöht werde, wird im Kontext von evidenzbasierter Medizin betont, dass sich Innovationen in der Medizin zwar der biomedizinischen Grundlagenforschung und ihren Ergebnissen verdanken, dass aber unter der Optik evidenzbasierten ärztlichen Handelns in jedem Fall geprüft werden müsse, „ob eine Innovation auch einen Fortschritt bedeutet, also wirksam ist, Nutzen ohne wesentlichen Schaden stiftet und eine Behandlungslücke schließt. Und genau zu dieser Prüfung bedarf es grundsätzlich anderer wissenschaftlicher Ansätze und Methoden als sie die biologische Grundlagenforschung bereitstellt“ (Raspe 2007, S. 20). Die Hauptorientierung der Handlungswissenschaft als Quelle von externer Evidenz für ärztliches Handeln ist deshalb nicht die Grundlagenforschung, sondern die Evaluation von medizinischen Interventionen, also die statistisch abgesicherte Kontrolle der Folgen von ärztlichem Handeln. Ziel ist die probabilistische ex post und ex ante Einschätzung der Chancen und Risiken von medizinischen Interventionen oder auch Nicht-Interventionen.8 7 Für einen solchen Seitenblick spricht auch, dass das intentionale (kommunikative) Handeln zum Zweck der Verbesserung/Veränderung der individuellen Situation von Kindern und Jugendlichen strukturell dem ärztlichen Handeln im Kontext der klinischen Medizin vergleichbar ist. Unterschieden sind beide Felder dadurch, dass in der Pädagogik bislang legal weder Medikamente noch invasive Verfahren eingesetzt werden. In beiden Feldern ist eine Veränderung zum Besseren hin intendiert. In beiden Feldern ist unklar, was sich der Intervention verdankt und was auch ohne Intervention geschehen wäre. In beiden Feldern ist die Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen im Bereich der unmittelbaren Intervention zur Gefahrenabwehr leichter zu überprüfen als im Bereich der Prävention. In beiden Bereichen ist auch die Wirksamkeit von Nicht-Handeln schwer evidenzbasiert einzuschätzen. In beiden Feldern steht letztlich das Wohl des Individuums im Zentrum, das nur bedingt mit den statistischen Normwerten übereinstimmt. 8 „Ein zentrales Merkmal ihrer [der Handlungswissenschaften, HMW] Wissenschaftlichkeit besteht darin, dass sie sich der unsicheren Folgen ihrer Handlungen immer wieder methodisch kontrolliert
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„Das Wort ‚external‘ erlaubt verschiedene Interpretationen. Es drückt auch aus, dass die Research-Evidence von außen zur klinischen Situation hinzutritt, sozusagen importiert werden muss. Sie ist, anders gesagt, nicht aus der Situation heraus generierbar. Dies wird besonders deutlich bei der Beurteilung langfristig präventiver Interventionen. Ob z. B. Statine die Inzidenz von Herzinfarkten reduzieren, ist der alltäglichen [...] und auch der reflektierten klinischen Erfahrung Einzelner unter keinen Umständen zugänglich. Wir haben kein Organ für ausbleibende seltene Ereignisse. Zur Beantwortung solcher Fragen bedarf es mehrjähriger kontrollierter Studien.“ (Raspe 2007, S. 15f.) Voraussetzung 2: Abdeckung von relevanten klinischen Fragen durch klinische Studien Das ärztliche Handeln ist ebenso wie das pädagogische Handeln ein hoch interdependentes Geschehen. Wenn man dem Konzept der evidenzbasierten Medizin folgt, muss deshalb die bestmögliche externe Evidenz durch Studien bereitgestellt werden, die sich auf einen Komplex miteinander verflochtener Handlungsfelder beziehen. „Die Spanne der wissenschaftlichen Zugänge reicht von Kasuistiken (z. B. im Bereich der Identifikation von Nebenwirkungen) und hermeneutischen Studien über kontrollierte Interventionsstudien bis hin zu hoch abstrakten gesundheitsökonomischen Modellierungen.“ (Raspe 2007, S. 20)9
versichern, entweder formativ (unter regelmäßiger Beobachtung von Zwischenergebnissen) oder summativ (d.h. zusammenfassend nach Abschluss einer Intervention) ... Beide Typen der Evaluation sind aus wissenschaftstheoretischer Sicht konsequenzialistisch (orientieren sich an Handlungsfolgen), empiristisch (orientieren sich an messbaren Folgen) und probabilistisch (beschränken sich auf Wahrscheinlichkeitsaussagen). [...] Wollen Handlungswissenschaften in diesem Sinne wissenschaftlich sein und bleiben, dann lässt sich für sie eine Verpflichtung zu beständiger evaluativer Forschung ableiten. Patienten und Ärzte sind darauf angewiesen, Chancen und Risiken medizinischer Interventionen ex post beurteilen und ex ante abschätzen zu können. [...] Eine weitere Gemeinsamkeit ist darin zu sehen, dass alle einem Handlungszwang unterliegen. In der Medizin spricht man vom ‚therapeutischen Imperativ‘. [...] Er ist hier so stark, dass jeder Handlungsverzicht einer besonderen Bezeichnung und Begründung bedarf (‚Oudenotherapie‘, ‚gezieltes Zuwarten‘, ‚to be masterly in-active‘).“ (Raspe 2007, S. 18f.) 9 Mit dieser Charakterisierung wird das ursprüngliche Credo der EbM, das sich im gleichen Lehrbuch immer noch findet, zumindest teilweise verlassen, indem im Kontext von EbM problemabhängig erreichbare Evidenzgrade mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen angestrebt werden. Dagegen war das ursprüngliche Credo der EbM noch eindeutig: „Evidenzbasierte Medizin ist empirische Medizin mit rationaler Methodik. Sie fragt nicht wie die rationalistische Schulmedizin, warum etwas helfen könnte, sie fragt, ob etwas hilft, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welchem Maße. Evidenzbasierte Medizin stützt sich im Gegensatz zur ebenfalls empirischen, aber auch dogmatischen Alternativmedizin nicht auf die trügerische persönliche Erfahrung allein, sondern zusätzlich auf geregelte (kontrollierte) Empirie“ (Kühlein/Forster 2007, S. 45).
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Einen exemplarischen Überblick über die Vielfalt der handlungsfeldbezogenen Fragestellungen sowie die ihnen zugehörigen Forschungsfelder und Studiendesigns gibt Heiner Raspe in einer Tabelle, in der folgende elf Fragen mit elf wissenschaftlichen Zugängen verbunden werden (vgl. zum Folgenden Raspe 2007, S. 20): 1. Was liegt in diesem Fall – objektivierbar – vor? Wissenschaftlicher Zugang: Klini- und Psychometrie 2. Wie häufig ist dieses Krankheitsbild hier (und anderswo)? Wissenschaftlicher Zugang: Prävalenz- und Inzidenzstudien 3. Wie gehe ich diagnostisch vor? Welche Tests soll ich auswählen? Wissenschaftlicher Zugang: Diagnostische Studien 4. Kann dem Krankheitsbild eine bestimmte Diagnose (Klasse, Grad, Stadium ...) zugeordnet werden? Wissenschaftlicher Zugang: Nosographie und Nosologie, Assessment, Klassifikation 5. Und eine Prognose? Wissenschaftlicher Zugang: Prognostische Studien 6. Was steckt dahinter? Ätiologie? Pathogenese? Wissenschaftlicher Zugang: Biologische und psychologische Grundlagenforschung 7. Was sind Motive, Anliegen und Präferenzen des Patienten? Wissenschaftlicher Zugang: Qualitative (hermeneutische) Studien, „narratives“ 8. Was ist das Behandlungsziel? Wissenschaftlicher Zugang: Menschenbilder, ethische und rechtliche Normen 9. Was ist präventiv, therapeutisch, rehabilitativ zu tun, was hat sich (nicht) bewährt? In Studien und im Alltag? Wissenschaftlicher Zugang: Interventionsstudien, Anwendungsbeobachtungen, Outcomes-Research 10. Worauf muss ich im Verlauf achten? Wissenschaftlicher Zugang: Verlaufsbeobachtungen, Kasuistiken 11. Welche Kosten sind mit all dem verbunden? Wissenschaftlicher Zugang: Kosten-, Kosten-Nutzen-Studien, Modellierungen Voraussetzung 3: Schneller Zugriff auf die Ergebnisse von klinischen Studien, deren Qualität transparent ist Evidenzbasiertes ärztliches Handeln hat zur Voraussetzung, dass in jeder Situation auf die aktuell verfügbare Evidenz in der aktuell besten Version zugegriffen werden kann. Da es für den Arzt nicht möglich ist, situativ jeweils die verfügbaren Studien zu suchen und vergleichend zu studieren, setzt die Realisierung von evidenzbasierter Medizin voraus, dass es verlässliche Quellen für systematische Übersichtsartikel gibt. Beispiele für solches Handwerkszeug in der Medizin sind z. B. die systematischen Reviews der Cochrane Library, aber auch evidenzbasierte Leitlinien oder das Portal „Arztbiblio-
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thek“ des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ), das „Zugang zu Informationen [bietet], die von Experten des ÄZQ recherchiert und geprüft wurden auf Relevanz für die vertragsärztliche Versorgung, Qualität der Information und Seriosität des Anbieters“ (ÄZQ 2010a; vgl. dazu auch Windeler 2007a; Timmer/Antes 2007; Ollenschläger u. a. 2007; Seiler u. a. 2007; Rüther/Göhlen 2007). Voraussetzung 4: Basiskompetenz der Nutzer zur Evaluierung der bereitgestellten Evidenz Neben der systematischen Suche nach „relevanter Evidenz“, die durch die genannten und ähnliche Werkzeuge erleichtert wird, bleibt die eigene kritische Prüfung der zur Verfügung gestellten Informationen unabdingbar,10 die sich zentral auf „die kritische Beurteilung der Validität der Evidenz nach klinisch-epidemiologischen Gesichtspunkten und die Bewertung der Größe des beobachteten Effekts“ (ÄZQ 2010b) bezieht. Dies ist für ein seriöses evidenzbasiertes ärztliches Handeln unabdingbar, weil die evidenzbasierte Medizin davon ausgeht, dass „Medizin und medizinische Forschung [...] ein kulturelles Phänomen [sind] und [...] damit Einflüssen wie Zeitgeist, Wünschen, Hoffnungen, politischen und finanziellen Interessen [unterliegen]. Diese beeinflussen die Forschung und die Medizin von der Wahl des Forschungsfeldes bis zur Interpretation der Ergebnisse“ (Kühlein/Forster 2007, S. 41; vgl. dazu auch Windeler 2007b). 5.
Die Auswirkungen des Konzepts der evidenzbasierten Medizin auf das ärztliche Handeln
Das Netzwerk evidenzbasierte Medizin hat sich 2007 plakativ (nämlich auf der rückwärtigen Umschlagseite) von der Auffassung distanziert, dass evidenzbasierte Medizin dem Arzt Entscheidungen aus der Hand nimmt und in die Hand der Wissenschaft legt,11 um im Lehrbuch ausführlich zu erläutern, dass die evidenzbasierte Medizin keine eigene Therapierichtung ist, sondern nur wirksam werden kann, wenn sie sich in das etablierte ärztliche Handelns einfügen lässt und dabei auch noch Nutzen stiftet. „EbM ist zuerst und vor allem klinische Medizin, d. h. medizinische (ärztliche, aber auch pflegerische, physiotherapeutische, psychotherapeutische etc.) Praxis in direktem Kontakt mit und direkter Verantwortung für individuelle Patienten – gleichgültig, ob 10 Ein Beispiel für dabei empfohlene Checklisten ist abgedruckt bei Lerzynski/Bertelsmann/Kunz 2007. 11 „EbM ist keineswegs die ‚Lehre von der doppelblind-randomisierten Studie‘, sondern verhilft Ihnen auch bei komplexer Studienlage zu einer transparenten und souveränen Entscheidung. Mit EbM bleiben Sie dem medizinischen Fortschritt auf den Fersen!“ (Kunz u. a. 2007, Umschlagseite 4)
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in einem Krankenhaus oder einer Praxis. EbM hat keine besonderen Patienten, keine anderen Medikamente, Röntgengeräte, Krankenstationen, Praxisräume als Medizin sonst auch. Sie kennt keine anderen Ziele: Prävention, Gesundheitsförderung, Lebenserhaltung, Heilung, Linderung, Trost, Verhütung des Fortschreitens von Krankheiten, Palliation, Pflege, bedingt gelingendes Gesund-Sein, Ermöglichung eines guten Todes. [...] Sie ist keine besondere Therapierichtung! [...] Was die EbM spezifisch hinzufügt, verdeutlicht das 2002 von B. Haynes et al. [...] aktualisierte Modell evidenzbasierter klinischer Entscheidungen unter dem Untertitel: ‚Evidence does not make decisions, people do.‘ Gemeint ist das, was in dem Modell ‚research evidence‘ und in der o. g. Definition ‚best available external evidence from systematic research‘ heißt. Entscheidungen gründen also – zumindest auch – auf ‚evidence‘, und zwar auf ‚external evidence‘.“ (Raspe 2007, S. 15f.) Im angefügten Schaubild wird plakativ deutlich, in welch schmalem Bereich die externe erfahrungswissenschaftliche Evidenz in dem vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin vertretenen Konzept Teil der Gemengelage von unterschiedlichen Evidenzen im ärztlichen/klinischen Handelns wird.
Abbildung: Ein Modell evidenzbasierter klinischer Entscheidungen (Raspe 2007, S. 16)
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Externe Evidenz übernimmt in diesem „abgeklärten“ Konzept ganz überwiegend eine dienende Rolle beim Identifizieren der klinischen Entscheidungen, für die sich bezogen auf einen individuellen Patienten und bezogen auf die aktuell gegebene Situation der Möglichkeiten seiner Behandlung und Versorgung mit angebbarer Wahrscheinlichkeit die bestmöglichen Ergebnisse prognostizieren lassen. Externe Evidenz ist hier also in keiner oder nur in sehr nachrangiger Weise Kontrollinstrument. Über den Nutzen, den externe Evidenz für das ärztliche Handeln stiftet, entscheidet allein der Beitrag, den sie zum Behandlungserfolg leisten kann.12 Er richtet sich deshalb danach, was der Arzt in der Diagnosesituation und in der Behandlungssituation braucht. Relevant ist eine „externe Evidenz, die eine konkrete Frage aus der Situation eines individuellen Patienten beantworten hilft“ (Kühlein/Forster 2007, S. 41). Beachtet werden in klinischen Entscheidungs- und Handlungssituationen deshalb vorrangig Studien, die auf die konkrete Situation des aktuell zu behandelnden Patienten „passen“ und außerdem einen Therapieeffekt erwarten lassen, der eine für den konkreten Fall beachtenswerte Größe erreicht.13 Die Rollenverteilung zwischen Forschung und klinischer Berücksichtigung der dort gewonnenen externen Evidenz bildet sich auch in den Ausbildungs- und Fortbildungskonzepten der evidenzbasierten Medizin ab, die durch die Umstellung der Medizinerausbildung auf an Fallbeispielen (Paper-Cases) orientierten Seminaren und mehr noch die Unterrichtsform des Bedside-Teaching eine deutliche Abwendung von traditionellen Formen der Ausbildung vollzieht, die auf die direkte und richtige Beantwortung von Fachfragen in Tests konzentriert war. In den neuen Settings wird im Unterscheid dazu vor allem die Suche nach passenden Diagnose- und Behandlungsformen ausgehend von komplexen Krankheitsbildern und untypischen Patienten geübt (vgl. Bergold/Weberschock 2007; Donner-Banzhoff u. a. 2007). Vor dem Hintergrund der deutlich eingeschränkten Rolle der externen Evidenz wird verständlich, weshalb im Kontext der evidenzbasierten Medizin immer wieder betont wird, dass der im Zusammenhang von externer Evidenz gemeinte Begriff
12 Wegen der „dienenden“ Funktion von externer Evidenz wird sie im Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin zielgruppenspezifisch gefasst. Der Arzt (vgl. Kühlein/Forster 2007) braucht eine andere Evidenz als der Patient (vgl. Sänger/Quadder/Brunsmann 2007) und als das System (vgl. Busse/Gibis 2007). 13 „Ein effektives Entscheidungskriterium [...] ist die Unterscheidung zwischen DOE [disease-oriented evidence, HMW] und POEM. [...] DOEs untersuchen die Richtigkeit pathophysiologischer Hypothesen. DOEs sind wichtig, um neue Wege zu finden, Patienten zu helfen. DOEs sind wichtig für Forscher. POEM bedeutet ‚Patient oriented evidence that matters‘. Evidenz also, die aus Studien stammt, die sich direkt mit Patienten beschäftigen und die für diese direkt erfahrbare und bedeutsame Fragen beantworten. [...] POEMs überprüfen die tatsächliche Auswirkung von über DOEs gewonnen pathophysiologischen Vorstellungen und daraus gewonnenen Therapieansätzen in der Wirklichkeit der Patienten. Der klinisch tätige Arzt braucht POEMs, nicht DOEs.“ (Kühlein/Forster 2007, S. 41)
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„evidence“ englischen Ursprungs ist und etwas deutlich anderes meint als der deutsche Begriff der Evidenz. Externe Evidenz ist ein zwar gewichtiges Argument, aber eben doch nur ein Argument unter vielen, das schon durch fehlenden Compliance von Behandelten völlig wertlos werden kann. „Evidenz ist im Englischen etwa gleich bedeutend mit ‚Beweis‘. Aber nicht der unumstößliche Beweis (proof), wie ihn die Mathematik, die Logik oder die Naturwissenschaften liefern, ist gemeint, sondern der Beweis, wie er zum Beispiel bei Gericht vorgebracht wird. Auch dort führt erst die Summe der Beweise und Gegenbeweise zu einem Urteil. So verstanden bedeutet Evidenz also eher so etwas wie [...] ein empirisch fundiertes Argument dafür oder dagegen, dass sich etwas so oder so verhält. Evidenz führt nicht zu Wahrheiten, sondern zur Annäherung an Wahrheiten aufgrund von Wahrscheinlichkeiten.“ (Kühlein/Forster 2007, S. 39)14 6.
Die defizitäre Diskussion des evidenzbasierten Handeln in der Erziehungswissenschaft oder: Evidenzbasiertes pädagogisches Handeln nüchtern betrachtet
Wenn man die Diskussion um das Konzept der evidenzbasierten Medizin zur Kenntnis nimmt, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Diskussion um ein evidenzbasiertes pädagogisches Handeln in der Erziehungswissenschaft defizitär ist. In der Pädagogik wird die Diskussion vor allem auf den Versuch der Bildungspolitik bezogen, die bislang übliche Input-Steuerung (ökonomische Ressourcen, detaillierte Lehrpläne, Kontrolle der Professionalität der Lehrerschaft) durch Output14 Geht man von dieser Begriffsexplikation aus, so wird die immer wieder behauptete Differenz zwischen handlungswissenschaftlicher und interaktionstheoretischer Orientierung zumindest bezogen auf das Setting der evidenzbasierten Medizin fragwürdig. Die evidenzbasierte Medizin hat nämlich inzwischen lernen müssen, dass auch bestens durch Studien abgesicherte Konzepte auf mehreren Ebenen untauglich sein können, wenn ihre Akzeptanz nicht interaktiv und – unabhängig von der Kompetenz der Verhandlungspartner – partizipativ ausgehandelt wird. „Unabhängig von der Kompetenz“ würden Pädagogen wohl als kontrafaktisch unterstellte Diskursfähigkeit übersetzen. Diese Einsicht schlägt inzwischen sogar auf die Forschungskonzepte durch, die als translational research möglichst früh die Differenz von Handelnden und Behandelten aufheben wollen und zumindest der Idee nach eine Ko-Produktion von Forschungs-Ergebnissen anstreben (vgl. TRWG o. J.). Die Studien genannten Menschenexperimente der Medizin arbeiten traditionell mit Gruppen und Kontrollgruppen. In diesen werden die Einflussfaktoren auf wenige und zudem kontrollierbare Faktoren reduziert. Inzwischen lernen die Mediziner, dass der multimorbide und nur begrenzt und situationsbedingt compliancewillige ‚Feld-Wald-und-Wiesen-Patient‘ nur bedingt durch Studiengruppen abgedeckt wird. Deshalb soll zwar weiterhin unter kontrollierten Experimentalbedingungen geforscht werden. Dabei soll aber so früh wie möglich einbezogen werden, wie und weshalb sich gemeinsame oder eben häufig auch nicht gemeinsame Bedeutungen ergeben.
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Steuerung (Aufstellen von Bildungsstandards, externe Evaluation von Schulleistungen) zu ersetzen, in der Erwartung, durch das neue Steuerungsmodell wirksame Impulse für eine Qualitätsentwicklung im Bildungssystem und gleichzeitig eine effektivere und effizientere Verwendung der knappen Ressourcen zu geben. Die Akzentuierung von Wirksamkeit, Standardisierung und Evaluierung bildet in der öffentlichen Wahrnehmung offenbar die Brücke zum Konzept der Evidenzbasierung. Dies ist zwar attraktiv für die Bildungspolitik.15 Es ist aber schon allein deshalb falsch, weil auf diesem Wege nicht und schon gar nicht evidenzbasiert formuliert wird, ob und wenn ja welcher Zusammenhang zwischen pädagogischem Handeln und Output besteht und wie ein defizitäres Handeln gegebenenfalls verbessert werden kann. „Das alleinige Rückmelden von Ergebnissen, auch von vergleichenden Ergebnissen bzw. Leistungsresultaten, ist an sich noch nicht weiterführend im Blick auf die zu erreichende Qualitätsverbesserung. Durch Rückmeldung über Leistungsstände allein wird allenfalls ein zunehmender Druck ausgeübt, der aber diffus bleibt, weil nicht deutlich wird, in welche Richtung und v.a. Dingen: in welcher Weise Verbesserungen eingeleitet werden können und sollen.“ (Terhart 2002, S. 92) Auch in diesem Fall ist ein Seitenblick auf die Medizin erhellend: „Bildungsstandards formulieren grob gesagt die erwünschten Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler, während medizinische Standards vorgeben, was situationsabhängig unter einer kunstgerechten Behandlung zu verstehen ist. Während im Bildungsbereich also output-orientierte Standards vorgegeben werden, wird im Bereich der Medizin die berufsfachlich gebotene Sorgfalt formuliert. [...] Die genauere Herausarbeitung der Differenzen von Bildungsstandards und medizinischen Standards würde zeigen, dass Bildungsstandards versuchen, Prozesse und Ergebnisse zu standardisieren, über die Lehrer als Dienstleister nicht verfügen, während sie Prozesse und Strukturen, über die sie verfügen, weitgehend unberücksichtigt lassen“ (Meyer-Wolters 2009, S. 63). Wirft man abschließend noch einen Blick auf die Diskussionsgegenstände der Fachkonferenz „Wissen für Handeln“, die vom 28. bis 30. März 2007 in Frankfurt am Main stattfand, so bestätigt sich der Eindruck, dass in Deutschland von ersten Überlegungen zu einer Evidenzbasierung von Bildungspolitik gesprochen werden kann, aber nicht einmal in Ansätzen von evidenzbasiertem pädagogischen Handeln
15 „In dieser Neubestimmung öffentlicher Aufgaben verändern sich auch die politischen Inklusionsstrategien: Mit der Erfassung aller Schüler durch regelmäßige Qualitätskontrollen kann die Politik Verantwortung für das gesamte Bildungswesen signalisieren und sich zugleich von wohlfahrtsstaatlich begründeten Inklusionsstrategien mehr und mehr zurückziehen.“ (Bellmann 2008, S. 906)
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oder, in Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch, von evidenzbasierter Erziehung (evidence-based education).16 In den vier Sessionen „Bildung von Wissen“, „Dissemination von Wissen“, „Anwendung von Wissen“ und „Design von Forschungs- und Evaluationsstrategien“ wurde das Thema Evidenzbasierung nämlich in sieben von acht Workshops im Kontext von evidenzbasierter Bildungspolitik behandelt, wobei man vor allem Defizite markierte. Nur im Workshop „Evaluation in Aus- und Weiterbildung“ wurde neben der notorischen Evaluation von Bildungsergebnissen auch die Evaluation von Lehrpraktiken in randomisierten Studien diskutiert. Allerdings erfolgt dies in einer Sprache, die zum einen ein Bedrohungsszenario aufscheinen17 und zum anderen fragen lässt, ob hier nicht eine Verwechslung von Evaluation, die sich auch in der Erziehungswissenschaft an den Qualitätsstandards der Gesellschaft für Evaluation orientieren sollte (vgl. DeGEval 2008), und Experimenten mit Lehrpraktiken im Setting von randomisierten Studien vorliegt. Die übrigen sieben Workshops behandelten überwiegend Fragen der evidenzbasierten policy und/oder allgemeine forschungsmethodische oder forschungsorganisatorische Fragen (vgl. BMBF 2008). 18 7.
Die Chancen und Risiken der defizitären erziehungswissenschaftlichen Diskussion
Wendet man das offenkundige Defizit positiv, so hat die Pädagogik dadurch die Chance, evidenzbasiertes pädagogisches Handeln intraprofessionell als Selbstvergewisserung und Selbstregulierung zu entwickeln, also als Werkzeug, das die pädagogische Freiheit nur als „internal challenge“ berührt (vgl. Raspe 2007, S. 22). Sie müsste dafür allerdings entweder die oben im Kontext von evidenzbasierter Medizin genannten Voraussetzungen evidenzbasierten Handelns für den Erziehungs-
16 „‚Evidence-Based Education‘ signifies the idea that educational policy and practice should be guided by the best evidence about what works. This means that specific intervention strategies and policies should be rigorously evaluated before they are advocated or required. Where this is not possible they should be adopted experimentally, in such a way that their impact can be properly evaluated. This idea builds on the concept of monitoring and self-evaluation, which is at the heart of the main CEM monitoring projects (ALIS, Yellis, MidYIS and PIPS). Teachers and schools who are monitoring their own performance are well placed to evaluate for themselves what works, and so make their practice Evidence-Based.” (CEM 2011) 17 „Evaluation [...] wird im Kontext einer evidenzbasierten Strategie viel rigoroser.“ (DIPF 2011) 18 Vergleichbare Tendenzen spiegeln auch die einschlägigen Buchveröffentlichungen (vgl. Weiß 2006; Böttcher/Dicke/Ziegler 2009; LISUM/bm:ukk/EDK 2008). Vgl. dagegen die von Steve Fleischman (2009) vertretene amerikanische Position des „User-driven Research in Education“ mit der deutlich akzentuierten Unterscheidung von „Evidence-driven Approach“ und „User-driven Approach“ (ebd., S. 74).
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und Bildungsbereich erfüllen. Sie müsste also insbesondere externe Evidenz zu relevanten pädagogischen Fragen bereitstellen19 und diese so aufbereiten, dass sie von pädagogisch Handelnden leicht erreichbar ist. Außerdem müsste sie transparent machen, welcher Grad von Evidenz vorliegt und welche Bedeutung für das konkrete pädagogische Handeln die Aussagen haben, ob es also DOEs oder POEMs sind (vgl. Anmerkung 13). Schließlich müssten die pädagogisch Handelnden durch Aus- und Fortbildung in die Lage versetzt werden, die zur Verfügung gestellten Informationen kritisch zu prüfen. Da nicht zu erwarten ist, dass im chronisch unterfinanzierten Bildungssystem Mittel bereitgestellt werden, um die Voraussetzungen für ein evidenzbasiertes pädagogisches Handeln zu schaffen, die sich auch nur näherungsweise an den Standards der evidenzbasierten Medizin messen lassen könnten, soll abschließend noch auf eine gewissermaßen mit Bordmitteln zu realisierende Option hingewiesen werden, die unter günstigen Rahmenbedingungen gleichwohl einen ersten Schritt in Richtung evidenzbasiertes pädagogisches Handeln bedeuten würde. Erste Schritte ließen sich durch eine Systematisierung der stets mitlaufenden Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung von pädagogischem Handeln tun. Hierfür gibt es bereits Instrumente, die aus der Praxis von Bildungseinrichtungen der Erwachsenenbildung heraus entwickelt worden sind und inzwischen für viele Bildungsbereiche adaptiert vorliegen. Der Einsatz der Instrumente ist nur dann mit Kosten verbunden, wenn die Zertifizierung der Qualitätsentwicklung angestrebt wird. Der Einsatz ist aber auch ohne Zertifizierungsabsicht möglich, weil alle In19 In Übertragung der medizinischen Vorgabe, dass externe Evidenz dann relevant ist, „wenn sie eine konkrete Frage aus der Situation eines individuellen Patienten beantworten hilft“ (Kühlein/Forster 2007, S. 41), könnte man für das pädagogische Handeln fordern, dass externe Evidenz helfen soll, zu verstehen, ob und wenn ja welcher Zusammenhang zwischen pädagogischem Handeln und Output besteht und wie ein defizitäres Handeln gegebenenfalls verbessert werden kann. In heuristischer Anlehnung an die Tabelle von Raspe (2007, S. 20) könnte man etwa an Studien zu folgenden Fragen denken: 1. Was liegt in diesem Fall für ein Defizit/Potential – objektivierbar – vor? 2. Wie häufig ist dieses Defizit/Potential hier (und anderswo)? 3. Wie gehe ich diagnostisch vor, um das Vorliegen dieses Defizits/Potentials zu bestätigen? 4. Welche Tests soll ich auswählen? 5. Kann das Defizit/Potential genauer klassifiziert werden? 6. Ist bezogen auf die weitere Entwicklung des Defizits/Potentials (ohne Intervention) eine Prognose möglich? 7. Welche Ursachen/Gründe hat das Defizit/Potential? 8. Was ist das Ziel der pädagogischen Intervention? 9. Was ist präventiv, therapeutisch, rehabilitativ zu tun? 10. Was hat sich in Studien/im Alltag bewährt/nicht bewährt? 11. Worauf muss ich im Verlauf achten? 12. Welche Kosten sind mit all dem verbunden? 13. Welche unterstützenden, hemmenden oder hindernden Potentiale gibt es beim Teilnehmer/Zögling, welche in den pädagogischen Vorordnungen, welche in weiteren Bedingungsfeldern? Soweit sie randomisiert experimentell sein müssen, können entsprechende Studien vermutlich nur an Laborschulen, Laborkindergärten etc. durchgeführt werden, die damit für die Erziehungswissenschaft eine ähnliche Bedeutung gewinnen würden wie die Universitätskliniken für die Medizin. Die weiter fortgeschrittenen amerikanischen Möglichkeiten, nach externer Evidenz zu suchen, dokumentiert Steve Fleischman (2009, S. 75f., Tabelle 2).
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strumente gut kommentiert und kostenlos im Internet verfügbar sind (vgl. ArtSet Qualitätstestierung 2010). Entschließung und Mut vorausgesetzt, könnten pädagogisch Handelnde also die interne Evidenz, die ihr Handeln immer schon begleitet, durch transparente und vergleichbare Verfahren überprüfen und damit Fehlerquellen wenigstens systematisch aufspüren und kontrollieren. Auf diesem Wege könnte die Identifizierung von wirksamem Handeln als intraprofessionelle Selbstvergewisserung und Selbstregulierung eingesetzt werden. Entwicklungen im Bereich der betrieblichen Weiterbildung, die ich aus meiner erziehungswissenschaftlichen Subdisziplin etwas besser kenne, lassen mich allerdings zweifeln, ob die zweite Möglichkeit tatsächlich eine realistische Option ist. Im Bereich der betrieblichen Fort- und Weiterbildung ist nämlich bereits eine so manifeste Abkehr von einer Verpflichtung auf die gemeinsame Verbesserung von pädagogischem Handeln in Gang gekommen, dass die Identifizierung von wirksamem Handeln vorrangig als Marktvorteil wahrgenommen und entsprechend monopolisiert wird. 20 Ob Pädagogen als Pädagogen über alle Subprofessionen hinweg (wie Ärzte als Ärzte) ein gemeinsames Berufsethos entwickeln können und wollen, durch das sie sich auch unter den Vorordnungen von Wettbewerbssteuerung gemeinsam auf die Verbesserung des pädagogischen Handelns in all seine Dimensionen verpflichten,21 ist offen. Falls sich die im Bereich der betrieblichen Fort- und Weiterbildung bereits manifeste Orientierung an Wettbewerbsvorteilen durch Geheimhaltung im Zuge der „Etablierung von Quasi-Märkten im Bildungssystem“ und dessen „Umstellung von der Angebots- zu einer Nachfragefinanzierung“ (Bellmann 2008, S. 897; vgl. hierzu auch Norekian 2008; Muth 2009) auf den gesamten Bildungsbereich ausdehnen sollte, dürfte das Konzept des evidenzbasierten pädagogischen Handelns als Konzept für Erziehung und Bildung an sein Ende gekommen sein, bevor es überhaupt an den Start gegangen ist. Zum Werkzeug reduziert, dürfte externe Evidenz trotzdem zunehmend eingesetzt werden, dann aber weder als intraprofessionelles Instrument zur kontinuierlichen Verbesserung des pädagogischen Handelns insgesamt noch als Steuerungsinstrument von Politik und staatlicher Bürokratie. Unter der Vorordnung von 20 Im Bereich der betrieblichen Fort- und Weiterbildung werden Innovationen nämlich inzwischen als Geschäftsgeheimnisse behandelt, die anderen Marktteilnehmern vorenthalten werden müssen, um keinen Wettbewerbsnachteil zu erleiden. Selbst im Kontext von Abschlussarbeiten, die aus der Mitarbeit in der betrieblichen Fort- und Weiterbildung erwachsen und sich auf diese beziehen, werden inzwischen von den universitären Gutachterinnen und Gutachtern Verschwiegenheitserklärungen verlangt. 21 In der Sprache von Qualitätsentwicklung wären dies z. B. die Bereiche Leitbild, Bedarfserschließung, zentrale schulische Prozesse, Lehr-Lern-Prozesse, die Gestaltung der Schule als Lebensort, Evaluation, Infrastruktur, Führung, Personal, Steuerung von Schule, externe Kooperationen, strategische Entwicklungsziele.
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„Quasi-Märkten“ wird es dazu dienen, exklusive Produkte zum Zwecke von Marktdominanz zu entwickeln und zu verkaufen.
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kundenorientierte
Qualitätstestierung.
