R. A. Salvatore
Juwelen des Himmels Dämonendämmerung 2
Aus dem Amerikanischen von Frank Böhmert
BLANVALET
Die amer...
31 downloads
660 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
R. A. Salvatore
Juwelen des Himmels Dämonendämmerung 2
Aus dem Amerikanischen von Frank Böhmert
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »The Demon Awakens« (Parts 3-5) bei Del Rey/Ballantine Books, New York Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung 8/99 Copyright © der Originalausgabe 1997 by R. A. Salvatore Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH This translation was published by arrangement with The Ballantine Publishing Group, a division of Random House, Inc. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Cherry Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Titelnummer: 24893 Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24893-0 www.blanvalet-verlag.de
Die Mächte der Finsternis haben sich zusammengeschlossen und der Geflügelte führt Riesen, Zwerge und Goblins in einen Krieg gegen die übrigen Völker. Doch auch die Menschen, unter ihnen der Mönch Avely mit einem Beutel voller Himmelsjuwelen, haben Verbündete: Die Elfen gewähren ihnen in einem verborgenen Tal Zuflucht…
Für Owen Lock, der an mich glaubt und mich ermahnt hat, auch selbst an mich zu glauben.
Für Veronica Chapman, für ihre Unvoreingenommenheit und ihr scharfes Auge.
Für Kuo-yo Liang – Energie ist ansteckend.
Und für jemand Vertraulichen, der mich an einem finstren Ort in einer finstren Stunde fand und eine Kerze ansteckte.
Und natürlich, wie bei allem, was ich tue, für Diane und die Kinder.
Teil eins Konflikt Bist du heimgekehrt, Onkel Mather? Als du fortgingst von Andur’Blough Inninness, aus deiner Elfenheimat, bist du da an den Ort deiner Kindertage zurückgekehrt? Ich hatte geglaubt, einer Vision zu folgen, als ich durch die Moorlande und dann nordwärts in ein weites Tal voller kniehoher Rentierflechte und rauher Kiefern zog. Inzwischen frage ich mich, ob ich nicht einfach nur einer Erinnerung aufgesessen bin und den Weg zurückverfolgt habe, auf dem die Elfen mich einst von Dundalis fortlockten. Vielleicht haben sie damals einen Schleier über mein Gedächtnis gelegt, damit ich nicht den Wunsch verspürte, aus Caer’alfar zurück in die Menschenlande zu fliehen. Vielleicht ist dieses letzte Orakel in Andur’Blough Inninness nicht mehr als ein Lüften dieses Schleiers gewesen. Das fiel mir erst ein, als mich der Weg nach Norden in bekannte Gefilde trug. Ich fürchtete, in die Irre gegangen und nicht aufgrund einer Vision, sondern einer Erinnerung in die Heimat zurückgekehrt zu sein. Nun begreife ich. Dieses Land ist mein Land, und ich bin sein Hüter. Es steht unter meinem Schutz, wenngleich seine stolzen und muhen Einwohner die Vorstellung, behütet zu werden oder gar schutzbedürftig zu sein, weit von sich weisen dürften. Sie sind nicht mehr so zahlreich wie damals. Weedy Meadow zählt nach wie vor achtzig Köpfe – die Goblins haben nach der Plünderung von Dundalis nicht wieder angegriffen –, und dreißig Meilen weiter westlich, noch tiefer in den Wilderlanden, ist eine neue, vielleicht doppelt so große
Siedlung entstanden. Weltenend wird sie genannt; sehr treffend, wie ich finde. Und sie haben Dundalis wiederaufgebaut, Onkel Mather, und zwar unter dem alten Namen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich das finden soll. Zollt das neue Dundalis dem alten Tribut, oder stellt es nur eine Nachäffung dar? Es war wie ein Schlag in die Magengrube, den breiten Feldweg entlangzuwandern und plötzlich auf ein Schild zu stoßen, das die Ortsgrenze von Dundalis bezeichnet – nicht daß wir so ein Schild je aufgestellt hätten. Ich muß gestehen, für einen Moment gab ich mich sogar dem Tagtraum hin, daß meine Erinnerung an all das Morden und Brennen ein Trugbild war. Vielleicht, so wagte ich zu hoffen, hatten die Elfen mir den Tod von Dundalis nur vorgegaukelt, damit ich gar nicht erst einen Grund hatte, aus ihrer Obhut zu entfliehen. Unter den Ortsnamen hatte irgendein Witzbold »Dundalis dan Dundalis« gekritzelt und darunter ein zweiter wiederum »McDundalis«, beides Verweise darauf daß es sich hier um den »Sohn von Dundalis« handle. Das hätte ich mir besser kurz durch den Kopf gehenlassen sollen. Voller Vorfreude brachte ich die letzte Meile bis zum eigentlichen Dorf hinter mich – nur um mich mitten in der Fremde wiederzufinden. Statt des Gemeindehauses gibt es nun eine große Schänke, und sie steht auf dem Fundament des Hauses, in dem meine Familie einst gelebt hat. Fremde haben sie dort hingebaut. Dieser Moment war so schrecklich, Onkel Mather; ich kam mir vor wie in ein anderes Land versetzt. Heimgekehrt war ich zwar, nur daß dies eben nicht meine Heimat war. So anders waren die Leute gar nicht – zäh und handfest, so rauh wie die tiefste Winternacht –, nur waren es eben andere Leute. Kein Brody Minnesang, kein Bunker Crawyer, kein Shane
McMichael, kein Thomas Ault, keine Mutter, kein Vater, keine Pony. Kein Dundalis. Ich schlug die Einladung des launigen Schankwirtes aus und lief stumm wie ein Fisch wieder aus dem Dorf hinaus – spätestens das dürfte mir einen etwas zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Zu meiner Schande ließ ich meinen Ärger auch noch an dem Ortsschild aus und riß das unterste Brett mit den Kritzeleien ab. Das Leben war einfach ohne mich weitergegangen. Niemals zuvor war ich mir so allein und verlassen vorgekommen, nicht einmal am Morgen nach dem Blutbad. Darum wollte ich kommen und mit dir reden, Onkel Mather, und so umrundete ich das Dorf und stieg den Nordhang hinauf. Auf der anderen Seite des Kamms, über dem weiten Tal, gibt es mehrere kleine Höhlen. In einer von ihnen hoffte ich, das Orakel zu finden. Ich bin gar nicht bis über den Kamm gekommen. Ist schon eine seltsame Sache, die Erinnerung. Die Elfen begreifen sie als eine Möglichkeit, sich rückwärts durch die Zeit zu bewegen und längst Geschehenes mit neuen, klareren Augen zu betrachten. So war es an jenem Morgen auf dem Nordkamm über Dundalis. Ich sah sie wieder, Onkel Mather, meine Pony, so lebenssprühend, so wunderbar und schön wie einst. Ich erinnerte mich so lebhaft an sie, daß sie – für einige flüchtige Momente – wahrhaftig wieder an meiner Seite war. Ich habe unter den heutigen Einwohnern von Dundalis keine neuen Freunde gefunden, und ehrlich gesagt erwarte ich das auch gar nicht. Aber ich habe Frieden gefunden, Onkel Mather. Ich bin heimgekehrt.
1. Der Schwarzbär
»Er kam diesen Hügel runtergerast«, sagte der Mann und wies hektisch zu dem bewaldeten Hang im Norden von Dundalis hinüber. »Ich hab meine Familie rasch in den Kartoffelkeller geschafft – kann verdammt froh sein, das Ding ausgehoben zu haben!« Der Sprecher war in seinem Alter, bemerkte der Hüter, als er sich den zehn Leuten näherte – acht Männern und zwei Frauen –, die sich um die nahezu vollständig zerstörte Hütte am Stadtrand versammelt hatten. »Verdammt großer Bär«, sagte einer der Männer. »Ein Zwölffüßer«, erklärte der erste, der Geschädigte, und hielt die Hände so weit auseinander, wie er konnte. »Braun?« fragte Eibryan beinahe überflüssigerweise, denn ein zwölf Fuß großer Bär konnte nur braun sein. Prompt drehten sich alle zu dem Fremden um. In den vergangenen Monaten hatten sie ihn ab und zu im Dorf gesehen, meist in der Schänke zur Heulenden Sheila, wo er still in der Ecke zu sitzen pflegte, aber bis auf Belster O’Comely, den Wirt, hatte niemand ein Wort mit ihm gewechselt. Der Argwohn stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie ihn und seinen ungewöhnlichen Aufzug beäugten: den waldgrünen Mantel und den dreieckigen Hut. »Schwarz«, berichtigte der Geschädigte ihn schließlich mit zusammengekniffenen Augen. Eibryan, der dies schon eher als die Wahrheit akzeptieren konnte, nickte. Die Farbe verriet ihm zwei Dinge: Erstens hatte der Mann übertrieben, was die Größe des Bären anging, und zweitens war ein solcher Angriff mehr als ungewöhnlich.
Einem Braunbären war es durchaus zuzutrauen, daß er den Hügel hinunterraste und sich über die Hütte hermachte, als wäre sie ein Elch; Schwarzbären dagegen waren von Natur aus scheu und griffen nur an, wenn sie in die Enge getrieben wurden oder ihre Jungen in Gefahr waren. »Was geht dich das an?« fragte ein Dritter. Es klang fast so, als wolle er Eibryan die Schuld an dem Angriff geben. Ohne darauf einzugehen, trat der Hüter an der Gruppe vorbei und kniete sich hin, um einige Spuren in Augenschein zu nehmen. Wie vermutet war der Bär bei weitem nicht so groß, wie der Bauer in seiner Aufregung behauptet hatte; er mochte fünf oder sechs Fuß messen und war vielleicht zwei- bis dreihundert Pfund schwer. Aber Eibryan nahm dem Mann seine Übertreibung nicht übel. Ein sechs Fuß großer Bär kam einem leicht doppelt so groß vor, wenn er wütend war. Und der am Haus angerichtete Schaden war beträchtlich. »Einen bösartigen Einzelgänger können wir hier nicht gebrauchen«, erklärte ein Hüne namens Tol Yuganick. Eibryan sah zu ihm hinauf. Tol war breitschultrig und stark, und er handelte ebenso geradeheraus, wie er sprach. Sein glattrasiertes Gesicht wirkte beinahe kindlich, aber daß dieser Eindruck täuschte, wußte man spätestens auf den zweiten Blick. Eibryan besah sich die Hände des Mannes. Sie waren rauh und voller Schwielen. Tol war ein Arbeiter, ein Grenzer, wie er im Buche stand. »Stellen wir einen Trupp auf und legen das verdammte Vieh um«, sagte er und spuckte aus. Eibryan war erstaunt, daß der stämmige Kerl den Bären nicht gleich allein zur Strecke bringen wollte. »Und du? Was ist mit dir?« bellte Tol und trat an den knieenden Hüter heran. »Was dich das angeht, wollen wir wissen, und bis jetzt bist du uns die Antwort schuldig geblieben.«
Eibryan richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war ebenso groß wie Tol und wenn auch nicht gleich schwer, so doch gewiß muskulöser. »Bist in Dundalis wohl schon richtig zu Hause, was?« fügte der Mann unverblümt hinzu. Eibryan blieb gelassen. Am liebsten hätte er hinausgebrüllt, daß er hier länger zu Hause war als sie alle zusammen, daß auf dem Fundament ihrer geliebten Schänke einst sein eigenes Haus gestanden hatte! Aber er ersparte sich das, und zwar ohne Anstrengung. Diese Beherrschung, diese Disziplin hatte er seinen Jahren bei den Elfen zu verdanken. Er war hier, um den Leuten von Dundalis, von Weedy Meadow und Weltenend eine Sicherheit zu geben, wie sie sie zuvor nicht besessen hatten. Wenn es hier schon vor sieben Jahren einen Hüter gegeben hätte, davon war Eibryan überzeugt, dann wäre Dundalis nicht in Schutt und Asche gelegt worden. Gegen diese Verantwortung verblaßte die beleidigende Art des Mannes. »Der Bär kommt nicht wieder«, sagte der Hüter nur und schritt dann seelenruhig davon. Er hörte sie hinter sich murren – und nicht nur einmal fiel die Redewendung »komischer Kauz«. Sie wollten den Bären nach wie vor jagen, aber Eibryan war entschlossen, ihnen zuvorzukommen. Ein Schwarzbär hatte ein Bauernhaus angegriffen, und das allein war so rätselhaft, daß der Hüter auf Nachforschungen nicht verzichten wollte. Es war verblüffend, wie leicht er dem Bären folgen konnte. Das Tier hatte auf seiner Flucht eine regelrechte Schneise in das Unterholz gepflügt und dabei selbst vor kleineren Bäumen nicht haltgemacht. Daß in einem Tier so viel Wut stecken konnte, war dem Hüter gänzlich neu. Kein Zweifel, die Fährte war die eines mittelgroßen Bären, aber Eibryan wurde das Gefühl nicht los, einem Bergriesen oder einem anderen
bösartigen, vernunftbegabten Wesen auf der Spur zu sein, einem Wesen, das auf Zerstörung aus war. Es stand zu befürchten, daß der Bär einer Krankheit anheimgefallen oder verletzt war. Was auch immer der Grund sein mochte, mit jeder Verheerung, die er passierte, stieg Eibryans Befürchtung, daß er das Tier nicht würde verschonen können. Er hatte gehofft, es einfach tiefer in die Waldlande hineintreiben zu können. Jeden Schatten ausspähend, bewegte er sich einen steilen Hang hinauf. Bären waren nicht dumm; es hatte schon Exemplare gegeben, die ihren Jägern plötzlich in den Rücken gefallen waren. Eibryan duckte sich neben einen kleinen Baum. Er legte eine Hand auf den Boden, um leichte Vibrationen zu ertasten. Im Augenwinkel nahm er die sachte Bewegung eines Busches wahr. Der Hüter rührte sich nicht, er wandte nur den Kopf, um die Schatten besser sehen zu können. Es ging ein Wind, und er befand sich auf der Windseite des Busches. Dann kam er, der Bär, mit Donnerbrüllen. Eibryan kniete sich hin, legte einen schweren Pfeil auf die Sehne und ließ ihn mit einem resignierten Seufzer davonschnellen. Der Pfeil streifte die Schnauze des Bären und bohrte sich in seine Brust, aber das hielt ihn nicht auf. Seine Geschwindigkeit war unfaßbar. Eibryan hatte in Andur’Blough Inninness Bären gesehen, hatte sogar einen fliehen sehen, als Juraviel zwei Steine aufeinanderschlug, aber die Geschwindigkeit dieses Exemplars war einfach unglaublich. Schneller konnte auch ein Pferd nicht sein. Ein zweiter Pfeil folgte dem ersten und bohrte sich tief in eine Schulter. Wieder brüllte der Bär, aber er wurde kaum langsamer. Für einen dritten Schuß war keine Zeit mehr. Vor einem Braunbären hätte sich Eibryan in die Bäume flüchten können,
aber Schwarzbären waren weit schnellere Kletterer als jeder Mensch. Noch immer auf den Knien, ließ er den Bären kommen; dann hechtete er im letzten Moment seitwärts den Hang hinab. Der Bär kam schlitternd zum Stehen und fuhr herum. Als Eibryan wieder auf die Knie kam, das Gesicht hangaufwärts dem Bären zugewandt, stellte der sich auf die Hinterbeine. Groß und furchteinflößend stand er da. Und äußerst verwundbar. Eibryan zog die Sehne durch, so weit es ging, bis sich Falkenschwinges Federntrio nicht weiter spreizen konnte. Als dann das Loch in der Brust des Bären erschien, verabscheute der Hüter sein Werk. Mit einem Schlag war es vorbei, und das Tier fiel tot zu Boden. Eibryan ging zu dem Kadaver. Er wartete sicherheitshalber noch etwas ab, dann griff er nach der Schnauze und legte das Gebiß frei. Er fürchtete, dort schaumigen Speichel und damit ein Merkmal der schlimmsten aller Seuchen vorzufinden. In diesem Falle würde er sich vor Arbeit nicht retten können, würde er Tag und Nacht alles jagen müssen, was sich infiziert haben konnte, von Waschbären über Wiesel bis hin zu Fledermäusen. Kein Schaum; der Hüter konnte aufatmen. Aber seine Erleichterung währte nur kurz, denn nun galt es zu klären, warum dieses normalerweise scheue Tier so bösartig geworden war. Er setzte seine Untersuchung von Schnauze und Kopf fort – die Augen waren klar und nicht verklebt –, dann nahm er sich den Torso des Bären vor. Und fand die Antwort. Tief im Rumpf steckten vier mit Widerhaken versehene Pfeile. Er entfernte einen – was nicht leicht war – und untersuchte die Spitze. Sie war mit einem schwarz-klebrigen, schmerzhaften Gift bestrichen, das sich aus der seltenen Schwarzbirke gewinnen ließ.
Mit einem Knurren warf der Hüter den Pfeil zu Boden. Dies war kein Versehen, sondern Absicht gewesen. Das arme Tier war vor Schmerzen wahnsinnig geworden, und zwar weil jemand dafür gesorgt hatte – ein Mensch, den Pfeilen nach zu urteilen. Eibryan holte tief Luft und begann dann zu tanzen, um den Geist des Bären zu preisen und ihm für die geschenkte Nahrung und Wärme zu danken. Anschließend zog er ihm fachmännisch das Fell ab und zerlegte ihn. Den wertvollen Leib des Tieres zu vergeuden, indem er ihn einfach verwesen ließ oder auch als Ganzes begrub, hätte in den Augen der Elfen – und in denen Eibryans – eine Beleidigung des Bären und damit der göttlichen Natur dargestellt. Am späten Nachmittag war sein Werk getan, aber der Hüter ruhte sich nicht aus, und er kehrte auch nicht nach Dundalis zurück, um die Dörfler über die Tötung des Bären zu unterrichten. Irgend etwas, irgend jemand hatte diese Tragödie herbeigeführt. Nachtvogel ging erneut auf die Jagd.
Sie waren nicht viel schwerer zu finden als der Bär. Ihre Hütte – kaum mehr als ein Schuppen aus Balken und verwitterten Brettern, die ganz danach aussahen, als stammten sie noch aus den Trümmern des alten Dundalis – befand sich oben auf einem Berg. Zur Tarnung waren überall Äste angebracht, aber da die Blätter bereits braun und vertrocknet waren, konnten sie verräterischer kaum sein. Und noch bevor der Hüter die Hütte erblickte, hatte er den Lärm vernommen, das Gelächter und den scheußlich falschen Gesang. Es waren Menschenmänner, die da feierten, ganz wie er vermutet hatte.
Verstohlen bewegte sich Eibryan den Hügel hinauf, von Baum zu Baum und Schatten zu Schatten, wenngleich er vermutete, daß die Männer in der Hütte ihn nicht einmal dann gehört hätten, wenn er mit einer Hundertschaft Dörfler und einem Dutzend Bergriesen gekommen wäre. Die Wände der Hütte waren mit den Gerätschaften des Trapper-Gewerbes sowie Dutzenden trocknender Häute behängt. Diese Männer kannten sich aus mit Tieren. Unweit der Rückwand stieß der Hüter auf einen Bottich mit einem dicken, schwarzen Gebräu, das er rasch als das quälende Gift erkannte, das bei dem Bären benutzt worden war. Die Hütte war mehr als baufällig, zwischen sämtlichen Brettern klafften breite Lücken. Eibryan spähte hinein. Auf einem Haufen Fellen, Schwarzbärhäuten zumeist, lagerten drei Männer und kippten schaumiges Bier in sich hinein. Das Faß, in das sie ihre alten Krüge tauchten, wimmelte nur so von Fliegen und Bienen. Eibryan schüttelte angewidert den Kopf, ermahnte sich jedoch, ein Mindestmaß an Respekt zu bewahren. Dies waren Männer der Wilderlande, starke und schwerbewaffnete Männer. Der eine hatte einen Gurt mit Dolchen um die Brust hängen, der zweite protzte mit einer schweren Axt, und am Gürtel des dritten hing ein schmales Schwert. Und die einzige Tür hatten sie mit einem Balken versperrt. Eibryan ging zur Vorderseite und zog den Dolch aus seinem Bündel. Die Tür war etwas zu klein geraten, und die Klinge paßte genau in den Spalt. Ein kurzer Ruck nach oben ließ den Balken aus der Halterung rutschen, und schon hatte Eibryan die Tür nach innen getreten und sich vor den Männern aufgebaut. Sie fuhren zusammen, daß das Bier nur so spritzte, und der eine schrie auf, als er sich beim Herumrollen die Hüfte am Schwertgriff stieß. Einigermaßen schnell waren sie auf den
Beinen, während Eibryan reglos bei der Tür stehenblieb, Falkenschwinge ungespannt in der Hand wie einen harmlosen Wanderstock. »Was soll’n das?« fragte einer der Männer, ein breiter Kerl mit einem Gesicht, das voller Narben war. Von diesem zerklüfteten Gesicht mit seinem wilden, ungezähmten Bart einmal abgesehen, hätte er zu Eibryans Mißfallen glatt als Bruder von Tol Yuganick durchgehen können. Sie mußten zwei Äpfel von demselben, reichlich hohen Stamm sein. Und seine gewaltige Axt ließ wenig Zweifel daran, was er vorhatte, falls Eibryan ihm eine vernünftige Antwort schuldig blieb. Gleich hinter ihm stand der Schwertkämpfer, ein großer, hagerer Glatzkopf, während der dritte, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, in die gegenüberliegende Ecke zurückwich und sich dabei die Hände rieb – die nicht allzuweit von seinen zahlreichen Dolchen entfernt waren. »Ich bin gekommen, um mit euch über einen Bären zu reden«, antwortete Eibryan ruhig. »Über was für einen denn?« erwiderte der Hüne. »Wir haben Häute in Massen.« »Über den Bären, den ihr mit vergifteten Pfeilen verrückt gemacht habt«, antwortete Eibryan. »Den Bären, der ein Bauernhaus in Dundalis zerstört und beinahe eine Familie umgebracht hat.« »Was du nicht sagst.« Der Mann spuckte aus. »Ihr braut das Gift in dem Faß hinterm Haus«, fuhr Eibryan fort. »Einen Pflanzensud, den nur wenige kennen.« »Das beweist gar nichts«, winkte der Mann mit einer schmutzigen Hand ab. »Und jetzt raus hier, wenn du keinen Kuß von meiner Axt kriegen willst!« »Will ich ganz gewiß nicht«, antwortete der Hüter. »Aber da wäre noch die Frage der Kompensation – sowohl was die
Bauersleute betrifft, als auch die Zeit, die ich zur Jagd des Bären aufwenden mußte.« » Kompen- was?« fragte der hagere Glatzkopf. »Bezahlung«, sagte Eibryan. Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da schleuderte der Mann in der Ecke schon seinen ersten Dolch. Eibryan wirbelte im Uhrzeigersinn herum, so daß der Dolch an ihm vorbeiflog und sich tief in die Wand bohrte. Der Hüter wollte eigentlich einen waagrechten Hieb anbringen, aber er erkannte, daß dieser Zug erwartet wurde: Der Hüne hatte seine Axt schon zur Abwehr bereit. Also drehte sich Eibryan gegen den Uhrzeigersinn, wobei er die Hüfte einzog, um dem Axthieb auszuweichen. Nun war es an ihm auszuteilen; er ging auf ein Knie und schlug dem Trapper seinen Stock gegen den Innenschenkel. Ein kurzer Ruck, und die Waffe knallte ihm schwer in den Schritt. Schneller als eine Katze zog Eibryan den Stock ein Stück zurück, hob die Spitze und stieß sie dem Kerl dreimal kräftig unters Brustbein. Der Mann fiel kaum nach hinten um, da hielt Eibryan schon Falkenschwinge mit beiden Händen waagrecht empor, um das heruntersausende Schwert des zweiten Mannes abzublocken. Dann rammte er ihm ein Knie in den Bauch, und als der Glatzkopf sich zusammenkrümmte, stieß Eibryan das Schwert mit dem Stock zur Seite weg. Im nächsten Moment schob er ihm das eine Ende unter die Achsel, machte eine Drehung, und ehe der Mann sich’s versah, segelte er auch schon durch die Hütte und landete hart auf Rücken und Hinterkopf. Damit hatte Eibryan keine Deckung mehr, und so fuhr er rasch herum, nur um sich einem weiteren heranwirbelnden Dolch gegenüberzusehen. Er bekam Falkenschwinge gerade noch rechtzeitig nach oben, wobei er den Stock nur lose hielt, damit der abprallende Dolch nicht allzuweit wegflog. Wie es
der Zufall wollte, kam die Waffe direkt vor ihm wieder herunter, und er brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie an der Klingenspitze zu fangen. Im Nu hatte der Hüter den Dolch wurfbereit neben dem Ohr. Der dürre Mann erbleichte und ließ die nächsten beiden Dolche zu Boden fallen. Eibryan mußte schwer dagegen ankämpfen, diesem Nichtsnutz die eigene Waffe tief in die Brust zu senken, und sein Zorn nahm noch zu, als er daran dachte, was die drei Trapper dem Bären angetan hatten und welch verheerende Konsequenzen ihr unseliges Treiben noch hätte nach sich ziehen können. Mit einem Knurren schleuderte er den Dolch so, daß er unmittelbar neben dem Kopf des Dürren in die Wand krachte. Wimmernd und ohne Eibryan aus den Augen zu lassen, ließ sich der Mann in der Ecke auf den Boden hinabrutschen. Eibryan sah sich um. Die anderen beiden kamen allmählich wieder auf die Füße, mit leeren Händen. »Wie heißt ihr?« Die Männer sahen einander verwundert an. »Wie ihr heißt!« »Paulson«, antwortete der Hüne, »Cric und Eichhorn«, wobei er zuerst auf den Glatzkopf und dann auf den Dolchwerfer wies. »Eichhorn?« fragte Eibryan. »Ist eben einer von der nervösen Sorte«, erklärte Paulson. Der Hüter schüttelte den Kopf. »Daß ihr eines wißt, Paulson, Cric und Eichhorn: Ihr teilt den Wald mit mir, und ich werde jeden einzelnen eurer Schritte überwachen. Noch ein solch grausamer Streich wie der mit dem Bären, und ihr kommt nicht mehr mit einem blauen Auge davon. Und gebt acht, was ihr für Fallen benutzt – Fuchseisen möchte ich hier nicht mehr sehen –«
Paulson wollte widersprechen, aber Eibryan starrte ihn so grimmig an, daß sich ihm schier die Barthaare kräuselten. » – und auch keine anderen Fallen, die eure Beute zu sehr leiden lassen.« »Wir verdienen doch auch bloß unser Geld«, sagte Eichhorn mit zittriger Stimme. »Das kann man auch auf anständige Weise. Und in der Hoffnung, daß ihr dies tut, werde ich von einer Kompensation Abstand nehmen… für dieses Mal jedenfalls.« Der Blick, mit dem Eibryan einen jeden von ihnen bedachte, stellte klar, daß es sich hier nicht um eine leere Drohung handelte. »Und wer bist du, wenn man fragen darf«, wagte Paulson sich vor. Eibryan ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich bin Nachtvogel«, antwortete er schließlich. Cric kicherte; Paulson jedoch, der noch immer diesem Blick standhalten mußte, brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ein Name, den ihr besser nicht vergeßt«, schloß Eibryan und ging zur Tür, ohne die drei gefährlichen Trapper weiter zu beachten. Ihnen war die Lust auf einen Kampf gehörig vergangen. Der Hüter trat hinter die Hütte und warf den Giftbottich um. Im Vorbeigehen griff er sich eine Handvoll Fuchseisen – tückische Fallen mit langen Metallspitzen und kräftigen Federgelenken, aus denen ein Tier nur wieder freikam, wenn es sich die Pfote abbiß. Sein nächster Halt war die Schänke zur Heulenden Sheila in Dundalis. Kaum hatte er sie betreten, da verstummten auch schon die anwesenden Männer und Frauen. Eibryan trat an den Tresen und nickte Belster O’Comely zu, der hier einem Freund noch am nächsten kam.
