Wie wär's denn mit Heirat?
Debbie Macomber
Julia 1228 5- 1/97
Gescannt von almutK.
1. KAPITEL
Tracy Santiago mus...
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Wie wär's denn mit Heirat?
Debbie Macomber
Julia 1228 5- 1/97
Gescannt von almutK.
1. KAPITEL
Tracy Santiago musste auf Hochzeiten immer weinen. Es war ihr schrecklich peinlich, weil die Leute womöglich dachten, sie wollte auch geheiratet werden. Und Tracy lag nichts ferner als das. Sie hatte hohe Ideale und war oft ziemlich rechthaberisch, gerade was die Interessen von Frauen betraf. Jeder Mann, mit dem sie zusammen war, musste das verstehen, doch bis jetzt waren die Männer in ihrem Leben eine herbe Enttäuschung für sie gewesen. „Liebe Gemeinde, wir sind heute zusammengekommen, um die Verbindung von ..." Tracy senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. Sie stand neben Reverend Wilson in der kleinen Kirche von Hard Luck in Alaska, während ihre Freundin und ehemalige Klientin Mariah Douglas und Christian O'Halloran sich ewige Treue gelobten. Es war fast anderthalb Jahre her, dass man in einer Zeitungs anzeige verschiedene Jobs ausgeschrieben hatte, um Frauen nach Hard Luck zu holen. Die Brüder O'Halloran, die die kleine Charterfluggesellschaft Midnight Sons leiteten, hatten diese Aktion ins Leben gerufen. Sie hatten den Frauen eine kostenlose Unterkunft und außerdem ein neun Hektar großes Grundstück geboten, wenn diese sich bereit erklärten, ein Jahr lang in Hard Luck zu wohnen und zu arbeiten. Als der Reverend Mariah bat, das Ehegelübde zu sprechen, musste Tracy schlucken. Dann hob sie schnell das Kinn, weil sie sich nicht vor der ganzen Stadt zum Narren machen wollte, schon gar nicht vor Duke Porter. Als sie an jenem Sommermorgen den Artikel über die Aktion der O'Hallorans in Seattle gelesen hatte, war sie ausgesprochen misstrauisch gewesen, denn das Angebot hatte viel zu verlockend geklungen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es nichts umsonst gab, vor allem kein Land. Ihr erster Gedanke war, dass jede Frau, die einen Vertrag mit der Firma unterschrieb, vorher eine Anwältin bat, diesen zu überprüfen. Wer konnte denn wissen, was diese Buschpiloten im Schilde führten? In dem Moment ahnte Tracy natürlich nicht, dass sie diejenige sein würde, die den Vertrag auf seine Rechtmäßigkeit überprüfte. Einen Monat später vereinbarten Mr. und Mrs. Douglas einen Termin in der Kanzlei, in der Tracy tätig war, und man übertrug ihr diesen Fall. Mr. und Mrs. Douglas erzählten ihr, dass ihre Tochter Mariah als Sekretärin bei Midnight Sons angefangen hatte. Da die beiden sich Sorgen um Mariah machten, baten sie Tracy, den Vertrag zu überprüfen und schließlich nach einer Möglichkeit zu suchen, ihn zu brechen, damit sie Mariah wieder mit zurücknehmen konnte. Mr. und Mrs. Douglas' Schilderungen zufolge war Mariah liebenswert, leichtgläubig und naiv, besonders Männern gegenüber. Die beiden befürchteten, dass ihre Tochter einen großen Fehler gemacht hatte und nur deswegen in Alaska blieb, weil ihr Stolz es nicht zuließ, dass sie wieder zurückkehrte. Da Mrs. Douglas in Tränen aufgelöst war, steigerte Tracy sich in die Vorstellung hinein, dass ein Haufen Männer die Gutgläubigkeit dieser Frauen ausgenutzt hatte. Sie nahm den Auftrag sofort an und flog wenige Tage später nach Hard Luck, um sich selbst ein Bild zu machen. Tracy war bereit, für Mariahs Rechte und auch für die der anderen Frauen zu kämpfen. Zu ihrer Überraschung musste sie jedoch feststellen, dass unter den Einwohnern Hard Lucks ein starker Zusammenhalt bestand und alle hart arbeiteten. Noch verblüffter war sie, als sie mit den Frauen sprach, die einen Vertrag mit Midnight Sons unterschrieben hatten, denn obwohl sie in einfachen Unterkünften wohnten, wirkten alle zufrieden, manche sogar glücklich. Am meisten überraschte sie Mariah Douglas, denn sie war ganz anders, als ihre Eltern sie beschrieben hatten. Sie war zwar liebenswert, aber alles andere als leichtgläubig und naiv. Sie
hatte sich um den Job bei Midnight Sons beworben, um sich endlich dem Einfluss ihrer Eltern zu entziehen und ihr eigenes Leben zu leben. Ihre Eltern hatten die O'Hallorans verklagen wollen, aber Mariah hatte sich nicht darauf eingelassen. So war das Ganze im Sande verlaufen. Als der Reverend Christian aufforderte, das Ehegelübde zu sprechen, warf Tracy einen verstohlenen Blick in Duke Porters Richtung. Duke hatte bewusst in ihrer Nähe Platz genommen, um sie nervös zu machen, darauf wettete sie. Bei ihrem ersten Besuch in Hard Luck hatte sie Duke Porter kennengelernt, der als Pilot für Midnight Sons arbeitete. Er war der Inbegriff all dessen, was sie bei Männern verabscheute, denn er war ein sturer, selbstherrlicher Chauvi, der bei jeder Gelegenheit seine altmodischen Ansichten über Frauen zum besten gab. Für Duke waren Frauen tatsächlich das „schwache Geschlecht". Tracy vermutete, dass er zu den Männern gehörte, die Frauen in Führungspositionen ablehnten und ihnen auch am Liebsten das Wahlrecht entzogen hätten. Er sah nicht nur aus wie der Held aus einem altmodischen Western, sondern vertrat auch dieselben Ansichten. Vom ersten Augenblick an waren zwischen ihnen die Fetzen geflogen. Duke war der größte Prolet, dem Tracy je begegnet war, und allein der Gedanke an ihn brachte sie auf die Palme. Daher zwang sie sich, sich auf die Trauzeremonie zu konzentrieren. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, weil alle dabeisein wollten, wenn Mariah und Christian sich das Jawort gaben. Mariah war eine wunderschöne Braut, und sie strahlte die heitere Gelassenheit einer Frau aus, die wusste, dass sie über alles geliebt wurde. Kurz nachdem sie in Hard Luck eingetroffen war, hatte sie sich in Christian verliebt, während er über ein Jahr ge braucht hatte, um sich über seine Gefühle für sie klarzuwerden. Dann hatte er es plötzlich sehr eilig gehabt, als wollte er die verlorene Zeit aufholen. Erst zwei Wochen zuvor hatten die beiden sich verlobt. Obwohl Tracy alles andere als romantisch veranlagt war, fand sie es bezaubernd, dass er es gar nicht hatte abwarten können, mit Mariah vor den Altar zu treten. Sie gönnte den beiden ihr Glück von Herzen, doch sie selbst glaubte nicht an die große Liebe. Der Gedanke daran machte sie traurig, was sie sich allerdings nicht erklären konnte: Christian O'Halloran hatte kein Auge von Mariah wenden können, seit sie in Begleitung ihres Vaters die Kirche betreten hatte. Er war völlig vernarrt in sie, und Tracy wusste, dass Mariah überglücklich war. „Christian, du darfst die Braut jetzt küssen", sagte Reverend Wilson schließlich. Unter dem Beifall der Gäste zog Christian Mariah an sich, um seine Liebe zu besiegeln. Der Kuss dauerte so lange, dass einige Frauen verlegen kicherten und ein paar Männer anfingen zu pfeifen. Sobald die Trauzeremonie zu Ende war, machten sich die Gäste auf den Weg zur Schulturnhalle, wo der Empfang stattfinden sollte. Mariah hatte Tracy immer lange Briefe geschrieben und ihr von den jüngsten Ereignissen in Hard Luck berichtet. Daher nahm Tracy an, dass sie inzwischen besser informiert war als so mancher Einwohner. Sie war inzwischen öfter in Alaska gewesen und hatte festgestellt, dass auch sie das Land liebengelernt hatte und insbesondere Hard Luck, diese einzigartige Kleinstadt, die fünfzig Meilen nördlich des Polarkreises la g. In der Turnhalle stellte Tracy sich in die Nähe des Brautpaars, um die Hochzeitsgäste zu begrüßen. Die erste Gratulantin war Abbey O'Halloran, und sie trug ein spitzenbesetztes cremefarbenes Umstandskleid. „Tracy, wie schön, dich wiederzusehen!" sagte sie, während sie Tracy umarmte. „Ganz meinerseits." Tracy wusste, dass es klischeehaft war, eine Schwangere so zu beschreiben, doch Abbey
strahlte vor Glück. In ihrem letzten Brief hatte Mariah berichtet, die letzte Ultraschalluntersuchung hätte ergeben, dass Sawyer und Abbey ein Mädchen bekommen würden. Tracy war überrascht, dass sie die meisten Gäste kannte. Viele von ihnen hatte sie während ihrer Besuche in Hard Luck kennengelernt, und die anderen kannte sie aus Mariahs Schilderungen. Noch während sie hoffte, Duke Porter nicht auch die Hand schütteln zu müssen, tauchte er plötzlich vor ihr auf und grinste anmaßend, als müsste sie entzückt darüber sein, ihn zu sehen. Doch sie war alles andere als entzückt. Unwillkürlich versteifte sie sich. „Hallo, Duke", brachte sie hervor. Er durfte auf keinen Fall merken, wie sehr er sie verunsicherte. „Sagen Sie mal, habe ich vorhin in der Kirche tatsächlich Tränen in Ihren Augen gesehen?" „Ich habe leider keine Ahnung, wovon Sie reden", entgegnete sie scharf. Der Mann hatte ein Talent dafür, sie in Verlegenheit zu bringen. Duke fuhr sich gedankenverloren über das glattrasierte Kinn. „Ihre Augen haben verdächtig geglänzt, als Mariah und Christian sich das Jawort gegeben haben. Dabei waren Sie nie verheiratet, Tracy. Sie müssen mittlerweile fast dreißig sein." „Sie irren sich, Duke." Tracy wandte sich demonstrativ an den nächsten Gast in der Reihe, was Duke allerdings nicht im mindesten irritierte. „Ich frage mich, warum Sie nie geheiratet haben", meinte er. „Und Sie haben es sich vorhin anscheinend auch gefragt." „Im Gegenteil, ich habe nicht einen Gedanken daran verschwendet." Es ärgerte sie, dass sie sich so von ihm provozieren ließ. Er dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. „Der Mann, der eine Männerfeindin heiratet, muss wirklich ungewöhnlich sein." „Ich hasse die Männer nicht." Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. Duke Porter wusste genau, wie er sie auf die Palme bringen konnte. Was sie jedoch noch wütender machte, war die Tatsache, dass sie bei eine m dahergelaufenen Buschpiloten wie ihm so leicht die Fassung verlor. Das passierte ihr normalerweise nämlich nicht einmal bei den Staranwälten im Gerichtshof von King County. Duke lachte selbstgefällig. „Sie halten die anderen Gäste auf", erklärte Tracy, um ihn endlich loszuwerden. Daraufhin warf er einen Blick über die Schulter. „Stimmt. Wir können uns später unterhalten. Und dann gibt es kein Entkommen, das garantiere ich Ihnen." Als er sich zu ihr vorbeugte, zuckte sie zurück, was ihn wieder nicht im mindesten irritierte. „Tracy", flüsterte er ihr ins Ohr, „denken Sie daran, dass ich Ihnen noch etwas schulde." „Sie sollen mir noch etwas schulden?" „Für den Kuss." Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Duke Porter war der letzte Mann auf der Welt, den sie geküsst hätte. „Der Kuss, den Mariah mir von Ihnen gegeben hat", erinnerte er sie mit einem unverschämten Lächeln. „Also schulde ich Ihnen noch einen." Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr auf tun. Vor einigen Monaten hatte sie Mariah gebeten, Duke einen Kuss von ihr zu geben und ihn zu fragen, ob sie immer noch seine Lieblingsfeministin wäre. Es hatte eigentlich ein Scherz sein sollen, und sie hatte damals nicht damit gerechnet, ihn je wiederzusehen. Tracy schluckte unbehaglich, während sie sich sagte, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Hunde, die bellen, beißen nicht, dachte sie. Erst als der Gast hinter ihm sich vernehmlich räusperte, riss Duke sich von ihr los und ging
weiter, um dem Brautpaar zu gratulieren. Während sie ihm hinterherschaute, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit ihm. Sie hatte sofort auf seine sinnlich- herbe Ausstrahlung reagiert, obwohl sie sich dagegen gewehrt hatte. Mit seinen ein Meter neunzig war er fast einen Kopf größer als sie und außerdem sehr muskulös. Allerdings hatte er sich seine kräftige Statur nicht im Fitnessstudio erworben, sondern durch harte Arbeit. Er hatte glattes dunkles Haar und dunkelgraue Augen. Tracy hatte braune Augen und einen Kurzhaarschnitt. Da sie hart arbeitete, konnte sie nicht viel Zeit auf ihr Äußeres verwenden. Ihr waren Frauen, die ihre Schönheit einsetzten, um ihr Ziel zu erreichen, sowieso suspekt. Ihre Garderobe bestand aus zahlreichen Kostümen in Grau- und Blautönen, ein paar Freizeitsachen und einem etwas schickeren Kleid, das Tracy ausschließlich dann trug, wenn sie an Wohltätigkeitsveranstaltungen teilnahm. Das rosarote Seidenkleid, das sie an diesem Tag trug, war ihr eigentlich viel zu feminin, und sie hatte es nur deswegen angezogen, weil sie Mariahs Brautjungfer war. Tracy hatte für alles Feminine ohnehin wenig übrig, denn ihrer Meinung nach diente es bloß als Lockmittel für die Männer. Sie hatte bereits ziemlich früh die bittere Erfahrung gemacht, dass intelligente Frauen Männer oft verunsicherten. Welcher Mann gab schon gern zu, dass eine Vertreterin des sogenannten schwachen Geschlechts mehr im Kopf hatte als er? Und Tracys Ansicht nach war Duke ein klassische s Beispiel für diese Spezies. Während des Empfangs versuchte sie daher, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Als sie zum Büffet ging, wetteiferten drei Piloten darum, wer ihr das Essen bringen durfte. Während die Männer ihren Schlagabtausch führten, füllte Tracy sich etwas auf und setzte sich anschließend an einen Tisch, um zu essen. Amüsiert beobachtete sie, wie die drei daraufhin zum Büffet eilten, um noch einen Platz neben ihr zu ergattern. Obwohl sie mit vielen Männern ausgegangen war und auch einige kurzfristige Beziehungen hinter sich hatte, hatten bisher selten mehrere Verehrer um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt. Was das Leben in Alaska betraf, so war dies ein Aspekt, den sie bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Gerade als sie sich in Sicherheit wähnte, kam Duke an ihren Tisch und forderte sie zum Tanzen auf. Während sie noch fieberhaft nach einer Ausrede suchte, führte er sie schon auf die Tanzfläche, und da sie keine Szene machen wollte, ließ sie es gesche hen. „Ich habe Sie gerade beobachtet", meinte er, und sein Tonfall war beinah freundlich. Tracy schwieg beharrlich. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Duke sie damit für den Kuss bestrafen wollte, den Mariah ihm in Ihrem Auftrag gegeben hatte. „Mir ist endlich klargeworden, was Sie wirklich brauchen", fuhr er fort. Tracy verdrehte demonstrativ die Augen. Das konnte ja heiter weiden! Doch er hatte es offenbar nicht eilig damit, sie aufzuklären. „Sie gehören zu den Frauen, die sich den Männern überlegen fühlen, nur weil sie studiert haben", erklärte er schließlich. Sie wollte sofort widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Diesmal würde sie sich auf kein Wortgefecht mit ihm einlassen. „Sie haben sich wohl für ziemlich clever gehalten, als Sie Ted, Ralph und Jim eben ausgetrickst haben, stimmt's? Wahrscheinlich sind Sie es gewohnt, dass die Männer um Ihre Aufmerksamkeit buhlen." Tracy verzichtete wohlweislich auf eine Antwort. „Anscheinend gehören Sie zu den Frauen, die erst gezähmt werden müssen." Trotz all ihrer guten Vorsätze verlor sie jetzt die Beherrschung. „Sie sind also der Meinung, dass eine Frau gezähmt werden muss?" ,,Es wäre natürlich nicht einfach", fuhr Duke ungerührt fort. ,,So etwas könnte nur ein richtiger Kerl, keiner von diesen Softies, mit denen Sie normalerweise ausgehen." „Wie bitte?" entgegnete sie mühsam beherrscht.
„Ich kann mir diese Typen lebhaft vorstellen", sagte er selbstgefällig. „Es sind die, die versuchen, zu sich selbst zu finden." „Erzählen Sie das mal Gavin." „Ist der Knabe Ihr Freund?" „Wenn Sie ihn sehen würden, würden Sie ihn nicht mehr so nennen", neckte sie ihn, während er sie über die Tanzfläche führte. „Ach ja? Beschreiben Sie ihn mir." Tracy ertappte sich dabei, wie sie im Geiste Gavins Tugenden aufzählte, obwohl sie weit davon entfernt war, sich in ihren Kollegen zu verlieben. Er hatte eine witzige Art, und sie war gern mit Ihm zusammen, aber es war nichts Ernstes. „Sicher ist er liebevoll und sensibel", murmelte Duke. „Gavin ist ein moderner Mann." Kaum hatte sie die Worte aus gesprochen, wurde ihr klar, dass sie sich wieder hatte provozieren en. Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ein moderner Mann! Ich kann ihn mir lebhaft vorstellen." „Sie kennen ihn ja nicht einmal." „Das ist auch nicht nötig. Er ist genau Ihr Typ. Ehe er sich's versieht, hat er einen Ring in der Nase, und Sie führen ihn Ihren Freundinnen vor, um ihnen zu zeigen, wie toll Sie sind. Aber sobald sie die Nase voll von ihm haben, heißt es: ,Bye-bye, Gavin'." „Jetzt weiß ich, was Ihr Problem ist", entgegnete sie ruhig. „Sie leben noch im finstersten Mittelalter. Und ausgerechnet Sie reden davon, dass ich mit fast dreißig noch nicht verheiratet bin. Was ist denn mit Ihnen?" „Ich habe nicht das Bedürfnis zu heiraten." „Ich auch nicht." Wieder stieß er einen verächtlichen Laut aus, als würde er ihr kein Wort glauben. „Das ist doch sehr aufschlussreich, nicht?" spottete sie. „Für Sie ist es ganz selbstverständlich, solo zu bleiben, aber einer Frau gestehen Sie das Recht nicht zu." „Die Frauen sind von jeher darauf aus, die Männer zu kontrollieren." „Meiner Meinung nach ist es genau umgekehrt. Männer glauben offenbar, dass es ihr gottgegebenes Recht ist, Frauen zu beherrschen." „Gott hat die Frau erschaffen, damit sie den Mann erfreut." Tracy stöhnte entnervt. Duke Porter lebte nicht im Mittelalter, sondern in der Steinzeit. „Sie meinen, damit sie dem Mann Vergnügen bereitet, stimmt's?" Wieder lächelte er selbstgefälllig. „Das auch." „Ich fasse es nicht!" Noch bevor die Musik zu Ende war, befreite Tracy sich aus seiner Umarmung und verließ die Tanzfläche. Duke folgte ihr. „Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass ich Ihnen noch etwas für den Kuss schulde." „Ich habe Sie nicht geküsst." „Stimmt, aber Sie haben es sich gewünscht. Und jetzt wünschen Sie es sich auch." „Lieber würde ich eine Klapperschlange küssen", versicherte sie ihm mit einem zuckersüßen Lächeln. „Das muss nicht sein", meinte er forsch. „Küssen Sie stattdessen lieber mich." Duke zog sich zurück und beobachtete aus einiger Distanz, wie seine Freunde Tracy umschwärmten wie die Motten das Licht. Es ärgerte ihn, dass seine Kollegen, die er bewunderte und denen er vertraute, auf ein hübsches Gesicht hereinfielen. Verdammt, so hübsch war Tracy Santiago nun auch wieder nicht! Sie sah ganz niedlich aus, das war alles. Und eines war sicher: Er mochte sie nicht, und er würde sie auch nie mögen. Duke erinnerte sich noch ganz genau an seine erste Begegnung mit ihr. Er hatte vom ersten
Moment an gewusst, dass sie auf Konfrontationskurs war, denn sie wollte beweisen, dass seine Arbeitgeber die Frauen nur ausnutzten. Das war natürlich Unsinn. Alle Frauen, die nach Hard Luck gezogen waren, hatten es aus freiem Willen getan. Die O'Hallorans hatten zwar alles darangesetzt, um ihnen die entsprechenden Anreize zu bieten, doch keine von ihnen war zu etwas gezwungen worden. Tracy hatte jedenfalls keine Zeit verschwendet und war nach Hard Luck gereist, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Sie war eine Frau, die wusste, was sie wollte. Duke war sie von Anfang an unsympathisch gewesen, aber seltsamerweise hatte er sie nicht vergessen können und noch Monate danach über seine Auseinandersetzungen mit ihr nachge dacht. Bisher hatte sich noch niemand so gegen ihn behauptet, und immer wenn er sie provoziert hatte, hatte sie ihm Kontra gegeben. Außerdem hatte er sie einmal am Apparat gehabt, als er im Büro ans Telefon gegangen war. Dieser Vorfall hatte ihn an all die Eigenschaften erinnert, die er an ihr hasste - und an die, die er nicht an ihr hasste. Mariah machte es offenbar Spaß, ihn mit seiner Abneigung gegen Tracy aufzuziehen, indem sie ständig ihren Namen fallen ließ. Dann hatte sie ihn eines Tages auch noch geküsst. Ausge rechnet Mariah! Er und die anderen Piloten hatten nämlich schon an ihrem ersten Arbeitstag gemerkt, dass sie ein Auge auf Christian geworfen hatte. Umso entsetzter war er gewesen, als sie ihn geküsst hatte. Schließlich hatte sie alles ruiniert, indem sie erklärt hatte, der Kuss wäre von Tracy gewesen. Was Duke allerdings am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er den Kuss nicht vergessen konnte. Ständig fragte er sich, wie es gewesen wäre, wenn Tracy ihn selbst geküsst hätte. Doch die Vorstellung, zwischen Tracy und ihm könnte sich etwas anbahnen, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Kein Mann hatte es nötig, sich das anzutun. Da Tracy aber in Seattle lebte und er in Hard Luck, war die Wahrscheinlichkeit, dass es passierte, äußerst gering. Sein Vater hatte damals vergeblich versucht, seine Ehe über eine solche Entfernung aufrechtzuerhalten, und damit die Familie zerstört. Dukes Mutter hatte Alaska gehasst und war wenige Jahre nach der Hochzeit nach Texas gezogen, wo ihre Familie und ihre Freunde lebten. Sein Vater dagegen blieb in Alaska, und wiederum einige Jahre später ließen die beiden sich scheiden. Da Duke Texas hasste, zog er kurz darauf zu seinem Vater, mit dem er sich gut verstand. John Porter hatte nie wieder geheiratet, was Duke ihm nicht verdenken konnte. John war einige Jahre zuvor gestorben, und seine Mutter hatte nach der Scheidung wieder geheiratet und noch mehr Kinder bekommen. Duke hörte kaum noch von ihr, was ihm nur recht war, denn sie hatten wenig gemeinsam. Er nahm an, dass er seine Mutter nur an ihre unerfreuliche Vergangenheit erinnerte. Ihm war durchaus klar, dass die gescheiterte Ehe seiner Eltern ihn sehr misstrauisch gemacht hatte, was Frauen betraf. Trotzdem hatte er, kurz nachdem Mariah ihn geküsst hatte, einen Freund gebeten, ein Blind Date für ihn zu arrangieren. Obwohl er sich normalerweise nicht mit Frauen traf, die er nicht kannte, hatte er einmal etwas riskieren wollen. Außerdem ließ sein Beruf ihm nicht viel Zeit dafür, Frauen kennenzulernen. Zwischen Laurie und ihm hatte sich sofort etwas angebahnt. Laurie war geschieden und hatte ein paar Kinder, um die sich ihr Exmann an den Wochenenden kümmerte. Dass sie nicht daran interessiert war, wieder zu heiraten, war Duke nur recht gewesen. Er wollte auf keinen Fall zulassen, dass eine Frau über sein Le ben bestimmte. Andererseits hatte er auch nichts gegen eine unverbindliche Beziehung. Doch schon nach wenigen Wochen hatte er festgestellt, dass Laurie ihn langweilte. Während sie ganz verrückt nach ihm war, empfand er gar nichts für sie. Wenn er mal etwas lauter sprach, brach sie gleich in Tränen aus, und wenn er sie bewusst provozierte, lächelte sie
bloß und gab ihm recht. Bereits nach kurzer Zeit ertappte er sich dabei, wie er faule Ausreden erfand, nur um sie nicht sehen zu müssen. Er tauschte sogar mit seinen Kollegen einige Flüge, um nicht nach Fairbanks fliegen zu müssen. Als er dann merkte, dass es ihr gegenüber nicht fair war, gab er sich einen Ruck und beschloss, sie zu besuchen, um mit ihr Schluss zu machen. Im Grunde rechnete er damit, dass sie wieder in Tränen ausbrach, ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte, und ihn bat, bei ihr zu bleiben. Während des Fluges nach Fairbanks legte Duke sich eine kleine Rede zurecht, in der er die Schuld auf sich nahm und Laurie um Verzeihung und Verständnis bat. Schließlich musste er jedoch feststellen, dass er völlig unvorbereitet war auf das, was ihn tatsächlich erwartete. Als er mit seinem Blumenstrauß vor ihr stand und sich wie ein Idiot vorkam, lächelte Laurie verlegen und stellte ihm ihren neuen Mann vor. Ihm hatte es schwer zu schaffen gemacht, derart hintergangen worden zu sein. Im nachhinein fand Duke das Ganze eher komisch, aber damals war er außer sich vor Wut gewesen und hatte Dinge gesagt, die er später bereut hatte. Die Blumen hatte er in die nächste Mülltonne geworfen. Auf dem Rückflug nach Hard Luck war ihm dann klargeworden, dass Tracy niemals einen Mann so an der Nase herumgeführt hätte wie Laurie. Wenn sie etwas zu sagen hatte, dann sagte sie es auch, und sie hätte sich niemals heimlich mit einem anderen getroffen. An dem Tag war Tracy ihm genausowenig aus dem Sinn ge langen wie jetzt. Sobald der Empfang vorüber war, ging Tracy mit Mariah in einen Kaum neben der Turnhalle, um ihr beim Umziehen zu helfen. Mariah und Christian würden ihre Hochzeitsnacht in Fairbanks verbringen und am nächsten Tag nach Kalifornien weiterfliegen. Von dort aus wollten sie zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt in der Karibik starten. Mit Tränen in den Augen umarmte Tracy Mariah, die inzwischen ihre beste Freundin war. „Mein Traum ist wahr geworden", flüsterte Mariah. „Ich habe immer geglaubt, Christian würde nie merken, dass er mich liebt." „Er ist wie alle Männer", neckte Tracy. „Er weiß einfach nicht, was gut für ihn ist." „Ach, bevor ich es vergesse", meinte Mariah, während sie ihren Mantel nahm. „Du musst morgen früh um kurz vor zehn auf «lern Flugplatz sein. Und zieh dich warm an." „Wird gemacht." Tracy wollte ihre Freundin nicht aufhalten. „Hier ist bereits der Winter eingebrochen, obwohl erst September ist. Die Flüsse sind zwar noch nicht zugefroren, aber es hat schon ein paarmal geschneit." Tracy brauchte nur aus dem Fenster zu schauen, um den Be weis dafür zu sehen. Für sie war Schnee im September etwas Unbekanntes. Mariah strahlte vor Glück. „Wundere dich nicht, wenn ich dir meinen Brautstrauß zuwerfe. Ich erwarte von dir, dass du ihn auch fängst." „Was?" fragte Tracy gespielt entsetzt. „Bist du verrückt ge worden?" „O nein. Ich möchte bloß, dass du auch so glücklich bist wie ich." Nun wurde Tracy ernst. Als Anwältin hatte sie oft genug miterlebt, wie bitter manche Ehe endete. Doch das war nicht der einzige Grund, warum sie sich bisher immer gescheut hatte, eine feste Bindung einzugehen. „Wirf ihn lieber einer der anderen Frauen zu", schlug sie daher vor. „Auf keinen Fall. Den Strauß bekommst du." Tracy wusste nicht, ob sie sich bei ihrer Freundin bedanken sollte. „Ach, und noch etwas", sagte Mariah schnell. „Was?" „Sei bitte nicht böse auf mich", bat Mariah leise. „Ich habe damit nichts zu tun." „Warum sollte ich böse auf dich sein?" Tracy umarmte sie zum Abschied noch einmal.
Mariah lächelte schwach. „Weil Duke dich morgen nach Fairbanks bringt."
2. KAPITEL
„Ich glaube, es ist Zeit, dass wir dich nach Hause bringen", sagte Bethany Harris, während sie sich neben Ben setzte. Nachdem Christian und Mariah weggefahren waren, neigte die Feier sich dem Ende zu. „Schon?" Ben Hamilton runzelte die Stirn. Er war es nicht ge wohnt, dass alle so ein Theater um ihn machten. Zumindest konnte er wieder in seinem Bett schlafen, denn in dem Krankenhaus in Fairbanks hätte er es nicht viel länger ausgehalten. Der Arzt hatte ihm viel Ruhe verordnet, es jedoch leider versäumt, das auch den Krankenschwestern mitzuteilen. Ben hatte weder tagsüber noch nachts seine Ruhe gehabt, weil sie ihn ständig gestört hatten. Die Operation am offenen Herzen hatte ihn sehr geschwächt. Vor dem Herzinfarkt hatte er von früh bis spät in seinem Cafe gestanden und war abends immer noch munter genug gewesen, um Karten spielen, lesen oder fernsehen zu können. Doch nun musste er sogar tagsüber einige Stunden schlafen, was ihm überhaupt nicht passte. Sowohl die Ärzte als auch Bethany hatten ihm versichert, dass er sich bald wieder wie neugeboren fühlen würde. Er hoffte, dass es stimmte, denn ihm war klar, dass er ein schwieriger Patient war. Die Krankenschwestern hätten es sicher bestätigt! „Wie geht es dir?" riss Bethany ihn aus seinen Gedanken. „Sehr gut." Liebevoll tätschelte Ben ihr den Arm. Noch immer fiel es ihm schwer, zu glauben, dass er der leibliche Vater dieser schönen jungen Frau war. Erst nachdem sie vor einem Jahr nach Hard Luck gekommen war, hatte er davon erfahren. Für ihn war es der größte Schock seines Lebens gewesen. Bethany hatte ihn aufgespürt und sich um die freie Stelle an der Schule beworben, um ihn kennenzulernen. Dort unterrichtete sie noch immer, denn sie hatte inzwischen geheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Eine Tochter zu haben war für Ben wie ein Geschenk, zumal er schon lange aufgehört hatte, an Wunder zu glauben. Bis vor kurzem hatte nur Mitch, Bethanys Mann, davon gewusst. Ben hatte zwar vermutet, dass die O'Hallorans etwas ahnten, aber sie hatten ihm nie Fragen gestellt. Nach seinem Herzinfarkt hatten es alle Einwohner in Hard Luck erfahren, was ihm durchaus recht war. „Ich bringe dich nach Hause", schlug Bethany vor. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er die ersten Tage bei Bethany und Mitch gewohnt. Da er es jedoch kaum ertrug, ständig bemuttert zu werden, hatte er schließlich darauf bestanden, wieder in seine Wohnung zurückzukehren. Bethany hatte daraufhin dort saubergemacht und sogar einen Blumenstrauß auf den Tisch gestellt. Zuerst hatte sie sich Sorgen gemacht, weil seine Wohnung im ersten Stock über dem Cafe lag, aber er hatte ihr versprochen, beim Treppensteigen vorsichtig zu sein. Ben hoffte, bald wieder mit der Arbeit anfangen zu können. Er mochte gar nicht daran denken, was für einen Verlust er machte, solange das Cafe geschlossen war. Außerdem gab es viele Leute im Ort, die selbst nicht kochten und regelmäßig bei ihm aßen. Trotz der vielen Hochzeiten, die in letzter Zeit stattgefunden hatten, waren die meisten Männer in Hard Luck noch Junggesellen, und viele von ihnen waren Stammgäste bei ihm. Seit dem Tag seiner Eröffnung war das Hard Luck Cafe immer der Treffpunkt der Stadt gewesen. „Wollen wir gehen?" erkundigte sich Bethany. Ben wäre zwar gern noch länger geblieben, doch da er sich zu schwach fühlte, um zu widersprechen, stand er schließlich auf. Seine Tochter hakte sich bei ihm unter. „Ich spiele mit dem Gedanken, das Cafe wieder zu öffnen", erklärte er und fügte schnell hinzu: „Natürlich nur stundenweise." „Kommt gar nicht in Frage." „Nur zum Abendessen", versuchte er es noch einmal. „Auf keinen Fall."