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Verbesserung des Unterrichts durch Selbstevaluation Ein Plädoyer für unverzerrte Evidenz Georg Lind
Pädagogische Evidenz soll valide Hinweise für effektivere Unterrichtsmethoden und Schulstrukturen und damit für besseres Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler geben. In der Pädagogik gibt es erste Versuche, wobei aber kontrovers diskutiert wird, welche Rolle empirische Evidenz bei der Verbesserung von Unterricht und Schulstruktur spielen soll und spielen kann (Brügelmann 2005; Bohl/Kiper 2009; Böttcher/Dicke/Hogreber 2011). Prinzipiell kann sehr Verschiedenes als Evidenz angesehen werden: Schulbeteiligung, Wiederholerraten, Übertritt in weiterführende Schulen, Schulzufriedenheit und vieles andere mehr. Wegen medialer Großereignisse wie TIMSS, PISA, VERA & Co. fokussiert die Debatte über pädagogische Evidenz heute aber fast ausschließlich auf vergleichende Tests. Die Kritik an Evidenz als Grundlage pädagogischen Handelns (data-driven education) bezieht ihre Argumente zum Großteil, wenn nicht ausschließlich aus der weitgehend berechtigten Kritik an Vergleichstests (Kohn 2000; Jahnke/Meyerhöfer 2007; Hopmann/Brinek/ Retzl 2007), mit Ausnahme von vergleichenden Noten, die nach wie vor den Schulalltag dominieren und aus ähnlichen Gründen kritisch diskutiert werden (Kohn 1999; Leppert 2010). Dabei werden andere Formen der Evaluation weitgehend ignoriert. Ich will in diesen Beitrag zweierlei zeigen: Erstens, wie durch die gegenwärtige Praxis der Evidenzbeschaffung in der Pädagogik durch Vergleichstests und die Evaluation von Personen (Schüler, Lehrer, Länder etc.) tatsächlich die Validität und Aussagekraft von Evidenz leidet und gleichzeitig die Kosten nach oben getrieben werden. Zweitens, dass es dazu wenig beachtete Alternativen gibt, die als Grundlage für pädagogische Reformen dienen können. Eine Alternative ist Programmevaluation, das heißt die Gewinnung von Evidenz über die Wirksamkeit von bildungspolitischen Programmen, Unterrichtsmethoden und ähnlichem mehr (Campbell 1969; Sanders 1994). Die Einrichtung des „What Works Clearinghouse“ der US-Regierung im Jahr 2002 hat J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dieser Art von Evidenz wieder Auftrieb gegeben. Dazu zählen auch die – inzwischen außer Mode gekommenen – lernzielorientierten Tests (Glaser 1963), die unter dem Etikett „Mindeststandards“ heute wiederbelebt werden. In beiden Fällen stehen nicht Personen, sondern Programme, Maßnahmen und Methoden im Mittelpunkt. Ich will anhand einiger Beispiele zeigen, dass diese Art der Evaluation mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat wie die Personenevaluation (wenn auch in subtilerer Form), sobald ihre Ergebnisse in Konflikt mit politischen oder kommerziellen Interessen geraten (Schoenfeld 2006; Bracey 2007; Lind 2009a). Dadurch sind die Möglichkeiten zur Gewinnung pädagogischer Evidenz durch objektive Tests keineswegs erschöpft. Eine weitere, aber meines Erachtens viel zu wenig genutzte Möglichkeit ist objektive Selbstevaluation, die bei fachgerechter Durchführung weniger korruptionsanfällig, billiger und unmittelbarer wirksam ist als die beiden anderen Arten der Evaluation. Wie ich unten zeigen werde, liegt der Hauptgrund für die hohen Kosten und die niedrige Validität von Vergleichstests und Programmevaluation in dem hohen Korruptionsdruck, der durch persönliche, politische und kommerzielle Interessen entsteht. Die Betroffenen – Schüler, Lehrer, Administratoren, Bildungsverlage etc. – tun alles, auch dysfunktionale Dinge, um Nachteile durch schlechte Testleistungen zu vermeiden. Wenn Testleistungen mit Sanktionen verbunden sind (high stakes testing), aber die für bessere Leistungen erforderlichen Ressourcen nicht bereitgestellt werden oder nicht verfügbar sind, bleibt den Betroffenen – auf allen Ebenen des Schulsystems – oft nichts anderes übrig als zu betrügen. Natürlich hat es Schummeln und Betrug in der Schule schon immer gegeben. Aber mit der Verschärfung der Sanktionen und der Veröffentlichung von Ergebnissen in Form von Ranglisten hat der Korruptionsdruck im Bildungswesen eine neue Qualität erhalten (Berliner/Biddle 1995). Das muss nicht so sein, wie ein Beispiel aus Kolumbien zeigt. Dort wurden vor einiger Zeit landesweit Englischlehrer auf ihre Sprachfähigkeit getestet, um herauszufinden, wer eine spezielle Förderung nötig hat. Die „Schlechten“ wurden aber nicht bestraft, sondern durch ein intensives Fortbildungsprogramm belohnt (persönliche Mitteilung der früheren Bildungsministerin, Cecilia Maria Velez). Damit war kein Anreiz gegeben, in dem Test zu schwindeln. Eine solche konstruktive Verwendung von Personenevaluation ist aber leider ein Einzelfall. Die Regel sieht anders aus. Die allgegenwärtige Korruptionsgefahr bei Evaluation, die jede evidenzbasierte Pädagogik unterminiert, ließe sich meines Erachtens auf zwei Wegen vermeiden: Erstens, indem man die Ergebnisse nicht mit Strafen für schlechte Werte, sondern, wie in Kolumbien, mit gezielten Fördermaßnahmen verknüpft, und zweitens, indem man Sanktionen ganz ausschaltet. Da aber jedes Bekanntwerden von Testdaten
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sanktionierenden Charakter hat, ist dies, so scheint mir, nur möglich, wenn Programmevaluation vom jeweiligen Nutzer von Evaluation, also als Selbstevaluation durchgeführt wird und anonym bleibt. Selbstevaluation, so mein Plädoyer, erlaubt am ehesten die Erzeugung von korruptionsfreier, unverzerrter Evidenz für pädagogische Reformen und produktivere Hinweise für Verbesserungen des Unterrichts und des Schulsystems (Barber 1999; Lind 2004). Personen-Evaluation: Rankismus Wer von evidenzbasierter Pädagogik spricht, meint damit meist eine Evidenz, die auf den Ergebnissen von Vergleichstests beruht. Das Hauptziel der Konstruktion und Auswertung solcher Tests ist es, die Streuung der Werte zwischen den Teilnehmern so groß wie möglich zu machen (oder sie zumindest groß erscheinen zu lassen), damit ein möglichst eindeutiges Ranking der Teilnehmer möglich ist. Menschen anhand von Testaufgaben in eine eindeutige Rangreihe zu bringen, ist aber nur möglich, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind, nämlich a) wenn die Testwerte weit streuen, d. h. wenn nicht alle Testteilnehmer alle Aufgaben lösen können (was eigentlich das Ziel eines guten Unterrichts wäre), sondern möglichst kein Teilnehmer alle Aufgaben lösen kann, und b) wenn die Aufgaben eines Tests nur eine einzige, eindimensionale Fähigkeit erfordern. Dies ist in der Realität oft nur durch Kniffe und Tricks zu erreichen, die den Wert von Testdaten als Evidenz für pädagogisches Handeln stark einschränken. Beide Bedingungen können annähernd erfüllt werden, solange der Test für eine kleine, klar umrissene Schülergruppe wie eine bestimmte Schulklasse gedacht ist und die Testaufgaben von Experten konstruiert werden, die den Lehrplan dieser Schüler ebenso kennen wie das Testfach (wie Mathematik) und die affektivkognitiven Prozesse, die an der Bearbeitung des Aufgaben beteiligt sind. Vergleichstests werden jedoch für den Vergleich von sehr vielen Personen (z. B. bei PISA für alle Fünfzehnjährigen vieler Nationen) mit unterschiedlichen Lernbiographien und sozialen und kulturellen Hintergründen durchgeführt. Je größer und heterogener die Zielgruppe eines Tests ist, umso mehr Faktoren kommen ins Spiel, die einen schwer kalkulierbaren Einfluss auf die Testwerte haben. Dadurch werden sie vieldeutig und schwer interpretierbar (Meyerhöfer 2007; Popham 1999; Wuttke 2007). Zudem muss man, um die Testaufgaben trotz sehr unterschiedlicher Interessen, Lehrpläne und Schulqualität für Testteilnehmer aus verschiedenen Klassen, Schulen und Ländern akzeptabel zu machen, ihr fachliches Niveau absenken. Wenn man die Testaufgaben genau anschaut, stellt sich oft heraus, dass ihr eigentlicher Kern die gedachte Zielgruppe vor leichte Aufgaben stellt. Zum Beispiel müssen 15-Jährige
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bei der Mathematik-Aufgabe „Bauernhäuser“ aus der PISA-Studie für eine Fläche von 12 mal 12 Metern den Flächeninhalt berechnen. (Was die Aufgabe dann doch wieder schwer macht, sehen wir weiter unten.) Von diesem Nivellierungseffekt sind auch die Zentralabiture betroffen, wie Klein (2010) für das Fach Biologie in einem Versuch nachgewiesen hat. Er hat dazu Schülern der neunten Klasse Abituraufgaben vorgelegt, die sie noch nicht durchgenommen hatten. Die Neuntklässler lösten diese Aufgaben so gut, dass sie bis auf einen alle das Abitur in Biologie geschafft hätten. „Im Gegensatz zu den Abiturprüfungen vor dem Zentralabitur reicht für die neue kompetenzorientierte Aufgabenstellung Lesekompetenz aus, um die Aufgabenstellung bearbeiten und lösen zu können. Ein grundlegendes biologisches Fachwissen braucht der Schüler nicht einzubringen. Falsche inhaltliche Darstellungen werden aufgrund des vorgegebenen Erwartungshorizonts und des zugewiesenen Punktesystems nicht mehr bewertet“ (Klein 2010, S. 15). Wenn aber die Testaufgaben so leicht sind, dass alle Teilnehmer sie lösen können, ist kein Ranking mehr möglich. Um dennoch die Bedingungen für Rankings, nämlich breite Streuung und Eindimensionalität zu erfüllen, greifen die Testkonstrukteure zu zwei Kniffen, die zwar den allgegenwärtigen „Rankismus“ (Fuller/Gerloff 2008) befriedigen, aber den Wert solcher pädagogischen Evidenz schmälern, wenn nicht sogar aufheben. Kniff 1: Die Testautoren vergrößern die Skalen durch Addition und Multiplikation. Bei PISA und anderen Vergleichstests hat es sich eingebürgert, den Mittelwert willkürlich auf 500 und die Standardabweichung auf 100 zu setzen. Aus der Lösung einer einzigen Aufgabe wird dadurch ein Testwertzuwachs von 18 Punkten (Wuttke 2007, S. 157). Aber das löst nicht das Problem, dass die Aufgaben zu leicht sind und die Testwerte zu eng beieinander liegen, um Rankings zu erstellen. Daher benötigen die Autoren Kniff 2: Sie erschweren die Aufgaben künstlich durch Dinge, die mit der zu messenden Fähigkeit wenig oder gar nichts zu tun haben: Zeitdruck: Für das Ausfüllen der Tests wird so wenig Zeit bewilligt, dass kein Teilnehmer alle Aufgaben erfolgreich bearbeiten kann. Dies senkt nicht nur die mittleren Testwerte, sondern führt auch zu einer breiteren Streuung der Testwerte, da Menschen unterschiedlich gut mit Zeitdruck fertig werden. Diese Art der Erschwernis wird aber offenbar selbst von den Testautoren nicht als legitim angesehen, sonst würden sie das in ihren Publikationen begründen. Der Umgang mit Zeitdruck wird in kaum einem Unterricht geübt. Unnötiger Zeitdruck untergräbt das Selbstwertgefühl der Schüler und ihre Lernfreude. Sie erhalten dadurch ständig die Rückmeldung, dass sie den Anforderungen nicht genügen (Kohn 2000; Madaus/Clarke 2001). Distraktoren: Das sind Informationen in einer Testaufgabe, die für ihre Lösung unnötig sind, aber die Testteilnehmer irritieren sollen. Bei der PISA-Aufgabe
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„Gentechnisch verändertes Getreide“ beispielsweise besteht die Hälfte der Einleitung aus einem Zeitungsartikel, der für die Lösung der Aufgabe völlig irrelevant ist, beim Lesen den Testteilnehmer aber auf falsche Spuren lenkt. Beides kostet Zeit und Testpunkte (Lohner 2008, S. 23f.). Auch hier haben die Erschwernisse nichts mit „biologischer Kompetenz” zu tun und erfordern Fähigkeiten, die nicht auf dem Lehrplan stehen. Dadurch haben jene Schüler einen Vorteil, die aufgrund einer günstigen außerschulischen Lernumwelt schnell lesen können oder sich von Distraktoren nicht irritieren lassen. Man könnte argumentieren, dass die Fähigkeit, Relevantes von Irrelevantem zu unterscheiden, eine wichtige Fähigkeit darstellt. Aber dann müsste man dafür einen eigenen Test konstruieren. Die Vermengung dieser Fähigkeit mit Fachkenntnissen, Lesefähigkeit, Stressresistenz und anderem mehr in einer einzigen Aufgabe führt zu Vieldeutigkeit und Mehrdimensionalität der Tests. Wenn wir aus den Testergebnissen nicht eindeutig ablesen können, welche dieser Teilfähigkeiten sie anzeigen, können wir aus ihnen keine pädagogischen Maßnahmen ableiten. Textlastigkeit der Aufgaben: Vor allem bei Mathe- und Naturwissenschaftstests, die früher überwiegend aus Zahlen und Schaubildern bestanden, überwiegt heute Text. Angeblich ist dies durch die Bemühung der Testautoren bedingt, die Aufgaben „praxisnah“ zu machen. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Zum einen handelt es sich bei Texten immer nur um vorgestellte, verbalisierte Praxis und nicht um die Einbettung von Mathematik oder Physik in ein wirkliches Praxisproblem. Das heißt, die Testperson muss nicht nur das Problem einer Aufgabe erfassen, sondern sie muss auch einen (zum Teil komplizierten) Text lesen können. Betrachtet man die Auswertungsregeln, so wird aber schnell klar, dass die Fähigkeit, die Komplexität wirklicher Probleme zu erfassen, gar nicht honoriert wird. Ein Beispiel ist die bei TIMSS verwendete Aufgabe mit dem Stromwiderstand einer Glühbirne, der sich bei Vergrößerung der Stromstärke in der Realität anders verhält als es in der Ohmschen Formel beschrieben wird. Obwohl die Aufgabe „Praxisnähe“ suggeriert, wird aber als „richtige“ Antwort die Anwendung des Ohmschen Gesetzes verlangt (Hagemeister 1999). Ein weiteres Beispiel ist die bei TIMSS verwendete Aufgabe mit den Ziegelsteinen, die laut Zeichnung offenkundig verschiedene Größen und daher auch verschiedene Massen haben, die aber nur dann als „richtig“ gelöst gilt, wenn man davon ausgeht, dass sie die gleiche Masse haben (Meyerhöfer 2007. S. 74). Der Grund für die Ungenauigkeit war demnach nicht Absicht, sondern Schlampigkeit. Wer hier das Wort Praxis ernst nimmt, wird mit Verlust von Testpunkten bestraft. Weiter aufgebläht werden die Texte durch Versuche der Autoren, die Aufgaben durch Ergänzungen mit Synonymen und Umschreibungen unter-
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schiedlichen Zielgruppen verständlich zu machen. Das erfordert mehr Lesezeit und führt oft zu noch mehr Verwirrung (Meyerhöfer 2007). Zusätzlich werden Testaufgaben für die Teilnehmer unbeabsichtigt durch Konstruktionsfehler erschwert, die jedem Testautor (wie auch jedem Lehrer) unterlaufen können (Rhoades/Madaus 2003; Wuttke 2006). Nichtsdestotrotz wirken diese Fehler für so manche/n Schüler/in verwirrend und kosten ihn oder sie wertvolle Zeit und Punkte. Weltwissen: Viele Aufgaben erfordern Wissen, das den Jugendlichen nur außerhalb der Schule, im Elternhaus und im öffentlichen Leben, vermittelt wird. In der PISA-Aufgabe „Mary Montagu“ wird gefragt, gegen welche Krankheiten man sich impfen lassen kann. Zur Auswahl stehen Erbkrankheiten, Virenbefall („z. B. Kinderlähmung“), Funktionsschwäche („z. B. Zuckerkrankheit“) und alle unheilbaren Krankheiten. Schüler, die selbst schon mit dem Thema Impfen konfrontiert wurden, können auch dann die richtige Antwort ankreuzen, wenn sie sich noch nie mit Biologie befasst haben (Lohner 2008). Testschlauheit: Angeblich sollen die Aufgaben von Vergleichstests nicht nur Begriffswissen abfragen, sondern auch das Verstehen und Anwenden von Wissen testen. Verstehen und Anwenden benötigen Zeit zum Nachdenken. Manche Testaufgaben sehen tatsächlich so aus, als wenn sie Verständnis und Anwendung prüfen würden und verleiten Testteilnehmer auch dazu, sich intensiv mit ihnen zu befassen. Aber die Auswertungsmaschinerie der Testindustrie honoriert dies überhaupt nicht. Im Gegenteil, wegen der bewusst sehr eng gehaltenen Zeitlimits (siehe oben) wird Nachdenken mit Punkteverlust bestraft, weil durch die benötigte Zeit zum Nachdenken weniger Aufgaben bearbeitet werden können. Man schneidet bei diesen Tests also besser ab, wenn man die Ideologie dieser Tests durchschaut hat und einfach versucht, so viele Aufgaben wie möglich zu bearbeiten. Dann gewinnt man zusätzlich PISA-Punkte schon allein dadurch, dass man mehr Aufgaben bearbeitet als der „Denker“, ohne dass man dafür eine spezielle Fähigkeit braucht. Man muss nur raten. Da es immer nur vier Alternativen gibt und immer eine davon richtig sein muss, kommen auf viermal Raten eine richtige Lösung und damit 18 zusätzliche PISA-Punkte. Schüler in anderen Ländern mit langer Testtradition wissen das und zeitigen daher bessere PISA-Ergebnisse als testunerfahrene Schüler. Die hier genannten Aufgabenbeispiele sind keine Einzelfälle. Kein Wunder also, dass man zu absurden Schlussfolgerungen kommen kann, wenn man PISATestwerte als pädagogische Evidenz betrachtet. Die PISA-Autoren rechnen PISAPunkte gern in Unterrichtszeit um. Demnach sollen 18 Punkte Unterschied in dem Test (also eine gelöste Aufgabe mehr oder weniger) einem Unterschied von 4,5
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Monaten entsprechen. Spinnt man dieses Kalkül fort, so folgt daraus, dass sich durch Instruktion der Schüler, sie sollten Schulaufgaben durch Raten statt durch Nachdenken lösen, ein ganzes Schuljahr oder mehr einsparen ließe – wenn es uns nur darum ginge, unsere Schulen bei internationalen Rankings gut auszusehen zu lassen. Viele der fachfremden Zusätze bei den Testaufgaben ermöglichen zwar Rankings, verfälschen aber deren Bedeutung, mindern ihr Validität und machen es fast unmöglich, hieraus Hinweise für pädagogische Reformen zu gewinnen. Einige Zusätze sorgen dafür, dass viele Schüler an den Aufgaben scheitern, bevor sie die Möglichkeit haben, sich an dem eigentlichen Kern der Aufgabe zu versuchen. Andere ermöglichen es, Punkte zu gewinnen, ohne die eigentliche Aufgabe gelöst zu haben. So kann man bei vielen Testaufgaben punkten, wenn man schnell lesen kann, wenn man schnell rät oder man sich nicht von verwirrender Zusatzinformation verunsichern lässt – ohne dass man von dem Fach viel versteht. Oft ist man sogar im Nachteil, wenn man von dem getesteten Fach viel versteht und die Aufgaben ernst nimmt, weil man dadurch Zeit und Punkte verliert (Neuweg 2004). Die „Beimischung“ von Dingen, die mit zu messenden Fähigkeiten nichts zu tun haben, um die Testwerte zu spreizen und so besser eine Rangreihe bilden zu können, führt – ebenso wie die Absenkung der fachlichen Anforderungen bei den Testaufgaben – zu einem Paradoxon. Dieses besteht darin, dass entgegen der behaupteten Eindimensionalität das Testinstrument vieldimensional und damit untauglich für ein Ranking wird. Um sagen zu können: Schüler A ist besser als Schüler B oder Land X hat ein besseres Schulsystem als Land Y, müssen sich die Testergebnisse ohne großen Informationsverlust und ohne Willkür auf einer einzigen Dimension anordnen lassen. Damit sich die Tests auf einer einzigen Dimension anordnen lassen, bedienen sich die Autoren von Vergleichstests erneut eines Kniffs, der die Kosten weiter nach oben treibt und die Test-Validität verringert. Man legt einfach fest, dass die gemessene Fähigkeit eindimensional ist und sucht so lange nach Testaufgaben (mit einem gewissen Bezug zur Testdimension), bis diese Annahme stimmt. Man lässt sehr viele Aufgaben von sehr vielen Testpersonen in mehreren Runden bearbeiten und sondert dann mittels statistischer Analysen (Item-Response-Analyse) diejenigen für den Test aus, die den Test eindimensional machen, so dass sich Aufgaben und Personen in eine (möglichst) eindeutige Rangreihe bringen lassen (Wilson 2005). Eindimensionalität ist also keine Eigenschaft der gemessenen Fähigkeit, sondern das Ergebnis eines bestimmten Vorgehens bei der Testkonstruktion. Die Validität solcher Tests lässt sich nicht überprüfen, da ihnen keine psychologische Theorie zugrunde liegt
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(Schoenfeld 1999). Da solche Konstruktionen nicht falsifizierbar sind, ist mit ihrer Anwendung auch kein Erkenntnisgewinn verbunden (Popper 1968). Auch hier werden wieder keine Kosten gescheut, die Fiktion von Eindimensionalität und Modellpassung aufrecht zu erhalten. Je größer die untersuchte Stichprobe, so scheint man zu hoffen, desto weniger leicht ändert sich die kunstvoll hergestellte Fiktion. Modellpassung ist aber keine Eigenschaft eines Tests, sondern das Ergebnis der Interaktion zwischen einem bestimmten Test und bestimmten Testpersonen (Allerup 2007). Dass es sich bei der Eindimensionalität nicht um die Eigenschaft der angeblich gemessenen Fähigkeit handelt, sondern um ein Artefakt, zeigt sich schon darin, dass ein Test, der in einer Studie und auf die gesamte Stichprobe bezogen perfekt den Vorgaben der Statistiker entspricht, dies beim nächsten Einsatz meist schon nicht mehr tut, auch nicht in Untergruppen wie Frauen und Männern oder in verschiedenen Ländern. Wuttke (2007) hat bei seiner Nachanalyse der Mathematikaufgaben in der PISAStudie so starke Abweichungen von der Eindimensionalität und der lokalen stochastischen Unabhängigkeit gefunden, dass man selbst in diesen hoch selektierten Aufgaben von einer Drei- bis Vierdimensionalität sprechen muss – was die Bildung einer Rangreihe der Testteilnehmer nach ihrer „Mathematik“-Fähigkeit verbietet. Zudem fand er bestätigt, dass einige Aufgaben bei verschiedenen Gruppen verschiedene Eigenschaften der Testpersonen messen. Die Tatsache, dass die Selektion von Aufgaben nach ihrer Verträglichkeit mit dem vorgegebenen Modell ihre Gültigkeit (Validität) verringert, hat bereits Cronbach (1960), ein Großmeister der Testpsychologie gewusst: „dropping items with low correlations may reduce content validity“ (S. 157). Die Autoren der Vergleichstests wiegen sich dagegen in dem Fehlglauben, dass die Validität einer Testaufgabe dasselbe sei wie ihre Modellverträglichkeit (Wilson 2005), was von einem großen Unverständnis zeugt.1 Der Versuch, eine große, kunterbunte Ansammlung von Drittklässlern (wie bei VERA) oder 15-Jährigen (wie bei PISA) auf einer einzigen Skala aufzureihen, musste schief gehen. Dass dies von der Öffentlichkeit kaum bemerkt wird, liegt wohl daran, dass die Testautoren sich bislang weitgehend gegen Kritik abschirmen konnten. Die Kultusminister haben es versäumt, die Testkonzepte der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen, bevor sie den Auftrag erteilt haben. Durch eine öffentliche Diskussion hätten die oben dargestellten Probleme schneller erkannt und 1 „Wahrscheinlich lassen Validität und transkulturelle Äquivalenz der Tests in vielen der älteren Schulleistungsuntersuchungen zu wünschen übrig. Wie sich in den technischen Berichten zu PISA nachlesen lässt, hat man aber inzwischen große Anstrengungen unternommen, um die Reliabilität und Objektivität der Tests in allen Teilnehmerländern zu erhöhen und ihre transkulturelle Vergleichbarkeit zu gewährleisten.“ (Schümer 2006, S. 263). Validität scheint keine Anstrengung wert zu sein.
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vermieden werden können. So haben sich die großen Vergleichsstudien eine Parallelwelt erschaffen können, in der nicht auffällt, wie gering der Wert der Evidenz ist, die sie erzeugt haben. Die Vergleichstests scheinen im Endeffekt nichts weiter zu messen als die Fähigkeit, Testaufgaben zu bewältigen (Meyerhöfer 2007; Popham 1999; Wuttke 2006). Vergleichstests haben auch kaum Prognosewert. Sie korrelieren zumeist nur mit Tests von der gleichen Machart (Koretz 2009). Es gibt keine Belege dafür, dass der Einsatz von Vergleichstests, wie von vielen erhofft, zu besseren Lernleistungen führt (Sacks 1999; Amrein/Berliner 2002; Nichols/Glass/Berliner 2006). Entsprechend mehren sich auch die Klagen, dass die vielen aufwändigen Vergleichstests für den Unterricht bislang kaum nutzbar gemacht werden konnten, dass sie sich aber negativ auf den Unterricht auszuwirken beginnen, weil dieser sich immer mehr an diesen Tests ausrichtet, statt dass die Tests lebens- und arbeitsbezogenen Bildungszielen angepasst werden (Jablonka 2006). Vergleichstests sind aber nicht nur problematisch als Grundlage für bildungspolitische und pädagogische Entscheidungen. Sie produzieren auch erhebliche Kollateralschäden. Sie stellen, wie wir sahen, hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit, das Weltwissen und die Fähigkeit der Testteilnehmer, sich nicht durch Zeitdruck, Distraktoren und Konstruktionsfehler der Testautoren irritieren und ängstigen zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass dadurch besonders Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern (Armut, Arbeitslosigkeit) benachteiligt werden (Kreitzer/Madaus/Haney 1989; Kozol 1992; Sacks 1999; Madaus/Clarke 2001; Cunningham/Sanzo 2002; Nichols/Berliner 2006; Belley/Lochner 2008). Welche negativen Rückwirkungen der Korruptionsdruck von high-stakes tests auf das Lernen in der Schule und die Funktion des Schulwesens hat, lässt sich bislang am besten am Beispiel der USA studieren, wo es solche Tests schon sehr lange gibt und seit vierzig Jahren die Bundesregierung Lehrer, Schulen und Schulbezirke mittels Vergleichstest zu einer besseren Pädagogik anzutreiben versucht (Lind 2009a). Über die Korruption auf allen Ebenen des Bildungswesens liegen inzwischen viele Studien vor, die einen Einblick in ihre Ausbreitung und Auswirkungen geben (Amrein/Berliner 2002; Berliner/Biddle 1995; Bracey 2002, 2005; 2007; Kreitzer/Madaus/Haney 1989; Madaus/Clarke 2001; Nichols/Berliner 2006; Sacks 1999). Die Auswirkungen der Vergleichsstudien auf den Unterricht sind auch in Deutschland überall zu spüren. Studien zu diesen Auswirkungen stehen noch weitgehend aus. Aber es gibt sehr gute Analysen zu der Validität von Vergleichsstudien wie PISA (Jahnke/Meyerhöfer 2007; Hopmann/Brinek/Retzl 2007; Wittmann 2010).
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Schafft Programmevaluation valide Evidenz? Kann Evidenz aus Programmevaluation eine brauchbare Grundlage für pädagogisches und bildungspolitisches Handeln sein? Oft auch Methoden- oder Maßnahmen-Evaluation genannt, beruht diese auf der Idee, dass Effektivität und Effizienz von Unterrichtsmethoden und bildungspolitischen Maßnahmen im Hinblick auf bestimmte Bildungs- und Lernziele durch Programmevaluation gesteigert werden können (Campbell 1969; Sanders 1994; Schoenfeld 1999).2 Entscheidend für die Frage der pädagogischen Relevanz ist, dass die Befunde an alle Betroffenen kommuniziert werden können und dass sie verständlich und vertrauenswürdig sind. Tatsache ist aber, dass die meisten der großen Evaluationsstudien der letzten hundert Jahre, die sich nicht auf Personen richteten, sondern auf pädagogische Maßnahmen und Methoden, selbst in der Fachöffentlichkeit wenig bekannt sind. Die Verbreitung der Ergebnisse wird oft auch durch die Komplexität der Forschungsanlage und der statistischen Auswertung erschwert, auch wenn sie meist transparenter sind als bei der Personenevaluation. Entscheidend für die Brauchbarkeit der damit gewonnenen Evidenz ist aber auch die Frage, ob die Evidenz aus Programmevaluationsstudien vertrauenswürdig ist, also ob sie nicht unter Korruptionsdruck steht. Bei Evaluation, die auf Methoden und Maßnahmen gerichtet ist, muss man weniger mit plumpem Betrug rechnen als bei Evaluation, die auf Menschen gerichtet ist, deren materielle Interessen direkt von den Daten abhängen, die sie liefern. Sofern in die evaluierten Programme aber ideologische, politische oder wirtschaftliche Interessen investiert wurden (Bracey 2005), ist auch hier mit Korruptionsdruck im Sinne von Campbell’s Law zu rechnen. Dieses „Gesetz“ geht auf den renommierten Sozialpsychologen und Evaluationsexperten Donald T. Campbell zurück, der dies schon vor vierzig Jahren vorhergesagt hatte: „The more any quantitative social indicator is used for social decision-making, the more subject it will be to corruption pressures and the more apt it will be to distort and corrupt the social processes it is intended to monitor” (Campbell 1975, S. 35). Der von Campbell vorhergesagte Korruptionsdruck ist inzwischen für Vergleichsstudien gut belegt (Amrein/Berliner 2002; Nichols/Berliner 2005, 2006). Bei Programmevaluation ist der Korruptionsdruck subtiler. Er wirkt über vorgeblich wissenschaftliche Anforderungen an Evaluationsstudien, wie zum Beispiel durch die Anforderung, die Aufteilung der Versuchsteilnehmer zu randomisieren, um alle 2 Die Frage, ob der Aufwand und Ertrag von solchen Evaluationen und den durch sie ausgelösten Reformen in einem günstigen Verhältnis zueinander stehen, muss aus Platzgründen hier ausgeklammert bleiben.