»Nur Wasser«, sagte der Hüter im selben Moment wie der Wirt; dann bekam er das Glas auch schon entgegengeschoben. »Schon von dem Bären gehört?« fragte Belster gut gelaunt. »Der Bär ist tot«, antwortete Eibryan grimmig und durchquerte den Raum, um sich mit dem Rücken zur Wand an einen Ecktisch zu setzen. Ihm entging nicht, daß einige der Stammgäste ihre Stühle herumschoben und eine Frau ihm sogar demonstrativ den Rücken zukehrte. Eibryan senkte die Spitze seines dreieckigen Hutes und schmunzelte. So würde es wohl immer sein. Er hatte mit diesen Leuten nicht viel gemein, mit keinem Menschen, von den wenigen Ausnahmen abgesehen, die es ins Tal der Elfen verschlagen hatte, die viele Jahre beim Volk von Belli’mar Juraviel und Tuntun gelebt hatten. Eibryan vermißte diese Freunde jetzt – selbst Tuntun. Es stimmte, daß er nicht nach Caer’alfar gehört hatte; doch hier, unter Leuten, die ihm im Aussehen so sehr glichen, aber die Welt mit gänzlich anderen Augen sahen, kam er sich noch viel weniger zugehörig vor. Doch trotz dieser deutlichen Verweise auf seine hiesige Stellung war Eibryans Lächeln echt. Zwar hatte er bedauerlicherweise den Bären töten müssen, aber er konnte mit seinem Tagwerk zufrieden sein. Er fand Trost in seiner Arbeit, in seinem Schwur, daß das neue Dundalis und die beiden Nachbarsiedlungen nicht das Schicksal seines Heimatdorfes würden teilen müssen. Für eine knappe Stunde blieb er noch in der Heulenden Sheila, aber von Belsters Abschiedsgruß einmal abgesehen, würdigte ihn niemand auch nur eines Blickes.
2. Der irre Mönch
»Tinson«, sagte Kommandant Miklos Barmine zu Jill, als sie gerade auf dem Meer wall von Pireth Tulme Wache ging. Jill sah den kleinen, gedrungenen Mann verwundert an. Tinson lag ein paar Dutzend Meilen weiter landeinwärts und bestand aus kaum mehr als zwanzig Häusern und einer Schänke voller Gauner und Huren, die den Soldaten von Pireth Tulme gefällig waren. »Zum Überfallenen Wandersmann«, fügte Barmine auf seine kurzangebundene Art hinzu. »Schon wieder eine Schlägerei?« fragte Jill. »Unter anderem«, antwortete der Kommandant im Weggehen. »Zehnertrupp aufstellen und ausrücken.« Jill sah ihm nach. Sie konnte Miklos Barmine nicht leiden, kein bißchen. Er war erst drei Monate zuvor an Constantine Pressos Stelle gerückt, als dieser nach Pireth Danard im Norden versetzt worden war. Zunächst hatte Jill geglaubt, daß ihr der neue Kommandant mit seiner peniblen, pflichtbewußten Art mehr lag. Aber er war ein sabbernder, geifernder Bock, der es persönlich nahm, als Jill seine Avancen zurückwies, und eine Führungsfigur war er auch nicht. Binnen einer Woche hatten auf Pireth Tulme wieder die Korken geknallt. Außerdem hatte es Jill überrascht, wie sehr sie Constantine Presso vermißte, der ein zurückhaltender Mann war – nach Festungsmaßstäben jedenfalls. Mehr als ein Jahr hatte sie unter ihm gedient, und er hatte sich ihr gegenüber stets tadellos benommen und ihre mangelnde Bereitschaft, an den endlosen Festivitäten teilzunehmen, durchaus respektiert. Nun, da Presso versetzt worden war und der einsilbige Miklos Barmine
das Kommando hatte, konnte es für sie nur noch schlimmer werden. Sie schob ihre schwarzen Gedanken beiseite und wandte ihre Aufmerksamkeit der vor ihr liegenden Arbeit zu. Barmines Strafe für ihre Weigerung, ihn in ihr Bett zu lassen, war Arbeit, Arbeit, Arbeit – dieser Narr merkte nicht mal ansatzweise, daß seine Strafe für sie eher eine Belohnung darstellte. Und nun gab es also zum vierten Mal innerhalb von nicht einmal zwei Wochen eine Schlägerei in der Schänke zum Überfallenen Wandersmann, die ihrem Namen augenscheinlich alle Ehre machte. Was dieses »andere« anging, das Barmine angedeutet hatte, so konnte sich Jill nichts darunter vorstellen. Was sollte es auch schon Großartiges sein? Sie zuckte mit den Achseln. Immerhin gab es wieder einmal etwas anderes zu tun, als Wache zu schieben. Sie suchte sich aus den Freiwilligen diejenigen aus, die am wenigsten verkatert waren, und dann ging es in doppelter Marschgeschwindigkeit den Feldweg hinab. Am späten Nachmittag waren sie in Tinson angelangt. Der Dorfplatz lag ruhig und verlassen da – wie anscheinend immer, denn bei den ersten drei Einsätzen hatte Jill nicht einmal ein Kind zu Gesicht bekommen. Die meisten Einwohner von Tinson lagen tagsüber im Bett, um ihren Geschäften im Schutze der Nacht nachgehen zu können. Eine donnernde Stimme lenkte Jills Aufmerksamkeit auf den Überfallenen Wandersmann, und obwohl sie eine Wand von dem Sprecher trennte, verstand sie jedes Wort. »Wir müssen vorbereitet sein!« bellte er. »Oh, Unheil, wie sehr hast du schon Fuß gefaßt! Was sind wir für Narren, daß wir schlafen, wenn die Finsternis erwacht!« Der Wachtrupp betrat die Schänke durch die Vordertür, wodurch sich die Anzahl der Gäste verdoppelte. Ein Mann fiel Jill sofort auf, ein fetter Riese, der oben auf einem Tisch stand und mit einem leeren Krug herumfuchtelte, wodurch er sich
zum Teil die anderen Gäste vom Leib hielt, die ihn sichtlich gern von seinem Podest gestoßen hätten. Jill befahl ihren Leuten auszuschwärmen und trat dann an den Tresen, um den Inhaber zu befragen. »Der irre Mönch«, erklärte der Wirt. »War gestern den ganzen Abend hier – und nun schon wieder. Hat Geld wie Heu, der Kerl, glaubt’s mir! Soll draußen irgendwelche Edelsteine verschachert haben, und obwohl er dabei tüchtig übers Ohr gehauen wurde, hat er die Taschen jetzt voller Gold.« Jill besah sich den fetten Mönch genauer. Er trug die dicke braune Kutte der Abellikaner, aber sie war alt und verschlissen und an vielen Stellen geflickt, als ob er seit langer Zeit auf Wanderschaft wäre. Sein schwarzer Bart war dicht und buschig, und er war groß, sechseinhalb Fuß bestimmt, und mußte an die dreihundert Pfund wiegen. Er hatte breite Schultern und wirkte grobknochig, aber Jill kam es so vor, als habe er sich das hauptsächlich auf die Bauchgegend beschränkte Fettpolster erst kürzlich zugelegt. Was Jill am meisten beeindruckte, war seine beinahe schon fiebrige Ausstrahlung; seine braunen Augen sprühten von einer Lebendigkeit, wie sie sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. »Frömmigkeit, Würde, Armut!« bellte er und schnaubte abfällig. »Ho, ho, hoppla!« Jill erkannte die Litanei. Frömmigkeit, Würde, Armut – genau das hatte der Abt Dobrinion Calislas an dem unseligen Tage ihrer Hochzeit vor sich hin gemurmelt. »Hah!« bellte der Riese. »Wie fromm ist ein Hurenbock? Wie würdevoll ein Mordbrenner? Und Armut, welche Armut denn? Blattgold und Juwelen – ach, die Juwelen!« »Immer die gleiche Leier«, sagte der Wirt trocken; dann rief er den Wachen zu: »Holt ihr ihn jetzt da runter?«
Jill überlegte, ob sie nicht besser versuchen sollten, den Mönch zu beschwichtigen. Vor allem seine Bemerkung über Hurenböcke hatte für mehr als nur ein paar böse Widerworte gesorgt, und es stand zu befürchten, daß die Situation leicht in eine allgemeine Schlägerei ausarten konnte. Doch so lax, wie es bei der Küstenwache zuging, konnte sie ihre Leute kaum aufhalten, zumal sie die ausdrückliche Erlaubnis des Wirtes hatten. Sie war schon zu dem Tisch unterwegs, um wenigstens einen Versuch zur Entspannung der Lage zu unternehmen, da sagte der Wirt so leise, daß es außer ihr niemand mitbekam: »Und paßt auf, der Kerl versteht sich ein bißchen aufs Zaubern.« »Verdammt«, murmelte Jill und blieb stehen. Gofflaw und ein zweiter Soldat streckten schon die Hände nach dem Mönch aus. »Hah, Zeit zum Üben!« brüllte der fette Kerl glücklich und packte Gofflaw beim Handgelenk, um ihn zu dessen grenzenloser Verblüffung hoch in die Luft zu heben. Ehe der Soldat sich’s versah, wurde er schon zweimal um den Kopf des Mönchs herumgewirbelt und flog quer durch den Raum. Ein dritter Soldat zog sein Schwert und schlug ein Bein des Tisches entzwei, so daß der Mönch auf den unseligen zweiten Soldaten niederging, der ihn hatte ergreifen wollen. Auf dem Boden angelangt, rollte sich der Mönch mit für seinen Körperbau überraschender Wendigkeit ab und stand prompt wieder auf den Füßen, um dann, aus vollen Lungen brüllend, die beiden am nächsten Stehenden niederzuwalzen, der eine ein Soldat, der andere ein Städter. Der Kampf war eröffnet. Jill wollte ihren Augen kaum trauen. Der Mönch rannte hin und her, rannte jeden über den Haufen, der ihm in die Quere kam, und die ganze Zeit über lachte er wie ein Wahnsinniger, selbst dann, wenn er einen ordentlichen Schlag ins Gesicht
oder in den Nacken bekam. »Nehmt euch in acht!« brüllte er immer wieder und irgend etwas über Flügel und einen Dämon. Eine Weile sah Jill ihm nur beeindruckt zu. Der Mann hatte offensichtlich den Verstand verloren oder tat jedenfalls so als ob, aber für sie, die seit anderthalb Jahren der Küstenwache diente, gab es an einem Ruf nach Wachsamkeit und Rechtschaffenheit nichts auszusetzen. Die Soldaten umzingelten den Mönch, und einer forderte ihn mit gezücktem Schwert auf, sich zu ergeben. Plötzlich gab es einen Knall und einen blauen Blitz, und die Soldaten flogen durch die Luft, mit abstehenden Haaren. Der Mönch lachte lauthals. Und war nicht mehr zu bremsen. Er packte eine erschrockene Frau bei den Schultern. »Mach doch für sie nicht die Beine breit!« rief er eindringlich, und Jill hatte den Eindruck, daß in seiner Bitte etwas von seiner eigenen Geschichte mitschwang. »Ich flehe dich an, tu das nicht, denn damit mehrst du die Finsternis, verstehst du? Damit dienst du dem Geflügelten!« Ein Soldat sprang den Mönch von hinten an, und er war gezwungen, die Frau loszulassen. Aber er brüllte nur und schüttelte den Mann ab; dann lief er erneut los. Jill stellte sich ihm in den Weg. Er erkannte sie als Frau und wurde langsamer. Jill hechtete ihm vor die Füße, rollte herum und trat ihm die Beine weg, daß er der Länge nach hinschlug. Prompt sprangen ihm fünf Soldaten ins Kreuz und drückten ihn nieder. Irgendwie schaffte es der dicke Mönch, wieder auf die Beine zu kommen, aber da waren schon weitere Soldaten und Städter herbeigeeilt, und schließlich bekamen sie ihn in den Griff. Sie schoben ihn zur Tür und warfen ihn unsanft hinaus. Jill sah, daß Gofflaw sein Schwert zog und ihm folgen wollte. »Laß ihn ziehen!« befahl sie.
Gofflaw bleckte die Zähne, steckte das Schwert aber vor Jills unnachgiebigen Augen in die Scheide zurück. »Wenn du dich hier noch einmal blicken läßt«, brüllte einer der Soldaten, »dann bekommst du mein Schwert zu spüren!« »Lausche du besser den Worten der Wahrheit!« brüllte der irre Mönch zurück. »Gib besser acht auf das, was ich bin, als auf die Schmähungen, mit denen ihr mich bedenkt. Der Hund der bösen Omen bin ich, der Bote der Verheerung!« »Ein Säufer bist du«, rief der Soldat. Der fette Mönch murmelte etwas Unverständliches und wandte sich mit einer abfälligen Handbewegung ab. »Ihr werdet ja sehen«, versprach er grimmig. »Ihr werdet ja sehen.« Jill wandte sich zu dem Wirt um, der den Kopf schüttelte. »Der Kerl ist gemeingefährlich«, sagte er. Jill nickte, aber eigentlich war sie sich da nicht so sicher. Der dicke Mönch hatte keinerlei Anstalten gemacht, ernsthaft anzugreifen. Er hatte ordentlich ausgeteilt und Gofflaw quer durch den Raum geworfen, aber niemanden ernstlich verletzt. Was Jill betraf, so konnten Gofflaw ein, zwei Flüge durch den Raum nur guttun. Sie trat an die Tür und sah dem Mönch nach, wie er die schlammige Straße hinunterstapfte und etwas von den »Sünden der Menschheit« brüllte und wie erbärmlich schlecht sie vorbereitet sei. Einige Dutzend Meter von der Schänke entfernt wirbelte er herum und steigerte sich in eine Hetzrede über die bevorstehenden schwarzen Tage hinein, die über eine Welt kommen würden, die es versäumt habe, sich auf einen Kampf gegen die Mächte des Bösen vorzubereiten, gegen eine Finsternis, die sich von der Fäulnis nähre, die in den Herzen der Menschen wuchere. »Was für ein Spinner«, sagte einer der Soldaten. »Der irre Mönch eben«, erwiderte der Schankwirt. Jill war sich da nicht so sicher. Ganz und gar nicht.
3. Bruder Richter
Meister Jojonah sah von einem unauffälligen Balkon in den großen Saal hinab, der bis auf einige Rollen Übungstakelwerk an der gegenüberliegenden Wand leer war. Der gedrungene junge Mann stand in der Raummitte, das Gesicht ganz eingefallen vor Übermüdung. Er hatte nicht mehr als ein Lendentuch am Leib und stand in Abwehrhaltung da, die Schultern gebeugt und die Arme schützend vor den Bauch gelegt. Selbst sein Kopf war nackt, denn der ehrwürdige Vater hatte ihn scheren lassen. In dem vergeblichen Versuch, daraus Kraft zu schöpfen, murmelte er immer wieder dasselbe Gebet vor sich hin, und Meister De’Unnero, Sihertons Nachfolger, schritt langsam um ihn herum und versetzte ihm dann und wann einen Gertenhieb. Hinter Quintall stand ein Zehnjähriger. »Du bist schwach und zu nichts nütze!« schrie De’Unnero und schlug Quintall über die Schulterblätter. »Ein Verräter obendrein!« Quintalls Lippen formten das Wort »Nein«, aber er brachte keinen Ton hervor, sondern konnte nur jämmerlich den Kopf schütteln. »O doch!« bellte De’Unnero und schlug ihn erneut. Meister Jojonah konnte den Anblick kaum ertragen. Mit Quintalls »Umerziehung« war begonnen worden, nachdem der sichtlich gealterte Abt eine Vision von Avelyns Überleben gehabt hatte, und das war mehr als einen Monat her. Avelyn! Allein schon beim Gedanken an den jungen Bruder bekam Jojonah eine Gänsehaut. Avelyn hatte Siherton umgebracht – der Leichnam beziehungsweise das, was von ihm übrig war, war erst letztens angetrieben worden, im
Spätfrühling, beinahe ein Jahr nach der Tragödie. Und was viel schlimmer war: Wenn die Vision des ehrwürdigen Vaters zutraf, dann hatte Avelyn überlebt und eine nicht unbedeutende Anzahl von Himmelsjuwelen gestohlen. Jojonah schloß die Augen und rief sich all die Male ins Gedächtnis zurück, da ihn Siherton vor Avelyns nahezu unmenschlicher Hingabe gewarnt hatte. Avelyn würde für Ärger sorgen, hatte Siherton prophezeit, und seine Worte hatten sich als wahr erwiesen. Doch warum? Was hatte diesen Ärger ausgelöst, Avelyns Fehlbarkeit oder die Tatsache, daß er in einem Orden der Entartung nicht hatte fehlgehen wollen? Jawohl, Bruder Avelyn Desbris hatte für Ärger gesorgt; er war ein dunkler Spiegel, in den zu schauen die Meister von St. Mere-Abelle nicht hatten ertragen können. Aus welchem Blickwinkel es Jojonah auch betrachtete, Avelyn war gewesen, was ein Mönch zu sein hatte, der Ehrlichste unter den Ehrlichen, und so hatte er sich mit der zunehmenden Scheinheiligkeit hinter den Klostermauern nicht abfinden können. Daß ein Orden durch die Frömmigkeit eines jungen Mönches in Schwierigkeiten geraten konnte, war etwas, mit dem Meister Jojonah nicht zu Rande kam. Aber er war zu erschöpft, zu sehr vereinnahmt von der Trauer um Siherton und Avelyn – und sich selbst –, um auch nur den Versuch unternehmen zu können, im Kloster für Frieden zu sorgen. Der ehrwürdige Vater war beinahe fanatisch in seinem Begehren, Avelyn und vor allem die heiligen Steine zurückzubekommen, und das Wort eines Abtes war unantastbar. Das Peitschen der Gerte riß Jojonah aus seinen Grübeleien. Für den groben Quintall hatte er nie viel übrig gehabt, dennoch tat ihm der Mann nun leid. Die Behandlung reichte von Schlafentzug bis zu langen Hungerperioden. Stück für Stück würden Quintalls körperliche wie geistige Qualitäten aus ihm
herausgerissen und dann unter der lenkenden, eisernen Hand der behandelnden Meister wieder eingefügt werden. Der Mann würde zu einem Instrument der Zerstörung umfunktioniert werden, zu einem Mordinstrument. Jeder Gedanke Quintalls würde sich um Avelyns Tod drehen, Avelyn Desbris würde der Inbegriff allen Übels sein, die schlimmste aller Bedrohungen ihres Ordens. Jojonah erschauderte. Er trat vom Balkon zurück und versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn Quintall Avelyn schließlich fand.
Die Höhle sah aus wie die riesenhafte Karikatur eines königlichen Thronsaals. An der Mitte der hinteren Wand führten drei Stufen ein gewaltiges Podest hinauf, auf dem ein Obsidianthron stand, auf dem zwei große Männer hätten sitzen können, ohne einander zu berühren. Zwei Reihen massiver Kriegerstandbilder, ebenfalls aus Obsidian, säumten den Raum. Sie waren auf eine feine, doch irgendwie unharmonische Art marmoriert, die an Muskelfasern erinnerte. Wände und Boden zeigten das matte Grau, aus dem der ganze Aida-Berg bestand, und das einzige Paar Torflügel war aus Bronze gefertigt. Es brannten keine Fackeln dort unten, das Licht kam von beiden Seiten des Podests, wo ein nicht enden wollender Lavastrom aus der Wand trat und durch Löcher im Boden wieder verschwand, um durch Aidas Bauch und seine langen schwarzen Arme hinauszufließen und den wilden Barbakan allmählich zu verschlingen. In diesem schier unermeßlichen Raum wirkten die beiden Pauri-Häuptlinge Ubba Banrock und Ulg Tik’narn von den fernen Julianthen und der Goblinkönig Gothra wahrlich winzig. Selbst Maiyer Dek, immerhin ein Bergriese, kam sich klein und unbedeutend vor. Er beäugte die Standbilder, als
wollten sie im nächsten Moment zum Leben erwachen und herangestampft kommen, um auf ihn hinabzusehen. Und Maiyer Dek, der mit seinen sechzehn Fuß zu den größten seines Volkes zählte, war es nicht gewohnt, daß man auf ihn hinabsah. Doch selbst wenn ihn alle zwanzig Standbilder umzingelt hätten, wäre dies kein imposanterer Anblick gewesen, als ihn derjenige bot, der auf dem Thron saß. Alle vier Gäste des Geflügelten spürten seine Macht bis ins Mark. Alle vier zählten sie zu den Mächtigsten ihres jeweiligen Volkes und führten Armeen an, die im Falle des Riesen in die Hunderte gingen, im Falle der beiden Pauris in die Tausende und im Falle des Goblins in die Zehntausende. Sie waren Koronas Finsternis, die Leidensbringer, und doch nahmen sie sich vor dem großen Geflügelten erbärmlich aus, waren kaum mehr als vier Schatten in finsterster Nacht. Goblins und Riesen gingen oft vereint vor, aber beide Völker haßten die Pauris traditionellerweise fast ebenso inbrünstig, wie sie die Menschen haßten. Nur dann nicht, wenn der Geflügelte erwacht war. Nur dann nicht, wenn die dunkleren Mächte sie auf ein gemeinsames Ziel verpflichteten. Wenn der Geflügelte auf seinem Obsidianthron saß, gab es keine Machtkämpfe zwischen den Führern der sterblichen Völker. »Nicht vier Armeen sind wir«, donnerte der Geflügelte unvermittelt, und Gothra wäre von der schieren Kraft dieser volltönenden Stimme beinahe hintenüber gefallen. »Auch nicht drei, falls die Pauris sich entschließen, ihre Truppen zu vereinen. Eine Armee sind wir, eine Macht und ein Wille!« Der Dämon sprang von seinem Thron und warf ihnen etwas vor die Füße, ein Abzeichen aus grauem Stoff, in das der schwarze Umriß des Geflügelten gestickt war. »Nun geht und macht euch an die Arbeit.«
Maiyer Dek hatte als erster einen Blick auf das Abzeichen geworfen. »Meine Krieger sind keine Stickerinnen«, begann der Führer der Bergriesen, aber kaum waren diese Worte über seine Lippen gedrungen, da stand der Dämon schon drohend über ihm und schien sogar noch zu wachsen. Mit einem wilden Grollen ließ er seine Hand hervorschießen und verpaßte dem Riesen eine Ohrfeige, die ihn zu Boden schleuderte. Dann ging der Geflügelte zu einem hinterhältigeren Angriff über, einem geistigen Bombardement mit Bildern von Qual und Tod, und Maiyer Dek, der stolze und wackere Anführer, der stärkste Sterbliche im ganzen Barbakan, wand sich auf dem Boden und winselte jämmerlich um Gnade. »Ein solches Symbol wird jeder Soldat meiner Armee tragen«, verkündete der Geflügelte. »Jeder meiner Soldaten! Und du«, sagte die Bestie zu Maiyer Dek und stellte ihn mit einer Hand wieder auf die Füße, »wirst mir zwei Dutzend deiner besten Krieger als Leibwache zur Verfügung stellen.« So verliefen diese Besprechungen jedesmal. Seit einigen Jahren nun war der Geflügelte erwacht und hatte sich an jedem dahingemordeten Menschen in den Wilderlanden ergötzt, hatte jede Blutlache geschmeckt, in die ein Pauri seine berüchtigte Kappe tauchte, und jedem Gurgeln gelauscht, mit dem ein aufgebrachtes Schiff in den Tiefen des gnadenlosen Mirianiks versank. Die Finsternis war gekommen, die Menschheit war schwächer denn je. Nun galt es, die Mächte des Bösen zu vereinen zum letzten Gefecht. Terranen Dinoniel war Staub, war Wurmkot in der Erde. Diesmal würde der Geflügelte den Sieg davontragen. Die zwei Dutzend von Maiyer Dek gestellten Riesen steckte er in schwere eiserne Rüstungen, die er eigenhändig in den Lavaströmen des Thronsaals geschmiedet hatte. Und seinen vier Anführern machte der Dämon sogar noch edlere Schutzkleidung: stachelbewehrte magische Armpanzer, die
ihren Träger vor jeder Hieb- und Stichwaffe schützten. Keines der drei bösen Völker stand in dem Ruf, besonders loyal oder ehrbar zu sein, doch dank dieser Armpanzer konnte der Geflügelte sichergehen, daß seine vier auserwählten Generäle die absehbaren Intrigen ihrer Untergebenen auch überlebten. Und an Untergebenen herrschte wahrlich kein Mangel. Draußen vor der Höhle, auf den baumbewachsenen Hängen des Aida-Berges, lungerten Tausende von Goblins, Pauris und Riesen in ihren jeweiligen Feldlagern herum und sahen immer wieder verstohlen zu dem klaffenden Loch in der Südflanke des Berges hinauf, zu dem Tor zur Höhle des Dämons. Alle drei Lager befanden sich zwischen den jüngsten »Armen« Aidas, die tiefschwarz waren, wo die Lava bereits abkühlte, und glühend rot, wo noch frisches Gestein aus den Eingeweiden des Berges nachsickerte. Die Arme griffen nach Südwesten und Südosten, ganz wie der Geflügelte es tat. Innerhalb dieser schwarzen Ketten wuchs kein Baum, kein Strauch; alles Leben war verkümmert in der Finsternis und verbrannt in den Flammen, lag begraben unter der abkühlenden Lava. Selbst in der Mitte zwischen den beiden Armen war die Resthitze noch zu spüren; dort flirrte die Luft vor Machtversprechungen, und sämtlichen Kriegern juckte es in den Fingern, zu brennen und zu morden. Für den Geflügelten.
»Wie lautet dein Name?« »Quintall.« Der Mann ächzte, als ihm die Peitsche einen Streifen Haut vom Rücken zog. »Dein Name?« »Quintall!« Wieder die Peitsche.
»Du bist nicht Quintall!« brüllte De’Unnero ihm ins Gesicht. »Wie lautet dein Name?« »Quin – « Er hatte das Wort noch nicht ausgesprochen, da brachte ihn die von dem Zehnjährigen fachmännisch geführte Peitsche bereits zum Schweigen. Oben auf dem Balkon, den weder der Gepeinigte noch seine beiden Peiniger einsehen konnten, seufzte Meister Jojonah und schüttelte den Kopf. Dieser Mann war hart im Nehmen; er würde eher sterben, als seine Identität aufzugeben. »Keine Sorge«, erklang die Stimme des ehrwürdigen Vaters hinter ihm. »Die Abhandlungen lügen nicht. Diese Technik hat sich bewährt.« Das bezweifelte Jojonah auch gar nicht – er fragte sich nur, warum in Gottes Namen eine solche Technik überhaupt entwickelt worden war! »Verzweiflung gebiert finstere Taten«, sagte der Abt und trat neben Jojonah. Wieder knallte die Peitsche. »Ich finde dies ebenso unerfreulich wie Ihr, doch was bleibt uns übrig? Meister Sihertons Tod hat unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Wir wissen, zu welchen Schandtaten Avelyn fähig ist und daß er eine beachtliche Menge magischer Steine bei sich hat. Sollen wir ihn, obwohl das Wohlergehen oder gar die Existenz unseres Ordens auf dem Spiel steht, einfach frei herumlaufen lassen?« »Selbstverständlich nicht, ehrwürdiger Vater.« »Kein Klosterbruder kennt Avelyn Desbris besser als Quintall«, fuhr der Abt fort. »Er ist genau der Richtige.« Für eine Hinrichtung, dachte Jojonah. »Für die Rückführung dessen, was rechtmäßig uns gehört«, sagte der Abt so passend, daß Jojonah herumfuhr und sich fragte, ob Markwart irgendeinen Zauber anwandte, um seine Gedanken lesen zu können.