Er kannte diesen Tonfall. Bethany war offenbar genauso stur wie er. „Warum lächelst du?" wollte sie wissen. „Ach nichts." Bevor sie die Turnhalle verließen, ging Bethany zu Mitch, um ihm Bescheid zu sagen. Chrissie, ihre Stieftochter, spielte gerade mit den anderen Kindern, und nachdem Mitch ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte, nahmen Bethany und er Ben in die Mitte. Ben fühlte sich zwar wie ein kleines Kind, ließ sich aber von den beiden nach Hause bringen. Das leere Cafe wirkte alles andere als anheimelnd, und er konnte es kaum abwarten, es wieder zu öffnen. Da ihn die Feier sehr angestrengt hatte, ging er diesmal ganz langsam die Treppe hinauf, wobei er immer nur eine Stufe auf einmal nahm. Bethany und Mitch merkten natürlich sofort, wie schwach er war. Oben angelangt, führte Mitch ihn zu seinem Lieblingssessel. „Setz dich, und fühl dich wie zu Hause." „Ich bin zu Hause", entgegnete Ben scharf, bedauerte es aber sofort. „Ich bin eben gern in meiner gewohnten Umgebung. Ich ... ich weiß es zu schätzen, dass ihr euch Sorgen um mich macht." Mitch tätschelte ihm verständnisvoll die Schulter. Für Ben hatte es etwas Tröstliches, in seiner gewohnten Umge bung zu sein und die vertrauten Dinge um sich zu haben: seinen Ruhesessel, den Fernseher und die amerikanische Flagge, die ge rahmt an der Wand hing. Es war ein kleine s Andenken an die mehr als zwanzig Jahre, die er in der Navy verbracht hatte. Es war zwar nicht luxuriös, aber es war sein Zuhause, und er fühlte sich dort wohl. „Nehmt euch etwas zu trinken", meinte er und deutete in Richtung Küche. Überrascht stellte er fest, dass Mitch das Angebot annahm. In letzter Zeit waren Bethany und er nie lange bei ihm geblieben, doch Ben machte ihnen daraus keinen Vorwurf. Sie hatten genug um die Ohren, und er wusste selbst, dass seine Gesellschaft nicht so angenehm war. Bethany setzte sich auf den Sessel ihm gegenüber, während Mitch auf der Lehne Platz nahm und seiner Frau einen Arm um die Schultern legte. Im Frühling würden die beiden Nachwuchs bekommen. Auch der Gedanke an sein Enkelkind hatte Ben dabei geholfen, sich von der schweren Operation zu erholen. Da er die Chance verpasst hatte, seine Tochter aufwachsen zu sehen, freute er sich nun um so mehr darauf, Großvater zu werden. „Wir möchten mit dir über das Cafe sprechen." Bethany warf Mitch einen flüchtigen Blick zu. Ben verspannte sich unwillkürlich. Er hätte sich denken können, dass irgend etwas im Busch war. Doch wenn die beiden glaubten, sie könnten ihn dazu überreden, aufzuhören und das Cafe zu verkaufen, hatten sie sich getäuscht. „Ich verkaufe es nicht", erklärte er. „Wir würden nie von dir verlangen, das Cafe zu verkaufen", erwiderte Bethany. Sofort entspannte er sich ein wenig. „Wir wollten dir nur vorschlagen, eine Aushilfe einzustellen." „Das hatte ich auch vor." „Du redest aber schon seit Monaten davon", erinnerte sie ihn. „Mittlerweile hast du eine schwere Operation hinter dir und hast es immer noch nicht geschafft." „Na ja ..." „Und kaum bist du aus dem Krankenhaus raus, willst du das Cafe wieder öffnen." „Nur stundenweise." Ihm war klar, dass die beiden ihm gar nicht zuhörten. Sie hatten sich bereits entschieden - wie er. „Und du glaubst, dass es dabei bleibt?" erkundigte sich Bethany mit einem wissenden
Unterton. Ben vermutete, dass sie recht hatte. Wenn er das Cafe zuerst lediglich in den Abendstunden öffnete, würden seine Gäste bald auch mittags kommen, und ehe er sich's versah, war er wieder im alten Trott. Doch das Cafe war sein Leben, und er sehnte sich danach, wieder seine Freunde um sich zu haben. Er vermisste die Gespräche mit seinen Gästen so sehr, dass er sich richtig einsam fühlte. „Die Leute brauchen mich", sagte er. „Das wissen wir." Zumindest Mitch war seiner Meinung. „Deswegen wollen wir ja auch, dass du sofort eine Aushilfe einstellst, und zwar jemanden, der bereits Erfahrung auf diesem Gebiet hat." „Und wo soll ich jemanden mit Erfahrung finden?" Ben wollte ein für allemal klarstellen, dass er von ihrer Idee nicht viel hielt. „Ich kann es mir nicht leisten, eine Spitzenkraft zu bezahlen." Seine Gedanken überschlugen sich beinah, als er sich die Situation ausmalte. Wenn er einen Koch einstellte, würde der sofort das Regiment in der Küche übernehmen. „Ich habe schon mit Matt und Karen darüber gesprochen, ob sie einen Pensionsgast aufnehmen können, und ..." In diesem Moment ging Ben ein Licht auf. „Von wem redest du?" fiel er Mitch ins Wort. Wieder wechselten die beiden einen Blick. „Von Mrs. McMurphy", erwiderte Mitch schließlich. „Eine Frau?" „Hast du etwas dagegen, Ben?" erkundigte sich Bethany herausfordernd. Ben wollte ihr gerade erklären, warum er etwas dagegen hatte, dass eine Frau in seiner Küche arbeitete. Doch dann überlegte er es sich anders, weil er Bethany nicht kränken wollte. „Wo habt ihr sie gefunden?" „In Fairbanks. Sie hat einige Jahre im Sourdough Cafe ge kocht. Christian und Sawyer essen oft dort und kennen sie daher. Sie hat ihnen erzählt, dass sie einen Tapeten Wechsel gebrauchen könnte." Ben wusste, dass das Sourdough Cafe für sein gutes Essen bekannt war. „Sie hat bestimmt keine Lust, in Hard Luck zu arbeiten", murmelte er. „Warum unterhältst du dich nicht einfach mal selbst mit ihr?" schlug Bethany vor. „Ich habe mit Sawyer gesprochen, und er hat gesagt, einer der Piloten könnte sie nächste Woche mitnehmen, wenn er die Post in Fairbanks abholt. Wenn sie dir nicht sympathisch ist, lässt du eben die Finger davon." Er war sicher, dass er sie nicht mögen würde, wollte die beiden aber nicht enttäuschen. Selbst wenn diese Mrs. McMurphy eine gute Köchin war, hieß das noch lange nicht, dass er eine Fremde in seine Küche ließ. „Sprichst du wenigstens mal mit ihr?" drängte Bethany. „Also gut", gab er schließlich nach, „aber ich verspreche nichts." Am nächsten Morgen war Tracy die erste auf dem Flugplatz. Da der Himmel wolkenverhangen war und es schneite, fragte sie sich, ob der Flug vielleicht ausfallen würde. Als sie mit ihrem Koffer in der Hand den Wohnwagen betrat, in dem sich das Büro von Midnight Sons befand, sah sie als erstes Duke. Er hatte den Blick auf das Klemmbrett gerichtet, das er in der Hand hielt, und beachtete sie gar nicht. Allerdings hatte sie das auch nicht erwartet. Sawyer O'Halloran war ebenfalls im Büro. Er saß am Funkge rät und informierte sich offenbar über die neuesten Wettermeldungen. Sobald er fertig war, schaltete er das Funkgerät aus und drehte sich um, um Tracy zu begrüßen. Im Gegensatz zu Abbey siezte er sie. „Scheint so, als würden Sie mit Duke allein fliegen." Das klang ja nicht sehr vielversprechend. „Und was ist mit Mr. und Mrs. Douglas?"
erkundigte sie sich. „Ich dachte, wir würden zusammen fliegen." „Sie haben beschlossen, einen Tag länger in Hard Luck zu bleiben", erklärte er. „Mrs. Douglas möchte nicht fliegen, wenn es schneit." „Stellt das schlechte Wetter denn ein Problem dar?" „Vermutlich nicht. Außerdem ist Duke unser bester Pilot. Sie brauc hen sich keine Sorgen zu machen." Dann bemerkte er ne benbei, dass das Flugzeug erst kurz zuvor gewartet worden war. Nun schaute Duke zu ihr auf. „Möchten Sie lieber morgen mit Mr. und Mrs. Douglas fliegen?" Sein Tonfall war zwar sachlich, aber seine Augen funkelten herausfordernd. „Nein, ich fliege heute." Tracy hatte auch keine Wahl, denn sie hatte einen vollen Terminplan und konnte es sich nicht leisten, einen Tag länger als geplant wegzubleiben. „Wann geht Ihr Flug in Fairbanks?" Nachdem sie ihm die Zeit genannt hatte, warf Duke einen Blick auf seine Armbanduhr. „Dann lassen Sie uns jetzt starten. Wenn wir Glück haben, geraten wir nicht in den Schneesturm." Als sie ihren Koffer hochhob, den sie vorher abgestellt hatte, fügte Duke hinzu: „Sie haben doch keine Angst vor dem bisschen Schnee, oder?" „Natürlich nicht", erwiderte sie steif. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie weder ihm noch dem Wetter ganz traute. Duke warf ihr einen anerkennenden Blick zu, bevor er das Klemmbrett weglegte. „Sind Sie fertig?" „Na klar", meinte sie gezwungen fröhlich. Als er das Büro verließ, zögerte sie jedoch und wandte sich noch einmal an Sawyer. „Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie sehr fair zu den Frauen waren, die Sie eingestellt haben." Sie hatte sich schon lange bei ihm entschuldigen wollen, bisher jedoch noch keine Gelegenheit dazu gehabt. „Ich weiß, dass wir am Anfang einige Probleme miteinander hatten, aber jetzt freue ich mich für Mariah und Christian - und für die anderen Frauen." Sawyer lächelte und machte eine wegwerfende Geste. „Schon gut. Sie haben nur Ihre Arbeit getan. Mr. und Mrs. Douglas sind rechtschaffene Leute, und ich verstehe, dass sie sich Sorgen um Mariah gemacht haben." Nachdem Tracy ihr Herz erleichtert hatte, fühlte sie sich wesentlich besser, denn es hatte sie das ganze Wochenende belastet. Sie hatte den O'Hallorans nicht schaden wollen, und mittlerweile respektierte sie sie sogar. Daher wollte sie alle Unstimmigkeiten aus dem Weg räumen. „Ich gehe jetzt besser", sagte sie mit einem Blick zur Tür. „Vielen Dank für das schöne Wochenende." „Wir haben uns gefreut, dass Sie sich so kurzfristig für die Hochzeit freinehmen konnten." Obwohl es nicht ganz einfach gewesen war, hatte sie einige Termine verschieben können. Um nichts in der Welt hätte sie die Hochzeit ihrer besten Freundin verpassen wollen, und dafür hatte sie auch die weite Reise auf sich genommen. Als sie sich zu Duke gesellte, inspizierte dieser gerade das Flugzeug von außen. „Sie können schon einsteigen", sagte er geistesabwesend. „Danke." Tracy war sicher, dass ihr die eine Stunde Flugzeit wie eine Ewigkeit vorkommen würde. Sie hatte Mariahs Rat befolgt und eine Wollhose und einen dicken Pullover angezogen. Da das Flugzeug beheizt war, wusste sie nicht, ob sie ihre Jacke ausziehen sollte oder nicht. Duke wollte sie jedenfalls nicht fragen, denn je weniger sie mit ihm sprach, desto besser. Schließlich beschloss sie, die Jacke anzubehalten, weil er seine auch nicht auszog. Sobald sie Platz genommen hatte, legte sie den Sicherheitsgurt an und hielt den Atem an. Normalerweise hatte sie keine Angst vorm Fliegen, doch sie war bisher sehr selten in einer so kleinen Maschine geflogen, noch dazu in einem Unwetter. Andererseits hatten weder Sawyer
noch Duke irgendwelche Bedenken geäußert, und Midnight Sons war für seinen hohen Sicherheitsstandard bekannt. Nachdem Duke sich ebenfalls hingesetzt hatte, startete er den Motor. Dann setzte er die Kopfhörer auf und schaltete das Funk gerät ein. Tracy konnte kaum verstehen, was er sagte, weil das Motorengeräusch so laut war. Er ließ das Flugzeug zum Ende der unbefestigten Start- und Landebahn rollen und drehte dort, bevor er die Messinstrumente checkte. Inzwischen herrschte richtiges Schneetreiben, doch das schien ihn nicht zu beeindrucken. Also redete Tracy sich ein, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Allerdings war das leichter gesagt als getan ... Das Motorengeräusch wurde immer lauter, als Duke beschleunigte und die Start- und Landebahn entlangraste. Kurz darauf waren sie in der Luft, und wenige Minuten später nahm er den Kopfhörer ab und verstaute ihn hinter ihrem Sitz, wobei er Tracy einen fragenden Blick zuwarf. „Mir geht es gut", rief sie. Da sie jedoch die Hände zu Fäusten geballt hatte, war ihm sicher nicht entgangen, wie angespannt sie war. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie sich genausogut auch mit ihm versöhnen konnte, nachdem sie mit den O'Hallorans Frieden geschlossen hatte. Dennoch brachte sie kein Wort über die Lippen. Bei ihm war die Situation viel persönlicher. Er war der Ansicht, dass man eine Frau zähmen musste. Also wirklich! Merkte er denn nicht, dass er im 20. Jahrhundert lebte? Wahrscheinlich konnte sie ihn durch nichts von seiner vorgefassten Meinung abbringen, und es war zwecklos, es überhaupt zu versuchen. Tracy seufzte und schloss die Augen, um ein bisschen zu schlafen. Es würde ihr sicher nicht gelingen, aber wenn sie so tat, als ob, würde Duke sie wenigstens in Ruhe lassen. Irgendwann hatte sie den Eindruck, dass irgend etwas nicht stimmte, denn das Motorengeräusch hatte sich verändert. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass Duke den Blick auf das Armaturenbrett gerichtet hatte. „Was ist los?" fragte sie, doch er antwortete nicht. „Spielen Sie keine Spielchen mit mir!" Dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, es ihr für diesen albernen Kuss heimzuzahlen. Trotzdem hoffte sie, dass er genau das tat. Duke schaute sie jedoch an, als wüsste er nicht, was sie meinte. „Na gut, ich habe Mariah gebeten, Ihnen einen Kuss von mir zu geben", fuhr sie wütend fort. „Ich gebe zu, dass es albern war, und ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Aber wenn Sie mir jetzt angst machen wollen, um sich an mir zu rächen, dann ..." Plötzlich fluchte er laut. „Was ist los?" erkundigte sie sich wieder. Nun fing der Motor an zu stottern. Es war offensichtlich, dass sie ernsthafte Probleme hatten ... „Wir verlieren an Höhe", stellte Tracy entsetzt fest. „Halten Sie Ausschau", befahl Duke. „Wonach?" „Nach einem Platz zum Landen." Kaum hatte Duke die Worte ausgesprochen, starb der Motor ab. Christian und Mariah saßen in der Transithalle im Flughafen von Fairbanks und warteten auf ihren Flug. Christian hatte Mariah den Arm um die Schultern gelegt und strich ihr übers Haar. Noch war es ein ungewohntes Gefühl für ihn, verhe iratet zu sein. „Unser Flug müsste eigentlich bald aufgerufen werden", sagte er. Die Vorstellung, eine zweiwöchige Kreuzfahrt in der Karibik mit seiner Frau zu machen, war einfach himmlisch. In den letzten drei Wochen hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Noch vor kurzem hätte er jeden ausgelacht, der behauptet hätte, er würde in einem Monat verheiratet sein. Doch nun
war genau das eingetreten, und er war überglücklich. Mariah hatte die Augen geschlossen und lächelte. Kein Wunder, dass sie so müde war, denn ihre Hochzeitsnacht war einfach wunderbar gewesen. Christian konnte immer noch nicht fassen, dass er so lange gebraucht hatte, um sich über seine Gefühle für Mariah klarzuwerden. Er hatte kaum mit ihr in einem Raum arbeiten können, weil sie seiner Meinung nach als Sekretärin völlig unfähig war. In Wirklichkeit hatte er jedoch nur einen Schutzwall um sich errichtet, weil er gespürt hatte, dass Mariah eine Bedrohung für sein Junggesellendasein darstellte. Obwohl er ihr gegenüber stets schlecht gelaunt und unfair gewesen war, hatte sie es sich die ganze Zeit gefallen lassen. Es würde sehr lange dauern, bis er sein Verhalten wiedergutgemacht hatte. „Warum hast du eigentlich Duke damit beauftragt, Tracy nach Fairbanks zu fliegen?" fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. „Die beiden verstehen sich doch überhaupt nicht", fügte sie hinzu, als wüsste er es nicht selbst. Dass die beiden sich nicht verstanden, war stark untertrieben. Ihn hätte es jedenfalls nicht gewundert, wenn sie während des ganzen Fluges miteinander stritten. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Duke Tracy provozierte und schließlich die Fetzen flogen, weil sie sich seine verbalen Attacken nicht gefallen ließ. „Ich finde es grausam, die beiden zusammen in ein kleines Flugzeug zu sperren", meinte Mariah. „Deine Eltern können doch zwischen ihnen vermitteln." Christian küsste sie aufs Haar. Dann wechselte er das Thema. „Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?" Sie lächelte glücklich. „Ja, das hast du. Ich liebe dich auch." „Ich weiß." Er würde niemals an ihrer Liebe zweifeln. Nun schaute sie ihm in die Augen. „Seit wann trinkst du deinen Kaffee eigentlich schwarz?" Beinah hätte er laut gelacht. Mariah hatte ihm über ein Jahr lang jeden Morgen Kaffee gemacht. Manchmal hatte sie Sahne hineingetan, manchmal Zucker und gelegentlich sogar beides, obwohl er Kaffee immer schwarz trank. „Erst seit kurzem", erwiderte er. Unwillkürlich fragte er sich, ob es zwischen Mariah und ihm immer so sein würde. Sawyer, der im letzten Jahr geheiratet ha tte, war jedenfalls noch nie so glücklich gewesen. Und Charles, der älteste von ihnen, war im letzten Frühjahr vor den Traualtar getreten. Zu der Zeit hätte Christian nicht einmal im Traum daran ge dacht, sich auf eine ernsthafte Beziehung einzulassen. Früher hatte er geglaubt, dass es ihm sehr schwer fallen würde, sich von seinem Junggesellendasein zu verabschieden, falls er irgendwann einmal heiraten sollte. Doch mit Mariah an seiner Seite fühlte er sich wie der glücklichste Mann der Welt. Mariah schmiegte sich wieder an ihn. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet." „Welche Frage?" „Warum du Duke damit beauftragt hast, Tracy nach Fairbanks zu fliegen." „Ich habe ihn nicht damit beauftragt", erwiderte er leise. Sie hob den Kopf und sah ihn misstrauisch an. „Das kannst du mir glauben", versicherte er. „Aber ich habe selbst einen Blick auf den Flugplan geworfen. Ich habe Tracy sogar gesagt, dass ich nichts damit zu tun habe, und jetzt erzählst du mir, dass er gar nicht fliegt?" „Nein, ich habe Duke nicht damit beauftragt." „Und warum ..." „Duke hat mich darum gebeten." „Er hat dich darum gebeten?" wiederholte sie verblüfft. Christian nickte. „Ich fand es schon ein bisschen komisch, aber was hätte ich sagen sollen?"
Mariah lächelte wissend. „Allmählich glaube ich, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnt." Er wollte erst widersprechen, überlegte es sich dann jedoch anders. Alles, was er über die Liebe wusste, hatte er von seiner Frau gelernt. Sie war die Expertin auf diesem Gebiet. Duke überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Da der Öldruck kontinuierlich fiel, musste die Zufuhr unterbrochen sein. Als Duke versuchte, den Motor wieder zu starten, stotterte dieser ein paarmal und starb schließlich ganz ab. „Was soll das heißen, ich soll nach einem Platz zum Landen Ausschau halten?" fragte Tracy ängstlich. „Wir müssen notlanden. Das ist nichts Ungewöhnliches." „Für Sie vielleicht nicht. Sie haben doch schon mal eine Notlandung gemacht, oder?" „Oft sogar", log er, um sie zu beruhigen. In Wirklichkeit hatte er erst einmal eine Notlandung gemacht, und das unter wesentlich besseren Wetterbedingungen. Schließlich setzte er wieder den Kopfhörer auf, um Funkkontakt mit dem Tower in Fairbanks aufzunehmen und seine Position durchzugeben. Dabei bemühte er sich, ruhig zu sprechen, obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Mittlerweile flogen sie durch die Wolken, und die Sicht wurde immer schlechter. „Duke ..." Tracy packte ihn am Arm. Sie war kurz davor, in Panik auszubrechen - genau wie er. „Sehen Sie sich um", befahl Duke. „Wir müssen eine Lichtung finden, auf der wir landen können." Jeder Pilot in Alaska wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Bruchlandung zu machen, im März und im September am größten war, wenn Schnee lag und die Flüsse und Seen eisfrei waren. Wäre es eine Woche später gewesen, hätte er auf einem zuge frorenen See landen können. Duke wusste aber, dass es ihr sicherer Tod wäre, wenn er es jetzt versuchte. Ihre Überlebenschancen waren jedenfalls nicht besonders groß. Wegen des Windes und des starken Schneefalls begann das Flugzeug zu gleiten, und er versuchte, es zu lenken, indem er das Ruder betätigte. „Ich kann überhaupt nichts erkennen", sagte Tracy. Ihm ging es genauso. „Was soll ich tun?" fragte sie mit Panik in der Stimme. „Halten Sie weiter Ausschau." „Das tue ich ja." „Sie könnten beten", schlug er als nächstes vor. „Ich weiß nicht, wie. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal gebetet habe." Als das Flugzeug schließlich die Wolkendecke durchbrach, warf er ihr einen Blick zu. „Halten Sie sich fest, Schätzchen." Die Umrisse wurden immer deutlicher, und sobald er die Baumwipfel erkannte, fluchte Duke leise. Schlimmer hätte es nicht kommen können! „Bevor wir landen, öffnen Sie das Fenster auf Ihrer Seite und die Tür", wies er Tracy an. „Dann falle ich raus." „Nein, das werden Sie nicht." Obwohl er sich darauf konzentrieren musste, nicht die Kontrolle über das Flugzeug zu verlieren, streckte er die Hand aus, um Tracys Sicherheitsgurt strammzuziehen. Anschließend machte er dasselbe bei sich. Im Schneetreiben war nun eine kleine Lichtung zu erkennen. So schnell er konnte, schaltete er die gesamte Elektronik aus, damit es beim Aufprall keine Funken gab, die zu einer Explosion führen konnten. „Festhalten, Schätzchen!" rief er, als das Flugzeug Sekunden später auf dem Boden aufkam. Tracy schrie laut auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Das Flugzeug rutschte weiter, und dabei wurde der rechte Flügel von einem Baum abgerissen. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass Duke fast aus seinem Sitz gerissen wurde. Er verspürte einen stechenden Schmerz im linken Arm, und dann wurde ihm schwarz vor Augen.
3. KAPITEL
Tracy wurde auf ihrem Sitz hin und her geschüttelt. Als das Flugzeug gegen einen Baum prallte und sich anschließend drehte, verschwamm ihr alles vor den Augen, und sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie hörte, wie Duke aufschrie, und im selben Moment traf sie etwas am Kopf. Gleich darauf lief ihr etwas Warmes über das Gesicht. Blut? Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich war Tracy klar, dass sie sterben würde. Seltsamerweise verspürte sie weder Panik noch Entsetzen, sondern eine merkwürdige innere Ruhe. Im nächsten Augenblick prallte das Flugzeug gegen einen massiven Gegenstand. Der Aufprall war so stark, dass ihr Sitz fast aus der Verankerung gerissen wurde. Wäre sie nicht angeschnallt gewesen, wäre sie durchs Cockpitfenster geschleudert worden. Schließlich war es ganz still. Tracy versuchte angestrengt zu atmen und musste dann husten. Erst nach einer Weile merkte sie, dass es ihr deswegen so schwer fiel, weil ihr Sicherheitsgurt zu stramm war. Es kostete sie ihre ganze Kraft, ihn zu lösen. „Duke", brachte sie hervor und drehte sich um. Als sie Duke sah, geriet sie wieder in Panik, denn er hatte eine klaffende Wunde am Kopf, die stark blutete. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte sein Gesicht. „Bitte wachen Sie auf, Duke. Sie dürfen nicht sterben", flehte sie leise. Dann legte sie ihm drei Finger an die Halsschlagader. Als sie seinen Puls spürte, hätte sie vor Erleichterung beinah geweint. Als nächstes betrachtete sie seine Wunde, die immer noch stark blutete. Sie war zwar keine Ärztin, aber ihr war klar, dass der Schnitt unbedingt genäht werden musste. Obwohl Tracy bei jeder Bewegung unerträgliche Schmerzen verspürte, schaffte sie es dennoch, sich auf ihren Sitz zu knien. Anschließend band sie ihren Schal ab und nahm eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Jackentasche, um Dukes Wunde provisorisch zu verbinden. Sein linker Arm war vermutlich mehrfach gebrochen, denn er war völlig verdreht. Sie lehnte den Kopf an Dukes Schulter, während sie mit den Tränen kämpfte. Als Duke schließlich aufstöhnte und den Kopf bewegte, war sie so erleichtert, dass sie rief: „Wir leben, Duke! Wir leben!" Sekunden später öffnete er die Augen und lächelte schwach. „Ich habe doch gesagt, dass es ein Kinderspiel ist." „Wo ist der Verbandskasten?" fragte sie. „Ihr Arm ist ... Es sieht aus, als wäre er gebrochen." „Genauso fühlt er sich auch an. " Sein Gesicht war aschfahl. Nachdem er sie eine Weile aus zusammengekniffenen Augen betrachtet hatte, streckte er die rechte Hand aus und strich ihr über die Wange. „Sie sind verletzt." „Nein", widersprach sie. „Mir geht es gut. Sie hat es viel schlimmer erwischt." Als er die Hand wieder zurückzog, war sie blutverschmiert. „Sie haben eine Schnittwunde ..." Dann versagte ihm die Stimme. „Duke, wo ist der Verbandskasten?" Tracy versuchte krampfhaft, sich an das zu erinnern, was sie im Erste-Hilfe-Kurs auf dem College gelernt hatte. Vermutlich wusste sie zu wenig, um Duke oder sich helfen zu können. Nachdem er ihr gesagt hatte, wo der Verbandskasten war, kletterte sie in den hinteren Teil der Maschine, um die Notausrüstung zu durchsuchen. Dabei entdeckte sie einen Schlafsack und Notproviant. Schließlich förderte sie auch den Verbandskasten zutage. Als sie wieder auf ihrem Sitz saß, war sie ganz außer Atem und fühlte sich sehr schwach. Duke war immer noch kreidebleich im Gesicht. Am liebsten hätte sie den Schlafsack ausgebreitet und ihn ihm um die Schultern gelegt, aber es war einfach zu wenig Platz im
Cockpit. „Ich habe den Verbandskasten gefunden", erklärte sie stolz, bevor sie damit begann, Dukes Verletzungen zu verarzten. Zuerst nahm sie ihm den provisorischen Verband ab. Die Wunde blutete inzwischen nicht mehr so stark, und Tracy erneuerte die Taschentücher und band ihm den Schal wieder um den Kopf. Als nächstes wollte sie seinen linken Arm versorgen. Der Verbandskasten enthielt zwar eine aufblasbare Schiene, aber keine Schmerztabletten. Duke schien starke Schmerzen zu haben, denn er lehnte den Kopf zurück und machte für einen Moment die Augen zu. „Sie dürfen jetzt nicht einschlafen", flüsterte sie voller Panik. Zum Glück blutete ihre Wunde wenigstens nicht mehr. „Ich muss Ihren Arm verarzten." Er lächelte schief. „Tun Sie sich keinen Zwang an, Schätzchen. Schlimmer kann es sowieso nicht mehr werden." Duke hatte bereits dreimal „Schätzchen" zu ihr gesagt, und das nicht wie sonst mit einem spöttischen Unterton. „Am besten ist es wohl, wenn ich aussteige und um das Flugzeug herumgehe, damit ich besser an Sie herankomme." „Auf keinen Fall", entgegnete er scharf. „Steigen Sie nicht aus. Wenn Ihnen etwas passiert, kann ich Ihnen nicht helfen." Seine Kräfte schienen allmählich nachzulassen. Er nahm ihre Hand in seine und umklammerte sie krampfhaft. „Versprechen Sie es mir", fuhr er leise fort. „Versprechen Sie mir, dass Sie hierbleiben, egal, was passiert." „Ich verspreche es", erwiderte Tracy. Wieder schloss er für eine Weile die Augen und stöhnte leise. „Ihr Arm..." „Es geht schon." „Lassen Sie es mich wenigstens versuchen. Wenn ich hinter Ihren Sitz krieche, kann ich vielleicht die Schiene anlegen." Das war das mindeste, was sie tun konnte. „Also gut." Tracy rutschte hinter seinen Sitz und machte die Tür auf seiner Seite auf, um etwas mehr Platz zu haben. Als sie aus dem Flugzeug kletterte, versank sie bis zu den Oberschenkeln im Schnee, und ein eisiger Wind blies ihr ins Gesicht. Sie schiente seinen Arm, so gut sie konnte, und hoffte dabei, dass sie Duke nicht noch mehr Schmerzen zufügte. „Schnell, steigen Sie wieder ein", wies er sie an, sobald sie fertig war. „Sonst erfrieren Sie noch da draußen." „Mir geht es gut. Ich mache mir Sorgen um Sie." „Ich fühle mich schon wesentlich besser, wenn Sie wieder reinkommen." Zum ersten Mal seit der Bruchlandung lächelte Tracy wieder. Duke wollte tatsächlich, dass sie bei ihm war. Bisher hatte er sie immer nur provoziert, und plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich neuerdings sogar auf ihre hitzigen Auseinandersetzungen mit ihm freute. In ihrer jetzigen Situation stand ihr der Sinn allerdings nicht nach einem Wortgefecht. Als sie wieder ins Flugzeug kletterte, war ihr so kalt, dass sie zitterte. Da ihre Finger ganz taub waren, rieb sie die Hände aneinander. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen ein Schmerzmittel geben." „Keine Sorge, das ist nicht nötig", versicherte er. „Ich habe Tabletten in meiner Handtasche. Sie sind so ähnlich wie Aspirin. Wollen Sie welche davon nehmen?" Dass es ein Medikament gegen Menstruationsbeschwerden war, verschwieg sie wohlweislich. Duke machte die Augen zu und nickte. „Kann nicht schaden." Nachdem sie ihre Handtasche gefunden hatte, gab sie ihm drei Tabletten, die er ohne Wasser schluckte. „Wo sind wir eigentlich?" fragte sie. Da die Scheiben schneebedeckt waren, konnte man
überhaupt nichts erkennen. „Ich schätze, in der Nähe der Kunuti-Ebene." Aber offenbar nicht in unmittelbarer Nähe, denn sonst hätten sie die Bäume verfehlt. Tracy schluckte mühsam, bevor sie die Frage stellte, die sie am meisten beschäftigte: „Wie lange wird es dauern, bis uns jemand findet?" „Keine Ahnung. Aber kein Grund zur Panik ... Das Notrufsystem funktioniert über Satellit. Sie wissen, wo wir sind. Jemand ist schon unterwegs ... Das Funkgerät ... Ich muss einen Funkspruch senden ..." Ihr war klar, dass Duke kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. „Duke!" rief sie und nahm seine rechte Hand. Im nächsten Moment verdrehte er die Augen und sank vornüber. Vorsichtig schob sie ihn zurück, damit er nicht über dem Steuerknüppel hing. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt und solche Angst gehabt, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Das Funkgerät, dachte sie. Bevor Duke ihn Ohnmacht gefallen war, hatte er vom Funkgerät gesprochen. Sie hatte keine Ahnung, wie man ein Funkgerät handhabte, aber sie musste sich mit dem Tower in Fairbanks in Verbindung setzen. Beim Start hatte sie beobachtet, wie Duke in das Mikrofon am Kopfhörer gesprochen hatte. Behutsam nahm sie ihm den Kopfhörer ab und setzte ihn auf. „Hallo", sagte sie, so ruhig sie konnte. „Hallo, ist da jemand?" Niemand antwortete. Verzweifelt richtete Tracy den Blick auf das Armaturenbrett. Sie war sicher, dass vor der Bruchlandung noch alle Lämpchen aufgeleuchtet hatten. Offenbar war das Flugzeug beim Aufprall stark beschädigt worden. Was sollte sie jetzt nur tun? Seltsamerweise war sie ganz ruhig. Es musste eine Möglichkeit geben, Hilfe herbeizurufen. Während sie sich zwang, einen klaren Kopf zu behalten, betrachtete sie das Armaturenbrett. Zuerst fiel ihr Blick auf einen Schalter, unter dem „Batterie" stand. Als sie ihn betätigte, leuchteten plötzlich überall die Lämpchen auf, und es rauschte und knisterte im Kopfhörer. „Mayday. Mayday. SOS. SOS!" rief sie in das winzige Mikrofon. Dann verschwand das Rauschen, und sie hörte eine Stimme. „Fairbanks, hier Baron zwei, zwei, neun, fünf, Hotel. Ich befinde mich etwa fünf Komma null Meilen in südsüdwestlicher Richtung der angegebenen Position." Der Mann schien eine andere Sprache zu sprechen als sie. „Hier ist Tracy Santiago", sagte sie. „Ich bin mit Duke Porter in Hard Luck gestartet. Wir sind abgestürzt. Duke glaubt, dass wir in der Nähe der Kunuti- Ebene sind." Tracy hörte, wie jemand anders antwortete und mit dem Mann redete, den sie zuerst gehört hatte. Der zweite Mann saß offenbar im Tower in Fairbanks, doch er wollte anscheinend nicht mit ihr sprechen. Daraufhin betätigte sie einige Knöpfe. „Hallo, hallo. Hilfe!" Schließlich hörte sie ein Knacken im Kopfhörer. Sie versuchte, sich an ähnliche Szenen zu erinnern, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Dann fiel ihr ein, dass man einen bestimmten Knopf drücken musste, wenn man sprechen wollte, und ihn loslassen musste, um die Antwort zu verstehen. Sie hatte es geschafft! Nun verspürte sie ein richtiges Hochge fühl. „Hallo, bitte antworten Sie. Over." Im Fernsehen sagten die Piloten immer „Over". „Hier ist Fairbanks. Sie sind auf der Notruffrequenz. Haben Sie einen Notfall?" „Und ob. Ich bin mit Duke Porter unterwegs." „Ist Ihr Flugzeug die Cessna sieben, zwei, acht, Bravo, Golf?" „Woher soll ich das wissen?" entgegnete Tracy ungeduldig. „Wie viele Notlandungen hat man Ihnen denn gemeldet?" „Ist jemand verletzt?"