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denkbaren Störfaktoren auszuschalten, und die Vorgabe, Effekte mittels statistischer „Signifikanz“ nachzuweisen. Beide Anforderungen machen meist teure Studien notwendig, die sich nur jemand leisten kann, der gute Drähte zu Regierungen oder Sponsoren hat. Randomisierte Experimente, bei denen Testpersonen nach Zufall auf Experimental- und Kontrollgruppen aufgeteilt werden müssen, kosten viel Geld. Anders als in der Agrarwissenschaft stößt die Zufallsaufteilung der Versuchsteilnehmer schnell an ethische, wissenschaftliche und praktische Grenzen. Man kann Schüler nicht beliebig umsetzen, um vermeintliche Störfaktoren zu kontrollieren, und auch nicht zwingen, an einem Versuch teilzunehmen. Das Aufbrechen von natürlichen Bindungen (Schulklasse), wie das einige aus methodischen Gründen für notwendig halten, kann selbst zum Störfaktor werden. Es ist schwer zu verhindern, dass die Kontrollgruppen auch von der Intervention beeinflusst werden, die nur für die Experimentalgruppe gedacht war (cross-over effects). All diese potentiellen Störfaktoren auszuschließen oder zu minimieren, bedeutet einen hohen Kostenaufwand. Die teilnehmenden Schulen haben in der Regel keinen Gewinn von solchen Studien und verlangen daher für ihre Teilnahme eine (zum Teil sehr hohe) Entschädigung. Ein bekanntes Beispiel ist das Leseförderprogramm Success for All (SFA), das inzwischen an einigen tausend Grundschulen in den USA von der US-Regierung gefördert wird. Es wird auch von der Best Evidence Encyclopedia (BEE) empfohlen. Die BEE wurde vom „Zentrum für daten-getriebene Reformen in der Bildung“ im Internet kreiert, das vom US-Bildungsministerium finanziert wird. Dort können Lehrer, so das Versprechen, viele Programme finden, mit denen sie die Leistungen ihrer Schüler verbessern können. Versprochen werden „reliable, unbiased reviews of research-proven educational programs“ (CDDRE 2004ff.). Success for All wurde in verschiedenen Studien evaluiert, unter anderem in einer Studie von den Autoren selbst (Borman u. a. 2005). An dieser Studie lässt sich gut prüfen, wie „reliable“ und „unbiased“ die Evidenz ist, die Reformen in der Bildung antreiben soll. Sie scheint die US-Regierung vor allem deshalb überzeugt zu haben, weil sie sehr viele Teilnehmer hatte (fast 5.000 Schüler) und weil sie randomisiert war, also die Schüler zufällig auf Experimental- und Kontrollgruppe aufteilte. An der Effektivität dieses Programms kann es kaum gelegen haben. In nur einem der vier eingesetzten Lesetests zeigt sich bei dem Vergleich von Vor- und Nachtest ein „signifikanter“ Zuwachs der Lesefähigkeit. Bedeutsam war das Ergebnis allerdings nur statistisch, und das auch nur, weil sich in so großen Stichproben bereits geringfügige Effekte als „statistisch signifikant“ erweisen (Carver 1993; Sedlmeier/Köhlers 2001). Die relative Effektstärke von SFA beträgt nach Borman u. a. (2005) r = .12 – ein sehr geringer Wert, wenn man bedenkt, dass man üblicherweise erst ab einer Effektstärke von r = .30 von „effektiv“ spricht (Lipsey/Wilson 1993). Auch sucht
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man vergeblich nach Analysen zu der Frage, inwieweit leistungsschwache Schüler von dem Programm profitieren, denn schließlich verspricht sein Name einen Erfolg für alle. Langzeitstudien zur Vorschulerziehung zeigen zudem, dass lehrerzentrierter Unterricht, teacher-directed instruction und scripted teaching, worauf SFA basiert, meist nur in einem eng definierten Lerngebiet Effekte erzielen können und das oft auch nur kurzfristig: „Direct instruction curriculum prevents children from developing autonomy because the teacher is authoritarian and uses rewards and punishments and [...] the other two curricula encourage children’s autonomy because they allow teachers and children to discuss their points of view with one another“ (Schweinhardt/Weikart 1988, S. 222). Jedenfalls nimmt sich der „Erfolg“ von SFA gemessen an seinen Kosten (ca. 135.000 US-Dollar pro Schule kostet allein die Implementierung von SFA) so bescheiden aus, dass man sich verwundert fragen muss, weshalb die US-Regierung das Programm so überschwänglich empfiehlt und finanziell unterstützt (Poynor/Wolfe 2005). Ob Randomisierung notwendig oder sinnvoll ist, ist umstritten, aber sie ist auf jeden Fall teuer, sehr teuer, und damit ein möglicher Ansatzpunkt für subtile Formen der Korruption. Borman u. a. (2005) berichten, dass erst dann genügend Schulen bereit zur Teilnahme waren, als man die Entschädigung pro Schule von 15.000 auf 75.000 US-Dollar erhöht habe. Allein die Kosten für die ca. 40 teilnehmenden Schulen beliefen sich damit auf ca. 3 Millionen US-Dollar. Die Befunde waren, so die Autoren, „similar to those of earlier matched experiments“ (ebd., S. 1), also nicht besser als in Experimenten, in denen die Kontrollgruppe so ausgewählt wird, dass sie der Experimentalgruppe in relevanten Merkmalen entspricht (matched pair). Systematische Studien zeigen, dass nicht-randomisierte Experimente, die sehr viel billiger sind, und Meta-Analysen (Rosenthal 1986) meist die gleichen Ergebnisse erbringen wie sehr teure, randomisierte Studien (Cohen/Kulik/Kulik 1982; Lipsey/Wilson 1993). Zudem ist Randomisierung immer nur begrenzt möglich und nie können alle Störfaktoren ausgeschaltet werden. Die Glaubwürdigkeit von Evidenz ist auch nicht nur von dieser technischen Vorkehrung abhängig, sondern von dem Gesamt an Wissen, das wir über den psychologischen Prozess haben, der mit einer bestimmten Methode gefördert werden soll. An solchem Wissen mangelt es aber oft bei kommerziell „erfolgreichen“ Lehrprogrammen (Schoenfeld 1999). Der ganze Aufwand für Randomisierung lohnt sich also pädagogisch kaum – aber wirtschaftlich. Nur weil die Methode, die offenkundig keinerlei substantielle Wirkung hat, mit sehr hohen Kosten an randomisierten Samples überprüft wurde und die Ergebnisse durch ebenfalls kostentreibendes Aufblähen der Stichproben statistisch ein bisschen signifikant wurden, sieht die US-Regierung Success for All als „wirksame“ Methode an und fördert inzwischen ihren Einsatz in mehreren tausend
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Schulen. Wer sich diesen Kostenaufwand nicht leisten kann, weil Regierung und Sponsoren solche teuren Studien nur beschränkt fördern können, kann nicht zeigen, dass seine Unterrichtsmethode wirksamer und vielleicht dazu auch noch billiger ist. Ob beabsichtigt oder nicht, legen die Geldgeber durch ihre Vorgaben (Randomisierung, Signifikanz) und die Auswahl der Mittelempfänger bereits fest, welche Programme die Voraussetzungen für den späteren Einsatz in der Schule und damit eine Förderung erhalten werden und welche nicht. Ob die geförderten Programme das Lernen der Schüler effektiv fördern, scheint dabei kaum eine Rolle zu spielen. In dieser Situation ist der Korruptionsdruck groß. Anbieter von Lernprogrammen können leicht in Versuchung kommen, mit Geld oder Beziehungen die alles entscheidende Unterstützung für teurere Evaluationsstudien zu gewinnen. Tatsächlich hat Bracey (2005) am Beispiel des No Child Left Behind-Programms der USRegierung gezeigt, wie staatliche Auftragsgelder für Lehrmittel und Lernprogramme an Schulverlage teilweise wieder zurückfließen in die Wahlkampfkassen der Politiker, die sie genehmigt haben. Ein Gegenbeispiel ist die wissenschaftlich sehr viel anspruchsvollere und ergebnisreiche Evaluation der Wirksamkeit von Religionsunterricht auf das (un-)moralische Verhalten von Schülern, publiziert als Studies in the Nature of Character (Hartshorne/May 1928). Sie hat kaum Eingang in die Pädagogik gefunden und wird von der Bildungspolitik vollkommen ignoriert. Die Studie wurde von der Religious Education Association, einer Vereinigung evangelischer Kirchen in den USA finanziert (Fisher 1928). Die Forscher führten neben umfangreichen Befragungen auch mehrere aufwändige Verhaltensexperimente zum Täuschungsverhalten von Kindern in Schulsituationen durch (Hartshorne/May 1928). Der wohl erstaunlichste Befund ist, dass für die Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht – entgegen der Hoffnung der kirchlichen Auftraggeber – keine Moral fördernde Wirkung gefunden werden konnte, allenfalls eine negative. Im Vergleich dazu fanden die Forscher einen positiven Effekt der Teilnahme an reformpädagogischen Schulen (progressive education), wo, so die Autoren, die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern durch eine Atmosphäre der Kooperation und des guten Willens gekennzeichnet ist und die Kinder ohne Noten und Zwang lernen können. Drittens fanden sie, dass Täuschungsverhalten stärker dadurch motiviert war, gute Leistungen zu erbringen, als durch einen „schlechten Charakter“. Je schwächer die Leistung in fachlichen Tests, umso intensiver war das Täuschungsverhalten. Die Korrelationen reichten von r = -.05 bis -.51 (Hartshorne/May 1928, S. 395). Obwohl diese Studie von einer Kirchenvereinigung finanziert wurde, wissenschaftlich sehr sauber durchgeführt war und eine Menge interessanter Befunde erbrachte, blieb sie für die pädagogische Praxis weitgehend folgenlos. Obwohl sie die
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Annahme widerlegte, dass das Verhalten von Kindern durch ihren „Charakter“ geprägt sei, beschloss die US-Regierung vor einigen Jahren (unter Präsident Clinton) ein Millionen-teures Programm zur Charakterbildung (character education). Obwohl die Studie gezeigt hat, dass der Religionsunterricht (in den Sunday schools) keine fördernde Wirkung auf die Einhaltung sozialer Regeln hat, hält man in den USA (und auch bei uns) unverändert an der Überzeugung fest, dass Religionsunterricht für die Moralentwicklung notwendig sei. Dabei wissen wir heute, dass Regelverletzungen und Straffälligkeit eher durch einen Mangel an Urteils- und Diskurskompetenz bedingt ist, deren Förderung eine ganz andere Lernumgebung verlangt (Schillinger 2006; Lind 2009b). Ähnlich wie der Character-Studie erging es auch der so genannten AchtjahresStudie, mit der systematisch untersucht wurde, wie gut sich Absolventen von reformpädagogischen Sekundarschulen (progressive high schools) im Studium zurechtfinden (Chamberlin u. a. 1942). In die Studie wurden 2950 Studierende einbezogen, von denen die Hälfte Absolventen der progressive schools war und die andere Hälfte vergleichbare Absolventen von normalen high schools. Sie wurden über die gesamt College-Zeit hinweg begleitend untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass „Reform-Schüler“, die in der Schulzeit nicht mit Noten zum Lernen gezwungen wurden und keinen Aufnahmetest bestehen mussten, im College besser abschnitten als ihre Altersgenossen und dass sie diesen hinsichtlich sozialer Fähigkeiten deutlich voraus waren (ebd., S. 207f.): Sie erzielten einen etwas besseren Notendurchschnitt und bessere Noten in alle Fächern außer Fremdsprachen, dabei wählten sie dieselben Fächerschwerpunkte wie die Vergleichsgruppe. Sie erhielten jedes Jahr etwas mehr Auszeichnungen, wurden öfter positiv beurteilt, was ihre intellektuelle Neugierde und Wissbegierde anging, und wurden von ihren Lehrern in ihrem Denken öfter als präzise, systematisch und objektiv eingeschätzt. Von ihnen wurde auch öfter gesagt, dass sie klar entwickelte und gut formulierte Ideen haben. Sie beteiligten sich an allen Studenten-Organisationen außer an religiösen und reinen „Service“-Aktivitäten. Außerdem zeigten sich mehr von ihnen aktiv besorgt um das, was in der Welt vor sich ging. Damit wurde auf beeindruckende Weise gezeigt, dass Notendruck nicht notwendig ist, damit Schüler lernen. Im Gegenteil, Noten scheinen das Lernen eher zu behindern. In einer Meta-Analyse von verschiedenen Maßnahmen, um das Lernverhalten zu verbessern, zeigte sich nur bei Noten ein negativer Zusammenhang mit objektiv gemessenen Lernfortschritten (Fraser u. a. 1987). Diese Ergebnisse werden durch Schulversuche bestätigt, in denen die Kinder sehr viel Freiheit haben, selbst zu bestimmen, wie und was sie lernen (Peschel 2002). Aber auch die Achtjahres-Studie hatte kaum Folgen für die pädagogische Praxis in den USA oder anderswo. Sie konnte auch nicht verhindern, dass die progressive
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education-Bewegung – im Zuge des Antikommunismus in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg – als innerer Feind gebrandmarkt und dadurch fast völlig ausgelöscht wurde (Bracey 2007). Erst heute beginnt man sich wieder für die Befunde dieser Studie zu interessieren. Dominiert wird die pädagogische und bildungspolitische Debatte aber nach wie vor von den Ranking-Spektakeln, die durch Vergleichstests ausgelöst werden. Wenn wir erfolgreich Pädagogik betreiben wollen, müssen wir wissen, was wirkt. Aber welcher Art von Evidenz können wir vertrauen, wenn Korruptionsdruck und politische und wirtschaftliche Interessen die Glaubwürdigkeit von Evaluationsergebnissen unterminieren und die Verbreitung und Anwendung glaubwürdiger Ergebnisse behindern können? Evidenzbasierte Pädagogik durch Selbstevaluation Selbstevaluation (SE) ist im Alltag allgegenwärtig, aber in der Pädagogik führt sie noch immer ein Schattendasein, auch wenn sich gelegentlich Handbuchartikel damit befassen (Barber 1999). Selbstevaluation handelt von Fragen wie: Ist mein Unterricht lehrwirksam? Lernen meine Schüler evtl. mehr mit einer alternativen Lehrmethode? Oder: Gelingt es mit meiner Bildungspolitik, auch schwächere Schüler zu einem guten Schulabschluss zu führen und moralische und demokratische Kompetenzen zu fördern? Bei Selbstevaluation handelt es sich um ein wissenschaftliches Projekt, das zum Ziel hat, mittels objektiver, unverzerrter, valider Daten Antworten auf solche Fragen zu liefern. Notwendig dafür sind sorgfältig geplante Wirkungsstudien, möglichst mit Vor- und Nachtests und mit Vergleichsdaten aus zugeordneten Kontrollstudien und/oder aus entsprechenden Großstudien. Selbstevaluation hat nichts mit den weit verbreiteten Rückmeldebögen zu tun, in denen Schüler angeben sollen, wie sie die didaktische Qualität eines Kurses beurteilen. Subjektive Einschätzungen durch Schüler (oder Meinungen von Bürgern) sind sehr wichtig, aber sie können objektive Selbstevaluation nicht ersetzen. Zudem unterschätzt man oft die Schwierigkeit der Datengewinnung. Zum Beispiel überfordern Fragen nach der didaktischen Qualität einer Lehrperson zumeist die Schüler. Solche Einschätzungen werden meist durch allgemeine Sympathie oder Antipathie gefärbt und durch das Motiv geprägt, der Lehrperson zu gefallen – oder sie durch Kritik zu provozieren. Es wäre besser, Schüler danach zu fragen, ob sie etwas durch den Unterricht gelernt haben. Eine solche Frage kann von Schülern kompetenter beantwortet werden und bringt dem Lehrer oft gute Hinweise. Aber auch diese Informationen sind höchst anfällig für korrumpierende Einflüsse.
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Selbstevaluation ist selbstbestimmte Evaluation. Es geht also nicht um Evaluation, die man nur selbst durchführen (und bezahlen) darf, deren Fragestellung und Interpretation aber andere bestimmen. Es geht auch nicht um die Evaluation von einem selbst (die natürlich auch unter Korruptionsdruck steht, da Menschen ein starkes Interesse an einem positiven Selbstbild haben), sondern eben um selbstbestimmte und selbst interpretierte Evaluation konkreter Maßnahmen. Eine so definierte Selbstevaluation, so die Hauptthese dieses Beitrags, kann vertrauenswürdige Evidenz für pädagogische Reformen liefern. Sie kommt immer auch direkt beim Nutzer an, weil Erzeuger und Nutzer hier identisch sind. Zudem wird sie in der Praxis auch eher kompetent umgesetzt. Eine Lehrerin, der die eigenen Daten zeigen, dass eine alternative Unterrichtsmethode die Schüler mit mehr Freude und schneller lernen lässt, wird sich kaum dem Charme dieser neuen Methode entziehen können. Sie kennt diese Evidenz nicht nur oberflächlich vom Hörensagen, sondern sehr intim und in ihrer vollen Bedeutung, da sie die Datengrundlage dafür ja selbst erzeugt hat. Aus demselben Grund vertraut sie dieser Evidenz mehr und fühlt sich stärker ermutigt, ihre pädagogische Praxis entsprechend zu ändern. Wenn sie zum Beispiel selbst Projektunterricht systematisch ausprobiert und evaluiert, wird sie sehen, worauf es bei dieser Methode ankommt, um Erfolg zu haben, und sie häufig einsetzen. Wer hingegen diese nur aus der Literatur oder von Fortbildungsveranstaltungen her kennt, läuft Gefahr, wichtige Dinge nicht mitzubekommen und schlechte Erfahrungen mit ihr zu machen. Selbstevaluation stärkt die Professionalität und das Selbstvertrauen der Menschen, die sie anwenden, der Lehrpersonen ebenso wie der Kultusminister. Wenn ein Lehrer eine neue pädagogische Praxis und eine Kultusministerin ihr neues Schulgesetz selbst eingehend erprobt und evaluiert hat, werden beide ihre Neuerungen kompetenter und selbstbewusster gegenüber (notwendiger!) Kritik verteidigen und auch andere von ihren Reformen überzeugen können. Selbstevaluation muss wie jedes wissenschaftliche Projekt bestimmten Regeln folgen, damit sie diese Wirkung entfalten kann und gegen Korruptionsdruck und Verzerrungen gefeit ist: Selbstevaluation muss sich auf objektive Daten stützen, die frei von den bekannten Effekten der sozialen Erwünschtheit und des Wunschdenkens sind. Es ist wichtig, sich zu vergewissern, dass die eigene pädagogische Arbeit oder Bildungspolitik Zustimmung und Akzeptanz findet. Aber diese Informationen sind so stark anfällig für Verzerrungen, dass sie nicht als valide Evidenz für die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen angesehen werden dürfen. Ich habe am Anfang meiner Lehrpraxis erfahren, dass Seminare und Vorlesungen, die von
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den Teilnehmern hoch gelobt wurden, bei ihnen kaum messbare Lerneffekte hatten. Sie hatten hohen Unterhaltungswert, aber kaum Lernwert. Selbstevaluation kann sich nur auf Evidenz stützen, die erreichbar ist. Je größer die Latenzzeit von erwarteten Effekten ist, umso größer ist der zeitliche und finanzielle Aufwand, sie nachzuweisen. Zum Beispiel kann die Fähigkeit, in wichtigen sozialen Positionen (wie als Eltern, als Chef oder als Wähler) Verantwortung zu tragen, erst dann ermittelt werden, wenn jemand real vor diese Aufgaben gestellt ist. Evidenz dazu ist nur durch Längsschnitt- oder Verbleibstudien erreichbar – wenn überhaupt. Selbstevaluation ist nur möglich, wenn Evidenz sich auf beobachtbare bzw. messbare Daten stützen kann, also wenn sie objektiv ist. Messbarkeit ist aber kein absolutes Kriterium. Es gibt Lern- und Bildungsziele, die leicht messbar sind, weil sie klar formuliert sind und weil es dafür bereits lang erprobte Messinstrumente gibt, deren Eigenschaften wir gut kennen, und es gibt Ziele, die schwer oder bislang nicht zu messen sind, weil sie (noch) zu vage und kontrovers formuliert sind und für sie (noch) keine vertrauten Messinstrumente vorliegen. Die Wissenschaft von der psychologischen Messung ist noch relativ jung und, wie wir oben gesehen haben, bei reinen Statistikern in den falschen Händen. Die Forschung und Entwicklung guter psychologisch-pädagogischer Messinstrumente müsste intensiviert werden (Schoenfeld 1999; Lind 2004). Die Möglichkeiten und den Nutzen von Selbstevaluation hat Lind (2009b) über den Zeitraum von acht Jahren anhand von 40 Lehrveranstaltungen systematisch erprobt. Eines der Ziele dieser Lehrveranstaltungen war es, unabhängig von dem spezifischen Stoff die moralische Urteils- und Diskursfähigkeit zu fördern. In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass diese Fähigkeit eine wichtige Voraussetzung für effektives Lernen ist (Heidbrink 2010; Lind 2009c) und dass sie durch Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion (Schillinger 2006; Lupu 2009), besonders aber durch den Einsatz der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) gezielt gefördert werden kann (Lind 2009c). Lind hat in einem Teil seiner Lehrveranstaltungen eine 90-minütige KMDD-Sitzung durchgeführt, und die Seminare – aufgrund des guten Erfolgs der KMDD – nach deren didaktischen Prinzipien umgestaltet, um ihre Lehrwirksamkeit zu vergrößern. Die Vorlesungen, die sich gegen eine Reform sperrten, hat er als Vergleich herangezogen. Bei jeder Veranstaltung wurde eine Selbstevaluation mittels Vor- und Nachtests durchgeführt. Die Messung der Veränderung der moralischen Urteilsfähigkeit erfolgte mit der Online-Version des Moralisches Urteil-Tests (Lind 2008) mit dem Programm ITSE (Lind o. J.). Dadurch konnte der Lehrende am Ende jedes Semesters sehen, ob seine Maßnahmen Wirkung zeigten und den gewünschten Kompe-
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tenzgewinn erbrachten. Zu Beginn dieser Versuche vor etwa 15 Jahren zeigte sich zunächst keine Wirkung. Aber schon nach wenigen Semestern konnten durch einiges Probieren mit der KMDD und den nach der KMDD umstrukturierten Seminaren sehr große Effekte erzielt werden. Der Lernzuwachs betrug zuletzt im Durchschnitt 13 Punkte pro Semester auf einer Skala von 0 bis 100 (Lind 2009b). Das ist sehr viel. Bei einer günstigen Lernumwelt wurde bislang ein durchschnittlicher Gewinn von 5 bis 8 C-Punkten pro Jahr ermittelt (Schillinger 2006; Lupu 2009). Im Vergleich dazu blieben die Effekte bei den Vorlesungen über alle Jahre unverändert bei nahezu null. In anderen Studien wurde gezeigt, dass sich diese Fähigkeit sogar zurückbildet, wenn die Studierenden keine Gelegenheit zur Verantwortungsübernahme bekommen (Lind 2000; Schillinger 2006; Lupu 2009; Saeidi-Parvaneh 2011). Die Selbstevaluation hat in diesem Projekt also einen doppelten Ertrag erbracht. Erstens konnten mit Hilfe der Daten die Seminare mit der Zeit lerneffektiver gemacht werden. Zweitens ließ sich durch die zusammenfassende Analyse der Daten zeigen, dass, unabhängig von der Veranstaltungsform, eine einzige DilemmaDiskussion etwa die gleiche Lernwirkung entfaltet wie sonst vier Jahre Studium unter günstigen Lernbedingungen. Resümee Wenn wir die pädagogische Praxis verbessern wollen, müssen wir wissen, was wirkt. Aber das „Wissen“, das wir für pädagogische Reformen benötigen, ist, wie immer deutlicher wird, in hohem Maß von Verzerrungen bis hin zu Korruption bedroht. Selbstevaluation, so meine These, ist weit besser als herkömmliche Formen der Evaluation gegen die beiden starken Bias-Faktoren gefeit, an denen Personen- und Programmevaluation heute vielfach kranken: (1) Der Korruptionsdruck ist bei Personenevaluation und zum Teil auch bei Programmevaluation ein großes Problem. Menschen wehren sich verständlicherweise gegen eine öffentliche Demütigung durch Rankings und gegen Sanktionen, die an Vergleichstests und an die Evaluation ihrer Produkte geknüpft sind. Legale und illegale Schwindeleien sind daher an der Tagesordnung. Bei anonym durchgeführter Selbstevaluation hingegen gibt es keine Demütigungen und Sanktionen und daher auch keinen Korruptionsdruck. Wer sich beim Evaluieren selbst betrügen würde, würde sich widersinnig verhalten. Wer selbst die Methoden und Programme evaluiert, auf die er oder sie sich bei der pädagogischen Arbeit stützt, ist an ihrer pädagogischen Wirksamkeit interessiert, nicht an ihrem Verkaufserfolg oder ihrer Wirkung in der Öffentlichkeit.
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(2) Barrieren gegen die Verbreitung und Anwendung fundierter Erkenntnisse aus Evaluationsstudien können sich nur dort bilden, wo zwischen den Erzeugern und Konsumenten von Evidenz eine große kommunikative Distanz besteht. Bei Selbstevaluation kann es keine Barrieren zwischen Erzeugern und Nutzern von Evidenz geben, da beide identisch sind. Selbstevaluation hat weitere Vorteile gegenüber den bisher dominierenden Formen der Evaluation, die hier nur genannt, aber nicht ausgeführt werden können. Der Verzicht auf Rankismus (Fuller/Gerloff 2008) fördert die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten (Schülern, Lehrern, Eltern, Schulverwaltung etc.). Selbstevaluation erfordert meist weniger Finanzmittel als Personenrankings und kommerzielle Programmevaluation, dafür aber mehr Sachverstand und Unterstützung durch die Wissenschaft. Selbstevaluation kann doppelt genutzt werden, zum einen als Instrument der Qualitätskontrolle, um die eigene pädagogische Arbeit auf hohem Niveau zu halten und Innovationen bewerten zu können; zum anderen als Instrument der Grundlagenforschung, um die Wirksamkeit von bestimmten pädagogischen Maßnahmen oder Methoden systematisch zu überprüfen. Selbstevaluation kann auf einfache Weise mit Meta-Evaluation (Dubs 2005) und Qualitätsmanagement verbunden werden. Schließlich ist regelmäßig durchgeführte, kompetente Selbstevaluation auch eine hochwirksame Form der Fortbildung. Wer als Schüler, Lehrer oder auch als Kultusminister die Wirkungen seines eigenen Handelns regelmäßig systematisch überprüft und sein Handeln entsprechend ändert, zeigt nachhaltiges Lernen. Selbstevaluation ist auch von Fehlern und Verzerrungen bedroht. Aber diese sind meist unabsichtlich und lassen sich m. E. durch entsprechende Ausbildung in den Griff bekommen. Selbstevaluation erfordert gründliche Kenntnisse und eine gute Ausbildung (Lind o. J.). Demgegenüber muss dringend diskutiert werden, wie herkömmliche Personenund Programmevaluation verändert werden kann, um brauchbare, unverzerrte Evidenz für pädagogische Reformen zu liefern (Wuttke 2009). Natürlich ist dies nicht ihre alleinige Funktion. Aber verzerrte Daten taugen auch nicht für die Beurteilung von Schülern und die Einstellung und Beförderung von Lehrern, wie das in den USA mit dem value-added measurement (VAM) derzeit in Mode kommt (Rothstein 2011). Vorkehrungen gegen Verzerrungen und Korruption sind sehr kostenintensiv. Es wird daher vor allem darauf ankommen, die Zahl von Personenevaluationen stark zu reduzieren, sie dafür gründlicher zu planen, transparenter zu machen und in der Öffentlichkeit einem Datencheck zu unterziehen.
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Jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft1 Johannes Bellmann
Im Folgenden sollen Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft näher umrissen werden, für die ich den Sammelbegriff „theorieorientierte Bildungsforschung“ vorschlage. Der mit diesem Begriff bezeichnete Forschungstypus hat gewisse Nähen zu dem, was gelegentlich als „grundlagentheoretische“ Bildungsforschung (vgl. Benner 2007, S. 130; vgl. auch Bellmann 2009) bezeichnet wird. Die Rede von Grundlagen kann freilich leicht unter Verdacht geraten, fundamentalistische Ansprüche zu verfolgen, die weder einlösbar noch wünschenswert sind. Der Begriff „theorieorientierte Bildungsforschung“ ist in dieser Hinsicht unverdächtig, obwohl auch er Missverständnisse nahelegen könnte. Deshalb gleich vorab ein paar Klarstellungen. Erstens soll mit diesem Begriff – obwohl er lexikalisch nicht einschlägig ist und gegenwärtig kaum Verwendung findet – nichts Neues erfunden werden. Sowohl innerhalb der Erziehungswissenschaft als auch im weiten Feld der Bildungsforschung gibt es durchaus Arbeiten, die man unter dem Terminus „theorieorientierte Bildungsforschung“ fassen kann. Beispiele hierfür werde ich im Folgenden nennen. Zweitens ist mit dem Terminus „theorieorientierte Bildungsforschung“ nicht der verbreitete Vorwurf verknüpft, Bildungsforschung wäre ansonsten theorielos. Es wird vielmehr behauptet, dass Bildungstheorie und Bildungsforschung zumindest in der Akzentuierung des leitenden Erkenntnisinteresses unterschiedliche Verhältnisse eingehen können, wobei theorieorientierte Bildungsforschung eine besondere Akzentuierung dieses Verhältnisses darstellt. Drittens soll nicht behauptet werden, dass die Allgemeine Erziehungswissenschaft ein Monopol auf theorieorientierte Bildungsforschung beanspruchen könnte.
1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 18. Juli 2009.
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Selbstverständlich lassen sich auch Beispiele theorieorientierter Bildungsforschung innerhalb anderer Teildisziplinen identifizieren. Der Ertrag dieser Forschung für eine Hinterfragung und Weiterentwicklung der disziplinären Grundlagen der Erziehungswissenschaft wird aber häufig zu wenig systematisch gewürdigt. Genau dies wäre aber das spezifische Interesse Allgemeiner Erziehungswissenschaft an theorieorientierter Bildungsforschung. Nach dieser Klarstellung soll kurz der Kontext skizziert werden, in dem theorieorientierte Bildungsforschung relevant werden könnte. Neben die Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft in zahlreiche Teildisziplinen tritt heute eine interdisziplinäre Öffnung für angrenzende Disziplinen der Bildungsforschung. Die Komplexität der gegenwärtig entstehenden „bildungswissenschaftlichen“ Forschungslandschaft entspricht durchaus der Komplexität des zu untersuchenden Zusammenhangs von Lernen und Erziehen in seinen institutionellen und gesellschaftlichen Kontexten. Mit der Öffnung der Erziehungswissenschaft zur Bildungsforschung verspricht man sich zugleich, ein Wissen zu produzieren, das für die Bildungspraxis und ihre Reform relevant ist. Offen ist allerdings, ob dieses Versprechen einer „evidenzbasierten“ Bildungsforschung unter den gegenwärtigen Bedingungen eingelöst werden kann. In ihrer Isolierung voneinander oder auch in ihrer bloßen Summe könnten nämlich bildungswissenschaftliche Forschungsergebnisse für das Verständnis des komplexen Zusammenhangs von Lernen und Erziehen in seinen differenten Kontexten folgenlos bleiben. Dies könnte auch daran liegen, dass es bislang nicht gelungen ist, bildungswissenschaftliche Forschungsergebnisse aus einer integrativen Theorieperspektive kritisch zu prüfen und konstruktiv zu verknüpfen. Genau hierhin liegt eine unverzichtbare Aufgabe einer theorieorientierten Bildungsforschung, zu der die Allgemeine Erziehungswissenschaft einen Beitrag leisten könnte. Integrative Theorieperspektiven gilt es auch zu entwickeln hinsichtlich der in den Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung geleisteten grundlagentheoretischen Forschung. So gehen beispielsweise Ergebnisse grundlagentheoretischer Forschung in der Erwachsenenbildung häufig in ihrer Relevanz weit über den Kontext der Teildisziplin hinaus und fordern die gesamte Disziplin zu einer Überprüfung ihrer traditionell am Generationenverhältnis orientierten Selbstbeschreibungen heraus. Insbesondere der Allgemeinen Erziehungswissenschaft käme die Aufgabe zu, grundlagentheoretische Forschung in ihrer Relevanz für disziplinäre Selbstverständigungsprozesse zu prüfen und systematisch zu verankern. Die genauere Bestimmung spezifischer Forschungsperspektiven Allgemeiner Erziehungswissenschaft im Kontext der gegenwärtigen Forschungslandschaft ist für die Allgemeine Erziehungswissenschaft derzeit von strategischer Bedeutung, da sie im Zuge veränderter Machtverhältnisse und Schwerpunktsetzungen im Kreis der „Bil-
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dungswissenschaften“ immer weniger als Teildisziplin mit eigenständigen Forschungsperspektiven wahrgenommen wird. Dies ist keineswegs ein spezifisches Schicksal der deutschen „Allgemeinen Pädagogik“, sondern auch der „Philosophy of Education“, wie ein Blick nach Großbritannien (vgl. Bridges 1998) oder in die USA (vgl. Moses 2002) zeigt.2 Wo es ihr nicht gelingt, spezifische Forschungsperspektiven deutlich zu machen, droht die Allgemeine Erziehungswissenschaft zunehmend auf ihre propädeutische Funktion im Rahmen der Lehre reduziert zu werden.3 Darüber hinausgehende Ambitionen werden dann nicht in der Entwicklung spezifischer Forschungsperspektiven gesucht, sondern in der diskursiven Behandlung allgemeiner, d. h. öffentlich relevanter Problemlagen (vgl. Oelkers 2006). Die Allgemeine Erziehungswissenschaft löst sich damit als forschende Teildisziplin auf und verwandelt sich in eine Art „public philosophy“, die zwar Interesse an Problemen aller Art entwickelt, aber das Interesse an einem disziplinspezifischen Bezugsproblem zunehmend verliert. Was bleibt, ist eine Bildungs- und Erziehungsphilosophie, die ihren Ausgangspunkt nicht in einer eigenständigen erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung sucht, sondern in philosophischen Theorietraditionen oder „Ismen“, deren „Implikationen“ für eine Theorie der Erziehung und Bildung herausgearbeitet werden (vgl. Reichenbach 2007). Vor diesem Hintergrund soll hier selbstkritisch gefragt werden, inwiefern wir es mit einem von der Allgemeinen Erziehungswissenschaft selbst verschuldeten Bedeutungsverlust zu tun haben. Feld- und Theorieakzentuierung erziehungswissenschaftlichen Wissens In der Tat ist das Verhältnis zwischen der traditionellen Allgemeinen Pädagogik und erziehungswissenschaftlicher Forschung eher distanziert und unklar. Traditionell bezieht sich die Allgemeine Pädagogik weniger auf erziehungswissenschaftliche Forschung i. e. S., sondern auf pädagogische Erfahrung (siehe Abb.). Dabei kann man eine eher feldakzentuierte Erfahrung im Sinne des Professionswissens von einer 2 In einem Beitrag über „Philosophy and Educational Research“ schreibt die amerikanische Bildungsphilosophin Michele Moses: „Because empirical work is dominant and central to educational research, especially within graduate schools of education, philosophical research is often not considered to be real research or, to qualify, is forced into a framework that it does not fit. Because philosophical work is not the same as empirical work, it is often taken to be divorced from it“ (Moses 2002, S. 1). 3 Verstärkt wird dieser Trend durch den generellen Bedeutungsverlust grundlagentheoretischer Forschung infolge der Umstellung auf die neuen BA/MA-Studiengänge (vgl. Lohmann 2004, S. 9). Trotz der von der DGfE schon frühzeitig formulierten Warnung, dass im Zuge dieser Umstellung die Differenz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und berufspraktischem Handlungswissen nicht verwischt werden dürfe (vgl. DGfE 2004, S. 2), hat man sich an vielen Standorten bei der Umsetzung der Reform von einer engen Auslegung der geforderten „Professionsorientierung“ leiten lassen.
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eher theorieakzentuierten Erfahrung unterscheiden. Von den ersten Systementwürfen Allgemeiner Pädagogik bei Herbart und Schleiermacher bis zu Klaus Pranges Entwurf einer operativen Pädagogik (vgl. Prange 2005) besteht der traditionelle Anspruch Allgemeiner Pädagogik in einer reflektierenden Theoretisierung der Erfahrung. Damit wird eine Differenz zum erfahrungsbasierten Professionswissen eingeführt, das im Feld immer schon vorhanden ist. Man will nicht beim Schlendrian der Praxis stehen bleiben; die Praxis soll, trotz ihrer Dignität, eine bewusstere werden. Allgemeine Pädagogik tritt somit als Reflexionstheorie pädagogischer Erfahrung auf. Was erziehungswissenschaftliche Forschung betrifft, ist ebenso eine Unterscheidung von Feldakzentuierung und Theorieakzentuierung hilfreich. Feldakzentuierte Forschung ist das, was heute zumeist als „empirische Bildungsforschung“ oder im englischsprachigen Raum als „Scientific Research in Education“ (vgl. National Research Council 2002) bezeichnet wird. In dieser interdisziplinären Forschungslandschaft geht es in erster Linie um einen an gegebenen Problemen des Felds orientierten Wissensfortschritt. Gerade im Kontext gegenwärtiger Bildungsreform hat diese Form feldakzentuierter Forschung eine enorme Konjunktur erfahren.
Feld
Theorie
Erfahrung
Professionswissen
traditionelle Entwürfe Allgemeiner Pädagogik
Forschung
empirische Bildungsforschung
theorieorientierte Bildungsforschung
Abbildung: Feld- und Theorieakzentuierung erziehungswissenschaftlichen Wissens
Im Unterschied dazu geht es einer theorieorientierten Forschung eher um die zur Beschreibung des pädagogischen Feldes in Verwendung befindlichen Kategorien und ihren Wandel. Empirische Forschung wird in diesem Fall nicht betrieben, um neues Wissen über das Feld zu generieren, sondern um die Theorie selbst weiterzuentwickeln. Ziel ist dabei nicht ein technologisches Wissen zur Lösung gegebener Probleme, sondern eine (Re-)Problematisierung herkömmlicher oder neuer Beschreibungen des pädagogischen Feldes, die zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden und an deren Konstruktion eine theorieorientierte Forschung zugleich mitwirkt. Die unterschiedliche Akzentsetzung kann noch einmal im Vergleich mit dem Mainstream der empirischen Bildungsforschung verdeutlicht werden. Diesem geht
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es darum, „die Bildungswirklichkeit zu verstehen und zu verbessern“ (Prenzel 2006, S. 73). Nach Prenzel und Heiland (1985, S. 51; ähnlich Jäger/Prenzel 2005, S. 166ff.) sind in diesem Zusammenhang insbesondere drei Wissensformen von Interesse: -
-
ein „der Feststellung von Zielen dienendes Wissen“ (als Beispiele werden TIMSS und PISA genannt), ein „deskriptiv-explanatorisches Wissen“, das geeignet ist „zur vollständigen Beschreibung des Ausgangszustandes und seiner Ursachen, einschließlich prognostisch-diagnostischen Wissens zur Feststellung von Ist-Soll Diskrepanzen“ (als Beispiele werden Videostudien und korrelative Studien genannt), schließlich ein „technologisches Wissen, also veränderungsrelevantes Wissen über reformzieleffektive und von unerwünschten Folge- und Nebenwirkungen freie Maßnahmen“ (als Beispiel werden Interventionsstudien genannt).
Eine so definierte empirische Bildungsforschung versteht sich als eine Art Sozialtechnologie, die – „ähnlich einer Ingenieurswissenschaft“ (Jäger/Prenzel 2005, S. 167, S. 174) – Erkenntnisse zur „direkten Umsetzung“ bzw. „zur Anwendung und Übertragung“ (ebd., S. 167) für pädagogische Praxis und Bildungspolitik erzeugt.4 Vor dem Hintergrund der hier zur Diskussion gestellten Unterscheidungen können zwei Vereinseitigungen kritisch hinterfragt werden: Zum einen die Vereinseitigung, die darin besteht, dass der Begriff der Forschung auf das reduziert wird, was in der empirischen Bildungsforschung zumeist darunter verstanden wird. Zum anderen eine in traditionellen Entwürfen Allgemeiner Pädagogik verbreitete Vereinseitigung, die darin besteht, theorieakzentuierte Problemzugänge allein auf Erfahrung, nicht aber auf methodisch kontrollierte Forschung zu beziehen. Eine theorieakzentuierte Forschung wäre also ein Forschungsfeld, das in der traditionellen Allgemeinen Pädagogik ebenso vernachlässigt wurde wie im Kontext der gegenwärtigen Konjunktur empirischer Bildungsforschung. Unbeschadet der Differenzen zwischen Reflexionstheorie und Sozialtechnologie haben beide doch mindestens eine auffällige Gemeinsamkeit: Diese besteht darin, dass sowohl Reflexionstheorie als auch Sozialtechnologie eine ihrer Hauptaufgaben in der Verbesserung der pädagogischen Praxis sehen. Was gegenwärtig als „evidenzbasierte“ Bildungsforschung bezeichnet wird, produziert dem eigenen Anspruch nach ein „Wissen für Handeln“ (BMBF 2008), so der Titel einer Fachtagung des
4 Im deutschsprachigen Raum ist Wolfgang Brezinka (1978) der Referenzautor für dieses Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft als „technologische Wissenschaft“ (ebd., S. 60).
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DIPF.5 Bei allen Differenzen zeigt sich hier eine Gemeinsamkeit mit einem Grundanliegen geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Auf diesen Grundkonsens hat schon Manfred Prenzel (2006) aufmerksam gemacht, für den Pädagogische Psychologie und Pädagogik bei allen Differenzen darin übereinkämen, dass sie einen Beitrag leisten „zu besserem pädagogischen Handeln, zu einer besseren Qualifikation der pädagogisch Tätigen und zur Verbesserung der pädagogischen Einrichtungen“ (ebd., S. 71). In diesen „Zweckbeschreibungen“ könne man eine Gemeinsamkeit zwischen Autoren wie David Berliner und Andreas Flitner feststellen, bis zu einem ähnlichen Gebrauch des Begriffs „verbessern“.6 Der melioristische Grundkonsens zwischen Reflexionstheorie und Sozialtechnologie wirft zumindest die Frage auf, ob damit die Zwecke von Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft schon erschöpfend beschrieben werden. Die Daseinsberechtigung und das gemeinsame Anliegen von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie sollen mit dieser Rückfrage nicht bestritten werden. Vielmehr möchte ich versuchen, jenseits von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie ein Feld theorieorientierter Bildungsforschung zu erkunden und genauer in den Blick zu nehmen. Dimensionen theorieorientierter Bildungsforschung Ein kurzer historischer Rückblick kann hier hilfreich sein. Als die Bildungskommission unter dem Vorsitz von Heinrich Roth 1974 ihre Empfehlung mit dem Titel „Aspekte für die Planung der Bildungsforschung“ vorlegte, fand sich darin ein Systematisierungsversuch, der auch für die heutige Diskussion von Interesse sein könnte.7 Unterschieden werden eine vorwiegend praxisorientierte Forschung, eine vorwiegend entwicklungsorientierte Forschung und eine vorwiegend theorieorientierte Forschung (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S. 16). Die Gutachter waren sich sehr
5 Tom Schuller (2008) stellt hier den Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis als den zwischen Produzenten und Konsumenten von wissenschaftlichem Wissen dar, wobei die Konsumenten nicht nur auf passende Angebote warten, sonders zukünftig selbst auch die für sie relevante Forschung in Auftrag geben sollen (vgl. ebd., S. 29). Erziehungswissenschaftliche Forschung wird dann „a source of progress in education“ (ebd., S. 27). 6 Ganz ähnlich stellt auch Walter Herzog (2005, S. 173) eine Gemeinsamkeit zwischen geisteswissenschaftlicher Pädagogik und Brezinkas „Metatheorie der Erziehung“ (1978) fest. So bekennt Brezinka in deren Vorwort, dass seine strenge Kritik an der überkommenen Pädagogik selbst noch einmal von einem melioristischen Motiv getragen ist: „Auch ich bin aus Sorge um die Verbesserung der Erziehungspraxis zur Kritik an der Pädagogik und zur Frage nach ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen gelangt“ (ebd., S. VI). 7 Bis heute viel zitiert ist zumeist nur die Unterscheidung von Bildungsforschung im engeren und weiteren Sinne, d. h. die Unterscheidung zwischen der schon älteren Unterrichtsforschung und der zeitgenössisch sich erst entwickelnden Bildungssystemforschung (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S. 16).