»Quintall wird als Verlängerung des Arms der Kirche dienen, als Werkzeug unserer Gerichtsbarkeit«, sagte Markwart grimmig. Nie zuvor hatte seine brüchige Stimme so entschlossen geklungen. Jojonah hatte durchaus Verständnis für seine Verzweiflung, nur waren Avelyns Untaten und seine anschließende Flucht nicht aus heiterem Himmel gekommen. Ebensowenig stellten die gestohlenen Juwelen eine ernstzunehmende Gefahr für den Abellikaner-Orden dar; Jojonah wußte genau, daß regelmäßig mindestens die doppelte Menge frei versteigert wurde und in die Hände von Kaufleuten und Adelsherren kam. Dagegen nahm sich Avelyns Beute doch recht kümmerlich aus. Der einzige Stein, der wirklich Anlaß zur Besorgnis gab, war der riesige Amethyst, und das auch nur, weil seine Wirkkraft noch nicht enträtselt worden war. Wie man es auch wendete, der närrische Avelyn stellte weder für das Kloster noch für den Orden eine ernsthafte Gefahr dar. Aber darum ging es auch gar nicht; Markwarts Verzweiflung hatte einen anderen Grund. Der Abt würde bald tot sein, dahingerafft vom größten aller Feinde: der Zeit. Und auf seine Amtszeit sollte kein Schatten fallen – und sei es auch nur der Schatten eines abtrünnigen Mönchs. »Bald schon werden wir ihn auf Avelyns Fährte setzen«, erklärte der Abt. »Es sei denn, er hält weiterhin stand«, erkühnte sich Jojonah zu erwidern. Markwart gab ein heiseres Lachen von sich. »Die Techniken der eifrigen jungen Meister sind bewährt: Schlafentzug und Hunger, Belohnung und Strafe. Quintalls Vorstellungen von Recht und Unrecht, von Pflicht und Gehorsam wurden systematisch durch die zusammen mit den Belohnungen erhaltenen Dogmen ersetzt. Sein ganzes Leben ist auf einen einzigen Zweck reduziert. Bedauert ihn, bedauert vor allem aber Avelyn Desbris.« Damit verabschiedete sich Markwart.
Jojonah sah ihm nach, und die kalte Ausstrahlung des Abtes ließ ihn frösteln. Dann lenkte ein weiterer Peitschenhieb seine Aufmerksamkeit wieder in den Saal. »Wie lautet dein Name?« donnerte De’Unnero. »Quin…« Der Mann zögerte. Selbst Meister Jojonah hoch oben auf seinem Balkon bemerkte, daß sie vor einem Durchbruch standen. De’Unnero, der schon zum nächsten Peitschenhieb ausgeholt hatte, hielt inne. Ihm mußte eine Veränderung bei seinem Opfer aufgefallen sein, ein befremdlicher Glanz der Augen vielleicht. Jojonah beugte sich über das Geländer und spitzte die Ohren. »Bruder Richter«, flüsterte der geschundene Mönch. Meister Jojonah zog sich zurück. Ob er die Art und Zielsetzung von Quintalls Behandlung nun guthieß oder nicht, er mußte zugeben, daß sie Früchte trug.
4. Bradwarden
»Ist es Angst, die sie antreibt? Ist es Neid? Oder ist es eine erhabenere Regung, eine innere Stimme, die ihnen sagt, daß sie und ich nicht von gleicher Art sind? Von meinen Tagen bei den Touel’alfar ahnen sie selbstverständlich nichts, aber sie wissen ebensogut wie ich, daß wir die Welt mit unterschiedlichen Augen sehen.« Eibryan ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und überdachte seine Worte. Er legte die Fingerspitzen aufeinander und hob die Hände vors Gesicht; dabei ließ er den Blick vom Spiegel weggleiten. Als er wieder hineinsah, war der Schemen von Onkel Mather nicht verschwunden, sondern stand ruhig und geduldig in den Tiefen des Spiegels. »Belli’mar Juraviel hat mich gewarnt, daß es so werden würde«, fuhr Eibryan fort. »Und tatsächlich scheint es absolut folgerichtig. In den Wilderlanden sind die Leute gezwungen, wie Pech und Schwefel zusammenzuhalten. Ihre Angst isoliert sie und nimmt ihnen oft die Möglichkeit, Freund von Feind zu unterscheiden. So ist es auch bei mir, wann immer ich in die Heulende Sheila gehe. Sie begreifen mich nicht – meine Art zu leben, mein Wissen, vor allem aber meine Pflicht –, also fürchten sie mich. Ja, Onkel Mather, es muß Furcht sein, denn was besitze ich, das die Dundalier mir neiden sollten? Nach ihren Maßstäben bin ich arm wie eine Kirchenmaus.« Der junge Mann lachte auf und fuhr sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. »Ihre Maßstäbe«, murmelte er erneut und konnte nicht anders, als Mitleid für die Einwohner von Dundalis, Weedy Meadow und Weltenend zu empfinden, die
auf ewig in ihren Hütten festsaßen. Es war nur zu wahr, daß sie Annehmlichkeiten genossen, die Eibryan verwehrt blieben: weiche Betten, feste Waschplätze, wohlgefüllte Speisekammern. Aber der Hüter besaß zwei Dinge, die nach seiner Denkart weit höher einzuschätzen waren, zwei Dinge, die er für sämtliche Schatzkammern sämtlicher Könige von Korona nicht hergeben würde. »Meine Freiheit und meine Pflicht, Onkel Mather«, sagte er nachdrücklich. »Ich errichte keine Mauern um irgendwelche Besitztümer, denn diese Mauern sperren nicht nur aus, sondern auch ein. Und letztlich ist es ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, das Glück und Erfüllung schenkt, und nicht der durch Arbeit erzielte Wohlstand. Darum mache ich meine Wachgänge. Und darum nehme ich die spitzen Bemerkungen und offenen Beleidigungen hin. Ich finde Trost in meinem Tun, in der Gewißheit, etwas Sinnvolles zu tun, denn ich weiß mehr als jeder andere, welche Konsequenzen es hätte, nachlässig zu sein.« Aber ich bin einsam, dachte der junge Mann im stillen, denn diese Wahrheit laut einzugestehen war er noch nicht bereit. Eine ganze Weile saß er nur da, dann wollte er aufstehen und legte seine Hände auf die Armlehnen des Stuhls. Er spürte ein sanftes, kaum merkliches Vibrieren. Musik? Es mußte sich um Musik handeln, auch wenn sie zu leise war, um sie tatsächlich hören zu können. Er spürte sie in seinen Knochen, einen sanften, sachten Klang, süß wie eine Elfenharfe, wohlklingend wie die Stimme von Lady Dasslerond. Er sah in den Spiegel. Dort, in den Tiefen, war alles ruhig. Also eilte er aus seiner Höhle, da er annahm, daß die Musik draußen lauter sein würde. Sie war es nicht. In welche Richtung er sich auch drehte, sie blieb an den Grenzen seiner Wahrnehmung. Aber sie war da. Irgend etwas war da.
Und Onkel Mather wollte, daß er es fand. An diesem Tag hatte Eibryan vorgehabt, nach Weedy Meadow zu wandern und dann der untergehenden Sonne nach Westen zu folgen, um Weltenend herum. Daran war nun nicht mehr zu denken; dafür war diese leise Musik, auch wenn sie keine Bedrohung darzustellen schien, viel zu faszinierend. Vielleicht waren ja die Elfen zu ihm unterwegs. Andererseits wollte ihn der Gedanke nicht loslassen, daß er diese Melodie kannte, daß er sie schon viel früher einmal gehört hatte. Den gut Teil des Vormittags verbrachte der Hüter damit, die Richtung ausfindig zu machen, aus der die leisen Noten kamen. Er wandte alles an, was er gelernt hatte, sämtliche Techniken. Nacheinander konzentrierte er jeden seiner Sinne auf jede Richtung, jede Pflanze und jedes Tier, um einen Hinweis auf die Quelle zu bekommen. Schließlich stieß er auf eine Fährte. Es mußte sich um ein einzelnes, großes Pferd handeln, das unbeschlagen dahintrottete. Es gab durchaus wilde Pferde in dieser Gegend. Manche mochten der Tragödie von Dundalis entkommen sein, andere hatten sich von einer der gelegentlich durchziehenden Karawanen abgesetzt, und noch andere wiederum waren in diesen Landen tiefer verwurzelt als jeder menschliche Siedler. Sie waren nicht allzu zahlreich, und sie waren mehr als scheu. Eibryan hatte sich oft an der Vorstellung ergötzt, eines zu zähmen. Aber er gelangte bald zu der Überzeugung, daß es auch diesmal nicht dazu kommen würde, denn als er der Fährte folgte, ging ihm auf, daß er zugleich dem Urheber der Musik auf der Spur war. Das Pferd mußte beritten sein. Diese Überlegung ließ ihn nicht langsamer, sondern nur noch schneller werden. Jemand war in sein Gebiet eingedrungen, ein Fremder, denn die Siedler pflegten ihre Pferde zu beschlagen.
Eibryan eilte einen bewaldeten Hang hinab, der ihn in ein enges Tal und zu einem rauschenden Fluß führte. Er hatte einige Schwierigkeiten, ans andere Ufer zu gelangen, fand die Fährte drüben jedoch rasch wieder, denn der Reiter kümmerte sich offensichtlich überhaupt nicht um eventuelle Verfolger. Allmählich holte Eibryan ihn ein. Bald konnte er einzelne Noten ausmachen – die einem Blasinstrument entströmten. Wieder durchstöberte er sein Gedächtnis, da er sich sicher war, diese merkwürdigen, betörenden Klänge schon einmal gehört zu haben. Dann fiel ihm ein, um welches Instrument es sich handelte. Zu seinem zehnten Geburtstag hatte ein Krämer darauf gespielt, auf einem seltsamen Ding, das aus einem ledernen Sack und einer Reihe Pfeifen bestanden hatte – als Dudelsack hatte der Krämer es bezeichnet. Hügelauf, hügelab folgte der Hüter den Klängen. Dann brachen sie unvermittelt ab, und er blieb stehen. Er spähte um einen Baum herum. Weiter oben stand inmitten eines Birkendickichts ein Riese von einem Mann. Er hatte schwarzes, buschiges Haar und einen dichten Bart. Scheinbar war er nackt, und er war stark und breitschultrig. Unter dem einen Arm hatte er schlaff den Dudelsack hängen, nun, da sein Lied zu Ende war. »Und, Hüter? Gefällt dir, wie ich meine Pfeifen fülle?« fragte er, ein breites Lächeln im Gesicht. Eibryan duckte sich tiefer. Er wollte nicht wahrhaben, daß dieser Mann ihn bemerkt hatte, geschweige denn seinen Titel kannte! »Hast lange gebraucht, um mich zu finden«, wieherte der Mann. »Ohne mein Spiel würdest du jetzt noch suchen!« »Und wer bist du?« rief der Hüter. »Bradwarden der Bläser«, antwortete der Mann stolz. »Bradwarden der Waldläufer. Bradwarden der Kiefernfreund. Bradwarden der Pferdeflüsterer. Bradwarden der…«
Er hielt inne, als Eibryan hinter dem Baum hervortrat. Der Hüter nahm zu Recht an, daß diese Vorstellung noch um einiges länger dauern konnte. »Ich werde Nachtvogel genannt«, sagte er, obwohl er den Eindruck hatte, daß sein Gegenüber das längst wußte. Der Riese nickte, immer noch schmunzelnd. »Eibryan Wyndon«, fügte er hinzu, und Eibryan, der zuerst nickte, konnte ihn nur verdutzt anstarren. Mit Ausnahme von Belster O’Comely kannte man ihn in ganz Dundalis nur unter seinem Elfennamen. »Vielleicht haben die Tiere es mir erzählt«, sagte Bradwarden. »Ich bin schlauer, als ich aussehe, da mach dir mal nichts vor, und älter, als du denken würdest. Vielleicht waren’s die Tiere, vielleicht die Pflanzen.« Bradwarden zwinkerte ihm so übertrieben zu, daß Eibryan es sogar vom Fuße des Hügels aus sah. »Vielleicht auch dein Onkel.« Eibryan schossen so viele Fragen gleichzeitig durch den Kopf, daß er nicht eine einzige stellen konnte. Vorsichtig, doch ohne Angst erklomm er den Hügel, wobei er seine Schritte so tastend setzte, als erwartete er, daß der Erdboden jeden Moment unter ihm nachgeben würde. »Du hättest die drei besser totgemacht«, fuhr der Bläser fort. Eibryan zuckte verständnislos mit den Schultern. »Paulson und seine Kumpane. Die machen nur Ärger. Hab selber schon daran gedacht, sie totzumachen, als ich in einer ihrer verfluchten Fallen eine abgenagte Pfote fand.« Eibryan wollte schon erwidern, daß er die grausamen Eisen aus der Welt geschafft hatte, doch seine Wort blieben ihm im Halse stecken. Als er um das niedrige Buschwerk herumging, erblickte er das Hinterteil eines Pferdes, sah er, daß der Mann beritten war. Als er noch einen Schritt machte, sah er, daß das nicht stimmte, daß nicht ein Pferd, sondern der Mann selbst die Hufspuren hinterlassen hatte.
Eibryan, der gegen Bergriesen und Goblins gekämpft und bei den Elfen gelebt hatte, konnte der Anblick eines Zentauren nicht völlig erschüttern. Aber er warf zahlreiche Fragen auf, viel zu viele auf einmal. Und er brachte dem armen Eibryan eine Erinnerung zurück. Er hatte Bradwardens Lied schon einmal gehört, damals auf dem Kamm über Dundalis, zusammen mit Pony. Und nun fielen ihm auch die einst so geliebten Geschichten vom Waldgeist wieder ein, der halb Mensch war und halb Pferd. »Die machen nur Ärger«, sagte Bradwarden erneut. »Und wenn ich noch ein Tier ihretwegen schreien höre, sind sie tot.« Daran hegte Eibryan keinen Zweifel. Da war etwas allzu Nüchternes am Tonfall des Zentauren, etwas Leidenschaftsloses, Nichtmenschliches. Ihm lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, als er sich vorstellte, was dieses Ungetüm, das gut und gerne achthundert Pfund wog und gerissen genug war, um ihn, den Hüter, wochenlang völlig ahnungslos zu lassen, den drei Trappern antun mochte. »Nun denn, Eibryan der Nachtvogel! Willst du dein Instrument hervorholen, auf daß wir es einmal zusammen probieren?« »Woher weißt du, wer ich bin?« wollte der Hüter wissen. »Ja, wenn wir beide Fragen stellen, wird wohl keiner eine Antwort kriegen!« »Dann beantworte du die meine.« »Hab ich doch längst. Vielleicht ha…« »Vielleicht weichst du der Frage auch nur aus.« »Ach, mein kleiner Menschenfreund«, sagte Bradwarden mit seinem entwaffnenden Lächeln, das von so hoch oben wahrlich herablassend wirkte, »du willst doch nicht ernsthaft, daß ich all meine Geheimnisse preisgebe, oder? Das würde dir doch den ganzen Spaß verderben!«
Eibryan mußte schmunzeln und beließ es dabei. Sicher hatte irgendeiner seiner Freunde Bradwarden von ihm erzählt, einer der Elfen, Juraviel wahrscheinlich. Wie auch immer, Eibryan spürte im Grunde seines Herzens, daß hier kein Feind vor ihm stand, und er hielt es für mehr als ein zufälliges Zusammentreffen, daß er sich genau an diesem Tage, zum ersten Mal seit seiner Ankunft, offen seine Einsamkeit eingestanden hatte. »Ich hab mir heute morgen ein Reh getrampelt«, sagte der Zentaur unvermittelt. »Komm, ich geb dir was ab, und du darfst dir deinen Teil sogar braten!« Damit hob Bradwarden seine Pfeifen zu einem mitreißenden Marsch und preschte mit donnernden Hufen davon. Eibryan lief, was das Zeug hielt, und nahm jede Abkürzung, die sich im dichten Unterholz ausmachen ließ um einigermaßen mithalten zu können.
Viel hatten sie nicht gemeinsam, sie waren sogar sehr verschieden. Wie Bradwarden gesagt hatte, gestattete er Eibryan, ein Feuer zu machen und sein Wildbret zu braten, während er selbst seine Portion, die nahezu ein Viertel des Rehs ausmachte, roh verschlang. »Ich hasse es, die armen Dinger töten zu müssen«, sagte der Zentaur und beendete seinen Satz mit einem schallenden Rülpser. »Sie sind so süß und gefallen einem wie mir mehr, als du dir vorstellen kannst. Aber Beeren und Früchte sind was für den hohlen Zahn. Um meinen Bauch zu füllen, braucht es Fleisch.« Er rieb sich mit der Hand über die Stelle, wo sein Menschen- in den Pferdeleib überging. »Und zwar einen ordentlichen Batzen!« Eibryan schüttelte schmunzelnd den Kopf – um so mehr, als Bradwarden erneut laut rülpste.
»Du bist die ganze Zeit hier in der Gegend gewesen?« fragte Eibryan. »Und ich habe nicht eine einzige Spur von dir gefunden.« »Da mach dir mal keine Vorwürfe«, erwiderte der Zentaur. »Ich weile länger hier, als deines Vaters Vater gelebt hat. Und was hättest du schon finden sollen? Den Abdruck eines Hufes oder einen meiner Haufen? Du hättest ihn prompt für Pferdeäpfel gehalten. Obwohl du bei genauerem Hinsehen schon bemerkt hättest, daß sich mein Speiseplan ein wenig von dem meiner Pferdefreunde unterscheidet.« »Aber warum hätte ich auch genauer hinsehen sollen?« fragte Eibryan und setzte eine säuerliche Miene auf. »Wer stochert schon gern im Dreck herum«, stimmte Bradwarden zu. Der Hüter nickte und fand es nicht mehr ganz so schlimm, die Spuren übersehen zu haben. »Und noch etwas«, fuhr Bradwarden fort. »Ich wußte, daß du kommst, aber du wußtest nichts von mir. Einen ungerechten Vorteil nenne ich so etwas, also mach dir keine Vorwürfe.« »Woher hast du es gewußt?« »Ein Vögelein hat’s mir gesungen. Eine süße kleine Lerche, die ihren Namen immer zweimal sagt.« Eibryan runzelte die Stirn, aber dann beschloß er, nicht weiter über die kryptische Bemerkung nachzudenken. So wichtig war das nicht. Er wollte gerade eine gänzlich andere Frage stellen, da fiel ihm eine gewisse Person ein, auf die diese Beschreibung zutraf. »Tuntun«, sagte er. »Aye, genau die.« Bradwarden lachte. »Sie hat gesagt, ich dürfe nicht zuviel von dir erwarten.« »Ach, hat sie«, erwiderte der Hüter trocken. »Also hab ich gesagt, daß ich ein bißchen auf dich aufpasse. Aber eigentlich kannst du ganz gut allein auf dich aufpassen.«
»Dann bist du ein Elfenfreund«, sagte Eibryan in der Hoffnung, eine Gemeinsamkeit gefunden zu haben. »›Man kennt sich‹ drückt es besser aus«, erwiderte der Zentaur. »Sie verstehen sich auf guten Wein und respektieren den Wald und die Tiere, aber sie kichern mir zuviel und legen zu großen Wert auf gutes Benehmen!« Um diesen Punkt zu unterstreichen, ließ er den lautesten Rülpser ertönen, den Eibryan je gehört hatte. »Weiß gar nicht, ob Elfen so etwas überhaupt können!« Bradwarden lachte schallend, dann hob er einen gewaltigen Lederschlauch und spritzte sich eine bernsteinfarbene Flüssigkeit – die Eibryan als Elfennebel erkannte – in den Mund, wobei ihm nicht wenig davon in den Bart troff. »Du hättest sie besser totgemacht«, sagte der Zentaur unvermittelt. Eibryan, der in Gedanken noch bei den Elfen war, runzelte die Brauen. »Die drei Männer, meine ich. Paulson, Cric und… wie heißt der dritte noch? Wiesel?« »Eichhorn.« »Genauso blöd.« Der Zentaur schnaubte. »Du hättest sie besser totgemacht, alle drei. Die haben keine Unze Respekt im Leib, sage ich, und machen nichts als Ärger.« »Warum hat Bradwarden sie dann verschont?« fragte Eibryan. »Ihrer Behausung nach zu urteilen, dürften sie sich doch schon eine Weile hier herumtreiben.« Der Zentaur nickte. »Ich habe daran gedacht«, gab er zu. »Aber sie haben mir noch keinen rechten Grund gegeben. Und keine Angst«, er hielt inne und zwinkerte verschlagen, »so gut schmeckt mir Menschenfleisch nun auch wieder nicht.« Eibryan ließ sich nicht ködern. »Dann hast du es schon gekostet?« fragte er nur.
Bradwarden rülpste erneut; dann steigerte er sich in eine endlose Rede über die Übel des Menschengeschlechts hinein. Eibryan setzte ein Lächeln auf und ließ den Zentauren reden; aber er hörte aufmerksam zu und erfuhr auf diese Weise einiges über ihn. Er gewann den Eindruck – der sich in den kommenden Wochen noch verstärken sollte –, daß der Zentaur und er gar nicht so verschiedene Ziele verfolgten. Er war ein Hüter, der über die menschlichen Grenzer, den Wald und seine Geschöpfe wachte. Bradwardens Mission schien gar nicht so viel anders zu sein, nur daß der Zentaur sich mehr um die Tiere kümmerte, vor allem um die Wildpferde; er deutete sogar an, vielen der Pferde selbst die Freiheit geschenkt zu haben, wenn ihre menschlichen Herren sie schlecht behandelt hatten. Um Menschen scherte er sich kaum. Wie er Eibryan gegenüber zugab, war ihm damals der Überfall auf Dundalis durchaus nicht entgangen, aber das schlimmste Wort, das er für das Blutbad fand, war »ein Jammer«. Es entstand eine Art vorsichtiger Freundschaft zwischen ihnen. Wann immer sie einander zufällig begegneten, tauschten sie ein Lächeln und Neuigkeiten aus. Für Eibryan erwies es sich als Wohltat, Bradwarden gefunden zu haben. Als er das nächste Mal das Orakel aufsuchte, durfte er feststellen, daß ihm seine Gefühle der Einsamkeit nicht länger in die Höhle folgten.
5. Die Warnung des fetten Propheten
Die Nachricht, daß sie bald nach Pireth Vanguard hoch oben im Norden versetzt werden sollte, vermochte Jills trübe Stimmung nicht zu heben. Nach allem, was man hörte, war das Wetter auf der anderen Seite des Golfs von Korona besser, mit frischen Winden und richtigen Jahreszeiten. In Pireth Tulme war selbst der Winter nur ein endloses kaltes Tröpfeln aus einer nicht enden wollenden grauen Wolkendecke, das sich vom Sommer nur durch die Temperatur unterschied. Aber Jill hatte sich daran gewöhnt, hatte sich dem trüben Wetter angepaßt. Ein Tag glich dem anderen, alles war endloses Wachegehen, endloser Dienst. Sekunden, Minuten und Stunden dehnten sich schier ins Unermeßliche, aber war die Woche erst einmal verstrichen, schien sie wie im Fluge vergangen zu sein. Der Zwischenfall im Überfallenen Wandersmann hatte ein gewisses Maß an Aufregung mit sich gebracht, einen Bruch in der Routine. Jill hatte den irren Mönch nicht vergessen; sie erinnerte sich an jedes seiner Worte und fand in ihnen eine tiefe Verwandtschaft. Ehre und Pflicht zählten nichts in Pireth Tulme, weder bei der Thron- noch bei der Küstenwache, weder im Bärenreich noch auf Korona insgesamt. Und nun wurde dieser Mann, den die Tragödie, die einst über das Leben der jungen Jill hereingebrochen war, nicht überrascht hätte, dieser Mann, der im Gegenteil mit ihr gerechnet und entsprechende Vorkehrungen getroffen hätte, dieser heilige Prophet als »irre« gebrandmarkt, nur weil er mit einer Begeisterung, die selbst den Orgien in Pireth Tulme abging, die Wahrheit aussprach.
Jill entfuhr jedesmal ein tiefer Seufzer, wenn sie an den Mann dachte, der sich selbst als Hund der bösen Omen bezeichnet hatte. Seine Worte, die ihr so wahr erschienen waren, geisterten noch immer wie Echos zwischen dem endlosen Gekeuche und Gestöhne umher, das aus jedem Winkel der Festung drang. Der irre Mönch hatte vor dem Untergang gewarnt. Ach, hätte er das doch nur Jahre zuvor in einem kleinen Grenzstädtchen getan! Aber hätten ihn die Leute dort für voll genommen? Sicher nicht mehr als die Soldaten von Pireth Tulme, die sich gleich nach der Rückkehr aus Tinson wieder ans Feiern gemacht hatten. Nur Jill war wachsam ohne Unterlaß, Tag für Tag, oftmals bis spät in die Nacht hinein. Sie befleckte ihre Ehre, ihre Tugend nicht, sie verweigerte sich den Verlockungen des Feierns, sie streckte vor der Hoffnungslosigkeit nicht die Waffen – denn als genau das betrachtete sie das Treiben um sich herum. Die Soldaten von Pireth Tulme ergaben sich dem Suff und der Fleischeslust, um die Leere in ihrem Innern nicht spüren zu müssen. Sie hatten ihre Herzen gewissermaßen ihren Lenden zum Opfer gebracht. Aber was sollte es, Jill nahm die spitzen Bemerkungen ihrer Kameraden hin. Besonders Kommandant Miklos Barmine tat sich hervor, der sie um so mehr zu begehren schien, je weniger sie von ihm wissen wollte. Vielleicht, so wagte sie manches Mal zu hoffen, würde es ihr in Pireth Vanguard besser ergehen; aber nur allzu rasch wurde sie dann von der finsteren Realität des Bärenreiches im Jahre des Herrn 824 wieder eingeholt. Es war – wenig überraschend – ein grauer Morgen, und Jill saß zwischen den Zinnen des Walls und ließ die Beine über den zweihundert Fuß tiefen Klippen baumeln. Die Hufeisenbucht lag unter traumartigen Nebelschwaden
verborgen. Hinter ihr wirkte die Festung nach einer Nacht des wilden Zechens stiller denn je, einer Nacht, die Jill hoch oben auf dem Turm verbracht hatte, unter dem Wurfarm des einziges Katapults in ihre Decke gehüllt. Sie richtete ihre Sinne gänzlich auf die Gegenwart aus. Da gab es nur die Felssäulen, die wie stumme Wächter in der nebelverhangenen Bucht standen, nur die Wellen weit unten, die sich endlos an den Klippen brachen, und oben das gelegentliche Blöken eines Schafes, das hinter der Festung weidete. Und das viereckige Segel, das in dem grauen Nebel auftauchte. Sie sprang auf und lehnte sich über die Brüstung. Ja, das war ein Segelschiff dort unten, und es fuhr nicht etwa in den Golf von Korona oder aus ihm hinaus, sondern hielt direkt auf die Festung zu. Jills erster Impuls war, das offensichtlich vom Kurs abgekommene Fahrzeug zu warnen. Neben der Schleuder stand eine Signaltonne, ein Faß voller flüchtiger Stoffe – seit so vielen Jahren unbenutzt, daß sie womöglich gar nicht mehr hell genug brannten –, das sich in die Luft katapultieren ließ, um die einige Dutzend Meilen landeinwärts stationierte Thronwache alarmieren zu können. Als Jill begriff, daß die Zeit nicht mehr reichte, um genügend Leute zur Bemannung der Schleuder wachzubekommen, begann sie lauthals rufend die Arme zu schwenken, um die Mannschaft des Schiffes vor den tückischen Riffen zu warnen. Entsetzt riß sie die Augen auf, als das Schiff mit dem Schwirren seiner eigenen Schleuder antwortete und dreißig Fuß unter ihr ein riesiger Stein gegen die Klippen schlug! Dies war genau die Situation, auf die die junge Soldatin sich all die Jahre vorbereitet hatte, mit der sie die ganze Zeit über gerechnet hatte. Und doch kam sie ihr nun aus irgendeinem
Grund ganz unwirklich vor. Eine Zeitlang stand Jill da wie angewurzelt. Dann fiel ihr auf, daß das Gefährt nicht allein kam; da waren noch andere Schiffe, die tief im Wasser lagen. Eines – vielleicht nicht das einzige – war bereits an Pireth Tulme vorbei in die Hufeisenbucht eingefahren, und drei flankierten das Segelschiff, zwei zur Rechten und eines zur Linken. Eine zweite Kugel kam herangesaust. Sie flog hoch über den Wall und die Festung hinweg und landete dahinter auf der grünen Wiese. Jill brüllte, was ihre Lunge hergab, und als sich hinter ihr nichts rührte, brüllte sie erneut. Der Segler war inzwischen so dicht heran, daß sie das Gewimmel an Deck sehen konnte, die kleinen Gestalten überall, die sich eifrig abmühten, ihn von den zahlreichen steinernen Wächtern in der Bucht fernzuhalten. Sie trugen rote Kappen. »Pauris«, flüsterte sie. Die Frage, wo sie das Schiff gestohlen oder gekapert haben mochten, war müßig; Jill brüllte erneut, dann sah sie zum Turm. An der Tür hätte ein zweiter Wächter stehen müssen, der zuständig war, einen Alarm ins Innere weiterzugeben. Jill schüttelte den Kopf; Enttäuschung und Verzweiflung loderten in ihr auf. Schon kam der dritte Brocken angeflogen; er krachte in den Vorderwall und nahm einige Steine mit. Jill rannte den Wall entlang zum Turm. Unten in der Bucht hatte das flache Schiff den Strand fast erreicht, auf dem bereits ein anderes lag, aus dessen offener Luke sich Dutzende von rotbemützten Zwergen auf den muschelbedeckten Sand ergossen! Jill riß gerade die schwere Tür weit auf, da kam die nächste Ladung angeflogen, und sie bestand weder aus hartem Stein noch aus brennendem Pech, sondern aus einem Schwarm Enterhaken.