„Ja. Der Pilot ist bewusstlos. Schicken Sie jemanden her, und zwar schnell. Ich weiß nicht, wie schlimm Duke verletzt ist." „Was hat er für Verletzungen?" Nachdem sie alles berichtet hatte, was sie wusste, musste sie zahlreiche Fragen beantworten, die ihr völlig unwichtig erschie nen: was sie an Vorräten dabeihatten, wie Duke und sie gekleidet waren und wie es ihr ging. Was sie am meisten interessierte, nämlich wann Hilfe eintreffen würde, sagte der Mann allerdings nicht. „Wir haben Ihr ELT-Signal aufgefangen. Am besten schalten Sie jetzt die Batterie ab, um Energie zu sparen", wies er sie an. „Wir hatten Sie die ganze Zeit auf dem Radar. Sobald das Wetter sich bessert, schicken wir Ihnen Hilfe." „Können Sie mir wenigstens sagen, wie lange es dauert?" Seine Fragen nach ihrer Ausrüstung hatten Tracy stutzig gemacht, genau wie sein Vorschlag, die Batterie auszuschalten. Es hörte sich so an, als würden Duke und sie wesentlich länger als ein paar Stunden in dem Wrack festsitzen. „Der Rettungshubschrauber der Air Force wird starten, sobald die Wetterverhältnisse es erlauben", erklärte der Mann im Tower. „Und wann ist das?" rief sie verzweifelt. „Vermutlich in sechs bis zwölf Stunden. Also passen Sie auf, dass das Flugzeug nicht auskühlt, und sparen Sie Energie. Falls Sie weitere Ratschläge brauchen, setzen Sie sich auf dieser Frequenz mit uns in Verbindung." „Danke. Und bitte lassen Sie uns nicht so lange warten." Nie dergeschlagen betätigte Tracy wieder den Schalter und brach so den Kontakt zur Außenwelt ab. Nun war es ganz still im Flugzeug. Ihr schwirrte der Kopf. Sie würde es ohne weiteres zwölf Stunden in dem Wrack aushalten, aber was war mit Duke? Er hatte schreckliche Schmerzen, und sie konnte ihm nicht helfen. Als sie bald darauf vor Kälte zu zittern begann, holte sie den Schlafsack aus dem hinteren Teil des Flugzeugs und legte ihn Duke und sich um die Schultern. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und versuchte, sich Mut zu machen. Sechs bis zwölf Stunden ... Das war eigentlich gar nicht so lange. Es war zwar bitterkalt und unheimlich, aber zusammen würden sie es schon schaffen. Duke wachte zwischendurch immer wieder aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Tracy wollte ihn zwar nicht aus den Augen lassen, doch sie war irgendwann so müde, dass sie sich kaum noch aufrecht halten konnte. Falls sie sterben sollte, dann würde Duke bei ihr sein. Seltsamerweise tröstete dieser Gedanke sie. Sawyer konnte sich nicht entsinnen, je so frustriert gewesen zu sein. Duke war abgestürzt, und bisher hatte Sawyer erst sehr wenig Informationen darüber erhalten, obwohl er schon seit Stunden am Funkgerät wartete. Trotz des Schneesturms hatte er alle seine Piloten losge schickt, damit sie nach dem Flugzeug suchten. John, Ted, Ralph und die anderen hatten sich freiwillig gemeldet, weil Duke für sie wie ein Bruder war. Unter seinen Piloten bestand ein starker Zusammenhalt, und darauf war Sawyer sehr stolz. Duke nahm eine Führungsposition unter den Piloten ein, war aber trotzdem sehr beliebt, und die anderen fragten ihn oft um Rat. Er arbeitete schon sehr lange für Midnight Sons, und Sawyer schätzte ihn nicht nur als Kollegen, sondern auch als Freund. Vor wenigen Wochen hätte er ihn beinah verloren. Christian hatte einen seiner Flüge übernommen, und Duke war darüber so wütend gewesen, dass er die Kündigung eingereicht hatte. Sawyer wusste immer noch nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war, aber irgendwie hatten sie ihren Streit beigelegt. Sawyer konnte sich überhaupt nicht vorstellen, Duke zu verlieren, zumal er ihn für seinen
besten Piloten hielt. Wenn irgend jemand ein solches Unglück überlebte, dann Duke Porter. Doch leider hatte man als Pilot keinen großen Einfluss auf den Verlauf der Dinge. Vor mehr als zehn Jahren war Sawyer auch einmal mit einem Flugzeug abgestürzt, und zwar mit seinem Vater. Damals waren die Wetterbedingungen ebenfalls schlecht gewesen, aber immer noch besser als jetzt. Leider hatte man seinen Vater nicht mehr retten können. Kurz bevor Hilfe eingetroffen war, war er in seinen Armen gestorben. Plötzlich kam die Erinnerung an jenen Moment zurück, als sein Vater im Sterben gelegen hatte. Der Schmerz, den er verspürte, war genauso heftig wie damals, und Sawyer fuhr sich über die Augen. Doch obwohl er versuchte, die Erinnerung daran zu verdrängen, durchlebte er die Situation immer wieder, als würde ein Film vor seinen Augen ablaufen. „Sawyer." Sawyer fuhr erschrocken herum. Als er sah, dass Abbey vor ihm stand, seine über alles geliebte Frau, war er unendlich erleichtert. „Hast du inzwischen mehr erfahren?" fragte sie leise. Sie war genauso angespannt wie er. „Nein." Abbey kam zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. Ihre zärtliche Berührung tat ihm gut und half ihm dabei, die Erinnerungen an den Tod seines Vaters auszulöschen und mit seiner Angst um Duke und Tracy fertig zu werden. Er legte einen Arm um Abbeys runden Bauch. Dass sie ein Kind von ihm erwartete, war wie ein Wunder für ihn - genauso wie ihre Liebe zueinander. Abbey beugte sich vor und gab ihm einen Kuss aufs Haar. „Es wird alles wieder gut, Sawyer." „Das hoffe ich. Soweit ich weiß, kann die Rettungsmannschaft erst losfliegen, wenn das Wetter besser wird." „Heißt das, sie müssen so lange da draußen warten?" „Sieht ganz so aus. Wir haben keine Wahl." Nun verspannte sie sich noch mehr. „Warum?" „Der Hubschrauber kann in diesem Sturm nicht starten." „Weiß man schon, ob sie verletzt sind?" Diese Frage quälte ihn am meisten. Es war schon schwer ge nug, in der Kälte zu überleben, aber mit den Verletzungen ... „Tracy hat selbst mit dem Fluglotsen gesprochen." „Tracy?" Sawyer nickte. Er war nicht sicher, wieviel er ihr sagen sollte, denn er wollte sie nicht unnötig beunruhigen. „Duke hat offenbar am meisten abbekommen", meinte er schließlich. „Schnittwunden, Prellungen, und sein linker Arm ist gebrochen. Und es besteht natürlich die Möglichkeit, dass er innere Verletzungen hat." Abbey schmiegte sich an ihn. „Du kannst nichts tun." „Ich weiß." Das war das schlimmste für ihn. Er war wütend und hatte ein schlechtes Gewissen, warum, wusste er selbst nicht. Und er hatte Angst, schreckliche Angst. Genauso war es an dem Tag gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. Damals war sein Leben praktisch auch zu Ende gewesen, denn jahrelang hatten ihn heftige Schuldgefühle gequält, obwohl David das Flugzeug gesteuert hatte. Danach hatte Sawyer sich immer wieder gefragt, ob er nicht irgend etwas hätte tun können, womit er seinem Vater das Leben gerettet hätte. Erst als er Abbey kennengelernt und geheiratet hatte, war ihm klargeworden, wie tief seine seelischen Wunden waren. Ihre Liebe war wie ein Geschenk für ihn gewesen und hatte diese Wunden geheilt. „Tracy und Duke zusammen in einem kleinen Flugzeug ..." sagte Abbey leise. „Meinst du, sie überstehen diese Nacht, ohne sich gegenseitig umzubringen?" Zum ersten Mal, seit er von dem Absturz erfahren hatte, musste Sawyer lächeln. „Deine
Frage ist durchaus berechtigt." Als Tracy irgendwann aufwachte, war es dunkel, und sie stellte fest, dass sie den Kopf an Dukes Schulter gelehnt hatte. Es war schön warm und fast bequem. Duke hatte ihr den rechten Arm um die Schultern gelegt. „Duke?" „Sie sind also wach." „Sie auch ... Ich hatte solche Angst. Sie sind ohnmächtig ge worden." „Sie hatten Angst?" meinte er mit einem amüsierten Unterton. „Ich dachte, das Wort wäre Ihnen fremd." Wenn er in der Stimmung war, sie zu ärgern, musste es ihm schon bessergehen. „Jetzt ist es mir zumindest nicht mehr fremd", gestand sie mit bebender Stimme. Da sie ihm nicht weh tun wollte, versuchte sie, sich aufzurichten. „Bleiben Sie so", flüsterte er. Leider konnte sie im Dunkeln kaum etwas erkennen. Dass Duke wach war und offenbar keine starken Schmerzen hatte, war jedoch ein gutes Zeichen. „Bin ich denn nicht zu schwer für Sie?" „Nein." Sein Gesicht war so nah an ihrem, dass sie seinen Atem an der Schläfe spürte. „Möchten Sie noch etwas ... Aspirin?" „Nein danke. Heben Sie die restlichen Tabletten lieber für später auf. Momentan geht es mir den Umständen entsprechend gut." Tracy lehnte sich wieder an ihn und legte ihm einen Arm auf den Bauch. „Es ist schon dunkel. Wie lange habe ich geschlafen? Wissen Sie, wie spät es ist?" „Ich schätze, ungefähr drei." „Der Hubschrauber wird erst mal nicht kommen. Ich habe herausgefunden, wie man das Funkgerät bedient", erklärte sie mit unverhohlenem Stolz. „Im Tower sagte man, es könnte sechs bis zwölf Stunden dauern." „Das habe ich mir gedacht." „Sie sind ohnmächtig geworden. Ich habe das Funkgerät eingeschaltet und ..." Plötzlich versagte ihr die Stimme. Tracy versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, indem sie tief einatmete, doch dann traten ihr die Tränen in die Augen. „Tracy?" Sie barg das Gesicht an seiner Schulter, bemüht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Schließlich begann sie, hemmungslos zu schluchzen. „Ich dachte, Sie wären tot! Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte solche Angst davor, allein zu sein." Duke strich ihr über den Rücken und murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Doch es war offensichtlich, dass er sie tröstete. „Tut mir leid", flüsterte sie, sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte. „Ich wollte nicht..." Verlegen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. „Ich hatte auch Angst." „Sie?" fragte sie verblüfft. Das war unmöglich. Der tolle Duke Porter hatte doch vor nichts Angst. Der Wind heulte fortwährend ums Flugzeug. Tracy konnte durch das Seitenfenster sehen, dass es inzwischen aufgehört hatte zu schneien. Der Himmel war aber immer noch bedeckt, und lediglich wenn der Mond hinter den Wolken hervorkam, konnte man etwas mehr erkennen. „Geht es Ihnen jetzt gut?" erkundigte sich Duke. „Ja", schwindelte sie. „Ich habe einen Schokoriegel in meiner Jackentasche. Möchten Sie den haben?" Erst jetzt merkte sie, dass sie Hunger hatte. „Gern." Er nahm den Schokoriegel, der mittlerweile ziemlich zerdrückt war, aus der Inne ntasche
seiner Jacke. „Vielleicht können Sie das Haltbarkeitsdatum lesen", meinte er. „Ich habe keine Ahnung, wie lange ich den schon mit mir herumschleppe." Selbst wenn der Schokoriegel alt schmeckte, war es ihr egal. Sie riss das Papier ab und brach erst ein Stück für Duke ab und dann eins für sich. Normalerweise machte sie einen großen Bogen um Süßigkeiten, doch dieser Schokoriegel war eine richtige Delikatesse für sie. „Sie haben ,Schätzchen' zu mir gesagt", stellte Tracy fest, während sie noch ein Stück abbrach. Als ihr klar wurde, was ihr gerade herausgerutscht war, hielt sie inne. Hoffentlich tat Duke so, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört. „Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen", erwiderte er steif. „Das habe ich auch nicht. Ich war kurz davor, in Panik auszubrechen, weil das Flugzeug an Höhe verloren hat, und Sie ... Sie haben es nicht so gemeint. Außerdem möchte ich Ihre Freundin in Fairbanks nicht eifersüchtig machen." Sie hatte das Gefühl, als würde er sie mit seinen Blicken durchbohren. Immer wenn sie den Mund aufmachte, musste sie ins Fettnäpfchen treten. Ob Duke eine Freundin in Fairbanks hatte oder nicht, ging sie schließlich nichts an. „Vergessen Sie es", fuhr sie hastig fort. Ihre Wangen brannten, so verlegen war sie. Da er ein sehr attraktiver Mann war, hätte es sie gewundert, wenn er keine Freundin gehabt hätte. „Woher wissen sie von Laurie?" erkundigte Duke sich kühl. Tracy schwieg betreten. „Von Mariah", folgerte er. Sie machte sich keine Mühe, es zu leugnen. Es folgte eine spannungsgeladene Stille. „Ich habe Laurie schon länger nicht mehr gesehen", sagte er schließlich leise. Tracy schämte sich so, dass sie die Situation sofort aufklären wollte. „Ich habe sie aber nicht gefragt, wirklich nicht. Mariah hat einmal ganz nebenbei erwähnt, dass Sie eine Freundin in Fairbanks haben, die Sie manchmal besuchen." „Aber Sie haben es nicht vergessen, stimmt's?" Sie zuckte die Schultern. Natürlich hatte sie es nicht vergessen, denn sie hatte in den letzten Wochen ständig daran gedacht, ohne sich nach dem Grund dafür zu fragen. Ab und zu hatte sie überlegt, welchen Frauentyp er wohl bevorzugte. Obwohl sie ihn gern so wie alle anderen Männer gesehen hätte, mit denen sie ausgegangen war, wusste sie, dass sie ihm damit unrecht getan hätte. Duke war vielleicht altmodisch, womöglich sogar ein Chauvi, aber er beurteilte eine Frau nicht nach der Größe ihres Busens. „Sie hatten recht mit Ihrer Bemerkung über Gavin", flüsterte sie. „Er ... er versucht tatsächlich, zu sich selbst zu finden." Nun lachte Duke. „Laurie hat mich gelangweilt." „Sie hat Sie gelangweilt?" Darüber wollte Tracy mehr wissen. Dass ihr Herz plötzlich schneller klopfte, ignorierte sie geflissent lich. „Ja. Sie war viel zu oft meiner Meinung", gestand er. „Die Arme hat wahrscheinlich versucht, jeden Streit zu vermeiden." Wieder lachte er. „Bei Ihnen dagegen kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mir immer Kontra geben." „Nur weil Sie so komische Ansichten haben. Sie sollten etwas fortschrittlicher denken." „Dann würden Sie mich ja nie wieder so anfunkeln. Ich kenne keine Frau, die so hübsch ist wie Sie, wenn sie fuchsteufelswild ist." Noch nie hatte ein Mann ihr gesagt, sie wäre hübsch. Norma lerweise bezeichnete man sie als clever, zäh und als eine gute Anwältin, doch es kam nur selten vor, dass Männer sie hübsch fanden. Wieder kämpfte Tracy mit den Tränen. Sie saß irgendwo in der Wildnis von Alaska in einem abgestürzten Flugzeug, und das einzige, woran sie denken konnte, war, dass der Mann
neben ihr sie hübsch fand.
4. KAPITEL
Duke fragte sich, ob er die Nacht überstehen würde, denn manchmal war der Schmerz in seinem Arm so stark, dass er es kaum ertragen konnte. Tracy fror und hatte sich an ihn gekuschelt. Sie unterhielten sich eine Zeitlang und sprachen über alle möglichen persönlichen Dinge. Duke hatte das Gefühl, als würde er sich mit einem alten Freund unterhalten. Es war irgendwie tröstlich, und es störte ihn nicht, dass er nur dummes Zeug redete. Mittlerweile vertraute er Tracy nämlich. Dass sie trotz des Schlafsacks so fror, beunruhigte ihn. Seine Füße waren so kalt, dass er befürchtete, schwere Erfrierungen davonzutragen. Irgendwann nickte er ein, wachte aber bald wieder auf, weil es so weh tat. In den Zehen hatte er schon gar kein Gefühl mehr, was vielleicht auch besser war. Tracy war sehr schweigsam geworden, und das machte ihm am meisten Sorgen. „Was ist, wenn morgen niemand kommt?" fragte sie plötzlich und schaute auf. „Keine Angst, die Suchmannschaft wird bald hier eintreffen", beruhigte er sie, obwohl er gar nicht so zuversichtlich war. Da er bereits oft im Schneesturm geflogen war, kannte er die Risiken. Als er das letzte Mal Funkverbindung aufgenommen hatte, hatte es nicht so ausgesehen, als würde der Sturm sich bald legen. Offenbar befand sich die Kaltfront nun direkt über Fairbanks. „Versuchen Sie zu schlafen", riet Duke. Als Tracy wieder den Kopf an seine Schulter legte und sich an ihn kuschelte, überkamen ihn die zärtlichsten Gefühle. Was sollte bloß aus ihr werden, wenn er starb? Wenige Minuten später war sie eingeschlafen, wie ihr regelmäßiges Atmen bewies. Duke fand, dass es höchste Zeit war, ein Re sümee zu ziehen, falls er wirklich sterben sollte. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, stellte er überrascht fest, dass er kaum etwas in seinem Leben bereute. Er hatte kaum gesündigt, aber dafür viele Fehler gemacht. Er wünschte sich allerdings, ein besseres Verhältnis zu seiner Mutter zu haben. Dass es so schlecht war, lag an ihm, denn er hatte sich nicht in ihr Leben einmischen wollen. Er hatte nie jemanden betrogen, selten gelogen und abgesehen von einigen fleischlichen Sünden ein anständiges Leben geführt. Allerdings bedauerte er, kein Kind gezeugt zu haben. Diese Erkenntnis war ein Schock für ihn, und er verdrängte den Gedanken schnell wieder. Sicher war er nur auf die Idee gekommen, weil so viele Männer in Hard Luck geheiratet hatten. Bis jetzt war zwar noch kein Kind geboren worden, aber Karen Caldwell und Abbey O'Halloran waren schwanger - und Bethany Harris, wie er vor kurzem erfahren hatte. Duke hatte keine Ahnung, ob er ein guter oder schlechter Vater sein würde, doch die Vorstellung, ein Kind zu haben, gefiel ihm. Nun tauchte vor seinem geistigen Auge ein Haus auf. Er hatte sich immer gewünscht, eines Tages ein eigenes Haus zu bauen - keine Traumvilla, sondern eines, das seinen Ansprüchen genügte. Dabei hatte er sich immer vorgestellt, in Hard Luck zu leben, in der Nähe seiner Freunde, und Teil der Gemeinschaft zu sein. Falls er tatsächlich sterben sollte, würde er diese vertane Chance bedauern. Als Tracy sich bewegte, betrachtete er sie, so gut es in dem fahlen Mondlicht ging. Dass sie sich in dieser Krisensituation so souverän verhalten hatte, hätte ihn eigentlich nicht wundern dürfen, denn sie war schwer in Ordnung. Obwohl er sich dagegen wehrte, musste er sich eingestehen, dass er sie bewunderte. Eines Tages würde sie irgendeinem Schlitzohr eine tolle Ehe frau sein. Und eine gute Mutter würde sie auch sein, das spürte er instinktiv. Er küsste sie aufs Haar, bevor er sich zurücklehnte und wieder die Augen zumachte. Ja, sie war schwer in Ordnung ... Irgendwann wurde Duke von einem Geräusch geweckt. Er musste geschlafen haben, denn mittlerweile war es hell geworden.
Nun war das Geräusch wieder zu hören. Es war ziemlich weit entfernt. „Haben Sie das gehört, Duke?" fragte Tracy, während sie sich aufrichtete. Als er antworten wollte, brachte er kein Wort über die Lippen. Zum Glück merkte sie nicht, dass er im Begriff war, wieder in Ohnmacht zu fallen. „Ich brauche meinen Koffer!" rief sie aufgeregt. „Ich habe Ihnen zwar versprochen, nicht auszusteigen, aber ich werde in der Nähe des Flugzeugs bleiben." „Nein ..." „Ich hole mein rotes Nachthemd aus dem Koffer und klettere dann auf den Flügel, um es hin- und herzuschwenken. Sonst sehen sie uns vielleicht nicht im Schnee. Ich passe auf", fügte sie hinzu, und dann tat sie etwas ganz Unerwartetes. Sie küsste ihn auf den Mund. „Der Hubschrauber kommt immer näher", fuhr sie fort. Duke hatte nicht mehr genug Kraft, um ihr zu sagen, dass der Pilot anhand des Notrufsignals ihre genaue Position ausmachen konnte. Tracy brauchte also nicht auf den Flügel zu klettern und ihr Nachthemd hin- und herzuschwenken. Obwohl Duke völlig benommen war, musste er bei der Vorstellung daran lächeln. Als der Hubschrauber in unmittelbarer Nähe des Flugzeugs war, schloss Duke die Augen und betete stumm. Kurz darauf drangen die unterschiedlichsten Geräusche an sein Ohr: das der Rotoren, Männerstimmen und Tracys Rufe. Im nächsten Moment war jemand bei ihm, und er wurde aus dem Flugzeug gehoben. „Bitte seien Sie vorsichtig", rief Tracy aus einiger Entfernung. „Sehen Sie denn nicht, dass er verletzt ist?" Wie durch einen Schleier sah Duke etwas Rotes aufblitzen und fragte sich, ob es sich dabei um ihr Nachthemd handelte. Schade, dass er sie nicht darin gesehen hatte! Plötzlich tat sein Arm wieder höllisch weh, und Duke stöhnte vor Schmerz, als man ihn auf eine Trage legte. „Passen Sie doch mit seinem Arm auf!" rief Tracy. „Sehen Sie denn nicht, dass er starke Schmerzen hat?" Wieder machte er die Augen zu. Als er sie wenige Minuten später wieder öffnete, stellte er fest, dass sie sich bereits im Hub schrauber befanden und gestartet waren. Ein Rettungssanitäter fühlte seinen Puls. Tracy saß auf der rechten Seite der Trage und hielt seine Hand. Sie sah ziemlich mitgenommen aus, denn ihr Haar war blutverklebt, und auf ihrer Stirn prangte eine riesige Beule, die Duke vorher gar nicht bemerkt hatte. Außerdem war sie kreidebleich. „Tracy." Ihr Name war alles, was er hervorbrachte. Nun kamen ihr die Tränen. „Es wird alles wieder gut. Wir sind beide ... Ich weiß nicht, ob wir es noch länger da unten ausgehalten hätten." Verlegen wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Obwohl er kaum noch die Kraft dazu hatte, hob er ihre Hand an die Lippen und küsste sie. Was dann passierte, nahm er nur noch lückenhaft wahr. Irgendwann stellte er fest, dass er einen Krankenhausflur entlanggerollt wurde. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er aus dem Hubschrauber dorthin gelangt war. Ebensowenig wusste er, was mit Tracy geschehen war. Da sie alles mit ihm zusammen durchgestanden hatte, wollte er, dass sie auch jetzt bei ihm war. Allerdings war er zu schwach, um sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Kurz darauf hörte er Stimmen, darunter einige, die er kannte. Sawyer war da, ebenso John, Ralph und ein paar andere Piloten. Alle schienen auf einmal zu reden. Duke versuchte, sich aufzusetzen, um ihnen zu sagen, dass es schon mehr bedurfte als eines Schneesturms, um ihn umzubringen. Doch leider konnte er bloß den Kopf bewegen. Wo, zum Teufel, war Tracy? „Tracy." Er wollte ihren Namen rufen, brachte aber nur ein Flüstern zustande. Daraufhin beugte sich ein Mann in einem weißen Kittel über ihn. „Wollen Sie wissen, wo
Ihre Freundin ist?" Duke nickte. „Sie können ganz beruhigt sein. Es geht ihr gut. Sie hat ein paar Schnittwunden, ein paar Prellungen und leidet an Unterkühlung. Dr. Davidson untersucht sie gerade, aber sie macht es ihm nicht leicht." Der Arzt grinste. „Anscheinend macht sie sich Sorgen um Sie. Ich habe Davidson gebeten, ihr auszurichten, dass es Ihnen besser gehen wird, sobald wir Ihren Arm behandelt ha ben. Er ist zweimal gebrochen, und das macht das Ganze ein bisschen komplizierter. Wir werden Sie innerhalb der nächsten Stunde operieren. Ich habe Ihnen etwas gegen die Schmerzen ge spritzt." Erst jetzt merkte Duke, dass er keine Schmerzen mehr hatte. Tracy ging es gut. Er brauchte sich um nichts mehr Sorgen zu machen. Gleich nachdem Sawyer mit Duke und Tracy gesprochen hatte, suchte er im Krankenha us einen Münzfernsprecher, um Abbey anzurufen. Er wusste, dass sie und alle anderen in Hard Luck sich Sorgen um die beiden machten und gespannt auf Neuigkeiten warteten. „Sie sind vor zwanzig Minuten hier eingeliefert worden", berichtete er erleichtert. „Wie geht es Tracy?" „Der Arzt untersucht sie gerade. Dafür, dass sie die Nacht in einem Flugzeugwrack verbracht hat, sieht sie blendend aus. Sie wird wahrscheinlich nicht einmal eingewiesen." Abbey wirkte sehr erleichtert. „Und was ist mit Duke?" „Duke hat nicht soviel Glück gehabt." Sawyer lehnte sich an die Wand. Nun, da er Duke gesehen hatte, entspannte er sich ein wenig. „Sein Arm ist zweimal gebrochen, und es kann sein, dass er innere Verletzungen hat. Davon hat man ihm allerdings noch nichts gesagt." „Wie schlimm ist es?" „Das wissen wir noch nicht." Er überlegte, ob er das nicht besser verschwiegen hätte, bis er die Einzelheiten erfuhr. Andererseits hatte er den anderen mitteilen wollen, dass Duke und Tracy am Leben waren. Die Nachricht vom Absturz hatte sich schnell in Hard Luck herumgesprochen, und im Laufe des Tages waren viele Einwohner im Büro vorbeigekommen, um sich nach den beiden zu erkundigen. „Wird er wieder gesund?" fragte Abbey als nächstes. „Er wird gleich operiert. Ansonsten kann ich noch nichts sagen. Aber ich schätze, dass Duke in ein paar Wochen wieder auf den Beinen ist." „Gott sei Dank." „Ja", erwiderte er leise. „Sind die anderen bei dir?" „Ja. Sie warten in der Cafeteria auf mich." Gleich nachdem er erfahren hatte, dass der Schneesturm weitergezogen war, war Sawyer zum Flugplatz gegangen, um eine Rettungsmannschaft zusammenzustellen, die nach dem Flugzeug suchte. Ralph hatte jedoch in der Zwischenzeit erfahren, dass man Duke und Tracy bereits geborgen hatte. Er, John, Ted und drei andere Piloten waren dann mit ihm nach Fairbanks geflogen, um im Krankenhaus zu sein, wenn die beiden eingeliefert wurden. Duke hatte verdammt gute Freunde. „Ich informiere die anderen", versprach Abbey mit bebender Stimme. „Ist alles in Ordnung, Abbey?" „Ja ... ja, natürlich. Ich bin nur so erleichtert. Ich hatte mir solche Sorgen um die beiden gemacht." Ihm gegenüber hatte sie sich ganz cool gegeben. Wahrscheinlich hatte sie geglaubt, stark sein zu müssen, weil sie gemerkt hatte, wie sehr ihn das Ganze mitgenommen hatte. Nicht zum ersten Mal wurde Sawyer bewusst, was für eine tolle Frau er geheiratet hatte. Als Tracy das Zimmer betrat, in dem Duke lag, kämpfte sie wieder mit den Tränen. Es kam
ihr vor, als hätte sie eine halbe Ewigkeit darauf gewartet, dass er aus der Narkose erwachte. Duke bot einen schrecklichen Anblick, denn er hatte einen Verband um den Kopf, den Arm in Gips, und man hatte ihm eine Infusion gelegt. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er aufwachte, aber das war ihr egal. Duke und sie hatten so viel zusammen durchgemacht, dass sie ihn jetzt nicht im Stich lassen wollte. Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und beschloss, so lange zu warten, bis er ihr selbst bestätigte, dass es ihm gut ging. „Tracy?" Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Sawyer O'Halloran hereingekommen war. Sie lächelte schwach. „Wir hatten einen grauenhaften Flug." „Das glaube ich Ihnen", erwiderte er ernst. „Keine Angst, ich werde Sie nicht verklagen." Sawyer blinzelte überrascht. Auf die Idee war er offenbar noch gar nicht gekommen - im Gegensatz zu den anderen, wie sie vermutete. „Wie geht es Ihnen?" „Den Umständen entsprechend." Man hatte die Schnittwunde an ihrem Kopf verbunden. Sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung, aber sie hatte keine ernsthaften Verletzungen erlitten, nicht einmal Erfrierungen. Und dass sie furchtbar aussah, interessierte sie momentan auch nicht. „Kann ich Ihnen irgend etwas holen?" erkundigte sich Sawyer. „Nein danke." „Ich habe für Sie ein Zimmer im Moose Suites reserviert." Auf ihren erstaunten Blick hin fuhr er fort: „Ich weiß, es ist ein komischer Name, aber das Hotel ist sauber und preiswert. Ralph hat Ihr Gepäck schon hingebracht." Er gab ihr einen Zimmerschlüssel. „Vielen Dank." Bisher hatte Tracy sich keine Gedanken darüber gemacht, wo sie bleiben sollte. Sobald Duke aufgewacht war, würde sie sich ein Taxi zum Hotel nehmen, duschen und sich dann ins Bett legen. „Ich habe mir erlaubt, Ihren Arbeitgeber anzurufen", sagte Sawyer. Sie blinzelte verwirrt. „Ach, an meine Arbeit habe ich überhaupt nicht mehr gedacht." Zur Zeit schien das alles weit weg zu sein. „Ich habe mit Mr. Nelson gesprochen." „Er ist der Seniorpartner." Tracy biss sich auf die Lippe, während sie versuc hte, sich an ihre Termine zu erinnern. Dann fiel ihr ein, dass die Unterlagen für einen Fall am Mittwoch vorliegen mussten. Für Donnerstag war die Anhörung zu einem Vergleich anberaumt, und am Freitag ... Am Freitag war irgend etwas Wichtiges, aber ihr fiel beim besten Willen nicht mehr ein, worum es sich handelte. „Mr. Nelson war sehr besorgt, als er von dem Absturz gehört hat", berichtete Sawyer. „Er lässt Sie grüßen und hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Sie erst dann wiederzukommen brauchen, wenn es Ihnen bessergeht." „Danke, Sawyer." Tracy konnte immer noch nicht fassen, dass sie sich nicht an alle Termine erinnerte. Das war völlig untypisch für sie. „Er möchte, dass Sie ihn anrufen, sobald Sie dazu in der Lage sind." „Das werde ich tun." Sie nahm sich allerdings vor, damit noch zu warten. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen", versicherte er. „Mr. Nelson wollte sich um alles kümmern." Tracy nickte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich konzentrierte sich ihr ganzes Denken auf den Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. Außer ihm schien nichts mehr zu existieren. Und dass Duke ihr das Leben gerettet hatte, war keine Ausge burt ihrer Phantasie, sondern eine Tatsache. Tracy hatte es den Gesprächen der Männer entnommen, die ihn aus dem
Flugzeug geholt hatten. Sie hatten festgestellt, dass die Ölzufuhr unterbrochen war, und anhand der Spuren angenommen, dass Duke das Flugzeug bewusst so gesteuert hatte, dass die Wucht des Aufpralls auf seiner Seite am größten war. Durch seine Geschicklichkeit hatte er ihnen das Leben gerettet. Als eine Krankenschwester ihr gesagt hatte, sie hätte großes Glück gehabt, hatte Tracy sie korrigiert. Duke Porter hatte ihr das Leben gerettet, und das würde sie niemals vergessen. „Brauchen Sie mich noch?" fragte Sawyer. „Nein", erwiderte sie geistesabwesend, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. „Rufen Sie mich an, wenn Sie oder Duke etwas brauchen." „Gern." Erst als er ihr seine Visitenkarte gab, merkte sie, dass sie ihre Handtasche gar nicht dabeihatte. „Ralph hat Ihre Handtasche zusammen mit Ihrem Koffer in Ihr Hotelzimmer gebracht", erklärte er, denn er hatte ihre Gedanken offenbar gelesen. Als sie sich bei ihm bedankt hatte, ging Sawyer auf die andere Seite des Betts, um Duke zu betrachten. „Keine Angst, er ist bald wieder auf den Beinen." Tracy nickte und schloss die Augen, um im Geiste noch einmal Dukes Verletzungen aufzuzählen. Sein Arm würde nicht über Nacht heilen. Es würde Monate dauern, bis Duke ihn wieder benutzen konnte. Die Schnittwunde an seinem Kopf war sehr tief und hatte mit fünfundzwanzig Stichen genäht werden müssen. Der Arzt hatte Tracy gelobt, weil sie die Wunde so gut verarztet hatte. Was mögliche innere Verletzungen betraf, so war es noch zu früh für eine Prognose. Wenn Duke Pech hatte ... Doch daran mochte Tracy nicht denken. „Ich gehe jetzt", verkündete Sawyer schließlich, „aber ich komme noch einmal wieder. Soll ich Ihnen etwas zu essen mitbringen?" „Nein, vielen Dank." Man hatte ihr vorher schon etwas zu essen gegeben, und erst einmal hatte sie keinen Appetit. „Ich komme in ein paar Stunden wieder", sagte er. „Okay." Nachdem Sawyer das Zimmer verlassen hatte, rückte sie noch etwas dichter an Dukes Bett. Da sie Duke wegen der Kanüle, die darin steckte, nicht die Hand halten konnte, umfasste sie vorsichtig seinen Arm und lehnte den Kopf an die Matratze. Irgendwann stellte sie fest, dass Duke wach war. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als hätte er Durst. Sie stand auf, um ihm ein Glas Wasser einzuschenken. Auf dem Nachttisch lagen Strohhalme, und sie tat einen in das Glas. Duke drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. „Tracy?" „Ich bin hier." Dass er als erstes nach ihr fragte, machte sie sehr glücklich. Als er die Augen öffnete, beugte sie sich zu ihm hinüber. Er hob die Hand und strich ihr sanft über die Wange. Sie küsste seine Handfläche und kämpfte dabei mit den Tränen. „Schlaf jetzt. Alles wird gut. Mir geht es auch gut." Es erschien ihr ganz natürlich, Duke jetzt zu duzen. „Du bist ... schön", brachte er hervor. Tracy machte sich natürlich keine Illusionen, was ihr Aussehen betraf. Gerade hatte sie einen Blick in den Spiegel erhascht. Sie sah furchtbar aus! Als sie ihm das Wasser gab, trank er einige Schlucke durch den Strohhalm. Da es ihn offenbar sehr anstrengte, legte er gleich wieder den Kopf zurück aufs Kissen und machte die Augen zu. Tracy setzte sich wieder hin und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie war unendlich erleichtert.
Ben begutachtete den Teller mit seinem Abendessen, den Bethany ihm nach oben in seine Wohnung gebracht hatte. Als er den Deckel hochhob und den Hamburger sah, strahlte er übers ganze Gesicht. „Das gefällt mir schon besser." Er wusste nämlich nicht, ob er ihre Gesundheitskost noch lange vertragen würde. „Hör mal, Ben, du musst auf deine Ernährung achten." „Das tue ich ja." Was blieb ihm auch anderes übrig, wenn sie ihn Abend für Abend überwachte? Als er den Hamburger genauer anschaute, machte er vor Enttäuschung ein langes Gesicht. „Was, zum Teufel, ist das?" Bethany ließ sich offenbar nicht einschüchtern. „Ein Gemüseburger." „Ein was?" „Du hast mich ganz richtig verstanden." Ben stöhnte entnervt. Seine eigene Tochter wollte ihn verhungern lassen, und so wie es den Anschein hatte, gelang es ihr auch. „Jetzt hör mir mal zu", entgegnete er. „In den letzten Wochen habe ich mehr Hafer gegessen als so manches Pferd." „Ben..." „Du hast mehr Joghurt in mich hineingestopft, als ein norma ler Mann vertragen kann. Auch das habe ich über mich ergehen lassen, weil du ... weil du es gut mit mir meinst. Aber jetzt muss ich mal ein Machtwort sprechen. Sieh dir das an." Er zeigte auf seinen Teller. „Du hast einen guten Hamburger mit diesem ... Gemüsezeug verdorben." „Ben, du kannst dich nicht mehr so ernähren wie früher. Probier doch wenigstens mal. Er ist aus Tofu ..." „Tofu?" wiederholte er wütend. „Wofür hältst du mich eigent lich? Hoffentlich hast du niemandem erzählt, dass du mich mit Tofu fütterst!" „Nein ..." ' „Zum Frühstück habe ich ein Ei gegessen", warf er ihr an den Kopf. Ihm war klar, dass es sie wütend machte. „Wer ist dein Testamentsvollstrecker?" „Werd ja nicht frech." „Und was hast du heute mittag gegessen?" Bethany verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. „Ich schätze, dass du meine Suppe auch nicht angerührt hast." „Nein, verdammt! Ich habe mir eine Pizza gemacht." Sie verdrehte die Augen. „Eine Pizza? Also wirklich, Ben! Ich kann nur hoffen, dass du dein Testament schon gemacht hast." „Was sollte ich denn tun?" Mittlerweile plagten ihn heftige Schuldgefühle. „Der Mensch lebt schließlich nicht von Hafer allein." Allerdings musste er zugeben, dass er sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Doch das wollte er Bethany nicht sagen, sonst setzte sie ihn erst recht auf Diät. „Probier den Gemüseburger wenigstens mal." Was hatte er denn für eine Wahl? Entweder aß er, was sie ihm auf den Tisch stellte, oder er wartete, bis sie weg war, und ging dann nach unten, um irgend etwas zu improvisieren. „Na gut", willigte er schließlich ein, obwohl ihm klar war, dass er es nicht mögen würde. Nun musste sie lachen. „Du bist schlimmer als ein Kleinkind. Du tust so, als hätte ich dir Leber mit Zwiebeln aufgetischt." „Ich mag Leber mit Zwiebeln." Ben geriet sofort ins Träumen. Die Leber musste mit Speck gebraten werden, aber nicht zu lange. Er aß sie gern zart, mit reichlich gerösteten Zwiebeln. Beim Gedanken daran lief ihm das Wasser ihm Mund zusammen. Bethany setzte sich ihm gegenüber. „Denk daran, dass Mrs. McMurphy morgen nachmittag zum Vorstellungsgespräch kommt." Wie hätte er das vergessen können? Je länger er darüber nachdachte, eine Fremde in seine
Küche zu lassen, desto weniger ge fiel ihm die Idee. Als Mariah für ihn gearbeitet hatte, hatte es ihm nichts ausgemacht, denn sie war ihm nicht in die Quere gekommen und hatte ihm das Kochen überlassen. Für ihn war es der reinste Luxus gewesen, jemanden zu haben, der bediente und das schmutzige Geschirr abräumte. Aber eine Köchin duldete er nicht in seiner Küche. Nur über meine Leiche, dachte er. Irgend etwas würde er an dieser Mrs. McMurphy schon auszusetzen haben, um sie nicht einstellen zu müssen. „Ich habe heute nachmittag mit ihr telefoniert", erklärte Be thany. „Sie freut sich sehr darauf, dich kennenzulernen." „Darauf wette ich." „Sie sagte, sie hätte im Sourdough Cafe viel gebacken und würde es hier auch gern tun zusätzlich zum Kochen." „Was hat sie denn gebacken?" Ben wollte so tun, als wäre er interessiert, damit sie nicht merkte, dass er sich bereits entschie den hatte. „Ihre Spezialität ist Apfelstrudel, aber sie meinte, ihre Zimt brötchen wären bei den Gästen auch sehr gut angekommen." Wie der Zufall es wollte, hatte Ben eine Schwäche für Zimtbrötchen, doch er hatte es nie geschafft, selbst welche hinzubekommen. Am liebsten mochte er sie mit viel Butter und reichlich Zuckerguss. Als sein Blick wieder auf den Gemüseburger fiel, ging Ben durch den Kopf, dass er ein Jahreseinkommen dafür gegeben hätte, um einmal in ein warmes Zimtbrötchen beißen zu können. „Ich möchte nur, dass du Mrs. McMurphy eine Chance gibst." „Natürlich werde ich ihr eine Chance geben." Schnell nahm er einen Schluck Milch, damit sie nicht merkte, dass er log. Die Milch schmeckte so furchtbar, dass er sie wieder ins Glas prustete. „Was hast du mit meiner Milch gemacht?" erkundigte er sich wütend. Bethany machte einen Schmollmund. „Ich habe gar nichts ge macht." Er hielt das Glas ins Licht. „Sie ist ganz blau." „Es ist Milchersatz auf pflanzlicher Basis." Diese Frau würde ihn mit ihrer Schonkost noch umbringen! „Du hättest mich warnen können", beklagte er sich. Wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Findest du nicht, dass du ein bisschen überreagierst?" „Nein, verdammt! Ein Gemüseburger, Milchersatz und ein Hafermuffin als Dessert... Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du mich umbringen willst." „Ben!" „Schon gut." Ben seufzte schwer. „Danke, dass du mir das Abendessen gebracht hast." Wenn man es überhaupt als solches bezeichnen kann, fügte er im Geiste hinzu. Früher hatte er sogar mitten in der Nacht mehr gegessen. „Und was ist nun mit deinem Gespräch mit Mrs. McMurphy?" „Ich werde sehr höflich zu ihr sein." Das war genau das, was Bethany von ihm hören wollte, und es entsprach ja auch der Wahrheit. Er würde sehr höflich zu Mrs. McMurphy sein, wenn er ihr die Tür wies. „Ich habe Mrs. McMurphy für morgen abend zum Essen zu uns eingeladen", informierte Bethany ihn. „Du bist auch herzlich eingeladen." Ben warf ihr einen finsteren Blick zu. „Das hängt ganz davon ab, was es zu essen gibt." Wenn sie ihm noch einmal Gemüsebur ger vorsetzte, starb er noch den Hungertod. Als Duke aufwachte, war es schummrig im Zimmer, und er brauchte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, wo er war. In den letzten beiden Tagen hatte er fast ununterbroche n geschlafen, und immer wenn er die Augen aufgemacht hatte, hatte Tracy an seinem Bett
gesessen. Auch diesmal wurde er nicht enttäuscht, denn sie saß auf dem Stuhl neben seinem Bett und schlief. Irgend jemand hatte sie mit einer dünnen Wolldecke zugedeckt. Offenbar hatte sie irgendwann geduscht und sich umgezogen, weil sie einen Pullover trug, den er noch nie an ihr gesehen hatte. Bei ihrem Anblick verspürte er ein Kribbeln im Bauch. Sie hatten viel zusammen durchgemacht - mehr, als manche Menschen in ihrem ganzen Leben. Eins war sicher: Tracy war die tapferste Frau, die er kannte. Sicher war es nicht leicht für sie gewesen, zumal er vor Schmerzen oft besinnungslos gewesen war. Duke war sehr stolz auf sie. Sie hatte herausgefunden, wie man das Funkgerät bediente, und sich mit Fairbanks in Verbindung gesetzt. Und sie hatte sich rührend um ihn gekümmert. Sie gehörte zu den Frauen, die für jedes Problem eine Lösung fanden und auch in Krisensituationen einen kühlen Kopf behielten. Und sie hatte ihn geküsst. Daran erinnerte er sich wie an einen Traum. Als sie den Rettungshubschrauber gehört hatten, war Tracy so aufgeregt gewesen, dass sie ihn geküsst hatte. Es hat nichts bedeutet, sagte sich Duke. Es war nur ein Ausdruck ihrer Erleichterung, mehr nicht. Duke hatte immer wieder versucht, sich das einzureden, aber es hatte nicht funktioniert. Er hatte den Kuss genossen, und wenn er in dem Moment dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er sie an sich gezogen, um sie richtig zu küssen. Er malte sich aus, dass er sich dabei viel Zeit lassen würde. Erst würde er sanft an ihren Lippen knabbern und dann mit der Zunge ihren Mund erforschen. Allein bei der Vorstellung daran klopfte sein Herz wie wild. Schließlich zwang er sich, woanders hinzusehen. Die Frau, die seine Phantasie so anheizte, war Tracy Santiago. Mittlerweile war ihm auch klargeworden, dass er sich im Grunde immer zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Dass Gegensätze sich anzogen, hatten sie mit ihren hitzigen Auseinandersetzungen bewiesen. Er hatte diese Wortgefechte regelrecht ausgekostet und sich sogar darauf gefreut. Was ihm an Tracy allerdings nicht gefiel, war, dass ihre Nähe ihn stets aus der Fassung brachte. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er sich ihr gegenüber genauso verhalten hatte wie Christian gegenüber Mariah. Er hatte sich andauernd über seine Sekretärin beklagt, und dabei war er die ganze Zeit in sie verliebt gewesen. Das Wort Liebe ging Duke nicht mehr aus dem Kopf. Konnte es sein, dass er Tracy liebte? Diese Vorstellung machte ihm angst. Er wehrte sich gegen diese Gefühle, weil er nicht verletzbar sein wollte. Verdammt, es war typisch für ihn, sich in eine schicke Anwältin aus Seattle zu verlieben! Das war doch alles schon einmal dagewesen. Sein Vater hatte seine Mutter so geliebt, dass er geglaubt hatte, sie könnte in seiner Welt leben. Und am Ende waren sie beide unglücklich gewesen. Für Duke kam es jedenfalls nicht in Frage, sein bisheriges Le ben aufzugeben und Tracy nach Seattle zu folgen. Da Fairbanks für seinen Geschmack schon zu groß war, konnte er sich erst recht nicht vorstellen, in einer Großstadt wie Seattle zu wohnen. Und dass Tracy nach Hard Luck kam, war genauso illusorisch. Man konnte von einer Frau, die so gebildet und temperamentvoll war wie sie, nicht erwarten, dass sie in eine Kleinstadt in der Arktis zog. Also war eine Beziehung zwischen ihnen so gut wie ausge schlossen. Duke war klar, dass es ihm schwerfallen würde, Tracy gehen zu lassen - nicht wenn sie ihn mit diesem Funkeln in den Augen ansah. Er wusste, was in ihr vorging, denn ihm ging es genauso. Aber es würde nicht funktionieren.