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wohl bewusst, dass es sich bei dieser dreifachen Unterscheidung „nur um Akzentuierungen“ (ebd., S. 20) handelt. Eine strikte Trennung von „technologischer Forschung“ und „theorieorientierter Forschung“ wird damit zurückgewiesen, „weil eine solche Polarisierung zu dem Mißverständnis führt, die technologische Forschung sei theorielos, und theoretische Forschung habe keine Folge für die Technologien“ (ebd., S. 21).8 Unbeschadet dieses Wechselbezugs wird jedoch zugleich betont, dass diese drei Forschungstypen „gegenseitig unersetzbar sind“ (ebd., S. 40). Der Beitrag theorieorientierter Bildungsforschung sei unverzichtbar, da auch die Bildungsforschung auf die „theoretische Erarbeitung ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen“ (ebd., S. 29) nicht verzichten könne und „jede theoretische Monopolisierung der Phänomene der Bildungsforschung ablehnen“ (ebd.) müsse. Der Passus über die Unterscheidung von Forschungstypen schließt mit dem Satz: „Die Produktivität der Bildungsforschung hängt von der Intensität der wissenschaftlichen Kommunikation zwischen diesen drei Forschungsbereichen ab“ (ebd., S. 31). Mehr als 35 Jahre später kann man feststellen, dass zwar die Bildungsforschung eine enorme Konjunktur erlebt hat, aber über ihre Produktivität durchaus kontrovers diskutiert wird. Unstrittig dürfte sein, dass die Kommunikation zwischen den drei skizzierten Forschungsbereichen verbesserungsfähig ist. Ein Grund hierfür könnte auch in der theorieorientierten Bildungsforschung liegen, die im Vergleich zur praxis- und entwicklungsorientierten Bildungsforschung eher konturlos geblieben ist. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu einer stärkeren Profilierung theorieorientierter Bildungsforschung. Die Notwendigkeit hierzu ergibt sich nicht nur aus der unsicheren Position der Allgemeinen Erziehungswissenschaft im Kontext der gegenwärtigen Forschungslandschaft; sie ergibt sich auch daraus, dass die gegenwärtig dominanten Ansätze der Bildungsforschung und ihre praxisformierenden Wirkungen und Nebenwirkungen selbst einen theorieorientierten Reflexions- und Forschungsbedarf produzieren. In der Forschung tritt dann, Luhmann (1990) zufolge, die Anwendungsorientierung zugunsten einer stärkeren Reflexionsorientierung zurück: „Das könnte die Frage einschließen, ob die Wissenschaft nach 8 Manfred Prenzel rekonstruiert die Position des Bildungsrats m. E. nicht auf dessen Problemniveau, wenn er mit Bezug auf das hier diskutierte Gutachten kritisch festhält: „Das Kriterium, die Forschung müsse ‚theoretisch oder empirisch’ auf Bildungsprozesse bezogen sein, dürfte heute kaum noch haltbar sein. Für die empirisch ansetzende Forschung ist die theoretische Fundierung von Untersuchungen unverzichtbar; ebenso dürfte auch für eine stärker theoretisch, konzeptionell oder reflektierende Erziehungswissenschaft selbstverständlich sein, dass Theorien ‚an der Wirklichkeit scheitern können’ beziehungsweise erfahrungswissenschaftlichen Prüfungen standhalten müssen“ (Prenzel 2006, S. 73). In der Tat ist die Formulierung „theoretisch oder empirisch“ (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S. 16) unglücklich, da die Empfehlungen ja gerade festhalten, dass die unterschiedenen Forschungstypen „gegenseitig unersetzbar und aufeinander bezogen sein müssen“ (ebd., S. 40).
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wie vor ihre Anwendung in anderen Funktionssystemen als Erfolg begrüßen, ja geradezu suchen und fördern sollte, oder ob nicht stärker beachtet werden müßte, welche Risiken die Gesellschaft damit läuft. Dies gilt nicht zuletzt für die zahlreichen Bereiche, in denen die Wissenschaft den Anwendungsbedarf erst schafft, den sie dann befriedigt“ (ebd., S. 647f.). Ein Bereich, in dem sich diese zirkuläre Struktur zeigt, wären international-vergleichende „Large-Scale Assessments“, die einer sozialtechnologisch orientierten Bildungsforschung zufolge ein „Wissen zur Festlegung der Ziele“ von Reformen liefern, was im nächsten Zug einen Bedarf nach Technologien der Zielerreichung erzeugt, die „deskriptiv-explanatorisches sowie diagnostisch-prognostisches Wissen“ und „technologisches Wissen“ (Jäger/Prenzel 2005, S. 166) erfordern. Die im Folgenden skizzierte kritische Aufgabe theorieorientierter Bildungsforschung wächst gewissermaßen mit dem Erfolg und der Wirkungsmächtigkeit empirischer Bildungsforschung. Zugleich aber kann sich theorieorientierte Bildungsforschung nicht in ihrer ‚kritischen‘ Aufgabe erschöpfen. Sie muss darüber hinaus zeigen, dass sie Reflexions- und Forschungsprobleme behandelt, die ihr nicht von der Agenda einer derzeit dominanten Wissenschafts- und Bildungspolitik diktiert werden. Dies verweist auf die im Folgenden skizzierte systematisch-konstruktive Aufgabe theorieorientierter Bildungsforschung. Entscheidend wird sein, die kritische und die systematische Aufgabe aufeinander zu beziehen. Hierbei könnten analytisch-vergleichende Forschungsperspektiven eine Art Scharnierfunktion zwischen den kritisch-rekonstruktiven und den systematisch-konstruktiven Perspektiven einnehmen. Damit wären die drei Forschungsperspektiven theorieorientierter Bildungsforschung benannt, die ich im Folgenden näher bestimmen und mit Beispielen illustrieren möchte: (1) die kritischrekonstruktive, (2) die analytisch-vergleichende und (3) die systematisch-konstruktive Dimension. (1) Kritische Rekonstruktion praxisinhärenter Normen In kritisch-rekonstruktiver Perspektive geht es um die Analyse mehr oder weniger impliziter normativer Prämissen sowohl der Bildungspraxis als auch der Bildungsforschung und Bildungspolitik. Im Mittelpunkt dieser Aufgabe steht die Rekonstruktion praxisinhärenter Normen, die den Akteuren weder explizit bekannt sein müssen noch bloße Regelmäßigkeiten im Verhalten darstellen. Normativität kommt dabei auf andere Weise ins Spiel als dies in der Reflexionstheorie und in der Sozialtechnologie der Fall ist: Während die Reflexionstheorie üblicherweise Normen wie explizite Regeln behandelt, die als Anspruch der Praxis gegenübergestellt werden, beschränkt sich die Sozialtechnologie zumeist auf die statistische Ermittlung von
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Regelmäßigkeiten im Verhalten von Akteuren. Beide Perspektiven lassen es aber nur in sehr eingeschränkter Weise zu, die Normativität der Praxis zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen. Einen nützlichen Referenzrahmen für die Rekonstruktion praxisinhärenter Normen könnte Robert Brandoms (1994/2000) Pragmatik liefern, die eine doppelte Abgrenzung von einem kantischen Regulismus einerseits und einem empiristischen Regularismus andererseits enthält.9 Praxisinhärente Normen finden sich nicht nur in der Bildungspraxis, sondern auch in der ‚Praxis‘ der Bildungsforschung und ihren Methoden sowie in der ‚Praxis‘ der Bildungspolitik und ihren Instrumenten der Steuerung. Während im Feld der Bildungspolitik die Normativität bereits in ihrem konstitutiven Bezug auf ‚Reform‘ und ‚Steuerung‘ enthalten ist, tritt die Normativität im Feld der Bildungsforschung weniger offensichtlich zutage. Spätestens dann aber, wenn sich Bildungsforschung mit der Evaluation von Bildungspraxis beschäftigt, kommen notwendigerweise normative Setzungen darüber ins Spiel, was etwa als „Qualität“ (schulischer) Bildung zu verstehen ist. Aber nicht nur im besonderen Fall der Evaluationsforschung, sondern generell muss man davon ausgehen, dass sozialwissenschaftliche Forschung stets in einem rekursiven Verhältnis zu ihrem Gegenstand steht. Anthony Giddens (1990/1995) hat dies mit dem Begriff „doppelte Hermeneutik“ gefasst: „Soziologisches Wissen schraubt sich in den Bereich des sozialen Lebens hinein und aus diesem Bereich wieder heraus, und es gehört als integraler Bestandteil mit zu diesem Vorgang, daß dieses Wissen dabei sowohl sich selbst als auch diesen Bereich umgestaltet“ (ebd., S. 26). Das Modell der Rekursivität unterscheidet sich sowohl von der in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik verbreiteten Annahme, eine Wissenschaft von der und für die Praxis zu sein, als auch von der aus der Wissenschaftsforschung übernommenen Annahme einer Trennung von disziplinärem und professionellem Wissen. Während die strikte Trennung von disziplinärem und professionellem Wissen die praxisformierenden Effekte wissenschaftlichen Wissens unterschätzt, wurde in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zumeist ignoriert, dass es sich hierbei immer auch um nicht-intendierte praxisformierende Effekte handelt. Giddens (1990/1995) zufolge übersteigt „das Wissen über das soziale Leben [...] die Absichten derer, die dieses Wissen zu Umgestaltungszwecken anwenden“ (ebd., S. 74). Dieser Sachverhalt ist in sozialtechnologischen Ansätzen immer nur Anlass zum ‚Nachsteuern‘, ohne aber einen systematischen Stellenwert in der Theoriebildung zu bekommen. 9 Ein ähnliches Anliegen ist bei Andreas Gruschka (2009) zu erkennen, der „empirische Bildungstheorie“ als Erforschung der inhärenten „Ansprüchlichkeit“ pädagogischer Praxis versteht und dies von Postulatepädagogik bzw. theoretischer Pädagogik einerseits und empirischer Bildungsforschung andererseits abgrenzt. Zum „normativen Anspruch“ der Erziehung als „Ausdruck ihrer eigenen Qualität“ vgl. auch Winkler (2006, S. 37).
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Die kritische Analyse der Rekursivität der Forschung sowie die Rekonstruktion ihrer impliziten Prämissen und ihre vergleichende Analyse im Rahmen anderer möglicher Normen ist ein unverzichtbarer Beitrag der Erziehungswissenschaft zur Aufklärung der Beziehungen von Wissen und Macht. Die hiermit angedeuteten theorieorientierten Forschungsaufgaben stehen im Schnittfeld von Wissenschaftstheorie und Methodologie einerseits sowie Wissenschaftsforschung und Wissenssoziologie andererseits. Ein Aspekt der angesprochenen Rekursivität von Forschung und Forschungsgegenstand ist die Tatsache, dass Konzepte und Diskurse nicht folgenlos für das professionelle Selbstverständnis und die Praxis pädagogischer Akteure sind. Hiermit entsteht die Frage, welche Folgen eine Neudefinition zentraler Konzepte für das professionelle Selbstverständnis und die Praxis pädagogischer Akteure hat. Konzepte der sozialen Welt sind immer auch Angebote für das Selbstverständnis der Akteure, die mit Leben gefüllt werden müssen, damit sie wirksam werden. Gerade im Kontext von Bildungsreformen geht es immer auch um die Entwicklung neuer Deutungsangebote, die individuellen und institutionellen Akteuren Legitimität verschaffen können. So stellt beispielsweise der Übergang zur Neuen Steuerung im Bildungssystem auch neue Deutungsangebote für das Selbstverständnis pädagogischer Akteure, ihre Professionalität und ihr Ethos, bereit. Ein Beispiel für die Analyse der intendierten und nicht-intendierten Folgen einer solchen Rekonfiguration des pädagogischen Feldes im Kontext von Bildungsforschung und Bildungspolitik werde ich am Schluss ansprechen. (2) Vergleichende Konzeptanalyse Bei der vergleichenden Konzeptanalyse geht es nicht nur um die Analyse einheimischer Begriffe (Erziehung, Bildung etc.), sondern auch neuerer Konzepte der Bildungsforschung und Bildungspolitik (z. B. Literacy, Kompetenz, Standards), die den erziehungswissenschaftlichen Diskurs entscheidend mitprägen. Im einzelnen stellt sich dann die Aufgabe, den Bezug neuerer Konzepte der Bildungsforschung und Bildungspolitik zu einheimischen Begriffen der Erziehungswissenschaft zu untersuchen sowie durch die vergleichende Analyse unterschiedlicher Konzeptualisierungen (z. B. von Literacy, Kompetenz und Standards) die Fixierung auf diskursdominante Verständnisse bestimmter Konzepte zu relativieren und mögliche Problemverluste zu identifizieren. Zum Zwecke dieser vergleichenden Konzeptanalyse können insbesondere internationale, historische und interdisziplinäre Vergleichsperspektiven zum Tragen kommen.
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Zwei Beispiele für vergleichende Konzeptanalysen können hier nur angedeutet werden: Als erstes Beispiel sei auf Franz E. Weinerts (1999) im Auftrag der OECD entstandene Expertise „Concepts of Competence“ hingewiesen, die einen Überblick über unterschiedliche Konzeptualisierungen von Kompetenz gibt, diese aber von vornherein auf ihre forschungspragmatische Brauchbarkeit für internationale Schulleistungsvergleiche hin untersucht. Interessant an Weinerts Expertise ist nicht nur das von ihm favorisierte Konzept von Kompetenz, sondern auch die Tatsache, dass eher sozial situierte Kompetenzkonzepte aus forschungspragmatischen Gründen nicht weiter berücksichtigt werden. Als zweites Beispiel nenne ich Colin Lankshears (1998) Untersuchung „Meanings of Literacy in Contemporary Educational Reform Proposals“, die das derzeit diskursdominante Literacy-Verständnis der OECD kontextualisiert, durch den Vergleich mit anderen Konzepten von Literacy relativiert und damit kontingent setzt. Mit der vergleichenden Konzeptanalyse wird bereits ein Übergang von den eher kritisch-rekonstruktiven hin zu den systematisch-konstruktiven Aufgaben theorieorientierter Bildungsforschung angebahnt, da durch die Operation des Vergleichs die Konstruktivität der Theoriebildung auffällig wird. (3) Systematisch-konstruktive Theoriebildung Im Mittelpunkt steht hier die Konstitution eines „Formalobjekts“10 der Erziehungswissenschaft, womit theorieorientierte Bildungsforschung systematische Aufgaben Allgemeiner Erziehungswissenschaft aufgreift. Ein solches Formalobjekt ist auch Voraussetzung dafür, dass die Erziehungswissenschaft eigene Forschungsfragen an andere Disziplinen der Bildungsforschung stellen und Verknüpfungen mit diesen herstellen kann (vgl. Winkler 2006, S. 19). Vor dem Hintergrund der Konstitution eines Formalobjekts der Erziehungswissenschaft fällt eine weitere Gemeinsamkeit von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie auf: Beide sehen zumeist das Individuum als ihre zentrale Bezugsgröße an, sei es normativ oder methodologisch. Das zeigt sich etwa am Bildungsbegriff der klassischen Bildungstheorie wie am Kompetenzbegriff der empirischen Bildungsfor10 Ein spezifisches „Formalobjekt“ einer Wissenschaft kann unterschieden werden vom „Material-“ oder „Realobjekt“, das eine Wissenschaft mit anderen Wissenschaften gemeinsam haben kann. Ein Formalobjekt wird durch einen spezifischen Gesichtspunkt konstituiert, mit der eine Disziplin etwas als etwas betrachtet. Die traditionsreiche, auf die Aristotelesrezeption der Scholastik zurückgehende Unterscheidung wird auch in einem nachmetaphysischen Rahmen genutzt, wenn es um die Differenz von Erfahrungs- und Erkenntnisgegenstand einer Wissenschaft geht. In diesem Sinne verwendet auch Aloys Fischers (1932/1954) diese Unterscheidung zur Bezeichnung der spezifischen Gesichtspunkte von Pädagogik und Soziologie (vgl. ebd., S. 110).
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schung. Dies schließt nicht aus, dass auch Aussagen über soziale Systemebenen wie Organisation und Gesellschaft gemacht werden. Aussagen über soziale Größen werden aber stets von Erkenntnissen über Individuen hergeleitet, sei es durch normative Ableitungen wie in der Frage „Welche Gesellschaft braucht der an seiner Bildung arbeitende Mensch?“ (vgl. hierzu die Diskussion bei Benner 2001, S. 57ff.), sei es durch die Aggregation von psychometrischen Daten. Nicht Erziehung als emergentes soziales Phänomen, sondern Bildung als individuelles Phänomen ist die Bezugsgröße von Reflexionstheorie und Sozialtechnologie. Eine sozialtheoretische (Neu-)Beschreibung des Formalobjekts der Erziehungswissenschaft erscheint vor diesem Hintergrund eine erst in Ansätzen geleistete Aufgabe theorieorientierter Bildungsforschung (vgl. Vanderstraeten/Biesta 2006). Im Unterschied zu manchen philosophischen Systementwürfen der Tradition wäre es ein Kennzeichen theorieorientierter Bildungsforschung, die im Theorieentwurf enthaltenen Bezüge auf Empirie durchsichtig zu machen und für mögliche empirische Forschung zu exponieren. Anerkannt wird hiermit die von Heinz-Elmar Tenorth (1995) benannte Notwendigkeit einer „Empirisierung der Grundlagendiskussion, um Kriterien und Prinzipien mit Erfahrung und Erkenntnis enger zu verbinden“ (ebd., S. 11). Jede Gegenstandskonstitution ist immer auch der Versuch einer Neubeschreibung des Gegenstands. Anders als bei einer sich gewissermaßen hinterrücks einstellenden Rekonfiguration des pädagogischen Feldes im Kontext von Bildungsforschung und Bildungspolitik ginge es hier jedoch um eine theoretisch ausgewiesene, explizite (Re-)Konzeptualisierung eines Formalobjekts der Erziehungswissenschaft. Sie nimmt ihren Ausgang häufig von konkurrierenden Ansätzen, deren Dualismus eine neue Theoriebildung zu überwinden versucht. Als ein Beispiel für eine empiriebezogene konstruktive Theoriebildung kann die Studie von Hodkinson, Biesta und James (2008) mit dem Titel „Understanding Learning Culturally: Overcoming the Dualism Between Social and Individual Views of Learning“ erwähnt werden. In einer Kooperation zwischen Berufspädagogik, Erwachsenenpädagogik und Bildungsphilosophie versuchen die Autoren, den Dualismus zwischen kognitiven Lerntheorien einerseits und Theorien situierten Lernen andererseits zugunsten einer kulturellen Sichtweise des Lernens zu überwinden. Erst diese integrative Theorieperspektive ermöglicht es, gemeinsame Merkmale eines Lernens in formellen und non-formalen Lernumgebungen der beruflichen Bildung zu entdecken und neue, daran anschließende Forschungsfragen zu stellen. Ein zweites Beispiel für empiriebezogene konstruktive Theoriebildung sind die jüngeren Arbeiten von Jochen Kade und Wolfgang Seitter (2007), deren Relevanz wohl weit über die Teildisziplin der Erwachsenenbildung hinausgeht. In Abgren-
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zung von einer am Bildungsbegriff orientierten „synthetisch-harmonisierenden Denkform“ untersuchen und beschreiben sie Formen des Umgangs mit Wissen in den beiden sozialen Welten von Obdachlosen und Führungskräften. Das Konzept „Umgang mit Wissen“ wird im Zuge des Projekts als „pädagogische Kommunikation“ spezifiziert, die als analytisch-kombinatorischer Zusammenhang von Vermitteln, Aneignen, Überprüfen und Wissen verstanden wird. Die Autoren berichten, wie sich im Verlauf des Projekts der Akzent von den Befunden empirischer Forschung auf die Theoriebildung verschoben hat. Insofern lässt sich die Studie von Kade und Seitter als Beispiel einer theorieorientierten Bildungsforschung verstehen. Als drittes Beispiel für empiriebezogene konstruktive Theoriebildung kann Walter Herzogs (2002) umfangreiche Studie mit dem Titel „Zeitgemäße Erziehung“ erwähnt werden. Der Autor setzt sich hier kritisch mit modernen handlungstheoretischen Fassungen der Erziehung auseinander, die zumeist räumliche Metaphern der Übertragung verwenden und das pädagogische Problem häufig paradoxal fassen, mit der Folge, es von der Möglichkeit seiner empirischen Erforschung abzuschneiden. In Abgrenzung hierzu erarbeitet Herzog eine interaktionstheoretische Neubeschreibung von Erziehung, in der die zeitliche Ordnung pädagogischer Wirklichkeit in den Mittelpunkt gerückt und gerade dadurch für sozialwissenschaftliche Forschung geöffnet wird. Die Aufgabe der konstruktiven Theoriebildung schließt insbesondere an die kulturelle Funktion wissenschaftlicher Forschung an. Der niederländische Wissenschaftshistoriker Gerard de Vries (1984) unterscheidet zwischen der kulturellen und der technischen Funktion der Forschung. Während die technische Funktion vor allem in der Entwicklung von Mitteln und Strategien zur Lösung vorab definierter Probleme besteht, kommt die kulturelle Funktion vor allem darin zur Geltung, dass zuallererst neue Problemdefinitionen und neue Sichtweisen der sozialen Realität entwickelt werden. In beiden Funktionen hat wissenschaftliche Forschung praktische Konsequenzen für die erforschte soziale Realität. Der gegenwärtig insbesondere im angelsächsischen Raum zu beobachtende wissenschaftspolitische Trend zur „evidence-based education“ neigt jedoch dazu, Forschung auf ihre technische Funktion zu verkürzen und ihr rekursives Verhältnis zum Gegenstand auszublenden. Theorieorientierte Bildungsforschung dagegen akzentuiert durch die Entwicklung neuer Beschreibungen ihres Gegenstands die kulturelle Funktion, auf die wissenschaftliche Forschung im Kontext einer demokratischen Öffentlichkeit nicht verzichten kann (vgl. Biesta 2007).
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Schlussfolgerungen Die hier angedeuteten Perspektiven einer theorieorientierten Bildungsforschung könnten auch zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Bildungstheorie und Bildungsforschung beitragen. Ein Seitenblick in die Soziologie zeigt, dass auch dort Verwissenschaftlichung keineswegs mit dem Siegeszug der empirischen Sozialforschung gleichgesetzt, sondern eher in einer konstruktiven Verhältnisbestimmung von Sozialtheorie und empirischer Sozialforschung gesehen wird. Bei James Coleman kann man lesen, dass die Dominanz der empirischen Sozialforschung für die Soziologie als Disziplin nicht nur Gewinne einbrachte. Die empirische Sozialforschung verfüge, so Coleman, über keine Handlungstheorie, weil sie Handeln durch Verhalten ersetzte und jeden Rekurs auf Ziele oder Intentionen aus ihren Kausalerklärungen ausschließe. Zudem konzentriere sie sich auf die Erklärung individuellen Verhaltens und gelange dabei selten auf die Ebene sozialer Systeme (vgl. Coleman 1986/2000, S. 62). Es gehe deshalb darum, die „Entfremdung von Sozialtheorie und Sozialforschung“ zu überwinden und Möglichkeiten „produktiver Theoriebildung und theoriefördernder Forschung“ (ebd., S. 80) zu erkunden. Hinsichtlich der gegenwärtigen Entfremdung von Bildungstheorie und Bildungsforschung finden sich also in der Soziologie durchaus strukturanaloge Defizitanalysen sowie konstruktive Vermittlungsversuche, die auch in der Erziehungswissenschaft genauere Aufmerksamkeit verdienen würden. Auch für Jeffrey Alexander hat der Siegeszug der empirischen Sozialforschung durchaus eine problematische Kehrseite. Zwar gebe es kaum noch erklärte Positivisten, zumindest nicht unter den intelligenteren Soziologen, aber eine positivistische Grundhaltung bestimme nichtsdestotrotz die Forschungspraxis in der Soziologie (vgl. Alexander 1982, S. 5). Das Resultat sei eine Verkümmerung der soziologischen Einbildungskraft, mit schädlichen Wirkungen für Theorie und Empirie. Aus Angst vor „Spekulation“ blieben Generalisierungen meist auf der Ebene von Korrelationsanalysen stehen, die der Atomisierung des wissenschaftlichen Wissens keine Syntheseleistung entgegenzusetzen hätten (vgl. ebd., S. 9). In wissenschaftshistorischer Perspektive zeige sich zudem, dass es zu grundlegenden Veränderungen in den Wissenschaften nicht allein durch neue empirische Befunde komme. „Fundamental shifts in scientific beliefs occur only when empirical changes are matched by the availability of alternative theoretical commitments.” (ebd., S. 32) Vor diesem Hintergrund kann bezweifelt werden, ob die Konjunktur empirischer Bildungsforschung – jenseits der mit ihr verbundenen Machtverschiebungen – tatsächlich auch zu einem nachhaltigen Wandel überkommener Denkmuster in der Erziehungswissenschaft führen wird. Dies ist nicht allein Schuld der Bildungsforschung, sondern ebenso der Bildungstheorie, die es vielfach versäumt hat, alternative
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Denkmuster zu entwickeln. Jedenfalls könnte eine lediglich nachholende forschungsmethodische Modernisierung der Erziehungswissenschaft folgenlos bleiben, wenn sie nicht von theoretischen Neubeschreibungen ihres Gegenstands begleitet und kritisch herausgefordert wird. Dies lässt sich am Versuch einer „realistischen Wendung“ der Erziehungswissenschaft studieren, der die Erziehungswissenschaft zwar forschungsmethodisch auf die Höhe der Zeit bringen wollte, theoretisch aber höchst traditionell Erziehung weiterhin als Prozess der Einwirkung gefasst hat. Schließen möchte ich mit einem kurzen Hinweis auf ein Forschungsprojekt über Nebenfolgen Neuer Steuerung im Schulsystem, das ich gemeinsam mit dem Bildungsökonomen Manfred Weiß auf den Weg gebracht habe und das ebenfalls als ein Beitrag zu einer theorieorientierten Bildungsforschung verstanden werden kann. Das Projekt geht davon aus, dass die gegenwärtig verbreiteten Instrumente von Output- und Wettbewerbssteuerung nicht nur ihre manifesten Funktionen häufig nicht erreichen, sondern darüber hinaus zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen sowie latente Funktionen haben, die zu einer durchgreifenden Neukonfiguration des pädagogischen Feldes führen (vgl. Bellmann/Weiß 2009). Die leitende These ist also, dass sich die neuen Steuerungsinstrumente gegenüber dem Objekt der Steuerung nicht neutral verhalten, d. h. es wird nicht einfach das, was bislang und herkömmlicherweise unter schulischer Bildung verstanden wurde, effizienter, sondern unter dem Einfluss dieser Steuerungsinstrumente verändert sich zugleich das Leistungsspektrum von Schulen sowie das Verständnis schulischer Bildung und ihrer Aufgaben. Die kritische Rekonstruktion der sich im Rahmen Neuer Steuerung vollziehenden Modularisierung (vgl. Frey/Osterloh 2006) und Neudefinition öffentlicher Bildung kann insofern ebenfalls als ein Beitrag theorieorientierter Bildungsforschung verstanden werden. Die Fruchtbarkeit dieser Forschungsperspektive für die Theorie des Pädagogischen in modernen Gesellschaften wird deutlich, wenn man sie mit Forschungsperspektiven vergleicht, die sich auf die manifesten Funktionen bildungspolitischer oder pädagogischer Praxis beschränken. Deren Aufgabe besteht vor allem darin, empirische „Evidenz“ hinsichtlich der Frage zu beschaffen, ob und in welchem Grade eine Reform ihre erklärten Zwecke tatsächlich erreicht. Unbestritten ist dies eine notwendige und bleibende Aufgabe der Forschung. Von einer Bildungsforschung, die sich freilich auf solche Evaluationsdienstleistungen beschränkt, sind kaum Anstöße zur Weiterentwicklung der Theorie zu erwarten. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam schon Robert Merton (1957/1995) im Blick auf die Aufgaben des Soziologen: „Befaßt er sich in erster Linie mit dem Bereich der manifesten Funktionen und ist es sein Hauptproblem, ob es den bewusst eingeführten Praktiken oder Organisationen gelingt, ihre Ziele zu erreichen, verkehrt sich der Soziologe
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in einen emsig-fachkundigen Aufzeichner eines insgesamt vertrauten Verhaltensmusters. Die Kriterien der Bewertung sind festgelegt und begrenzt durch die Frage, die ihm die nicht-theoretischen Männer der Tat gestellt haben“ (ebd., S. 63). Mertons 1957 formulierte Warnung vor einer auf manifeste Funktionen und technologische Probleme enggeführten sozialwissenschaftlichen Forschung scheint auch heute noch aktuell. Sie könnte dazu Anlass geben, Bildungsforschung und Bildungstheorie in ein kritisch-konstruktives Verhältnis zu setzen, aus dem sich für beide Seiten eine produktive Dynamik ergeben kann. Die empirische Bildungsforschung könnte jenseits der Beschäftigung mit manifesten Funktionen und technologischen Problemen interessante Forschungsfragen entdecken, die die nichttheoretischen Männer und Frauen der Tat in der Regel nicht stellen. Umgekehrt könnte die Allgemeine Erziehungswissenschaft ebenfalls gewinnen, wenn sie sich stärker auf eine theorieakzentuierte Forschung einlässt. Der Ertrag bestünde zwar nicht in einem „Wissen für Handeln“, wie es Reflexionstheorie und Sozialtechnologie versprechen, aber in neuen Perspektiven für die Weiterentwicklung einer Theorie des Pädagogischen in modernen Gesellschaften.