»Verdammt!« fauchte sie, als sich etliche Haken an den Zinnen verkeilten. Dann brüllte sie in den Turm hinein: »Alles auf die Wälle, Pauri-Alarm!« Sie rannte zurück, riß fluchend das Schwert heraus. Eiskalt überrumpeln hatten sie sich lassen! Sie war bereits wieder am Vorderwall, da war die Turmtür noch immer leer. Wahrscheinlich hielt die Hälfte der Soldaten den Alarm für Humbug oder kapierte im Suff nicht, um was es überhaupt ging, und die andere Hälfte konnte ihre verdammten Waffen nicht finden! Die Seile zwischen Schiff und Wall waren fest gespannt, und wie Perlen waren daran Zwerge aufgereiht, zogen sich mit überraschender Kraft kopfüber hängend empor. Zunächst versuchte Jill, den erstbesten Enterhaken zu lösen, doch das war bei dem Gewicht, das er hielt, schlicht unmöglich. Also hackte sie auf das Seil ein, so fest sie konnte, und nahm sich so wenig Zeit zum Zielen, daß sie klirrend eine Scharte in die Klinge schlug. Die Seile waren dick und stark, und so lag es auf der Hand, daß sie sie nicht alle würde durchtrennen können, bevor die teuflischen Zwerge den Wall erklommen hatten, sondern bestenfalls ein oder zwei. »Beeilung!« brüllte sie in Richtung der offenstehenden Tür. Endlich kam Miklos Barmine hervorspaziert und rieb sich die Augen, um anschließend ins Dämmerlicht zu blinzeln wie in einen strahlend hellen Tag. Er holte Luft, um Jill anzufahren, was das ganze Gebrüll denn solle, da ging ihm auf, daß sie wie wild auf ein Enterseil einschlug. »Auf die Wälle! Auf die Wälle!« brüllte der Kommandant verzweifelt, und der Soldat, der gerade hinter ihm ins Freie trat, verschwand auf der Stelle wieder im dunklen Turm, um seine Kameraden zu alarmieren. Ein abschließender Hieb, und Jill schickte das Seil mit einem halben Dutzend Pauris in die kalten Fluten hinab. Sie lief zu
dem nächsten Seil, hielt sich aber nicht damit auf, denn ein Stück weiter vorn war ein Zwerg bereits dabei, die Wehranlage zu erklimmen. Jill war als erste auf der Brüstung und versetzte ihm einen Hieb. Hartnäckig hielt er sich fest, aber sie schlug ihn erneut, mitten ins Gesicht diesmal, und er stürzte kreischend in den Tod. Jill nahm sich das Seil vor. Inzwischen kamen Soldaten aus dem Turm gestürzt, aber die Pauris waren bereits auf dem Vorderwall. Jill hatte das schwere Tau noch nicht halb durchtrennt, da mußte sie schon zu dem nächsten Zwerg laufen, der über die Brustwehr kletterte. Er zog ein kleines Schwert, aber nicht rechtzeitig genug, um ihre erste heftige Attacke noch parieren zu können. Jills Klinge fuhr ihm über beide Augen und blendete ihn. Er konterte mit einem wilden Streich, aber da war Jill schon neben und dann hinter ihm, und als er die Klinge wieder schützend vor sich zog, griff sie ihm mit der einen Hand unter die Schulter, packte ihn mit der anderen bei der Hose und schleuderte ihn die Klippen hinab. Dennoch fehlte ihr die Zeit, auch nur einmal auf das Enterseil einzuschlagen, denn schon kam unter großem Geheul und Keulenschwingen der nächste Zwerg herangestürmt. Überall auf dem Wall prallten nun Soldaten und rot-bemützte Zwerge aufeinander. Jill sah, wie ein paar Zwerge über die Brüstung flogen und ein Mann in die Knie ging, die Hände auf eine tödliche Brustverletzung gepreßt. Dann mußte sie der Keule ausweichen, die mit mehr als nur ein paar scheußlichen Stacheln versehen war. Jill antwortete mit einem Knurren und einem nach vorn gezielten Stoß, und als der Zwerg problemlos parierte, trat sie ihm unterhalb der vorbeisausenden Keule kräftig in den Bauch. Der Zwerg verzog keine Miene, sondern ging prompt wieder zum Angriff über, mit ein, zwei, drei kräftigen Schwingern.
Jill wich jedesmal nach hinten aus, aber es wurde langsam eng. Schon spürte sie, wie hinter ihr ein weiterer Zwerg herangestürmt kam. Sie machte einen Ausfallschritt und fuhr dann, auf ein Knie gehend, herum und warf sich nach vorn, erwischte den zweiten Zwerg mit der freien Hand beim Schwertarm und trieb ihm die Klinge tief in die Brust. Zwei, drei kurze Schritte, und sie hatte ihn zur Seite geschleudert und war wieder auf den Beinen. Prompt wirbelte sie herum und stürzte sich auf den ersten Zwerg, der nun, da sie bereits zu nah war, nicht mehr richtig ausholen konnte. Jills Klinge bohrte sich in seinen Hals. Keuchend sah die Frau sich um. Sie konnten nicht gewinnen. Die Küstenwache von Pireth Tulme kämpfte wacker, aber sie sah sich zu vielen Angreifern gegenüber und hatte ihren größten Vorteil schon verloren: die Wälle. Wären sie vorbereitet gewesen, wären sie wachsam gewesen, dann wären die Enterseile längst durchtrennt, und die Pauris hätten die Wälle gar nicht erst erklimmen können. Wären die Soldaten für einen solchen Angriff gedrillt worden, dann wären ihre Verteidigungsmaßnahmen koordiniert gewesen, dann wäre das Signalfaß schon längst flammend durch die Lüfte geflogen, um die anderen Festen zu alarmieren. In der Tat waren sechs Soldaten bei der Schleuder zu sehen; drei mühten sich damit ab, sie zu spannen, drei versuchten verzweifelt, eine Handvoll Pauris auf Abstand zu halten. Sie brauchten dringend Hilfe, aber dafür war es zu spät. Überall auf dem Wall wurde gekämpft, und immer mehr Zwerge strömten in die Feste. Schon war auf der Landseite das Johlen und Grölen zu hören, mit dem die Pauris aus den beiden gelandeten Tonnenschiffen den grünen Hang hinaufstürmten. Pireth Tulme war verloren. Neben dem Turm sah Jill ihren Kommandanten stehen, Miklos Barmine, wie er von Zwergen umzingelt seine Befehle
brüllte. Er steckte ein, zwei üble Treffer ein, dann fegte sein wilder Streich einen Zwerg von der Mauer. Im selben Moment kam eine von Jills Kameradinnen aus der Tür gelaufen, aber sie wurde von einer Horde Rotkappen wieder zurück in den Turm gedrängt. Aus Barmines bellenden Befehlen wurden bald Ächzer der Agonie. Schon blutete er aus einem Dutzend Wunden, aber er hörte nicht auf, sein Schwert zu schwingen. Dann verlor Jill ihn aus den Augen, denn sie wurde selbst angegriffen. Der Zwerg, der angenommen hatte, sie überraschen zu können, warf sich mit einem wilden Schrei auf sie. Jill wich ihm aus und antwortete mit einem Tritt in den Hintern, der den Schwung des Pauri so sehr verstärkte, daß er die acht Fuß zum Hof hinabstürzte. Prompt nahm der nächste seinen Platz ein, Jill schaffte es, einen Blick zum Turm hinüberzuwerfen, in den die Zwerge nun hineinströmten. Barmine war auf den Knien, das Gesicht, die Arme, der ganze Körper blutbesudelt. Sein grausiger Anblick verzehnfachte ihre Kampfeswut. Sie drosch auf ihren Gegner ein, daß die Klingen nur so klirrten, und trieb ihn ein paar Schritte zurück. Doch da kamen schon die nächsten beiden Zwerge und stärkten ihm den Rücken. Hinter Jill erklang der Todesschrei eines Soldaten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es auch ihr an den Kragen ging. Sie machte einen Ausfall, dann sprang sie auf die Brustwehr, geradewegs über die Klinge des verdutzten Zwerges hinweg. Ein paar große Sätze, und sie hatte das Trio hinter sich gelassen und befand sich an der äußeren Ecke des Vorderwalls. Auch dort klemmte bereits ein Enterhaken, und kaum fünf Fuß von der Wand entfernt baumelte der letzte Zwerg. Jill blickte zum Kampfgetümmel. Etliche Pauris waren getötet worden, die meisten aber standen, und wer von den Soldaten noch verzweifelt kämpfte, sah sich von einer
Übermacht umzingelt. Barmine war noch nicht gefallen, aber er setzte sich nicht mehr zur Wehr, als ihm ein Pauri mit der Rotkappe übers Gesicht rieb. Dann hob der Zwerg die Kappe in die Luft und rammte dem sterbenden Kommandanten zugleich die stachelbewehrte Keule ins Gesicht. Jill wandte sich ab. Sie hatte genug gesehen. Sie hätte sich den Zwerg am Seil vornehmen können, aber das hätte es ihren drei Verfolgern ermöglicht, sie einzuholen. Also steckte sie ihr Schwert in die Scheide, löste ihren Gürtel und sprang von der Mauer, über den kletternden Zwerg hinweg. Sie bekam das Seil gerade noch mit der freien Hand zu fassen und hielt sich mit aller Kraft fest, zweihundert Fuß über dem Abgrund. Prompt machte der Pauri kehrt, mit sicheren, geübten Griffen. Seine drei Kumpane machten sich mit dem für Pauris charakteristischen Mannschaftsgeist daran, Seil und Enterhaken zugleich zu bearbeiten. Was scherte es sie, wenn diese Furie einen der ihren mit ins Grab nahm? Für einen Kampf fehlte Jill die Zeit. Sie trat nach dem Zwerg, um ihn auf Abstand zu halten; ihre Hauptsorge aber galt dem Problem, ihren Gürtel über das Tau zu werfen. Sie schaffte es, rutschte dabei aber mit der anderen Hand vom Seil ab. Irgendwie bekam sie gerade noch das andere Ende des Gürtels zu packen, und dann ging es auch schon hinab, weg von ihrem Feind und allmählich schneller werdend in den Nebel hinein, auf das Schiff zu, das mehr als hundert Fuß vor der Küste lag. Das untere Ende des Taus war an der Rah des Großmastes befestigt. Das Deck wimmelte von Pauris, aber noch hatte niemand sie entdeckt. Vielleicht konnte sie sich kurz hinter dem Bug fallen lassen; wenn sie sauber genug aufkam, ließ sich die Wucht des Aufpralls hoffentlich mit ein paar Rollen
abfangen. Wenn sie es bis zum Heck schaffte, bis zur Schleuder oder besser gesagt zu den Pechfässern und der lodernden Fackel, dann war sie vielleicht in der Lage, mehr als nur ein wenig Schaden anzurichten. Doch ihr Plan erwies sich als rein hypothetisch, denn als Jill sich dem Bug des Schiffes näherte, gab das Seil plötzlich nach, und sie stürzte zu früh hinab. Jill schrie auf, als die Bugspitze näher kam. Aber das Glück war auf ihrer Seite, und sie stürzte unmittelbar davor in die kalten Fluten. Keuchend und spuckend kam sie an die Oberfläche, und immer noch waren von den Festungsmauern die Todesschreie ihrer Kameraden zu hören. Da stieg Zorn in ihr auf, der sich gegen die Pauris und die Soldaten zugleich richtete. Hätten sie ihren Dienst ernster genommen, wäre ihnen diese Verheerung erspart geblieben. Hätten sie ihrem Schwur Ehre erwiesen, wären die Pauris zurückgeschlagen worden. Jill hatte während des Sturzes ihr Schwert verloren, aber das war ihr einerlei. Ächzend begann sie, um das Schiff herumzuschwimmen, um so schneller, da ihre taub werdenden Glieder sie bald nicht mehr würden vorwärts tragen können. Sie umrundete das Heck und fand das Ankerseil, das backbords herabhing. Mit vor Kälte und Erschöpfung schmerzenden Armen zog sie sich die zehn Fuß zur Reling empor. Sie lugte gerade über den Rand, als die Schleuder erneut abgefeuert wurde und ein flammender Pechball nach Pireth Tulme hinaufflog. Das Geschoß würde wahrscheinlich eher einer Handvoll Zwerge als irgendwelchen Menschen den Tod bringen, aber das schien den Pauris egal zu sein. Munter brüllend machten sie sich ans Nachladen. Drei von ihnen waren gerade dabei, den in schweres Tuch eingeschlagenen Ball in den Wurfkorb über ihren Köpfen zu wuchten, als Jill sich ihnen entgegenwarf. Ohne den Ball
loszulassen, taumelten sie auf die Heckreling zu, und als er über Bord ging, nahm er sie alle drei mit. Im nächsten Moment ging ein vierter Zwerg Jill an die Kehle. Es war unglaublich, was dieser Winzling wog! Und wieviel Kraft er hatte! Im Handumdrehen hatte er sie auf den Planken festgenagelt. Verzweifelt versuchte sie, seinen Würgegriff zu lösen, indem sie seine Daumen packte und kräftig nach außen drehte. Sie hätte ebensogut an eisernen Fesseln zerren können. Jill änderte ihre Taktik und krallte ihm statt dessen die Finger ins Gesicht, stach nach seinen Augen. Er ließ nicht locker und versuchte sogar, ihr die Finger abzubeißen. Bald ließen ihre Kräfte nach, und sie konnte ihm kaum mehr als ein paar flattrige Schläge gegen den faßförmigen Leib versetzen. Die Wachen von Pireth Tulme, diese verlotterten Männer und Frauen, unter denen zu leben sie gezwungen worden war, würden sie mit in den Tod nehmen, und das nur ihrer verfluchten Nachlässigkeit wegen. Nicht aus eigener Schuld würde sie sterben, sondern weil die Küstenwache unfähig war. Ihr wurde schwarz vor Augen. Wild fuchtelte sie mit den Händen. Die eine schlug dem Pauri gegen die plumpe Taille, die andere gegen eine Metallkugel oberhalb seines Gürtels. Gegen den Knauf eines Dolchgriffs. Jill hatte den Zwerg viermal erwischt, bevor dieser merkte, daß auf ihn eingestochen wurde. Mit einem Brüllen ließ er von ihr ab und versuchte zu fliehen. Aber nun war es an Jill, nicht lockerzulassen. Sie stach ihm in die Brust und dann ein Stück höher, in die Kehle. Der Zwerg rollte sich weg, aber Jill besaß nicht mehr die Kraft, ihm zu folgen. Es schien Minuten zu dauern, um auf die Ellbogen zu kommen.
Der Pauri lag in der Nähe der Reling, mit dem Gesicht nach unten. Ächzend kämpfte sich Jill auf die Füße. Endlich Luft! Sie wandte sich zu der Schleuder um, deren Wurfarm gesenkt war und nur noch auf die Pechladung wartete. Was stellte sie am besten an damit? Der Pauri rammte sie so fest von hinten, daß sie gegen den Spannbalken krachte. Jill fuhr herum und zog ihm den Dolch durchs Gesicht, nur ein paar Fingerbreit über der klaffenden Halswunde. Der Zwerg fiel ein paar Schritte zurück, griff aber wieder an. Jill warf sich auf die Knie und fing ihn mit der Schulter ab; dann kam sie sofort wieder hoch und wuchtete ihn mit ein, zwei schnellen Schritten in den Wurfkorb. Er war noch nicht gelandet, da warf sie sich schon zur Seite und zog den Abzug durch. Fast hätte der Pauri es noch aus dem Korb geschafft, und so schoß die Schleuder ihn kerzengerade in die Höhe. Arme und Beine weit ausgestreckt, wirbelte er durch die Luft. Zahlreiche seiner Kumpane hörten den Schrei, sahen zu dem merkwürdigen Geschoß hinauf und dann zum Achterdeck – Jill lief die Zeit davon. Sie trat die Pechfässer um, leerte eines über die Ankerwinde und trat ein anderes die Treppe zum Hauptdeck hinunter. Dann lief sie zur Heckreling, um sich ins Meer zu werfen. Ihr Glück war nicht zu fassen. Am Heck hing ein Boot. Im Nu hatte sie es losgemacht. Als das Seil ins Wasser klatschte und die Pauris schon an der Treppe waren, als die Ankerwinde und die Schleuder schon in Flammen aufgingen, hechtete Jill so weit hinaus, wie sie nur konnte, um der brennenden Pechlache auf den Wellen zu entgehen. Vor ihr waren schon drei Zwerge dabei, auf das Boot zuzuschwimmen. Sie konnten
ihre Köpfe kaum über Wasser halten, und so hatte Jill den ersten rasch eingeholt und tötete ihn mit dem Dolch. Im Wasser waren Zwerge nur halb so gefährliche Gegner. An dem zweiten schwamm sie einfach vorbei, denn sie durfte dem dritten nicht die Gelegenheit geben, das Boot vor ihr zu erreichen. Wild platschend kämpfte er sich durch die Wellen, doch dann rammte ihm Jill im Vorbeiziehen den Dolch in die Schulter und griff verzweifelt nach der Bootswand. Gleich neben ihrem Kopf peitschte ein Armbrustbolzen das Wasser. Jill ging hinter dem Boot in Deckung, obwohl sie wußte, daß die Schützen an Deck sie trotzdem noch erwischen konnten. Das Boot befand sich noch zu nahe am Schiff. Außerdem mußte sie aus dem Wasser kommen, und zwar schnell. Ihre Glieder wurden bereits taub. Das Ächzen von Holz machte sie auf das neueste Problem der Zwerge aufmerksam. Sie wagte es, über den Bootsrand hinwegzuspähen. Das Ankertau war unter den Flammen zerrissen, und die Strömung warf das Schiff schwer herum. Auf einmal hatten die Zwerge Wichtigeres zu tun, als eine schwimmende Frau zu beschießen. Jill verpaßte dem hartnäckigen Pauri einen Schlag, dann zog sie sich ins Boot. Rasch legte sie die Riemen ein und machte, daß sie wegkam. Verzweifelt versuchte der Pauri, sie einzuholen. Er kam gerade nahe genug heran, daß Jill ihm eins mit dem Ruder überziehen konnte.
6. Geschwister
Sie zog sich ans Ufer, verwundet, unterkühlt und wütend. Sie sah nur kurz zu dem kleinen Boot zurück, und schon wurde sie von der kräftigen Brandung erneut gegen die Felsen geworfen. Den Rest jenes Schicksalstages war sie umhergetrieben, die ganze Nacht und ein gut Teil des nächsten Morgens. Eigentlich hatte sie den nächstbesten Landungsplatz ansteuern und, so schnell es ging, in den umliegenden Dörfern einen Hilfstrupp aufstellen und nach Pireth Tulme zurückkehren wollen. Aber das Pauri-Schiff war kaum außer Sicht, da wurde sie von Schmerz und Erschöpfung übermannt und merkte, welch schwere Wunden sie davongetragen hatte. Kaum war die Kampfeshitze aus ihrem Leib gewichen, da sank die Bewußtlosigkeit auf sie herab wie ein riesiger Raubvogel, der die Sonne mit seinen weiten Schwingen verdeckt. Irgendwann in der Nacht war sie erwacht, im Golf treibend, und hatte gebetet, daß die Strömungen sie nicht aufs offene Meer hinauszogen. Aber das Glück war auf ihrer Seite, die Küstenlinie blieb in Sicht. Hochaufragende schwarze Berge markierten den südlichen Horizont. Jill hatte Stunden gebraucht, um das Boot zur Küste zu bringen und dann einen Platz zum Landen ausfindig zu machen. Sie hatte sich für eine schmale Bucht entschieden, aber kaum war sie hineingefahren, mußte sie feststellen, daß dicht unter der Wasseroberfläche schroffe Felsen lauerten. Jill kämpfte um das Boot, aber sie mußte einsehen, daß es vergeblich war. Also legte sie ihre rote Uniformjacke und die schweren Stiefel ab und warf sich über Bord; dann kämpfte sie sich durch die eiskalten Unterströmungen bis ans Land.
Die Felsen nahmen ihr Boot in Empfang. Nichts an der Küste kam ihr bekannt vor, aber sie befand sich vermutlich westlich von Pireth Tulme, an der Nordküste der Mantis-Halbinsel. Ihre Vermutungen wurden bestätigt, als sie landeinwärts wanderte und erst auf eine Straße und dann, eine Stunde später, auf einen Wegweiser stieß: Macomber, 3 Meilen. Jill umrundete die Stadt, um sie von Westen her zu betreten, nicht von Osten, wie es versprengte Überlebende der Schlacht um Pireth Tulme getan hätten. Sie versuchte, ihre noch immer feuchten Kleider in Ordnung zu bringen, mußte aber rasch einsehen, daß sie so oder so verdächtig aussah, wie sie so stiefellos daherkam, ohne die schmutzigen, schwieligen Füße einer Bauersfrau zu haben. Und wenn sie auch die verräterische rote Jacke nicht mehr trug, so war eine barfüßige Frau in einem schlichten weißen Hemd und gelbbraunen Hosen gewiß kein gewöhnlicher Anblick. Wenn sie sich wenigstens in einen Mantel hätte hüllen können! Als sie die recht große Ansiedlung von mehr als sechzig Häusern durchwanderte, von denen einige zwei Stockwerke besaßen, zog sie mehr als nur ein paar neugierige Blicke auf sich. Einige Leute zeigten auf sie, zu flüstern begannen alle, und mehrere kehrten ihr den Rücken zu und hasteten davon. Es lag Nervosität über der Stadt. Vielleicht hatten die Nachrichten, die Jill brachte, längst die Runde gemacht. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als Jill Gesprächsfetzen aufschnappte, in denen davon die Rede war, daß eine Einheit der königlichen Garde hart nach Osten ritt. Sie nickte. Dann war es wohl das beste, sich der Streitmacht anzuschließen und nach Pireth Tulme zurückzukehren, um Rache zu nehmen. Dieser Gedanke war wie ein Schlag ins Gesicht. Wen sollte sie denn rächen? Ihre Kameraden? Miklos Barmine, diesen
geilen Bock? Gofflaw, den sie ein paar Mal liebend gern umgebracht hätte? Sie fand eine Schänke, deren Schild zu verwittert war, um den Namen noch lesen zu können, aber das Bild eines dampfenden Kruges war eigentlich Name genug. Bevor sie eintrat, schlug ihr eine wohlbekannte donnernde Stimme entgegen. »Welch Dämonenbrut laden wir in unsere Mitte ein?« schallte es aus der Schänke, und Jill wußte, noch bevor sie eintrat, daß der Mann auf einem Tisch stand und den Finger in die Luft reckte. Diesmal allerdings braute sich um den Mönch keine Schlägerei zusammen; im Gegenteil, er hatte eine recht aufmerksame Zuhörerschaft. Und eine große. Die Schänke war randvoll, es mußten vierzig Leute sein. Jill schob sich zum Tresen durch, um ein Bier zu bestellen, als ihr aufging, daß sie arm war wie eine Kirchenmaus. Also lehnte sie sich einfach mit den Ellbogen auf den Tresen und beobachtete den Mönch, vor allem aber die Reaktionen seiner Zuhörerschaft. Gerüchte machten die Runde; da war von einer Schlacht die Rede, gegen Goblins, wie einige sagten, aber andere wußten von Zwergen zu berichten. Was die Schlagkraft der feindlichen Armee anging, so war von tausend Kriegern die Rede – oder auch von tausend Schiffen. Jill wollte ihnen schon erzählen, daß es sich nur um ein gekapertes Segelschiff und nicht mehr als fünf Tonnenschiffe handelte, aber dann behielt sie das lieber für sich. Erstens fiel sie hier besser nicht auf, und zweitens konnte den Städtern ein wenig Angst nur guttun. Der irre Mönch schien letztere Ansicht zu teilen, denn seine Rede wurde eindringlicher und drängender, als sähe er bereits eine Armee von Monstren auf die Stadt zumarschieren.