5. KAPITEL
Als Tracy aufwachte, streckte sie sich erst einmal, weil sie die ganze Zeit auf dem Stuhl gesessen hatte und völlig verspannt war. Erst nach einer Weile merkte sie, dass Duke wach war. Er saß aufrecht im Bett und betrachtete sie. „Hallo", meinte sie und war selbst überrascht darüber, wie verlegen seine Gegenwart sie machte. „Wie geht es dir?" „Besser als vor ein paar Tagen. Und dir?" „Ich fühle mich immer noch etwas angeknackst", erwiderte Tracy und stand auf. „Weißt du, wie lange ich geschlafen habe?" „Keine Ahnung. Ich bin auch erst seit ungefähr einer halben Stunde wach. Ich hatte gar nicht erwartet, dass du noch hier bist." Als sie den missbilligenden Ausdruck in seinen Augen sah, verzichtete sie darauf, ihm zu sagen, dass sie fast die ganze Zeit an seinem Bett gesessen hatte. „Hättest du nicht längst schon wieder in Seattle sein müssen?" fragte Duke. „Wie lange ist es jetzt her? Zwei oder drei Tage?" „Mein Seniorpartner hat gesagt, ich könnte so lange wegbleiben, wie ich wollte." An seiner grimmigen Miene merkte sie, dass er sie ausschloss. Nun, da sie wieder in Sicherheit waren, schien Duke ihr zu verstehen zu geben, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. „Und wie viele Tage brauchst du noch?" Damit wollte er ihr offenbar durch die Blume sagen, dass es ihm lieber war, wenn sie abreisen würde. „Hier hält dich doch nichts, oder?" „Nein", gab Tracy widerstrebend zu, wobei sie seinen Blick mied. „Hast du schon einen Flug gebucht?" Als sie ihn wieder ansah, war sein Blick sehr eindringlich. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, aber sie wollte Duke nicht zeigen, wie tief er sie mit seinen Worten verletzt hatte. „Ich werde es bei der nächsten Gelegenheit machen." Mit zitternden Händen faltete sie die Wolldecke zusammen und legte sie auf das kleine Kissen, das sie ebenfalls benutzt hatte. Als sie sich ihm wieder zuwandte, bebten ihre Lippen. Noch nie hatte sie mit einem Mann eine so intime Situation durchlebt wie mit ihm, und das hatte nichts mit Sex zu tun. Es war eine emotionale Nähe gewesen, die sie in einer Extremsitua tion erfahren hatten. Zusammen hatten sie dem Tod ins Auge ge sehen und sich aneinander geklammert. Tracy konnte nicht so einfach gehen. Sie wollte sich bei Duke bedanken, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. „Ich kann nicht behaupten, dass es schön war", versuchte sie zu scherzen. „Bestimmt nicht." Wieder trat sie an sein Bett und widerstand dabei der Versuchung, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen. Als er geschlafen hatte, hatte sie ihn oft berührt, aber jetzt fehlte ihr der Mut dazu. „Bevor ich nach Seattle zurückkehre, möchte ich mich bei dir bedanken", brachte sie schließlich hervor. „He, du hast anscheinend vergessen, dass ich das Flugzeug runtergebracht habe." „Das stimmt nicht", korrigierte sie ihn, „die Absturzursache war die abgerissene Ölleitung. Du hast uns beiden das Leben ge rettet, weil du so ein guter Pilot bist." Da sie es für wichtig hielt, fügte sie hinzu: „Ich weiß, dass du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um meins zu retten." „Unsinn", wehrte er ab. Nun musste sie sich ein Lächeln verkneifen. Sie hatte das Gefühl, Duke besser zu kennen als alle Männer, mit denen sie je zusammengewesen war. „Was ist daran so witzig?" fragte er.
„Du. Ich habe mit den Männern gesprochen, die das Wrack untersucht haben. Sie sagten, du hättest dich bewusst einem größeren Risiko ausgesetzt." „Quatsch." „Lass uns nicht darüber streiten", bat sie. „Warum nicht?" Seine Augen funkelten amüsiert. „Das haben wir doch von Anfang an gemacht. Du verstehst es, mir Kontra zu geben." Tracy neigte den Kopf. „Ich betrachte das als Kompliment." Duke wurde wieder ernst und schaute sie eindringlich an. „Du hast dich gut gehalten, Tracy. Es war kein Zuckerschlecken da draußen, aber du warst großartig." „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft", erinnerte sie ihn. „Doch, das hättest du. Du bist sehr mutig. Ich war bewusstlos, und ..." „Aber nicht die ganze Zeit." Obwohl er viel schwerer verletzt gewesen war als sie, hatte er sie festgehalten und getröstet. Das würde sie nie vergessen. Wenn er ihr nicht beigestanden hätte, wäre sie vor Angst umgekommen. „Du hast mich überrascht", gestand er. „Schließlich bist du eine Stadtpflanze." Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie auch nicht anders war als Mariah oder die anderen Frauen, die nach Hard Luck gezogen waren. Doch der Ausdruck in seinen Augen bewies ihr, dass es reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Früher hatten sie ihre Auseinandersetzungen genossen, aber das war jetzt vorbei. Inzwischen respektierten sie sich gegenseitig. Während Tracy noch vor einer Woche wütend gekontert hätte, überging sie seine Bemerkung nun einfach. „Wann fliegst du zurück?" Das hörte sich an, als könnte er sie gar nicht schnell genug loswerden. Andererseits war Duke noch nie besonders freundlich zu ihr gewesen. „Bald", versprach sie. „Falls ich mal einen Anwalt brauche, weiß ich, wen ich anrufen werde." Seltsamerweise ging ihr dieses versteckte Kompliment besonders nah, und sie biss sich auf die Lippe, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Habe ich etwas Falsches gesagt?" „Nein." Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist wirklich in Ordnung, Duke Porter. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber ich werde dic h vermissen." Ihr Herz hämmerte, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, ihn zu verlassen. „Ich hätte es auch nie für möglich gehalten, dass ich dich einmal vermissen würde", gestand er. An seiner Miene merkte sie, dass ihm der Abschied genauso schwerfiel wie ihr. Da es Duke offenbar unangenehm war, tat sie jedoch so, als würde sie es nicht merken. „Tu mir einen Gefallen, und gib Gavin den Laufpass", bat er. „Du hast einen richtigen Mann verdient." Leider befand sich der einzige Mann, der in diese Kategorie fiel, genau vor ihrer Nase und er schickte sie weg. „Das habe ich mir schon vorgenommen." Duke schaute ihr in die Augen. „Wie wär's mit einem Ab schiedskuss?" Tracy nickte lächelnd. Als er seinen rechten Arm ausstreckte, beugte sie sich zu ihm herunter, in der Annahme, er wollte ihr einen Kuss auf die Wange geben. Wider Erwarten zog er sie jedoch an sich, um die Lippen auf ihre zu pressen und sie so leidenschaftlich zu küssen, dass ihr der Atem stockte. Sie verspürte dasselbe Verlangen und umklammerte seine Schultern. Duke machte keinen Hehl daraus, dass er sie wollte. Wahrscheinlich hätte der Kuss endlos gedauert, wenn sie nicht plötzlich ein Geräusch im Flur gehört hätten. Die Tür war nämlich nur angelehnt. Dass Duke sich nur widerstrebend von ihr löste, war auch kein Trost für Tracy. Er schickte sie einfach weg - mit einem Kuss. „Leb wohl, Tracy. Mach's gut." „Mach's gut", brachte sie hervor. Dann verließ sie schnell das Zimmer, damit er nicht merkte, dass ihr die Tränen kamen.
Ben hatte sich bereits die passenden Ausreden zurechtgelegt. Er würde sich mit Mrs. McMurphy treffen und einige Höflichkeitsfloskeln austauschen. Dann würde er ihren Lebenslauf lesen und einige Fragen stellen, um sie glauben zu machen, dass er ernsthaft daran interessiert war, sie einzustellen. Zu guter Letzt wollte er sich einige Tage Bedenkzeit ausbitten. Schließlich hatte er genügend Geschäftssinn, um zu wissen, wie man einen Bewerber abblitzen ließ. Um sicherzugehen, dass Bethany und Mrs. McMurphy ihn nicht durchschauten, wollte Ben mitmachen und beiden den Eindruck vermitteln, dass er mit dem Verlauf des Vorstellungsgesprächs zufrieden war. Auch die Einladung zum Essen wollte er annehmen und angeregt mit Mrs. McMurphy plaudern. Ben wettete darauf, dass Bethany an diesem Abend keine Tofu-burger auftischen würde. Er träumte von Brathähnchen mit Kartoffelpüree und einer Soße aus Sour cream. Doch so wie er seine Tochter kannte, war es lediglich ein Wunschtraum. Da Mrs. McMurphy jeden Moment eintreffen musste, ging Ben langsam nach unten. Das Cafe war gähnend leer, und er vermisste seine Arbeit und seine Gäste mehr denn je. Früher war es schon mal vorgekommen, dass eine oder zwei Stunden lang kein Gast gekommen war, aber diese Stille war richtig unheimlich. Nachdem er sich ein Kännchen koffeinfreien Kaffee gekocht hatte, setzte er sich an einen Tisch und machte es sich bequem. Während er trank, schaute er aus dem Fenster. Gerade war Sawyer mit der Baron gelandet, in der sich auch die berüchtigte Mrs. McMurphy befand. Als sie aus dem Flugzeug stieg, stellte Ben erstaunt fest, dass sie groß und schlank war. Sie trug einen langen dunklen Mantel und hatte einen Korb im Arm. Wie Rotkäppchen, das den großen bösen Wolf besucht, ging es ihm durch den Kopf. Sawyer begleitete sie zum Cafe und verabschiedete sich gleich wieder, sobald er sich vergewissert hatte, dass Ben unten war. „Sie sind also Mrs. McMurphy", sagte Ben und reichte ihr die Hand. „Ben Hamilton." „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen", erwiderte Mrs. McMurphy. Vor Jahren hatte er einmal ein Schild gesehen, auf dem stand, dass man einem dünnen Koch nicht trauen durfte. Er war durchaus geneigt, diesen Rat zu beherzigen. „Kommen Sie rein, und machen Sie es sich bequem." Er führte sie zu dem Tisch, an dem er gesessen hatte. „Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?" „Ja, danke." Sie stellte den Korb auf den Tisch und zog den Mantel aus, unter dem sie ein Jeanskleid trug. Dann setzte sie sich schnell hin, als fürchtete sie, ihre Größe könnte ihn erschrecken. Da Ben fast einen Meter neunzig maß, ließ er sich von einer großen Frau jedoch nicht einschüchtern. „Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?" fragte er höflich. „Nein danke." Mrs. McMurphy wirkte sehr korrekt und ein wenig schüchtern. Das auffälligste in ihrem Gesicht waren ihre freundlich blickenden blauen Augen. Das dunkle Haar, das bereits einige graue Strähnen aufwies, hatte sie locker zu einem Knoten im Nacken zusammengefasst. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Ben vermutete, dass sie zwischen fünfzig und sechzig war. Ihre Aufmachung war sehr schlicht, denn sie trug überhaupt keinen Schmuck. Ben zog einen Stuhl hervor und nahm ebenfalls Platz. „Ich habe meine Zeugnisse mitgebracht." Mrs. McMurphy nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche. Als sie ihn Ben reichte, zitterte ihre Hand ein wenig. Dass Mrs. McMurphy nervös war, irritierte ihn ziemlich. Wenn er mal etwas lauter sprach, was oft vorkam, würde er sie vermutlich zu Tode erschrecken. Er öffnete den Umschlag und nahm drei Bögen heraus. Gerade als er zu lesen begonnen hatte, stieg ihm ein verlockender Duft in die Nase. Es roch nach Äpfeln und Gewürzen, und zwar so intensiv, dass Ben sich nicht mehr auf seine Lektüre konzentrieren konnte.
Als er aufschaute, fiel sein Blick auf den Korb. Was hatte Bethany ihm noch über Mrs. McMurphys Spezialitäten erzählt? Ach ja, Apfelstrudel und Zimtbrötchen ... Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Mrs. McMurphy folgte seinem Blick. „Ich habe einen Apfelstrudel mitgebracht", erklärte sie. „Mrs. Harris hat mich zum Abendessen eingeladen, und ich möchte mich damit revanchie ren." „Haben Sie noch etwas mitgebracht?" Kaum hatte Ben die Frage ausgesprochen, war ihm klar, dass Bethany ihn dafür vor ein Erschießungskommando gezerrt hätte. „Ein paar Zimtbrötchen", erwiderte Mrs. McMurphy. „Sie können natürlich gern meine Zeugnisse lesen, aber ich dachte, dass meine Brötchen für sich sprechen. Es ist ein Rezept von meiner Großmutter." „Sehr umsichtig von Ihnen." Er musste sich beherrschen, um nicht aufzuspringen. So flink hatte er sich schon seit Wochen nicht bewegt. Nach einer knappen Minute saß er wieder am Tisch, vor sich einen Teller und in der Hand eine Gabel. Wie gebannt beobachtete er, wie Mrs. McMurphy eine Platte mit den Brötchen aus dem Korb nahm. Sie waren riesig und hatten reichlich Zuckerguss - genau, wie er sie mochte. „Bitte bedienen Sie sich, Mr. Hamilton." Ben ließ sich nicht zweimal bitten. Beinah hätte er sich auf die Brötchen gestürzt. Er nahm das größte, tat es auf seinen Teller und leckte sich den Zucker von den Fingern. Das war einfach himmlisch! Sämtliche Hafermuff ins und Tofuburger konnten ihm gestohlen bleiben. Er versuchte, sich sein Entzücken nicht anmerken zu lassen, als er von dem Brötchen abbiss und dabei weiter Mrs. McMurphys Unterlagen studierte. „Wie ich bereits sagte, stammt das Rezept von meiner Großmutter. Es ist zwar teurer, aber ich nehme immer Butter statt Margarine." Sie betrachtete ihn eingehend. Sie nahm tatsächlich Butter statt Margarine! „Ich habe es mit Margarine versucht", fuhr sie mit einem bedauernden Unterton fort, „aber es hat nicht so gut geschmeckt. Falls ich für Sie arbeiten sollte, würde ich nur die besten Zutaten verwenden, und das bedeutet, dass ich nur mit Butter backe." Ben leckte sich die Finger ab. „Selbstverständlich." „Sie können gern noch eins essen. Ich habe genug dabei." „Ich hätte nichts dagegen", erwiderte er, bevor er noch einmal zugriff und sich das zweitgrößte Brötchen nahm. „Sicher möchten Sie gern etwas über mich wissen", sagte Mrs. McMurphy nach einer Weile, da er zu beschäftigt war, um ir gendwelche Fragen zu stellen. „Ja, bitte." Mit einer Geste bedeutete er ihr fortzufahren. Als sie die Restaurants aufzählte, in denen sie während der letzten zwanzig Jahre gearbeitet hatte, hörte er ihr kaum zu. „Soweit ich weiß, gibt es zur Zeit nicht genug Wohnraum in Hard Luck", erklärte sie schließlich. Das kam ihm äußerst gelegen, und er nahm sich vor, es als Grund zu nennen, wenn er ihr in ein paar Tagen mitteilte, dass er sie leider nicht einstellen könne. „Ich habe Mr. O'Halloran gefragt, ob die Möglichkeit besteht, jeden Tag von Fairbanks nach Hard Luck und zurück zu fliegen. Es würde natürlich von meinen Arbeitszeiten und vom Flugplan abhängen, aber er ist offenbar der Meinung, dass es machbar ist. Mrs. Harris hatte mir auch von dem Hotel erzählt, und ich habe Mr. Caldwell angerufen. Er würde mir von montags bis freitags ein Zimmer zur Verfügung stellen, so dass ich das Wochenende in Fairbanks verbringen würde." Ben nickte nur und streckte die Hand aus, um sich noch ein Brötchen zu nehmen. „Vielleicht möchten Sie von meinem Apfelstrudel probieren", schlug Mrs. McMurphy vor. „Wenn Sie darauf bestehen." Er schob ihr den leeren Teller hin.
„Ich bin verwitwet", fuhr sie fort, während sie ihm ein großes Stück darauf tat. „Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und leben ihr eigenes Leben." „Mrs. McMurphy ..." „Es wäre mir lieber, wenn Sie Mary zu mir sagen würden." „Also gut ... Mary." „Den Strudel habe ich auch nach einem alten Familienrezept gemacht", verriet sie. „Sie werden bestimmt nicht enttäuscht sein." Ben probierte das erste Stück. Er war schon von den Zimtbrötchen schwer beeindruckt gewesen, aber bei dem Apfelstrudel handelte es sich um ein wahres Meisterwerk. Die Äpfel waren köstlich, und der Teig zerging förmlich auf der Zunge. „Auch dafür nehme ich nur Butter", betonte Mary, sobald Ben aufgegessen hatte. „Das ist die einzige Auflage, die ich beim Backen mache. Da Sie offenbar sehr gern Süßigkeiten essen, wünschte ich, Sie hätten auch meinen Käsekuchen probiert." „Mir ist Apfelstrudel lieber." Er konnte gar nicht fassen, dass er das Stück schon aufgegessen hatte. Daher nahm er sich noch ein Stück, das allerdings etwas kleiner war. „Sicher fragen Sie sich, warum ich nach fünf Jahren im Sourdough Cafe aufgehört habe." Ihm war es ein bisschen peinlich, dass sie nun die Regie übernommen hatte. Doch momentan konnte er ihr keine Fragen stellen, weil er aß. „Es hat mir fast das Herz gebrochen, aber das Cafe hat vor kurzem den Besitzer ge wechselt, und der neue Inhaber legt nicht soviel Wert auf Qualität." „Ach so." Eins musste er Mary McMurphy lassen. Sie war zwar dünn wie eine Bohnenstange, aber vom Backen verstand sie eine Menge. Allerdings muss man schon mehr können, um ein Cafe zu leiten, als ab und zu einen Apfelstrudel zusammenzuklatschen, dachte er selbstgerecht. Offenbar konnte sie seine Gedanken lesen, denn sie fügte hinzu: „Außerdem mache ich ausgezeichnete Schnellgerichte. Auf Ihrer Speisekarte sehe ich, dass Sie Hamburger und ähnliches anbieten. Ich habe noch diverse Spezialitäten auf Lager wie zum Beispiel Brathähnchen ..." „Brathähnchen?" „Ich hoffe, Sie haben keine Schwäche für Kartoffelpüree aus der Tüte. Mir ist zwar klar, dass man hier oben in der Arktis nicht immer frische Kartoffeln bekommt, aber ich ziehe sie den Fertiggerichten vor." „Tun Sie auch Sahne hinein?" Mary schaute ihn mit Unschuldsmiene an. „Was sollte man sonst hineintun?" „Können Sie auch eine Soße aus Sour cream machen?" Ben ahnte bereits, dass es ihm sehr schwer fallen würde, dieser Frau eine Absage zu erteilen. „Ich habe noch nie Soße aus Sour cream gemacht, aber wenn Sie ein Rezept haben, ist das sicher kein Problem." „Ich habe ein Rezept." Nachdem sie die restlichen Brötchen und den Apfelstrudel wieder in den Korb getan und zugedeckt hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an. „Ich kann also Butter zum Backen nehmen?" Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Bethany kam herein. „Butter?" wiederholte er. „Ich nehme auch immer Butter zum Backen." Nun trat Bethany zu ihnen an den Tisch. Offenbar war sie gleich nach der Schule zum Cafe geeilt, denn sie war etwas außer Atem. „Hallo", begrüßte sie Mary lächelnd. „Sie müssen Mrs. McMurphy sein. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen." „Ganz meinerseits", erwiderte Mary etwas schüchtern. Bethany blickte von ihr zu Ben. „Und wie ist das Gespräch gelaufen?" Ben betrachtete den Korb und hoffte dabei, dass Bethany nie von seinem Fehltritt erfahren würde.
„Sehr gut", antwortete Mary. „Ben ist bereit, mich einzustellen, und er hat nichts dagegen, wenn ich zum Backen Butter nehme." Er war völlig verblüfft. Davon, dass er sie einstellen wollte, war nicht die Rede gewesen. „Ben, das ist ja wunderbar!" Bethany strahlte übers ganze Gesicht und umarmte ihn spontan. Mary lächelte ebenfalls. „Ich kann gleich am Montag anfangen. Wenn Sie mich jetzt einen Moment entschuldigen würden - ich möchte mich gern frisch machen." Sobald Mary den Raum verlassen hatte, setzte Bethany sich zu Ben an den Tisch. „Ich freue mich so für dich. Mrs. McMurphy ist ein Schatz, nicht?" Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: „Ich glaube, ich habe dir unrecht getan. Ich dachte, du würdest dir irgendeine fadenscheinige Ausrede einfallen lassen, um sie nicht einstellen zu müssen. Ich hatte mich schon auf einen Streit mit dir gefasst gemacht, aber jetzt kann ich ja beruhigt sein." Tracy saß in ihrem Büro, das sich im obersten Stockwerk eines Hochhauses befand, und schaute aus dem Fenster. Es war ein Ausblick, um den sie jeder Besucher beneidete. Vor ihr erstreckte sich der Puget Sound mit seinem tiefblauen Wasser, auf dem zahlreiche Segelboote kreuzten. In der Ferne hörte man das Hörn einer Fähre, die gerade vom Pier in Richtung Bainbridge Island abgelegt hatte. Während in Hard Luck schon der Winter eingebrochen war, war in Seattle wie immer herrliches Spätsommerwetter. Obwohl Tracy erst seit einer Woche wieder in Seattle war, kam es ihr vor wie ein Jahr. Alles, was ihr vorher so vertraut gewesen war, erschien ihr mit einemmal fremd und irgendwie sinnlos. Jeden Abend eilte sie nach Hause, in der Hoffnung, eine Nachricht von Duke vorzufinden - einen Brief, eine Postkarte oder eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Natürlich war ihr klar, dass er sich nicht bei ihr melden würde, aber sie gab die Hoffnung trotzdem nicht auf. Das einzige, was noch an die sechzehn Stunden erinnerte, die sie in dem Flugzeugwrack verbracht hatte, war die dünne rote Linie an ihrer linken Schläfe. Und die Sehnsucht in ihrem Herzen ... Tracy deckte die Narbe bewusst nicht mit Make-up ab, weil sie sie als eine Art Auszeichnung betrachtete und als Souvenir an die Stunden, die sie allein mit Duke verbracht hatte. Leider würde ihr Herz nicht so schnell heilen wie die Wunde an der Schläfe ... Immer wenn Tracy an ihn dachte, geriet sie völlig aus der Fassung. Janice, eine Kollegin und Freundin, hatte sie an diesem Tag zum Mittagessen eingeladen und ihr vorgeschlagen, einen Psychologen aufzusuchen. Offensichtlich glaubte Janice, dass Tracy professionelle Hilfe brauchte, weil sie nicht bei jeder Gelegenheit über ihr schreckliches Erlebnis sprechen wollte. Dabei hatte sie tagelang ununterbrochen davon geredet. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, denn sie hatte die Geschichte unzählige Male erzählt und unzählige Fragen beantwortet. Was erwarteten die Leute denn noch von ihr? Über bestimmte Einzelheiten hatte sie sich zwar sehr vage ge äußert, doch die gingen auch niemanden etwas an. Was zwischen Duke und ihr passiert war, war etwas ganz Besonderes, das sie mit niemandem teilen wollte. Unwillkürlich fragte sich Tracy, ob seine Freunde ihn genauso ausgefragt hatten und wieviel er ihnen gesagt hatte. Sie hatte gehofft, dass sie nicht mehr so oft an ihn denken wür de, wenn sie erst einmal ihr gewohntes Leben weiterführte, doch das war nicht eingetroffen. Sogar nachts träumte sie noch von ihm. Wenn sie morgens aufwachte und feststellte, dass es nur ein Traum gewesen war, war sie dann um so frustrierter. Vielleicht sollte sie tatsächlich zu einem Psychologen gehen. Irgend etwas stimmte nicht mir ihr, wenn sie sich nach den Stunden im Flugzeug zurücksehnte.
Nervös ging sie um ihren Schreibtisch herum. Schließlich nahm sie eine der Grußkarten in die Hand, die sie am Nachmittag bei ihrem Spaziergang am Wasser gekauft hatte. Einige hatten eine witzige Aufschrift, andere eine ernsthafte, andere gar keine. Eines jedoch hatten alle gemeinsam: Sie waren für Duke bestimmt. Tracy konnte kaum der Versuchung widerstehen, ihm eine zu schicken. Sie wollte sich nur nach seinem Befinden erkundigen - zumindest redete sie sich das ein. Dennoch plagten sie Zweifel. Duke war anders als die Männer, die sie bisher kennengelernt hatte. In ihren bisherigen Beziehungen hatte sie immer bestimmt, wann sie ausgegangen waren und wie oft sie sich gesehen hatten. Diesmal konnte Tracy die Regeln allerdings nicht festlegen, denn Duke folgte seinen eigenen Regeln. Als die Gegensprechanlage summte, ging Tracy um ihren Schreibtisch herum, um auf den Knopf zu drücken. Da offiziell bereits Feierabend war, konnten eigentlich keine Anrufe mehr kommen. Die Empfangsdame meldete sich. „Ja, Gloria?" „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe, Ms. Santiago. Ich hatte noch nicht zum Auftragsdienst umgeschaltet, und hier ist ein Anruf für Sie. Wenn Sie möchten, bitte ich den Anrufer, sich morgen wieder zu melden." „Wer ist es?" „Jemand aus Hard Luck, soweit ich weiß." Tracy ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Stellen Sie ihn durch." Vor Freude schlug ihr das Herz bis zum Hals. Duke. „Hier ist Tracy Santiago", sagte sie betont lässig. „Tracy, hier ist Mariah. Christian und ich sind gestern abend zurückgekommen und haben gerade von eurem Absturz erfahren. Das war vielleicht ein Schock für uns! Wie geht es dir?" „Mir geht es gut." Obwohl sie sich Mühe gab, konnte Tracy ihre Enttäuschung nicht verbergen. „Das hört sich aber nicht so an." „Doch, wirklich." „Es muss schrecklich für dich gewesen sein", meinte Mariah mitfühlend. „Nein", gestand Tracy. „So schlimm war es gar nicht. Hast du schon mit Duke gesprochen?" „O ja, sofort nachdem wir von dem Absturz erfahren hatten." „Wie geht es ihm?" „Er sieht gut aus." „Und sein Arm?" erkundigte Tracy sich besorgt. „Macht er ihm Probleme?" „Davon hat er nichts gesagt." Allerdings war Duke auch kein wehleidiger Typ. Sie wollte von Mariah hören, dass er sich vor Sehnsucht nach ihr verze hrte, doch Tracy war klar, dass es illusorisch war. Daher wechselte sie das Thema. „Wie waren eure Flitterwochen?" „O Tracy, es war einfach himmlisch!" „Christian ist ja auch ein netter Kerl." Nun kicherte Mariah. „Ich meinte nicht ihn, sondern die Kreuzfahrt." Dann wurde sie wieder ernst. „Wir hatten eine tolle Zeit miteinander, und ich liebe ihn mehr denn je." Das überraschte Tracy nicht, denn ihrer Meinung nach passten die beiden perfekt zusammen. „Ich muss leider Schluss machen", erklärte sie. „Würdest du Duke von mir grüßen, wenn du ihn wieder siehst?" „Klar", erwiderte Mariah zögernd. „Siehst du ihn in nächster Zeit nicht?"
„Doch, natürlich. Schließlich arbeitet er für Christian. Momentan fliegt er aber nicht." Das hatte Tracy bereits vermutet. Sicher fiel es Duke sehr schwer, erst einmal aufs Fliegen verzichten zu müssen, denn er fühlte sich in der Luft einfach wohler. „In letzter Zeit war er ziemlich schlecht gelaunt", berichtete Mariah. „Wenn ihn jemand nach dem Absturz fragt, geht er sofort in die Luft. Ich war zufällig dabei, als Bill Landgrin zu ihm gesagt hat, dass es für euch sicher kein Zuckerschlecken war, auf so engem Raum zusammengepfercht zu sein. Bill hat eine Andeutung gemacht, dass du ... na ja, dass du Männer hasst." Das hatte man Tracy früher schon einmal vorgeworfen. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Duke es einmal zu ihr gesagt. „Bill hat das bestimmt nicht so gemeint", fuhr Mariah fort. „Schließlich wissen alle, dass Duke und du euch nie verstanden habt. Ihr habt ja keinen Hehl aus euren Gefühlen füreinander ge macht." „Stimmt." „Duke ist jedenfalls an die Decke gegangen und hat Bill an die Wand gedrängt, obwohl sein linker Arm immer noch in Gips ist." „Haben sie sich etwa geprügelt?" „Nein, Christian ist dazwischengegangen." „Gott sei Dank", sagte Tracy erleichtert. „Aber Christian hat mit Sawyer darüber gesprochen, und daraufhin haben sie Duke vorgeschlagen, erst einmal freizunehmen. Er ist momentan ziemlich schwierig." Am liebsten hätte Tracy Duke in Schutz genommen. Er hatte viel mehr durchgemacht als sie, und er brauchte seine Freunde jetzt mehr denn je. „Wenn du ihn das nächste Mal siehst, dann ..." Sie biss sich auf die Lippe, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Niederge schlagen fuhr sie fort: „Dann grüß ihn von mir, und sag ihm, ich hoffe, dass es ihm bessergeht." „Wird gemacht", versprach Mariah. „Mach's gut." Nachdem Tracy aufgelegt hatte, betrachtete sie wieder die Grußkarten auf ihrem Schreibtisch, um eine auszusuchen, die sie Duke schicken wollte.
6. KAPITEL
Den Geräuschen nach zu urteilen, die von unten in seine Wohnung herauf drangen, schien das Hard Luck Cafe bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Trotzdem runzelte Ben besorgt die Stirn, denn jetzt konnte er Mary McMurphy nicht mehr unter dem Vorwand feuern, das Geschäft würde schlecht laufen. Sie arbeitete mittlerweile seit einigen Tagen für ihn und hatte mehr Herzen erobert als eine Schönheitskönigin. Er wettete darauf, dass jeder Mann im Ort durch den Verzehr ihrer Zimtbrötchen schon mindestens zwei Kilo zugenommen hatte. Sie machte jeden Morgen neue, und Ben wusste, dass die Leute schon draußen Schlange standen, wenn sie sie aus dem Ofen nahm. Seit er das Cafe eröffnet hatte, hatte er noch in keiner Woche soviel Umsatz gemacht wie in den letzten Tagen. Obwohl er keinen Grund zur Klage hatte, störte es ihn, dass sie so beliebt bei seinen Gästen war. Er hatte Angst davor, von ihr in den Hintergrund gedrängt zu werden, vor allem was seine Kochkünste betraf. Andererseits war ihm klar, dass er großen Ärger bekommen würde, wenn er sie jetzt entließ. Er wusste einfach keinen Ausweg und kochte vor Wut. Da er sich wegen seiner Operation immer noch schonen musste, durfte er noch nicht in der Küche stehen. Es fiel ihm unglaublich schwer, untätig herumzusitzen, während unten der Laden brummte - sein Cafe. Allmählich wurde es unten etwas leiser, doch auch der Gedanke an den erhöhten Umsatz tröstete Ben nicht. Wie schnell seine Gäste ihn vergessen hatten! Das Essen war ihnen offenbar am wichtigsten. „Mr. Hamilton", rief Mary vom Fuß der Treppe und riss ihn damit aus seinen Grübeleien. Er ignorierte es einfach. „Mr. Hamilton", rief sie wieder. Dann kam sie nach oben und blieb auf der Türschwelle zum Wohnzimmer stehen. Ben, der auf seinem Ruhesessel lag, hatte die Augen geschlossen und tat so, als würde er schlafen. „Hoffentlich störe ich Sie nicht", erklärte Mary unbeirrt. „Im Moment ist unten nicht so viel los, und deshalb habe ich Ihnen eine Tasse Kaffee und das letzte Zimtbrötchen gebracht." Sofort machte er die Augen auf. „Ich weiß, dass Bethany streng auf Ihre Ernährung achtet, was ich auch verstehe. Aber ein Stück Kuchen schadet Ihnen bestimmt nicht, wenn Sie zu den Mahlzeiten nicht soviel Fett zu sich nehmen." Er war ganz ihrer Meinung. Es war ihm verdammt schwer ge fallen, jeden Tag den köstlichen Duft der Zimtbrötchen zu riechen, ohne auch nur eins davon essen zu dürfen. „Ich werde mich selbst darum kümmern, dass Ihre Ernährung ausgewogen ist", fuhr sie fort, während sie ihm den Becher und den Teller auf den Beistelltisch neben ihm stellte. „Eigentlich hatte ich ja gehofft, Sie würden heute morgen nach unten kommen", fügte sie zögernd hinzu. Ben grummelte etwas Unverständliches. Solange Mary mit ihrem Apfelstrudel und ihren Zimtbrötchen unten das Zepter schwang, war er doch unerwünscht. „Alle haben sich nach Ihnen erkundigt", berichtete sie. Das bezweifelte er. „Ich bin leider kein so guter Gesprächspartner wie Sie", räumte sie ein. „Die Männer vermissen Sie deswegen. Sie meinen, mit einer Frau wäre es irgendwie anders." Sofort schöpfte er wieder Hoffnung. Seine Freunde hatten ihn also noch nicht ganz abgeschrieben. „Ach, und noch etwas", meinte Mary ein wenig befangen. „Der Pfannkuchenteig will mir einfach nicht gelingen. Momentan sind meine Zimtbrötchen noch sehr gefragt, aber ich glaube, dass die Gäste bald genug davon haben und nach Ihren Pfannkuchen verlangen."