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Evidenz als Basis für Bildungsforschung und Bildungspolitik
Evidenzbasierte Pädagogik ohne historische und vergleichende Kontexte? Fragen und Befunde der Wissenschaftsforschung der Erziehungswissenschaft Edwin Keiner
Der Begriff der Evidenz hat im Deutschen eine spezifische Konnotation. Er wird – so der Wortschatz der Universität Leipzig – der Erkenntnistheorie und Logik zugeordnet und bezeichnet ‚völlige Klarheit‘. Seine Synonyme sind Deutlichkeit, Eindeutigkeit, Klarheit, Unmissverständlichkeit. Zu den Dornseiffschen Bedeutungsgruppen zählen: Abrundung, Anschaulichkeit, Deutlichkeit, Direktheit, Eindeutigkeit, Evidenz, Exaktheit, Klarheit, Kraft, Lebendigkeit, Nachdruck, Offenheit, Rationalität, Sachlichkeit, Verständlichkeit. Der Wortschatz-Graph zeigt, dass der Begriff Evidenz mit Forschung, Glauben und Wirken zusammenhängt. Im Englischen hat der Begriff ‚evidence‘ einen breiten semantischen Hof; er ist belegt durch Begriffe wie Anhaltspunkt, Aussage, Beleg, Beweisführung, -material, -mittel, Hinweis, Nachweis, Zeugenaussage, Zeugnis, Beweis, Indiz – auch im juristischen Sinne. ‚Science-evidence‘ meint wissenschaftsbasiert, wissenschaftlich begründet (zum Begriff vgl. auch Jornitz 2008, 2009). Das Konzept der ‚evidence-based research‘ entstammt dem medizinischen Diskurs der 1950er Jahre und bezeichnet eine Form der anwendungsorientierten Forschung, die direkt auf die Heilung von Krankheit zielt. Diese Form der Forschung musste also nicht nur ihre Anwendbarkeit zeigen, sondern zugleich auch die prognostizierte Wirkung nachweisen können. Kausalität und Prognose regieren demnach dieses Programm. Blickt man genauer auf die Verwendung des Begriffs ‚evidence-based‘ im erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Diskurs des angloamerikanischen Sprachraums, dann findet man – so eine Schlagwort- und Titel-Recherche in der Datenbank ERIC – eine zunehmende Verwendung dieses Begriffs seit Mitte/Ende der 1990er Jahre. Und auch in der vor einigen Jahren erschienenen Edition von Martyn Hammersley (2007) zu „Educational Research and Evidence-based Practice“ sind J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Artikel wiederabgedruckt, von denen sechs vor 1995, 12 nach 1995 erschienen sind. Die zunehmende Nutzung dieses Begriffs geht wohl einher mit transnationalen Standardisierungen, etwa der ISCED, die erstmals die Voraussetzungen für länderübergreifende standardisierte Erhebungen und dann auch vergleichende Untersuchungen geliefert haben; die Rolle der OECD ist dabei kaum zu überschätzen. Seine Verwendung ist aber wohl auch getragen von der fortschreitenden Dissemination einer Modernisierungssemantik, die im Wissenschafts- und akademischen Ausbildungssystem selbst gepflegt und durch internationale Netzwerke sozial- und erziehungswissenschaftlicher Kommunikation und Publikation abgestützt wird (vgl. Schriewer 1994, 2004). 1. Evidence-based: research – practice – policy Die Recherche in der Datenbank ERIC, die den englischsprachigen erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Forschungsraum erschließt, zeigt interessante Befunde. ‚Evidence-based‘ ist zunächst weniger mit ‚research‘, sondern besonders stark mit ‚practice‘ assoziiert. Es geht also häufig um ‚evidence-based practice‘, sogar um ‚evidence-based teaching‘ oder um ‚evidenzbasierte Bildungspolitik‘, also eine pädagogische bzw. politische Praxis, die gesichertes wissenschaftliches Wissen bereits voraussetzt. (vgl. etwa Hammersley 2007; Groark 2007; Rebore et al. 2007; Haager et al. 2007; Weiß 2006; Petty 2006; Moran 2004). Ein Buchtitel „Becoming an evidence-based practitioner. A framework for teacher-researchers” (MacNamara 2002) indiziert dann, dass ‚evidence-based practice‘ auch als Aufforderung zu einem wissenschaftlich orientierten, pädagogischen Handeln – auch im Medium etwa einer Lehrerfort- und -weiterbildung – gesehen wird. Es ist eine Formel, die in Deutschland unter dem Titel der „Verwissenschaftlichung” pädagogischer Berufe oder dem des „wissenschaftlich ausgebildeten Praktikers“ (Lüders 1989) bekannt geworden ist. Während ‚evidence-based research and practice‘ im angelsächsischen Raum dann – gestützt auf eine spezifische Wissenschaftskultur (s. u.) – eng an die Felder pädagogischer Praxis und ihre Handlungsprobleme und -bedarfe geknüpft wird, richtet sich die deutsche Variante der Verwissenschaftlichung pädagogischer Berufe – ganz im Einklang mit der Bedeutung des deutschen Berechtigungswesens (vgl. Müller 1977) – an Ausbildung und Studiengänge. Eine neue, interessante Dynamik erhält dieser Prozess gegenwärtig durch die Versuche, einen europäischen bzw. deutschen Qualifikationsrahmen zu entwickeln und durchzusetzen. Diese Versuche stehen im Kontext fortschreitender, vergleichsorientierter Standardisierungen von Bildungsgängen und implizieren – gerade im Blick auf Evaluation, Erfolgsmessung und Qualitätssicherung – ein Wissenschafts-
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modell, das ‚evidence-based research and practice‘ besonders nahesteht. Im Dezember 2004 beschlossen die Bildungsminister aus 32 europäischen Staaten im Rahmen des Maastricht-Kommuniqués einen solchen Qualifikationsrahmen mit dem Ziel, ein Bezugs- und Übersetzungssystems für das Niveau von Qualifikationen und Bildungsgängen zu schaffen, das Transparenz und Vergleichbarkeit von Kompetenzen und Qualifikationen in Europa sicherstellen soll. Bis 2010 soll der Europäische Qualifikationsrahmen durch nationale Regelungen, die die Spezifik der jeweiligen Bildungssysteme anpassen, ergänzt werden (vgl. Bartosch 2010; Keiner 2010a). Die Diskussion zu Qualifikationsrahmen zentriert sich um zwei Schlüsselkonzepte, die berufsbezogene Qualifikationen neu definieren und diese so stufen sollen, dass sie ihre – bislang weitgehend über das Berechtigungswesen bestimmte – Statik und Erwartungsgewissheit verlieren. Es ist zum einen die Umstellung von einer disziplinorientierten und wissensbasierten Ausbildung auf ein Kompetenzkonzept, und es ist zum anderen der Bezug auf das lebenslange Lernen, das den einmal durch Zertifikate erworbenen Status durch rollende Selbstreform verflüssigen und zur permanenten Steigerung animieren soll (vgl. Pongratz 2008). Das Kompetenzkonzept schließt auf der einen Seite eng an praxisnahe Studienstrukturen an (vgl. auch Müller 2009), die den handlungspraktischen Berufsbezug sicherstellen sollen. Auf der anderen Seite stellt dieses Kompetenzkonzept die – selbst schon fragile – disziplinäre Ordnung der Erziehungswissenschaft, wie sie sich auch in Kerncurricula ausdrückt, auf den Prüfstand. Es stellt aber auch das traditionelle deutsche ‚Berechtigungssystem‘, das gerade für staats-, land- und kommunalnahe Berufe (wie die Mehrzahl der schulischen und außerschulischen Lehr- und pädagogischen Berufe) über Ausbildungsdauer, Zertifikate und entsprechende Tarifverträge abgesichert ist, in Frage und verflüssigt die Geltung erworbener Qualifikationen zur Erwartung an immer neu zu erwerbende, den jeweiligen Bedarfen der Praxis angepasste Kompetenzen und variable Kompetenzprofile. Disziplinäre, systematisch und historisch begründete – und damit zugleich auch verallgemeinerte, erfahrungsfernere – Wissensbestände werden damit geringer gewertet als erfahrungsnahe, feld- und berufsbezogene Wissens-, Handlungs- und Reflexionsformen, die sich aus den konkreten Erfordernissen der Praxis und der professionellen Aufgabe ableiten lassen. Damit wird auch sichtbar, dass dieses Kompetenzkonzept mit dem bereits erwähnten angloamerikanischen Wissenschaftsmodell verknüpft ist, das eine pragmatische, feld- bzw. professionsbezogene Spezialisierung bevorzugt. Dieses Modell folgt durchaus disziplinären Ordnungen, jedoch in Form einer undogmatischen Arbeitsteilung und ohne aufwändige metatheoretische Begründungen und Rechtfertigungen. Es richtet sich in erster Linie auf den Wissens- und Ausbildungsbedarf der Professionen. Vor diesem Hintergrund wird dann auch besonders empi-
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rische evidenzbasierte Forschung und ihre Bedeutung für die Lösung sozialer und pädagogischer Probleme betont. Die ‚Verwissenschaftlichung‘ pädagogischer Berufe, einst an das disziplinäre Modell deutscher Erziehungswissenschaft gebunden, verwandelt sich im Kontext der genannten Prozesse zu einer verstärkt professions- und feldspezifischen Kompetenzprofilierung, die die wissenschaftliche Basis der Bearbeitung und Lösung je gegenwärtiger pädagogischer Probleme vermehrt aus dem Prinzip des ‚evidence-based research‘ und der ‚evidence-based practice‘ bezieht. Vor diesem Hintergrund wird man erneut betonen müssen, dass die strikte Unterscheidung von forschenden und publizierenden Rollen (Universität) und reflektierenden und handelnden Rollen (pädagogische Praxis), von Disziplin und Profession, die sozialen Strukturen und ihnen assoziierte Wissensformen in eine spezifische Beziehung setzt (vgl. Keiner 2002a, 2011; Vogel 1997, 1999), von deutscher Wissenschaftskultur geprägt ist. Im angloamerikanischen Raum und in Ländern, die der Tradition pragmatischer, feldbzw. professionsbezogener Problembearbeitung folgen, ist diese Trennung nicht so deutlich ausgeprägt. Education ‚research‘, ‚practice‘ and ‚policy‘ verbinden sich zu einem Amalgam, das stark an meliorisierenden Visionen und Missionen orientiert ist (vgl. Lawn/Keiner 2006, Vincent-Lancrin 2006; Wickham/Collins 2006; in kritisch-reflektierender Perspektive Lawn/Furlong 2010). Dies zeigen nicht nur Diskussionen z. B. innerhalb der European Association of Educational Research bzw. ihrer jährlichen ‚European Conference on Educational Research‘, bei der sich manche wechselseitigen Miss- bzw. Unverständnisse auf kaum begrifflich reflektierte, wissenschaftskulturell geprägte Unterscheidungen und Denkgewohnheiten zurückführen lassen. Dies zeigt sich auch in den Erwartungen transnationaler Körperschaften, die selbst dominant feld- bzw. professionsbezogenen, meliorativen Missionen verpflichtet sind. So fordert z. B. der OECD-Report über die erziehungswissenschaftliche Forschung in England explizit, die Forschungsressourcen und Kapazitäten der Lehrerinnen und Lehrer zur Generierung von wissenschaftlichem Wissen und zur zielgerichteten Optimierung pädagogischen Handelns stärker zu nutzen (vgl. OECD 2002; Keiner 2004, 2005, 2006; vgl. auch Radtke 2003). In den Niederlanden wird das Konzept der „practitioner research“ jüngst sogar von einer explizit wissenstheoretischen Perspektive aus diskutiert (vgl. Lunenberg/Ponte/Van De Ven 2007), die die Geltung und den Wert des Wissens der Praxis betont. Das Verhältnis von praxisbezogenen und forschungsbezogen Rollen zeigt sich schließlich auch in der Mitgliedschaft nationaler erziehungswissenschaftlicher Fachgesellschaften. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) ist m. W. die einzige erziehungswissenschaftliche Fachgesellschaft Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt, in der das wissenschaftlich-disziplinäre Gesellenstück, die
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Promotion, als Voraussetzung einer ordentlichen Mitgliedschaft gilt. Anderorts sind wie selbstverständlich auch LehrerInnen, InspektorInnen, VertreterInnen der Bildungsadministration und HochschullehrerInnen (auch anderer Fächer), z. B. in der British Educational Research Association (BERA), organisiert (vgl. Lawn/Rees 2007; Lawn/Furlong 2007; Humes 2007; Furlong/Lawn 2010). Damit zeigt sich ein deutlicher Kontrast zwischen einer nur schwach disziplinären und universitär-organisatorischen Bindung erziehungswissenschaftlicher Forschung und einer starken Verankerung im pädagogischen Feld im angloamerikanischen Raum auf der einen und einer starken universitär-disziplinären Bindung der Forschung und auf Differenz zur Praxis bedachten Wissensform in Deutschland auf der anderen Seite. In der Tradition deutscher geisteswissenschaftlicher bzw. kritischer Pädagogik wird das Verhältnis von Theorie und Praxis über gesellschaftskritischen Impetus, kontinuierende ‚Reflexionen im Erziehungssystem‘ (vgl. Luhmann/Schorr 1979/1988) und die Stilisierung ihrer engen Verbindung modo praktischer Wissenschaft bzw. verwissenschaftlichter Praxis gestiftet. Im angloamerikanischen Wissenschaftsparadigma hingegen übernimmt u. a. ‚evidence-based research‘ den pragmatischen Brückenschlag zwischen pädagogischer Theorie und Praxis. ‚Evidence-based research‘ in diesem Sinne ist also – sieht man von methodologischstatistischen Spezialitäten (vgl. Taper 2004) ab – ohne den Aspekt ihrer praktischen Verwertung kaum zu denken. Die Verwertung wissenschaftlichen Wissens zur Verbesserung der pädagogischen Praxis gehört konstitutiv zum Begriff – und das erst einmal ohne jeden pejorativen Beigeschmack. In Frage steht indes, wer die Diagnose der Qualität des Ist-Zustandes und die Kriterien für das gesollte ‚Bessere‘ definiert. Schon die Diskussionen um Schulentwicklung lassen sich beschreiben als „ein gigantisches semantisches Ringen um die immer gleiche Frage, wer die Definitionsmacht über die Probleme und Aufgaben erlangt oder behält, die sich dem Bildungssystem heute und in der absehbaren Zukunft stellen“ (Radtke 1997, S. 278). Auch aus wissenschaftsforschendem Blick geht es deshalb bei der Frage nach der ‚evidence-based research‘ um die Analyse derjenigen Instanzen und politischpädagogisch lizensierten Wissenformen, die die entsprechende Definitionsmacht beanspruchen und sie auch durchsetzen können. Instruktive Beispiele hierfür sind das EERJ Roundtable zu „Evidence and Policy Research“ (Schuller u. a. 2006) sowie die Kontroverse zwischen Slavin (2008) und Bridges (2008) über ‚evidencebased reform in education‘. Bildungspolitik, Bildungsverwaltung, aber auch forschungsgestützte Bildungsberatung haben hohes Interesse an praxisbezogener und wertgebundener Optimierungsforschung (vgl. auch Dedering 2009). Vor diesem Hintergrund ist zunächst auf ein Forschungsdesiderat in Bezug auf Instanzen und Institutionen hinzuweisen,
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die Forschung und Politik sowie Forschung und Praxis vermitteln: Die Rolle der ländereigenen pädagogischen Staatsinstitute oder eines wachsenden ‚freien‘ Marktes der Produktion, Rezeption und Distribution erziehungswissenschaftlichen Wissens ist ebenso wenig systematisch untersucht wie die Implementations- und Vermittlungsleistungen z. B. derjenigen länderspezifischen Einrichtungen, die die zweite Phase der Lehrerbildung sowie Lehrerfort- und -weiterbildung verantworten. Lokale oder regionale Bildungspolitik ist aber gegenwärtig kaum mehr möglich. Der internationale Druck, der auch auf nationalen Politiken lastet, ist erheblich. Formen der Wissensverarbeitung, Homogenisierung und Steuerung sowie der Legitimationsstrategien haben globales Niveau erreicht (vgl. Ozga/Seddon/Popkewitz 2006) – sogar von „internationaler Evidenz“ ist dann die Rede (Wößmann 2006, S. 425). Es ist freilich darauf hinzuweisen, dass dabei – ähnlich den wissenschaftskulturellen Verschränkungen von Forschung und Politik – auch der Politik-Begriff unscharf wird. Der ‚Druck‘ selbst ist nicht notwendig nur ein politisch induziertes, sondern auch eine Art autopoietisch-emergentes Phänomen einer neuen ‚managerialen‘ Elite. Vertreter dieser Elite sind mittlerweile so selbstbewusst, dass sie es sich erlauben können, öffentlich davon zu sprechen, sie setzten selbstverständlich Forschungsgelder ein, um sich die Loyalität von Professoren z. B. für die Implementierung und Umsetzung gewünschter Maßnahmen zu sichern (so Äußerungen im Rahmen einer Tagung des European Education Policy Network, Brüssel/Leuven 2007; vgl. auch Hijden 2009). Auch für die OECD gehört die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik zum Kernstück ihres Programms. Das Centre for Educational Research and Innovation (CERI), eine Unterabteilung der OECD, hat jüngst einen Sammelband über „Evidence in Education. Linking Research and Policy“ (Burns 2007) herausgegeben, dessen Programm als exemplarisch für die Beschreibung der Ausgangslage und die Erwartungen, die an das Verhältnis von Politik und Wissenschaft gestellt werden, gelten kann: „Education policies and systems in all OECD countries are coming under increasing pressure to show greater accountability and effectiveness. However, the information readily available for policy-making is often unsuitable, either because the rigorous research required for policy needs has not been conducted, or because the research that is available is contradictory and does not suggest a single course of action. It is crucial that educational policy decisions are made based on the best evidence possible. [This book] brings together international experts on evidence-informed policy in education from a wide range of OECD countries. The report looks at the issues facing educational policy makers, researchers, and stakeholders – teachers, media, parents – in using evidence to best effect. It focuses on the challenge of effective brokering between policy makers and researchers, offers
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specific examples of major policy-related research, and presents perspectives from several senior politicians. This book provides a fresh outlook on key issues facing policy makers, researchers and school leaders today” (ebd.). Bildungspolitik, Bildungsforschung, pädagogische Praxis und alle am Bildungswesen und an Bildungsprozessen beteiligten Personen sollen zusammenkommen, um die großen Bildungsfragen der Gegenwart zu bearbeiten, so die romantische Vorstellung. Sollte man von Pädagogisierung sprechen? Oder von Bewegungen neuer Reformpädagogik im Kontext eines quasi-theologisch überformten Demokratieverständnisses? 2. Transformationen von Forschung oder ‚Wiederkehr des immer Gleichen‘? Zuweilen bietet der historische Rückblick die beruhigende Überraschung, dass gegenwärtig fast mit missionarischem Eifer, zumindest mit hohem Dringlichkeitsund Aufforderungscharakter vorgetragene ‚Herausforderungen‘ sowohl in ihrem Duktus wie ihrem Inhalt nach gar nicht neu sind. Die engagierten Aufgeregtheiten verwandeln sich dann gemächlich in distanzierte Gelassenheiten. Ich möchte deshalb dem eben skizzierten Programm von CERI/OECD die Kernaussagen eines Buches gegenüberstellen, das knapp zwanzig Jahre vorher erschienen und von der UNESCO/OECD herausgegeben worden ist. Es spricht (noch) nicht von ‚evidence‘, sondern – ganz im Glauben an die Berechenbarkeit der pädagogischen Welt – von ‚data-informed decision-making‘ (vgl. Ross/Mählck 1990). „Good decisions are informed decisions“ (ebd., S. 65). Mit diesem Credo vertritt das Buch eine der großen Versprechungen moderner, okzidentaler Rationalität, und man kann diesen Band durchaus verstehen als einen programmatischen Beitrag, diese Versprechungen im Feld der Erziehung praktisch werden zu lassen. „Planning the quality of education through informed decision-making requires the availability of accurate and timely information that links together resource inputs to education, teaching-learning conditions and processes, and appropriate indicators of the knowledge, skills and values, acquired by students“ (ebd., S. 3). Ähnlich dem Band von 2007 wird auch hier Erziehungswissenschaft bzw. educational research als diejenige Instanz adressiert, deren Aufgabe es ist, zuverlässige Informationen bereitzustellen, die für politische Entscheidungen genutzt werden können. Der gesamte Band befasst sich nun überwiegend damit, diesen Informationsbedarf zu beschreiben, zu strukturieren, und Vorschläge zur Etablierung einer weltweiten Datenbank zu diskutieren. Sieht man genauer hin, dann entdeckt man, dass die beabsichtigte enge Verknüpfung erziehungswissenschaftlicher Forschung und Politik beziehungsweise
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Bildungsverwaltung nicht so sehr auf der Annahme aufruht, dass gute Entscheidungen auch informierte Entscheidungen seien, sondern dass, umgekehrt, nur informierte Entscheidungen gute Entscheidungen seien. Und mehr: dass die Qualität von Entscheidungen direkt proportional zur Menge an verfügbarer Information wachse. ‚Evidenz‘ in diesem Sinne wird somit nun zu einem Kriterium, über dessen Definition die Datenbankbetreiber und ‚information broker‘ bestimmen. Es ist dann nur konsequent, wenn die damit verbundene ‚Selbstermächtigung‘ durch eine Verschiebung des Forschungsbegriffs erreicht wird. Die informationserzeugende, antwortende ‚Forschung‘ wird höher gewichtet als die methodisch limitierte, fragende Forschung. In beiden Büchern findet man deshalb auch das Misstrauen gegenüber erziehungswissenschaftlicher Forschung, die an Universitäten durchgeführt wird. Sie widerspreche sich häufig, sei unzuverlässig und werfe mehr Fragen auf, als sie Antworten geben könne. Worauf es aber ankomme, seien die Antworten. Auch informationserzeugende, evidenzbasierte Forschung bedarf freilich der Legitimation der ‚Evidenz‘ durch Methode, die die Wissenschaftlichkeit der Informationsgenerierung und die Reliabilität und Validität der Daten und der Instrumente garantiert. Die Relevanz der Ergebnisse gründet aber – eine gemeinsame Mission vorausgesetzt – nicht in erster Linie auf einer reflektierten Methodologie empirischer Forschung, sondern auf dem runden Tisch, auf Netzwerken, auf Interaktion und Kommunikation, auf dem Status der/des ExpertIn und ihrer/seiner Expertise. Themen der Methodologie, Gegenstandskonstitution und Wissenschaftstheorie werden reduziert auf Instrumente und Techniken der Erhebung, Auswertung und statistischen Manipulation von Daten. Diese in der Regel ausgefeilten Instrumente und Techniken erzeugen und bedienen den ‚Gold-Standard‘ sozial- und humanwissenschaftlicher empirischer Forschung. Die Interpretation der Daten und daraus abzuleitende Empfehlungen erfolgen im Blick auf Verwertungsbedarfe, zumindest im Blick auf den ‚runden Tisch‘. Gerade im Kontext von Netzwerkkonzepten und der Vorstellung von ‚runden Tischen‘ aller an Problemlösung und -bearbeitung Beteiligten gewinnen ‚evidencebased research and practice‘ besondere Bedeutung. Solche Vorstellungen scheinen flexible, sachnahe und lösungsorientierte Strategien des Umgangs mit komplexen Problemlagen zu bieten, gerade weil sie systemübergreifende Kommunikation versprechen, die unterschiedliche und auch widersprüchliche Referenzkontexte zu integrieren vermag. Sie beziehen ihre Legitimität weniger aus den spezifischen Funktionen und Leistungen, wie sie im Prozess der Systembildung ausdifferenziert und in Bezug auf unterschiedliche Mediencodes reguliert werden, sondern gerade aus der entdifferenzierenden Amalgamierung unterschiedlicher Systemkontexte und deren Funktionsprämissen. Das für das Wissenschaftssystem geltende, epistemolo-
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gisch oder systemtheoretisch als ‚Mediencode‘ bestimmte Regulationskonzept ‚Wahrheit‘ wird – z. B. über den ‚runden Tisch‘ – verbunden mit den Regulativen Entscheidung und Steuerung, die Politik und Administration kennzeichnen. Das verbindende Konzept ist aufgabenzentriertes und sozial bestimmtes ‚Vertrauen‘. Solche Formen von Netzwerken gründen nicht auf der Differenz von Wissensformen und ihren Bezugskontexten, sondern auf integrativen Überlappungen und dynamisch koordinierbaren Übereinstimmungen, auf Angebots- und Nachfrageorientierung, auf Dienstleistung und Beratung. Sie stellen sich dar als organische Gebilde effizienzorientierter, fluider und komplexer Homogenität, zuweilen mit ‚romantischem‘ Touch, und können deshalb für eine Vielfalt ‚externer‘ Erwartungen und Zwecke genutzt werden (vgl. Keiner 2002b). Als Beispiel für ein solches Amalgam von Forschung, Dienstleistung, Politik, Beratung etc. als ‚evidenzbasierte Bildungspolitik‘ kann eine Fachtagung gelten, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung zusammen mit dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 im Arabella Sheraton Congress Hotel in Frankfurt durchgeführt haben. „Wissen für Handeln – Forschungsstrategien für eine evidenzbasierte Bildungspolitik“ lautete das Rahmenthema. In dem illustren, handverlesenen Kreis der 17 Beitragenden findet man gerade vier Personen (davon zwei in der Rolle des Moderators) aus Universitäten oder universitätsnahen Institutionen. Die Workshops lauteten: Bildung von Wissen – Dissemination von Wissen – Anwendung von Wissen – Design von Forschungs- und Evaluationsstrategien. Solch ein ‚runder Tisch‘ wie auch die Wahl des Kongressortes indizieren eine spezifische Form des Wissens und seines sozialen Substrats, dessen Systemreferenzen unklar werden (vgl. BMBF 2008). Solche unklaren Systemreferenzen kennzeichnen auch die Annahmen und Hoffnungen eines mehr oder weniger bruchlosen Transfers von wissenschaftspolitischer Forschungssteuerung zu erziehungswissenschaftlicher Forschung, weiter zur pädagogischen Praxis und zurück, die ‚evidence-based research‘ zu Grunde liegen. Diese Hoffnungen hatten schon die großen pädagogischen Reformen der 1960er und 1970er Jahre begleitet, über deren Scheitern – gemessen an ihren Zielen – wir mittlerweile ebenso informiert sind (vgl. Leschinsky/Mayer 1999) wie über den reflexiven Beitrag der Erziehungswissenschaft im Rahmen der Verwendungsforschung (vgl. Keiner 2002c). Allerdings hat sich der Kontext geändert. An die Stelle der Wissenschafts- und Bildungseuphorie der 1960er und 1970er Jahre sind die Skepsis gegenüber wissenschaftlichem Wissen und die Kosten-Nutzen-Rechnungen getreten – mit neuen Dilemmata. So führen auf der einen Seite Zweifel an der Effizienz und Zielangemessenheit der wissenschaftsinternen Selbststeuerungskapazität zu Forderungen nach mehr Wettbe-
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werb, Profilbildung, Schwerpunktbildung, Qualitätssicherung, Evaluation und kontinuierlicher Leistungsberichterstattung (vgl. Hornbostel/Keiner 2002, S. 635). Auf der anderen Seite erzeugen neue, output-orientierte Steuerungsimperative einen steigenden Bedarf an zuverlässiger Information, die für ‚Gewissheiten‘ angesichts strukturell ungewisser Folgen von Entscheidungen sorgen sollen. Von hier aus ist z. B. die starke Nachfrage nach möglichst quantitativen, d. h. ‚berechenbaren‘ Daten motiviert, die ‚evidence-based research‘ zu liefern bereit ist und die – unbeschadet aller feldspezifischen Probleme – vermehrt von Politik und Verwaltung rezipiert werden (vgl. Dedering 2009). Unterschätzt wird dabei aber die wissenstheoretische Differenz zwischen dekontextualisierter Information und begrenztem, kontextgebundenem, d. h. theorie- und methodenreflexivem wissenschaftlichen Wissen, seinen begrifflichen und konzeptionellen Variationen und der Abhängigkeit des Forschungswissens von theoretischen und methodischen Voraussetzungen. Diese Unterschätzung hat aber selbst ihre Funktion. Sie erweist sich als eine – schon klassische – politische Strategie der Entlastung, die die Funktion politischen Handelns, nämlich Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit nach demokratischen Verfahrensregeln zu fällen und dadurch Komplexität zu verringern, durch Verweis auf das Reputationskapital ‚der Wissenschaft‘ verschieben und der politischen Zurechenbarkeit entziehen möchte. Damit verschwindet aber die mögliche und für Innovation und Reform notwendige aufklärende Distanzierung durch Forschung, Analyse und Kritik. An ihre Stelle tritt das Amalgam systematisch inkompatibler Wissensformen und -formate unter bildungs- und wissenschaftspolitischen Relevanzprämissen. Man wird freilich einräumen müssen, dass die Erziehungswissenschaft in Deutschland selbst einiges dazu beitragen, dieses Amalgam normativ aufgeladener, inkompatibler Wissensformen bereitzustellen. Erziehungswissenschaft ist in hohem Maße bereit, unterschiedliche Wissensformen und extern definierte Themenstellungen in sich aufzunehmen und zu verarbeiten (vgl. Stroß/Thiel 1998). Diese Inklusionsbereitschaft erschwert eine Bestimmung und Bewertung von ‚Qualität‘ erziehungswissenschaftlicher Forschung, gemessen an internationalen Standards und Kriterien, die auch den Vergleich zu anderen Disziplinen oder Wissenschaftskulturen ermöglichen. Gegen alle Kritik und Optimierungserwartungen, wird man aber bei genauerer historischer Analyse auch sehen können, dass die Erziehungswissenschaft sich mittlerweile stabil, folgen- und einflussreich an Universitäten und Hochschulen etablieren konnte. Sie hat nach innen wie nach außen systematisch und dauerhaft Gestalt
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und auch Einfluss gewonnen. Für Deutschland haben wir die entsprechenden Befunde zusammengefasst (vgl. Keiner/Tenorth 2007): (1) (2) (3)
Die Erziehungswissenschaft hat Autonomie in der akademischen Selbstreproduktion gewonnen. Die Erziehungswissenschaft reguliert ihre Binnenstruktur und die interne Hierarchisierung inzwischen eindeutig nach disziplininternen Gütekriterien. In der Gegenwart ist die Erziehungswissenschaft für ihre Umwelt auch ein gesuchter, für Fragen der Bildungs- und Erziehungspolitik offenbar unersetzlicher Partner.
Dies indiziert freilich auch einen Prozess der disziplinären Transition. Rüdiger vom Bruch (1980) hat die Handlungsform der deutschen Mandarinkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts als „gouvernementale Interessenpolitik“ bezeichnet, also als eine Form des akademischen Paternalismus (vgl. auch Ringer 1969; Bogdanor 2006). Gegenwärtig beruht aber das Wissen der beteiligten Disziplinen im Bildungsbereich nicht auf Ideologien oder paternalistischen Gelehrtenrollen, sondern auf Forschung, stellt also Expertise dar. Sie hat deswegen auch die konstruktiven Defizite, die dem Forschungswissen immer eigen sind. Funktion und Status, aber auch Wissensform und Logik der Analyse zwischen Politik und Wissenschaft haben sich getrennt. Diese Differenz der Systeme und Differenzierung der Systemreferenzen wird heute vorausgesetzt und nicht – wie in der Mandarinkultur – verwischt. Vor diesem Hintergrund wird aber auch deutlich, dass ‚evidence-based research‘ – gestützt auf Vorstellungen feld- und professionsnaher Wissenschaft und orientiert an der praktischen Verwendung ihres Wissens – hinter diese Differenz der Systeme Wissenschaft und Politik bzw. Erziehung zurückfällt und deren analytische und kritische Potenz verschenkt. Erziehungswissenschaftliche Forschung oder quantitative Bildungsforschung, das sei hier betont, muss keineswegs die Form einer solchen amalgamierungswilligen Form der ‚evidence-based research‘ annehmen. Die Indikatoren ihrer Wissenschaftsförmigkeit und ihrer Qualität bestehen somit im expliziten Ausweis der konstruktiven Defizite und Limitationen, die Forschungswissen strukturell kennzeichnen und von anderen Wissensformen unterscheiden. 3. Historische und vergleichende Aspekte Die bisherigen Überlegungen wären Grund genug für weitere Analysen der Wissensformen und der Forschungssituation in der Erziehungswissenschaft auch in europäisch-vergleichender Perspektive (vgl. Lawn/Keiner 2006; Keiner 2010a; Schriewer
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1994, 2004). In vergleichender und historischer Perspektive kann man nämlich sehen, dass das mit ‚evidence-based research‘ bezeichnete Problem auch auf der Differenz von Wissenschaftskulturen aufruht, die das ‚deutsche Modell‘ als partikulares ausweisen, das aber seine Leistungsfähigkeit in einer sich national dezentrierenden Welt immer wieder neu zeigen sollte. Man könnte insofern die Diskussionen um ‚evidence-based research‘ auch als Auseinandersetzung um und Resistenz gegen wissenschaftskulturellen Konvergenzdruck interpretieren, der die Varianz traditioneller Formen und national begrenzter Kulturen der Produktion, Rezeption und Distribution erziehungswissenschaftlichen Wissens reduziert. Drei unterschiedliche Muster der kognitiven und sozialen Ausgestaltung der Sozial- und Erziehungswissenschaften lassen sich unterscheiden (vgl. Wagner/Wittrock 1991; Wagner 2004; vgl. auch Galtung 1981; Hofstetter/Schneuwly 2001 sowie Keiner/Schriewer 2000). Die folgende Tabelle zeigt ihre Spezifika: (1) das Modell einer fächerübergreifend-umfassenden Sozialwissenschaft (comprehensive social science); (2) das Modell disziplinärer Engführung (formalized disciplinary discourses); (3) das Modell einer pragmatisch feld- bzw. professionsbezogenen Spezialisierung (pragmatically specializing professions). Auch Erziehungswissenschaften sind, wie bereits angesprochen, gegenwärtig einem starken und steigenden Druck von Standardisierungserwartungen in Lehre und Forschung ausgesetzt. In solchen schwierigen Zeiten bieten sich für unterschiedliche Wissenschaftskulturen unterschiedliche Modi der Entlastung an, die durch ihre je historischen Entstehungskontexte bestimmt sind. Das angloamerikanische, pragmatische Modell bietet stets die Möglichkeit, die eigene Relevanz durch erneuten Verweis auf seine Lösungskapazität für praktische und politische Problemstellungen zu begründen. ‚Evidence-based research and practice‘ sind hierfür ein ideales Instrument. Das Teachers College der Columbia University plädiert gar für eine „culture of evidence“ (Smith Morest/Jenkins 2007). Man findet freilich auch erste Gegenbewegungen. Interessant ist, dass gerade Erziehungswissenschaftler aus dem angloamerikanischen Bereich für eine verstärkte disziplinäre Disziplinierung, wissenschaftskulturelle Vereinheitlichung und Stärkung der akademischen Assoziationen plädieren (Feuer/Towne/Shavelson 2005; Furlong/Lawn 2010). In den USA erfolgt die Kritik an der Dominanz von ‚evidencebased research‘ auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das 2001 verabschiedete Gesetz „No child left behind“ Drittmittelausgaben ausschließlich für empirische, evidenzbasierte Forschung zulässt.
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Modell 1: fächerübergreifend-umfassende Orientierung
Modell 2: disziplinäre Orientierung
Modell 3: pragmatisch feld-/professionsbezogene Orientierung
Kulturbezug
französisch
deutsch
angloamerikanisch
allgemeines Profil
für eine theoretisch und empirisch fundierte Soziologie modo Durkheim; gegen einzeldisziplinäre Segmentierung und professionsbezogene Spezialisierung
für eine disziplinäre und systematische Organisation des Wissens; Insistieren auf thematischer, theoretischer und methodischer Eigenständigkeit
für eine undogmatische Arbeitsteilung ohne aufwändige Metatheorie; zielt auf Wissens- und Ausbildungsbedarf der „professions“ sowie die Lösung gesellschaftlicher Probleme
Profil der Pädagogik
Teil einer umfassenden Sozialwissenschaft; Interdisziplinäres, sozialwissenschaftlichtechnologisches Forschungsfach
disziplinäre Eigenständigkeit durch Abgrenzungen: Betonung einer geisteswissenschaftlich inspirierten Hermeneutik und Reflexion
Verbindung von praktischem Erfahrungswissen mit empirischer Forschungsorientierung; Vielfältige und flexible interdisziplinäre und praxisbezogene Anschlüsse
Folgeprobleme
schwache fachlichorganisatorische Institutionalisierung
disziplinäre Grenzziehungen; Theorie-PraxisVerhältnis als Dauerproblem
schwache systematische Ordnung und Begründung; Marktabhängigkeit des Wissens
Entlastungsstrategien
Vernetzung von Problemstellungen und Forschungsaktivitäten mit anderen Disziplinen
weitere disziplinäre Differenzierung
praktische und (bildungs-)politische Problemstellungen und wissenschaftliche Problemlösungskapazitäten
Tabelle: Modelle der kognitiven und sozialen Ausgestaltung der Sozial- und Erziehungswissenschaften
Das interdisziplinäre Modell französischer Erziehungswissenschaft kann sich neben seiner sozialwissenschaftlich-technologischen Forschungsorientierung auf die Vernetzung von Problemstellungen und Forschungsaktivitäten mit anderen Disziplinen stützen. Die Frage der evidenzbasierten Forschung und ihrer praktischen Applikabilität ist weitgehend durch relativ rigide administrative Strukturen und die wissen-
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schaftlichen Reputationshierarchien geregelt. Das Thema ‚evidenzbasierte Forschung‘ spielt hier, soweit ich sehe, kaum eine Rolle. Beide Varianten wissenschaftspolitischer Entlastung – Praxisorientierung oder Interdisziplinarität – werden von der deutschen Erziehungswissenschaft kaum genutzt, sie stehen in einem strikt disziplinären Modell auch nicht zur Verfügung. Was in einem solchen Modell nur bleibt, ist weitere disziplinäre Differenzierung. Diese ist nicht nur innerhalb von Partialpädagogiken, etwa der Sozialpädagogik, zu beobachten, sondern auch auf allgemeiner Ebene, die die Erziehungswissenschaft insgesamt betrifft. Die Unterscheidung von Erziehungswissenschaft, die eine sozialwissenschaftlich aufgeklärte Pädagogik verspricht, und Bildungsforschung (vgl. Tippelt 1998; Fend 1990), die der ‚evidence-based research‘ nahesteht, scheint vor diesem Hintergrund nicht nur eine semantische Verschiebung zu sein. Bildungsforschung lässt sich auch als ein Versuch interpretieren, mit Hilfe des disziplinären Modells die disziplinäre Matrix zu überwinden, um den Anschluss an Forschungsstandards der Sozialwissenschaften und auch an einen europäisch-angloamerikanisch definierten Forschungsraum, der weitgehend nicht dem disziplinären Modell deutscher Erziehungswissenschaft folgt, zu gewinnen. Wenn man vor diesem Hintergrund die Diskussionen um ‚evidence-based research’ auch als Auseinandersetzung um (und zuweilen Resistenz gegen) wissenschaftskulturellen Konvergenzdruck interpretiert, dann empfiehlt es sich gegenwärtig, nicht ‚Lager‘, ‚Schulen‘, ‚Reviere‘ zu verteidigen oder abzugrenzen und neue Paradogmata (vgl. Gloi-Hänsle 2003) zu schaffen. Vielversprechender erscheint es mir – auch unter der Perspektive der Sicherung und Entwicklung der Qualität erziehungswissenschaftlichen Wissens – Arbeitsteilungen, Kooperationen und Vernetzungen zu suchen, die – ganz europäisch – Vielfalt pflegen und diese nicht durch eine Unkultur der Dogmatisierung, Entwertung und Vereinseitigung zerstören. In Zeiten der Krise, so sagt schon der (wissenschafts-)politische Alltagsverstand, schließt man sich eher zusammen. Dieser Zusammenschluss freilich bedarf der Form, die Wissenschaften – und auch die Erziehungswissenschaft – von anderen Systemen unterscheidet und auszeichnet. Sie erzeugen, rezipieren und verbreiten Wissen, das insbesondere durch epistemische Geltungskriterien, durch Methode und Begründung, durch Theorie und Analytik, regulativ bezogen auf ‚Wahrheit‘, Konsistenz und Realgeltung, charakterisiert ist. Sie bewegen sich kommunikativ im Medium von Analyse und Kritik. Nur im Rekurs auf solche Kriterien können sie ihr spezifisches, begrenztes und damit auch bestimmtes Potential in der Relation von Nicht-Wissen und Wissen, Frage und Antwort, Beobachtung und Interpretation, entfalten. Nur unter Beachtung dieser Form, materialisiert in der Publikation, sind sie in der Lage, Variation und Vielfalt des Wissens, auch des Wissens um seine konstruktive Begrenztheit, zu konstituieren.