Das Fieber erreichte einen kritischen Punkt, der schließlich überschritten wurde. Einen schweren Prügel in der Hand, kam der Schankwirt hinter dem Tresen hervor und marschierte auf den fetten Mönch zu. »Es reicht«, sagte er und wedelte drohend mit seiner Waffe. »Was auch immer geschehen ist, darum hat sich die königliche Garde zu kümmern und nicht unsere Stadt!« »Die ganze Welt muß vorbereitet sein!« erwiderte der fette Mönch und reckte beifallheischend die Arme. Aber es war zu spät; er hatte die Leute bereits über die Angst hinaus ins Reich des Zorns gedrängt, und als der Wirt ein paar helfende Hände suchte, herrschte an Freiwilligen kein Mangel. Der irre Mönch lieferte ihnen einen wilden Kampf. Immer wieder brüllte er sein »Zeit zum Üben!« und schleuderte Männer umher. Am Ende jedoch flog er, wie vorherzusehen gewesen war, in hohem Bogen hinaus, um unsanft auf der Straße zu landen. Sofort kniete Jill neben ihm. Er schüttelte den Kopf, dann zog er eine kleine Flasche aus den Tiefen seiner Kutte hervor, entkorkte sie und nahm einen ordentlichen Schluck. Er unterdrückte einen Rülpser und machte ein verlegenes Gesicht. »Zum Mutmachen«, erklärte er trocken. »Ho, ho, hoppla!« Jill sah ihn säuerlich an, dann erhob sie sich und hielt ihm die Hand hin. »Zum Glück seid Ihr gut gepolstert«, zog sie ihn auf. Der Mönch sah sie genauer an. Von irgendwoher kannte er sie, aber er bekam es nicht mehr zusammen. »Sind wir einander nicht schon mal begegnet?« fragte er schließlich. »Einmal«, sagte Jill. »Nicht weit von hier.« »Ein so schönes Gesicht würde ich doch nicht vergessen.« Zum Erröten war Jill viel zu erschöpft. »Vielleicht habt Ihr mehr auf meine rote Jacke geachtet«, sagte sie und konnte im nächsten Moment kaum fassen, daß sie diesem Mann ihre Stellung verraten hatte.
Für einen ganzen Moment sah er sie nur an, dann erhellte sich sein Gesicht – um sich sofort wieder zu verdüstern. »Ddein Zuhause«, stotterte er hilflos. »Pireth Tulme.« »Niemals würde ich das mein Zuhause nennen«, erwiderte Jill. Der irre Mönch wollte etwas sagen, aber sie bremste ihn mit erhobener Hand. »Ich bin dort gewesen«, sagte sie grimmig. »Ich habe es gesehen.« »Die Gerüchte?« »Pauris«, bestätigte sie. »Pireth Tulme war einmal.« Der Mönch hielt ihr seine Taschenflasche hin, aber Jill lehnte ab. Er nickte, ernster nun, und ließ sie wieder in den Falten seiner verschlissenen Kutte verschwinden. »Komm mit«, forderte er Jill auf. »Ich habe ein offenes Ohr für das, was du vielleicht loswerden mußt.« Jill ließ sich das Angebot durch den Kopf gehen, und schließlich begleitete sie ihn auf sein Zimmer, das er in einem kleinen Gasthaus am Stadtrand gemietet hatte. Er nahm an, daß sie sich als Deserteurin offenbarte, aber natürlich war ihre schlichte, wahrheitsgemäße Geschichte eine gänzlich andere. Sie sah Respekt in seinen braunen Augen und wußte, daß sie einen Freund gefunden hatte, der sie nicht an die Militärbehörden verraten würde, der für diese ebenso wenig Respekt übrig hatte wie sie. Als sie geendet hatte, als sie erklärte, wie froh sie gewesen sei, erneut seine Stimme zu hören, und daß sie seinen eindringlichen Warnungen nunmehr nur zustimmen könne, da lächelte der Mönch beruhigend und legte seine Hand auf ihre. »Ich bin Bruder Avelyn Desbris, einst beim Orden von St. Mere-Abelle«, gestand er ihr, und Jill begriff, daß sie wohl seit langer, langer Zeit der erste Mensch war, dem er seinen wahren Namen offenbart hatte. »Es will mir scheinen, als wären wir beide desertiert.« »Desillusioniert würde es besser treffen«, erwiderte Jill.
Ein dunkle Wolke zog über Avelyns Gesicht. Er nickte. »Desillusioniert – in der Tat.« »Ich habe Euch meine Geschichte erzählt«, sagte Jill aufmunternd. Die Gefühle brachen aus Avelyn hervor, wie er es seit der Nacht nicht mehr erlebt hatte, in der er um seine tote Mutter geweint hatte. Er erzählte Jill viel – mehr, als er je für möglich gehalten hätte – und hielt sich nur zurück, was die Juwelen des Himmels, die geheime Insel, die Einzelheiten und das fatale Ergebnis seiner Flucht sowie die Tatsache anging, daß er einen gestohlenen, mächtigen Zauber mit sich führte. Diese Dinge schienen ihm weniger wichtig, jedenfalls verglichen mit der Tragödie der Windläufer, mit dem Verlust seiner geliebten Dansally Comerwick. »Sie hat Euch ihren Namen verraten«, warf Jill leise ein, und Avelyn stiegen Tränen in die braunen Augen, als ihm aufging, daß diese Frau wußte, was das bedeutete. »Du mir aber nicht«, sagte er. »Jill«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Jill?« »Bloß Jill«, versicherte sie ihm. »Nun denn, Bloß Jill«, sagte Bruder Avelyn schmunzelnd, »es will mir scheinen, als wären wir zwei verlorene Lämmer.« »Ja, mein Bruder Avelyn Desbris«, erwiderte sie in dem gleichen Singsang, »zwei verlorene Lämmer in einem Wald voller Wölfe.« »Arme Wölfe!« brüllte Avelyn da. »Ho, ho, hoppla!« Da mußten sie beide lachen, und es tat ihnen mehr als gut – Jill nach all den kürzlichen Schrecken und Avelyn, weil er nun doch noch von seiner dunklen Vergangenheit erzählt hatte, weil nun in den finsteren Winkeln seiner Erinnerung, die ihn auf die Straße hinausgetrieben hatte, wieder ein paar Kerzen brannten.
»Frömmigkeit, Würde, Armut«, sagte der Mönch angewidert, als er wieder zu Atem gekommen war. »Das Credo der abellikanischen Kirche«, entgegnete Jill. »Die Lüge«, erwiderte Avelyn. »Ich habe wenig Frömmigkeit in ihren simplen Ritualen gefunden, wenig Würde in Mord und Totschlag, und mit Armut können die Meister von St. MereAbelle schon gar nichts anfangen.« Er schnaubte, aber Jill setzte noch eins drauf . »Wachsam ohne Unterlaß«, zitierte sie trocken, und Avelyn erkannte ihre Worte als Motto der Küstenwache. »Erzähl das einer den Pauris!« Wieder lachten sie laut auf und nutzten den Lärm der Fröhlichkeit als Schild gegen die Tränen. Jill verbrachte die Nacht in Avelyns Zimmer, wobei der Mönch natürlich ganz der Ehrenmann war. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er ihr erzählt hatte, die Geschichte seines Lebens, und sah dann an sich hinab auf die hundert zusätzlichen Pfunde, die abgerissene Erscheinung. »Ach, Jill«, klagte er. »Du hättest mich in meiner idealistischen Jugend sehen sollen. Welch anderer Mensch ich damals war, bevor ich die schreckliche Wahrheit über die Welt erfuhr.« Über diese Worte dachte er eine lange Zeit nach, und dann ging ihm auf, daß er, wenn er diese Frau wirklich seine Freundin nennen wollte, sorgfältig nach jenem anderen Menschen suchen mußte. Jill ein Freund zu sein, überhaupt irgend jemandem ein anständiger Gefährte zu sein würde bedeuten, etwas von jenem Idealismus zurückzugewinnen, etwas von jener Überzeugung, daß die Welt gar kein so finsterer und schrecklicher Ort war und sich mit der nötigen Mühe auch verbessern ließ. »Ja«, flüsterte der Mönch der Schlafenden zu, »gemeinsam werden wir unseren Weg finden.«
Am nächsten Morgen erwarben sie einiges an Ausrüstung, darunter ein Kurzschwert, Stiefel und einen warmen Mantel für Jill, und dann nahmen die beiden die Straße nach Westen und ließen Macomber hinter sich, ohne weiter auf das Geflüster hinter ihrem Rücken zu achten. Sie hatten das Gefühl, ein Geheimnis miteinander zu teilen, eine Weisheit, die der Rest dieser Welt von Narren nie begreifen würde. Dieses Band allein war es, das Jill in den ersten Wochen ihrer Reise bei Bruder Avelyn hielt. Sie waren Geschwister, wie Avelyn sagte, zwei allein gegen die herankriechende Finsternis. Jill leuchtete diese Sichtweise durchaus ein, nur fühlte sie schwerlich eine Verwandtschaft mit dem irren Mönch. Der Mann trank fast ununterbrochen, und ganz egal, welche Stadt sie betraten, er schaffte es jedesmal, einen Streit vom Zaun zu brechen, eine wilde Prügelei. So war es auch in der Stadt Dusberry, auf halbem Wege zwischen Arnvoy und Ursal. Avelyn war in der Schänke und stand wie jedesmal oben auf dem Tisch, um Warnungen und Flüche auszustoßen. Jill kam genau in dem Augenblick herein, als die Schlägerei losging. Zwei Dutzend Männer prügelten auf den nächstbesten Gegner ein, ohne sich darum zu scheren, ob er Feind oder Freund war. Im Gegensatz zu den Gelegenheiten, wenn die Schänke sich geschlossen gegen ihn stellte, hielt sich Avelyn in solchen allgemeinen Schlägereien mehr als gut. Dieser Bär von einem Mann schleuderte seine Angreifer nur so durch die Gegend, und wann immer er wieder jemanden zu Boden geschickt hatte, brüllte er sein »Ho, ho, hoppla!« Auch Jill hatte wenig Schwierigkeiten, auf dem Weg zu ihrem Gefährten mit den betrunkenen Städtern fertig zu werden. Als ein Kerl sich auf sie stürzen wollte, wich sie seinem unbeholfenen Griff einfach aus und trat ihm heftig auf den Spann. Mit einem Schrei fiel er zu Boden.
»Muß das denn immer sein?« fragte sie, als sie schließlich bei Avelyn ankam. Der Mönch antwortete mit einem breiten Grinsen. Dann schob er Jill rasch mit der Rechten zur Seite und richtete den Kerl, der ihr gerade in den Rücken hatte fallen wollen, mit einem kurzen linken Haken auf, um ihn dann mit einem gewaltigen rechten Schwinger in den Staub zu schicken. »Ho, ho, hoppla!« dröhnte Avelyn. »Die Stadt gewöhnt sich besser schon mal dran!« Damit wollte er sich mitten ins Gewühle werfen, aber Jill trat ihm kräftig in den Hintern. Er sah sie waidwund an, aber Jill gab nicht nach, sondern zeigte resolut zur Tür. Sie hatten die Schänke schon verlassen, in der der Kampf noch immer tobte, als Avelyn plötzlich stehenblieb und seine schöne Gefährtin verdutzt ansah. Ohne etwas zu sagen, schob er eine Hand in die Falten seiner Kutte und zog sie sofort wieder hervor. Sie war blutverschmiert. »Meine liebe Jill«, sagte Avelyn, »ich glaube, mir hat jemand seinen Dolch verpaßt.« Seine Beine gaben unter ihm nach, aber Jill hielt ihn aufrecht und führte ihn von der Hauptstraße weg in den Schutz einer Gasse. Sie wollte ihn dort zurücklassen, um dann schleunigst den örtlichen Heiler aufzutreiben – den es in jeder kleinen Stadt gab –, aber Avelyn packte ihren Arm und wollte sie nicht gehen lassen. Dann erfuhr sie es. Bruder Avelyn holte einen schwarzgrauen Stein hervor, der so stark poliert war, daß er fast flüssig zu sein schien, so glatt, daß Jill das Gefühl hatte, mitten in ihn hineingleiten zu können. Je länger sie den Stein ansah, desto mehr spürte sie, daß er etwas ganz Besonderes an sich hatte, einen Zauber. »Ich werde mir etwas von deiner Kraft leihen müssen, meine Freundin«, sagte Avelyn. »Sonst ist es bald mit mir vorbei.«
Jill, die vor ihm kniete, nickte eifrig. Sie wollte helfen, wo sie konnte. Aber Avelyn fürchtete, daß Jill das Ausmaß dessen, was er von ihr verlangte, nicht begriff. »Wir werden eins werden«, sagte er, und seine Stimme wurde bereits schwächer. »Intimer als alles, was du je erlebt hast. Bist du zu einer solchen Vereinigung bereit?« »Ich glaube kaum, daß du in deinem Zustand – « »Nein, nein, doch nicht körperlich!« korrigierte Avelyn sie und mußte trotz seiner Todesqualen lachen. »Geistig.« Jill sah ihn verblüfft und neugierig an. Eine körperliche Vereinigung konnte sie nicht ertragen – nicht mit diesem Mann, nicht mit Connor! Aber dieses rätselhafte Gerede von einer geistigen Vereinigung klang nicht sonderlich beeindruckend. »Tu, was du tun mußt«, forderte sie ihn auf. Avelyn sah ihr ins Gesicht, und schließlich nickte er. Er schloß die Augen und begann leise zu singen, ließ sich in den Zauber des mächtigen Hämatits fallen. Jill schloß ebenfalls die Augen und lauschte den Modulationen seines Gesangs. Bald hörte sie sie nicht mehr, sondern spürte sie, als kämen sie aus ihrem eigenen Leib. Und dann fühlte sie, wie etwas in sie einzudringen versuchte, Avelyns Geist. Körperlich hielt er nach wie vor Abstand. Jill versuchte, ihre Abwehrschilde zu senken, denn vernunftmäßig war ihr klar, daß Avelyn sterben würde, wenn sie ihm nicht seinen Willen ließ. Und mittlerweile vertraute sie ihm. Er war ein Freund, ein verwandter Geist, vor allem, was die Moral betraf. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und versuchte vergeblich, ihn einzulassen, versuchte vergeblich, die Vereinigung zu beschleunigen. Dann schrie sie auf, nicht laut – oder vielleicht doch laut; sie hatte keine Ahnung. Avelyn kam näher, näher, immer näher. Zu nah. Sie schienen miteinander zu verschmelzen. Vor Jills
geistigem Auge flackerten Bilder von den braunen und grauen Mauern eines Klosters auf, von einer Insel mit üppiger Vegetation und Bäumen mit weitgespreizten Kronen. Dann hatte sie das Gefühl zu fallen und sah in das Gesicht eines hageren Mannes, der mit ihr hinabfiel. Und dann fühlte sie den Schmerz einer Stichwunde, scharf und sengend. Nicht an ihrem Körper, soviel wußte sie noch, sondern unmittelbar neben ihr. Die Wunde entzog ihr die Lebenskraft, saugte sie in ihre Tiefen. Jill wehrte sich, versuchte Avelyn auszusperren, aber dafür war es zu spät. Sie waren miteinander vereint, und der Mönch trank von ihr, wie ein Vampir es getan hätte. Jill riß entsetzt die Augen auf und fuhr in die Höhe. Der Mönch lag immer noch vor ihr in der Gasse. Der Schmerz wurde zu etwas anderem, etwas Heißem, Geheimem. Geheim und doch geteilt. Jill wollte es nicht wahrhaben, aber ihr waren die Fluchtmöglichkeiten genommen. Sie hatte Avelyn in sich eindringen lassen, und nun mußte sie sich dieser Erfahrung auch stellen. Für Avelyn erwies sich die geistige Vereinigung als etwas ganz Erstaunliches. Noch während er diesen ungewohnten Gebrauch des Hämatits erprobte, gab er sein Wissen über die Steine an Jill weiter – und es ging ganz leicht! Er merkte es daran, daß sie sofort reagierte und ihre Lebenskraft durch den Stein in seinen verwundeten Leib fließen ließ, wie es auch ein Abellikaner-Novize im fünften Jahr nicht besser vermocht hätte. Vielleicht gaben die Mönche ihr Wissen über die Steine ja auf eine völlig falsche Weise weiter, vielleicht würde eine Unterweisung auf geistiger Ebene viel schneller zu Ergebnissen führen. Wenn Jill und er fertig waren, würde sie mehr als nur eine flüchtige Ahnung von den magischen Steinen haben, und zudem war sie stark! Avelyn spürte es genau. Mit etwas Übung und weiteren Vereinigungen konnte
sie bald mit den stärksten Mönchen von St. Mere-Abelle konkurrieren – und alles nur wegen dieser simplen Technik. Doch dann schossen Avelyn fürchterliche Bilder durch den Kopf, Szenen von Amokläufern mit Himmelsjuwelen, und er verwarf seine Idee ebenso rasch wieder, wie sie ihm eingefallen war. Die Disziplin, die es brauchte, um mit diesen Steinen umzugehen, konnte nicht auf einfache Weise erworben werden. Auf einmal fühlte er sich schuldig, dieser Frau, die er kaum kannte, ein solches Wissen vermittelt zu haben. Irgendwie war es ein Hintergehen Gottes, eine solche Gabe weiterzugeben, ohne zuvor um Beistand oder Segen gebetet zu haben. In nur wenigen Augenblicken war alles vorbei, und Avelyn befand sich wieder in seinem nahezu geheilten Körper. Jill wandte sich ab, sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Es tut mir leid«, sagte Avelyn mit erschöpfter, doch nicht länger schmerzerfüllter Stimme. »Du hast mir das Leben gerettet.« Jill kämpfte die schwarzen Schwingen ihrer Vergangenheit zurück, die Barriere, die sie so lange vor Intimität bewahrt hatte, die Barriere, die Avelyn nicht eingerissen, sondern irgendwie umgangen hatte. Unter großen Mühen gelang es ihr, ihn anzusehen. Er saß wieder aufrecht und lächelte verlegen, und seine dicklichen Züge waren nicht länger von Schmerz und Tod umwölkt. »Ich bin – «, setzte er erneut zu einer Entschuldigung an, aber Jill legte ihm einen Finger auf die Lippen. Sie erhob sich und hielt ihm die Hand hin. Kaum hatte sie dem beleibten Mönch aufgeholfen, da folgte Jill der Straße, wie sie allen Straßen aus allen Städten hinaus gefolgt waren. Während sie durch die Nacht dahinwanderten, sagte sie kein Wort. Wieder und wieder spielte sie die schrecklichen Momente ihrer Vereinigung durch, wieder und
wieder sagte sie sich, daß sie notwendig gewesen war, und versuchte die Bilder zu verjagen, die Avelyn ihr in den Kopf gesetzt hatte, die Bilder aus seiner Vergangenheit. Aber da war noch etwas, das er zurückgelassen hatte, eine Art Geschenk. Jill hatte nie zuvor von den magischen Steinen gehört, geschweige denn einen benutzt, aber nun hatte sie das Gefühl, mit ihnen umgehen zu können, als seien ihre Geheimnisse ihr mit einem Fingerschnippen enthüllt worden. Aber auch darüber schwieg sie sich aus, denn sie wußte nicht, ob es sich dabei um ein Geschenk oder um einen Fluch handelte. Avelyn tat nichts, um das Schweigen zu brechen. Auch er hatte viel, worüber es nachzudenken galt: die Gefühle, die er in der gequälten Frau vorgefunden hatte, die Bilder – blutige, grausame Bilder einer kleinen Stadt in den Wilderlanden. Und Avelyn hatte einen Namen für diesen Ort, einen Namen, an den die Frau sich nicht erinnern konnte. In der nächsten Stadt, durch die sie kamen, holte er heimlich Erkundungen ein, und dann, als er mehr und mehr verstand, begann er Jill allmählich nordwärts zu führen. Jills Gefühle waren gemischt, als sie Bruder Avelyn durch die Tore von Palmaris folgte. Es verlangte sie verzweifelt danach, Graevis und Pettibwa zu suchen und ihnen zu sagen, daß es ihr gutging, sie zu umarmen und sich einfach an Pettibwas weichen Busen sinken zu lassen. Aber das ging natürlich nicht – sie war schließlich eine Deserteurin. Eine Begegnung mit Connor mochte ihren Untergang bedeuten, und falls Grady sie erblickte oder von ihrem Besuch erfuhr, hetzte er ihr in seiner Habgier gewiß die königliche Garde auf den Hals, damit seinem kostbaren Erbe auch ja nichts geschah. Eines Abends ging Jill aus, während Avelyn in die Schankstube ihres Gasthauses hinunterstiefelte, um seine Hetzreden zu schwingen. Unauffällig wanderte sie durch die Stadt, bis sie in der Gasse schräg gegenüber der Geselligen
Runde angelangt war. Eine Stunde lang saß sie dort und erfreute sich an dem regen Kommen und Gehen; augenscheinlich hatte ihr Mißgeschick den Ruf der Chilichunks nicht ruiniert. Etwas später trat Pettibwa aus der Schänke und wischte sich mit der Schürze den Schweiß von der Stirn, ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht wie immer, wenn sie ihrem Tagwerk nachging. Als Jill daran dachte, hervorzutreten und die Frau zu umarmen, zu ihr zu laufen wie zu ihrer leiblichen Mutter, machte ihr Herz einen Satz. Irgend etwas jedoch, Angst um Pettibwa vielleicht, hielt sie zurück. Und dann war die rundliche Frau auch schon wieder im Gewühl der Runde verschwunden. Rasch trat Jill aus der Gasse, um zu ihrem Gasthof am anderen Ende der Stadt zurückzukehren. Irgendwie fand sie sich jedoch hinten auf dem Dach der Runde wieder, in ihrem Geheimversteck, um ein letztes Mal in dem Gefühl zu baden, eine Familie zu haben. Hier oben befand sie sich letzten Endes in Pettibwas Armen. Hier oben war sie wieder Cat die Streunerin, ein jüngeres Mädchen in einer weniger komplizierten Welt und mit weniger verwirrenden Gefühlen. Sie verbrachte die ganze Nacht damit, die Sterne zu betrachten, die ruhige Bahn der Mondin und die eine oder andere träge dahinziehende Wolke. Es dämmerte bereits, als sie auf ihr Zimmer zurückkehrte. Avelyn schnarchte laut, er roch nach Bier und stärkeren Getränken, und eines seiner Augen war zugeschwollen. Da die Stadt groß genug war, um die Launen eines irren Mönchs zu ertragen, verbrachten sie mehrere Tage in Palmaris, aber in die Nähe der Geselligen Runde wagte sich Jill niemals wieder.
7. Nur ein Ziel vor Augen
Sie händigten ihm nur zwei Steine aus: einen glatten, gelblichen Sonnenstein und einen Cabochon, einen Karfunkelstein von tiefstem Rot. Der erstere, einer der wertvollsten Steine des Klosters, vermochte den Mann vor nahezu jedem Steinzauber zu schützen, indem er sämtliche magischen Energien zum Erliegen brachte, so daß sich jeder Zauberspruch als wirkungslos erwies, und der letztere, der Suchstein, konnte ihm den Weg zur Magie weisen. Dies war die Ausrüstung, mit der Bruder Richter Avelyn finden und zur Strecke bringen sollte. Eines dunklen und trüben Morgens verließ er St. Mere-Abelle auf einer aschgrauen Stute, die nicht schnellen Hufes, aber ausdauernden Herzens war. Sie kam stundenlang ohne Rast aus, und der so sehr auf die Erfüllung seiner höchst wichtigen Mission bedachte Bruder Richter trieb sie bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Zunächst reiste er nach Youmaneff, das rund dreihundert Meilen von St. Mere-Abelle entfernte Städtchen, in dem Avelyn zur Welt gekommen war. Dort suchte er den kleinen Friedhofshügel auf, und als er den zum Gedenken an Annalisa Desbris errichteten Stein gefunden hatte, stellte er mit einiger Befriedigung fest, daß der Name von Jayson Desbris noch fehlte. »Ihr bringt Nachricht von meinem Sohn?« fragte der alte Herr, kaum daß Bruder Richter, dessen braune Kutte ihn als abellikanischen Mönch auswies, an seine Tür klopfte. Die schlichte, so ernst gestellte Frage ließ den Mönch aufhorchen.
»Ist er tot?« fragte Jayson ängstlich. »Sollte er das sein?« erwiderte Bruder Richter. Der alte Mann blinzelte ein paarmal, dann schüttelte er den Kopf. »Verzeiht meine schlechten Manieren.« Er wies ins Innere des Hauses. Bruder Richter hielt den Kopf gesenkt, um sein grausames Lächeln zu verbergen, und trat ein. »Ich nahm nur an, daß Ihr als sein Klosterbruder mir Kunde von Avelyn bringt«, erklärte Jayson. »Und da er nicht selbst gekommen ist – « »Wo steckt Avelyn?« unterbrach der Mönch ihn schroff. Seine Stimme war so ausdruckslos und kalt, daß sich Jaysons Nackenhaare aufstellten. »Das solltet Ihr besser wissen als ich«, erwiderte der Alte ruhig. »Ist er denn nicht im Kloster?« »Ihr wißt von seiner weiten Reise?« fragte der Mönch scharf. Jayson schüttelte den Kopf, und Bruder Richter spürte, daß seine Verwirrung echt war. »Ich habe meinen Sohn zuletzt im Jahre des Herrn 816 gesehen«, erklärte Jayson, »als ich ihn in die schützenden Hände des Klosters gab, in die Hände Gottes.« Bruder Richter stellte fest, daß er dem Alten jedes Wort abnahm, und das nährte seinen Zorn. Er hatte gehofft, einen Hinweis von Jayson Desbris zu bekommen, irgendeinen Fingerzeig, der es ihm erlaubt hätte, dieses schmutzige Geschäft rasch und effizient zu erledigen. Und nun war Avelyn nicht nach Hause zurückgekehrt oder hatte jedenfalls seinem Vater keinen Besuch abgestattet. Der Mönch wußte nicht, welche Vorgehensweise besser war – den Alten zu töten, um für den Fall, daß Avelyn doch noch zurückkehrte, jeden Hinweis auf dessen Verfolgung getilgt zu haben, oder seinen Besuch einfach in ein freundlicheres Licht zu setzen und so sämtliche bösen Ahnungen, die Jayson hegen mochte, zu zerstreuen.