„Das werden Sie schon lernen", versicherte Ben großmütig. Als er in das Zimtbrötchen biss, war ihm einmal mehr klar, warum seine Gäste jeden Morgen in der Kälte Schlange standen und darauf warteten, dass das Cafe öffnete. Allerdings musste er Mary recht geben: Die Leute würden bald genug von ihren Zimt brötchen haben und wieder seine Pfannkuchen bestellen. Mary trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern mit Ihnen den Speiseplan fürs Abendessen besprechen." „Klar. Warum nicht gleich?" Er setzte sich auf und bedeutete ihr, ebenfalls Platz zu nehmen. „Es dauert bestimmt nicht lange." „Kein Problem", murmelte er, „ich habe sowieso nichts zu tun." „Ich habe einen Rinderbraten in der Tiefkühltruhe gefunden", begann sie, nachdem sie sich gesetzt hatte. „Falls Sie ihn nicht brauchen, würde ich ihn gern am Freitag abend als Tagesgericht auf die Speisekarte setzen." „Einverstanden. Da müsste eigentlich noch einer sein." „Haben Sie eine besondere Methode, ihn zuzubereiten?" erkundigte sie sich vorsichtig. Das letzte Mal, als er Rinderbraten gemacht hatte, lag mindestens schon drei Monate zurück. „Ich reibe ihn mit Salz ein und lasse ihn langsam schmoren. Es dauert ein paar Stunden, aber es lohnt sich." „Das klingt gut." Mary hatte ihren Block mitgebracht und machte sich Notizen. „Ich habe das Rezept irgendwo in der Küche. Wenn Sie wollen, suche ich es Ihnen raus." Ben hoffte nur, dass er es bis Freitag schaffen würde. „Das wäre perfekt!" Sie lächelte, und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. „Vielleicht wäre es eine Überlegung wert, den Rinderbraten jeden Freitag als Tagesgericht auf die Speisekarte zu setzen." „Vielleicht." Er wollte sich nicht darauf festlegen, denn er hatte die beiden Braten für besondere Anlässe eingefroren, wie zum Beispiel den Gründungstag im Juli, an dem man in Hard Luck der Ankunft Adam O'Hallorans im Jahre 1931 gedachte, oder für Feste wie Weihnachten und Ostern. Doch möglicherweise war es gar keine schlechte Idee. „Eigentlich hätte ich ja mit Montag anfangen sollen, stimmt's?" Mary strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten. Dass sie so nervös war, machte sie in Bens Augen liebenswert. „Was haben Sie für heute abend geplant?" erkundigte er sich. „Shrimps mit Linguini in Zitronensauce." Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Wenn es Ihnen recht ist." Ben war begeistert, denn trotz seiner langjährigen Erfahrung hatte er noch nie den Dreh herausbekommen, wie man Schalentiere zubereitete. Das einzige, was er noch hinbekam, waren Shrimps auf kreolische Art. „Die Linguini schmecken Ihnen bestimmt", versprach Mary, „und Sie werden nicht einmal merken, dass sie wenig Fett haben." Wieder runzelte er die Stirn. Er hoffte nur, dass sie nicht Be thany nacheiferte. Noch einen Gemüseburger hätte er vermutlich nicht hinunterbekommen. Nun lächelte sie ihn an, versteifte sich aber unwillkürlich unter seinem skeptischen Blick. „Ich halte mein Wort, Mr. Hamilton. Wenn Ihnen die Nudeln nicht schmecken, koche ich Ihnen etwas nach Ihrer Wahl. Einverstanden?" „Einverstanden", erwiderte er prompt, denn er wusste genau, was er wollte: einen Cheeseburger. Es war Wochen, nein, Monate her, seit er das letzte Mal in einen Cheeseburger gebissen hatte. Wie sich herausstellte, hatte Mary nicht zuviel versprochen. Ben nahm sogar einmal Nachschlag von ihren Shrimps mit Linguini und hätte vermutlich noch eine Portion gegessen,
wenn noch etwas übrig gewesen wäre. Seinen Gästen hatte es nämlich offenbar genauso gut geschmeckt wie ihm. Am nächsten Vormittag ging er nach unten. Es war das erste Mal, dass er sich zu Mary in die Küche gesellte, während sie kochte. Anscheinend hatte sie ihn kommen hören, denn sie drehte sich um, einen Kochlöffel in der Hand, und lächelte ihn an. „Was für eine nette Überraschung, Mr. Hamilton!" Ben murmelte undeutlich, dass er sich langweilen würde. Als er die Kochbücher sah, die auf dem Tresen lagen, fragte er sich, was Mary jetzt vorhatte. Bisher war ihm noch kein Koch über den Weg gelaufen, der nach Rezept kochte. „Sie kommen genau im richtigen Augenblick", erklärte sie. „Könnten Sie mal etwas probieren?" , „Warum nicht?" erwiderte er, denn sein Frühstück, das nur aus Joghurt und Obst bestanden hatte, hatte nicht lange vorge halten. Er setzte sich an den Tresen, und kurz darauf kam Mary mit einem Hamburger aus der Küche, der in vier Teile geschnitten war. Sie warf ihm einen etwas ängstlichen Blick zu. „Ich probiere das auch zum ersten Mal." „Ist das ein ganz normaler Hamburger?" „Nein, es ist etwas anderes." Ben beobachtete, wie sie ein Stück probierte. Zuerst verzog sie keine Miene, doch dann lächelte sie und nickte. „Nicht schlecht." „Was ist es denn nun?" drängte er. „Probieren Sie einfach." Er hätte sich glatt geweigert, wenn er nicht so verdammt hungrig gewesen wäre. Also nahm er ein Stück und biss vorsichtig hinein. Woraus die Füllung bestand, vermochte er nicht zu sagen, aber sie schmeckte gut. „Nicht schlecht", bestätigte er schließlich. „Was ist es?" Mary strahlte übers ganze Gesicht. „Ein Gemüseburger. Ich habe die Zutaten aus mehreren Rezepten miteinander kombiniert und selbst noch welche dazugetan." Nie hätte Ben es für möglich gehalten, dass man aus Gemüse eine so köstliche Füllung für einen Hamburger zubereiten konnte, doch sie hatte es geschafft. Nachdem er das Viertel gegessen hatte, nahm er sich noch eins. „Schmeckt es Ihnen?" fragte sie gespannt. Vielleicht wäre es besser gewesen, ganz cool zu tun, aber sie schaute ihn so erwartungsvoll an, dass er sie nicht enttäuschen wollte. „Es schmeckt ganz gut, was ich von Bethanys Gemüse-burgern nicht gerade behaupten kann. Das Zeug kann einem Mann auf Jahre hinaus den Appetit verderben." „Danke, Ben", erwiderte Mary glücklich. Soweit er sich richtig entsann, war es das erste Mal, dass Mary McMurphy nicht „Mr. Hamilton" zu ihm gesagt hatte. Duke schaute in der Post von Hard Luck vorbei, um einen Blick in sein Postfach zu werfen, wie er es jede Woche tat. Meistens bekam er nur Rechnungen, ganz selten war auch mal ein Brief von seiner Mutter dabei. Als Duke das Postfach aufschloss, lag darin ein Umschlag. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war, dass er von Hand beschriftet war. Es konnte also keine Rechnung sein. Dann sah er den Absender - der Brief war von Tracy. Duke widerstand der Versuchung, den Umschlag an Ort und Stelle aufzureißen. Erst als er wieder in der Schlafbaracke war, setzte er sich auf sein Bett und öffnete ihn. Der Umschlag enthie lt eine Visitenkarte, auf die Tracy ihren Namen geschrieben hatte, sowie eine Grußkarte. Neugierig begann Duke zu lesen: Hallo, Duke,
nur ein paar Zeilen, denn ich möchte wissen, wie es meinem Ritter in der schimmernden Rüstung geht. Was macht Dein Arm? Mich hat inzwischen der Alltag wieder, und ich habe wie immer viel um die Ohren. Du hast mal gesagt, falls Du je einen Anwalt brauchen solltest, würdest du auf mich zurückkommen. Hast Du das ernst gemeint? Ich habe mir jedenfalls erlaubt, meine Visitenkarte mitzuschicken. Von Mariah habe ich erfahren, dass Du einen Streit mit Bill Landgrin hattest. Mich nervt es auch, wenn die Leute mir ständig Fragen über den Absturz stellen. Ich denke immer noch an Dich. Deine Tracy Deine Tracy. Verdammt, was hatte das zu bedeuten? Ich denke immer noch an Dich. Was meinte sie damit? Duke las die Karte ein zweites und schließlich noch ein drittes Mal. Er runzelte die Stirn und fragte sich, wieviel Mariah Tracy von seiner Auseinandersetzung mit Bill berichtet haben mochte. Hoffentlich hatte Tracy nicht erfahren, dass er völlig überreagiert hatte. Eigent lich war es untypisch für ihn, derart die Beherrschung zu verlieren. Landgrin war natürlich ein Idiot, aber es hätte gereicht, wenn er ihn zusammengestaucht hätte. Der eigentliche Grund für sein Verhalten war, dass er Tracy vermisste, dessen war Duke sich bewusst. Seit Tagen versuchte er, nicht ständig an sie denken zu müs sen - vergeblich. Allmählich wurde ihm klar, dass er seine Gefühle für sie nicht länger ignorieren konnte. Sogar Nachts träumte er von ihr. Er vermisste sie. Ihr Lächeln fehlte ihm und die Art, wie sie leicht den Mund verzog, wenn sie sich nicht anmerken lassen wollte, dass sie amüsiert war - genau wie ihr Sarkasmus und ihre vorgefassten Meinungen. Sogar ihre Auseinandersetzungen fehlten ihm, obwohl Duke im Gegensatz zu früher kein Interesse mehr daran hatte, Tracy schlechtzumachen. Nachdem er ihre Karte gelesen hatte, fühlte er sich noch elender als vorher. Unwillkürlich fragte er sich, ob Tracy seinen Rat beherzigt und sich von ihrem „sensiblen" Freund Gavin getrennt hatte und ob sie abends auch lange wach lag und an ihren leiden schaftlichen Kuss dachte. Schließlich legte Duke die Karte in seinen Spind. Da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, beschloss er, erst einmal ins Hard Luck Cafe zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Vielleicht hatte er ja Glück und konnte mal mit Ben unter vier Augen reden. Ben war in letzter Zeit nämlich wieder häufiger im Cafe. Als Duke das Cafe betrat, saßen Ralph und Ted am Tresen. Eigentlich hatte er nicht erwartet, seine Kollegen so spät am Vormittag noch dort anzutreffen. Anscheinend waren die beiden genausowenig erfreut über seinen Anblick wie er über ihren. „Schön, dich zu sehen, Duke", grüßte Ben. „Was macht dein Arm?" „Frag ihn lieber nicht", riet Ralph ihm, „sonst reißt er dir noch den Kopf ab." Duke überhörte seine Bemerkung geflissentlich. Es stimmte zwar, dass er in letzter Zeit ziemlich gereizt war, aber mussten seine Freunde ihm das unbedingt vorhalten? Schließlich hätte jeder Pilot so reagiert, wenn er eine Bruchlandung gemacht hätte. „Wie wär's mit einem Kaffee und einem Zimtbrötchen?" schlug Ben vor. „Gern." Duke nahm in gebührendem Abstand von Ralph und Ted am Tresen Platz. Nachdem Ben ihm den Kaffee und das Zimtbrötchen ge bracht hatte, warf Duke den beiden Männern, die einmal seine Freunde gewesen waren, einen flüchtigen Blick zu. Natürlich konnten sie nichts dafür, dass er vorerst nicht fliegen konnte. Doch das war nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune. Falls überhaupt jemand dafür verantwortlich war, dann Tracy. „Ich kann mir vorstellen, dass du in letzter Zeit ein bisschen ... nervös bist", meinte Ben
und lehnte sich lässig an den Tresen. „Das kann man wohl sagen", murmelte Ralph, ohne Duke anzusehen. Er hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt und umfasste seinen Becher mit beiden Händen. Duke verspannte sich unwillkürlich. Erst am letzten Vormittag hatte er sich mit Ralph gestritten, und er wusste nicht einmal mehr, worüber. Er war es nicht gewohnt, soviel Freizeit zu haben. Zuerst hatte er gedacht, solange im Büro aushelfen zu können, doch da war er den anderen bloß im Weg gewesen. Mariahs Nachfolgerin war mittlerweile eingearbeitet und hatte alles im Griff. Dann hatte Sawyer sich seiner erbarmt und ihm ein paar weniger wichtige administrative Aufgaben übertragen. So konnte Duke, wenn er Glück hatte, ein oder zwei Stunden pro Tag im Büro verbringen. Die restliche Zeit musste er anders totschlagen. In den letzten Wochen hatte er mehr Bücher gelesen als im vergangenen Jahr. Da Fernsehen noch nie sein Fall gewesen war, hatte er schließlich begonnen, Patiencen zu legen. Erst am Vortag hatte er stundenlang gespielt, bis er irgendwann gemerkt hatte, dass eine Karte fehlte. Plötzlich fiel ihm wieder ein, worüber er sich mit Ralph ge stritten hatte. Er hatte Ralph, von dem er das Spiel geliehen hatte, vorgeworfen, die Karte absichtlich herausgenommen zu haben. Vielleicht war das übertrieben gewesen. Als ihm einfiel, dass Ralph und die anderen Piloten auf der Suche nach der Absturzstelle ihr Leben riskiert hatten, bedauerte Duke sein Verhalten. Wenn er das nächste Mal in Fairbanks war, wollte er Ralph ein neues Kartenspiel kaufen. „Hoffentlich macht er dir nicht das Leben schwer", sagte Ted zu Ben, als er für Ralph und sich bezahlte. Wieder verkniff sich Duke eine Bemerkung. Als die beiden das Cafe verlassen hatten, atmete er tief durch. „Du bist in letzter Zeit also nicht ganz auf der Höhe." Ben nahm sich einen Barhocker und setzte sich ihm gegenüber an den Tresen. „Schon möglich. Ich habe einfach zuviel Zeit." „Wem sagst du das? Ich habe in den letzten vier Wochen nur Däumchen gedreht. Und bei dem Fernsehprogramm wundert es mich überhaupt nicht, dass es mit unserem Land bergab geht." Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Sawyer betrat das Cafe. Er nahm auf dem Barhocker neben Duke Platz. „Tag, Ben", meinte er und fuhr an Duke gewandt fort: „Wie läuft's bei dir?" Duke zuckte lächelnd die Schultern. „Eigentlich gar nicht so schlecht." „Wo ist Mrs. McMurphy?" erkundigte Sawyer sich dann. Das hatte Duke sich auch schon gefragt. „Sie wollte die Vorratskammer aufräumen", erklärte Ben. „Ich wollte das längst getan haben, aber ich habe es immer vor mir hergeschoben. Ich konnte sie nicht davon abbringen." „Typisch Frau", bestätigte Sawyer. „Abbey und ich waren noch nicht einmal einen Monat verheiratet, als sie alle Schränke im Haus ausgeräumt hat. Dabei hat sie ein paar richtige Kost barkeiten gefunden." „Was zum Beispiel?" fragte Ben. „Ein paar Sammelkarten mit Baseball- Motiven, die noch aus meiner Kindheit stammten. Ich habe sie Scott zum Geburtstag geschenkt, und er war ganz aus dem Häuschen." „In der Vorratskammer wird Mary bestimmt nichts Wertvolles finden", bemerkte Ben. „Was macht Mariah eigentlich?" „Sie räumt auch auf", erwiderte Sawyer grinsend. „Momentan ist sie dabei, das Haus einzurichten, aber damit ist sie bestimmt bald fertig. Soweit ich weiß, hat sie mit Matt und Karen darüber gesprochen, auch in die Touristikbranche einzusteigen." Duke trank einen Schluck Kaffee. Er hätte nie gedacht, dass die Frauen, die neu in Hard Luck waren, das Leben in der Gemeinde so nachhaltig beeinflussen würden.
„Du hängst wohl immer noch ziemlich durch", sagte Sawyer zu ihm. Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! „Ein bisschen schon", meinte Duke. „Ich verstehe nicht, warum du die ganze Zeit hier bist", warf Ben ein. Sawyer war offenbar derselben Meinung. „Du bist noch eine ganze Weile krank geschrieben. Außerdem hast du jede Menge Urlaubsanspruch. Also, warum verreist du nicht einfach, um mal richtig abzuschalten?" „Und wohin, wenn ich fragen darf?" konterte .Duke. Ben und Sawyer schwiegen beharrlich. „Habt ihr vielleicht einen Vorschlag, wohin ich fahren soll?" versuchte Duke es wieder. „Ja", räumte Sawyer schließlich ein. „Ich hätte da eine Idee", stimmte Ben zu. „Ich bin ganz Ohr." „Nach Seattle", sagten Ben und Sawyer wie aus einem Mund. Dann blickten sie sich überrascht an und brachen in lautes Gelächter aus. So schnell er konnte, floh Duke aus dem Cafe. Als Tracy am Morgen ihre Post durchging, war nichts von Duke dabei. Er musste ihre Karte ungefähr eine Woche vorher erhalten haben, hatte aber nichts von sich hören lassen. Tracy seufzte, denn sie bereute es bereits, ihm überhaupt geschrieben zu haben. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er ihr schließlich unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht wiedersehen wollte. Entschlossen wandte sie den Blick von dem Kalender auf ihrem Schreibtisch ab. Sie hatte wichtigere Dinge im Kopf, denn sie hatte am Nachmittag eine wichtige Verhandlung, und vorher wurden die Geschworenen bestimmt. Als sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, stellte sie fest, dass sie bereits in knapp zwanzig Minuten im Gericht sein musste, und sie war immer sehr pünktlich. Tracy wollte gerade die entsprechende Akte in ihre Tasche stecken, als ihre Sekretärin Gloria sich über die Gegensprechanlage meldete: „Da ist ein Anruf für Sie auf Leitung eins." „Ich habe jetzt keine Zeit, weil ich gleich im Gericht sein muss", erwiderte Tracy. „Würden Sie bitte eine Nachricht entge gennehmen, Gloria?" „Ja, ich notiere mir Mr. Porters Nummer und ..." Sofort legte Tracy die Akte auf den Schreibtisch. „Bitte stellen Sie doch zu mir durch." Sie atmete einmal tief durch, bevor sie den Hörer abnahm und sich meldete. „Hallo, Tracy." Die Verbindung war so gut, als würde Duke vom Nebenzimmer aus telefonieren. „Duke, wie schön, dass du dich meldest!" Tracy merkte wohl, wie aufgeregt sie klang, aber das war ihr egal. „Ich wollte mich bei dir für die Karte bedanken." „Gern geschehen. Hör mal, Duke, ich möchte dich nicht abfertigen, aber ich muss gleich im Gericht sein. Kannst du mir deine Nummer geben? Dann rufe ich zurück, sobald ich kann." Duke zögerte. „Duke. Die Nummer." „Ich habe gelernt, dass der Mann immer die Frau anruft." Tracy stöhnte entnervt. „Ich habe leider keine Zeit, um darüber zu diskutieren. Nun gib mir schon deine Nummer." „Ich rufe dich wieder an. Und jetzt beeil dich lieber." „Was soll das?" Er lachte leise. „Mach ihnen die Hölle heiß, Schätzchen." Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. „Duke! Duke!" rief sie frustriert. Sie hatte wochenlang darauf gewartet, endlich wieder den
Klang seiner Stimme zu hören, und nun ließ er sie noch länger schmoren - wegen einer altmodischen Verhaltensregel, die er mal als Junge mit auf den Weg bekommen hatte. Vorerst hatte sie allerdings keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie steckte die Akte ein und eilte dann aus dem Büro. Sobald sie wieder zurück war, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Dukes Nummer zu bekommen. Duke saß in seinem schicken Zimmer in dem Hotel in Seattle auf dem Bett und seufzte. Er hatte einen verdammt weiten Weg hinter sich, und nicht einmal jetzt war er sich sicher, ob er das Richtige getan hatte. Ihm waren viele Gründe eingefallen, nach Seattle zu fliegen, aber er wollte sich nichts vormachen: Eigentlich war er wegen Tracy hier. Ihretwegen saß er auf einem Bett, das ihn hundertfünfzig Dollar die Nacht kostete. „Im Gericht", wiederholte er und rief sich ins Gedächtnis, dass sie eine Karrierefrau war. Sie würde nicht alles stehen- und liegenlassen, weil er für ein paar Tage in der Stadt war. Ver dammt, sie wusste ja nicht einmal, dass er in Seattle war! Er war überhaupt nicht dazu gekommen, es ihr zu sagen, doch sie würde es früh genug erfahren. Allerdings konnte er bei den Zimmerpreisen nicht lange bleiben. Duke stand auf und ging zum Schreibtisch, um einen Blick in die Speisekarte für den Zimmerservice zu werfen. Als er die Preise sah, beschloss er, irgendwo in der Stadt zu essen. Als er wenige Minuten später das Hotel verließ und auf die Straße trat, fühlte er sich von der Mensche nmenge erschlagen. Auch der Lärm machte ihn nervös, und Duke bezweifelte, sich je an das Leben in einer Großstadt gewöhnen zu können. Nicht einmal in Anchorage war so viel los. Er ging schließlich in Richtung Meer, wo sich der Pike Place Market befand. Am Pier waren zahlreiche Fischstände, und Duke reihte sich an einem davon in die Schlange ein, um eine Portion Fisch mit Pommes frites zu essen. Der Fisch schmeckte so gut, dass Duke sich noch einmal anstellte, um eine zweite Portion zu bestellen. Während er aß, schaute er sich um. In der Ferne konnte man die schneebedeckten Gipfel der Olympic Mountains sehen. Es war ein netter Anblick, aber auch in Alaska gab es derartige Panoramen. Als Duke kurz darauf am Meereswasseraquarium vorbeikam, beschloss er spontan, hineinzugehen, und hielt sich dort etwa eine Stunde auf. Seiner Schätzung nach musste Tracy mittlerweile im Gericht fertig und wieder zurück in ihrem Büro sein. Nachdem er einen Blick in seinen Stadtplan geworfen und die Fourth Avenue gefunden hatte, machte er sich auf den Weg. Vor dem Gebäude angekommen, blieb er auf der anderen Straßenseite stehen, um es zu betrachten. Tracys Büro lag im obersten Stock, und er vermutete, dass es auf der Außenseite des Gebäudes lag. Da sie so ehrgeizig und engagiert war, würde sie sicher bald zur Juniorpartnerin aufsteigen. Einerseits war er stolz auf sie, andererseits hatte er Angst. Sie beide führten ein so unterschiedliches Leben, dass es keine gemeinsame Basis für sie gab - außer ihrer Liebe vielleicht. Doch das reichte nicht. Verdammt, er wollte Tracy trotzdem sehen! Dass er sie dann ausgerechnet inmitten der Menschenmenge entdeckte, war wohl ein Wink des Schicksals. Sie ging ziemlich schnell und überquerte im nächsten Moment die Straße. Als Duke einen Blick auf seine Armbanduhr warf, stellte er fest, dass es kurz vor eins war. Vermutlich war sie wieder auf dem Weg zum Gericht, denn sie hatte ihre Aktentasche unter dem Arm. „Tracy!" rief er, doch sie hörte es nicht. Er versuchte es noch einmal und lief dabei hinter ihr her. Tracy blieb stehen und schaute sich um, merkte aber offenbar nicht, dass er auf der anderen Straßenseite war. Sie sah wirklich gut aus. Er hatte ganz vergessen, wie schön sie war. Besonders zu Anfang musste er blind gewesen sein. Sie hatte schöne lange Beine, eine schmale Taille und Hüften,
die ... Duke war so in Gedanken versunken, dass er mit einer alten Dame zusammenstieß. Die musterte ihn so misstrauisch, als würde sie in ihm einen steckbrieflich gesuchten Verbrecher wiedererkennen. „Verzeihung, Ma'am." „Passen Sie doch besser auf, junger Mann", schimpfte sie. „Es tut mir sehr leid", entschuldigte er sich noch einmal, ohne Tracy aus den Augen zu lassen. Sie eilte gerade die Treppe zu dem Gebäude hoch, in dem sich das Gericht von King County befand. „Passen Sie das nächste Mal besser auf", ermahnte ihn die alte Dame wieder. „Versprochen", meinte er, bevor er die Straßenseite wechselte. Dass ihn dabei jemand anhupte, ignorierte er einfach. Wieder rief er Tracys Namen, doch als er ins Gebäude kam, sah er nur noch, wie sie einen Aufzug betrat. Da er erst die Sicherheitskontrolle passieren musste, schaffte er es nicht mehr, sie einzuholen. Auf der Anzeige über dem Aufzug beobachtete er, in welchem Stockwerk sie ausstieg. Sobald der nächste Aufzug unten war, trat Duke hinein und drückte auf den Knopf für das fünfte Stockwerk. Oben im Flur schien noch mehr los zu sein als auf der Straße. Er bahnte sich einen Weg an den vielen Leuten vorbei und betrat schließlich den Gerichtssaal. Offenbar war der Fall, der verhandelt wurde, von großem öffentlichen Interesse, denn es hatten sich zahlreiche Journalisten und Fotografen eingefunden. Duke setzte sich in eine der hinteren Reihen, und bereits nach wenigen Minuten forderte der Gerichtsdiener die Anwesenden auf, sich zu erheben. Daraufhin betrat der Richter, der eine schwarze Robe trug, den Saal. Die Geschworenen hatten bereits Platz genommen. „Sind Sie bereit, Ms. Santiago?" fragte der Richter Tracy. Tracy stand auf. „Ja, Euer Ehren." Duke musste sich ein wenig vorbeugen, um ihren Mandanten sehen zu können. Er war um die Dreißig, und bei seinem Anblick verspürte Duke einen schmerzhaften Stich der Eifersucht, den er zu ignorieren versuchte. Tracy war zweifellos eine populäre Anwältin, denn sie war clever und gewissenhaft und trat entschlossen auf. Außerdem war sie schön, so dass sicher kein Geschworener sich ihrem Einfluss entziehen konnte. Wäre er der Ankläger gewesen, hätte Duke sich ernsthafte Sorgen gemacht. Nun ging Tracy auf die Geschworenenbank zu. Sie wirkte entspannt und lächelte die zwölf Männer und Frauen an. „Ladies und Gentlemen", begann sie selbstbewusst, „ich bin hier, um Ihnen zu beweisen, dass mein Mandant unschuldig ist. Im weiteren Verlauf der Verhandlung werde ich Sie davon überzeugen, dass Jack Makepeace in Notwehr gehandelt hat. Er ..." Als sie sich umdrehte und sich dem Publikum zuwandte, sah sie Duke. Plötzlich stockte sie. „Ist alles in Ordnung, Ms. Santiago?" erkundigte sich der Richter. Tracy ging zu ihrem Tisch, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. „Ja, danke, Euer Ehren", erwiderte sie. Dann wandte sie sich Duke zu und funkelte ihn an. Offenbar freute sie sich doch nicht so darüber, ihn zu sehen, wie er es sich erhofft hatte.
7. KAPITEL
Ihr Herz klopfte wie wild, und Tracy trank noch einen Schluck Wasser. Duke war in Seattle. Diese Nebensächlichkeit hatte er am Telefon gar nicht erwähnt. Wütend funkelte sie ihn an. Wie konnte er es wagen, einfach hier aufzutauchen und sie derart aus dem Konzept zu bringen? „Gibt es ein Problem, Ms. Santiago?" erkundigte Richter Kingsley sich ungeduldig. „Verzeihung, Euer Ehren", erwiderte sie. „Ich ... musste nur einen Schluck Wasser trinken." Sie versuchte, sich zusammenzureißen, und ging wieder auf die Geschworenenbank zu. Hoffentlich waren die zwölf Männer und Frauen etwas nachsichtiger mit ihr als der Richter. Doch schließlich war sie ein Profi, und so schaffte sie es, ihre Eröffnungsansprache ohne weitere Zwischenfälle zu beenden. Aus Angst, Dukes Anblick könnte sie erneut aus der Fassung bringen, vermied sie es jedoch, ins Publikum zu schauen. Allerdings spürte sie während der ganzen Zeit seine Blicke auf sich, und dabei hörte sie förmlich, wie er sagte: „Mach ihnen die Hölle heiß." Wenn sie nicht so durcheinander gewesen wäre, hätte sie es vermutlich getan, aber in Anbetracht ihrer derzeitigen Verfassung schaffte sie es wohl kaum, die Geschworenen von der Unschuld ihres Mandanten zu überzeugen. Als die Verhandlung um vier beendet wurde, sprach Tracy kurz mit ihrem Mandanten und wandte sich dann zu Duke um, um ihn zur Rede zu stellen. Sobald sie mit ihm allein war, würde sie ihm die Hölle heiß machen. Er war verschwunden. Hatte sie es sich nur eingebildet, dass er im Gerichtssaal gesessen hatte? Womöglich war sie im Begriff, jetzt völlig den Verstand zu verlieren. Tracy klemmte sich ihre Aktentasche unter den Arm und eilte zurück zum Büro. Sobald sie dort war, wollte sie in Hard Luck anrufen und sich den Namen des Hotels geben lassen, in dem Duke abgestiegen war. Als sie jedoch auf den Aufzug zuging, sah sie, dass er an der Wand lehnte und sie lässig anlächelte. Wieder funkelte sie ihn wütend an, aber insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie überglücklich war, ihn wiederzusehen. „Du hättest mir sagen können, dass du in Seattle bist", fuhr sie ihn an. „Du warst gerade auf dem Sprung", erinnerte er sie. „Trotzdem hättest du es mir sagen können." Er sah einfach umwerfend aus und schien von Gesundheit zu strotzen. Auch dass er den linken Arm noch in einer Schlinge trug, tat seiner maskulinen Ausstrahlung keinen Abbruch. Fast automatisch ging sie auf ihn zu. Sie war nicht sicher, ob sie ihm eine Ohrfeige verpassen oder sich ihm in die Arme werfen und ihn küssen sollte. Duke nahm ihr die Entscheidung ab. Ohne ein Wort zu sagen, streckte er den rechten Arm aus und zog sie an sich. Tracy legte ihm die Arme um die Taille und barg den Kopf an seiner Schulter. Sie war so glücklich und fühlte sich so geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben. Duke genoss es offenbar genauso, ihr so nahe zu sein. „Du hast recht", meinte er rau. „Ich hätte es dir sagen sollen." „Mir ist fast das Herz stehengeblieben, als ich mich umgedreht und dich gesehen habe." „Ich weiß. Als ich in den Gerichtssaal gegangen bin, habe ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass ich dich erschrecken könnte." „Dann warst du plötzlich verschwunden." „Als ich gemerkt habe, wie du reagiert hast, wollte ich gleich verschwinden, aber dann hast du dich wieder gefangen. Ich habe den Saal erst kurz vor vier verlassen, um hier auf dich zu warten." Tracy nickte und nahm dabei den herben Duft seines After-shaves wahr.