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Expertenwissen für Bildungsreformen Beziehungen zwischen Bildungsforschung und Bildungspolitik in Schweden und Deutschland Thomas Müller / Florian Waldow
Eine Leitidee der zeitgenössischen internationalen Bildungsreform lautet, die Pädagogik in ein Feld evidenzbasierter Praxis zu verwandeln. Im Kern geht es darum, ein Wissen zu generieren, das nicht nur empirisch fundiert ist, sondern auch anwendbar und veränderungsrelevant. Angesichts dieser Anforderungen überrascht es nicht, dass die entsprechenden Bemühungen im englischsprachigen Raum unter dem Slogan „What works“ firmieren: Was zählt, ist das, was funktioniert und sich zur Verbesserung einer für unzulänglich erachteten Gegenwart eignet. Gesucht wird demnach erstens ein Wissen, das zur Lösung aktueller sozialer bzw. pädagogischer Probleme beitragen kann. Ausgangspunkt für die Anwendung dieses Wissens ist eine Defizit- oder Krisendiagnose, wobei die Krisensituation auf rationaler Grundlage und planmäßig bewältigt werden soll. Eine solche planvolle Veränderung bestehender Zustände bezeichnet man gemeinhin als Reform. Im Unterschied zu Revolutionen ist für Reformen typisch, dass sie im Rahmen und mit den Mitteln der bereits etablierten politischen Ordnung durchgeführt werden sollen, dem radikal Neuen aber meist distanziert gegenüberstehen (vgl. Glotz/Schultze 2009, S. 893). Die Rede von einer „evidenzbasierten Bildungspolitik“ (z. B. BMBF 2008) deutet darauf hin, dass die gegenwärtige Bildungsreform eine wissen(schaft)sbasierte Reform sein soll. Allerdings, und das ist der zweite Aspekt, scheinen Bildungsreformer nicht auf wissenschaftliches Wissen jedweder Art setzen zu wollen, sondern nur auf solches, das sich bereits bewährt hat und sich durch harte Gütekriterien auszeichnet, die seine Veränderungsrelevanz garantieren. In unserem Beitrag möchten wir die Frage diskutieren, ob mit den erwähnten Anforderungen ein neuer Maßstab für Wissenschaft im politischen Kontext formuliert wird. Dabei richten wir den Blick nicht auf die wissenschaftstheoretische Problematik der Wiederkehr positivistischer Dogmen innerhalb der Bildungsforschung (vgl. hierzu den Beitrag von Howe in diesem Band), sondern auf die Beziehungen
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zwischen Bildungsforschung und Bildungspolitik. Um eine Fixierung auf den deutschen Fall und die gegenwärtige Diskussion zu vermeiden, schauen wir zunächst nach Schweden. Schweden ist insofern von Interesse, als man dort nicht erst seit kurzem einen „evidenzbasierten“ Pfad einschlägt, um bildungspolitisches Handeln wissenschaftlich abzustützen. Vielmehr lässt sich für das moderne Schweden seit den 1940er Jahren eine fast schon als symbiotisch zu bezeichnende Beziehung zwischen Bildungspolitik und Bildungsforschung konstatieren. Sie steht in deutlichem Kontrast zu dem Wechselspiel von Nähe und Distanz zwischen beiden Bereichen, das für die alte Bundesrepublik kennzeichnend war. Belegen möchten wir diese Beobachtung, indem wir zunächst auf die Rolle der Bildungsforschung in der schwedischen Schulreform eingehen und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu Reformerfahrungen in der alten Bundesrepublik fragen. Vor dem Hintergrund der historisch-vergleichenden Analyse präzisieren wir dann die systematische Frage nach dem Verhältnis von Bildungsforschung und Bildungspolitik, indem wir den Blick auf unterschiedliche Formen der Politikberatung im Bildungsbereich, auf unterschiedliche Wissensformen sowie auf Transferprobleme richten, die zwischen Wissenschaft und Politik bestehen. Abschließend diskutieren wir, welche Veränderungen in den Beziehungen zwischen Bildungsforschung und Bildungspolitik aus dem Anspruch auf „Evidenzbasierung“ resultieren könnten. Wissensbasierte Bildungsreform: Vergleichende Perspektiven In der gegenwärtigen Bildungsreform geht die Kritik an den Leistungen des Schulsystems häufig einher mit einer Kritik an den Leistungen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Die Defizite von Wissenschaft und Praxis sollen gleichermaßen behoben werden durch einen evidenzbasierten Reformansatz, der auch das Verhältnis von Bildungspolitik und Bildungsforschung auf eine neue Grundlage zu stellen verspricht. Illustrieren lässt sich dies an einem US-amerikanischen Memorandum mit dem Titel „Bringing evidence-driven progress to education“, das die Coalition for Evidence-Based Policy – ein Zusammenschluss von namhaften Bildungspolitikern und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen – im November 2002 publizierte. Diesem Papier zufolge bieten „educational activities backed by ‚scientifically-based research‘ [...] an opportunity to bring rapid, evidence-driven progress – for the first time – to U.S. elementary and secondary education“ (Coalition for Evidence-Based Policy 2002, S. i). Unter „scientifically-based research“ verstehen die Autoren nicht jede Form wissenschaftlichen Empiriebezugs, sondern zuallererst randomisierte kontrollierte Studien nach dem Muster klinischer Experimente. Mit ihrer Hilfe soll die jahrzehntelange Stagnation im Schulsystem überwunden und
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eine neue, wissenschaftlich-rationale Basis für Fortschritt geschaffen werden (vgl. ebd.). Auch andernorts lassen sich Stimmen vernehmen, die nach einem wissenschaftlichen Wissen rufen, das Bildungspolitik und Bildungspraxis gleichermaßen nützt und als Grundlage des Handelns dienen kann (vgl. CERI 2007; BMBF 2008). Etwas anders akzentuiert sind Wortmeldungen aus der schwedischen Bildungspolitik. Zwar greift man auch dort sporadisch die Rede von evidenzbasierter Bildungspolitik auf, doch ein vergleichbarer, auf wissenschaftliche „Evidenz“ rekurrierender Reformelan wie in anderen Ländern ist in Schweden gegenwärtig nur ansatzweise zu erkennen. Woran liegt das? Eine Begründung für die schwedische Zurückhaltung bietet Mats Ekholm (2004), der ehemalige Generaldirektor der nationalen Schulbehörde Skolverket. Er weist darauf hin, dass evidenzbasierte Pädagogik aus schwedischer Sicht nicht unbedingt etwas Neues darstellt: „In Sweden the use of empirical research in relation to policy making has a long history and in several parts of that history the empirical research has had the character of evidence-based research that has had impact on the process of policy making“ (ebd., S. 1). Nimmt man diese Aussage ernst, dann liegt es nahe, genauer zu prüfen, wie empirische Bildungsforschung bildungspolitische Entscheidungen in der Vergangenheit beeinflusst hat. Rationale Grundlagen der Bildungsreform: Sozialtechnologie Die Erwartung, mit Hilfe der Bildungsforschung ließen sich Bildungspolitik und Bildungspraxis auf eine rationale Grundlage stellen, ist bekanntlich nicht erst im Zuge der gegenwärtigen Konjunktur evidenzbasierter Pädagogik entstanden. Sicherlich formulieren die Protagonisten dieses Ansatzes strengere methodische Anforderungen an Forschungsdesigns als viele der als policy- und praxisrelevant deklarierten Untersuchungen früherer Zeiten. Allerdings hat man auch lange vor der gegenwärtigen Welle vielerorts versucht, Bildungspolitik auf wissenschaftlicher Grundlage – „scientifically-based“ – in einer Weise zu betreiben, die den Forderungen der Verfechter evidenzbasierter Pädagogik in mehrfacher Weise entspricht. Ein gutes Beispiel für den Versuch, Bildungsreform auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, stellt die schwedische Gesamtschulreform der 1940er bis 1960er Jahre dar. An allen Phasen dieser Reform waren Bildungsforscher intensiv beteiligt. Die schwedische Bildungsforschung folgte zu dieser Zeit fast ausschließlich einem empirisch-positivistisch ausgerichteten Paradigma der pädagogischen Psychologie, mit gewissen soziologischen Einschlägen. Torsten Husén, eine der Schlüsselfiguren der schwedischen Bildungsforschung wie Bildungsreform, charakterisiert die forschungsmethodische Ausrichtung der schwedischen Bildungsforschung dieser
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Zeit wie folgt: „Experimental design was the ideal, surveys second best, and observational description was regarded as an unsatisfactory substitute“ (Husén 1983a, S. 88). Komplementär zu dieser Ausrichtung der schwedischen Bildungsforschung war die Auffassung vieler schwedischer Bildungspolitiker, die Bildungspolitik solle eine Art Sozialtechnik auf wissenschaftlich-rationaler Grundlage im Rahmen der „sozialen Ingenieurskunst“ darstellen. Unter „sozialer Ingenieurskunst“ (social engineering) kann man den Versuch verstehen, auf wissenschaftlich-rationaler Grundlage eine „vernünftige“ Gesellschaftsordnung zu erzeugen (vgl. Etzemüller 2006, 2010). Erziehung und Bildung nahmen in dieser Konzeption eine zentrale Stellung ein, da die einzelnen Glieder dieser Gesellschaft nicht zu in diesem Sinne „vernünftigem“ Verhalten gezwungen, sondern zu solchem Verhalten erzogen werden sollten (vgl. Hirdman 2000). Von der wissenschaftlich-rationalen Gestaltung von Kücheneinrichtungen bis hin zu Fragen der Schulorganisation sollten mit Hilfe wissenschaftlicher Verfahren „best practices“ ermittelt und umgesetzt werden – auch wenn man diese damals noch nicht so nannte. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang etwa Alva Myrdals Aussage Ende der 1940er Jahre, ob ein Gesamtschulsystem eingeführt werden solle oder nicht, sei eine wissenschaftliche, keine politische Frage (vgl. Lindensjö/Lundgren 2000, S. 48). Allerdings sollte man diese Aussage nicht als Indiz für die besondere Berücksichtigung der Autonomie und Eigenlogik von (sozialwissenschaftlicher) Forschung einerseits und Politik andererseits verstehen. Charakteristisch für das moderne, wohlfahrtsstaatliche Schweden scheint vielmehr eine Funktionssymbiose beider Bereiche in Bezug auf gesellschaftspolitische Fragen gewesen zu sein, die von den Beteiligten nicht grundlegend problematisiert wurde. Auch hinsichtlich der Aufgabenverteilung bestand offenbar kein Dissens: Aus dem Vertrauen in die Problemlösekraft des Staates, das Wissenschaft und Politik teilten, ergab sich für die Politik die Aufgabe, Probleme und Ziele zu definieren, und für die Wissenschaft die Aufgabe, entsprechende Lösungen und Mittel ausfindig zu machen. Zur Dienstleistungsfunktion der zeitgenössischen schwedischen Soziologie merkt Fridjonsdottir (1990) an: „Swedish sociology, once established academically, had an agenda which seemed obvious, and the questions addressed in research oriented towards social policy seemed almost to begiven by the way the authorities defined the problem“ (ebd., S. 255). Jüttner und Glowka (1975) weisen darauf hin, dass die pädagogische Forschung in Schweden ihrem eigenen Selbstverständnis nach bestrebt war, „im ‚Dienste der Gesellschaft und der Schule zu stehen‘“ (ebd., S. 553).
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Experten in Reform-Gremien und die Bedeutung von Modellversuchen Im Zusammenhang der Gesamtschulreform spielte das schwedische System von Regierungskommissionen eine wichtige Rolle. Diese Kommissionen, die ad hoc von der Regierung eingesetzt werden, können aus Vertretern von Politik, Verwaltung und gesellschaftlichen Interessengruppen sowie wissenschaftlichen und anderen Experten zusammengesetzt sein (vgl. Johansson 1992; Zetterberg 1990). Das Kommissionswesen ist eine der wichtigsten Arenen der Konsensaushandlung und nimmt somit teilweise Funktionen wahr, die in anderen politischen Systemen von Parlamentsausschüssen erfüllt werden. Im Unterschied zu einem „Zwei-KammerGremium“ wie dem Deutschen Bildungsrat, „bei dem sich eine Bildungs- und eine Regierungskommission gegenüberstanden“ (Leschinsky 2005, S. 825), sitzen ggf. Wissenschaftler und Politiker im gleichen Gremium zusammen und müssen sich dort auf Kompromisse einigen. Im Rahmen der Kommissionsarbeit können auch Forschungsarbeiten erstellt bzw. in Auftrag gegeben werden. Von dieser Möglichkeit wurde während der schwedischen Gesamtschulreform ausführlich Gebrauch gemacht (vgl. Härnqvist 1987, 1996; Dahllöf 2000, 2003). Mit den dort verfügbaren Ressourcen konnten Begabungs- und andere Untersuchungen auf enormer Datengrundlage durchgeführt werden. Wichtig für die Initiierung der Einheits- bzw. Gesamtschulreform waren insbesondere zwei Kommissionen, nämlich die sogenannte Schulkommission von 1940 (1940 års skolutredning) und die Schulkommission von 1946 (1946 års skolkommission). Die erstgenannte Kommission setzte sich hauptsächlich aus Experten zusammen und bearbeitete ein enorm breites Themenspektrum, z. T. unter Heranziehung externer Sachverständiger (vgl. Waldow 2007, S. 94ff.). In die Kommissionsarbeit waren alle vier schwedischen Pädagogikprofessoren eingebunden. In der Einheitsschulfrage war die Kommission gespalten. Im Unterscheid zur Schulkommission von 1940 war die Schulkommission von 1946 hauptsächlich parlamentarisch zusammengesetzt. Sie begann bereits mit ihrer Arbeit, bevor die Schulkommission von 1940 ihre Arbeit abgeschlossen hatte und hatte zur Aufgabe, die Ergebnisse der Arbeit ihrer Vorgängerkommission zu korrigieren bzw., dem Politikwissenschaftler Bo Rothstein zufolge, im Sinne der Einheitsschulbefürworter zu „torpedieren“ (Rothstein 1996, S. 138). In ihrem Abschlussbericht (vgl. SOU 1948:27) empfahl sie eindeutig die Einführung einer bis Jahrgangsstufe 9 reichenden Einheitsschule. Auch außerhalb des Kommissionswesens wurde in Vorbereitung der Reform eine umfangreiche Untersuchungs- und Versuchstätigkeit einschließlich groß angelegter Experimente und Modellversuche durchgeführt. Am spektakulärsten aus deutscher Perspektive ist hier sicherlich die sogenannte Stockholm-Untersuchung der 1950er
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Jahre (vgl. Svensson 1962). Im Zuge dieser Untersuchung wurde das gesamte Stadtgebiet 1954 in zwei Hälften aufgeteilt. In der nördlichen Hälfte wurde das traditionelle, gegliederte Schulsystem beibehalten, in der südlichen Hälfte in Primarstufe und Sekundarstufe I ein Einheitsschulsystem eingeführt. Wir haben es hier also – im Unterschied zu den Schulversuchen in der alten Bundesrepublik – mit einem quasi-experimentellen Design einschließlich Kontrollgruppe zu tun. Nach der Umstellung wurde über einen Zeitraum von mehreren Jahren u. a. vermittels Leistungstests untersucht, welche Auswirkungen die Einführung der Gesamtschule auf das Leistungsniveau hatte. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung war, dass die Gesamtschulklassen im südlichen Teil der Stadt offensichtlich nicht wesentlich schlechtere Leistungen erbrachten als die positiv ausgelesenen Klassen im nördlichen Teil (vgl. ebd., S. 163ff.). In späteren Sekundäranalysen wurde allerdings festgestellt, dass die ursprünglichen Analysen der Stockholm-Untersuchung z. T. mit gravierenden methodischen Mängeln behaftet waren (vgl. Dahllöf 1971). Diese Untersuchungen wurden jedoch deutlich nach dem Beschluss zur landesweiten Einführung der Gesamtschule publiziert. Die auf die Einführung der Gesamtschule bezogenen Reformbemühungen in der alten Bundesrepublik weisen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den oben skizzierten Umständen auf. Ähnlich wie in Schweden – allerdings mit deutlicher zeitlicher Verzögerung – ging den politischen Maßnahmen eine öffentliche Debatte über Inklusions- und Exklusionsprobleme des Bildungssystems voraus. Die Gesamtschule erschien dabei als jene Schulform, die eine Lösung sozialpolitischer Probleme (Herstellung von Chancengleichheit) ebenso wie pädagogischer Probleme (soziales Lernen, individuelle Förderung) versprach. Am Ende der Debatte stand 1969 die Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates, Schulversuche mit integrierten und differenzierten Gesamtschulen einzurichten. In diese Empfehlung ging die Forderung nach einer wissenschaftlichen Kontrolle des „Experimentalprogrammes Gesamtschule“ (Deutscher Bildungsrat 1969, S. 15) ein. Neben der statistischen Ermittlung der Abschlussquoten sollten Schulleistungsmessungen sowie schulklimatische Untersuchungen u. a. m. durchgeführt werden. Interessant ist nun, wie die Bildungskommission den bildungspolitischen Stellenwert der empirischen Begleitforschung einschätzte. Hierzu heißt es: „Derartige Untersuchungen können freilich nicht Ergebnisse liefern, die die Entscheidung für oder gegen die Gesamtschule schon eindeutig begründen. Sie liefern vielmehr nur Grundlagen für eine politische Entscheidung, die dann aber aufgeklärt, das heißt in Kenntnis ihrer wesentlichen Konsequenzen erfolgen kann“ (ebd., S. 31). Wenn man möchte, kann man hierin eine Vorform evidenzbasierter Bildungspolitik erkennen, die auf wissenschaftlich-rationaler Grundlage agiert. Die Aussagen der Bildungskommission deu-
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ten aber auch darauf hin, dass in diesem Gremium klar zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Entscheidung getrennt wurde. Ein unmittelbar handlungsleitendes Wissen darüber, „was wirkt“, scheint die Kommission nicht in Betracht gezogen zu haben. Denn sie artikuliert Zweifel daran, dass es eine eindeutige wissenschaftliche Begründung der politischen Entscheidung für oder gegen die Einführung der Gesamtschule geben kann. Lässt man das systematische Argument beiseite und schaut sich den historischen Verlauf der schwedischen und der bundesdeutschen Bildungsreform an, dann fällt ein weiterer Unterschied auf: In der alten Bundesrepublik konnte die wissenschaftliche Begleitforschung nie zur Grundlage einer politischen Entscheidung pro oder contra Gesamtschule werden. Denn die Bildungspolitik wartete nicht ab, bis empirische Befunde vorlagen. Unter den besonderen bildungspolitischen Bedingungen, auf die wir hier nicht eingehen, kamen diese Befunde rund 10 Jahre zu spät (vgl. Fend 1982a), denn die politischen Reformimpulse zur Einführung der Gesamtschule ließen bereits in der ersten Hälfte der 1970er Jahre merklich nach. Ganz anders in Schweden: Dort verliehen die Ergebnisse der Stockholm-Untersuchung – zusammen mit anderen Forschungsergebnissen – dem 1962 gefassten Beschluss zur landesweiten Einführung der Gesamtschule wissenschaftliche Unterstützung und Legitimität. Damit sind wir bei einem weiteren Problemkomplex: Den politischen Legitimationsgewinnen, die durch den Aufweis erzielt werden können, bildungspolitische Maßnahmen seien „scientifically-based“, d. h. wissenschaftlich-rational abgestützt. Legitimation durch Verweis auf Wissenschaftlichkeit Die Prinzipien wissenschaftlicher Rationalität spielen im Selbstverständnis moderner Gesellschaften eine so bedeutende Rolle, dass sie einer Ersatzreligion gleichzukommen scheinen (vgl. Drori u. a. 2003, S. 2). Der Verweis auf die wissenschaftlichen Grundlagen politischen Handelns – in Luhmannscher Terminologie: die „Externalisierung auf Wissenschaftlichkeit“ (Luhmann/Schorr 1979/1988, S. 341) – stellt in der Bildungspolitik moderner Gesellschaften daher eine der vielversprechendsten Legitimationsquellen dar (vgl. Weiler 1990). Einerseits genießen wissenschaftlich-rational fundierte bildungspolitische Maßnahmen eine hohe Legitimität; Alva Myrdals oben erwähnte Behauptung, die Gesamtschulreform sei eine wissenschaftliche, keine politische Frage, versucht offensichtlich an dieser Legitimität teilzuhaben. Andererseits kann der Staat über das Betreiben einer derartigen Bildungspolitik erhoffen, seine eigene Legitimität zu stärken.; letzteres ist mit Hans Weilers Konzept der „compensatory legitimation“ u. a. durch Bildungspolitik gemeint (vgl. Weiler 1983, 1990). Für solche Legitimationsgewinne kann es unter
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Umständen ausreichen, etwa nur taktisch an einem Versuchsschulprogramm teilzunehmen, um damit Reformbereitschaft zu demonstrieren, jedoch wirklich tief greifende Reformen abzuwehren (vgl. hierzu Philipp/Rösner 1980; Fend 1982b). In ähnlicher Weise kann etwa die Verschiebung einer strittigen politischen Frage in ein Experimentalprogramm oder in eine Kommission, die das Problem wissenschaftlich untersuchen soll, zum Auskühlen eines politischen Konflikts genutzt werden (vgl. Hansen/Rolff 1980; Haller/Lenzen 1977). Das Setzen auf wissenschaftlich-rationale Fundierung der Politik und auf die damit verbundenen Legitimationsgewinne kann jedoch erfolglos sein: Die Enttäuschung ist groß, wenn die Wissenschaft die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt oder wenn sie nicht das leistet (oder leisten kann), was sie der Politik versprochen hat. Man muss sich dann freilich auch Rechenschaft über den Realitätsgehalt der Erwartungen und Versprechungen ablegen. In Schweden hat sich die Hoffnung, mithilfe von Modellversuchen und anderen wissenschaftlichen Untersuchungen eine eindeutige Befundlage für (oder gegen) die Einführung der Gesamt- bzw. Einheitsschule zu erzeugen, nicht erfüllt. Die Forschungsbefunde waren einfach nicht so eindeutig, als dass sich eine eindeutige politische Entscheidung aufdrängte. Vielmehr geriet die Frage in den Blick, inwieweit empirische Befunde überhaupt ein geeignetes Mittel der Entscheidungsfindung darstellen. Allerdings ist eine Besonderheit der schwedischen Einheits- bzw. Gesamtschulreform zu berücksichtigen, die den Legitimationsbedarf der Politik in ein etwas anderes Licht rückt: Strittig ist bis heute, ob die politische Entscheidung für die Reform bereits gefallen war, bevor die entsprechenden wissenschaftlichen Studien durchgeführt und ihre Ergebnisse der Politik und Öffentlichkeit präsentiert wurden (vgl. Lindensjö/Lundgren 2000, S. 53). Insofern scheint der zeitliche Index in diesem Fall ein anderer zu sein, als ihn evidenzbasierte Ansätze in der aktuellen Diskussion vorsehen. Die Gewinnung von empirischer Evidenz ging dem politischen Handeln nämlich nicht voraus, sondern verlief parallel oder folgte ihm sogar nach. Insofern kann man sagen, dass wissenschaftliches Wissen nicht der Fundierung politischen Handelns diente, sondern eher seiner nachträglichen Legitimation. Reaktionen auf mangelnden Erfolg Für die alte Bundesrepublik wird die Distanzierung von Bildungsforschung und Bildungsforschung, die auf die Reformära Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre folgte, oft auf die Enttäuschung infolge überzogener wechselseitiger Erwartun-
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gen zurückgeführt (vgl. Tillmann 1991).1 Viele Bildungspolitiker der Reformära hatten größere Hoffnungen in eine wissenschaftsbasierte Bildungspolitik gesetzt, als die Bildungsforschung einlösen konnte. Eine ähnlich enttäuschte Haltung ließ sich umgekehrt auch auf Seiten der Bildungsforschung beobachten (vgl. Zedler 1985). Seit dieser Zeit ist es in deutschen Fachpublikationen zum Verhältnis von Forschung und Politik fast zu einer Art ceterum censeo geworden, auf die unterschiedlichen Funktionslogiken hinzuweisen, denen Forschung und Politik unterworfen sind, und zwar fast unabhängig davon, aus welchem erziehungswissenschaftlichen „Lager“ der jeweilige Autor stammt (vgl. Leschinsky 2007; Merkens 2007; Tillmann 2008; Fend 2009). Die Enttäuschung über die Nichteinlösung der in die wissenschaftlich fundierte Bildungsreform gesetzten Erwartungen ist jedoch keineswegs auf Deutschland beschränkt. Auch in Schweden konnte die faktische Reform viele der in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, und dies, obwohl sie in vielerlei Hinsicht „evidencebased“ war. Husén schreibt 1986 im Rückblick: „Diejenigen, die glaubten, dass eine massive Investition in pädagogische Forschung die Antworten erbringen würde, die man brauchte [...], wurden enttäuscht. Die ‚Antworten‘, die man erhielt, schienen entweder irrelevant oder trivial“ (zitiert nach Wallin 2001, S. 197).2 Ein Unterschied zum deutschen Fall ist jedoch augenfällig: Die enttäuschten Erwartungen an Bildungsforschung und Bildungsreform führten nicht in gleichem Maße zu einer phasenweise Distanzierung von Bildungsforschung und Politik wie in Deutschland. Im Gegenteil, das Problem wurde in Gestalt von mehr (oder anderer) Bildungsforschung bearbeitet, frei nach dem Motto: Wenn die bisherige Forschung nicht die richtigen Ergebnisse erbracht hat, dann benötigt man eben mehr (oder andere) Forschung! Auch an der seit den 1970er Jahren vorbereiteten und dann in den 1980er und vor allem Anfang der 1990er Jahre durchgeführten Bildungsreform hin zu einer stärkeren Dezentralisierung des Bildungssystems und zur Umstellung auf Output-Steuerung war die Bildungsforschung wieder massiv beteiligt. Mit der
1 Torsten Husén berichtet davon, wie er einige Jahre nach dem Abflauen der Bildungsreformbewegung in der Bundesrepublik auf einer Flugreise zufällig den ehemaligen Bildungsminister des ersten Kabinetts Brandt, Hans Leussink, traf, der lautstark seiner Enttäuschung über das Scheitern der in die Bildungsforschung gesetzten Erwartungen und die scheinbare Verschwendung der in die Bildungsforschung investierten Gelder beklagte: „Diese Leute haben fast nichts geleistet!“ Leussink, dessen akademischer Hintergrund in den Ingenieurwissenschaften lag, hatte sich offensichtlich von einer wissenschaftsbasierten Bildungspolitik mehr versprochen, als die Bildungsforschung einlösen konnte (Husén 1983b, S. 92). 2 Selbst erfolgreichen Bildungsreformen wohnt die Tendenz inne, die Erwartungen an ihr Gelingen immer weiter zu steigern, so dass die Reformrealität an den Erwartungen tendenziell immer scheitert. Die Enttäuschung ist gewissermaßen eingebaut (vgl. Baker/LeTendre 2005, S. 167f.; vgl. auch Weiler 1990).
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Einführung dieser neuen Steuerungsinstrumente wuchs zudem der Bedarf der Bildungspolitik an wissenschaftsförmiger – d. h. zu großen Teilen, wenn man so will, „bildungsforschungsförmiger“ – Information über das Schulwesen stark an.3 Die Unterschiede in der deutschen bzw. schwedischen Reaktion auf die Enttäuschung über die Nichteinlösung dessen, was man sich von wissenschaftsbasierter Reform versprochen hatte, kann man auf verschiedene Weise erklären. Einerseits spielt es sicherlich eine Rolle, dass sich die Ernüchterung über die Möglichkeiten einer wissenschaftlich fundierten Schulreform in Schweden zu einem Zeitpunkt einstellte, als ein Gesamtschulsystem bereits fest etabliert war und von keinem bedeutenden gesellschaftlichen oder politischen Akteur mehr in Frage gestellt wurde. Insofern war das Gefühl, gewissermaßen mit „leeren Händen dazustehen“, vermutlich schwächer. Andererseits ist diese so deutlich unterschiedliche Reaktion auf die Ernüchterung vermutlich darauf zurückzuführen, dass der Rationalitätsmythos, wie oben bereits kurz angedeutet, in Schweden eine noch unumschränktere Geltung beanspruchen kann als in Deutschland.4 Auf die überragende Prägekraft von Vorstellungen der „sozialen Ingenieurskunst“ auf die schwedische Gesellschaft und Politik wurde oben bereits hingewiesen. In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, das jeweils unterschiedlich wahrgenommene Verhältnis von Bildungsforschung und Bildungspolitik auf seine Wechselwirkungen mit den jeweils einflussreichen sozialwissenschaftlichen Forschungsparadigmen und Theoriepräferenzen hin zu prüfen.5 Auch wenn die Hochphase der „sozialen Ingenieurskunst“ seit längerem vorbei ist, wirkt sie sich doch immer noch auf die Rationalitätserwartungen aus, die an die Politik gestellt werden. Insofern sollte man eigentlich erwarten, dass die gegenwärtige internationale Welle der „evidence-based education“ in Schweden auf fruchtba3 „Wissenschaftsförmig“ nennen wir diese Form der Systembeobachtung deshalb, weil sie nicht notwendig von wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen im engeren Sinne erbracht werden muss; sie kann ggf. auch in mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Schulbehörden, Landesinstituten für Schulentwicklung etc. angesiedelt werden, wenngleich sie auf eine Anbindung an Forschung angewiesen bleibt (vgl. Dahllöf 2000, S. 122). Die schwedische nationale Schulbehörde, Skolverket, versteht sich beispielsweise in diesem Sinne als eine „kunskapsbaserad“, d.h. „wissensbasierte“ Organisation. Von Wissenschaftsförmigkeit zu sprechen, erscheint aber auch deshalb sinnvoll, weil der Referenzrahmen dieses Wissens gerade nicht (oder zumindest nicht eindeutig) die Wissenschaft ist. Vielmehr handelt es sich um ein Wissen, das nützlich für Bildungspolitik und pädagogische Praxis sein soll (vgl. hierzu auch Adick 2008, S. 136f.). 4 Dies spielte auch lange Zeit in der schwedischen Selbstwahrnehmung eine bedeutende Rolle (vgl. Anton 1969). 5 Das Luhmannsche Postulat von der operativen Geschlossenheit von Funktionssystemen zusammen mit jeweils teilsystemspezifischen „Codes“ passt etwa besonders gut mit dem oben erwähnten ceterum censeo vieler Artikel zu diesem Thema zusammen, Bildungsforschung und Politik folgten jeweils unterschiedlichen Funktionslogiken. Es ist vermutlich kein Zufall, dass Luhmann in Schweden bislang so gut wie gar nicht rezipiert wurde.
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ren Boden fällt. Interessanterweise hat sie jedoch – zumindest in Form dieses Schlagworts – bislang kaum Widerhall gefunden. In dem bereits erwähnten Vortrag von Mats Ekholm (2004) auf einer von der OECD veranstalteten Tagung zu „Evidence-based policy research in education“ findet man vielleicht einen Hinweis, warum dies der Fall ist. Ekholm verweist nämlich darauf, dass man in Schweden ja im Grunde genommen bereits seit Jahrzehnten Bildungspolitik auf wissenschaftlicher Grundlage – sozusagen evidenzbasiert – durchführe. Wie oben dargestellt, ist dieses Argument nicht vollständig von der Hand zu weisen. Gleichzeitig besteht evtl. eine etwas größere Gelassenheit gegenüber Reformversprechungen wie „Bringing evidence-driven progress to education“, da man Erfahrungen mit diesem Forschungstyp und mit der Tatsache gemacht hat, dass auch eine auf wissenschaftlicher Evidenz basierende Bildungspolitik nicht vor Enttäuschungen gefeit ist. Bildungspolitik und Wissenschaft: Systematische Perspektiven Der vergleichende Blick auf Reformerfahrungen in Deutschland und Schweden sollte andeuten, in welchem Maße die internationale Diskussion um „evidencebased education“ in unterschiedlichen nationalen Kontexten auf unterschiedliche Befindlichkeiten und Diskussionslagen sowie auf unterschiedliche Formen, die Beziehungen von Bildungspolitik und Bildungsforschung zu organisieren, trifft. Vor dem Hintergrund der vergleichenden Analyse politischer und wissenschaftlicher Rahmenbedingungen möchten wir nun die Beziehungen zwischen Bildungspolitik und Wissenschaft aus systematischer Perspektive genauer beleuchten. Wir konzentrieren uns auf drei Problemfelder und versuchen in diesem Zusammenhang, Entwicklungstendenzen zu skizzieren. Formen wissenschaftlicher Politikberatung Der Vergleich zwischen Schweden und Deutschland deutet darauf hin, dass in den Bildungsreformen früherer Jahrzehnte zwei Formen wissenschaftlicher Politikberatung von Bedeutung waren: In der alten Bundesrepublik diskutierte man zwar intensiv über Nutzen und Nachteil einer technokratischen Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Politik (z. B. Schelsky 1961/1965; Habermas 1963/1968; Koch/Senghaas 1970). Die konkrete Reformpraxis dieser Zeit deutet aber darauf hin, dass die Bildungspolitik letztlich dezisionistisch agierte. Es ging eher um wissenschaftliche Expertise, auf die man bei bildungspolitischen Entscheidungen Bezug nehmen konnte, wenn man wollte. Unweigerlich gezwungen war die Bildungspolitik hierzu aber nicht (vgl. Spies 1980; Fend 1982b). Auch in der nachträglichen
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Reflexion und Theoretisierung dieser Konstellation wurde gezeigt, dass die Erziehungswissenschaft gegenüber der Bildungspolitik eher eine „Zuarbeiter-Rolle“ (Tillmann 1991, S. 965) spielte. Während in der bundesdeutschen Bildungsreform trotz der Technokratiedebatte die klassische Form der Politikberatung weitgehend in Kraft blieb, scheint man in Schweden stärker auf eine integrative Form der Beratung und Beratschlagung gesetzt zu haben. Charakteristisch für sie ist, dass man nicht streng zwischen Wissenschaft und Politik zu trennen versucht, sondern Experten und politische Entscheidungsträger an einen Tisch bringt oder sogar in Personalunion agieren lässt. Durch eine institutionalisierte Dauerkommunikation konnte die Bildungspolitik Entscheidungen in enger Abstimmung mit der Bildungsforschung treffen und diese zugleich als Legitimationsressource nutzen. Insofern spielte die Bildungsforschung auch in Schweden die Rolle eines Zuarbeiters, denn der Primat des Politischen scheint von ihr nicht grundsätzlich bezweifelt worden zu sein. Angesichts der dauerhaften Konsensorientierung und der Fortsetzung der Koalition von Bildungspolitik und Bildungsforschung konnten beide Seiten auf Enttäuschungen gelassener reagieren. Eine Flucht in den „Elfenbeinturm“ ließ sich so offenbar vermeiden – präziser: eine Flucht in die Zweckfreiheit oder in die Nutzlosigkeit, die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik der Erziehungswissenschaft zuweilen vorwerfen. In der gegenwärtigen Rede von einer evidenzbasierten Bildungspolitik geht es jedoch nicht mehr nur um Bezugnahmen auf oder Diskussionen mit Wissenschaft. Vielmehr visiert man eine Grundlegung der Bildungspolitik durch Bildungsforschung an. Dies nur als Indiz für den Bedeutungsgewinn wissenschaftlichen Wissens zu sehen, ist sicherlich unzureichend. Eher scheinen die Befürworter einer evidenzbasierten Bildungspolitik neues Vertrauen in die problemlösende Kraft wissenschaftlicher Rationalität gewonnen zu haben und einen technokratischen Ansatz der Politikberatung zu favorisieren.6 In der angewandten Politikforschung spricht man heute auch von „schlüsselfertiger Politikberatung“ (vgl. Weidenfeld/Turek 2003). Vertreter eines solchen Ansatzes halten es für möglich, wissenschaftliche Expertise 1:1 in politische Entscheidungen umzusetzen. Sie nehmen zugleich an, dass wissenschaftliche Erkenntnisse der Politik den Königsweg weisen. Durch die Verfahren parlamentarischer Demokratie verleiht die Politik diesen Erkenntnissen dann ihrerseits Legitimation. Aus Sicht der beratenden Wissenschaft sind solche demokrati-
6 Zum (hyper-)technokratischen Grundzug gegenwärtiger Bildungsreform vgl. Faulstich 2004; Bellmann/Waldow 2007.
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schen Verfahren gleichwohl prekär, weil sie zur Verwässerung oder Zerredung der Beratungsergebnisse führen können (kritisch hierzu Bröchler 2004).7 In dem skizzierten Ansatz sind Politik/Verwaltung und Wissenschaft voneinander getrennte Sphären, die erst durch Beratung miteinander in Berührung kommen. Schaut man genauer, dann zeichnen sich Gegenabhängigkeiten zwischen beiden Sphären ab: Unsere Beispiele zeigten, dass wissenschaftliches Wissen der Politik zwar Legitimationsgewinne bescheren kann. Bedingung der Möglichkeit einer Umsetzung wissenschaftlicher Expertise in politische Entscheidungen ist gleichwohl, dass man wissenschaftlichen Erkenntnissen eine politiksystemspezifische Legitimation verleiht. In demokratischen Gesellschaften entsteht deshalb für Wissenschaftler, die auf „Expertenherrschaft“ setzen und einer 1:1-Entsprechung das Wort reden, eine schwierige Situation. Problematisch für sie ist nicht nur, dass ihre Erkenntnisse kontrovers diskutiert werden können, sondern auch, dass diese Diskussion unter politischen, nicht unter wissenschaftlichen Vorzeichen stattfindet. Der auch im Bildungsbereich anzutreffende Versuch, Reformen als rationales Handeln auf wissenschaftlicher Grundlage zu konzeptualisieren (vgl. Prenzel/Heiland 1985), unterschätzt womöglich nicht nur die relative Autonomie von Politik und Wissenschaft, sondern verkennt womöglich auch die Pfadabhängigkeit und den Eigensinn von Reformprozessen.8 Modelle wie das der „schlüsselfertigen Beratung“ mit dem Beziehungsalltag von Wissenschaft und Politik zu verwechseln, ist sicherlich naiv. Studien zu den Effekten Neuer Steuerung im Bildungsbereich zeigen, dass sich Bildungsforschung und Bildungspolitik nicht mehr so eindeutig voneinander trennen lassen, sondern enger als bislang miteinander verwoben sind (vgl. Bellmann 2006; Dedering 2009; Tillmann u. a. 2008). Neue Steuerung meint in diesem Kontext eben auch, dass das von der Bildungsforschung generierte Wissen nicht mehr nur (wissenschaftliche) Voraussetzung von (politischer) Steuerung ist, sondern selbst zu deren Bestandteil wird (vgl. Bellmann 2006, S. 499). Angesichts der weit reichenden Erwartungen und Ansprüche an eine evidenzbasierte Bildungspolitik erscheint eine solche bildungspolitische Einbindung (nicht mehr nur: Nutzung) wissenschaftlichen Wissens – etwa in Form „wissenschaftsförmiger“ Systembeobachtung – nur konsequent.