Doch halt, diese Rechnung ging nicht auf. Wenn Avelyn wirklich heimkam und vom Besuch eines Mönchs erfuhr, dann konnte er sich leicht zusammenreimen, daß es sich dabei nicht um einen harmlosen Zufall handelte. Den Alten zu töten machte die Lage jedoch noch unübersichtlicher, denn damit lockte Bruder Richter sich unter Umständen die örtlichen Autoritäten auf den Hals. Es gab noch einen anderen Weg. »Ich muß Euch leider mitteilen, daß Euer Sohn gestorben ist«, sagte er mit so viel Überzeugungskraft, wie er aufbringen konnte – und das war nicht viel. Jayson lehnte sich schwer an einen Tisch und schien plötzlich um etliche Jahre gealtert. »Er ist von den Mauern der Abtei in die Allerheiligenbucht gestürzt«, fuhr Bruder Richter fort. »Wir haben seinen Leichnam nie gefunden.« »Und warum kommt Ihr dann hier hereingeschneit und fragt nach seinem Aufenthaltsort?« ertönte eine scharfe Stimme aus dem Nebenzimmer. Ein großer Mann, vielleicht zehn Jahre älter als Bruder Richter, kam ins Zimmer gestürmt, und seine dunkelbraunen Augen blitzten empört. Es mußte sich um Avelyns Bruder Tenegrid handeln. Bruder Richter schenkte ihm kaum Beachtung – jedenfalls nach außen hin. Er konzentrierte sich auf Jayson und den Versuch, seine vorangegangenen Fragen zu verharmlosen. »Avelyn trat seine weite Reise an«, sagte er leise, und diese leichte Wendung ins Religiöse nahm Tenegrids Wut den Stachel. »Er weilt nun bei Gott«, schloß Bruder Richter. Tenegrid baute sich vor ihm auf. »Aber seine Leiche habt Ihr nicht gefunden.« »Die Klippen sind zu hoch«, sagte Bruder Richter ruhig, die Hände in den weiten Ärmeln verborgen. Aber er hatte sie nicht
gefaltet. Seine rechte Hand war flach ausgestreckt, die Finger eng nebeneinander, und die Unterarmmuskeln zuckten vor Anspannung. »Hinfort aus diesem Haus!« befahl Tenegrid. »Ein schöner Bote ist das, der bohrende Fragen stellt, bevor er mit der Wahrheit herausrückt!« Sein Zorn war sichtlich fehl am Platze und eher ein Ausdruck von Schmerz denn von Angriffslust. Der Anblick seines schmerzgebeugten Vaters traf Tenegrid ebensosehr wie die Nachricht vom Tod seines Bruders. Dem Mönch war dies durchaus klar, auch wenn er kein Mitgefühl aufbrachte. So hätte Bruder Richter es beinahe dabei belassen, dann jedoch machte Tenegrid einen gefährlichen Fehler. »Hinfort!« rief er wieder und legte dem stämmigen Mann eine Hand auf die Schulter, um ihn zur Tür zu schieben. Zu schnell, um sie kommen zu sehen, schoß Bruder Richters Hand empor und knallte Tenegrid schwer gegen die Kehle. Der Mann stolperte ein paar Schritte nach hinten und hielt sich an einer Stuhllehne fest, nur um dann mitsamt dem Stuhl umzufallen. Es kostete Bruder Richter gewaltige Willenskraft, sich zur Tür zu bewegen, so sehr schrie es in ihm nach Mord, so sehr verlangte es ihn danach, seinen Zorn an Avelyns widerlichem Bruder auszulassen und ihm vor seines Vaters Augen den Kopf abzureißen, um sich dann in aller Seelenruhe auch um den Alten zu kümmern. Aber das wäre unklug gewesen und hätte ihm nur erschwert, Avelyn zu finden, und das war schließlich seine vornehmste Aufgabe. »Die ganze Abtei teilt Euren Schmerz um den Verlust«, sagte er zu Jayson Desbris. Als der alte Mann den Blick ungläubig von seinem Sohn abwandte, der noch immer keuchend am Boden lag und mit
beiden Händen die verletzte Kehle umklammerte, sah er den Mönch verschwinden. Nun, da seine Bemühungen keine Früchte getragen hatten, mußte Bruder Richter sich der Magie zuwenden, dem Karfunkelstein, der wegen seines Vermögens, Zauberkräfte aufzuspüren, auch Drachenaug genannt wurde. Wenig später, nachdem sich Youmaneff und Umgebung als leer erwiesen hatten, ließ der Mönch das elendige Nest hinter sich. Nur eines war schlimmer als eine kalte Fährte, und das war überhaupt keine Fährte. Nun kam ihm die Welt wahrlich weit vor. Ein paar Tage später erhielt er bei der zufälligen Begegnung mit einer Handelskarawane den ersten Hinweis auf Zauberkraft. Einer der Kaufleute besaß einen Stein – und gab es auch prompt zu, als Bruder Richter ihn in seinem abgedeckten Wagen in die Enge trieb. Es handelte sich lediglich um einen Diamantsplitter, mit dem sich während der langen Reisen einiges an Kerzen und Öl einsparen ließ. Bald war der Mönch wieder unterwegs, nach Norden diesmal und ohne seiner Stute sonderlich viel Rast zu gönnen. Die größte Stadt des Bärenreiches war Ursal, und dort wollte er trotz der lauernden Fallstricke mit seiner Suche beginnen. Wahrscheinlich waren etliche Ursaler Kaufleute im Besitz von Edelsteinen; die Abtei war dem Handel mit Juwelen ja nicht gerade abgeneigt. Sein Suchstein würde ihn in hundert verschiedene Gassen zugleich führen, in eine Sackgasse nach der anderen. Aber wenn man die geringe Reichweite des Drachenaug-Steins bedachte – er vermochte Magie nur im Umkreis von wenigen hundert Fuß zu lokalisieren –, dann hatte Bruder Richter in einer begrenzten Stadt immer noch mehr Chancen als in den weiten, leeren Landstrichen des mittleren und nördlichen Bärenreiches.
Er hatte kaum ein Drittel des Weges nach Ursal hinter sich gebracht, da stieß er unvermittelt auf eine heiße Spur und schlug eine andere Richtung ein. Es war reiner Zufall, daß er auf seinem Weg nach Dusberry am Masur Delaval in einem Weiler haltmachte, der selbst für einen eigenen Namen noch zu klein war und nur wenige Wochen zuvor Besuch von einem »irren Mönch« erhalten hatte. Die Reaktion der Einwohner auf seine braune Kutte war es, die ihm verriet, daß er nicht der erste Abellikaner-Mönch war, der in letzter Zeit hier durchgekommen war. Als er die Schänke betrat, seufzten die Leute und schienen Angst zu haben, und dann, als hätten sie erkannt, daß es sich bei ihm um jemand anderen handelte, seufzten sie erneut, sichtlich erleichtert diesmal. Auf seine Frage erklärten sie nur zu bereitwillig, daß sie vor kurzem von einem »irren Mönch« heimgesucht worden waren, der ihnen nicht nur böse Omen, sondern auch einen Kampf geliefert hatte. Einer der Männer präsentierte einen gebrochenen Arm, der noch lange nicht geheilt war. »Dürfte der Kirche nicht gerade guttun, einen wie den herumzuschicken, damit er die Leute verprügelt!« erklärte der Mann. »St. Gwendolyn am Meer hat etliche Kirchgänger verloren seit dieser Geschichte«, fügte der Schankwirt hinzu. »Der Mönch kam aus St. Gwendolyn?« fragte Bruder Richter, dem dieses Kloster, eine abgelegene Festung hoch oben auf einer steilen Klippe, vielleicht zwei Tagesritte weiter östlich gelegen, nicht unbekannt war. Der Mann mit dem gebrochenen Arm zuckte nichtssagend mit den Schultern und wandte sich zu dem Wirt um, der auch nicht mehr wußte. »Er trug die gleiche Kutte wie Ihr«, sagte der Wirt.
Bruder Richter hätte nur zu gern gewußt, ob dieser Mönch irgendwelche magischen Steine bei sich geführt oder überhaupt etwas Magisches an sich gehabt hatte, aber er mußte einsehen, daß diese beiden ihm das sicher längst erzählt hätten, und außerdem wollte er auch nicht zuviel von sich selbst preisgeben, da er befürchtete, daß Avelyn nur um so schwerer aufzutreiben sein würde, wenn er erfuhr, daß er verfolgt wurde. So kam der Mönch an eine Beschreibung, und wenn sie auch nicht allzusehr auf den Avelyn Desbris paßte, den er gekannt hatte, reichte sie doch aus, um seine Neugier aufrechtzuerhalten. So hatte er, ganz plötzlich, eine Beschreibung, einen Titel »der irre Mönch« – und eine Richtung, denn die Bewohner des Dörfchens beharrten einmütig darauf, daß der Mönch zusammen mit seiner Gefährtin, einer jungen Schönheit von vielleicht zwanzig Jahren, die Straße nach Westen eingeschlagen hatte. Die Fährte war warm, und sie führte Bruder Richter von Stadt zu Stadt, bis nach Dusberry am Masur Delaval. Unterwegs erfuhr er sogar noch mehr, nämlich daß dieser irre Mönch während einer weiteren Wirtshausschlägerei ein paar Männer mit einem blauen Blitz von den Füßen gerissen hatte. Graphit. Weniger als einen Monat, nachdem er das Dörfchen verlassen hatte, durchschritt Bruder Richter die befestigten Tore von Palmaris und war überaus zuversichtlich, dem schurkischen Mönch erneut ein Stück näher gekommen zu sein. Nur zwei Tage später stellte Bruder Richter bei der Benutzung seines Drachenaug-Steines fest, daß es im nordöstlichen Viertel der Stadt, der Villengegend über dem Masur Delaval, eine Quelle starker Magie gab. In der Überzeugung, seine Beute gefunden zu haben, hetzte der Mönch wie ein Löwe, der ein altersschwaches Zebra entdeckt hat, durch die Straßen und über einen überfüllten Marktplatz
hinweg, wobei er mehr als einen überraschten Einkäufer von den Füßen riß. Mit einiger Besorgnis näherte er sich den Toren des entsprechenden Hauses, einem riesigen Bauwerk aus importierten Materialien: Da blitzte reinweißer Marmor aus dem Süden neben dunklen Hölzern aus den Waldlanden, und im Garten standen Skulpturen, wie sie nur die besten Ursaler Bildhauer zustande brachten. Sein erster Gedanke war, daß Avelyn sich bei einem wohlhabenden Kaufmann verdingt hatte, um irgendwelche magischen Großtaten für ihn zu vollbringen oder vielleicht auch nur den Hofnarren abzugeben. An diese Hoffnung klammerte sich Bruder Richter, obwohl ihm seine Vernunft sagte, daß sie mehr als gering war. Würde Avelyn die als überaus heilig angesehenen Steine in fremde Dienste stellen? Wohl doch nur im Notfall, und da Avelyn kaum länger als ein paar Wochen in Palmaris weilen konnte, vermochte Bruder Richter sich ihn in einem solchen Haus nicht recht vorzustellen. Diese Überlegung führte ihn zu einer anderen Möglichkeit, die er lieber nicht in Erwägung zog. Er schlüpfte über das Tor und ließ sich ohne jedes Geräusch in den Vorgarten hinab, der mit so vielen Hecken und Gebüschen bepflanzt war, daß der Mönch sicher war, weder vom Haus noch von der breiten Straße aus bemerkt worden zu sein. Bevor er noch ein Dutzend Schritte gegangen war, belehrte ihn das Knurren eines Wachhundes eines Besseren. Fluchend blieb Bruder Richter stehen, und dann kam er, der Hund, ein muskelbepacktes, schwarzbraunes Ungetüm mit einem riesigen Schädel und glänzendweißen Fängen. Der Hund zögerte nur kurz, als wollte er Maß nehmen, dann sprang er los, daß die Lefzen nur so flogen, und zeigte Bruder Richter sein scheußliches Gebiß. Der Mönch ging in die Knie und spannte sämtliche Muskeln an. Wild kam der Hund herangeschossen, doch in dem
Augenblick, als er dem Mann an die Kehle gehen wollte, sprang dieser hoch in die Luft und zog die Beine an. Der Hund, der schon zu nah heran war, um ihn dennoch erwischen zu können, kam schlitternd zum Stehen, dummerweise genau unter dem Mönch, der ihm schwer ins Kreuz krachte. Dem Hund knickten die Beine weg; er gab ein Jaulen von sich, und dann tat er keinen Muckser mehr. Mit gebrochenem Rückgrat lag er da, ohne noch atmen zu können. Überzeugt, daß das Tier kein warnendes Bellen mehr ausstoßen konnte, ging Bruder Richter weiter. Er beschloß, auf weitere Versteckspiele zu verzichten, und marschierte direkt zur Vordertür, um den schweren, sicherlich ebenfalls importierten Messingklopfer zu betätigen, ein zu einer höhnischen Fratze verzerrtes Gesicht. Kaum sah er, daß der Knauf sich drehte, da hob er den Fuß und beschrieb eine Drehung, so perfekt abgepaßt, daß sein Fuß genau in dem Moment auf die Tür traf, da sie geöffnet wurde. Der Mann auf der anderen Seite, ein Hausdiener, wurde zu Boden geschleudert, und Bruder Richter trat ein. »Dein Herr?« fragte der Mönch knapp. Der Mann bekam vor Bestürzung kein Wort heraus, und das wollte dem ungeduldigen Mönch gar nicht gefallen. »Dein Herr?« hakte er nach, wobei er ihn beim Kragen packte und wieder auf die Füße stellte. »Ist nicht zu sprechen«, erwiderte der Diener. Bruder Richter schlug ihm ins Gesicht und packte ihn mit einem Griff bei der Kehle, der keinen Zweifel daran ließ, daß er sie ihm auch mühelos herausreißen konnte, wenn er wollte. Der Mann zeigte auf eine Tür am Ende der Halle. Bruder Richter zerrte ihn mit sich. Doch bevor er die Tür erreicht hatte, stieß er den armen Kerl zu Boden, denn er spürte
die ersten Wellen eines Angriffs, eines magischen Angriffs, der von diesem Raum aus gegen ihn geführt wurde. Rasch holte der Mönch seinen gelben Sonnenstein hervor und ließ sich in dessen Verteidigungszauber fallen. Der Angriff hatte einige Wucht – wenngleich von dem starken Avelyn mehr zu erwarten gewesen wäre –, aber der Sonnenstein zählte zu den mächtigsten Juwelen von St. Mere-Abelle; seine Abwehr war umfassender als die des üblicherweise für solche Zwecke benutzten Chrysoberylls, und seine Kraft war stärker fokussiert als die jedes anderen Steins, einzig auf den Zweck, jedwede Magie abzuschirmen. Im nächsten Moment war der Mönch von einem gelblichen Glühen umgeben, und die Angriffswellen waren neutralisiert. Der Mönch schnaubte verächtlich und trat gegen die schwere Tür. Sie ächzte, öffnete sich aber nicht. Wieder und wieder trat er dagegen, immer auf Höhe des Schlosses, bis das Holz des Türpfostens splitternd nachgab und die Türe weit aufflog, um den Blick auf einen untersetzten, in kostbare Gewänder gehüllten Mann freizugeben, der hinter einem großen Schreibtisch aus Eichenholz stand und eine geladene Armbrust angelegt hatte. »Ihr habt einen Schuß«, sagte Bruder Richter ruhig und trat in den Raum, ohne den Kaufmann aus den Augen zu lassen. »Einen Schuß, und wenn der nicht sitzt, werdet Ihr eines langsamen, qualvollen Todes sterben.« Die Hände des Mannes begannen zu zittern; das wußte Bruder Richter, ohne hinzusehen. Aber er sah, daß der Mann das Gesicht verzog, als ihm eine Schweißperle von der Braue ins Auge lief, und er sah, daß der Mann sich auf die Lippen biß. »Keinen Schritt weiter!« befahl der Händler mit jedem Quentchen Mut, das er aufbringen konnte.
Bruder Richter blieb stehen und lächelte böse. »Bringt Ihr es fertig, mich zu erschießen? Ist es das, was Ihr möchtet?« »Ich möchte nur beschützen, was mir gehört«, erwiderte der Händler. »Ich bin Euch nicht feindlich gesonnen.« Der Händler starrte ihn ungläubig an. »Ich habe Euch für jemand anderen gehalten«, sagte Bruder Richter ruhig, wobei er dem Händler den Rücken zukehrte und die Tür so fest schloß, wie es der zerschmetterte Pfosten zuließ. »Ich verfolge einen gefährlichen Flüchtling, der sich auf Steinzauber versteht«, erklärte er und drehte sich wieder um, ein entwaffnendes Lächeln auf den Lippen. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß außer ihm noch jemand soviel Zauberkraft freisetzen kann.« Als die Armbrust sich senkte, gelang es Bruder Richter, ein böses Grinsen zu unterdrücken. »Ich bin jederzeit bereit, St. Precious zu helfen«, erklärte der Kaufmann. Bruder Richter schüttelte den Kopf. »St. Mere-Abelle. Meine höchst wichtige Mission hat mich quer durchs Bärenreich geführt. Ich wähnte mich bereits am Ziel. Vergebt mir mein Eindringen; unser Abt wird Euch sämtliche Kosten ersetzen.« Der Kaufmann winkte ab; bei der Erwähnung des Abtes hatte seine Miene sich aufgehellt. »Wie geht’s dem alten Markwart denn?« fragte er mit plumper Vertraulichkeit. Der Mönch fand es ungeheuerlich, daß dieser Kerl – diese widerliche, schleimige Krämerseele – sich allen Ernstes als ebenbürtig empfand, was den ehrwürdigen Vater anging, und das wohl nur, weil er ihm einen Stein abgekauft hatte – wo sonst hätte er ein so mächtiges Juwel erstehen können? Aber Bruder Richter schluckte seinen Zorn hinunter, denn ihm waren die Beziehungen zwischen den Kaufleuten und der Abtei weit klarer als den Kaufleuten selbst. Vater Markwart
war allzeit bereit, von ihnen Geld zu nehmen, aber das hieß noch lange nicht, daß er sie respektierte. »Vielleicht kann ich Euch behilflich sein bei Eurer Mission«, bot der Kaufmann an. »Aber wo sind meine Manieren geblieben? Ich bin Folo Dosindien, Dosey für meine Freunde und Euren Abt! Ihr müßt hungrig sein oder durstig vielleicht.« Er wollte schon seinen Diener rufen, als Bruder Richter ihn unterbrach. »Ich brauche nichts«, versicherte er dem Händler. »Außer Hilfe bei Eurer Suche vielleicht«, sagte dieser listig. Einigermaßen beeindruckt legte der Mönch den Kopf schief. Der Mann besaß zumindest einen mächtigen Stein – einen Hämatit wahrscheinlich. Mit einem solchen Stein würde sich vieles einfacher gestalten. »Ich suche einen Mitbruder«, erklärte er. »Man nennt ihn den irren Mönch.« Der Kaufmann zuckte mit den Schultern; augenscheinlich sagte ihm dieser Name nichts. »Er befindet sich in Palmaris?« »Zumindest ist er hier durchgereist«, erklärte der Mönch, »vor höchstens zwei Wochen.« Der Kaufmann setzte sich hinter seinen Schreibtisch und verzog nachdenklich das Gesicht. »Wenn er auf der Flucht ist, dann hat er wahrscheinlich irgendwo beim Südhafen Unterschlupf gesucht«, überlegte er. Dann sah er den Mönch resigniert an. »Palmaris ist groß.« Bruder Richter schwieg. »Ich habe keinen Hehl aus meinem Namen gemacht«, erklärte der Mann. »Und ich trage keinen Namen, bei dem man mich rufen kann«, erwiderte Bruder Richter. Diesmal drang der Zorn bis in die kalten Augen empor. Dosey räusperte sich. »Äh, ja. Ich wünschte mir jedenfalls, mehr für Markwart und seine Untergebenen tun zu können.«
Bruder Richter kniff die Augen zusammen. Ihm wollte es gar nicht gefallen, wie dieser närrische Kaufmann versuchte, sich über ihn zu stellen, indem er so vertraulich von seinem Abt sprach. »Aber es gibt da einen Ort«, flüsterte der Händler unvermittelt und beugte sich vor, »der Antworten bereithält. Antworten auf sämtliche Fragen der Welt.« Bruder Richter hatte keine Ahnung, worauf der Händler hinauswollte und was dessen plötzlich fast manischer Gesichtsausdruck zu bedeuten hatte. »Aber nicht, bevor wir gespeist haben«, sagte Dosey und sank in seinen Stuhl zurück. »Kommt, ich werde Euch einen Tisch decken, wie es in Palmaris keinen zweiten gibt, auf daß Ihr bei Eurer Rückkehr nach St. Mere-Abelle Gutes zu sagen wißt über Markwarts alten Händler freund.« Bruder Richter machte das Spielchen mit und stellte fest, daß Dosey nicht übertrieben hatte. Seine Dienerschaft – der Mann, den Bruder Richter kurz zuvor auf den Hosenboden gesetzt hatte, und drei Frauen, von denen eine von unbestreitbarer Schönheit war – trug Gang um Gang der erlesensten Fleischstücke und süßesten Früchte auf. Zu dem saftigen Lammbraten und den dicken Wildbretscheiben wurden Pilze und dunkle Saucen gereicht, die Orangen sprühten förmlich vor Saft, wenn sie in Schnitze zerteilt wurden, und die Melonen, groß, rund und gelb, wie der Mönch nie zuvor welche gesehen hatte, übertrafen an Süße alles, was seinen Gaumen je berührt hatte. Er aß und trank, ohne der Völlerei zu huldigen, und als das Mahl vielleicht zwei Stunden später vorüber war, saß er wieder nur still da und überließ die Gesprächsführung seinem Gegenüber. Der Mann plauderte in einem fort – hauptsächlich von seinen diversen Geschäften, die ihn in sämtliche Klöster des
Bärenreiches geführt hatten, ja sogar ins ferne Alpinador nach St. Brugalnard. Bruder Richter, wohl wissend, daß er beeindruckt zu sein hatte, gab sich große Mühe, eben diesen Eindruck zu erwecken, während aus den Minuten erneut eine Stunde wurde. Dosey unterbrach seine Geschichten nur für einen gelegentlichen Rülpser; er berauschte sich so sehr daran, ein wichtiger Mann zu sein, daß er sein Gegenüber kaum noch wahrnahm. Augenscheinlich pflegte er hauptsächlich mit Menschen Umgang, die – ob nun aus Lebensnotwendigkeit oder aus Habgier – ein Stück von seinem Reichtum ergattern wollten; und vor einem solch aufmerksamen, wenn auch unfreiwilligen Publikum ließ sich natürlich schwätzen, soviel man wollte. Vor lauter Protzerei entging Dosey völlig, was für ein endlos langweiliger, lächerlicher Hanswurst er war. Und auch Bruder Richter brauchte den Kaufmann oder hielt es zumindest für plausibel, daß dieser ihm bei seiner höchst wichtigen Mission helfen konnte. Das allein ließ den Mönch auch lange nach Sonnenuntergang noch am Tisch sitzen. Schließlich und mit einer Plötzlichkeit, die den Mönch aus seinem beinahe traumartigen Zustand der Langeweile aufschrecken ließ, erklärte Dosey, daß es an der Zeit sei, ein paar Antworten zu bekommen, und man solche Geschäfte besser in der Dunkelheit erledigte. Seine Heimlichtuerei weckte das Mißtrauen des Mönchs, wenngleich er dem Kaufmann nicht allzuviel zutraute. Vielleicht wollte der Narr mit Hilfe des Hämatits den einen oder anderen Schankwirt der Hafengegend übernehmen, um so etwas über den irren Mönch in Erfahrung zu bringen. Die beiden kehrten in das Arbeitszimmer mit dem großen Eichenholztisch zurück. Dosey ließ seinen Diener einen zweiten Stuhl bringen und neben den Schreibtisch stellen; dann forderte er den Mönch auf, es sich bequem zu machen.