„Du bist verdammt gut, Schatz", fuhr er fort. „Mir war schon immer klar, dass du besser streiten kannst als alle Frauen, die ich kenne, aber wenn du vor der Geschworenenbank stehst, bist du wirklich einmalig." Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Du verstehst es, einer Frau Komplimente zu machen." „Ich meine es ernst, Tracy. Du bist eine verdammt gute Anwältin." „Danke." Dabei war sie noch nicht einmal zu ihrer Höchstform aufgelaufen! Er musste sie einmal sehen, wenn sie so richtig in Fahrt kam. „Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?" fragte er. „Wann?" Duke zögerte. „Heute abend?" schlug er schließlich vor. „Ja", erwiderte sie sofort. „Du kannst mich im Büro abholen. Normalerweise mache ich nicht vor sechs Schluss." „Prima. Bis dann." Er küsste sie auf die Stirn und löste sich nur widerstrebend von ihr. „Ich hole dich um sechs ab." Tracy war nicht entgangen, dass die Leute sie beobachteten, aber das war ihr egal. Duke ging zum Aufzug, aber als sie seinen Namen rief, drehte er sich noch einmal um. „Schön, dich zu sehen." Er lächelte jungenhaft und strich sich das Haar aus der Stirn. „Ganz meinerseits." Als sie ihm nachblickte, überschlugen sich ihre Gedanken. Duke war in Seattle! Und sie würde ihn in zwei Stunden wiedersehen! Mittlerweile hatte sich Janice Cooper, ihre Freundin und Kollegin, zu ihr gesellt. „Wer ist dieser Prachtkerl?" „Ein Freund." „Er muss ja ein guter Freund sein, wenn du dich ihm praktisch in die Arme wirfst. Hast du nicht immer behauptet, alle Männer wären Tiere, aber einige von ihnen würden sich als Schoßtiere eignen?" „Dieser Mann ist etwas Besonderes." Mehr wollte Tracy nicht preisgeben, obwohl sie bereits ahnte, dass sie sich verraten hatte. „Das muss er wohl sein." Janice seufzte neidvoll. „Ich kann mich nicht entsinnen, dich je so glücklich gesehen zu haben." Man merkte es ihr also an. Doch im Grunde machte es Tracy nichts aus, dass sie ihre Gefühle nicht verbergen konnte. „Er scheint ein echter Kerl zu sein", fuhr Janice fort, „ganz anders als die Typen, auf die du sonst stehst. Was macht ihn denn so besonders?" „Du meinst, abgesehen von der Tatsache, dass er mir das Leben gerettet hat?" „Das war Duke Porter?" erkundigte Janice sich verblüfft. „Der unvergleichliche." „Aber ich dachte, er wohnt in Alaska." „Das tut er auch." „Die meisten Männer, die ich in den letzten zehn Jahren kennengelernt habe, könnten sich eine Scheibe von ihm abschneiden." Tracy lachte leise. Janice hatte recht. Die Typen, mit denen sie, Tracy, bisher zusammengewesen war, hatten in puncto Männlichkeit nicht allzuviel zu bieten gehabt. Duke hatte sich seine Muskeln nicht im Fitnessstudio antrainiert und seine Bräune nicht auf der Sonnenbank erworben. Er war mutig und wurde mit jeder Situation fertig. Und da er über ein gesundes Selbstvertrauen verfügte, brauchte er keinen Psychiater zu konsultieren oder irgendwelche Psycho-Kurse zu besuchen, um zu sich selbst zu finden. Duke Porter war ein echter Naturbursche. Als Duke sich in dem Geschäft im Spiegel betrachtete, erkannte er sich kaum wieder. Er
konnte sich absolut nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Anzug getragen hatte. Vermutlich war es auf der Beerdigung seines Vaters vor über fünfzehn Jahren gewesen. Es war derselbe Anzug gewesen, den er zum Abschluss auf der High-School getragen hatte und als seine Mutter wieder geheiratet hatte. „Wie finden Sie sich?" Der Verkäufer umkreiste Duke wie ein Bussard, der sich jeden Moment auf seine Beute stürzt e. Duke warf einen Blick auf das Preisschild am Ärmel und stöhnte leise. Fünfhundert Dollar waren eine Menge Geld in Anbetracht der Tatsache, dass er nur schick aussehen wollte, wenn er mit Tracy essen ging. Als er in seinem Hotel telefonisch einen Tisch im Speisesaal reserviert hatte, hatte man ihm gesagt, dass für die „Gentlemen" Krawattenzwang bestehen würde. Er fragte sich, was an dem Essen so besonders war, dass man sich dafür so herausputzen musste. „Können Sie den Anzug in einer Stunde ändern lassen?" erkundigte er sich. „Ja, natürlich, gegen einen geringen Aufpreis." Duke wettete darauf, dass die Summe alles andere als gering sein würde, doch er hatte keine Wahl. Aus irgendeinem Grund, über den er nicht länger nachdenken wollte, wollte er Tracy beweisen, dass er genauso weltgewandt war wie die Typen, mit denen sie normalerweise ausging. Eine Stunde später war er wie verwandelt. Inzwischen hatte er sich in einem Schönheitssalon die Haare schneiden lassen und sich in seinem Hotelzimmer rasiert. Bevor er den Anzug abgeholt hatte, hatte er in einer Parfümerie ein neues After-shave erstanden. Die Verkäuferin hatte ihm erzählt, dass es bevorzugt von Anwälten gekauft wurde. Vielleicht würde er Tracy wenigstens mit dem Duft beeindrucken, wenn er es nicht mit seinem Aussehen schaffte. Er trug seinen neuen Anzug, dazu eine Seidenkrawatte und neue Schuhe, und hatte sich einen leichten Regenmantel über den Arm gehängt. Zufrieden betrachtete er sich in dem Spiegel in seinem Zimmer. Er sah ziemlich nobel aus, aber schließlich hatte er auch fast tausend Dollar in sein neues Erscheinungsbild investiert. Allerdings war Tracy es wert, und er glaubte, dass sie seine Bemühungen zu schätzen wusste. Eine knappe halbe Stunde später betrat er die Etage, in der sich ihr Büro befand. Der Empfangsbereich wirkte sehr exklusiv und war ganz in Grau- und dezenten Violettönen gehalten. Duke dachte unwillkürlich daran, dass Leute wie er sich wohl kaum einen Anwalt leisten konnten, in dessen Kanzlei schon im Empfangsbereich teure Ledersofas standen. Die schick gekleidete Empfangsdame wollte offenbar gerade Feierabend machen, denn sie hatte bereits ihren Mantel übergezogen. Lächelnd kam sie auf Duke zu. „Ich möchte zu Tracy Santiago", erklärte er. „Sind Sie Mr. Porter?" Duke nickte. „Sie erwartet Sie bereits." Er folgte ihr den schmalen Flur entlang zu Tracys Büro. Auf dem Weg dorthin blickte sie sich ein paarmal zu ihm um. „Mr. Porter ist da", informierte sie Tracy, bevor sie sich zurückzog. Duke hatte den Eindruck, dass sie sich gar nicht von seinem Anblick losreißen konnte. Tracy stand von ihrem Schreibtisch auf und lächelte ihn an. Doch als ihr Blick auf sein Outfit fiel, wurde sie ernst. „Bist du es wirklich, Duke?" „Klar. Ich habe mir gedacht, dass meine schicken Klamotten dir gefallen." Duke streckte den rechten Arm aus und drehte sich einmal um sich selbst. „Ich fasse es nicht... Du hast dich so verändert", sagte sie leise und schüttelte den Kopf. „Ich glaube es einfach nicht." „Heißt das, es gefällt dir nicht?" „Ob es mir gefällt... Doch, natürlich. Es ist nur ... Du siehst so anders aus." Er runzelte die Stirn. „Wie sehe ich denn aus?" Bis jetzt hatte er es erst einmal erlebt, dass
Tracy nervös geworden war, und zwar an diesem Nachmittag im Gerichtssaal. Im nachhinein musste er sich eingestehen, dass er sich nicht sicher gewesen war, wie sie auf seinen Anblick reagieren würde. Sie war nicht der Typ, der sofort ins Schwärmen geriet, obwohl es ihm bestimmt gefallen hätte. Nun ging sie um den Schreibtisch herum und kam auf ihn zu. „Ich glaube, du bist der attraktivste und schickste Mann, der mir je begegnet ist." Sofort entspannte sich Duke. Der attraktivste und schickste Mann ... Nun, mit solchen Komplimenten konnte er durchaus leben. „Du siehst auch nicht schlecht aus, Schatz." Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Tracy war tatsächlich rot geworden! Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ein Mann es schaffen würde, sie in Verlegenheit zu bringen schon gar nicht er. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, beugte Duke sich zu ihr herunter und presste die Lippen auf ihre, woraufhin sie leise aufstöhnte. Er küsste sie immer leidenschaftlicher, und sein Herz klopfte wie wild. Nach einer Weile löste er sich von ihr und versuchte, sich zusammenzureißen. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für derartige Intimitäten. „Ich habe uns einen Tisch reserviert", sagte Duke rau. Tracy senkte den Blick. „Ich hole nur meine Handtasche." Als sie ihren Mantel überziehen wollte, nahm er ihn ihr aus der Hand. „Lass mich das machen." Etwas ungeschickt half er ihr hinein. „Danke", erwiderte sie lächelnd. Duke nickte und widerstand der Versuchung, sie wieder zu küssen. Wenn es so weiterging, würde seine Selbstbeherrschung an diesem Abend auf eine harte Probe gestellt werden. Am liebsten hätte er das Essen ganz ausfallen lassen und statt dessen mit Tracy geschlafen. Die Vorstellung war so verlockend, dass er einige Male tief durchatmen musste, um sich wieder zu fangen. Da es vom Büro zu seinem Hotel nicht weit war, gingen sie das Stück zu Fuß, und zwar Hand in Hand. Als Duke den Namen des Restaurants erwähnte, zog Tracy erstaunt die Augenbrauen hoch. „Das Rose Garden ist eines der exklusivsten Restaurants in Seattle." „Das habe ich vermutet", meinte er lässig. Das Restaurant lag im obersten Stock des Hotels. Als sie mit dem Aufzug hochfuhren, der sich an der Außenseite des Gebäudes befand, hatten sie einen herrlichen Blick auf Seattle. Tracy deutete auf die Elliot Bay und den Puget Sound. „Ich bin erst einmal hier gewesen", sagte sie. „Das Essen war toll, aber ..." Sie zögerte einen Moment, bevor sie leise hinzufügte: „... sehr teuer." „Keine Sorge", flüsterte Duke, „ich kann es mir leisten." Als er kurz darauf die Preise auf der Speisekarte sah, bereute er seine Worte beinah. Nicht einmal in Alaska musste man für eine Tasse Kaffee zehn Dollar hinblättern! Auch die Atmosphäre war nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Einen schicken Anzug zu tragen war nicht so schlimm, aber musste der Kellner ihm unbedingt auch noch eine Serviette auf den Schoß legen? Es gab Dinge, die ein Mann lieber allein machte! „Was möchtest du essen?" fragte Tracy. Duke schaute sie über den Rand der Speisekarte hinweg an. Da er mehr auf Hausmannskost stand, wäre ihm nicht im Traum eingefallen, Alligatorfleisch, Froschschenkel oder Schnecken zu bestellen. Das einzige, was ihn interessierte, war der Lachs, doch den konnte er in Alaska jederzeit essen, ohne dafür ein Vermögen zu bezahlen. „Hast du schon etwas gefunden?" fragte Duke. Im nächsten Moment trat ein Kellner, der ziemlich arrogant wirkte, zu ihnen an den Tisch. „Das Tagesgericht ist heute palo- millo á la parilla." Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Darf ich den Weinkellner bitten, mit Ihnen über die Auswahl der Weine zu sprechen?"
„Wir sind noch nicht ganz fertig", erklärte Duke. „Und vielen Dank, aber ich trinke lieber ein Bier." „Ich auch", meinte Tracy. Der Kellner tat so, als hätte er es nicht gehört. „Ich nehme einen Salat", sagte sie dann. Duke beschloss, auch einen Salat zu bestellen, da er so nicht viel falsch machen konnte. „Klingt gut." Er klappte die Speisekarte zu und legte sie auf den Tisch. Tracy entschied sich für einen salade printaniere Monte Carlo. „Ich nehme einen gemischten Salat", wandte er sich an den Kellner. „Mit Sellerie und Radieschen?" schlug dieser vor. „Gern." „Und Alfaifasprossen?" „Ja, gern." Duke lächelte Tracy zu. „Spargel?" Duke nickte. „Mit anderen Worten: Sie nehmen den salade printaniere Monte Carlo." „Genau", bestätigte Duke, als hätte er es die ganze Zeit gewusst. Offenbar rechnete der Kellner nicht damit, später Trink geld zu bekommen. „Also gut, Sir." Duke wandte sich wieder Tracy zu. „Darf ich Ihnen als Dressing scallion vinaigrette empfehlen?" fuhr der Kellner fort. „Gern", sagte Tracy. „Mir wäre Ra nch Dressing lieber." Der Kellner rümpfte die Nase. „Ranch Dressing führen wir leider nicht." „Dann nehme ich Blue Cheese Dressing." Der Kellner seufzte sichtlich entnervt. „Wie Sie wünschen." Dann ging er weg. Tracy musste ein Lachen unterdrücken. „Tut mir leid", meinte sie, „ich habe mir nur gerade vorgestellt, dass er im Hard Luck Cafe arbeitet." Jetzt kicherte sie. „Er würde es keine fünf Minuten dort aushalten." Duke lächelte. „Bei Ben gibt es wenigstens Ranch-Dressing." „Wo du gerade von Ben sprichst, wie geht es ihm eigentlich?" „Sehr gut. Er hat vor kurzem eine Köchin eingestellt, Mrs. McMurphy ..." „Eine Frau?" fragte sie erstaunt. „Warum nicht?" „Es überrascht mich nur. Ich hätte nie gedacht, dass Ben jemanden in seine Küche lassen würde, schon gar keine Frau." „Die Männer in Alaska sind lange nicht so voreingenommen, wie du denkst." Er tat so, als wäre er gekränkt, doch als er ihrem Blick begegnete, lächelte er wieder. Kurz darauf brachte der Kellner ihnen ihre Drinks und das Essen. Duke hatte schon oft Salat gegessen, aber noch nie ein derartiges Kunstwerk auf einem Teller gesehen. Der Spargel war sternförmig in der Mitte arrangiert, und das Ganze war zum Es sen fast zu schade. „Kein Wunder, dass die Preise hier so hoch sind", murmelte Duke, während er das kunstvolle Arrangement auf dem Gold randteller betrachtete. „Es schmeckt noch besser, als es aussieht", versprach Tracy. Wie sich herausstellte, hatte sie recht, doch schon als er die Rechnung bezahlte, merkte er, dass er noch nicht satt war. Sobald er Tracy zu Hause abgesetzt hatte, wollte er ins nächste Schnellrestaurant gehen und etwas Richtiges essen. „Hast du Lust, noch am Wasser spazierenzugehen?" schlug sie im Aufzug vor. „Klar." Obwohl sein Magen knurrte, wollte Duke sich noch nic ht von ihr trennen. „Ich mag den Hafen von Seattle", sagte Tracy, während sie bergab in Richtung Elliot Bay gingen. Wie immer am Freitag abend herrschte dichter Verkehr. Duke hatte sich noch immer
nicht an den Lärm und den Trubel gewöhnt. Dass er den Vormittag mit Sightseeing verbracht hatte, erzählte er Tracy nicht. Am besten hatte ihm die Hafengegend mit dem Pike Place Market gefallen, wo es unzählige Fisch- sowie Obst- und Gemüsestände gab. Bevor er nach Hard Luck zurückkehrte, wollte er für seine Freunde einige Delikatessen kaufen. Besonders die Kinder wür den sich über die kernlosen Wassermelonen freuen. „Erzähl mir von Hard Luck", bat Tracy, als sie den Pier entlanggingen. Der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie lehnte sich an das Geländer und blickte hinaus auf das kabbelige grüne Wasser. Da es inzwischen dämmerte, war die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. „Karen ist ziemlich rund geworden", berichtete Duke. „Abbey eigentlich auch." Tracy hatte die beiden Frauen zuletzt auf Mariahs und Christians Hochzeit gesehen. Obwohl es erst wenige Wochen her war, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Duke hatte sich seitdem verändert und sie sich auch. „Ben wird von Tag zu Tag launischer", fuhr er fort und lachte leise. Mittlerweile hatten sie das Ende des Piers erreicht. „Und wie geht es Dotty, Sally und Angie?" „Prima. Sie lassen dich herzlich grüßen." Duke hatte zwar nicht vor, Tracy in der Öffentlichkeit zu küs sen, aber er wollte sie wenigstens in den Arm nehmen. Allerdings war das mit einem Arm in der Schlinge gar nicht so einfach. Daher legte er ihr den rechten Arm um die Taille. Als Tracy ihm eine Hand an die Brust legte, konnte er nicht länger warten und beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen. Schließlich war es schon fast dunkel, und so viele Leute waren nun auch wieder nicht unterwegs. Beinah hätte er sich in dem Kuss verloren. Es war so aufregend, Tracy zu spüren und zu schmecken ... Irgendwann schaffte er es doch, sich von ihr zu lösen. Sie zitterte und schaute ihn aus großen Augen an. „Wann ... wann fliegst du zurück?" Duke wusste es selbst nicht. So wie er sich momentan fühlte, mochte er daran noch gar nicht denken. „Wie lange bleibst du hier? Ein paar Tage?" Als er den ängstlichen Unterton in ihrer Stimme hörte, hätte er sie am liebsten wieder geküsst. Was sie hier taten, war nicht besonders klug, aber es war ihm egal. Wenn ihn jemand als egoistischen Mistkerl bezeichnet hätte, hätte Duke ihm recht gegeben. Doch jetzt brauchte er Tracy. „Keine Ahnung", sagte er schließlich. „Länger als eine Woche?" Da er ihre Frage nicht beantworten konnte, küsste er Tracy auf den Hals. Es war himmlisch, sie so zu berühren! „Duke?" „Länger als ein paar Tage", flüsterte er. „Eine Woche? Oder länger?" Ihr Duft berauschte ihn. „Ja." Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. All die Jahre hatte Duke geglaubt, dreitausendfünfhundert Meter über der Erde fliegen zu müssen, um ein solches Hochgefühl zu verspüren. Er hätte es nie für möglich gehalten, so wegen einer Frau zu empfinden. Tracy hatte ihm ganz neue Perspektiven eröffnet. Als ein paar Kinder in ihrer Nähe zu kichern begannen, lösten sie sich voneinander und gingen Hand in Hand zurück. „Es gibt so viel, das ich dir gern zeigen würde", meinte Tracy. Als sie an einem Fischstand vorbeikamen und ihnen der würzige Duft von frischgeräuchertem Lachs in die Nase stieg, knurrte Dukes Magen. Tracy mochte sich mit einem Salat begnügen, aber er wurde von ein paar Salatblättern, die mit Alfaifasprossen dekoriert waren, einfach nicht satt.
„Du hast Hunger", bemerkte sie vorwurfsvoll. Duke zuckte die Schultern. „Ein bisschen." Sofort leuchteten ihre Augen auf. „Ich kenne ein tolles mexikanisches Restaurant hier ganz in der Nähe. Es ist nicht besonders schick, aber das Essen ist ausgezeichnet. Bist du dabei?" Er nickte lachend. „Und was ist mit dir?" „Ich sterbe vor Hunger", gestand Tracy strahlend. „Also los." „Eins möchte ich vorher noch wissen", erwiderte sie. „Bist du morgen abend hier?" Wieder nickte er. „Dann lade ich dich zum Essen ein." Duke versteifte sich unwillkürlich. „Ich weiß nicht, was hier üblich ist, aber in Alaska lädt immer der Mann die Frau zum Es sen ein." Ihre Augen funkelten kampflustig. „Und was ist, wenn ich selbst koche?" Auf die Idee war er noch gar nicht gekommen. „Du kannst kochen?" „Und ob. Erst wenn du in den Genuss meiner Kochkünste ge kommen bist, weißt du, was richtiges Essen ist." „Einverstanden. Wo und wann?" Diese Frau steckt voller Überraschungen, dachte er. Ben war erstaunt, wie gut das Tagesgericht am Freitag abend bei seinen verheirateten Gästen angekommen war. Bereits nach einer Stunde war Marys Rinderbraten ausverkauft gewesen. An diesem Freitag wollte sie zwei Braten zubereiten, und zwar nach seinem Rezept. Ben hatte jahrelang am Freitag für die Männer gekocht. Einige der Pipelinearbeiter flogen am Freitag immer nach Hard Luck, um sich ein wenig von ihrem Job zu erholen und sich miteinander zu amüsieren. Oft spielten sie dann auch Binokel oder Bridge. Bisher hatte Ben sich kaum Gedanken darüber gemacht, was die Ehepaare in Hard Luck in ihrer Freizeit taten. Von Bethany wusste er, dass Mitch normalerweise einen Videofilm in Pete Livengoods Laden auslieh oder sich von einem der Piloten einen Film aus Fairbanks mitbringen ließ. Den frühen Abend verbrachten die beiden mit einer großen Schüssel Popcorn vor dem Fernseher, und anschließend fuhr Mitch Streife. „Sind Sie sicher, dass wir beide Braten loswerden?" fragte Ben. Mary nickte. „Am letzten Freitag hätten wir auch doppelt soviel verkaufen können, und ich habe die ganze Woche Reklame dafür gemacht. Keine Sorge, wenn etwas übrigbleibt, gibt es am Samstag Roastbeef Sandwiches als Mittagsgericht." Dagegen hatte er nichts einzuwenden, zumal er mittlerweile auf ihr Urteilsvermögen vertraute und ihr in der Küche freie Hand ließ. Um sechs betraten Sawyer und Abbey Hand in Hand das Cafe. „Wir haben sozusagen ein Rendezvous", erklärte Sawyer und blinzelte seiner Frau zu. „Die Kinder behaupten, dass sie alt ge nug sind, um mal allein bleiben zu können, und wir geben ihnen jetzt die Chance, es uns zu beweisen. Die beiden setzten sich nebeneinander in eine Nische. Ben stellte fest, dass Abbey von Tag zu Tag hübscher aussah, je runder ihr Bauch wurde. Vermutlich lag es an der Schwangerschaft. Kaum hatten die beiden Platz genommen, betraten Christian und Mariah das Cafe. „Bei Ben trifft man die nettesten Leute", neckte Abbey. „Habt ihr etwas dagegen, wenn wir uns zu euch setzen?" fragte Christian. Christian nahm gegenüber von Sawyer Platz und Mariah ge genüber von Abbey. Ben freute sich über den Anblick, den die vier boten. Noch vor gar nicht langer Zeit war er fest davon überzeugt gewesen, dass Sawyer und Charles O'Halloran immer solo bleiben würden. Christian dagegen, so hatte Ben geglaubt, würde einmal heiraten. Er war sich durchaus bewusst, dass die Frauen, die nach Hard Luck gekommen waren, für den Aufschwung in der Gemeinde verantwortlich waren. Hard Luck war der ideale Ort für
Familien geworden - und der richtige Platz, um seinen Lebensabend zu verbringen. Ben half Mary an diesem Abend, so gut er konnte, doch obwohl er pausenlos beschäftigt war, hatte er nicht das Gefühl, sich zu überanstrengen. Mary hatte nach Rücksprache mit ihm zwei Teilzeitkräfte eingestellt und selbst angelernt. Es waren zwei Schülerinnen, die in die High-School-Stufe gingen und denen die Arbeit viel Spaß machte. Er vermochte nicht genau zu sagen, woran es lag, aber Mary McMurphy konnte ihn um den kleinen Finger wickeln. Immer wenn sie ihm einen Vorschlag machte, den er grundsätzlich ablehnte, schaffte sie es, ihn so weit zu bringen, dass er schließlich doch zustimmte. Als sie ihm zum Beispiel gesagt hatte, sie brauchten eine Be dienung, hatte er darauf bestanden, nur eine Kellnerin einzustellen. Zuerst hatte sie sich damit einverstanden erklärt, ihm aber gleich darauf zahlreiche Gründe genannt, dass es von Vorteil wäre, eine zweite Kraft zu beschäftigen. Ehe er sich's versehen hatte, hatte sie die beiden Mädchen eingestellt. Wie Mary vorhergesagt hatte, fanden beide Rinderbraten reißenden Absatz. Allerdings gab sie im nachhinein nicht damit an -ein sehr sympathischer Zug an ihr, wie Ben fand. „Lassen Sie mich weitermachen", erklärte er, als er in die Küche kam und sie gerade den letzten Topf schrubbte. „Sie stehen schon den ganzen Tag in der Küche." Sie trocknete sic h die Hände in einem Geschirrhandtuch ab. „Eigentlich ... habe ich auf Sie gewartet, weil ich Sie etwas Wichtiges fragen muss." Er bemerkte, dass es ihr schwerfiel, ihm in die Augen zu sehen. Verdammt, die Frau arbeitete noch keine vier Wochen für ihn, und schon wollte sie mehr Lohn! Offenbar hatte sie das Ganze geplant. Sie hatte sich unent behrlich gemacht, nur um dann unverschämte Forderungen stellen zu können. Er machte sich bereits auf das Schlimmste gefaßt. „Was gibt es?" erkundigte er sich schroff. Mary zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. „Ich ... ich wollte nur wissen, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, wenn ich in Ihrer Küche Zimtbrötchen für die Caldwells backen wür de", sprudelte sie schließlich hervor. „Natürlich würde ich Ihnen das Geld für Strom und alles andere geben." Erst jetzt sah Ben, dass ihr die Tränen in den Augen standen. „Schon gut", fuhr sie fort, während sie zu ihrem Mantel griff. „Ich hätte mir denken können, dass ich das nicht von Ihnen verlangen kann. Bitte entschuldigen Sie, Ben." Bevor Ben sie aufhalten konnte, war sie schon zur Tür hinausgeeilt.
8. KAPITEL
Tracy stand mit geschlossenen Augen in ihrer kleinen Küche und stöhnte laut. Es war Samstag abend kurz vor sieben, und sie war noch lange nicht fertig. Was war nur in sie gefahren, als sie Duke zum Essen zu sich nach Hause eingeladen hatte? Sie konnte überhaupt nicht kochen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein halbwegs vernünftiges Essen zustande gebracht. Mit ihren Worten, Duke würde erst wissen, was richtiges Essen ist, wenn er in den Genuss ihrer Kochkünste gekommen sei, hatte sie das Schicksal herausgefordert. Als sie nun die Augen wieder öffnete und das Schlachtfeld betrachtete, das sie in ihrer ansonsten makellos sauberen Küche hinterlassen hatte, war sie den Tränen nahe. Kein einziger Topf war sauber, weil sie es immer wieder versucht hatte, etwas Essbares zuzubereiten. Vielleicht hätte sie noch eine anständige Sauce hinbekommen, wenn sie ein Rezept gehabt hätte. Doch bis jetzt hatte sie ihren Herd nur benutzt, um Wasser zu kochen oder eine Dosen suppe warm zu machen. Normalerweise ließ sie sich Essen ins Haus bringen, das entweder schon fertig war oder nur noch in der Mikrowelle erhitzt werden musste. Als Tracy einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, stöhnte sie wieder. Duke würde bald kommen, und sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Als sie die Lendenfilets gekauft hatte, hatte der Schlachter ihr genau erklärt, wie sie sie zubereiten musste, und auch die Marktfrau auf dem Pike Place Market hatte ihr Anweisungen gegeben, wie der Spargel gegart werden musste. Jedes Kind konnte Spargel kochen! Tracy hatte viel Geld für die Zutaten hingeblättert, aber die Sauce Hollandaise war ihr völlig missglückt, und auch das Kartoffelpüree war einfach widerwärtig. Tracy hatte sich alle Mühe gegeben, um Duke zu beeindrucken, und so hatte sie es aus frischen Kartoffeln gemacht. Leider hatte sie zum Schluss zuviel Milch hineingetan und dann in ihrer Verzweiflung versucht, es wieder anzudicken, indem sie Fertigpüree hinzugefügt hatte. Das Ganze sah nun eher wie Tapetenkleister aus. Auch die Fleischsoße war ein einziger Misserfolg und erinnerte stark an ein Gebräu aus einer schäbigen Bar. Der einzige Lichtblick war das Dessert. Tracy war so umsichtig gewesen, in einer Konditorei eine Erdbeertorte zu kaufen, die nun sicher im untersten Fach ihres Kühlschranks stand. Zum Glück machte wenigstens der gedeckte Tisch mit ihrem besten Porzellan und den Kristallgläsern etwas her. Sie hatte extra für diesen Anlass noch ein Buch über die Kunst des Serviettenfaltens erstanden und eine gute Stunde damit zugebracht, die Servietten zu Vögeln zu falten. Tracy schaffte es gerade noch, ihre Jeans auszuziehen und in eine elegante Hose und eine Seidenbluse zu schlüpfen, als es an der Tür klingelte. Schnell streifte sie ihre Schuhe über und legte ihre goldenen Kreolen an, bevor sie hineilte, um zu öffnen. Unterwegs stellte sie fest, dass noch eine Zeitschrift herumlag. Tracy versteckte sie hastig unter einem Sofakissen. „Hallo, Duke", grüßte sie so lässig, als hätte sie den ganzen Tag gefaulenzt. Wie hätte er auch ahnen können, dass sie den ganzen Samstag damit verbracht hatte, das Essen vorzuberei ten! Duke kam herein und überreichte ihr einen großen Rosenstrauß und eine gekühlte Flasche Chardonnay. „Wie lieb von dir", meinte sie, während sie an einer Rose roch. Sie dufteten sehr zart, und Tracy hoffte, dass der Duft den strengen Geruch ihrer angebrannten Sauce überdeckte. „Mach es dir bequem." Duke kam weiter in den Raum und blickte sich um. „Nette Bude." Tracy war sehr stolz auf ihre Eigentumswohnung. Sie lag in einem Hochhaus und bot einen phantastischen Ausblick auf die Inseln im Puget Sound. Die Räume waren sehr hell und
großzügig geschnitten, und die Eingangstür führte direkt in die Diele mit der Essecke. Tracy hatte die Wohnung kurz nach ihrer ersten Reise nach Alaska gekauft, und erst später war ihr klargeworden, warum sie ihr so gut gefallen hatte. Die endlose Weite der Landschaft hatte sie so beeindruckt, dass Tracy sich dieses Gefühl der Freiheit auch in ihren eigenen vier Wänden hatte bewahren wollen. Duke ging nun zu dem Esstisch aus Chrom und Glas, um den vier schwarze Stühle gruppiert waren. Schnell wich sie ein paar Schritte zurück. „Ich bin gleich wieder da. Ich hole nur eine Vase und entkorke den Wein." Auf keinen Fall durfte er in die Nähe der Küche kommen, denn wenn er das Chaos dort bemerkte, würde er sofort wissen, was los war. Sie öffnete die Schwingtür gerade so weit, um sich hindurchquetschen zu können, und kam wenige Minuten später zurück. „Möchtest du Wein?" fragte sie Duke, nachdem sie die Rosen auf den Tisch gestellt hatte. „Gern." Nachdem sie ihnen eingeschenkt hatte, stellte sie die Flasche in einen Eiskühler und führte Duke ins Wohnzimmer. Dort nahm sie auf dem Sessel gegenüber von ihm Platz, ihr Glas in der Hand. Ihre Haare rochen nach Rauch, und sie fürchtete, dass ihr Parfüm den Geruch nicht ganz überdeckte. Wenn Duke noch näher an sie herankam, würde er merken, dass sie beinah ihre Küche in Brand gesetzt hätte. Und tatsächlich beugte er sich vor, als wollte er den Abstand zwischen ihnen verkleinern. „Was gibt es zum Essen?" fragte er neugierig. „Ich bin halb verhungert." Tracy versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, während sie ihm die einzelnen Gänge ihres Menüs aufzählte. „Ich muss zugeben, dass du mich überraschst", erklärte er mit funkelnden Augen. „Wirklich?" Plötzlich wurde ihr ein wenig schwindelig. „Du hast bestimmt den ganzen Tag in der Küche verbracht." „Ach wo", erwiderte sie mit einer abwehrenden Geste, bevor sie einen Schluck Wein trank. Das Ganze war ein Alptraum, und früher oder später - vermutlich früher - würde Duke die Wahrheit erfahren. „Was hast du heute gemacht?" erkundigte sie sich. Er betrachtete angelegentlich sein Weinglas. „Ich bin zu einem Architekten in Tacoma gefahren und habe mir Pläne für ein Haus angesehen." „Willst du bauen? In Hard Luck?" Duke nickte. „Das habe ich eigentlich schon lange vor, aber bis jetzt bin ich nie dazu gekommen. Nach dem Absturz ist mir erst richtig bewusst geworden, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, es mit eigenen Händen zu bauen." „Du weißt sicher eine Menge auf dem Gebiet, weil dein Vater Zimmermann war." Einen Moment schwieg er. „Woher weißt du das?" fragte er schließlich, wobei er sie eindringlich ansah. Tracy hielt seinem Blick stand. „Woher wohl? Du hast es mir erzählt." „Wann?" „Als wir auf den Rettungshubschrauber gewartet haben." Nun lehnte er sich zurück. „Habe ich noch mehr gesagt?" „Allerdings." „Was zum Beispiel?" „Zum Beispiel, dass dein richtiger Name John Wayne Porter ist und du deswegen Duke genannt wirst." Duke sprang unvermittelt auf. „Das habe ich dir erzählt?" „Ist es denn ein dunkles Geheimnis, das niemand erfahren darf?" „Ja ... Nein." Er fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar und schaute Tracy
misstrauisch an. „Habe ich ... noch mehr ge sagt?" Tracy schüttelte den Kopf und verschwieg Duke, dass er damals auch von seinen Eltern gesprochen hatte. Es entstand ein spannungsgeladenes Schweigen, und sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Duke wollte offensichtlich nicht, dass sie derart persönliche Dinge von ihm wusste. „Wir waren allein, und ich habe gefroren und hatte Todesangst", gestand sie schließlich mit bebender Stimme, „besonders als es dunkel wurde. Ich wusste nicht, wie schwer deine Verletzungen waren, und hatte Angst, du könntest sterben, bevor man uns finden würde. Ich habe mich so ... hilflos gefühlt." Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, bevor sie fortfuhr: „Du hast anscheinend gespürt, dass ich in Panik war, denn immer wenn du bei Bewusstsein warst, hast du versucht, mich zu beruhigen. Du ... du hast mir von deinem Vater und von deiner Kindheit in Homer erzählt, zum Beispiel wie du dich mit zehn als Supermann verkleidet hast. Du hast dir ein Badelaken umgebunden und versucht, aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock zu fliegen." „Dabei hätte ich mir fast das Genick gebrochen", ergänzte er und lächelte zerknirscht. „Du hast dir aber nur das Bein gebrochen." Duke lachte leise. „Offenbar war ich ziemlich gesprächig." „Erinnerst du dich denn nicht mehr daran?" Wie hatte er es nur vergessen können? Er hatte sie im Arm gehalten, sie ge wärmt und ihr sehr viel von sich offenbart. Im nachhinein wusste sie nicht einmal mehr, was sie mehr getröstet hatte, seine Nähe oder seine Worte. „Nein, so gut wie gar nicht", gestand er frustriert. „Keine Angst, Duke." Tracy schaute ihn herausfordernd an. „Ich werde es niemandem erzählen." Nun entspannte er sich sichtlich. „Nicht einmal die O'Hallorans wissen, dass mein richtiger Name John Wayne ist." „Es ist doch ein schöner Name." Duke runzelte die Stirn. „Ich sollte wohl froh sein, dass ich nichts Verfängliches erzählt habe."' „Du meinst, wie zum Beispiel über deine Verflossenen?" Er kniff die Augen zusammen. „Du hast mir von Maureen erzählt", fuhr sie fort, obwohl ihr klar war, dass sie besser den Mund gehalten hätte. Nun wurde Duke blass. „Von Maureen?" „Ja, deine erste Liebe, ich meine, Geliebte." „Ist es nicht allmählich Zeit zum Essen?" „Wir können noch warten. Ich habe alles im Backofen warm gestellt." „Tracy..." „Schon gut", beschwichtigte sie ihn. „Ich halte den Mund, aber du hast wirklich nichts zu befürchten. Deine Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben." Nachdem sie ihr Glas auf den Tisch gestellt hatte, stand sie auf und wollte in die Küche gehen. „Habe ich zufällig auch etwas über dich gesagt?" fragte er. „Über mich?" Tracy drehte sich um und fasste sich mit einer dramatischen Geste ans Herz. „Ja, das hast du." Er blickte sie erwartungsvoll an. Als sie glaubte, dass er lange genug geschmort hatte, fügte sie hinzu: „Du hast behauptet, du würdest keine Frau kennen, die so frech und rechthaberisch ist wie ich." Duke wirkte sichtlich erleichtert. „Das bist du auch." „Dann hast du gesagt, dass du keine Frau kennst, die so schö ne Beine hat wie ich." Bevor er darauf reagieren konnte, verschwand sie durch die Schwingtür in der Küche. Als sie das Chaos dort sah, verging ihr das Lachen. Sie ließ das Fleisch und das
Kartoffelpüree noch im Backofen und nahm den Salat aus dem Kühlschrank. Zumindest der würde einigermaßen genießbar sein, denn sie hatte ihn fertig gekauft. Ursprünglich hatte sie Duke mit einer selbstgemachten Soße beeindrucken wollen, doch das war vergebliche Liebesmüh gewesen. Daher griff Tracy zu einer Fertigsoße, die sie großzügig über dem Salat verteilte. Wenigstens war es Ranch Dressing. Dann ging sie mit der Schüssel zur Essecke. Duke hatte sich bereits an den Tisch gesetzt. „Möchtest du damit anfangen?" fragte sie. „Gute Idee." Sie lächelte ihn an und hoffte dabei insgeheim, dass er sich an dem Salat satt essen würde. Doch nachdem er etwas davon ge gessen hatte, gab er ihr zu verstehen, dass er auf den Hauptgang wartete. Mit klopfendem Herzen holte sie das Essen aus der Küche und stellte es unter seinen erwartungsvollen Blicken auf den Tisch. „Ich muss zugeben, dass ich ziemlich skeptisch war, als du ge sagt hast, dass du kochen kannst", gestand er, während er sich eine großes Filetstück nahm. „Die meisten Frauen halten doch gar nichts mehr von häuslichen Tugenden." Schweigend nahm Tracy sich ein wesentlich dünneres Stück und beobachtete, wie er sich eine großzügig bemessene Portion Kartoffelpüree auffüllte und anschließend reichlich Soße darüber verteilte. Als er das erste Stück Fleisch probierte, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Duke zwinkerte ihr zu und begann zu kauen. Er hörte gar nicht mehr damit auf, bis er - nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien - endlich schluckte. „Hoffentlich ist das Fleisch nicht zu zäh", bemerkte sie. „Überhaupt nicht", versicherte er. Dass er im nächsten Moment zu seinem Wasserglas griff und es leertrank, strafte seine Worte jedoch Lügen. Sie wagte sich zuerst an das Kartoffelpüree. Es schmeckte furchtbar pappig, und die Soße war so grauenhaft, dass sie ihr die Tränen in die Augen trieb. Duke war im Begriff, auch davon zu probieren. „Nicht!" rief Tracy, als wäre es mit Arsen versetzt. Dann sprang sie auf und nahm ihren Teller. Duke war so verblüfft, dass er mitten in der Bewegung innehielt. „Iß das nicht!" Als sie ihm den Teller wegzog, sah er sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Sie ließ sich dadurch aber nicht beirren und eilte mit den Tellern in die Küche, um das Essen in den Mülleimer zu schütten. Nun war der Zeitpunkt gekommen, ihm die Wahrheit zu sagen. Duke saß immer noch am Tisch, als sie in die Diele zurückkehrte. Sie hatte sich selten so als Versagerin gefühlt. Außerdem plagten sie heftige Gewissensbisse. „Um darauf zurückzukommen, was du vorhin über häusliche Tugenden gesagt hast", begann sie matt. „Ich muss zugeben, dass ich auch zu den Frauen gehöre, die nichts davon halten." Wider Erwarten machte er sich nicht über sie lustig, sondern schwieg. „Bitte sag etwas", flehte sie schließlich. „Chinesisch oder lieber Pizza?" fragte er nach einer Weile. „Chinesisch", erwiderte sie, ohne zu zögern. „Wenn du mir nicht den Teller weggenommen hättest, hätte ich alles aufgegessen und dir dann ein Kompliment gemacht." „Falls du es überlebt hättest", konterte sie. „Ein solches Opfer würde ich niemals von dir verlangen." Offenbar fiel es Duke schwer, ernst zu bleiben. „Du hast es gewusst, stimmt's?" erkundigte sie sich.