7 Im Anschluss an Habermas (1963/1968) grenzt Bröchler (2004) das technokratische Modell schlüsselfertiger Beratung von einem dezisionistischen Leitbild politisch nützlicher Beratung und von einem verständigungsorientierten Leitbild diskursiver Beratung ab (vgl. ebd., S. 20ff.). 8 Zedler (1985) verweist in diesem Zusammenhang auf „mögliche Rationalitätsdefizite in der Interaktion mit einer vielfach erst im Verlauf der Reform erkennbaren Problemstruktur“ (ebd., S. 513).
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Formen wissenschaftlichen Wissens: Nachfrage und Angebot Die alte Einsicht, dass sich nicht jede Form wissenschaftlichen Wissens praktisch nutzen lässt, wird mit der Rede von einer evidenzbasierten Bildungspolitik fast überpointiert. Bildungspolitisch gefragt sind gegenwärtig offenbar drei Formen wissenschaftlichen Wissens, die bereits die Rationalität der vorangegangenen Bildungsreform verbürgen sollten (vgl. Prenzel/Heiland 1985; Jäger/Prenzel 2005, S. 166ff.; siehe hierzu auch den Beitrag von Bellmann in diesem Band). Dabei geht es erstens um ein „der Feststellung von Zielen dienendes Wissen, das in die Konstruktion eines [...] Systems von Reformzielen [...] eingeht“ (Prenzel/Heiland 1985, S. 51). Gefragt ist zweitens „deskriptiv-explanatorisches Wissen“ (ebd.), das sich „zur vollständigen Beschreibung des Ausgangszustandes und seiner Ursachen“ (ebd.) eignet. Gesucht ist drittens ein „technologisches, also veränderungsrelevantes Wissen über reformzieleffektive und von unerwünschten Folge- und Nebenwirkungen freie Maßnahmen“ (ebd.). Bezieht man diese Typologie auf das Paradigma evidenzbasierter Pädagogik, so scheint nur der dritte Wissenstyp den strengen Anforderungen dieses Ansatzes zu genügen – das technologische Wissen für Reformerfolg. In einem neueren Beitrag über die Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Zwecke der Qualitätsentwicklung greift Manfred Prenzel diese Unterscheidung von Wissensformen auf. Er betont, dass technologisches Wissen „nur vor dem Hintergrund der beiden vorherigen Wissensformen gewonnen werden [kann]“ (Jäger/Prenzel 2005, S. 167). Und weiter führt er aus: „Hier werden ähnlich einer Ingenieurswissenschaft Erkenntnisse zur Anwendung und Übertragung der in den beiden anderen Wissenskategorien erfassten Sachverhalte in die Praxis erzeugt“ (ebd.). Erst ein solches „Engineering-Wissen“ (ebd., S. 168) ermögliche es, eine Reformmaßnahme im Bildungssystem zu verbreiten. Während Prenzel die diversen Formen der Systembeobachtung dem ersten Wissenstyp zurechnet und variablenpsychologische Ansätze der Erforschung von Schülerleistungen zum zweiten Typ zählt, rechnet er u. a. Interventionsstudien, die Kausalaussagen zulassen, dem dritten Typ wissenschaftlichen Wissens für Bildungsreformen zu (vgl. ebd.). Während die genannten Wissensformen eine bildungspolitische Konjunktur erfahren, scheint jenes Wissen ins Hintertreffen zu geraten, das man im engeren Sinne pädagogisch nennen kann (vgl. Oelkers/Tenorth 1991). Gemeint ist damit zunächst einmal das erfahrungsbasierte Wissen der Profession, das mithilfe evidenzbasierter Bildungsforschung zu einem Wissen über effektive Interventionen werden soll (vgl. hierzu den Beitrag von Biesta in diesem Band). Ins Hintertreffen gerät womöglich auch all jenes erziehungswissenschaftliche Wissen, das nicht auf Qualitätssicherung und Reformzieleffektivität ausgerichtet ist. Seine Abseitsstellung scheint sich daraus zu ergeben, dass die drei oben genannten Wissensformen aus bildungspolitischer
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Sicht viel interessanter sind. Dies hat positive Effekte für all jene Forschung, die der Bildungspolitik überzeugend darlegen kann, dass sie genau das Wissen produziert, das gewünscht wird. Das kritisch-reflexive und das konstruktive Wissen, das in der Erziehungswissenschaft hervorgebracht wird, interessiert demgegenüber wenig – vielleicht auch deshalb, weil man von erziehungswissenschaftlicher Seite ziemlich offen zugab, wo die eigenen Grenzen gegenüber der Bildungspolitik liegen (z. B. Tillmann 1991, S. 967ff.). Von einem solchen Problemzugang heben sich evidenzbasierte bzw. technologische Ansätze ab, denn sie verheißen den Aufbruch in eine Zukunft, die nicht nur besser, sondern auch sicherer ist – man weiß dann ja, was funktioniert. Die optimistische Botschaft evidenzbasierter Pädagogik unterscheidet sich gravierend von der erziehungswissenschaftlichen Kultivierung von Reflexivität, Skepsis und Ungewissheit (vgl. Keiner 2003). Anders gesagt: Wenn man vor allem ein Wissen darüber anbietet, was nicht funktioniert, muss man damit rechnen, als unattraktiv und irrelevant zu gelten, weil man den Bedarf an positivem, steuerungs- und handlungsrelevantem Wissen nicht befriedigt. Denn mit Nachdruck weist man gegenwärtig auf die Notwendigkeit hin, der Bildungspolitik schnelle und tragfähige Lösungen für lange verschleppte oder neu entstandene Probleme anzubieten. Umgang mit Transferproblemen Während man in der schwedischen Bildungspolitik schon frühzeitig auf eine institutionelle Vernetzung von wissenschaftlicher Forschung und politischer Entscheidung setzte, hatte man mit der Gründung des Deutschen Bildungsrates ein Gremium geschaffen, das zumindest institutionell die Differenzen zwischen Politik und Wissenschaft berücksichtigte (vgl. Leschinsky 2005, S. 825). Unabhängig von den Problemen, die sich dort dann tatsächlich einstellten, deutet dies eine gewisse wissenschaftstheoretische Sensibilität für die Schwierigkeiten an, aus der Forschung politische Entscheidungen abzuleiten (vgl. Krings 1990). Diejenigen Akteure, die sich gegenwärtig um evidenzbasierte Bildungspolitik bemühen, wissen vermutlich von diesen Transferproblemen. So räumt Eckhard Klieme bei einer Tagung mit dem Titel „Wissen für Handeln – Forschungsstrategien für eine evidenzbasierte Bildungspolitik“ ein: „Evidence on successful interventions is often as weak as our ability to translate existing knowledge into large-scale and politically relevant contexts“ (Klieme 2007; vgl. auch BMBF 2008). Interessant ist nun, welche Konsequenzen man aus Einsichten wie dieser zieht: Die Transferprobleme werden zwar erkannt, aber für lösbar gehalten. Um Dissemination und Nutzung der Ergebnisse evidenzbasierter Forschung voranzutreiben, wird empfoh-
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len, auf Einrichtungen („brokerage agencies“) zu setzen, die der Bildungspolitik dabei helfen sollen, die Forschung zu verstehen (vgl. Klieme 2007). Interessant an dieser Empfehlung ist zum einen, dass Bildungsforscher gravierende Verständnisprobleme auf Seiten der Bildungspolitik einkalkulieren und deshalb auf Mediatoren vertrauen. Zum anderen zeigt diese Empfehlung, dass Bildungsforscher die Übersetzung des von ihnen generierten evidenzbasierten Wissens in bildungspolitische Entscheidungen für schwierig halten – allerdings nicht im Sinne eines systematischen Transferproblems, sondern im Sinne eines Kommunikationsproblems. Während die Bildungsforschung ihr eigenes Wissen für unproblematisch zu halten scheint, steht die Bildungspolitik vor einem Paradox: Sie beansprucht zwar, sich in eine wissenschaftsbasierte Richtung zu entwickeln, versteht aber womöglich nicht die (wissenschaftlichen) Grundlagen des eigenen Handelns.9 Was folgt hieraus? Übernehmen die wissenschaftlichen Experten die Herrschaft über eine unmündige Politik? Nicht unbedingt. Sicher ist zunächst einmal nur, dass das erwähnte Szenario im Widerspruch steht zu dem, was „evidenzbasierte Bildungsforschung“ postuliert, nämlich wissenschaftliche (oder wissenschaftsförmige) Dienstleistungen für rationale politische Entscheidungen zu nutzen. Technokratisch wäre die Konstellation, wenn die Bildungspolitik zum „Vollzugsorgan wissenschaftlich analysierter Sachzwänge“ (Tillmann 1991, S. 960) degradiert wird. Da dieser Fall nicht zwangsläufig eintreten muss, sind andere Beziehungskonstellationen und andere Reaktionen auf Transferprobleme denkbar: Erstens könnten empirische Befunde aus der Bildungsforschung vorrangig als Legitimationsressource fungieren, die mehr zur öffentlichkeitswirksamen Politik-Inszenierung beiträgt als dass sie ausschlaggebend ist für bildungspolitische Entscheidungen und Maßnahmen (vgl. auch Tillmann 1991, S. 958; Offe 1975, S. 243f.). Wie die bisherigen Überlegungen verdeutlicht haben, ist dieses Szenario sowohl in Schweden als auch in der alten Bundesrepublik durchaus bekannt gewesen. So stellte Werner E. Spies (1980) bereits am Ende der Bildungsreform der 1960/1970er Jahre einen grundlegenden, steuernden Einfluss von Wissenschaft auf Politik in Frage: „Wissenschaft liefert Argumentationshilfe, aber ist nicht Entscheidungsbasis“ (ebd., S. 4). Zu einer evidenzbasierten Bildungsforschung scheint diese Aussage jedoch nicht recht zu passen, denn sie beansprucht durchaus, Entscheidungsbasis für die Bildungspolitik zu sein. Fraglich ist jedoch, ob evidenzbasierte Bildungsforschung auch beansprucht, eine autonome Entscheidungsbasis für bildungspolitisches Handeln darzustellen. Wenn sie diesen Anspruch nicht erhebt, dann ist eine zweite Beziehungskonstellation denkbar, in der man 9 Dieses Problem ist schon länger bekannt: Die Bürokratie kann die Voraussetzungen für ihre Fachkunde, nach Max Weber die Voraussetzung ihrer Legitimität, nicht mehr verwaltungsintern bzw. ohne spezielle Expertise aus der Bildungsforschung erbringen (vgl. Fend 1982b, S. 126).
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die Beziehung von (wissenschaftlichem) Wissen und (politischem) Handeln nicht so begreift, dass zwei voneinander getrennte Sphären aufeinander treffen. Vielmehr nimmt man ein direktes Ineinandergreifen, einen nahtlosen Übergang von Forschung und Politik an – eventuell unter dem Primat einer der beiden Sphären oder vor dem Hintergrund gemeinsam geteilter melioristischer Zielsetzungen. In einem solchen Beziehungskontext bräuchte sich die Politik nicht so sehr für wissenschaftliches Expertenwissen zu interessieren, das zu viel Irritationspotential enthält, sondern könnte verstärkt auf ein wissenschaftsförmiges Service-Wissen setzen, das sich bei Bedarf nutzbringend anwenden lässt. Für die gegenwärtige Bildungsreform wäre sowohl theoretisch als auch empirisch zu klären, ob evidenzbasierte Bildungspolitik eine dieser Konstellationen befördert. Angemerkt sei nur, dass sich in den skizzierten Konstellationen durchaus neue, interessante Möglichkeiten für die Bildungspolitik ergeben könnten. Sofern das technokratische Szenario nicht Wirklichkeit wird, hat eine evidenzbasierte Bildungspolitik bessere Chancen als bislang, Verantwortung in Richtung Bildungsforschung zu delegieren (vgl. auch Heidbrink 2003). Da das Wissen, das die Bildungsforschung hervorbringt, die Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen darstellt bzw. darstellen soll, kann ausbleibender bildungspolitischer Erfolg auch auf sie zurückfallen. Fazit Die vergleichende Analyse des Verhältnisses von Bildungsforschung und Bildungspolitik zeigte, dass „evidence-based education“ in verschiedenen nationalen Bildungskulturen auf unterschiedliche Resonanz stößt. Während in der schwedischen Bildungspolitik die Auffassung vertreten wird, schon länger evidenzbasierte Bildungspolitik zu betreiben, greift man das Modell im englischsprachigen Raum und in Deutschland auf und hält es für eine vielversprechende Innovation. Der Vertrauensvorschuss, den die Bildungspolitik einer evidenzbasierten Bildungsforschung hier gegenwärtig gewährt, ist groß. Die eminenten Erwartungen speisen sich auch aus der „Hoffnung auf die technologische Verwertbarkeit einiger respektabler Erkenntnisse“ (Rauin 2004, S. 39). Ob die Bildungsforschung die in sie gesetzten bildungspolitischen Erwartungen tatsächlich erfüllt, lässt sich gegenwärtig nicht abschätzen. Unser Eindruck ist, dass man der Bildungsforschung den bildungspolitischen Kredit nicht ganz uneigennützig gewährt. Neben dem Umstand, dass sich aus der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik Legitimationsgewinne für die Bildungspolitik und Bedeutungsgewinne für die Bildungsforschung ergeben, haben wir angedeutet, dass sich die
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politische Delegation von Teilverantwortungen an die Bildungsforschung auch als Bumerang erweisen kann. Insofern sollte auch eine Bildungsforschung, die dazu beitragen möchte, Pädagogik in eine evidenzbasierte Praxis zu verwandeln, mit Ungewissheit und Unwägbarkeiten rechnen.
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In der „Concorde-Falle“: Festhalten an unnötigen Reformen Roland Reichenbach
Vorbemerkungen1 Spätestens seit Charles E. Lindbloms Science of „Muddling Through“ (1959) gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass rationale Entscheidung und Steuerung von Organisationen nur begrenzt möglich sind. Die zahlreichen Erfahrungen mit nichtintendierten Handlungsfolgen bzw. zweckwidrigen Effekten zielgerichteter Handlungen sollten für die diversen Steuerungsproblematiken auch im Bildungsbereich sensibel gemacht haben, würde man meinen (sofern man noch pädagogisch denkt und also kontrafaktisch an das individuelle und auch kollektive Lernen glaubt). Rational ist es, Fehlentwicklungen so weit wie möglich zu korrigieren und zu versuchen, ihre Ursachen aufzuheben. Wenn man merkt, dass man in die falsche Richtung schreitet, sollte man die Richtung ändern. Vielleicht muss man auf den alten Weg zurückkehren, wenn sich dieser im Rückblick, wenn nicht unbestritten großartig, aber nun doch als der bessere Weg herausgestellt hat. Eine mehr oder weniger bewährte Strategie wieder aufzunehmen, nachdem man – wie viele Zeitgenossen auch – eine andere gewählt hatte, von welcher mittlerweile auch fast alle wissen, dass sie nicht zum Ziel führt, ist weder eine Schande noch romantisch, konservativ oder ewiggestrig, sondern vernünftig. Auch wenn die sogenannte Input-Steuerung ihre Probleme hat, so sollte man nach den in vielerlei Hinsicht im Grunde einfach misslungenen Versuchen der Output-Steuerung wieder zur Input-Steuerung zurückkehren – dies würde ich rational nennen. Die negativen Nebeneffekte der OutputSteuerung auf allen Ebenen des Bildungssystems und vor allem auch in der Forschung sind nicht von der Hand zu weisen. Einmal könnte Europa wirklich von den USA lernen, nämlich hinsichtlich dessen, was man nicht kopieren und wie man es nicht machen sollte (vgl. Lind 2009). Das wäre „evidenzbasierte“ Bildungspolitik! Evidenz ist nämlich nicht das, was Forschung und Evaluation hervorbringen, son1 Dieser Beitrag ist zu großen Teilen – mit Ausnahme der Vorbemerkungen – eine nur unwesentlich veränderte und adaptierte Wiedergabe einer früheren Arbeit (Reichenbach 2008).
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dern das, was auch Forscher/innen und Evaluatoren/innen als Grenzen ihrer Bemühungen zu akzeptieren haben. Ein Blick auf die Universität Margrit Osterloh, im vergangenen Jahr emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Zürich, widmete ihre Abschlussvorlesung dem „Unternehmen Universität“ (2010). Sie kommt darin zum Schluss, dass die Qualität der universitären Forschung nur durch Input- bzw. Eingangskontrolle gesichert werden kann. Diese habe „die Aufgabe, das Innovationspotential einer Person zu überprüfen“. Das schließe „nicht nur die Evaluation der fachlichen Kenntnisse ein, sondern auch die Prüfung der Frage, ob eine genügend hohe Motivation für selbstorganisiertes Arbeiten und eine Identifikation mit den Normen des Unternehmens“, hier: die Universität, vorhanden seien (S. 13). D. h.: „Denjenigen, die eine solche rigoros durchzuführende Input-Kontrolle passiert haben, kann eine große Autonomie gewährt werden“ (ebd.). Insofern kann man freilich wiederum von den amerikanischen Eliteuniversitäten lernen, denn das Prinzip der strengen Auslese und der anschließenden Gewährung von Autonomie ist dort selbstverständlich. Orientiert haben sich diese Universitäten in ihrer Entstehungsgeschichte ja mitunter an der Humboldtschen Idee der Universität, d. h. dann wieder, dass insbesondere Deutschland vor allem von sich selbst lernen oder sich besser erinnern könnte. Die Bereitschaft, mit der eigenen universitären Tradition und einem besonderen Bildungsdenken, das in Deutschland entstanden ist (und wofür es an den unterschiedlichsten Orten der Welt von so vielen beneidet wurde und noch wird), so fahrlässig und hart umzugehen, ist nicht zu verstehen. Wohl liegt der Grund in einem eigenartigen Verständnis von Internationalisierung und einer ebenso eigenartigen Sehnsucht nach „Anschlussfähigkeit“. Doch wenn Anschlussfähigkeit heißen sollte, sozusagen auf die eigenen Trümpfe oder Stärken verzichten zu müssen, so sollte man eher überlegen, was eigentlich mit dem Kriterium der Anschlussfähigkeit nicht ganz stimmt. Es schien mir persönlich immer, dass sich Deutschland das leisten könnte. Die Angst vor dem Alleingang macht klein, und auch kleinkrämerisch und schwach. Auf der anderen Seite setzt, wer nicht mitmacht, ein Zeichen für alle, die mitmachen! Die Steuerungs- und Kontrollbestrebungen der Bildungssysteme Die nicht-intendierten, aber doch offenbar von vielen geduldeten Fehlentwicklungen insbesondere durch outputbasierte Steuerung der Bildungssysteme bzw. immer
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mehr allein outputbasiertes Entscheidungshandeln, bestehen vor allem in der unnötigen, zeitraubenden (und den Geist beleidigenden) Bürokratisierung, in der Vereinseitigung der Bildungsdiskurse und der Bildungs- und Unterrichtspraxis, im Verlust an innovativen Bemühungen in Forschung und Lehre, in der Etablierung von Schummelkulturen u. v. a. m. Die Steuerungs- und Kontrollbestrebungen der Bildungssysteme sind aber auch hinsichtlich (a) der Theorielosigkeit der damit verbundenen Reformen zu kritisieren, und (b) weiter in Bezug auf die Tendenzen der Deprofessionalisierung des Lehrberufs, die mit den gegenwärtigen Reformen einhergehen (obwohl das Gegenteil suggeriert wird); man kann auch (c) die Vereinseitigung der Bildungsziele und die Reduktion des Bildungskonzepts kritisch ablehnen, die mit dem Kompetenzdiskurs eingeleitet wurde, zusätzlich kann man (d) der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung den fehlenden Rekurs auf pädagogisches Denken und erziehungswissenschaftliches Wissen vorwerfen. Die Berücksichtigung dieser und anderer kritischen Aspekte führt aus erziehungswissenschaftlicher Sicht zu einer insgesamt negativen Beurteilung von Reformbemühungen, in deren Zentrum Leistungsstanderhebungen und kompetenztheoretisch begründete – messbare – Bildungsstandards stehen. Doch warum geht es so weiter? 1.
„Zu spät zum Aufhören“ – Zur Concorde-Falle
Je länger man einen schlechten Film anschaut, desto wahrscheinlicher wird es, dass man ihn bis zum Ende sieht. Je länger man auf einen Bus wartet, desto weniger wahrscheinlicher wird es, dass man ein Taxi ruft (denn der Bus könnte zwischenzeitlich nun doch endlich kommen). Je länger eine Nation in einen unnötigen Krieg verwickelt ist, den sie selber verursacht hat und der viele Opfer erfordert, desto weniger wahrscheinlich wird sie sich – außer bei einem Regierungswechsel – aus diesem Krieg zurückziehen. Das diesen Beispielen gemeinsame Phänomen wird auch – nach dem mittlerweile aus dem Verkehr gezogenen Flugzeugtyp – die „Concorde-Falle“ genannt (vgl. Mérö 1996/2004): „Die Kosten der Concorde, des von Briten und Franzosen gemeinsam entwickelten Überschallflugzeugs, stiegen im Lauf der Entwicklung steil an. Schon als erst ein kleiner Teil der ursprünglich geplanten Entwicklungskosten verbraucht war, stellte sich heraus, dass dieses Unternehmen niemals einen Gewinn abwerfen würde. Trotzdem wurden die englische und französische Regierung immer mehr hineingezogen in das Projekt, das am Ende ein Vielfaches der ursprünglich geplanten Summe kostete. Es wäre billiger gewesen, das Unternehmen mit dem Festziehen der letzten Schraube zu beenden, denn seither hat die Concorde immer nur Verluste gemacht. Aber das Flugzeug war ein Prestigeobjekt geworden und gilt immer noch als etwas, auf das Engländer und Franzosen
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stolz sein können“ (ebd., S. 20), schrieb der Spieltheoretiker Lásló Mérö in seiner Logik der Unvernunft. Über das Scheitern der Reformen Nun ist die Prestige-und-Verlust-Concorde heute nicht mehr im Einsatz und auch die zeitgenössischen Bildungsreformen werden einmal ihr Ende gefunden haben und von anderen – vielleicht weniger selbstsicher auftretenden und weniger effektvollen – Reformen verdrängt werden. Bis dahin werden sie aber noch Bewährtes und weniger Bewährtes zum Verschwinden gebracht haben, offiziell erfolgreich sein, inoffiziell aber scheitern. Auch schlechte Filme dienen dem Zeitvertreib, mögen unterhaltsam sein, und es ist nicht ausgeschlossen, dass man von ihnen lernt. Außerdem sind sie meist nicht nur schlecht und der jeweilige Regisseur hat sich sicher etwas dabei gedacht. Vielleicht, dass die Idee zu dem Film nicht ganz ausgereift war, vielleicht wurde zu früh gedreht, vielleicht war das Drehbuch nicht das Beste, und vielleicht waren die Schauspieler nicht wirklich motiviert. Aber mitten in den Dreharbeiten das ganze Unternehmen abbrechen, das macht man einfach nicht. „Erfolgreiches Scheitern“ so die These Seibels (1992), ist typisch für NonprofitOrganisationen, die dauerhaft überleben, obwohl sie ökonomisch oftmals ineffizient sind und bei der Lösung von Problemen scheitern bzw. die Probleme, die sie zu lösen vorgeben, im Grunde kaum oder überhaupt nicht bewältigen. Der Grund für dieses Paradox sieht Seibel in einem für Nonprofit-Organisationen typischen Dilettantismus, der gesellschaftliche Funktionalität besitze und zumindest teilweise sogar politisch erwünscht sei. „Erfolgreich scheiternde“ Organisationen überleben also „nicht obwohl, sondern weil sie gemessen an den Maßstäben der Rechtmäßigkeit und Effizienz versagen, nicht obwohl, sondern weil sie nur begrenzte Lernfähigkeit und Responsivität aufweisen, dass ihr Erfolg darin liegt, dass sie notorisch scheitern“ (Seibel 1992, S. 17). Wie das Concorde-Projekt werden Bildungsreformen erfolgreich durchgezogen und scheitern, sie werden sich zu halten vermögen, obwohl sie hinsichtlich der Ziele, die das Bildungssystem – nebst den verbesserten Testergebnissen bei den Leistungsstandmessungen – auch noch zu erreichen hätte und die legitimerweise von ihm erwartet werden, fast notgedrungen versagen müssen. Dass die (innere) Akzeptanz von Reformen beispielsweise unter der Lehrerschaft insgesamt gering erscheint, ist allerdings nur einer, wenn auch ein sehr bedeutender Grund, warum Reformen im Bereich von Schule und Bildung „scheitern“. Jede Lehrperson weiß, dass es unsinnig ist, Bildung allein als Kompetenzerwerb zu konzipieren und den Fokus allein auf die messbaren Dimensionen von Bildung zu setzen, und sie wird früh genug erfahren müssen, dass ihr professioneller Status
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unter der Reform leiden wird (genau so, wie dies in den USA und England schon der Fall ist). „Scheitern“ meint also, um es nochmals hervorzuheben, nicht, dass eine Reform nicht überleben wird, im Gegenteil: Ihre (wohldefinierten) Ziele wird sie wohl erreichen und messbare Kompetenzdimensionen werden dann auch möglichst flächendeckend regelmäßig gemessen so wie die Lehrinhalte angeglichen, vergleichbar und schließlich einheitlich werden. Nach dem Weberschen Diktum gibt es bei verwalteten Institutionen zwei grundlegende Optionen bzw. Entwicklungsverläufe: entweder sie dilettieren weiter oder sie werden bürokratisch. Organisatorischer Dilettantismus mag eine Dauererscheinung moderner Organisationskultur sein, aber er ist der erfolgreichen Bürokratisierung vorzuziehen (vgl. Seibel 1992, S. 18). Die Reflexion der pädagogischen Institution hat sich deshalb auch dem Umgang mit der Inkompetenz und den un- und schwerverfügbaren Gestaltungsdimensionen zu widmen, der prinzipiellen Begrenztheit der Möglichkeit von gezielter Wirkung und Transparenz. Es ist und bleibt aber erstaunlich, wie wenig „evidenzbasiert“ wichtige Reformbestrebungen sein können, um dennoch initiiert und implementiert zu werden, wie in diesem Sinne „funktional dilettiert“ werden kann und wie Vertreter/innen von Bildungsforschung und Bildungspolitik wechselseitig voneinander profitieren können, auch ohne die Antwort geben zu müssen – geschweige denn zu können (!) –, welche Wirkungsketten auf der Ebene der Schule und des Unterrichts sich nun tatsächlich nachweisen lassen (vgl. Abschnitt 3). 2.
Sind „organisierte Anarchien“ steuerbar?
Nach einer meta-ethischen Regel muss „Sollen“ „Können“ implizieren. Was nicht gekonnt wird, kann letztlich auch nicht gesollt sein. Wer die verbesserte (Output-) Steuerung des Bildungssystems als gesollt ausweisen will, kann letztlich nur überzeugen, wenn er die Können-Seite plausibel machen kann. Natürlich kann man immer an die eigene Wirksamkeit glauben, positive Illusionen („Kontrollillusionen“) prägen einen Großteil menschlicher Aktivitäten, vor allem, wenn Einblick und Erfahrung fehlen oder ignoriert werden. Da die Grundwidersprüche des Bildungssystems der Demokratie inhärent sind, haben sich die jeweiligen Generationen auf Reformen einzustellen. Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit ihnen zu identifizieren habe. Die permanenten Bildungsreformen verdecken das Faktum der nur begrenzten Steuerbarkeit des Bildungssystems (vgl. Luhmann 2002). Mit einigem Grund: Wenn nicht Herkunft über Zukunft bestimmen soll, dann kann es unter demokratischen Prämissen nur die Leistung des einzelnen Kindes oder Schülers, der so genannte Lernerfolg sein. Gleichzeitig ist diese „Antwort“ auf das Prob-
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lem der Ungleichheit selber problematisch, weil Chancengerechtigkeit oder Chancengleichheit nur Wünsche und keine Realität darstellen. Das Bildungssystem hat deshalb kaum eine andere Wahl, als auf die ihm innewohnenden Widersprüche mit permanenten Reformbestrebungen zu antworten. „Beobachtet man“, so Luhmann (2002), „das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist“ (ebd., S. 166). „Dass die Reformer den Mut nicht verlieren, sondern nach einer Schwächephase neu ansetzen“ hat „typischerweise“ auch mit dem raschen Vergessen zu tun, „dass das, was man vorhat, schon einmal (oder mehrmals) versucht worden und gescheitert ist“ (ebd.). Die wichtigste Ressource der Reformer ist für Luhmann eine Leistung des Systemgedächtnisses: „das Vergessen“ (ebd., S. 167). Wie Rothblatts Untersuchung zeigt, lernen die Bildungssysteme von den Fehlern der anderen nicht unbedingt viel (vgl. Rothblatt 2007, S. 321; vgl. zusammenfassend auch Lind 2009). Die Effekte der zeitgenössischen „Steuerungsphilosophie“ Dass sich Bildungssysteme in der Vergangenheit immer wieder mehr oder weniger grundlegend verändern ließen, ist kein überzeugendes Indiz für die Steuerbarkeit derselben, sofern Steuerbarkeit heißen soll, möglichst vielen Aspekten und Funktionen des Bildungssystems auf erwünschte Weise gerecht zu werden, es nicht auf wenige Parameter zu reduzieren und sich der Nebenfolgen der jeweiligen Reform bewusst zu sein. Gegen die neue „Steuerungsphilosophie“ sprechen allerdings die problematischen Konsequenzen, die mit dem Einsatz des einseitigen und wirkungsstarken Instruments der zentralen Leistungsmessung wahrscheinlich werden. Bekannt sind Nichols und Berliners (2005) Analysen der entsprechenden Effekte aus den USA geworden, wo man mit diesem Steuerungsmechanismus seit mehreren Jahrzehnten Erfahrungen sammeln konnte. Nach Nichols und Berliner wird dabei auch das nach dem amerikanischen Sozialpsychologen Donald Campbell (1975) benannte Gesetz – das Campbellsche Gesetz2 – bestätigt. Werden quantitative Leistungsergebnisse zum alleinigen oder vorwiegenden Bezugspunkt für die Beurteilung von Schulqualität gemacht, so wird ein verzerrtes Bild von den tatsächlichen Leistungen der untersuchten Schulen entstehen. Die korrumpierenden Effekte werden von Nichols und
2 „The more any quantitative social indicator is used for social decision-making, the more subject it will be to corruption pressures and the more apt it will be to distort and corrupt the social processes it is intended to monitor.“ (Campbell 1975, S. 35).
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Berliner (2005) sowie von Nichols, Glass und Berliner (2006) ausführlich beschrieben.3 Wie kommen aber die korrumpierenden Effekte zustande? Vielleicht helfen zur Erklärung ein paar Erläuterungen zum Konzept der „organisierten Anarchie“. Nach James March sind die zentralen Merkmale von organisierten Anarchien typisch für öffentliche Institutionen, insbesondere Bildungsinstitutionen (vor allem Schulen und Universitäten), aber auch etwa für unrechtmäßige Organisationen, also Verbrecherorganisationen (vgl. Cohen/March/Olson 1972/1990, S. 331). Organisierte Anarchien sind Organisationen, „die durch problematische Präferenzen, unklare Technologien und fluktuierende Partizipation gekennzeichnet sind“ (ebd., S. 330). Mit Steuerungsmodellen werden Kontrollmechanismen und Koordinationsmechanismen eingeführt, die „sowohl von der Existenz wohldefinierter Ziele und einer wohldefinierten Technologie als auch von einer persönlichen Verwicklung der Beteiligten in die Angelegenheiten der Organisation ausgehen. Wo hingegen die Ziele und die Technologie verschwommen und die Teilnahme fluktuierend ist, brechen viele der Axiome und Grundprozeduren des Managements zusammen“ (S. 331). Der Mangel an rational präferenzgesteuerten Entscheidungen Die Zielmehrdeutigkeiten der Schule und des Bildungssystems lassen sich freilich nicht ableugnen, wie jeder Theorie der Schule entnommen werden kann. Die eindeutige Akzentsetzung, die mit dem zeitgenössischen Kompetenzdiskurs gewählt worden ist, erscheint wie der forcierte Wille, diese für demokratische Bildungsinstitutionen typische Vielfalt, die mit ebenso vielfältigen – erwünschten und notwendigen – pädagogischen Identifikationen und Selbstbeschreibungen der Hauptakteure des Systems einhergeht, zum Verschwinden zu bringen, was längerfristig illusionär ist. Rationale Modelle des Entscheidungsverhaltens, die davon ausgehen müssen, dass die Präferenzen der Entscheidungsträger deren Handeln bestimmen würden, erreichen schnell die Grenze ihrer Plausibilität. Vielmehr werden mit den Handlungen, so die Einsicht des Modells organisierter Anarchien, die Präferenzen der Entscheidungsträger erst aufgedeckt. Probleme werden behandelt, ohne dass rationale präferenzgesteuerte Entscheidungen getroffenen werden können: Vorhandene Lösungsinstrumente – z. B. Leistungsstanderhebungen – definieren sozusagen vielmehr das Problem und die Präferenz als dass sie als Mittel von vorher beanstandeten 3 Dazu gehören: Administrator and Teacher Cheating, Student Cheating, Exclusion of LowPerformance Students from Testing, Misrepresentation of Student Dropouts, Teaching to the Test, Narrowing the Curriculum, Conflicting Accountability Ratings, Questions about the Meaning of Proficiency, Declining Teacher Morale, Score Reporting Errors.