»Ich könnte ja dorthin«, schlug der Händler vor, um dann jedoch den Kopf zu schütteln, als gefalle ihm diese Idee überhaupt nicht, ja erschrecke ihn sogar. Bruder Richter schwieg; er schien nicht im mindesten beeindruckt. »Aber vielleicht solltet Ihr besser selbst dorthin gehen«, fuhr der Händler mit einem schlauen Grinsen fort. »Wollt Ihr?« »Gehen wohin?« »Wo Antwort wartet.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht. Ihr seid im Besitz eines Steines, mehr weiß ich nicht.« »Oh, es ist mehr als nur ein schlichter Stein.« Dosey griff unter den Aufschlag seiner feinen grauen Jacke und zog eine Anstecknadel hervor, eine große Brosche, die er dem Mönch vor die Nase hielt. Nun konnte Bruder Richter kein Desinteresse mehr heucheln. Die Mitte der Brosche wurde von einem Hämatit gebildet, wie er es sich gedacht hatte, einem glänzend grauen Oval, in dessen Tiefen es schimmerte. Eingefaßt in gelbes Gold, war er von einer Reihe kleiner, durchsichtiger, runder Kristalle umgeben. Da sich die verschiedensten Arten so zuschleifen ließen, konnte Bruder Richter zunächst nicht sagen, um welchen Stein es sich handelte, aber er spürte ihre Magie, die auf irgendeine Weise mit den Kräften des Hämatits verbunden war. »Mein eigener Entwurf«, prahlte Dosey. »Richtig lustig wird’s doch erst, wenn man die verschiedenen Kräfte miteinander kombiniert, stimmt’s?« Richtig lustig, wiederholte Bruder Richter im stillen und haßte diesen Mann für seine Respektlosigkeit den heiligen Steinen gegenüber. »Diese Brosche stellt eine Kombination dar, die mir nicht geläufig ist«, gestand er. »Simple Quarzkristalle«, erklärte Dosey und ließ einen Finger um den Rand der Brosche kreisen. »Für Fernsicht.«
Ein Stein zum Wahrsagen, erkannte Bruder Richter, und ihm ging allmählich ein Licht auf. Der Quarz ließ einen Dinge sehen, die meilenweit entfernt waren; wenn man das mit dem Geistreisen des Hämatits kombinierte… »Hiermit könnt Ihr an einen Ort gelangen, der Antworten bereithält«, versprach Dosey, »einen Ort, der nur mir bekannt ist. Dort lebt ein Freund, ein wahrlich mächtiger Freund, der auf Euren Markwart gehörig Eindruck machen würde!« Diesmal fiel Bruder Richter die vertrauliche Erwähnung des Abtes kaum auf, so sehr nahmen ihn die Andeutungen in Anspruch. Seine Faszination ging rasch in Beklommenheit über, als ihn die deutliche Ahnung überkam, in etwas Gefährliches hineingestolpert zu sein. Ihm fiel Doseys ängstlicher Gesichtsausdruck wieder ein, als dieser überlegt hatte, selbst auf die Reise zu gehen; eine Mischung, so schien es, aus schierem Entsetzen und höchstem Kitzel zugleich. Was für eine Kreatur konnte eine solche Reaktion auslösen? Was nur wartete dort am Ende der Geistreise? Den Mönch durchlief ein Schaudern. Vielleicht sollte das Kloster besser zweimal darüber nachdenken, bevor es Narren wie Dosey seine Steine verkaufte. Im nächsten Moment schon war dieser Gedanke verflogen, denn dieser Mönch, dieser Bruder Richter, war darauf abgerichtet worden, nicht lange bei schlechten Gefühlen oder auch nur Zweifeln verweilen zu können, was die Entscheidungen seiner Herren betraf. »Geht.« Dosey hielt ihm die Brosche hin. »Überlaßt Euch dem Stein. Er kennt den Weg.« »Werde ich jemandes Körper übernehmen?« »Der Stein kennt den Weg.« Schlichte Worte, gesprochen mit einer ruhigen und in gewisser Weise hinterhältigen Stimme. Ganz hinten im Kopf des Mönchs flackerte eine winzige Erinnerung an sein Leben als Quintall auf, und er wußte
plötzlich, daß so ein Junge sprach, der ein kleineres Kind zu einem Streich anstiften wollte. Ohne Dosey aus den Augen zu lassen, ergriff er die Brosche, die schier zu summen schien vor Kraft. Sobald er sich auf die Geistreise machte, würde sein Leib schutzlos sein, aber er bezweifelte, daß Dosey jemanden angreifen würde, den Markwart geschickt hatte. Und selbst wenn, sollte es Bruder Richter, der den Hämatit bereits geöffnet hatte, doch wenig Schwierigkeiten bereiten, einfach den Körper des Händlers zu übernehmen. Das mußte auch Dosey wissen, und dieses Wissen war dem Mönch Sicherheit genug. Also lehnte sich Bruder Richter auf seinem Stuhl zurück, schloß die Augen und ließ sich von der Magie der Brosche aufsaugen. Er stellte sich den Hämatit als einen dunklen Teich vor, in den er langsam hineinwatete, während sich hinter ihm die dingliche Welt in ein graues Nichts auflöste. Dann waren sein Geist und sein Körper zwei voneinander getrennte Wesenheiten. Der Mönch sah sich aus seiner neuen Perspektive im Arbeitszimmer um, aber sein Blick wurde immer wieder von den durchsichtigen Steinen angezogen, die den Hämatit umkränzten. Sie zogen ihn machtvoller an, als er es je zuvor erlebt hatte, zwingend und unwiderstehlich. Zweifel schlugen über ihm zusammen wie peitschende schwarze Schwingen, Zweifel daran, ob seine Entscheidung so weise gewesen war, ob es so weise war, solch mächtige Steine an Narren zu verkaufen. Er fiel, stürzte immer tiefer in das Glitzern, das Funkeln hinein, fiel von dem Zimmer weg, fort von seiner sterblichen Hülle und diesem Narren von einem Kaufmann. Und dann flog er schneller als ein Gedanke dahin. Zeit und Entfernung verzerrten sich. Erst schien er schon eine Stunde lang unterwegs zu sein, dann plötzlich nur eine Sekunde, und was ihm wie eine endlose Ebene erschien, hatte er im nächsten
Moment schon hinter sich gebracht. Immer weiter nach Norden flog Bruder Richter, zu den Waldlanden, den Wilderlanden, über große Seen und tiefe Wälder hinweg und dann auf ein Gebirge, auf schroff aufragende Gipfel zu. Immer wieder sah er sich schon von dem zerklüfteten Gestein zerfetzt, nur um im allerletzten Moment darüber hinweggehoben zu werden. Nie hätte er sich träumen lassen, daß Steinzauber so präzise abgestimmt werden konnte, daß sich der seherische Aspekt dieser Kristalle auf solche Weise nutzen ließ. Es war gefährlich und ging weit über seinen Sachverstand hinaus – und soweit er wußte, kannte er sich mit den Steinen besser aus als jeder Mensch auf Erden, vom ehrwürdigen Vater und Avelyn Desbris einmal abgesehen! Über die Bergkette gelangte er in ein gewaltiges Hochtal, das im Schutze schroffer Felsen lag. Eine unvorstellbar große Streitmacht lagerte dort, schwarz wimmelnd wie Ameisenvölker. Er wollte tiefer gehen und die Soldaten genauer in Augenschein nehmen, wollte herausfinden, welch unfaßbare Streitmacht sich dort versammelt hatte, aber das ließen die kraftvollen Kristalle nicht zu. Er flog auf einen einzelnen, rauchenden Berg zu, dessen Südhang von Bäumen bestanden war, der jedoch zwei schwarze Arme ausstreckte, mit denen er die versammelten Armeen umfaßte. Bruder Richter wäre beinahe ohnmächtig geworden, so sehr war er von der wahnwitzigen Geschwindigkeit überwältigt, mit der es plötzlich in den Berg hinein und durch eine Folge schmaler Tunnel ging. Er spürte den Druck jeder halsbrecherischen Kurve, obwohl seine sterbliche Hülle doch Hunderte von Meilen entfernt war. Bei jedem Fall, jedem unvermittelten Aufstieg verschwamm alles um ihn herum, und sein Denken setzte aus. Dann schoß er auf zwei große bronzene Türflügel zu, die mit unzähligen Mustern und Symbolen verziert waren. Sie öffneten
sich nur einen Spalt, und durch diese winzige Öffnung hindurch schoß sein körperloser Geist in eine gewaltige Kammer, die von Steinsäulen in der Form riesiger Krieger gesäumt war. Er sauste an ihnen vorbei, ohne weiter auf sie zu achten, denn am anderen Ende der Kammer stand auf einem Podest ein Thron, und auf diesem saß ein Wesen, das an Kraft alles übertraf, was Bruder Richter je gesehen hatte, ein Wesen, dessen machtvolle, abgrundtief böse Ausstrahlung eine Verhöhnung alles Lebendigen war. Dann war der Flug zu Ende, und Bruder Richter stand unten vor dem Thron. Er sah an sich hinab, denn normalerweise waren Geistreisende unsichtbar. Nicht aber hier drinnen. Der Mönch sah aus wie immer, nur daß er ganz grau war und durchsichtig, so daß er durch seine Füße hindurch den grauen Stein sehen konnte, auf dem er stand. Nicht, daß der Anblick ihn lange fesseln konnte, wo er sich doch dieser Ungeheuerlichkeit gegenübersah, die von so hoch oben auf ihn hinunterstarrte. Was für ein rothäutiges, schwarzäugiges Ungeheuer war das? Welche Ausgeburt der Hölle, angetan mit ledrigen Schwingen, Hörnern und Klauen, war da gekommen, um im Diesseits zu wandeln? Was für ein Dämon? Die Fragen zogen sich zu einer Spirale zusammen und mündeten in einer entsetzlichen Gewißheit, die ihn schier um den Verstand zu bringen drohte. Er kannte dieses Wesen! Er hatte von ihm gehört, im Kloster, hatte von ihm gelesen in den theologischen Schriften. Mit Furcht hatten die Meister von dem gesprochen, der ihrem Gott gegenüberstand. Er kannte ihn! Dann hast du diesen Narren von einem Kaufmann also vernichtet und seinen Schatz gestohlen, dachte etwas in ihm, und im selben Moment spürte er, wie etwas in ihm wühlte, wißbegierig und mit kalten Fingern. Reine Abscheu war es, die
ihn rettete, die ihn wie eine Schleuder von diesem Schreckensort wegkatapultierte, aus den Tunneln hinaus über die wimmelnde Ebene hinweg, über die lagernden Truppen des Bösen, wie er nun wußte, über die Berge, die Wälder und die Seen hinweg bis zurück nach Palmaris, in das Arbeitszimmer des Kaufmanns und dann mit solcher Wucht in seinen Leib, daß er beinahe hintenüber gefallen wäre. »Und, wißt Ihr nun mehr?« fragte ihn Dosey, kaum daß er blinzelnd die Augen geöffnet hatte. Bruder Richter starrte in sein manisch verzerrtes Gesicht und sah nur zu deutlich, was aus jemandem wurde, der mit diesem Wesen in Berührung kam. Er wollte den Mann durchschütteln und ihn fragen, was er da getan, was er da geweckt hatte, aber dafür war es zu spät, war es längst zu spät. Eine solche Schuld ließ sich nicht wiedergutmachen. Wer wußte schon, welch gefährliche Neugierde in dem Dämon geweckt worden war. Der Mönch riß die Hände hoch und packte Dosey bei der Kehle. Dosey zerrte verzweifelt an seinen Handgelenken und versuchte um Hilfe zu rufen. Aber die starken Arme seines Gastes ließen sich nicht abschütteln. Der Mönch zwang den schwächlichen Kaufmann in die Knie und ließ auch dann noch nicht los, als dieser aufhörte, sich zu wehren, als seine Arme schlaff herunterbaumelten. Außer sich vor Zorn und Entsetzen schlich Bruder Richter durch das Haus und suchte nach der Dienerschaft, der Familie des Kaufmanns. Lange nach Mitternacht war sein wirres, wütendes Werk getan. Die Brosche befand sich in seiner Tasche, und im Haus von Folo Dosindien war es totenstill.
8. Symphony
»Ich spüre Frieden, Onkel Mather, ein größeres Zugehörigkeitsgefühl, als ich es je empfunden habe«, sagte der Hüter langsam, nachdem er über eine halbe Stunde auf seinem hölzernen Stuhl in der Finsternis gesessen und in den kaum wahrnehmbaren Spiegel gestarrt hatte. Die Ironie seiner Worte ließ ihn leise lachen. »Und doch komme ich gerade einmal auf zwei, wenn ich meine Freunde zähle, und einer davon ist kaum mehr als ein Schatten, ein Schemen, das nicht sprechen kann!« Wieder mußte Eibryan lachen, so verdreht waren seine Gedankengänge. »Hier gehöre ich her«, erklärte er. »In diese Gegend, diese Orte – Dundalis, Weedy Meadow und Weltenend. Zu diesen Leuten gehöre ich, auch wenn sie sich kaum dazu herablassen, mich zu grüßen. Was außer Bradwarden und dir ist es denn, daß ich mich hier aufgehoben fühle, daß ich hier mehr Ruhe und Frieden empfinde als unter den Touel’alfar, die doch meine Freunde wurden und mehr für mich empfanden als alle Siedler zusammen?« Lange starrte er das Bild in den dunklen Tiefen des Spiegels an und überdachte seine Worte, suchte nach der Antwort. »Pflichtgefühl ist es«, sagte Eibryan schließlich. »Die Überzeugung, daß ich hier etwas tue, das die Welt besser macht – oder jedenfalls meinen Winkel dieser weiten Welt. Bei den Elfen hatte ich das Gefühl, über mich selbst hinauszuwachsen; ich lernte und übte und verbesserte meine Fähigkeiten jeden Tag ein bißchen mehr. Hier setze ich diese Fähigkeiten ein, um die Welt zu verbessern, um diejenigen zu beschützen, die Schutz brauchen, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht. Darum gehöre ich hierher. Hier werde ich
gebraucht, hier zählen meine Fertigkeiten – mein wachsames Auge und mein enges Verhältnis zu den Tieren und Pflanzen des Waldes –, auch wenn sie nicht gerade geschätzt werden.« Eibryan schloß die Augen und öffnete sie für eine ganze Weile nicht mehr, während ihm die vielen Pflichten durch den Kopf gingen, die an diesem Tag noch erledigt werden mußten. Bald begriff er, daß Onkel Mather verschwunden sein würde, wenn er die Augen wieder öffnete, denn die Trance war vorüber. So war es jedesmal; noch vor dem Morgengrauen hatten die täglichen Notwendigkeiten seinen hochfliegenden Geist eingeholt und aus dem Philosophen wieder einen Pragmatiker gemacht. Inzwischen suchte er das Orakel regelmäßig auf, manchmal zwei- oder gar dreimal in der Woche, und es gelang ihm jedesmal, das Bild seines Verwandten heraufzubeschwören, des Hüters, der ihm vorausgegangen war. Er fragte sich oftmals, ob sich in diesem Spiegel auch Olwans Bild finden ließ oder das seiner Mutter oder vielleicht gar Ponys. Ja, Pony hätte er gern einmal wiedergesehen, um mit ihr zu reden und sich die unschuldigen Zeiten ins Gedächtnis zu rufen, als Wachegehen ein Kinderspiel gewesen war und man aus Alpträumen noch hatte erwachen können. Als er aus der kleinen Höhle unter den Baumwurzeln hervorkrabbelte, lächelte er vor sich hin. Wie immer fühlte er sich nun frisch und munter und voller Tatendrang. Er hoffte, Bradwarden ausfindig zu machen, denn der Zentaur hatte ihm nach wochenlangem fröhlichem Geprahle schließlich ein Wettschießen versprochen. Für den Fall, daß er gewann – und Eibryan hatte keinen Grund, daran zu zweifeln –, sollte sein Preis sein, daß Bradwarden ihn auf seiner bevorstehenden Reise nach Westen in den Wald bei Weltenend begleitete. Immer schön eines nach dem anderen, sagte sich der Hüter. Er hob Falkenschwinge auf, entfernte die gefiederte Spitze
samt Sehne und wanderte an einen Ort, den er zu dem seinen auserkoren hatte. Es war dies ein nahezu baumloser Hügel, der demjenigen sehr ähnelte, den er in Andur’Blough Inninness so oft aufgesucht hatte. Hier schwang sich in klaren Nächten sein Geist zu den Sternen empor, hier badete er im ersten Licht des Morgens und im letzten Abendrot. Rasch legte der Hüter seine Kleidung ab. Das Gras umspielte kitzelnd seine Füße. Tanzend begrüßte er die Dämmerung, seinen Stock wie ein Schwert führend, mit langsamen, achtsamen Schritten. Er brauchte über die Bewegungen nicht nachzudenken, denn sie hatten sich tief in das Gedächtnis seiner Muskeln eingeprägt. Inzwischen beherrschte er den Schwerttanz bis zur Vollendung, und es waren keine neuen Schritte mehr zu lernen, keine komplizierteren Figuren, keine schnelleren Übergänge. Diese Bewegungen allein schon sorgten dafür, daß seine Körperbeherrschung immer besser wurde, daß Körper und Geist im Einklang blieben. In der halben Stunde, die er für seinen Tanz nun brauchte, ließ er seinen Körper jedes Manöver durchlaufen, das im Kampf benötigt wurde, verankerte er die richtigen Bewegungsabläufe immer tiefer im Gedächtnis seiner Muskeln. Schön war der Hüter anzuschauen, wie er sich da mit der Geschmeidigkeit eines Tieres und mit der Beherrschtheit eines Menschen zugleich bewegte. Eine Kombination von Kraft und Beweglichkeit, ein ausgeglichener, denkender Krieger. Der Name Nachtvogel und die damit verbundenen Unterweisungen stellten das größte Geschenk der Touel’alfar dar. Dieser Zustand der Harmonie, diese Verbindung zweier Philosophien, zweier Arten, die Welt zu sehen, zweier Arten zu kämpfen; sie stellten das größte Geschenk der Elfen dar. Schweißperlen glänzten im Morgenlicht, rannen seinen kräftigen, gestählten Leib hinab. Obwohl seine Bewegungen nicht schnell waren, erforderte es doch ungeheure Kraft, den
Schwerttanz zu vollziehen, da oft Muskel gegen Muskel arbeiten oder eine Muskelgruppe so vollständig isoliert werden mußte, daß es bis an die jeweiligen Grenzen ging. Kaum fertig, hob Eibryan seine Kleider auf und lief zu einem nahe gelegenen Teich, um sich ohne Zaudern in das eisige Wasser zu werfen. Nach einigen erfrischenden Schwimmzügen zog er sich an und nahm sein Morgenmahl zu sich; dann machte er sich auf die Suche nach Bradwarden. Zu seiner Erleichterung befand sich der Zentaur in der angegebenen Gegend, wenn auch etwas von der Stelle entfernt, die er ihm für ihr Wettschießen genannt hatte. Um es dem Hüter leichtzumachen, ließ der Zentaur an diesem Morgen seine Pfeifen ertönen und begleitete den Sonnenaufgang mit einer betörenden Melodie, die leise begann und langsam lauter wurde, um sich dann mit den ersten Sonnenstrahlen emporzuschwingen und weithin über die langgestreckten Hügel zu erschallen. So dauerte es nicht lange, bis der von den Klängen angelockte Eibryan inmitten eines Felsgewirrs den Pferdemenschen fand. Als der Zentaur seinen Freund erblickte, brach er sein Spiel ab, und auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Traust dich also doch!« dröhnte er. »Bekomm ich doch noch dein Gesicht zu sehen!« »Mein Gesicht und meinen Bogen«, erwiderte der Hüter und hielt Falkenschwinge empor. »Aye, das Elfenstöcklein«, sagte Bradwarden und reckte seinen eigenen Bogen empor. Eibryan, der ihn zum ersten Mal sah, machte große Augen. Quer auf eine Plattform montiert, wäre das Ding glatt als ansehnliche Bogenschleuder durchgegangen! »Seit wann verschießt man seine Pfeile mit einem Baum?« höhnte Eibryan.
Bradwardens Lächeln wurde beinahe noch breiter. »Nenn sie Pfeile«, sagte er gelassen und legte seine Pfeifen zu Boden, um einen Köcher zu schultern, der Eibryan als Schlafsack hätte dienen können. »Nenn sie Speere. Aber krieg einen ab, und du nennst sie Tod!« Das glaubte Eibryan ihm aufs Wort. Bradwarden führte sie durch das Felsgewirr zu einer großen Wiese, auf der er sechs Zielscheiben aufgestellt hatte, eine jede ein Stück weiter von der Abschußlinie entfernt. »Wir fangen mit der vordersten an und arbeiten uns dann zur hinteren durch«, erklärte der Zentaur. »Wer zuerst danebenschießt, hat verloren.« Eibryan nickte; diese Regeln paßten zu Bradwardens rauher Art wie die Faust aufs Auge. Eigentlich war es üblich, daß jeder Schütze eine bestimmte Anzahl Schüsse pro Scheibe hatte und derjenige mit dem besten Endergebnis gewann. Bei Bradwarden hingegen war mit einem Fehlschuß bereits alles vorbei. Eibryan trat vor und legte an. Das erste Ziel sollte kein Problem darstellen, es war kaum mehr als dreißig Schritt entfernt. Ein sauberer, flacher Schuß, und sein Pfeil schlug dicht neben der Mitte ein. Ohne ein Wort der Anerkennung hob Bradwarden seinen monströsen Bogen und zog durch. »Hast den Riesen nur gepiekst«, sagte er und ließ los. Sein Geschoß krachte neben Eibryans Pfeil ins Ziel und warf das dreibeinige Ding glatt um. »So«, verkündete der Zentaur, »erlegt man einen Riesen.« »Dann schieß ich wohl besser jedesmal zuerst«, sagte Eibryan trocken. Der mächtige Zentaur lachte herzhaft. »Wenn nicht, wirst du wohl hoch zu den Wolken schießen und hoffen müssen, daß dein Pfeil genau aufs Ziel hinunterfällt!«
Bevor der Zentaur geendet hatte, traf Eibryans zweiter Pfeil schon mitten ins Schwarze, über eine Distanz von nunmehr vierzig Schritt. Bradwarden traf ebenfalls, und wieder fiel die Scheibe um. Im Handumdrehen waren sie beim fünften Ziel angelangt. Die ersten drei Scheiben hatte es umgehauen, aber die vierte stand noch, denn Bradwardens großer Pfeil hatte zwar getroffen, aber nicht mehr genug Wucht gehabt. Die fünfte Scheibe nun war die erste, für die Eibryan den Bogen etwas anheben mußte, wenn auch nur ein Stückchen. So stark war Falkenschwinge, daß der Pfeil die vielleicht einhundert Schritt in einer kaum gekrümmten Linie überwand und mitten ins Schwarze traf. Zum ersten Mal schien der Zentaur beeindruckt. »Guter Bogen«, murmelte er, dann legte er an und schoß. Als Eibryan die Flugbahn abschätzte, ballte er schon siegesgewiß die Faust. Doch Bradwardens Pfeil traf, am äußersten linken Rand zwar nur, aber er blieb stecken. »Glück gehabt«, sagte Eibryan trocken. Bradwarden stampfte auf. »Überhaupt nicht«, beharrte er ganz ernsthaft. »Hab auf die Waffenhand gezielt.« »Ach, und wenn es nun ein Linkshänder gewesen wäre?« erwiderte der Hüter prompt. Bradwardens Lächeln war wie weggefegt. »Letzter Schuß«, sagte er langsam. »Dann werden wir uns ein paar Bäume als Ziele nehmen müssen.« »Oder ein paar Blätter«, sagte Eibryan und legte an. »Verschluck dich mal nicht«, sagte der Zentaur unvermittelt, und Eibryan, der den Schuß beinahe in den Sand gesetzt hätte, entspannte die Sehne langsam wieder. »Was soll das heißen?« »Nimmst den Mund ganz schön voll«, erklärte der Zentaur. »Als nächstes willst du wohl noch’ne Wette abschließen.«
Eibryan ließ den Bogen sinken. Er sah zur letzten Scheibe zurück, die Bradwarden beinahe nicht getroffen hätte. Oder war das Absicht gewesen? Wollte Bradwarden ihn reinlegen? Gewiß, der Zentaur war ein guter Bogenschütze, aber hatte er sich etwa noch zurückgehalten? »Meine Pfeifen könnten einen neuen Sack gebrauchen«, überlegte Bradwarden. »Keine schwere Arbeit, aber eine schmutzige – abhäuten und so weiter.« »Und wenn ich gewinne?« Eibryans Blick, der zum kräftigen Rücken des Zentauren glitt, sagte alles. Bradwarden lachte auf, als wäre diese Vorstellung völlig absurd. Dann funkelte er seinen Menschenfreund drohend an. »He, wenn du das nur einmal versuchst, genehmige ich mir mal wieder einen Happen Menschenfleisch.« »Nur bis Weltenend«, sagte Eibryan. »Ich möchte möglichst schnell wieder zurück sein.« »Niemals!« erklärte der Zentaur. »Eine Maid dürfte mich vielleicht reiten, aber nur, wenn wir anschließend tauschten«, schloß er mit einem anzüglichen Zwinkern. Das wollte Eibryan sich lieber nicht vorstellen. »Was dann?« fragte er. »Ich halte die Wette, aber ich will einen anständigen Preis.« »Ich könnte dir einen anständigen Bogen machen«, zog Bradwarden ihn auf. »Und ich könnte dir auf hundert Schritt einen Pfeil in den Hintern jagen!« »Groß genug dafür ist er«, gab der Zentaur zu. »Aber was könntest du denn gebrauchen, mein Freund, mal abgesehen davon, daß du sowieso nicht gewinnst.« »Hab ich doch gerade gesagt. Das Wandern macht mir Spaß, aber ich fürchte, ich brauche eine schnellere Methode, wenn ich die drei Ortschaften im Auge behalten will.« »Auf meinen Rücken steigst du nie im Leben.«
»Führst du die wilden Pferde an?« fragte Eibryan. »Ich nicht«, erwiderte Bradwarden. »Dafür ist jemand anders zuständig.« Ein merkwürdiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, ein merkwürdiger Ausdruck, als habe er gerade des Rätsels Lösung gefunden. »Aye«, sagte er langsam, »dies sei dein Preis. Sollte in meinen Pfeil der Blitz einschlagen – denn das wäre die einzige Möglichkeit, daß du gewinnst –, dann bringe ich dich zu dem, der die wilde Herde führt. Daß wir uns recht verstehen: Ich bringe dich hin, der Rest ist deine Angelegenheit.« Eibryan begriff, daß er reingelegt werden sollte, daß dieser Preis in Bradwardens Augen eher eine Bestrafung darstellte. Den Hüter durchlief ein Beben, und ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Wer mochte dieser Anführer sein, daß er dem großspurigen Bradwarden einen so untypischen Respekt abnötigte? Eibryan war so beeindruckt, daß er trotz aller Beklommenheit zustimmte. Er hob Falkenschwinge und ließ den Pfeil fliegen, der sich tief ins weit entfernte Ziel senkte. Bradwarden grunzte anerkennend, dann legte er an, und auch sein Schuß saß. »Drei«, sagte Eibryan und ließ in rascher Folge drei Pfeile fliegen, von denen keiner danebenging. Bradwarden tat es ihm gleich. »Vierte, fünfte und sechste!« rief Eibryan und nahm sich – zack, zack, zack – die entsprechenden Scheiben vor. Er traf jedesmal, einmal ins Schwarze, und einmal spaltete er seinen eigenen Pfeil vom ersten Durchgang. Der Zentaur, dem allmählich aufging, daß er vielleicht zum ersten Mal in einem Menschen seinen Meister gefunden hatte, seufzte. Das vierte Ziel traf er leicht genug, auch das fünfte noch, aber sein letzter Pfeil streifte den oberen Rand der
Scheibe nur und verschwand am anderen Ende der Wiese im Unterholz. Eibryan lächelte breit und ballte die Faust. Er sah zu Bradwarden hinauf und stellte fest, daß der Zentaur ihn auf eine Weise ansah, die er bisher noch nie an den Tag gelegt hatte: respektvoll. »Hast einen wahren Drachentöter von einem Bogen, mein Freund«, sagte Bradwarden. »Und wahrlich die ruhigste Hand, die ich je gesehen habe.« »Ich hatte den besten Bogenmacher und die besten Lehrer. Was das Bogenschießen betrifft, so kann es auf der ganzen Welt niemand mit den Touel’alfar aufnehmen.« Bradwarden schnaubte. »Liegt bloß daran, daß die dürren Kerlchen sich an den Feind nicht rantrauen! Komm, laß uns gehen und unsere Pfeile einsammeln, und dann zeig ich dir mal was.« Gesagt, getan. Der Zentaur führte Eibryan tief in den Wald hinein; sie passierten das Tal mit den Kiefern und der Rentierflechte und wanderten in eine tiefe Schlucht hinein und wieder hinaus. Stundenlang marschierten sie dahin, ohne viele Worte zu machen, aber der Zentaur hob oft seine Pfeifen zu einem Lied empor. Schließlich, als die Sonne schon gen Westen sank, gelangten sie in ein geschütztes Kiefernwäldchen, das die ungefähre Form einer Raute hatte. Es befand sich auf dem sanften Hang eines weiten Hügels und war rundum von einer hohen Wiese voller Wildblumen umgeben. Eibryan wollte kaum glauben, daß ihm dieses Gehölz bisher entgangen war, daß seine Hüterinstinkte auf diesen Ort, der sich so vollkommen in die Harmonie des Waldes fügte, nie angesprochen hatten. Dieses Gehölz – mit jeder einzelnen Blume, jedem Busch und Baum und Stein und dem mitten hindurchlaufenden Bächlein – hatte etwas an sich, das über die gewöhnlichen Wälder dieser Region hinausging.