„Ich habe es zumindest geahnt." „Du hättest ruhig vorher einen Ton sagen können", entgegnete sie entrüstet. „Stattdessen hast du seelenruhig zugesehen, wie ich mich zum Narren gemacht habe, und ..." „Was hätte ich denn sagen sollen?" Darauf wusste Tracy auch keine Antwort. Allerdings war es unfair von ihm gewesen, sie so schmoren zu lassen. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du dir meinetwegen soviel Mühe gemacht hast. Das hätte nicht jede Frau getan." „Ich wollte dir imponieren." „Das hast du auch getan." Er legte ihr den rechten Arm um die Taille und zog sie zu sich auf den Schoß. Sofort begann ihr Herz schneller zu klopfen, und sie hatte Schmetterlinge im Bauch - wie immer, wenn Duke sie berührte. „Ich habe es noch nie jemandem gesagt, aber es war immer mein Wunsch, toll kochen zu können." So naiv war sie nicht, um nicht zu wissen, dass Liebe bei Männern oft durch den Magen ging. Bisher hatte Tracy Kochen immer als altmodische, traditionell weibliche Beschäftigung betrachtet, der sie auf keinen Fall frönen wollte. Bisher war ihr auch noch kein Mann so wichtig gewesen wie Duke. Sie war zwar mit vielen Männern ausgegangen, hatte aber noch keinen von ihnen mit ihren Kochkünsten beeindrucken wollen - außer Duke. Doch jetzt wollte sie es lernen. Ihr war klargeworden, dass es alles andere als altmodisch war, für jemanden zu kochen, den man liebte. Sie brauchte ja nicht gleich ihre Aktentasche gegen eine Schürze einzutauschen! Als Ben am Montag morgen nach unten in die Küche kam, war Mary gerade dabei, Brotteig zu kneten. „Morgen", grüßte er so schroff wie immer. „Morgen", erwiderte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. Ben atmete tief aus. Seit sie am Freitag abend aus der Küche geeilt war, hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Obwohl er ein mürrischer alter Junggeselle war, verstand er es ausgezeichnet, seinen männlichen Gästen gute Ratschläge in Liebesdingen zu geben, wenn diese ihn danach fragten. Doch was ihn betraf, so wusste er nicht einmal, wie er mit einer Frau reden sollte. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und beobachtete Mary, während er überlegte, was er sagen sollte. Normalerweise besprachen sie als erstes immer den Speiseplan. „Sieht aus, als würde es bald schneien", sagte er schließlich, obwohl er noch nicht einmal einen Blick nach draußen geworfen hatte. „Schon möglich." „Einmal hat es um diese Zeit schon einen halben Meter Schnee gegeben." Diesmal antwortete sie nicht. Ben wartete einen Moment - worauf, wusste er selbst nicht. „Verdammt noch mal, Mary!" fuhr er sie dann an. Sie zuckte merklich zusammen, was sein schlechtes Gewissen noch verstärkte. „Sagen Sie doch etwas." Nun drehte sie sich zu ihm um und funkelte ihn wütend an. „Und was wollen Sie hören?" „Sie wollten mit mir darüber sprechen, ob Sie in meiner Küche Brötchen für die Caldwells backen können, stimmt's?" „Ja, aber da Sie nicht daran interessiert waren, habe ich es sein lassen." „Ich dachte, Sie würden mehr Geld verlangen. Schließlich arbeiten Sie noch nicht lange bei mir ..." „Mehr Geld?" entgegnete Mary empört, als hätte er sie beleidigt. „Was hätte ich denn sonst glauben sollen?" Er wusste, dass er ihr eine Erklärung schuldete,
aber er war es nicht gewohnt, sich für sein Verhalten zu rechtfertigen. „Ich hatte eben noch nicht so viele Angestellte." „Das habe ich mir gedacht", meinte sie etwas versöhnlicher. „Jedenfalls wollte ich Sie nur fragen, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, wenn ich in den Wintermonaten ein oder zwei Bleche extra von meinen Zimtbrötchen für die Caldwells machen würde." Ben nickte und bedeutete ihr damit weiterzusprechen. „Natürlich würde ich es nicht in meiner Arbeitszeit machen." „Natürlich nicht", wiederholte er. „Ich müsste ein Wochenende im Monat in Hard Luck übernachten und die Brötchen am Samstagmorgen backen. Natür lich werde ich meine Enkelkinder vermissen, aber das lässt sich nicht ändern." Er dachte daran, dass er die Backöfen an den Wochenenden oft selbst brauchte. Mary hatte es offenbar erraten. „Natürlich würde ich frühmorgens anfangen, damit Sie später die Backöfen benutzen können." Anscheinend hatte sie sich das Ganze gut überlegt. „Selbstverständlich bin ich bereit, Ihnen etwas dafür zu bezahlen, dass ich Ihre Küche benutze", fuhr sie fort. „Verstehe. Bezahlen die Caldwells die Zutaten?" „Nein, die bezahle ich selbst." Das war ein Problem, denn er hatte keine Ahnung, wie sie ihre Sachen voneinander trennen sollten, und wies sie darauf hin. „Daran hatte ich nicht gedacht", gestand sie leise. „Wir könnten die Brötchen doch als Spezialität des Hauses verkaufen", schlug Ben vor. „Sie backen sie während Ihrer Arbeitszeit, und wir teilen den Gewinn." So wie er es sah, hatte das für sie beide Vorteile. Mary lächelte ein wenig schüchtern. „Das ist keine schlechte Idee." „Heißt das, Sie sind einverstanden?" „Ja. Danke, Ben." Sie drehte sich wieder um und begann weiterzukneten. Dabei summte sie leise vor sich hin. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er es vermisst hatte. Mary McMurphy war zwar dünn wie eine Bohnenstange, aber eine gute Köchin. Außerdem verstand sie sich ausgezeichnet darauf, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Und seltsamerweise machte es ihm überhaupt nichts aus. Mittlerweile betrachtete er Mary nicht mehr als Eindringling oder als Konkurrenz, zumal er festgestellt hatte, dass er prima mit ihr zusammenarbeiten konnte. Es machte ihm nichts mehr aus, seine Küche mit jemandem zu teilen, und dass dieser Jemand eine Frau war, störte ihn auch nicht mehr. In der nächsten Woche schwieg Duke sich darüber aus, wann er nach Hard Luck zurückkehren wollte. Tracy fragte ihn auch nicht danach, aus Angst, er könnte denken, dass sie ihn nicht schnell genug loswerden konnte. Das stimmte na türlich nicht, sie verbrachte jede freie Minute mit ihm. Duke hatte ihr die Pläne für sein Haus mitgebracht und sie in allen Einzelheiten mit ihr besprochen. Es war ein ziemlich großes Unterfangen, aber er schien zu wissen, was er tat. Obwohl er bei einigen Arbeitsgängen Hilfe brauchte, plante er, im nächsten Sommer fertig zu sein. Tracy hatte mittlerweile begonnen, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen und sich das Kochen beizubringen. Sie hatte sich ein Kochbuch mit einfachen Rezepten gekauft, die sie nun nach und nach ausprobierte. Duke erzählte sie davon nichts, denn sie wollte ihn irgendwann mit einem Essen überraschen.
Am Freitag schaute Janice um kurz vor halb sechs bei ihr im Büro vorbei. „Triffst du dich am Wochenende wieder mit deinem Freund?" fragte sie. Tracy, die gerade vom Gericht zurückgekehrt war, wollte so schnell wie möglich nach Hause. Im Fall Jake Makepeace war gerade das Urteil verkündet worden, und zu ihrer großen Erleichterung hatte sie gewonnen und einen Freispruch erwirkt. Nun, da sie vorerst frei von jeglichen Verpflichtungen war und nicht mehr so viele Überstunden machen musste, konnte sie es kaum erwarten, Duke zu sehen. „Ja", erwiderte sie, während sie einige Unterlagen in ihre Aktentasche tat. „Wir wollen morgen früh nach Leavenworth fahren und dort den Tag verbringen." „Ist es ernst mit euch beiden?" erkundigte sich Janice neugie rig. „Ernst"? wiederholte Tracy. Ja, ihr war es ernst. Sie hatte zwar nicht mit Duke darüber gesprochen, spürte aber, dass er ihre Gefühle erwiderte. Er musste ihre Gefühle erwidern. Janice verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen Tracys Schreibtisch. „Gavin hat neulich nach dir ge fragt", meinte sie beiläufig. Mittlerweile konnte Tracy sich kaum noch vorstellen, einmal mit Gavin befreundet gewesen zu sein, so fremd erschien er ihr plötzlich. Gavin war stolz darauf, stets auf die Bedürfnisse einer Frau einzugehen. Er war immer über die neusten Trends informiert und hatte politisch korrekte Ansichten. Nie hatte er mit ihr gestritten oder einen extremen Standpunkt vertreten. So nett er auch war, verglichen mit Duke, war er einfach langweilig. Auch Duke war alles andere als unsensibel, wie sie mittlerweile festgestellt hatte. Für ihn war es zum Teil ein Spiel gewesen, sie zu provozieren und sich mit ihr zu streiten. Da er manchmal recht altmodische Ansichten vertrat, würden sie nie in allen Punkten einer Meinung sein. Doch das machte ihre Be ziehung um so interessanter, wie Tracy fand. Im nachhinein war ihr klar, dass sie sich früher hauptsächlich deswegen mit Duke gestritten hatte, weil sie sich schon damals zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Ihm war es vermutlich genauso gegangen. „Wenn du Gavin das nächste Mal siehst, grüß ihn von mir", erklärte sie, ohne dieser Geste große Bedeutung beizumessen. „Er hat mich zum Essen eingeladen", verkündete Janice und schien darauf gefasst zu sein, dass Tracy jetzt protestierte. Tracy machte ihre Aktentasche zu. „Ich hoffe, du hast die Einladung angenommen." „Ich dachte, es wäre besser, erst mit dir darüber zu reden." Janice wirkte ziemlich unsicher. „Ich meine ... Ich weiß, dass du Duke magst, aber er reist ja bald wieder ab, und dann besinnst du dich wieder auf Gavin." „Auf Gavin", wiederholte Tracy geistesabwesend. „Er ist ganz verrückt nach dir." „Bestimmt nicht", meinte Tracy amüsiert. „Hör mal, Janice, ich habe jetzt keine Zeit, weil ich mit Duke verabredet bin. Von mir aus kannst du gern mit Gavin ausgehen." Janice schwieg einen Moment. „Bist du sicher?" fragte sie schließlich. „Ganz sicher." „Und was ist, wenn ... wenn es mit Duke und dir nicht klappt?" „Es wird klappen", erklärte Tracy im Brustton der Überzeugung. Selbst wenn es Duke noch nicht klar war, so würde er es bald erfahren. Sie lächelte Janice an. „Du kannst Gavin haben." Janice strahlte. „Danke, Tracy." „Kein Problem", versicherte Tracy auf dem Weg zur Tür. Eigentlich hätte sie viel früher merken müssen, dass Janice sich für Gavin interessierte, aber sie hatte eine Entschuldigung dafür: Die Liebe hatte sie blind gemacht. Am nächsten Morgen fuhren Duke und Tracy nach Leavenworth, einer deutschen
Siedlung. Tracy hatte einen Picknickkorb mit lauter Delikatessen gepackt, und vor ihnen lag ein aufregender Tag. „Es wird dir bestimmt gefallen", sagte sie zu Duke, der am Steuer saß. „Die ganze Stadt feiert das Oktoberfest." „Das einzige Leavenworth, das ich kenne, ist ein Gefängnis." Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. „Das ist es jedenfalls nicht", beruhigte sie ihn, bevor sie ihm etwas über die Stadt erzählte, in der die Häuser aussahen wie in Europa. „Es ist wie in einem Märchen", fügte sie hinzu. Duke runzelte die Stirn. „Ein Märchen. Und dafür sind wir drei Stunden unterwegs?" „Ein Märchen, in dem es Bier gibt", ergänzte sie. Nun lächelte er. „Das klingt schon besser." Tracy legte den Kopf an seine Schulter. „Gestern nachmittag ist mir etwas Komisches passiert", sagte sie, weil sie plötzlich an ihre Unterhaltung mit Janice denken musste. „Was denn?" „Meine Freundin Janice hat mich gefragt, ob es mir etwas ausmacht, wenn sie sich mit Gavin trifft." „Ist das dieser Softie?" „Genau." „Und was hast du geantwortet?" Sein seltsamer Unterton war ihr nicht entgangen. Es freute sie, dass Duke eifersüchtig war. „Es besteht kein Grund zur Sorge." „Ich mache mir auch keine Sorgen, aber ich muss zugeben, dass ich neugierig bin. Schließlich geht es um den Mann, den du mir als Ausbund der Tugend beschrieben hast." „Wohl kaum." „O doch." „Von mir aus kann Janice mit Gavin machen, was sie will." Er lächelte anmaßend. „Ich dachte mir, dass du das sagen würdest." „Du bist dir deiner anscheinend sehr sicher, oder?" neckte sie ihn. „Nein. Ich erhebe schließlich keine Besitzansprüche an dich. Du kannst dich treffen, mit wem du willst. Zufällig hast du mich ausgesucht." Früher hätten seine Worte sie sofort auf die Palme gebracht, aber jetzt fand Tracy sie amüsant. Sie wunderte sie jedoch darüber, dass Duke nun schwieg. „Tracy", meinte er Mann schroff, „ich muss nach Hard Luck zurück." Sie wollte protestieren, doch es hätte nichts genützt. Er war ohnehin länger in Seattle geblieben, als sie je zu hoffen gewagt hätte. „Glaub mir, Schatz, ich möchte nicht weg, aber ich muss." „Und wann?" fragte sie, während sie gegen die aufsteigende Panik ankämpfte. „In ein paar Tagen." „Wann sehe ich dich wieder?" Duke zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich komme nicht so oft nach Seattle." „Ich werde wohl erst im Frühling nach Hard Luck fliegen können." Das kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Tracy konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn erst wiederzusehen, wenn das Eis auf den Flüssen schmolz. Es entstand ein spannungsgeladenes Schweigen, bis sie sich einen Ruck gab. „Es gibt eine Möglichkeit." „Du meinst, wenn wir uns auf halber Höhe treffen? Ich habe schon darüber nachgedacht und ..." „Nein", unterbrach sie ihn ganz aufgeregt, „das meine ich nicht." „Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen", erwiderte er resigniert, „aber mir ist beim besten Willen nichts einge fallen." „Es ist doch ganz offensichtlich, Duke." Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein, bevor
sie fortfuhr: „Wir könnten doch einfach heiraten!"
9. KAPITEL
„Heiraten?" Duke war so verblüfft, dass er beinah die Kontrolle über den Wagen verloren hätte. Er sollte Tracy heiraten? Die Frau brauchte einen Psychiater! Erstens war er nicht der Typ, der jemals heiraten würde. Und zweitens passten sie nicht zusammen. Tracy war ein weltgewand ter Stadtmensch, er dagegen ein Naturbursche. „Und?" meinte sie aufgeregt, während sie ihn betrachtete. „Was hältst du davon?" Duke wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lip pen. Da er die Gründe, die dagegen sprachen, nicht klar benennen konnte, erwiderte er schließlich schroff: „Falls du es vergessen haben solltest, es gibt Dinge in einer Beziehung, die dem Mann vorbehalten sind, und einen Heiratsantrag zu machen ist nur eins davon." „Gut. Ich bin ganz Ohr." Als sie wieder den Kopf an seine Schulter legte, verspürte Duke dieselben herrlichen Gefühle wie immer, wenn sie sich berührten. Als er das Funkeln in ihren Augen gesehen hatte, hätte er sich eigentlich denken können, worauf sie hinauswollte. Nicht zum ersten Mal bereute er es, überhaupt nach Seattle gekommen zu sein, denn bis jetzt hatte er Tracy und sich nur Probleme eingebrockt. Alle Frauen hatten offenbar bloß Heiraten im Sinn. Duke hatte gehofft, dass eine Karrierefrau wie Tracy anders darüber denken würde, doch er hatte sich getäuscht. „Ich warte", sagte sie und schaute mit blitzenden Augen zu ihm auf. Er schluckte unbehaglich. „Du weißt gar nicht, was du da sagst, Schatz." „Allerdings weiß ich das." „In Anbetracht der Tatsache, was wir beide durchgemacht ha ben, ist es ganz normal, dass du dich mir so verbunden fühlst. Aber es ist nicht genug, um ..." Plötzlich verstummte er. Tracy und er waren sich so nahe gewesen, wie es sonst in einer Bezie hung zwischen Mann und Frau höchst selten der Fall war. Sie hatten dem Tod ins Auge gesehen und zusammengehalten, als wären sie schon seit Jahren befreundet gewesen. Er stand Tracy zwar lange nicht mehr so ablehnend gegenüber wie am Anfang, doch ihm wäre nicht im Traum eingefallen, sie zu heiraten. „Das heißt, du empfindest kaum etwas für mich, obwohl..." „Das habe ich nicht gesagt", unterbrach er sie. „Dann erklär es mir bitte." Tracy setzte sich auf und rückte von ihm weg, so weit es ging. „Lass uns später darüber reden", schlug er vor, um ihnen beiden die Gelegenheit zu geben, in Ruhe darüber nachzudenken. Allerdings war ihm klar, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Eine langfristige Beziehung zwischen ihnen war ausgeschlossen. „Ich würde lieber jetzt darüber sprechen", beharrte Tracy. Da Duke sich nicht mehr aufs Fahren konzentrieren konnte, verließ er den Freeway bei der nächsten Ausfahrt. Sie führte zu einem Ort, und er folgte den Schildern zum Park. Keiner von ihnen sagte etwas, bis Duke schließlich den Wagen auf den Parkplatz lenkte und den Motor abstellte. Die Blätter der Bäume im Park waren orange und rot gefärbt, aber er nahm die herrliche Umgebung kaum wahr. „Also gut", meinte er dann. „Wenn du unbedingt willst, sprechen wir jetzt darüber." „Das klingt ja, als wolltest du dich wieder mit mir streiten." Er lächelte unwillkürlich. Vielleicht würden sie bald über ihren Vorschlag lachen. So bewahrte Tracy sich ihren Stolz, und er behielt seine Freiheit. Natürlich liebte er sie, das gab er bereitwillig zu. Vermutlich hatte er noch nie eine Frau so geliebt wie sie, doch das bedeutete noch lange nicht, dass er nun auch bereit war, eine Familie zu gründen. „Ist dir denn nicht klar, dass es zwischen uns nie klappen würde?" fragte er. „Nein", entgegnete sie hitzig. „Denk doch mal darüber nach, Schatz. Wir sind viel zu verschieden." „Zum Glück."
Duke spürte bereits, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog, und das musste er um jeden Preis verhindern. Daher versuchte er es noch einmal. „Wir leben in unterschiedlichen Welten. Ich passe nicht in deine Welt und du ganz sicher nicht in meine." „Ich liebe Hard Luck", erklärte Tracy leidenschaftlich. „Klar, es ist eine schöne Stadt, das finde ich auch. Aber dein Platz ist hier und meiner dort. Mir hat es in Seattle gefallen, doch wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich nach ein paar Tagen wie der zurückgeflogen." Er atmete einmal tief durch, bevor er fortfuhr: „Ich fühle mich nicht wohl, wenn ständig so viele Menschen um mich herum sind." „Ich verlange gar nicht von dir, dass du nach Seattle ziehst." „Willst du damit etwa andeuten, dass du nach Hard Luck zie hen willst?" Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie in der Arktis lebte. „Genau." „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?" Tracy schaute ihm eindringlich in die Augen. „Nein", flüsterte sie, „ich habe mein Herz verloren. Ich liebe dich, Duke. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Ich möchte dir dabei helfen, das Haus zu bauen, und mit dir eine Familie gründen." Ihre Worte trafen ihn bis ins Mark. Plötzlich glaubte er, Kinderlachen zu hören, und die Vorstellung war so verlockend, dass er die Augen schloss und sich zwang, sie zu verdrängen. Ein Zuhause. Kinder ... Verdammt, Tracy war wirklich gut, aber das wusste er ja bereits. Schließlich hatte er ihren Auftritt im Gerichtssaal mit verfolgt. Allerdings würde sie diesmal keinen Erfolg mit ihrer Taktik haben. . Er hatte versucht, zu ihrer Welt zu gehören, und dafür fünfhundert Dollar für einen Anzug hingeblättert, den er vermutlich nie wieder anziehen würde. Er hatte sich von einem arroganten Kellner brüskieren lassen, nur weil er lieber Ranch Dressing nahm. Nicht einmal in Alaska hatte er je für ein paar Salatblätter so viel bezahlt wie in jenem schicken Restaurant. Er hatte es ge tan, um Tracy zu beeindrucken, doch das einzige, was er gewonnen hatte, war die Erkenntnis, dass er sich in der Großstadt nie wohl fühlen würde. Auch Tracy hatte versucht, seinen Vorstellungen zu entsprechen. Falls er je an ihrer Liebe zweifelte, musste er sich nur an das Essen erinnern, für das sie sich seinetwegen den ganzen Tag in der Küche abgerackert hatte. Wenn er ihre Gefühle nicht erwidert hätte, hätte er sich an jenem Abend über sie lustig gemacht. Doch er hätte alles aufgegessen und ihr anschließend ein Kompliment über ihre Kochkünste gemacht, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre. Und dem ersten Bissen nach zu urteilen, wäre das mit Sicherheit passiert. Sosehr ihm die Vorstellung gefiel, dass Tracy nach Hard Luck zog, war ihm klar, dass es nie gutgehen würde. „Deine Arbeit ist hier in Seattle", erinnerte er sie. „Ich kann jederzeit eine Zulassung für Alaska bekommen." Duke wollte nicht mit ihr streiten. Es war sinnlos, ihr zu erklä ren, dass es nicht einmal genug Arbeit für einen Anwalt in Hard Luck gab. Wenn überhaupt, so bestand lediglich Bedarf an notariellen Aufgaben wie zum Beispiel dem Aufsetzen von Testamenten und Verträgen. Sensationsfälle, wie sie sie normalerweise verhandelte, gab es nicht. Selbst wenn Tracy jetzt glaubte, ihn zu lieben, würden ihre Gefühle bald abklingen. Sobald sie den ersten Winter in der Arktis erlebte, würde sie sich zu Tode langweilen. Auf keinen Fall wollte er, dass sie ihn heiratete und es später bereute. „Es funktioniert nicht", sagte er sanft. „Ich bin nun einmal so, wie ich bin. Ich kann nicht nach Seattle ziehen, und du würdest in Hard Luck niemals glücklich werden." Sie wollte protestieren, doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. „Wenn ich je mit dem Gedanken spielen würde zu heiraten, dann würde ich mich für dich entscheiden. Aber du verstehst überhaupt nicht, worum es geht. Mir gefällt mein Leben, so wie es ist. Ich kann tun
und lassen, was ich will, ohne die Verantwortung für eine Frau und Kinder zu tragen. Und so soll es auch bleiben." „Ich habe keinesfalls vor, dich für den Rest deines Lebens einzusperren!" fuhr sie ihn an. Duke war klar, dass er gegen Tracy keine Chance hatte. Sie war so wortgewandt, dass sie mit ihren Argumenten sogar zwölf Geschworene umstimmen konnte. „Hör zu", erklärte er energisch, „du hast gemeint, mir einen Heiratsantrag machen zu müssen, obwohl es meiner Meinung nach das Vorrecht des Mannes ist. Dann musst du auch Manns genug sein, um meine Antwort zu akzeptieren, und die lautet nein. Ich will nicht heiraten, und ich lasse mich von dir nicht umstimmen. Verstanden?" „Und ob", entgegnete sie kurz angebunden. Er bedauerte seine harten Worte sofort. „Ich wollte dich nicht verletzen." Warum war er bloß nach Seattle geflogen und hatte der Versuchung nachgegeben, Tracy zu sehen? Es war alles seine Schuld. Lanni O'Halloran war furchtbar aufgeregt, denn Charles war beruflich drei Wochen unterwegs gewesen, und sie erwartete ihn an diesem Nachmittag zurück. Schon lange bevor sie ihn geheiratet hatte, hatte sie gewusst, dass er als Geologe oft unterwegs war. Während der ersten Mona te ihrer Ehe war er immer nach ein paar Tagen wieder nach Hause gekommen, und nun war er zum ersten Mal drei Wochen weggeblieben eine Ewigkeit, wie es Lanni schien. Um ihre überschüssige Energie loszuwerden, machte sie das Haus sauber und bereitete ein mehrgängiges Menü vor. Allerdings war ihr klar, dass Charles nicht ans Essen denken würde, wenn er zur Tür hereinkam. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte. Außerdem hatte sie eine tolle Neuigkeit für ihn. Als sie einen Blick auf die Uhr warf, seufzte sie. Wenn die Zeit doch nur schneller vergehen würde! Immer wenn draußen ein Auto vorbeifuhr, lief Lanni zur Vorderseite des Hauses und schaute aus dem Fenster. Sobald er hereinkam, wollte sie ihm sagen, dass sie schwanger war. Sie hatte es vor einer Woche erfahren, und es fiel ihr zunehmend schwerer, es für sich zu behalten. Allerdings wollte sie es erst dann ihren Freundinnen erzählen, wenn Charles es auch wusste. Er hatte nach der Heirat eigentlich ein Jahr damit warten wollen, und sie hatte sich damit einverstanden erklärt. Doch dann war ihre Schwägerin Karen nach Hard Luck gekommen, und als sie Lanni erzählt hatte, dass sie schwanger war, hatte Lanni sich auch nach einem Baby gesehnt. Als Karen erfahren hatte, dass sie ein Kind erwartete, waren Matt und sie noch geschieden gewesen. Doch nachdem die beiden sich auf Lannis Hochzeit wiedergesehen hatten, hatte sich alles zum Guten gewendet. Wenn Karen nicht schwanger gewesen wäre, hätte es vermutlich viel länger gedauert, bis sie und Matt zur Vernunft gekommen wären. Innerhalb weniger Monate hatten die beiden sich wieder versöhnt und dann zum zweiten Mal geheiratet. In der Zeit war Abbey ebenfalls schwanger geworden, und Sawyer und sie waren überglücklich. Charles hatte sich natürlich mit ihnen gefreut, es aber für besser gehalten, selbst noch zu warten. Obwohl Geduld nicht gerade ihre Stärke war, hatte Lanni sich damit einverstanden erklärt, die Hochzeit so lange zu verschie ben, bis sie ihre Tätigkeit bei der Zeitung in Anchorage beendet hatte. Charles hatte nämlich befürchtet, sie könnte es sonst eines Tages bereuen, wenn sie vorzeitig dort aufhörte, um zu heiraten. In diesen Monaten hatte sie ihn schrecklich vermisst. Sie hatte seinen Transporter anscheinend nicht gehört, denn im nächsten Moment ging die Tür auf, und Charles kam ins Wohnzimmer. Er sah noch attraktiver aus, als Lanni ihn in Erin
nerung hatte. „Charles!" Er stellte seinen Rucksack ab und breitete die Arme aus. Sofort lief sie auf ihn zu und warf sich ihm in die Arme. Als sie den liebevollen Ausdruck in seinen Augen sah, war sie überglücklich. Bevor sie etwas sagen konnte, zog er sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie ganz weiche Knie bekam. Er hatte sie offenbar genauso vermisst wie sie ihn. Da Lanni es kaum noch abwarten konnte, ihm die Neuigkeit zu erzählen, löste sie sich schließlich von ihm. „Charles, ich habe wundervolle Neuigkeiten!" „Das hat Zeit", meinte er, während er sie hochhob. „Was hast du nur mit mir gemacht?" Er küsste sie ein paarmal auf die Lip pen. „Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so vermisst wie dich." „Jetzt weißt du wenigstens, wie mir zumute war." Charles legte ihr einen Arm um die Taille. „Ich brauche eine Dusche." „Das Essen ist fertig." „Ich bin überhaupt nicht hungrig", meinte er lachend. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, was du jetzt am liebsten tun würdest." Sie beugte sich ein wenig zurück und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Sieh mich an. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen." „Hast du wieder etwas verkauft?" fragte er. „Das auch, aber das meine ich nicht." Sie war so glücklich, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Mit beiden Händen umfasste sie sein Gesicht. „Ich ... Wir bekommen ein Baby." Er war offenbar schockiert, denn er ließ sie sofort los, so dass sie unsanft auf dem Boden landete. Erschrocken schaute er sie an. „Ich weiß, dass du ein Jahr damit warten wolltest", fuhr sie schnell fort, „aber wir sind jetzt über ein halbes Jahr verheiratet." Charles ging zum Sofa und ließ sich buchstäblich darauf fallen. „Du bist schwanger?" Dann sprang er wieder auf. „Ich brauche erst einmal einen Drink." Er ging in die Küche und nahm eine Flasche Whisky aus dem Hängeschrank über dem Herd. Lanni folgte ihm. „Ich ... ich dachte, du wärst glücklich." Er schaute sie geistesabwesend an. Nachdem er sich ein halbes Glas Whisky eingeschenkt hatte, leerte er es in einem Zug. „Wir bekommen ein Baby?" Lanni nickte. „Wir haben es doch darauf ankommen lassen. Was dachtest du denn, was passieren würde?" „Weiß noch jemand davon?" „Noch nicht. Ich wollte es erst dir erzählen. Ich dachte, du wärst glücklich", wiederholte sie. Charles schüttelte den Kopf. „Das bin ich auch. Es ist nur ..." „Nur was?" entgegnete sie herausfordernd. „Ein Schock." „Dann ist das hier bestimmt genauso ein Schock für dich!" Sie lief aus der Küche, streifte sich ihren Mantel über und verließ das Haus. „Lanni!" Sie hörte Charles rufen, ignorierte es jedoch. Nachdem sie ein Stück gelaufen war, kam ihr Mariah mit Christians Transporter entgegen. Sie hielt neben ihr und kurbelte die Scheibe herunter. „Ist alles in Ordnung, Lanni?" erkundigte sie sich besorgt. „Ich dachte, Charles wäre inzwischen zu Hause." „Das ist er auch." „Und was machst du dann hier in der Kälte?"
Plötzlich brach Lanni in Tränen aus. „Ich glaube, du kommst besser mit mir." Mariah beugte sich herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Gerade als Lanni eingestiegen war, kam Charles angelaufen, doch sie ignorierte sein Rufen einfach. Sobald Mariah vor dem Haus gestoppt hatte, in dem sie mit Christian wohnte, sah sie ihre Schwägerin fragend an. „Wir wär's mit einer Tasse Tee?" fragte Lanni, während sie sich die Tränen von den Wangen wischte. „Tee?" Maria h warf einen Blick aus dem Seitenfenster. „Ja, natürlich. Komm mit rein, und erzähl mir, warum du so unglücklich bist." „Unglücklich?" rief Lanni. „Ich bin überglücklich! Charles und ich bekommen nämlich ein Baby«" Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, brach sie wieder in Tränen aus. Charles wollte Lanni eine halbe Stunde Zeit lassen, bis er ihr folgte. Er hatte gesehen, wie sie zu Mariah ins Auto gestiegen war. In diesem Moment erzählte sie Mariah und Christian vermutlich, was für ein Mistkerl er war - zu Recht, wie er glaubte. Lanni war schwanger. Es kam ihm so unwirklich vor. Es stimmte, dass sie es hatten drauf ankommen lassen. Andererseits hatte Lanni auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich ein Baby wünschte. Vielleicht war er egoistisch, aber er hatte sie noch eine Zeitlang für sich haben wollen. Charles fuhr sich über die Stirn, während er darüber nachdachte, was er angerichtet hatte. Lanni war verletzt und durcheinander, aber er auch, verdammt! Er hatte nie damit gerechnet, dass er sich einmal verlieben würde. Und dann hatte er sich ausgerechnet in die Enkelin der Frau verliebt, die einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, seine Familie zu zerstören. Zuerst hatte er es allerdings nicht gewusst. Als er schließlich die Wahrheit über Lannis Herkunft erfahren hatte, hatte er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Lanni und seine Mutter hatten ihn schließlich dazu gebracht, seinen Irrtum einzusehen. Lannis Liebe war das schönste Geschenk, das ihm je jemand gemacht hatte. Verzweifelt dachte Charles daran, dass er wieder einmal nahe daran gewesen war, das zu zerstören, wonach er sich am meisten sehnte. Nach einer Stunde war ihm klar, dass Lanni so bald nicht zurückkommen würde. Er musste also seinen Stolz hinunterschlucken und mit ihr reden. Um nicht noch einen Fehler zu ma chen, beschloss er jedoch, Ben Hamilton im Hard Luck Cafe zu besuchen. Das tat er nämlich immer, wenn er einen Rat brauchte. Als er kurz darauf das Cafe betrat, stand Ben gerade in der Küche. „Lange nicht mehr gesehen", begrüßte er Charles, als dieser sich an den Tresen setzte. Charles stellte überrascht fest, wieviel im Hard Luck Cafe los war. Früher war er oft Bens einziger Gast gewesen, und nun hatte Ben sogar eine Kellnerin. „Was kann ich dir bringen?" „Wie wär's mit einem Psychiater?" Ben lachte, während er ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. „Was ist los?" „Lanni ist schwanger." Ben betrachtete ihn neugierig. „Das sind doch tolle Neuigkeiten, oder?" Charles nickte. „Aber du scheinst dir nicht so sicher zu sein", fuhr Ben fort und lehnte sich an den Tresen. „Ich weiß nicht, ob ich schon dazu bereit bin, eine Familie zu gründen. Verdammt, ich liebe meine Frau, und ich wollte sie noch ein paar Monate für mich allein haben!" Charles war klar, dass er in der Hinsicht anders war als Sawyer, denn sein Bruder hatte gleich ein Kind haben wollen, nachdem er Abbey den Ehering angesteckt hatte. „Willst du damit sagen, dass das Baby noch in dieser Woche zur Welt kommt?" fragte
Ben. „Normalerweise dauert so etwas doch ein paar Monate, oder nicht?" „Ja, aber ... Verdammt, ich glaube, du hast recht. Jedenfalls tobt Lanni vor Wut, weil ich nicht so begeistert reagiert habe, wie sie erwartet hatte." „Und was willst du nun tun?" Charles schaute in seinen Kaffee. „Ich werde mich ihr zu Füßen werfen und sie um Verzeihung bitten, was sonst?" „Ich habe vor kurzem die Erfahrung gemacht, dass es immer schwerer wird, sich zu entschuldigen, je länger man damit wartet", erklärte Ben. „Also, je eher du dich dazu aufraffst, desto einfacher wird es für euch beide sein." Charles musste ihm recht geben. Nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte, verabschiedete er sich von Ben und fuhr zu Christians Haus. Die Hände aufs Lenkrad gestützt, blieb er noch eine Weile im Wage n sitzen und überlegte, was er sagen sollte. Dann stieg er aus und klopfte an die Haustür. Christian öffnete ihm und schaute ihn an, als würde er ins Gefängnis gehören. „Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich kommst." „Wo ist Lanni?" fragte Charles, sobald er im Haus war. „Sie ist mit Mariah in der Küche. Was hast du ihr eigentlich an den Kopf geworfen?" Charles funkelte ihn wütend an. „Das geht nur Lanni und mich etwas an." „Na gut, dann kümmer du dich um sie. Sie ist völlig in Tränen aufgelöst." Charles atmete einmal tief durch, bevor er die Küche betrat. Lanni saß gegenüber von Mariah am Tisch und hatte ihm den Rücken zugewandt. Auf dem Tisch standen eine Teekanne und zwei Tassen. „Ich würde gern mit meiner Frau unter vier Augen sprechen", sagte er zu seiner Schwägerin. Mariah schien zuerst nicht auf ihn zu hören, stand dann aber auf und verließ, ohne ein Wort zu sagen die Küche. „Lanni", flüsterte er, bevor er um den Tisch herumging und hinter dem Stuhl stehenblieb, auf dem Mariah gesessen hatte. Als er ihr tränenverschmiertes Gesicht sah, wurde ihm überdeutlich bewusst, dass er Lanni über alles liebte. Er wollte sie glücklich machen, aber sie war am Boden zerstört, und das war seine Schuld. „Wir bekommen ein Baby", sagte er. Nun, da er sich allmählich an den Gedanken gewöhnt hatte, freute er sich auf das Kind. „Ich weiß, dass du darüber nicht glücklich bist und ..." begann Lanni. „Ich bin glücklich", unterbrach er sie. „Ich musste mich nur erst an die Vorstellung gewöhnen." Es war wirklich eine tolle Neuigkeit! Lanni biss sich auf die Lippe. „Du bist also nicht wütend auf mich?" „Ich soll wütend auf dich sein?" Charles kam um den Tisch herum und kniete sich vor ihr auf den Boden. „Nein, Schatz. Ich bin überrascht, aber nicht wütend. Das ist unser Baby. Es tut mir leid, dass ich vorhin so reagiert habe. Verzeihst du mir?" Sie nickte unter Tränen. „Natürlich. Ich bin so glücklich!" „Ich bin auch glücklich. Allerdings habe ich ein bisschen Angst davor, Vater zu werden." Andererseits hatte er auch lange gebraucht, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass er Lanni liebte. Ihm war klar, dass er sein Kind genauso ins Herz schließen würde wie sie. „Ich liebe dich, Charles", flüsterte sie und umarmte ihn. Charles schmiegte sich an sie und dachte daran, dass nun alles gut werden würde. Bald würde er Vater sein. Er lächelte unwillkürlich. Duke hatte überhaupt keinen Appetit und stocherte lustlos mit der Gabel im Essen herum. Er war erst seit fast zwei Wochen wie der in Hard Luck, aber ihm kam es wie eine halbe Ewigkeit vor.