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Problemen fungieren. Dies stellt einige eigentümliche Anforderungen an zeitgenössische Bildungsforscher/innen: Sie müssen nun auch dort forschen, wo es kaum etwas zu erkennen gilt (außer flüchtigen, olympiadisch-sportlichen Ranglisten), sie führen Evaluationen durch, ohne ihre Notwendigkeit zu kennen, sie stehen unter dem Druck, für politisches Handeln regelmäßig „Evidenzen“ vorzufinden oder nötigenfalls zu erzeugen, ohne diese Erkenntnispolitik öffentlich hinterfragen zu können, z. B. dahingehend, was denn überhaupt als „Evidenz“ zählen kann und was nicht, und immer wieder müssen sie Äpfel mit Birnen und Karotten mit Kartoffeln vergleichen, ohne über eine Theorie des Obsts oder des Gemüses zu verfügen. Die Erzeugung von Problemen, Präferenzen und Problempräferenzen durch Lösungsmittel führt dazu, dass kaum noch gefragt wird, welcher Gegenstand eigentlich und warum er erforscht werden soll. Mit dieser fraglosen Wissenschaftlichkeit oder Wissenschaft der Fraglosigkeit – Themen, aber keine Fragen – ist es dann mehr als nur verständlich, dass sich Bildungspolitiker/innen und manche Bildungsforscher/innen in der Meisterschaft der spontanen Ad hoc-Interpretationen, Ex-post- und „Wie-esmöglich-war-dass-Hypothesen“ wechselseitig überbieten. Zur Not hilft ein Vergleich mit Finnland, da lässt sich immer etwas sagen. Unklare Technologien Das bekannte Technologiedefizit im Erziehungs- und Bildungsbereich entspricht dem Kriterium der „unklaren Technologie“ organisierter Anarchien, die – nicht geplant und nicht rational gesteuert – grosso modo funktionieren, wiewohl die Entscheidungsträger dies kaum erklären können. Zufallsentdeckungen, Notlösungen und Resultate von Trial-and-Error-Verfahren erhalten die organisierte Anarchie in nicht oder kaum nachvollziehbarer Weise am Leben. Hinzu tritt das Problem der individuellen Präferenzen: Während normative bzw. präskriptive Theorien des Wahl- und Entscheidungsverhaltens davon ausgehen müssen, dass Präferenzen absolut, relevant, stabil, konsistent, präzise und exogen sind, scheint auch auf der Ebene des Individuums deutlich zu werden, dass keine dieser „Eigenschaften von Vorlieben […] mit Beobachtungen des Wahlverhaltens von Individuen […] konsistent zu sein“ scheint (Cohen/March/Olsen 1972/1990, S. 310). Auch das dritte Kriterium, die fluktuierende Partizipation, ist auf allen Ebenen des Bildungssystems, der interpersonalen, organisationalen und überorganisationalen Ebene prägend. Die Entscheidungsträger und deren Politik bzw. „Subpolitik“ wechseln häufig und der Zeitaufwand, den sie tatsächlich aufbringen, um bestimmte Probleme zu lösen, variiert beträchtlich. Ob es gelingt, die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger zu wecken oder zu aktivieren und ob dann auch bestimmte
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Personen mit bestimmten Kompetenzen bestimmte Probleme behandeln und nicht andere oder keine, oder die interessierenden auf nicht-intendierte Weise, ist mehr oder weniger zufällig. Wie könnte es für mehr oder weniger autonome Menschen auch anders sein? Wer aber diese typischen Ungenauigkeiten und Ambivalenzen nicht aushält, die mit komplexen Systemen immer verbunden sind, wer nicht aushalten kann, dass immer wieder – und auch in sehr relevanten Fragen – auf der Basis von nur schlecht definierten und inkonsistenten Präferenzen Entscheidungen getroffenen werden müssen, der oder die sollte besser nicht die Definitionsmacht darüber besitzen, welches die Probleme des Bildungssystems sind und wie sie zu lösen sind. 3.
Dient die Reform der Qualitätssicherung?
Bilanzierend seien zunächst drei Gründe wiedergeben, die Becker (2007) kürzlich vorgetragen hat, um zu zeigen, dass sich aus den Ergebnissen aus PISA auf konsistente Weise keine Reformperspektiven für die Bildungssysteme ableiten lassen (vgl. ebd., S. 23ff.). Diese Kritikpunkte sind für die zeitgenössische Reformdiskussion von Bedeutung. Der erste Grund liegt Becker zufolge darin, dass in der Debatte um und nach PISA nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, „ob die als bildungspolitische Probleme behaupteten Phänomene in einem weitaus geringeren Maße als bislang behauptet mit dem Bildungssystem selbst in Zusammenhang stehen“ (Becker 2007, S. 23). Es gäbe etwa gute empirische Gründe anzunehmen, dass sich Ursachen für die soziale Ungleichheit der Lesekompetenz auch außerhalb des Bildungssystem finden lassen; „eine Bildungspolitik bliebe blauäugig wie ineffektiv, wenn sie diese Fakten nicht berücksichtigen würde, und es dabei bewenden ließe, die sozial Benachteiligten in besonderer Weise im Bildungssystem zu fördern“ (ebd., S. 24). Der zweite Grund ist methodischer Art. Aufgrund methodischer Grenzen von PISA könnten „weder in empirischer noch in logischer Hinsicht bildungspolitische Empfehlungen im Sinne rationaler, d. h. wissenschaftlich begründeter Sozialtechnologien“ (ebd.) abgeleitet werden. Und Pekrun zitierend: „Bei Vergleichsstudien zu Schülerleistungen handelt es sich in der Regel um summative Evaluationen mit querschnittlichem, nichtexperimentellem Design, also einer Designart mit geringer kausaler Aussagekraft“ (Pekrun zit. n. Becker 2007, S. 24) Doch auch wenn Erhebungen wie PISA keine methodischen Einschränkungen aufweisen würden und man „die Ursachen für die Genese, Entwicklung und Verteilung von Kompetenzen kennen“ würde – so der dritte von Becker angeführte Grund –, wäre eine Ableitung von Reformperspektiven nicht zwingend gegeben. So
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würden Bildungsberichte in der Schweiz und in Deutschland auf die Probleme „früher und hochgradig selektiver Bildungsübergänge in die Sekundarstufe I“ (ebd.) hinweisen, gewisse Bildungspolitiker und selbst Teile der Bildungsforschenden würden aber, eher in politischer als wissenschaftlicher Absicht, diese Problematik einfach in Abrede stellen. Die Bildungsforschenden könnten und sollten keine bildungspolitischen Entscheide treffen, weil dies nicht ihre Aufgabe sei (vgl. ebd., S. 24f.). Erfolgreich ist auch in der Wissenschaft mitunter, was „vor allem mit den bestehenden moralischen Ansichten bestens übereinstimmt“ (Kagan 2000, S. 21) und bildungspolitisch korrekt bzw. nicht anstößig ist, beispielsweise die Idee, dass wenn nicht das Wissen, so doch die Kompetenzen, die während der Schul- und Studienzeit erworben würden, vor allem mit der Qualität und den Inhalten des erfahrenen Unterrichts zu tun hätten. Auf diese Wirkungsbehauptungen scheint man nicht verzichten zu wollen oder können. Um so erfrischender war – um ein Beispiel zu geben – die Ansprache des Bildungssoziologen Abbott an die Erstsemester der University of Chicago im Jahre 2002, seine und die Forschungsresultate anderer zusammenfassend: „Everyone over thirty knows that, as far as content is concerned, you forget the vast majority of what you learned in college in five years or so. But, so the argument goes, the skills endure. They may be difficult to measure and their effect hard to demonstrate. But they are the core of what you take from college (…). But the evidence that college learning per se actually produces these skills is pretty flimsy. While we do know that people acquire these skills over the four years they are in college, we are not at all clear that it is the experience of college instruction that produces them” (Abbott 2002, S. 8). Doch was müsste gewährleistet sein, um davon ausgehen zu können, dass Bildungsstandards – welche normiertes, vereinheitlichtes, überprüfbares und vergleichbares Lernen bezwecken – der so genannten Qualitätssicherung dienen? Der Zusammenhang wird meist behauptet (Köller 2007), als ob er ganz selbstverständlich wäre. Nur wenige betrachten den Kontext differenzierter. Zu ihnen gehört sicher Helmut Heid (2007). Die Frage, die sich Heid kürzlich stellte, lautet: Welcher Verursacherzusammenhang muss sich empirisch bestätigen lassen, damit vom Lernerfolg und -misserfolg der Schüler/innen auf die Qualität (und Leistung) des Bildungssystem geschlossen werden kann? Ohne die Behauptung eines solchen Zusammenhangs wären die momentanen Reformen noch weniger zu rechtfertigen. Gegeben sein müsste nach Heid, der hier, den eigenen Worten nach, noch „vereinfacht“, mindestens folgende fünfteilige Wirkungskette:
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„Die Verwirklichung des in Standards Kodifizierten ist Resultat (‚Wirkung‘) abgrenzbarer bzw. messbarer Lernaktivitäten, allgemeiner: erfolgreichen Lernens. Erfolgreiches Lernen ist Resultat (‚Wirkung‘) identifizierbarer Lehraktivitäten, allgemeiner: erfolgreichen Lehrens. Erfolgreiche Lehraktivitäten sind Ausdruck (Indikator) hoher Lehrkompetenz. Hohe Lehrkompetenz ist Resultat (‚Wirkung‘) erfolgreicher Lehrerbildung. Erfolgreiche Lehrerbildung ist Resultat (‚Wirkung‘) guter Bildungsforschung“ (Heid 2007, S. 37). Wenn diese Zusammenhänge nicht nachgewiesen werden können, so Heid weiter, „dann besagt die Erfüllung eines Standards nur eines, nämlich dass der Standard erfüllt ist – und nichts darüber hinaus!“ (ebd.). Während im Grunde viel erziehungswissenschaftliches und pädagogisches Wissen vorhanden ist, was in Schule und Unterricht Qualität bedeutet, bleibt die Behauptung, Bildungsstandards würden der Qualitätssicherung dienen, empirisch vorerst unbelegt. Sie sind also nicht sehr „evidenzbasiert“, die Reformen, die momentan in Europa grassieren.
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Evidenz, Erziehung und die Politik der Forschung* Gert Biesta
Einleitung Nach wie vor regt die Idee evidenzbasierter Pädagogik die Phantasie vieler Politiker, politischer Entscheidungsträger und Bildungsforscher auf der ganzen Welt an. Sicherlich findet diese Idee alles andere als einhellige Unterstützung. Gleichwohl, und ungeachtet der beständigen Kritik an der Idee, gibt es zahlreiche Politiker und politische Entscheidungsträger, die (noch immer) dafür plädieren, dass Erziehung auf Forschungsevidenz darüber, ‚was wirkt‘, basieren sollte. Ebenso gibt es Forscher, die (noch immer) versuchen, das entsprechende Wissen mithilfe randomisierter, kontrollierter Studien zu generieren. Dieser Zustand ist ziemlich unbefriedigend. Zum einen scheinen alle beteiligten Parteien (zu) wenig miteinander zu kommunizieren und dementsprechend (zu) wenig voneinander zu lernen. Eine Folge hiervon ist, dass Politiker und politische Entscheidungsträger weiter auf eine ‚Universallösung‘ warten, die wahrscheinlich niemals zur Verfügung stehen wird (vgl. auch Otto/Polutta/Ziegler 2009).1 Unbefriedigend ist dieser Zustand zum anderen, weil die Debatte über die Wechselbeziehungen zwischen empirischen Befunden, Forschung, Politik und Praxis zur Polarisierung tendiert. Deswegen besteht die reelle Gefahr, dass die Debatte zu einer zeitgenössischen Neuauflage jener ‚Paradigmenkriege‘ führt, die eine sinnvolle Diskussion um die Bildungsforschung jahrzehntelang ver-
* Originalbeitrag, übersetzt von Thomas Müller. / Anmerkung der Herausgeber: Der Originalbeitrag trägt den Titel „Evidence, Education and the Politics of Research“. Um den Bezug zur Diskussion um „evidence-based education“ zum Ausdruck zu bringen, wird „evidence“ in der Überschrift mit „Evidenz“ übersetzt. Wenn es im Text hingegen um ein allgemeineres Verständnis dieses Begriffs geht, wird „evidence“ mit „empirische Befunde“ übersetzt. 1 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Politiker und politische Entscheidungsträger zwar zu behaupten scheinen, dass Erziehung auf sicherem Wissen darüber, was wirkt, basieren sollte, dass sie aber zugleich zu akzeptieren scheinen, dass solches Wissen für die globale Wirtschaft und die Politik nicht verfügbar ist. Sie unterstellen damit, dass sich die Sphären der Ökonomie und Politik fundamental von der Praxis der Erziehung unterscheiden.
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hindert haben (vgl. auch Hammersley 2008).2 Doch was wäre zu tun, um die Diskussion nicht auf Pro und Contra zu reduzieren und sich ernsthafter mit den Dingen zu beschäftigen, die auf dem Spiel stehen? Und was für eine Rolle käme der Forschung in einer solchen Konstellation zu? In diesem Beitrag will ich einige Überlegungen zu diesen Fragen vorstellen. Zunächst werde ich argumentieren, dass drei Dinge von Bedeutung sind, um die Diskussion voranzubringen: (1) ein reicheres und komplexeres Verständnis pädagogischer Praxis, als es in den gegenwärtigen Diskussion über empirische Befunde und das, was wirkt, in der Erziehung gemeinhin unterstellt wird, (2) eine ausdrücklichere Beschäftigung mit der Frage des Zwecks von Erziehung sowie (3) ein empirisch informiertes Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen Forschung, Politik und Praxis. Vor diesem Hintergrund will ich anschließend darlegen, was dies für eine Bildungsforschung bedeuten könnte, die beabsichtigt, einen konstruktiven Beitrag für die pädagogische Praxis zu leisten und sie zu stärken. Erziehung: Ein offenes, rekursives und semiotisches System Einen Teil ihrer Attraktivität bezieht die Idee „What works“ aus dem Umstand, dass Fragen nach der Effektivität integraler Bestandteil alltäglicher pädagogischer Praxis sind. In der Tat ist Erziehung insofern eine zweckhafte Tätigkeit, als die Handlungen der Erzieher sich aus Überzeugungen darüber speisen, was ihre Handlungen bewirken könnten, und aus dem Glauben, dass ihre Handlungen eine bestimmte Wirkung haben werden. Vereinfacht gesagt agieren Erzieher unter der Voraussetzung, dass ihre Handlungen auf irgendeine Weise wirken werden. Erzieher wissen allerdings auch, dass grundsätzlich Ungewissheit darüber besteht, was ihre Handlungen und Tätigkeiten tatsächlich bewirken werden. Trotz der besten Absichten, Erkenntnisse und Urteile wissen sie, dass die Wirkungen ihres Handelns sich von dem unterscheiden können, was sie beabsichtigt und erwartet hatten.3 Diese Ungewissheit sollten wir nicht epistemologisch verstehen. Es geht nicht darum, dass es Erziehern an Wissen über die möglichen Effekte ihres Handelns mangelt, so dass die Ungewissheit verschwinden würde, wenn ihnen nur mehr oder besseres Wissen zur Verfügung stünde. In erster Linie geht es um eine praxeologische 2 Die Rede vom ‚Paradigmenkrieg‘ greife ich mit einem gewissen Unbehagen auf, weil ich glaube, dass Krieg eine viel zu ernste Angelegenheit ist, um für einen metaphorischen Gebrauch geeignet zu sein. Nichtsdestotrotz hat man den Ausdruck weithin gebraucht, um eine unproduktive Position innerhalb der Bildungsforschung und der sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt zu bezeichnen, die von unüberbrückbaren Gegensätzen hinsichtlich der erkenntnistheoretischen, methodologischen, ontologischen und politischen Orientierung ausgeht (vgl. hierzu jüngst Denzin 2008; zu den zugrunde liegenden philosophischen Streitpunkten vgl. Biesta 2010b). 3 Eine ‚klassische‘ Diskussion dieses Sachverhalts findet sich bei Luhmann/Schorr 1982.
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Frage, die das Wesen menschlicher Interaktion und menschlicher Praxis betrifft. In der Sprache der Systemtheorie könnten wir sagen, dass Erziehung im Allgemeinen nicht so sehr wie ein geschlossenes, sondern eher wie ein offenes System funktioniert. Geschlossene Systeme sind von ihrer Umwelt isoliert und können deshalb im Prinzip deterministisch funktionieren. Im Unterschied dazu stehen offene Systeme in einer dynamischen Interaktion mit ihrer Umwelt, so dass sie allenfalls probabilistisch funktionieren können. Die Sprache der Systemtheorie kann uns auch helfen zu sehen, dass Erziehung im Allgemeinen wie ein rekursives System funktioniert, also ein System, das mit sich selbst rückgekoppelt ist. Das liegt daran, dass die zentralen ‚Elemente‘ des Systems – Lehrer und Schüler – denken können, Handlungsfähigkeit besitzen und Absichten haben. Auf der Grundlage ihrer jeweiligen Interpretationen und Beurteilungen einer Situation können sie sich dafür entscheiden, anders zu handeln. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, dass Erziehung – wie andere soziale Systeme auch, aber anders als natürliche Systeme – ein semiotisches System ist. Innerhalb semiotischer Systeme vollziehen sich Interaktionen zwischen den Elementen nicht durch physisches ‚Drücken und Ziehen‘, sondern aufgrund von Bedeutung und Interpretation. Aus der Perspektive der Schüler heißt dies, das pädagogischer ‚Input‘ niemals wie eine rein physische Kraft funktioniert, sondern nur dadurch in die Situation eintritt, dass er von ihnen jeweils interpretiert wird. Anders gesagt: Schüler lernen durch die Art und Weise, wie sie das, was gelehrt wird, interpretieren und wie sie auf das Gelehrte reagieren (vgl. Mead 2008), wobei diese Interpretation radikal offen ist. Selbstverständlich kann man die Berechenbarkeit des Systems zu steigern versuchen, indem man die Anzahl möglicher Interaktionen mit der ‚Außenwelt‘ reduziert – indem man also versucht, Erziehung von einem offenen in ein geschlossenes System zu transformieren – und indem man die ‚Rekursivität‘ der Elemente des System reduziert. Schüler von unerwünschten Einflüssen zu isolieren und entweder zu versuchen, ihr Denken zu kontrollieren, oder zu versuchen, sie vom Denken abzuhalten, mag ein Weg sein, berechenbarere Verbindungen zwischen ‚Input‘ und ‚Output‘ zu schaffen – auch wenn viele einwenden würden, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem sich ‚effektive‘ Erziehung in Indoktrination und Gehirnwäsche verwandelt und Schulen zu totalen Institutionen werden. Dies zeigt unmittelbar, dass jedweder Versuch, die Offenheit und Komplexität von Systemen der Erziehung zu reduzieren, bedeutsame ethische und politische Fragen aufwirft (vgl. Biesta 2010c; Osberg/Biesta 2010). Damit soll nicht behauptet werden, dass Offenheit automatisch gut ist und jeder Versuch, Offenheit zu reduzieren, automatisch schlecht. Vielmehr soll betont werden, dass wir stets die Kosten im Blick behalten müssen – vor allem die pädagogischen Kosten –, die mit der Reduktion der Offen-
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heit und Komplexität von Systemen der Erziehung einhergehen. Jegliches Urteil hierüber erfordert eine explizite Beschäftigung mit der Frage des Zwecks von Erziehung, und dies führt mich zu meinem zweiten Punkt. Erziehung: Eine zweckhafte Praxis Im Unterschied zum Lernen, das zu jeder Zeit und in jeder Situation stattfinden kann, bezieht sich Erziehung auf Situationen, die so gestaltet sind, dass sie bestimmten Arten oder Formen von Lernen fördern. Somit ist Erziehung grundsätzlich eine zweckhafte Praxis – eine Praxis, die nicht allein an Zwecken orientiert ist, sondern die in einem fundamentaleren Sinne durch Zwecke konstituiert wird (vgl. Carr 1992). Für die Diskussion über empirische Befunde ist es in mehrerlei Hinsicht wichtig, die Rolle der Zwecke in der Erziehung anzuerkennen. Zu beachten ist zum einen, dass in der Erziehung Fragen danach, ‚was wirkt‘ – und nach Effektivität im Allgemeinen –, stets zweitrangig sind gegenüber Fragen nach dem Zweck. Wir könnten sogar sagen, dass die Frage, ob etwas wirkt, für sich genommen sinnlos ist. Die einzig sinnvolle Frage lautet „Was wirkt wozu?“ – und zieht man in Betracht, dass das, was bei einer Person oder Gruppe wirken mag, bei einer anderen Person oder Gruppe nicht wirkt, dann muss man auch stets die Frage stellen „Was wirkt bei wem?“ (vgl. Bogotch/Mirón/Biesta 2007). Im pädagogischen Kontext muss sich somit jeder Versuch, Wissen darüber zu erlangen, ‚was wirkt‘, explizit der Frage nach dem Zweck zuwenden. Vielfach konzentriert sich jene Forschung, die feststellen will, was in der Erziehung wirkt, auf ein recht begrenztes Set von ‚Outcomes‘, meistens, wenngleich nicht ausschließlich (z. B. Conolly 2009), auf Schülerleistungen, die in Form von Testergebnissen operationalisiert werden. Auch wenn dies bedeutsam ist, kommt es in der Erziehung nicht allein darauf an. Jeder Vorschlag, der das Gegenteil behauptet, trivialisiert nicht nur die Komplexität der Erziehung, sondern trägt auch dazu bei, ein ziemlich problematisches Alltagsverständnis davon zu reproduzieren, wofür Erziehung da ist. Bei der Diskussion um empirische Befunde muss man zuallererst anerkennen, dass die Frage nach dem Zweck der Erziehung eine vielschichtige und – noch entscheidender – eine mehrdimensionale Frage ist. Erziehung dient nicht einfach nur einem Zweck, sondern sie erfüllt eine Reihe unterschiedlicher Zwecke zur gleichen Zeit oder kann diese zumindest erfüllen. In meiner eigenen Arbeit erschien es mir sinnvoll, zwischen drei Funktionen von Erziehung zu unterscheiden, d. h. zwischen drei Bereichen, in denen Erziehung Einfluss haben kann und im Allgemeinen auch Einfluss hat (vgl. Biesta 2010a). Eine erste Funktion bezeichne ich als Qualifikation. Sie betrifft die Formen, in denen Erziehung zum Erwerb von
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Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Kompetenzen beiträgt, mit denen Individuen in die Lage versetzt werden, etwas zu tun – entweder im engeren Sinne als Qualifikation für eine bestimmte Arbeit oder einen Beruf oder im weiteren Sinne als Qualifikation für die Teilnahme am politischen Leben oder an der globalen Welt. Eine zweite Funktion bezeichne ich als Sozialisation. Sie bezieht sich darauf, wie pädagogische Prozesse und Praktiken dazu beitragen, dass Individuen Teil bestehender sozialer, kultureller, religiöser, politischer und anderer ‚Ordnungen‘ werden. Sozialisation hängt zusammen mit dem Erwerb von Werten und Überzeugungen sowie von Handlungs- und Seinsweisen; meist ist mit ihr die Vorstellung verbunden, dass Erziehung eine Funktion in der sozialen Reproduktion erfüllt – entweder im positiven Sinne, etwa bei der Reproduktion einer demokratischen Kultur, oder im negativen Sinne, etwa bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Hinzu kommt eine dritte Funktion der Erziehung, die ich als Subjektivation bezeichne. Sie hat zu tun mit der Art und Weise, wie Erziehung zur Formierung des Menschen in Differenz zu bestimmten Ordnungen und Traditionen beiträgt. Individuelle Autonomie sowie die Fähigkeit zum kritischen Denken und rationalen Urteilen stellen eine (moderne) Form dar, diese Dimension zur Sprache zu bringen (zu einer kritischen Diskussion dieser Ideen vgl. Biesta 2006). Ein Bewusstsein für den mehrdimensionalen Charakter pädagogischer Zwecke ist gerade für Forschung darüber, ‚was wirkt‘, von Bedeutung, um präziser anzugeben, auf welche Art pädagogischer ‚Outcomes‘ sie sich konzentrieren möchte. Wichtig ist jedoch nicht allein, dass sich eine solche Forschung explizit mit der Frage pädagogischer Zwecke beschäftigen sollte. Setzt man voraus, dass Erziehung wahrscheinlich mehr als einen Zweck gleichzeitig erfüllt, dann stellen sich wichtige Fragen, die die Interaktion zwischen verschiedenen pädagogischen Zwecken betreffen. Sie zu stellen, ist vor allem eine Angelegenheit der pädagogischen Praxis. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn jemand die Prüfungsergebnisse einzelner Schüler verbessern möchte – ein mit der Qualifikationsdimension der Erziehung verbundenes Anliegen –, dann hat er sich der potentiellen Auswirkungen dieses Anliegens auf die anderen Dimensionen bewusst zu sein. Denn von einer alleinigen Konzentration auf die Verbesserung von Prüfungsleistungen kann auch die Botschaft ausgehen, dass es letzten Endes allein das sei, was in Erziehung und Gesellschaft wirklich zähle. Dies hat insofern Auswirkungen auf die Sozialisationsdimension, als es Schülern den Eindruck vermittelt, dass Wettbewerb gegenüber Kooperation zu bevorzugen sei oder dass individuelle Leistungen kollektiven Leistungen vorgezogen werden sollten. Forschung, die feststellen will, was in der Erziehung wirkt, muss sich über solche ‚Interaktionseffekte‘ im Klaren sein, und dies ist ein weiterer Grund dafür, warum diese Forschung eine vielschichtige und mehrdimensionale Sicht auf die Zwecke der
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Erziehung benötigt. Wenn sie darauf verzichtet, läuft sie nicht nur Gefahr, pädagogisch naiv zu sein, sondern geht auch das Risiko ein, unpädagogisch oder antipädagogisch sein. Zwar dürfte eine vielschichtiger ansetzende Forschung darüber, ‚was wirkt‘, in der Lage sein, über die möglichen Effekte von bestimmten pädagogischen Maßnahmen und Ansätzen Auskunft zu geben – einschließlich der Interaktionseffekte zwischen den verschiedenen Zwecken der Erziehung; jedoch kann Forschung niemals eine Entscheidung darüber hervorbringen, welches weitere Vorgehen wünschenswert ist. Denn hierfür ist ein Urteil über die erstrebenswerteste Balance zwischen den verschiedenen Zwecken der Erziehung erforderlich – ein Urteil, das letztlich auf pädagogischen Werten basieren muss, d. h. auf Werten, die man für pädagogisch wünschenswert erachtet (vgl. Biesta 2009). Forschung: Erkenntnis oder Praxis? Der Vorschlag, dass Erziehung zu einer evidenzbasierten Praxis werden sollte, ist häufig verknüpft mit Hinweisen auf andere Bereiche, in denen die Übernahme von Erkenntnissen, die durch wissenschaftliche Forschung gewonnen wurden, angeblich eine positive Transformation bewirkt habe. So behauptet Slavin (2002), „die herausragenden Fortschritte in Medizin, Agrarwirtschaft und anderen Bereichen“ seien darauf zurückzuführen, „dass Praktiker empirische Befunde als Grundlage der Praxis akzeptieren“ (ebd., S. 16). Dies gelte insbesondere für durch randomisierte, kontrollierte Studien gewonnene empirische Befunde (vgl. ebd.). Für ihn ist dies der Hauptgrund, warum Erziehung denselben Weg beschreiten sollte. Abgesehen von der Frage, inwieweit man Erziehung tatsächlich mit Bereichen wie Landwirtschaft und Medizin vergleichen kann, und abgesehen von der Frage, ob jeder Einfluss, den bestimmte Formen wissenschaftlicher Forschung auf diese Bereiche genommen haben, tatsächlich vorteilhaft war, stellt sich auch die Frage, ob die Fortschritte in solchen Feldern, die Slavin erwähnt, tatsächlich aus der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse resultieren. Merkwürdig an dieser Diskussion ist folgendes: Obwohl die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik dafür eintreten, dass Erziehung nicht auf Meinungen, Dogmen oder Vorurteilen basieren sollte, sondern auf Befunden, die durch empirische Forschung gewonnen wurden, scheinen sie ihre Behauptungen über das Wechselverhältnis von Forschung und Praxis auf keinerlei empirische Forschung zu stützen. Vielmehr scheinen sie unhinterfragten und, wie ich an anderer Stelle ausführlicher gezeigt habe, überholten philosophischen Ansichten über Erkenntnis und Forschung zu folgen (vgl. Biesta/Burbules 2003; siehe auch meinen Beitrag in diesem Band). Die Auffassung, dass Forschung sich vollständig in Form epistemologischer Kategorien erfassen lässt, wurde von zahlreichen empiri-
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schen Studien über die Praxis wissenschaftlicher Forschung hinterfragt (vgl. die beiden klassischen Bände von Knorr-Cetina/Mulkay 1983 und von Pickering 1992). Zum einen haben diese Arbeiten die Vorstellung in Frage gestellt, dass es der Forschung lediglich um die Herstellung von Erkenntnis geht – und diesbezüglich wäre es wichtig zu fragen, worauf Erziehung nach Ansicht der Befürworter evidenzbasierter Pädagogik denn eigentlich basieren sollte. Zum anderen haben diese Arbeiten die Idee der Anwendung grundsätzlich in Zweifel gezogen. Dies betrifft insbesondere die Vorstellung, dass die ‚herausragenden Fortschritte‘ in jenen Feldern, die man stets als Vorbild für die Erziehung ausgibt, wirklich das Ergebnis der Anwendung und Übernahme wissenschaftlicher Erkenntnisse sind. Eines des interessantesten Argumente gegen diese Sicht auf den (technologischen) Erfolg moderner Wissenschaft hat Bruno Latour in seinen Büchern „The Pasteurization of France“ (1988) und „Science in Action“ (1987) entfaltet. In diesen Büchern kritisiert er die epistemologische Auffassung vom Einfluss der „Technowissenschaft“ (Latour) auf die moderne Gesellschaft. Der epistemologischen Interpretation zufolge konstruieren ‚Technowissenschaftler‘ in ihren Laboren ‚Fakten und Maschinen‘, die anschließend in die Welt außerhalb des Labors getragen werden. Latour zweifelt zwar nicht daran, dass ‚Technowissenschaftler‘ in der Lage sind, in ihren Laboren wirkungsvolle Fakten und Maschinen zu schaffen, und möchte auch nicht bezweifeln, dass solche Fakten und Maschinen zu einem bestimmten Zeitpunkt an anderen Orten auftauchen als jenen, an denen sie geschaffen wurden. In Frage stellt er jedoch die Behauptung, dass wir dies als eine außerhalb des Labors stattfindende Anwendung jener Fakten und Maschinen verstehen sollten, die im Labor entwickelt wurden. Latour zufolge handelt es sich vielmehr um eine Umgestaltung der Welt außerhalb nach den Bedingungen des Labors. Er schreibt: „Niemand hat je erlebt, dass ein Faktum aus dem Labor nach draußen gelangt, bevor nicht das Labor sich auf eine Situation ‚außerhalb‘ bezieht und diese Situation so umgestaltet wird, dass sie zu den Vorschriften des Labors passt“ (Latour 1983, S. 166). In seinem Buch über Louis Pasteur schreibt Latour, dass der Erfolg von Pasteurs Methode nicht dadurch zustande kam, dass seine bestimmte Technik auf allen Bauernhöfen der französischen Provinz Anwendung fand. Pasteurs Technik konnte nur funktionieren, weil man zunächst wesentliche Bestandteile französischer Bauernhöfe veränderte, um sie den Laborbedingungen anzunähern, unter denen die Technik entwickelt wurde. Nur „unter der Bedingung, dass man ein bestimmtes Set von Laborpraktiken beachtet, kann man eine Praktik, die in Pasteurs Labor entstanden ist, auf alle französischen Bauernhöfe ausdehnen“ (Latour 1983, S. 152). Die ‚Pasteurisierung Frankreichs‘ (vgl. Latour 1988) ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die moderne Welt infolge moderner Wissenschaft verändert hat. Ein ums andere
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Mal weist Latour darauf hin, dass diese Veränderung nicht dadurch zustande kommt, dass man Fakten und Maschinen in die Welt ‚außerhalb‘ trägt. Vielmehr resultiert sie aus einer Umgestaltung der Welt ‚außerhalb‘, damit diese zu den Laborbedingungen passt, unter denen die Dinge funktionieren und wahr sein können. Latours Arbeiten helfen uns zu erkennen, dass es der Diskussion um evidenzbasierte Pädagogik an einer ernsthaften Beschäftigung mit empirischen Befunden über Forschung und ihre Beziehungen zu Feldern der Praxis mangelt. Das ist erstaunlich, aber nicht überraschend, denn wie ich in meinem anderen Beitrag in diesem Band gezeigt habe, weist die Diskussion um evidenzbasierte Pädagogik ein echtes Demokratiedefizit auf. Im Grunde scheint sich der Hauptstreitpunkt nicht um Erkenntnis und Wahrheit zu drehen, sondern um die Frage, wer über die Gestaltung und die Zwecke der Erziehung mitbestimmen darf. Damit soll nicht gesagt sein, dass Forschung zu dieser Diskussion nichts beitragen kann. Aber was Forschung anbieten kann und wie wir dies verstehen sollten, ist weitaus komplizierter, als die Befürworter evidenzbasierter Pädagogik behaupten. Latours Arbeiten unterstreichen auch die Bedeutung dessen, was am Anfang meiner Diskussion stand, als ich zwischen geschlossenen und offenen Systemen unterschieden habe. Latour zeigt nicht nur, dass die Dinge dann funktionieren können, wenn sie eher einem geschlossenen System ähneln. Er legt außerdem überzeugend dar, dass man eine Sache außerhalb der geschützten Umgebung des Labors nur dann in Gang bringen kann, wenn man die Komplexität der Situationen, in denen sie funktionieren soll, reduziert. Genau deshalb mussten Bauernhöfe zu Laboren werden, um die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Sache funktionieren kann. Und dies führt uns zurück zu der Frage nach Kosten und Nutzen einer Komplexitätsreduktion in der Erziehung. Abschließende Bemerkungen In einem Punkt liegen die Dinge einfach: Wir können es schaffen, dass Erziehung ‚wirkt‘, wenn wir die Offenheit und Komplexität von Systemen der Erziehung radikal reduzieren. Dies ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Erkenntnis als vielmehr eine Frage der Kontrolle und, noch wichtiger, eine Frage des Preises der Kontrolle – also des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. Ich glaube nicht, dass jedwede Reduktion der Komplexität und Offenheit pädagogischer Systeme notwendigerweise schlecht ist. In gewissem Sinne kann man sagen, dass Erziehung, anders als Lernen, gerade dadurch möglich wird, dass man die Komplexität und Offenheit von Lernen zu reduzieren versucht – obgleich weitere Fragen darüber auftauchen, wie ‚natürlich‘ das Lernen selbst eigentlich ist (vgl. Biesta 2010d). Forschung spielt hierbei eine Rolle,
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aber ich habe zu zeigen versucht, dass diese Rolle überdacht und neu definiert werden muss. Eine notwendige Grundlage hierfür ist ein angemessenes empirisches Verständnis davon, wie man Prozesse in der sozialen Welt in Gang bringt und welche Rolle Erkenntnis in diesem Kontext spielt. Mir ging es darum zu zeigen, dass die entscheidenden Fragen im Hinblick auf all das nicht kognitiver Art sind – es sind nicht Fragen der Erkenntnis, Wahrheit und Wirklichkeit –, sondern vielmehr praktischer und politischer Art – es sind Fragen nach Zwecken, Macht und Kontrolle. Empirische Befunde aus der Forschung können diese Fragen niemals beantworten. Die vorangegangene Diskussion zeigt vielmehr, wie Forschung und empirische Befunde in diese weiteren normativen und politischen Fragen verwoben sind. Was das ‚Projekt‘ evidenzbasierter Pädagogik deshalb am dringendsten benötigt, ist ein besseres, empirisch informiertes Verständnis der Rolle, die Erkenntnis und Forschung in der pädagogischen Praxis spielen.
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Verzeichnis der Autoren
Dr. Johannes Bellmann, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Gert Biesta, Professor of Education an der School of Education der University of Stirling (Großbritannien) Dr. Walter Herzog, Professor für Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Didaktik und Schulforschung an der Universität Bern (Schweiz) Kenneth R. Howe, Ph.D., Professor of Education an der University of Colorado at Boulder (USA) Dr. Edwin Keiner, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Dr. Georg Lind, Professor em. für Psychologie an der Universität Konstanz Dr. Hartmut Meyer-Wolters, Professor für Geragogik/Gerontagogik sowie Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität zu Köln Thomas Müller, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Roland Reichenbach, Professor für Pädagogik an der Universität Basel und der Pädagogischen Hochschule FHNW (Schweiz) Dr. Hans Jörg Sandkühler, Professor em. für Philosophie an der Universität Bremen Dr. Florian Waldow, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter einer EmmyNoether-Nachwuchsgruppe an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
J. Bellmann, T. Müller (Hrsg.), Wissen, was wirkt, DOI 10.1007/978-3-531-93296-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011