Wenn er nicht bald wieder für Midnight Sons fliegen konnte, wurde er noch verrückt. Im nächsten Moment kam eine der Kellnerinnen, die Ben eingestellt hatte, zu ihm an den Tisch. „Möchten Sie noch Kaffee?" „Nein danke." Duke schob seinen Teller zur Seite. „Was ist los? Schmecken dir meine Spaghetti nicht mehr?" fragte Ben und setzte sich zu ihm an den Tisch. Duke hatte seine Gesellschaft immer geschätzt, aber in letzter Zeit war er lieber allein. „Ich glaube, ich habe keinen Appetit", mur melte er. „Ich habe gehört, dass du von den O'Hallorans ein Stück Land gekauft hast." Duke nickte. „Ich will bald mit dem Bau des Hauses anfangen." „Ein Mann sollte seine eigenen vier Wände haben." „Es ist höchste Zeit, dass ich aus der Schlafbaracke ausziehe." Eigentlich hatte Duke das schon lange vorgehabt, doch bisher hatte es keinen zwingenden Grund gegeben. Bisher hatte er sich mit den anderen Piloten immer gut verstanden, aber mittlerweile würde es wohl niemand mehr bedauern, wenn er auszog. In den letzten sechs Wochen war er wirklich nicht besonders umgänglich gewesen. „Das Haus scheint ziemlich groß für dich allein zu sein", meinte Ben. „Wie viele Schlafzimmer soll es haben?" „Vier", erwiderte Duke und dachte unwillkürlich an Tracys Worte, dass sie eine Familie mit ihm gründen und den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte. „Vier Schlafzimmer", wiederholte Ben nachdenklich. „Willst du eine Pension eröffnen?" „Nein", entgegnete Duke ärgerlich. Er hatte selbst keine Ahnung, warum er vier Schlafzimmer geplant hatte, wo er doch nur eins brauchte. Ben lachte leise. „Du hast diesen bestimmten Blick, Junge." „Blick?" wiederholte Duke verständnislos. „Es geht dir nicht gut, und das liegt nicht an deinem gebroche nen Arm." „Ben, ich schätze deinen ..." „Nein, das tust du nicht", fiel Ben ihm ins Wort, „aber ich kann verstehen, dass du lieber allein sein möchtest. Ich habe dich beobachtet, seit du aus Seattle zurückgekehrt bist." „Ich möchte nicht über Seattle reden." Duke wollte auf keinen Fall an die Ze it mit Tracy erinnert werden, denn er musste ohne hin ständig an Tracy denken. Es war noch schlimmer als vor ihrem Wiedersehen. „Das kann ich mir vorstellen", meinte Ben. „Außerdem bin ich nicht der Typ, der heiratet." „Das haben Sawyer und Charles auch behauptet, falls du es vergessen haben solltest." „Mag sein, aber sie haben sich auch nicht in eine erfolgreiche Anwältin aus der Großstadt verliebt. Es wird niemals gutgehen zwischen Tracy und mir, und je eher die Leute das begreifen, desto besser." Einem Außenstehenden mochte es ganz problemlos erscheinen, aber er, Duke, hatte Tracy in ihrem Element gesehen, und in Hard Luck konnte er ihr nichts dergleichen bieten. „Bist du ganz sicher?" hakte Ben nach. „Allerdings." Duke schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Hör mal, Ben, ich weiß deine Ratschläge zu schätzen, aber diesmal sind sie nicht angebracht. Außerdem solltest du lieber bei dir selbst anfangen, wenn du so ein Experte in Liebesdingen bist." Ben runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?" Duke nahm die Rechnung vom Tisch. „Jeder, der Augen im Kopf hat, sieht doch, was zwischen dir und Mary McMurphy läuft." Ben schaute ihn entgeistert an. „Du spinnst wohl." Nun musste Duke lachen. „Wenn du meinst." „Ich und Mary McMurphy?" Ben lachte gezwungen. „Ich bin nicht in sie verliebt." „Wenn du meinst", wiederholte Duke. Dann ging er zur Kasse, um die Rechnung zu
bezahlen. „Komm ja nicht auf die Idee, irgendwelche Gerüchte über mich zu verbreiten", warnte Ben. „Ich möchte auf keinen Fall, dass irgend jemand Mary in Verlegenheit bringt." „Meine Lippen sind versiegelt, Ben. Aber lass dir gesagt sein, dass schon die ganze Stadt über euch redet. Und alle freuen sich für euch." „Mary McMurphy?" rief Ben so laut, dass einige Gäste sich nach ihm umdrehten. „Zwischen uns läuft überhaupt nichts!" Genau in dem Moment kam Mary aus der Küche, und Duke beobachtete, wie sie Ben wütend anfunkelte. Dann drehte sie sich um und verschwand wieder in der Küche. Ben schluckte unbehaglich und blickte ihr sehnsüchtig nach. „Eine Frau wie Mary McMurphy ist viel zu schade für einen Kerl wie mich", sagte er leise. Die Liebe macht die Menschen nur unglücklich, dachte Duke, als er das Cafe verließ. In Zukunft wollte er jedenfalls davon verschont bleiben.
10. KAPITEL
Ich bin eine Närrin, schalt Mary sich. Natürlich hatte sie nie vorgehabt, sich in Ben Hamilton zu verlieben. Der alte Seebär wusste doch überhaupt nicht, was Liebe war! Er hatte sie erniedrigt, indem er vor seinen Gästen verkündet hatte, dass er überhaupt nichts für sie emp fand. Zumindest wusste sie nun, woran sie bei ihm war. Das, was sie in den letzten Wochen gemeinsam erlebt hatten, bedeutete ihm offenbar nichts. Offenbar waren sie kein Stück weitergekommen. Mary knallte die Backofentür zu. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie es in ihrem Alter eigentlich hätte besser wissen müssen. Zuerst hatte Ben sie abgelehnt und ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er niemanden auch nur in die Nähe seiner Küche lassen wollte. Dann hatte er seine Einstellung ihr gegenüber geändert, aber sie hatte Wochen gebraucht, um sein Vertrauen zu gewinnen und Anerkennung von ihm zu bekommen. Anfangs hatte sie ihn bewusst mit Samthandschuhen angefasst und darauf geachtet, nicht gleich alles an sich zu reißen. Immerhin arbeitete sie seit über zwanzig Jahren in der Gastronomie und verfügte über ziemlich viel Erfahrung. So hatte sie Ben immer erst um Rat gefragt und ihn um seine Zustimmung gebeten, bevor sie irgendwelche Änderungen vorgenommen hatte. Bereits nach kurzer Zeit hatte Ben ihre Vorschläge sehr positiv aufgenommen. Ihre Idee, am Freitag abend Rinderbraten als Tagesgericht anzubieten, hatte sich zum Beispiel als Volltreffer erwiesen. Er hatte sich sogar damit einverstanden erklärt, zwei Teilzeitkräfte einzustellen, obwohl er der Ansicht gewesen war, dass er höchstens eine Aushilfe brauchte. Da der Umsatz jedoch kontinuierlich gestiegen war, hatte Ben bald eingesehen, dass es eine kluge Entscheidung gewesen war. Mary zweifelte nicht daran, dass er sie mochte. Er war zwar oft mürrisch, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein gutes Herz hatte. Als sie das erkannt hatte, hatte sie mehr Vertrauen zu ihm gefasst. Doch wie sich herausgestellt hatte, war das ein Fehler gewesen, denn sie hatte sich in Ben Hamilton verliebt. Sie war mittlerweile seit fast fünfzehn Jahren verwitwet und hatte sich längst damit abgefunden, nicht wieder zu heiraten. Im großen und ganzen war sie mit ihrem Leben zufrieden, aber sie sehnte sich nach einem Partner. Da ihre Kinder längst erwachsen waren und eigene Wege gingen, hatte sie gehofft, das Leben nun ein bisschen genießen und ab und zu mal verreisen zu können. Doch das war wohl nur ein Traum gewesen, wie sie sich traurig eingestehen musste. „Mary." Mary stand gerade an der Spüle und war dabei, die letzten Töpfe abzuwaschen. Sie drehte sich zu Ben um und lächelte ge zwungen, als wäre nichts vorgefallen. „Vielleicht sollten wir uns mal zusammensetzen und miteinander reden", sagte Ben rau. Sie spürte genau, wie schwer es ihm gefallen war, die Worte auszusprechen. „Ich habe heute abend keine Zeit zum Plaudern", erwiderte sie daher. „Vielleicht ein anderes Mal." Er wirkte ziemlich erleichtert. „Gut. Ich meine, einverstanden. Wir können darüber sprechen, wenn Sie Zeit haben." Mary drehte sich wieder um und schrubbte wütend weiter. Allerdings war sie nicht wütend auf Ben, sondern auf sich: Ben räusperte sich vernehmlich. „Ich wollte mit Ihnen über eine Lohnerhöhung sprechen." „Ich arbeite doch erst seit ein paar Wochen hier", tat sie seinen Vorschlag ab, ohne sich umzudrehen. „Das weiß ich", entgegnete er schroff, fuhr dann aber wesentlich freundlicher fort: „Aber Sie haben einige Verbesserungsvorschläge gemacht, und das Geschäft läuft so gut wie noch nie. Ihr Rinderbraten am Freitag findet reißenden Absatz. Dagegen war mein Tagesgericht für
Stammgäste der reinste Flop. Ich möchte Ihnen deshalb zehn Prozent mehr zahlen." Ihr war durchaus bewusst, dass er den Vorschlag nur machte, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Es tat ihm offenbar leid, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte. „Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen", erklärte sie steif, „aber danke, nein." „Sie lehnen es also ab?" erkundigte er sich ungläubig. „Ja." Offenbar hatte er so etwas nie erlebt. Allerdings hatte sie auch noch nie eine Lohnerhöhung abgelehnt, doch sie hatte ihre Gründe dafür. „Warum sollte jemand eine Lohnerhöhung ablehnen?" Mary zog den Stöpsel aus der Spüle und streifte die Gummihandschuhe ab. Dann drehte sie sich zu Ben um, ohne ihn anzusehen. „Stimmt etwas nicht mit meinem Geld?" fragte er ungeduldig. „Nein, es sei denn, Sie benutzen es, um sich damit bei mir zu entschuldigen." „Wofür muss ich mich denn entschuldigen?" meinte er verärgert. „Da will man jemandem mal was Gutes tun, und was ist der Dank dafür?" „Jetzt hören Sie mir mal zu, Ben Hamilton. Dies ist ein freies Land, und ich kann selbst entscheiden, wieviel ich verdienen möchte." Als sie ihn nun anschaute, stellte sie fest, dass sein Gesicht gerötet war. Sicher war es nicht gut für sein Herz, wenn er jetzt die Beherrschung verlor. Ben band sich die Schürze ab und warf sie achtlos beiseite. „Was wollen Sie von mir?" Seine Frage überraschte sie. „Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas von Ihnen will?" „Weil Frauen eben so sind." „Also wirklich, Ben", spöttelte Mary. „Seit wann kennen Sie sich denn so gut mit Frauen aus?" Er atmete einmal tief durch. „Sicher wollen Sie jetzt kündigen." Mit dem Gedanken hatte sie tatsächlich gespielt, ihn aber gleich wieder verworfen. Sie hatte Hard Luck und seine Einwohner kennen- und liebengelernt und sich mit einigen der älteren Damen im Ort angefreundet. Auch im Hotel, wo sie in der Woche wohnte, fühlte sie sich sehr wohl. „Dazu sehe ich keinen Grund - es sei denn, Sie wollen mich nicht mehr haben." „Doch, das will ich", gestand er schroff. Sofort entspannte sie sich ein wenig und lächelte ihn an. „Danke." Ben trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Ich würde Sie vermissen", erklärte er und schaute ihr dabei in die Augen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich es zugeben würde, aber es ist die Wahrheit." „Mir würde die Arbeit hier auch fehlen." Plötzlich nahmen seine Augen einen warmen Ausdruck an. „Ich war nie verheiratet." „Ich weiß." Mary hatte Bethany gleich in der ersten Woche gefragt, ob er verheiratet war. „Ich ... habe nie so richtig darüber nachgedacht." Nun schaute er an ihr vorbei. „Heutzutage möchten die Frauen nach allen Regeln der Kunst umworben werden, und ich bin sowieso zu alt und zu dick. Und ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Ahnung von Liebe und Romantik." „Sie sind weder zu alt noch zu dick", widersprach sie ihm hitzig. „Sie sind ein gutaussehender Mann. Und dass Sie keine Ahnung von der Liebe haben, stimmt auch nicht. Sie haben ein gutes Herz, und alle Leute hier lieben Sie!" Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Ihr Cafe ist der Mittelpunkt der Gemeinde. Wenn die Leute ein Problem haben, kommen sie damit zu Ihnen." „Schon möglich", räumte er ein, „aber keine Frau würde sich in einen Kerl wie mich verlieben." „Das ist doch Unsinn!" Ben betrachtete sie eindringlich. „Was ist mit Ihnen, Mary? Könnten Sie ... mich lieben? Würden Sie mich heiraten?"
„Natürlich würde ich Sie heiraten. Aber eine Ehe ist eine Partnerschaft - in guten und in schlechten Zeiten. Man hat ge meinsame Träume und ..." Mary verstummte abrupt, weil ihr erst jetzt klargeworden hatte, was er sie gefragt hatte. „Was ha ben Sie gerade gesagt?" Er atmete einmal tief durch, bevor er antwortete. „Ich habe Sie gefragt, ob Sie einen Mann wie mich heiraten würden." „Soll das ein Heiratsantrag sein?" Ben runzelte die Stirn und schwieg. „Sie wollten von mir wissen, ob ich einen Mann wie Sie heiraten würde, stimmt's?" hakte sie ungeduldig nach. „Habe ich das?" „Keine Angst, Ben, ich habe das nicht ernst genommen." „Aber dass die Ehe eine Partnerschaft ist, haben Sie doch ernst gemeint, oder?" „Natürlich." „Und Sie haben gesagt, dass Sie mich heiraten würden." Offenbar gefiel ihm die Vorstellung immer besser, denn er lächelte nun. „Habe ich das?" „Ich habe es doch selbst gehört." Er wurde wieder ernst und räusperte sich. „Möchtest du meine Frau werden, Mary McMurphy? Meine Partnerin im Cafe und auch im Leben?" Mary merkte, wie ihr die Tränen in die. Augen traten. Sie brauchte nicht darüber nachzudenken, denn sie wusste die Antwort bereits. „Ja, Ben." Ben strahlte übers ganze Gesicht und breitete die Arme aus. Als er sie dann an sich zog und seufzte, glaubte sie, noch nie etwas Romantischeres erlebt zu haben. Plötzlich fühlte sie sich um Jahre jünger. Tracy gab Duke genau zwei Wochen, denn sie glaubte, dass er in dieser Zeit zur Vernunft kommen und einsehen würde, dass sie zusammengehörten. Doch als die Frist verstrichen war, hatte er immer noch nichts von sich hören lassen. Der Mann hat anscheinend seinen Stolz, dachte Tracy, als sie die Tür aufschloss und ihre Wohnung betrat. Es war Halloween, und der einzige Besuch, den sie erwartete, waren die Kinder aus der Nachbarschaft, die nach Süßigkeiten fragten. Am nächsten Morgen, so nahm sie sich vor, würde sie sich überlegen, was sie als nächstes tun sollte. Nachdem sie ihre Post durchgesehen hatte, warf sie sie auf den Schreibtisch, denn es waren nur Rechnungen und Werbung dabei. Am Anfang der Woche hatte sie einen langen Brief von Mariah erhalten, den sie bisher mindestens ein dutzendmal gelesen hatte. Mariah hatte berichtet, dass man Duke endlich den Verband abgenommen hatte und alle nun hofften, dass seine Laune sich bald besserte. Seine Freunde waren der Meinung, dass es ihm besser ginge, sobald er wieder fliegen könnte. Mariah hatte allerdings betont, dass sie es bezweifelte, da sie wüsste, warum er so unzufrieden war. Außerdem schrieb sie, dass Duke sie, Tracy, mit keiner Silbe erwähnt und auch nicht von seinem Urlaub in Seattle erzählt hatte. Allerdings wäre Tracy entsetzt gewesen, wenn er es getan hätte, denn es war einfach nicht seine Art. Er hatte sie nicht vergessen. Vermutlich dachte er ständig an sie, genauso wie sie unentwegt an ihn dachte. Die Frage war nur, wann er endlich seinen Stolz hinunterschluckte. Als es im nächsten Moment an der Tür klingelte, nahm Tracy die Schüssel mit den Süßigkeiten, die sie bereitgestellt hatte, und ging hin, um zu öffnen. Vor ihr stand ihre Nachbarin Marilyn Gardener in Begleitung zweier Kobolde, die sie angrinsten und kreischten: „Entweder gibst du uns ein Geschenk, oder wir spielen dir einen Streich!" „Und wen habe ich da vor mir?" Tracy ging in die Hocke und hielt den beiden die Schüssel hin, damit sie sich etwas aussuchten. „Danke, Tracy", sagte Marilyn, bevor sie mit ihren beiden Töchtern weiter den Flur
entlangging. Nachdem Tracy die Tür zugemacht und die Schüssel auf einen Tisch gestellt hatte, ging sie in die Küche. Dort nahm sie den Schmortopf aus dem Kühlschrank, den sie am Morgen vorbereitet hatte, und stellte ihn in den Backofen. Wenn Duke zurückkam, hatte sie eine Überraschung für ihn: Sie konnte jetzt kochen und verfügte schon über ein richtiges Repertoire. Ihre Mutter würde stolz auf sie sein, wenn sie davon erfuhr. Ihre vier Schwestern konnten alle sehr gut kochen, aber sie war eben ein Spätentwickler, wie Tracy lächelnd erkannte. Nun holte sie offenbar auf, denn bevor sie Duke kennengelernt hatte, hatte sie das Thema Ehe und Familie immer verdrängt und sich mit der Rolle der netten Tante begnügt. Überhaupt hatte sie Duke eine Menge zu verdanken. Er hatte ihr die Augen geöffnet und ihr gezeigt, was das Leben alles bereithielt, denn bisher hatte sie immer nur an ihre Karriere gedacht. Während der gemeinsamen Stunden in dem Flugzeugwrack war alles, was sie bis dahin verdrängt hatte, an die Oberfläche gekommen. Sie war ganz sicher gewesen, dass Duke zu ihr zurückkehren würde. Warum sie sich ausgerechnet Halloween als Frist gesetzt hatte, wusste sie selbst nicht. Vielleicht waren zwei Wochen auch zu optimistisch geschätzt, doch sie hatte ihn so schrecklich vermisst und gehofft, dass es ihm genauso ging. Anscheinend war das nicht der Fall. Tracy versuchte, die aufsteigende Traurigkeit zu unterdrücken, und ging ins Schlafzimmer, um ihr Kostüm auszuziehen und in Jeans und Pullover zu schlüpfen. Als es wieder an der Tür klingelte, nahm sie die Schüssel vom Tisch, bevor sie öffnete. Es waren wieder Kinder aus der Nachbarschaft, die nach Süßigkeiten fragten. Kaum hatte Tracy die Tür zugemacht, als es noch einmal klingelte. Diesmal stand Duke im Flur. „Entweder gibst du mir ein Geschenk, oder ich spiele dir einen Streich", sagte er und lä chelte verlegen. Verblüfft schaute sie ihn an und brachte kein Wort heraus. Er warf einen Blick in die Schüssel. „Rosinen und Müsliriegel? Schatz, du wirst die Kleinen enttäuschen. Sie wollen Bonbons und Schokolade, je klebriger, desto besser." Tracy war ganz benommen vor Glück. „Oh, Duke!" Sie war drauf und dran, sich ihm in die Arme zu werfen. Duke kam herein und machte die Tür hinter sich zu. Als er Tracy betrachtete, verschwand das amüsierte Funkeln in seinen Augen. „Setz dich", meinte er. Nachdem sie die Schüssel im Wohnzimmer abgestellt und gehorsam auf dem Sofa Platz genommen hatte, begann er, vor ihr auf und ab zu gehen. „Du warst immer der Meinung, dass du dasselbe kannst wie ein Mann", sagte er. „Das kann ich auch - meistens jedenfalls", erwiderte sie ruhig. „Und du hast es mir ja auch bewiesen. Vielleicht überrascht es dich, zu hören, dass es bestimmte Dinge gibt, die man besser den Männern überlässt." „Wenn du die weite Reise gemacht hast, um dich mit mir zu streiten, dann ..." „Das habe ich nicht." Tracy stand auf. „Dann glaube ich ..." „Hörst du mir bitte mal zu?" fuhr er sie an. Sie erschrak so sehr, dass sie sich brav wieder setzte und den Mund hielt. „Einem Mann ist es lieber, wenn er den Heiratsantrag macht." „Heiratsantrag?" wiederholte sie verblüfft. „Du hast ganz richtig gehört." „Falls du deswegen sauer bist, dann lass dir gesagt sein, dass ich das Thema nur deswegen angesprochen habe, weil ich das Warten leid war. Ich liebe dich, Duke, und du liebst mich auch." „Du tust es ja schon wieder." Tracy fuhr sich mit der Hand an dir Lippen. „Tut mir leid."
Duke ging weiter auf und ab. „Und?" fragte sie nach einer Weile, da er nichts sagte. „Ich muss nachdenken." „Das ist ja das Problem", meinte sie, während sie sich aufs Sofa kniete. „Du denkst zuviel." Wenn er sie nicht bald küsste, würde sie ihn an Händen und Füßen fesseln und selbst die Initiative ergreifen. „Wie kommst du darauf, dass du in Hard Luck glücklich werden könntest?" fragte er schließlich. „Weil du da bist." „Und was ist mit deiner Karriere?" „Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich werde eine eigene Kanzlei eröffnen. Natürlich werde ich am Anfang nicht so viele Klienten haben, dass ich ausgelastet bin, aber ..." „Du gibst es also zu. Und wie willst du dir dann die Zeit vertreiben? Ich kenne dich, Tracy. Du kannst nicht einfach herumsitzen und Däumchen drehen." „Im Grunde kommt es mir sehr gelegen, wenn ich nicht voll arbeite." Duke betrachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. „Inwiefern kommt es dir gelegen?" „Ich möchte Kinder haben, und ich finde, wir sollten nicht länger damit warten." „Moment mal." Er fuhr sich über den Nacken, während er sich ihre Worte durch den Kopf gehen ließ. „Du verstehst es wirklich, einen Mann zu überrumpeln. Ich habe dir noch nicht einmal einen Heiratsantrag gemacht, und du redest schon von Kindern." „Ich möchte eine große Familie. Schließlich habe ich vier Schwestern." „Nun mach mal halblang, Tracy." „Ich möchte drei oder vier Kinder haben und ..." „Vier Kinder?" wiederholte er entgeistert. „Heutzutage kann es sich niemand mehr leisten, vier Kinder großzuziehen." „Wir werden es schon schaffen." Wie konnte er nur so stur sein! „Da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden." Tracy tat so, als hätte sie seinen Einwand gar nicht gehört. „Wenn man zu lange damit wartet, ist man irgendwann zu alt." „Tracy, bitte!" „Habe ich deine Fragen damit beantwortet?" „Das klingt ja, als wäre es bereits beschlossene Sache, dass wir heiraten." „Ist es das denn nicht?" Bewusst kokett zwinkerte sie ihm zu. Sie hatte noch nie zu den Frauen gehört, die glaubten, mit einem Augenaufschlag alles erreichen zu können, doch um Duke zu schmeicheln, war sie auch dazu bereit. „Auf keinen Fall." Tracy seufzte ungeduldig. „Ich werde es unseren Kindern erzählen." „Was?" „Dass ich den Heiratsantrag gemacht habe." „Den Teufel wirst du tun!" Nun breitete sie die Arme aus. „Wann willst du mich endlich küssen?" „Gleich", meinte er. „Erst einmal muss ich mir überlegen, wie ich es am besten anstelle." „Was?" Duke kam auf sie zu und kniete vor ihr nieder. Sie musterte ihn verblüfft. Duke Porter ging vor ihr auf die Knie, um ihr einen Heiratsantrag zu machen? Ausgerechnet er? „Versprich mir, dass du nichts sagst, bevor ich fertig bin", verlangte er. „Versprochen", erwiderte sie atemlos. Endlich wollte er ihr einen Heiratsantrag machen! Sie presste die Lippen zusammen und bemühte sich, ernst dreinzuschauen. „Ich wollte mich nicht in dic h verlieben. Du bist tapfer, stur, dickköpfig und frech - und etwas ganz Besonderes", fügte er leise hinzu.
Jetzt war sie den Tränen nahe. „Und offenbar glaubst du, mich zu lieben." Tracy nickte. Es fiel ihr zunehmend schwerer zu schweigen. „Ich weiß nicht, warum du mich liebst, aber ich will es auch gar nicht mehr wissen. Ich bin ganz verrückt nach dir. Ja, ich liebe dich. Da, jetzt ist es raus." Sie küsste ihre Fingerspitzen und berührte dann seine Lippen. „Ich habe keine Ahnung, warum du all das hier aufgeben und nach Hard Luck ziehen willst, aber du hast es dir anscheinend gut überlegt." Wieder nickte sie stumm. „Drei Kinder, vielleicht auch vier ..." Er stöhnte. „So wie ich dich kenne, wirst du mich sogar überreden, zehn zu bekommen." Tracy hielt vier Finger hoch. Duke machte die Augen zu und schüttelte den Kopf. „Vorerst erkläre ich mich nur mit zwei Kindern einverstanden." Als er sie wieder ansah, lächelte er. „Jede gute Anwältin würde mir dasselbe raten." Sie lächelte ebenfalls und zuckte die Schultern. „Du findest also, wir sollten heiraten." Er schwieg einen Moment und fuhr schließlich fort: „Ich glaube, du hast recht." Nun konnte sie sich nicht länger beherrschen und umarmte ihn stürmisch. „Oh, Duke, warum hast du bloß so lange ge braucht?" Er verzog gequält das Gesicht. „Ich bin nicht gut genug für dich ..." „Sag so etwas nicht", unterbrach sie ihn hitzig. „Du bist der tollste Mann, den ich kenne, vergiss das ja nicht!" „Ich?" „Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich den Rest meines Le bens damit verbracht, meine Rechte als Frau zu verteidigen, und so nie erfahren, was Liebe ist. Das Leben wäre an mir vorübergegangen, weil ich so viele schöne Dinge verpasst hätte. Ich wäre schrecklich einsam gewesen." Ernst schaute Tracy ihm in die Augen. „Durch dich habe ich gelernt, dass ich lieben kann, ohne gegen meine Prinzipien zu verstoßen. Ich brauche dich, Duke." Er blinzelte, als wüsste er nicht, ob er ihr glauben sollte. Der Ausdruck in seinen Augen bewies ihr, wie sehr Duke sie liebte, und spiegelte ihre Gefühle für ihn wider. „Wir werden uns wie verrückt streiten", flüsterte er. „Und wir werden uns wie verrückt lieben." Lächelnd umfasste er ihre Taille. „Ich liebe dich so, Tracy." Als er dann lauter kleine Küsse auf ihrem Gesicht verteilte, begann ihr Herz zu rasen. Es war so lange her, dass Duke sie das letzte Mal in den Armen gehalten hatte. Sie liebte es, zu beobachten, wie seine Augen dunkler wurden, bevor er sie küsste, zu spüren, wie er sie streichelte, und zu hören, wie sanft seine Stimme klang, wenn er ihren Namen flüsterte. Duke und sie würden sehr glücklich miteinander werden. Sie hatte den Mann ihrer Träume gefunden - einen Mann, den sie bis an ihr Lebensende lieben würde.
EPILOG
Scott O'Halloran saß vor dem Kamin im Hotel der Caldwells. Sie hatten gerade gegessen, und die Erwachsenen hatten sich im Nebenraum zusammengesetzt, um alles Nötige für die Hochzeitsfeier für Duke und Tracy zu besprechen. Die anderen Kinder waren oben und schauten sich einen Videofilm an. Da Scott allerdings keine Lust hatte, sich Schneewittchen anzusehen, war er mit Eagle Catcher unten geblieben. Jetzt lag der Hund friedlich neben ihm auf einem Teppich und schlief, während Scott ihn streichelte. Unwillkürlich musste der Junge daran denken, was alles passiert war, seit er vor ungefähr zwei Jahren nach Hard Luck ge kommen war. „Ich glaub's einfach nicht", sagte er kopfschüttelnd zu dem Husky. „Duke hat Tracy geheiratet " Die Leute hielten ihn zwar für ein Kind - was er ja auch noch war -, aber er war viel klüger, als manche annahmen. Zum Beispiel hatte er viel früher als seine Mutter und Sawyer gemerkt, was zwischen den beiden vorging. Sawyer hatte von seinen Piloten verlangt, sich von Abbey fernzuhalten, nur damit er so oft wie möglich mit ihr Zusammensein konnte. Und dann hätte er mit seinem flapsigen Heiratsantrag beinah alles ruiniert. Wenn Susan und er, Scott, nicht mit Eagle Catcher weggelaufen wären, dann ... Scott mochte gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können. Seine Mom hatte Sawyer geheiratet, und nun hatten sie eine kleine Schwester namens Anna. Zuerst war Scott sehr enttäuscht gewesen, weil er sich einen Bruder gewünscht hatte. Doch mittlerweile war er froh darüber, noch eine Schwester zu haben. Susan durfte das aber auf keinen Fall wissen, denn sie war eine richtige Nervensäge. Anna dagegen war richtig niedlich, und er war stolz auf sie, wenn er sie in den Armen hielt. Vielleicht bekam er ja eines Tages einen Bruder, und wenn nicht, würde er sich eben wieder mit einer Schwester zufriedengeben. Auch was zwischen Charles und Lanni ablief, hatte Scott ziemlich schnell mitbekommen. Als Susan und er mit Lanni in die Tundra gegangen waren, um Blumen zu pflücken, und einem Bären begegnet waren, hatte Charles ganz deutlich gezeigt, wie sehr er Lanni mochte. Als er sie gefunden hatte, war er so erleichtert gewesen, dass er Lanni vor ihren Augen geküsst hatte. Scott hatte allerdings nie verstanden, warum sein Onkel so lange gebraucht hatte, um Lanni zu heiraten. Sie war wieder nach Anchorage gegangen, und er hatte so lange Trübsal geblasen, bis er sie endlich heiraten konnte. Scott hatte Mitleid mit ihm gehabt, und er hätte ihn gern ge tröstet. Doch seine Eltern waren damals der Meinung gewesen, dass Charles und Lanni ihre Probleme selbst lösen mussten. Anscheinend hatten sie recht gehabt, denn kurz darauf hatte Scott erfahren, dass die beiden im nächsten Frühjahr heiraten wollten. Eagle Catcher streckte sich und gähnte laut. Scott war auch müde, aber ihm gefiel es, allein vor dem Kamin zu sitze n, während die Erwachsenen sich nebenan unterhielten. Duke und Tracy hatten vor zwei Wochen in Seattle geheiratet und würden übermorgen wieder in Hard Luck eintreffen. Deswegen wollte man ihnen einen festlichen Empfang bereiten. Scott musste zugeben, dass die beiden ihn überrascht hatten - im Gegensatz zu Mitch und Bethany. Scott lächelte unwillkür lich, als er daran dachte, wie seine Lehrerin Mitch angesehen hatte, wenn der in der Schule vorbeigeschaut hatte. Genauso hatte seine Mutter Sawyer immer angeschaut, nachdem er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Susan und Chrissie, Mitch' Tochter, hatten versucht, die beiden miteinander zu verkuppeln. Scott sah es allerdings eher so, dass Bethany und Mitch trotzdem geheiratet hatten. Auf jeden Fall waren alle drei sehr glücklich, und das Baby sollte einige Monate vor Lannis geboren werden. Wenn es in diesem Tempo so weiterging, musste man bald noch eine Lehrerin einstellen, denn Hard Lucks Einwohnerzahl nahm rapide zu. Matt und Karens Junge war eine Woche vor Anna geboren worden. Der kleine Clay
Caldwell war der ganze Stolz seiner Eltern. Was Matt und Karen anging, war Scott richtig stolz, denn die beiden hatten es ihm zu verdanken, dass sie wieder zueinandergefunden hatten. Matt hatte seinen Rat befolgt und Karen so zurückerobert. Und nicht nur das, Scott hatte auch bei Christian und Mariah dem Glück auf die Sprünge geholfen. Er erinnerte sich noch ge nau daran, wie er Christian eines Abends auf dessen Veranda angetroffen hatte. Sein Onkel hatte ziemlich niedergeschlagen ausgesehen, als hätte er seine Brieftasche verloren. Wie sich heraus gestellt hatte, hatte jedoch seine Sekretärin gekündigt. Scott hätte gern geglaubt, er hätte seinem Onkel damals geholfen, aber zu dem Zeitpunkt war er nicht einmal sicher gewesen, ob der ihm überhaupt zugehört hatte. Jetzt waren Christian und Mariah ebenfalls verheiratet, und es würde sicher nicht lange dauern, bis sie auch Kinder bekamen. Dann waren da noch die Paare, die ganz überraschend zusammengefunden hatten, wie zum Beispiel Ben Hamilton und Mary McMurphy. Scott hatte gar nicht gewusst, dass man sich in dem Alter noch verlieben konnte. Allerdings hatte er gleich etwas ge ahnt, denn er hatte beobachtet, wie Ben Mrs. McMurphy ansah. Nicht einmal Eagle Catcher hatte ihm so richtig geglaubt, aber Scott hatte schließlich Augen im Kopf. Und tatsächlich hatte er einen Monat später erfahren, dass Ben und Mary McMurphy auch heiraten wollten. Zu dem Zeitpunkt war Scott schon auf mehr Hochzeiten gewesen als so mancher Pfarrer. Da Mrs. McMurphy praktisch genauso alt wie seine Großmutter war, hatte er- sich gefragt, wie sie wohl als Braut aussehen mochte. Dann hatte er überrascht festgestellt, dass sie richtig hübsch war - nicht so hübsch wie seine Mutter, Lanni oder Mariah, eben anders. Ben hatte auch toll ausgesehen, obwohl er wahrscheinlich beleidigt gewesen wäre, wenn Scott ihn als hübsch bezeichnet hätte. Ben war immer ziemlich cool gewesen, aber seitdem er mit Mrs. McMurphy verheiratet war, war er richtig aufgetaut. Er kochte besser denn je, und jetzt durfte sogar Eagle Catcher manchmal ins Cafe. Als Scott erfahren hatte, dass Duke und Tracy heiraten wür den, war er genauso überrascht gewesen. Als die beiden mit dem Flugzeug abgestürzt waren, hatte er sich richtig Sorgen um sie gemacht - nicht nur, weil sie möglicherweise verletzt waren, sondern weil er befürchtet hatte, sie würden sich gegenseitig umbringen. Da hatte er allerdings völlig falsch gelegen, denn kurz danach hatte er gehört, dass Duke in Seattle war und Tracy besuchte. Nun waren die beiden verheiratet, und Tracy wollte in Hard Luck eine eigene Kanzlei eröffnen. Auch sonst war einiges in Hard Luck los. Pete Livengood wollte seinen Laden ausbauen und neben den Lebensmitteln auch Haushaltswaren verkaufen. Außerdem plante jemand, eine Videothek zu eröffnen, denn bis jetzt hatte Pete immer nur ein paar Regale mit Videofilmen hinten in seinem Laden gehabt. Eine Freundin von Karen aus Kalifornien wollte sich mit einem Schönheitssalon selbständig machen, wo nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer sich die Haare schneiden lassen konnten. Scott freute sich natürlich mehr auf die Videothek. Ach, und Lanni wollte demnächst eine eigene Zeitung herausbringen. Vielleicht konnte er darin ja eine Ratgeberecke mit der Überschrift „Fragen Sie Scott" einrichten. Er grinste, als er es sich ausmalte. Ja, in Hard Luck hatte sich vieles verändert, seit er hergezo gen war. Für ihn war es mittlerweile mehr als eine Kleinstadt, die fünfzig Meilen nördlich des Polarkreises lag. Hier war er zu Hause. -ENDE