Etwas Heiliges, das nach Andur’Blough Inninness gepaßt hätte, aber nicht in die verdorbene Menschenwelt. Dieser Ort war verzaubert; Eibryan spürte es so deutlich, wie er es im Tal der Elfen gespürt hatte. Gedankenverloren und beinahe wie in Trance ging der Hüter näher, Bradwarden an seiner Seite. Durch dichte Nadelbäume hindurch gelangten sie in das Herz des Wäldchens und fanden im dichten Unterholz ein verschlungenes Netz leerer Pfade vor. Eibryan wanderte dahin, ohne auch nur ein Wort zu sagen, als fürchtete er, die Stille zu stören, denn durch diese Mauer aus Kiefern drang nicht einmal der leiseste Windhauch. Der Pfad schlängelte sich hin und her, mündete erst in dem einen Pfad, um sich dann in drei andere zu teilen. Das Wäldchen war nicht groß, vielleicht zweihundert Meter breit und halb so lang, aber Eibryan war sich sicher, daß diese Pfade, legte man sie schnurgerade aneinander, eine Strecke von mehreren Meilen ergeben würden. Oftmals wenn er nicht wußte, wie es weitergehen sollte, sah er sich nach Bradwarden um, aber der Zentaur schenkte ihm keine Beachtung. Sie kamen an einen dunklen, schattigen Flecken, wo der Pfad sich teilte und um einen großen Felsvorsprung herumführte, der über und über mit kleinen gelben Blumen bewachsen war. Eibryan sah sich um, und als er zu dem Schluß kam, daß der Pfad sich hinter dem Felsen wieder vereinte, ging er nach rechts. Bald kam er an der erwarteten Stelle an und wäre beinahe weitergegangen. »Ganz schön unaufmerksam für einen Elfenzögling«, donnerte Bradwardens tiefe Stimme durch die Stille. Eibryan fuhr herum. Hinter Bradwarden ragte die Rückseite des »Felsens« empor, der den Pfad teilte. Der Steinhaufen maß acht mal sechs Fuß und war ungefähr rautenförmig. Eibryan trat neben den Zentauren und sah sich um. Sie mußten sich unmittelbar im Zentrum des Gehölzes befinden; darüber hinaus
war wohl dieses Hügelgrab die Quelle der Magie, denn sein Umriß war es, den der Umriß des Wäldchens widerspiegelte. Eibryan kniete sich hin und begutachtete die mit bewundernswerter Sorgfalt plazierten Steine. Als er einen berührte, spürte er ein leichtes Kribbeln, das Freiwerden von Magie. »Wer liegt hier begraben?« flüsterte er. Bradwarden schnaubte und lächelte. »Frag mich nicht«, erwiderte er, und Eibryan wußte nicht, ob der Zentaur damit sagen wollte, daß er es selbst nicht wußte, oder ob er es nur an diesem Ort nicht offenbaren wollte. »Stammt von den Elfen«, sagte der Zentaur. »War damals nicht viel größer als du.« Eibryan sah ihn neugierig an. »Und wie lange wird das her sein, in Menschenjahren?« Der Zentaur zuckte mit den Schultern und stampfte unruhig auf. »Ein halbes Menschenleben«, sagte er, und damit mußte Eibryan sich zufriedengeben. Das tat er auch. Er mußte nicht wissen, wer hier begraben lag. Augenscheinlich war der Mann oder Elf oder was auch immer den Touel’alfar sehr wichtig gewesen; augenscheinlich hatten sie diesen Ort, dieses Hügelgrab und das Wäldchen mit mehr als nur ein wenig Elfenzauber gesegnet. Damit konnte er sich zufriedengeben; Bradwarden hatte versprochen, ihm etwas Besonderes zu zeigen, und dieses Versprechen hatte er gehalten. Damit stand jedoch noch der Preis für seinen Sieg im Wettschießen aus. Er sah zu dem Zentauren hinauf. »Komm nur immer schön hierher«, sagte dieser, als habe er seine Gedanken gelesen. »Dann findest du schon heraus, wer die Pferde anführt.« Diese Bemerkung erfüllte den Hüter mit Vorfreude und Beklommenheit zugleich. Bald darauf verließen sie das
Wäldchen wieder und kümmerten sich um ihr Abendessen. In derselben Nacht noch kehrte Eibryan an den Ort zurück und am darauffolgenden Tage noch einmal, aber es sollte noch zwei Wochen dauern, bis zu seinem vierten Besuch gleich nach der Rückkehr aus Weltenend, daß Bradwardens Schuld beglichen wurde. Es war ein frischer, strahlender Herbsttag; der Wind peitschte Blätter und Wolkenberge, jagte die weißen Gebilde wie Schafe über das Himmelsblau. Nur zwischen den Kiefern war alles ruhig. Eibryan ging direkt zum Herz des Wäldchens, um demjenigen, der dort begraben lag, seine Ehrerbietung zu bezeugen; dann kehrte er an den Waldrand zurück, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Da hörte er die Musik. Zuerst dachte er, daß Bradwarden mit seinen Pfeifen zugange war, dann jedoch ging ihm auf, daß das Lied zu sanft war, ein sachtes Klingen nur, das Erdreich und Luft durchzog, ein Lied der Natur. Es steigerte sich weder in der Intensität noch in der Lautstärke, sondern klang einfach nur beständig fort, und Eibryan begriff bald, daß es etwas ankündigte, den Lauf von Hufen und den Wind. Er wandte sich um und zur Südspitze des Wäldchens, ohne recht zu wissen, was ihn da leitete. Am anderen Ende der Wiese, über den Blumen und dem Gras, erblickte er einen prächtigen Hengst, der zwischen den Schatten der fernen Bäume umherlief. Eibryan hielt den Atem an, als das große Pferd, schwarz bis auf die weißen Vorderfüße und die weiße Raute auf der Stirn, auf das offene Feld hinaustrat. Das galt ihm, obwohl er guten Wind hatte und für die Augen der meisten Pferde zu weit weg war. Der Hengst stampfte auf, erhob sich auf die Hinterläufe und wieherte. Er kam ein kurzes Stück herangeschossen, eine
Zurschaustellung von Kraft, dann machte er kehrt und preschte in den Wald davon. Eibryan holte tief Luft. Er wußte, daß dieses herrliche Roß an diesem Tage nicht wiederkehren würde, also wanderte er davon, nicht in die Richtung, in die das Pferd geritten war, sondern gen Dundalis. Er stieß auf Bradwarden, der gerade ein paar seiner teuflischen Pfeile herstellte und ihn prompt angrinste. »Auch wieder im Lande.« Der Zentaur lachte. »Bist schon im Wäldchen gewesen, wie ich sehe.« Eibryan errötete. Daß ihm seine Gefühle so ins Gesicht geschrieben standen! Der Zentaur weidete sich an seinem Anblick. »Hab dir nicht zuviel versprochen. Ist ein prachtvolles Wesen, der gute – « Er brach ab und lachte wieder. »Der Hengst hat einen Namen?« »Einen ganz besonderen. Den mußt du kennen, wenn du an ihn herankommen willst.« »Und wie kann ich ihn in Erfahrung bringen?« »Dummer Junge. Man erfährt ihn nicht, man weiß ihn einfach.« Damit spazierte der Zentaur davon und überließ Eibryan seinen Grübeleien. Am nächsten Tag war der Hüter wieder im Wäldchen, am übernächsten auch, und so ging es weiter, bis er nach mehr als einer Woche schließlich erneut jenes Lied hörte oder besser fühlte, diesmal von Westen her. »Schlau«, flüsterte er anerkennend, als das Tier aus den Schatten trat, denn diesmal war es der Hengst, der guten Wind hatte und Witterung aufnehmen konnte. Nach ein paar Minuten kam der Hengst aufs freie Feld, und wieder verschlug es Eibryan angesichts der muskulösen
Flanken und der breiten Brust, der Intelligenz seiner Gesichtszüge, der wissenden schwarzen Augen den Atem. Da lag dem Hüter ein Wort auf der Zunge, aber er bekam es nicht zu fassen. Verwirrt trat er einen Schritt vor, und das Pferd preschte davon. Der Zauber war gebrochen, die Begegnung vorüber. Ihr drittes Treffen ereignete sich nur einen Tag darauf. Wieder näherte sich der Hengst von Westen, um Eibryan anzusehen und mit den Hufen zu stampfen. Erneut schoß ihm dieses Wort durch den Kopf, das die Erscheinung des großen Pferdes vortrefflich beschrieb, und diesmal entglitt es ihm nicht. »Symphony!« rief der Hüter und trat kühn vor. Zu seiner Überraschung, seiner Freude und seinem Entsetzen stieg das Tier auf die Hinterläufe und wieherte laut, um dann auf alle viere zu gehen und aufzustampfen. »Symphony«, wiederholte Eibryan ein ums andere Mal, während er sich vorsichtig näherte. Welcher Name konnte diesem Tier besser anstehen? Welches andere Wort konnte die Schönheit und Harmonie besser beschreiben, dieses Zusammenspiel der Muskeln, diese liedgleichen Vibrationen, als würde die ganze Natur das Nahen des großen Hengstes ankündigen. Bevor der Hüter es überhaupt begriff, war er auf fünf Schritte an ihn heran. »Symphony«, sagte er leise. Das Pferd wieherte und warf den Kopf zurück. Um zu zeigen, daß er keine Bedrohung darstellte, streckte Eibryan die leeren Hände vor und trat näher. Respektvoll berührte er den Hals des Tieres und begann ihn fest und gleichmäßig zu streicheln. Langsam, ganz langsam richtete das Pferd die Ohren auf.
Dann sprang der große Hengst davon und preschte in die Schatten, ins Unterholz zurück. Tag für Tag trafen die beiden einander, und Symphony wurde immer zutraulicher. Eibryan begriff bald, daß dieses Pferd ihm zugedacht war, als hätten es ihm die Elfen als Gefährten zur Seite gestellt – und dieser Gedanke schien gar nicht so an den Haaren herbeigezogen. »Haben sie?« fragte er seinen Onkel Mather während eines abendlichen Orakels. »Ist Symphony, denn diesen Titel trägt der Hengst, das weiß ich genau, ein Geschenk der Elfen, von Juraviel vielleicht?« Die Antwort blieb freilich aus, aber durch das Hören seiner eigenen Worte bemerkte Eibryan einen gewissen Fehler in seinen Gedankengängen. »Nein, kein Geschenk«, sagte er, »denn ein solches Tier gehört niemandem. Aber die Elfen haben sicher eine gewisse Rolle gespielt, denn diese Begegnung war keine zufällige, und das Pferd hat nicht so auf mich reagiert, wie man es von einem Tier erwarten sollte, das sein Leben in vollkommener Freiheit verbracht hat.« Einen Augenblick später kam ihm die Erleuchtung: »Das Hügelgrab.« Nun war ihm alles klar. Das Hügelgrab hatte ihm Symphony geschickt – nein, es hatte sie beide zusammengeführt, den Hüter und den Hengst. Nun brannte Eibryan mehr denn je darauf zu erfahren, wer hier begraben lag, welcher große Mann – oder Elf oder Zentaur womöglich – von den Touel’alfar so großzügige Grabbeigaben erhalten hatte, einen so starken Zauber, daß er hier in vollkommener Schönheit ewige Ruhe fand, einen so starken Zauber, daß Symphony herbeigerufen und mit solcher Intelligenz ausgestattet worden war. Denn eines wußte Eibryan ganz gewiß: All das war dem Zauber des Hügelgrabs zu verdanken.
Am darauffolgenden Tag ritt er Symphony zum ersten Mal, ohne Sattel, die Hände in die dichte Mähne gekrallt. Der Wind brauste ihm in den Ohren, während die Landschaft an ihnen vorbeiflog, und sie waren so schnell und die Bewegungen des Hengstes so geschmeidig, daß Eibryan hätte schwören können, auf einem Kissen aus Luft dahinzugleiten. Kaum war er, zurück auf der Wiese beim Hügelgrab, wieder abgestiegen, da preschte Symphony davon, und Eibryan unternahm keinen Versuch, den Hengst aufzuhalten, denn er wußte, daß es sich hier nicht um die übliche Beziehung zwischen Pferd und Reiter handelte, daß er hier nicht der Herr war, sondern ein Freund, der Respekt und Vertrauen entgegenzubringen hatte. Symphony würde wieder zu ihm kommen, würde ihn wieder reiten lassen, aber nur dann, wenn der Hengst es wollte. Eibryan entbot der Stelle, an der der Hengst im Wald verschwunden war, seinen Gruß. Er hatte begriffen, daß Symphony und er jeder sein eigenes Leben führten, aber nunmehr miteinander verbunden waren.
9. Wieder zu Hause, zu Hause
In den nächsten Wochen ihres Dahinwanderns bewies Avelyn Jill, wie sehr er ihr inzwischen vertraute, denn er begann sie methodisch in die Arbeit mit den Himmelsjuwelen einzuführen. Zunächst versuchte er es auf die herkömmliche Weise, mit eben jenen Lektionen, die er in St. Mere-Abelle erhalten hatte. Doch mußte er schnell einsehen, daß Jill beinahe genauso stark war wie er damals, als Meister Jojonah ihn auf seine erste Geistreise geschickt hatte. Avelyn wußte um die Quelle ihrer Kraft. Gewiß, zum Teil war sie Jill in die Wiege gelegt, vor allem aber rührte sie daher, daß Jill eben keine Anfängerin war. Die durch den Hämatit herbeigeführte geistige Vereinigung hatte nicht nur ihm das Leben gerettet, sondern sie in die Lage versetzt, magische Energien auf einem Niveau freizusetzen, das andere Mönche erst nach monateoder gar jahrelanger Übung erreichten. Nun, da ihre Freundschaft sich vertiefte, ihr Vertrauen ineinander täglich wuchs, wagte es Avelyn erneut, Jill mit Hilfe des Hämatits zu unterweisen. Und so machte sie nicht nur entsprechend große Fortschritte, sondern Avelyn erfuhr auch immer mehr über diese verschwiegene Frau – und ihre dunkle Vergangenheit. »Dundalis.« Das Wort entsprang Jills Lippen wie der Klang einer Kirchenglocke, ein Laut, der sowohl von Weihe künden konnte, von Hoffnung und dem Versprechen des ewigen Lebens, als auch schlicht und einfach vom Tod. Die junge Frau fuhr sich durch das Haar, das ihr inzwischen wieder bis auf die Schultern fiel, und sah Avelyn argwöhnisch an. »Du hast es gewußt«, sagte sie vorwurfsvoll.
Da sich eine Antwort erübrigte, zuckte Avelyn nur mit den Achseln. »Irgendwie bist du meiner Vergangenheit auf die Spur gekommen«, fuhr die Frau fort. Das Gefühl, hintergangen worden zu sein, half ihr dabei, die massiveren Empfindungen zu unterdrücken, die in ihr aufwallen wollten, während ihr der lang vergessene Name noch in den Ohren klang, der Name ihres einstigen Heimatdorfes, auf dessen Trümmern eine neue Siedlung entstanden sein mußte. »In Palmaris«, überlegte Jill. »Du hast mit Graevis gesprochen!« »Mit Pettibwa, um genau zu sein«, sagte Avelyn trocken. »Wie konntest du es wagen?« »Ich hatte keine andere Wahl. Ich bin dein Freund.« Jill wußte nicht, was sie sagen sollte. Avelyn hatte sie nordwärts aus der Stadt geführt, den Masur Delaval entlang bis zu dessen Delta, um sich dann landeinwärts zu halten, Richtung Wilderlande. Einen regelrechten Schleichweg war er gegangen. Die ganze Zeit schon hatte sie Angst gehabt, auf einst vertrautes Gelände zu geraten, und doch hatte sie nichts wiedererkannt, bis sie plötzlich in eine Siedlung namens Weltenend gelangt waren und dort jemand etwas von »drüben in Dundalis« gesagt hatte. Am liebsten hätte sie Avelyn dafür zusammengestaucht, aber seine Worte entsprachen der Wahrheit. Ja, er war ihr Freund, einer der besten, die sie je gehabt hatte. Sie brauchte sich nur vor Augen zu halten, welches Geschenk er ihr mit den Steinen machte, um abschätzen zu können, wieviel sie ihm bedeutete. »Du läufst vor Gespenstern davon, meine Liebe«, erklärte Avelyn. »Ich sehe, wie du leidest, und ich teile deinen Schmerz. Er ist jedem deiner Schritte anzusehen, jedem einzelnen aufgesetzten Lächeln – jawohl, aufgesetzt sind sie, allesamt. Wann hast du je wirklich gelächelt, Jill? Auch nur einmal in deinem ganzen Leben?«
Die strahlend blauen Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen, und sie sah weg. »Du hast gelächelt!« erklärte Avelyn. »Natürlich hast du das! Aber das war vor der Katastrophe, vor den Gespenstern, die dir im Nacken sitzen.« »Warum hast du mich hierhergebracht?« »Weil diese Gespenster sich hier nirgendwo mehr verstecken können. Hier, in deiner alten Heimat, kannst du dich ihnen stellen, auf daß ihr endlich Ruhe findet.« Er sprach mit solchem Nachdruck, solcher Überzeugung, daß Jill ihm nicht länger böse sein konnte. Ja, Bruder Avelyn war ihr Freund, und er wollte nur ihr Bestes; er würde kämpfen und sterben für sie. Dennoch fürchtete sie, daß er eine Dummheit begangen hatte, einfach weil er das Ausmaß ihres Schmerzes unterschätzte. Avelyn konnte dieses Seelenleid nicht wirklich ermessen, das konnte nicht einmal sie selbst; aber es lauerte direkt unter der Oberfläche und wartete nur darauf, sie zu verschlingen. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wußte nur, daß sie Angst hatte. Also nickte sie schwach und ging durch die Hintertür der Schankstube zu dem Zimmer hinauf, das sie genommen hatten. Sie wußte nicht, welche Erinnerungen der Name ihres Heimatdorfes heraufbeschwören würde, aber wenn sie sich ihnen schon stellen mußte, dann wollte sie wenigstens ungestört dabei sein.
Er war über alle Maßen erzürnt gewesen, er hatte geschäumt und die Tür seines Zimmer eingetreten vor Wut und sogar einem aufdringlichen Freudenmädchen noch den Kiefer gebrochen. Denn Palmaris hatte sich als ebenso enttäuschend erwiesen, wie die Begegnung mit dem Kaufmann Dosey entnervend gewesen war. Bruder Richter hatte seine Beute
nicht zu fassen bekommen – ja, er hatte sogar an Boden verloren auf seinen ziellosen Streifzügen durch diese große Stadt. Pures Glück hatte ihm einen Mann namens Bildeborough und einen Vornehmtuer namens Grady Chilichunk über den Weg laufen lassen, alle beide Trinker vor dem Herrn. Bruder Richter fand die Geschichten, die sie für den Preis einiger Krüge billigen Bieres zum Besten gaben, reichlich interessant. Besonders als Grady bemerkte, daß er schon einmal, vor einem Monat erst, einen Abellikaner-Mönch gesehen habe, wie er mit seiner Mutter Pettibwa sprach, der Wirtsfrau der Geselligen Runde. »Höchst ungewöhnlich, gleich derer zwei zu sehen zu bekommen«, fügte Grady hinzu, »wo ihr doch sonst immer brav hinter euren Klostermauern bleibt. Apropos, wie ist es denn so im Kloster, ganz unter Männern?« Was er damit sagen wollte, lag auf der Hand, und so lachten Grady und Connor aus vollem Halse. Bruder Richter bekam ein Lächeln hin, indem er sich vorstellte, diesem Narren den Kopf abzureißen. Es gelang ihm, so lange höflich zu bleiben, bis er erfahren hatte, daß jener Abellikaner-Mönch nach Norden aufgebrochen war, zu den Wilder- und den Waldlanden, zu einem Ort namens Weedy Meadow. Da die Herbstwinde längst von einem harten Winter sangen, wagten sich keine Handelskarawanen mehr auf den Nordweg, aber davon ließ Bruder Richter sich nicht aufhalten. Er brach allein auf und zu Fuß, wobei er mehr lief als wanderte – so sehr brannte er darauf, verlorenen Boden wettzumachen und mit seiner Arbeit zu einem Ende zu kommen.
Ihr fiel der weit zurückliegende Morgen auf dem baumbewachsenen Hang wieder ein, wie sie zum Himmel hinaufgeschaut hatte, zum leuchtenden Halo mit seinem Regenbogen von Farben, seinem himmlischen Schein. Es hatte diese Musik in der Luft gelegen. Und da war jemand bei ihr gewesen an jenem Morgen. »Ein Junge«, flüsterte sie den leeren Winkeln ihres kleinen Zimmers zu. An den Rändern ihres Bewußtseins tauchte der Name »Eibryan« auf, aber er brachte ein überwältigendes Gefühl von Trauer und Verlust mit sich: jenen schwarzen Wall aus Schmerz, der sie dazu gezwungen hatte, sich zurückzuziehen, der sie dazu gebracht hatte, Connor Bildeborough den glühenden Holzscheit ins Gesicht zu stoßen. Jill holte tief Luft und drängte die Erinnerungen zurück. Schlaf fand sie nicht in jener Nacht; trotzdem stand sie am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe auf, packte einen übermüdeten – und verkaterten – Avelyn bei der Hand und zerrte ihn die Straße nach Osten hinab, nach Dundalis. Am späten Nachmittag kamen sie dort an. Die untergehende Sonne warf lange Schatten zwischen die neuen Häuser, und Jill mußte verblüfft feststellen, daß sie nichts wiedererkannte. Auf dem ganzen letzten Straßenstück, bevor die Ortschaft in Sicht kam, hatte sie den Atem angehalten und schon die Erinnerungen über sich hereinbrechen gespürt. Aber dazu kam es schlicht und einfach nicht. Dies war das neue Dundalis, erbaut auf den Ruinen des alten, aber es sah seinem Namensvetter auch nicht ähnlicher als Weedy Meadow, Weltenend oder jeder andere Grenzort – auf den ersten Blick zumindest. Avelyn ließ sich von Jill durch den Ort führen, die einzige große Straße entlang. Am Nordende stand ein alter, baufälliger Zaun, ein Weidezaun, wie Jill erkannte, und dahinter begann der Hang.
Der Hang. »Von dort oben hab ich den Halo gesehen«, sagte sie. Avelyn lächelte, doch nur kurz, denn er mußte daran denken, wie er selbst den Halo gesehen hatte, in weiter, weiter Ferne an Bord eines flinken Segelschiffes, auf seiner höchst wichtigen, heiligen Mission. »Es ist wirklich so gewesen«, flüsterte Jill, was weniger Avelyn als vielmehr ihr selbst galt. Es war beruhigend zu wissen, daß dieses kleine Bruchstück ihrer Vergangenheit, an das sie sich noch hatte erinnern können, keine Einbildung gewesen war. Als sie nun vom Nordende von Dundalis zu dem Hügelkamm hinaufschaute, der die Stadt von dem Tal mit den Kiefern und der Rentierflechte trennte, zu dem Hügelkamm, der ihr in ihrer Kindheit so wichtig gewesen war, wußte Jill ohne den geringsten Zweifel, daß ihre Erinnerung sie nicht trog. Schon fühlte sie wieder dieses Prickeln, das sie damals unter dem majestätischen Halo gespürt hatte, schon wollte ihre Seele die sterblichen Fesseln sprengen und sich ins unendliche All emporschwingen. »Der Junge«, sagte sie. »Du warst mit jemandem zusammen dort?« versuchte Avelyn ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Jill nickte. »Mit jemandem, den ich gern hatte.« Der Moment verstrich, und Jill wandte sich wieder zum Dorf um. Dabei streifte ihr Blick den alten Weidezaun, und sie stutzte. »Ich bin immer auf ihm herumgeklettert«, verkündete sie. »Wir haben immer gewettet, wer am weitesten darauf balancieren kann.« »Wir?« »Meine Freunde«, sagte Jill, ohne über die Antwort recht nachzudenken. Avelyn, der gehofft hatte, ihr mit dem letzten Einwurf ein paar Namen zu entlocken, war nicht allzu enttäuscht. Nach Norden zu gehen hatte sich als weiser Entschluß erwiesen; sie
waren noch keine Viertelstunde in Dundalis, und schon erinnerte sich Jill an mehr, als sie seit vielen Jahren gewußt hatte. »Bunker Crawyer«, sagte sie plötzlich, ganz verblüfft. »Ein Freund?« »Nein.« Jill zeigte auf den alten Zaun. »Die Weide gehörte ihm. Bunker Crawyer.« Avelyn mußte sein breites Lächeln unterdrücken, denn als Jill ihn ansah, stand ihr Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Sie erinnerte sich zwar wieder, aber schmerzlich langsam, und inzwischen war sie reichlich ungeduldig. »Laß uns ein Zimmer nehmen«, schlug der Mönch vor. »Wir sind vorhin an einem Gasthaus vorbeigekommen.« Als sie vor der Heulenden Sheila standen, wie das große Haus in der Stadtmitte sich nannte, blieb Avelyn nicht verborgen, daß Jill eine weitere Erinnerung überkam, ja schier ansprang. Die Frau starrte nicht das Haus an, sondern den Boden, auf dem es gebaut war, und ihr Gesicht spiegelte erst Verblüffung, dann Angst und schließlich abgrundtiefes Entsetzen wider. Bebend fuhr sie herum und wäre weggelaufen, hätte Avelyn sie nicht gerade noch zu packen bekommen. Er wagte es nicht, sie wieder loszulassen. Sie sah aus, als wollte sie geradewegs bis nach Weedy Meadow zurücklaufen, bis nach Weltenend oder am besten gleich bis nach Palmaris! »Was ist hier geschehen, Jill?« Sie bekam kaum Luft; sie schmeckte Rauch, dichten, schwarzen Rauch. Obwohl sie im Freien waren, hatte sie das Gefühl, eingesperrt zu sein und lebendig begraben. Avelyn schüttelte sie. »Was ist hier geschehen!« Jill holte tief Luft. Es klang rasselnd. Dann riß sie sich los und drehte sich zu dem Gasthaus um, starrte das steinerne Fundament an. »Dort unten hab ich mich versteckt.« Sie mußte
ihrer zitternden Stimme jedes einzelne Wort abringen. »Als hier alles niederbrannte. Die Schreie, all diese Schreie…« Plötzlich sackten ihre Schultern herab, und sie schluchzte auf. Hätte Avelyn sie nicht aufgefangen, wäre sie zu Boden gestürzt. Es gab nur dieses eine Gasthaus in Dundalis; überdies hatte Avelyn den weiten Weg nicht gemacht, nur damit Jill doch wieder vor den Schrecken ihrer Vergangenheit davonlief. So nahm er das letzte freie Zimmer und erklärte dem Wirt, einem fröhlichen Mann namens Belster O’Comely, daß da nichts Romantisches oder Unzüchtiges sei zwischen dem Mädchen und ihm, daß sie einfach nur gute Freunde und Weggefährten seien. Während er Jill die Stufen von der Schankstube zu den Nachtquartieren hinaufführte, fiel ihm auf, daß er bisher noch nie auf eine solche Erklärung Wert gelegt hatte. Aber da sie in diesem Städtchen wohl besser eine Weile blieben und hier jeder jeden kannte, hatte er das Gefühl, Jills Ruf schützen zu müssen. Sie würde hier auch ohne häßliches Gerede genug zu leiden haben. Jill ging sofort ins Bett, völlig ausgelangt von der Wucht ihrer Erinnerungen. Avelyn blieb lange Zeit neben ihr sitzen, da er fürchtete, daß sie von Alpträumen heimgesucht werden würde. Aber sie war wohl viel zu erschöpft, um noch großartig zu träumen. Schließlich konnte Avelyn den Lärm aus der Schankstube nicht länger ignorieren. Das halbe Dorf mußte dort versammelt sein, und so sehr er Jill auch liebte – denn das tat er, wie ein Vater seine Tochter liebte –, der Mönch hatte seine eigenen Bedürfnisse. Nur allzu bald war er unten in der überfüllten Schankstube am Trinken und in ein lautes Gespräch mit den örtlichen Pelztierjägern verwickelt, die gerade mit den ersten Wintervorräten heimgekehrt waren. Ein rauher Haufen ebenso
eigenbrötlerischer wie eigensinniger Männer und Frauen war das, die von ihren Waffen und ihrer Gerissenheit lebten, und so wetterte Avelyn nur allzu bald, daß eine Stadt mit einer so dunklen Geschichte wie Dundalis um einiges besser auf eventuelle Gefahren vorbereitet sein sollte. Als ein Jäger dagegenhielt, daß das Gefährlichste, was sich in der Gegend herumtreibe, ein verfressener Waschbär sei, trieb Bruder Avelyn ihm prompt die Faust ins Gesicht. Als der Mönch wieder aufwachte, war bis auf Belster O’Comely niemand mehr in der Schankstube. »Ho, ho, hoppla?« sagte Avelyn und betastete das dicke Schnitzel auf seinem Auge. »So schön haben die Leute hier seit Jahren nicht geübt!« Belster gab ein Lachen von sich. Die Dundalier waren nicht zimperlich und hatten gegen eine gelegentliche Schlägerei nichts einzuwenden. So merkwürdig es klang, aber Avelyn – der sich wacker geschlagen hatte, auch wenn er sich an nichts erinnern konnte – hatte sich in dieser Nacht einiges an Respekt verdient, wenngleich ihn die meisten nun für verrückt hielten. Belster präsentierte ihm ein Stück Papier, eine Rechnung. »Sie haben beschlossen, daß Ihr für die letzte Runde aufzukommen habt«, fügte der Schankwirt hinzu. »Ho, ho, hoppla!« bellte Avelyn und kramte breit grinsend die Silberstücke hervor. Sein amüsiertes Grinsen wurde zu einem warmen Lächeln, als er auf sein Zimmer ging und Jill erblickte. Sie hatte sich um ihr Kissen zusammengerollt und war ganz das arme, verlorengegangene Kind. Avelyn bückte sich und strich ihr über das dichte, goldene Haar, dann gab er ihr einen Kuß auf die Wange.
10. Und Finsternis wird kommen
Das Dorf Elkenbrook war Dundalis oder Weedy Meadow nicht unähnlich, nur daß es dort oben im Westen Alpinadors kälter war und das Landschaftsbild weniger von Laubbäumen als vielmehr von knorrigen Nadelhölzern bestimmt wurde. Der Winter hielt für gewöhnlich im Octenbrough Einzug, im achten Monat des Jahres und meist nur wenige Wochen nach der Herbstsonnenwende, um erst Ende Toumanay einem kurzen Frühling und einem noch kürzeren Sommer zu weichen. In diesem Klima gedieh ein Menschenschlag, der hell war an Haut, Haar und Auge, ein zähes Volk, stolz, wehrhaft und hart im Nehmen. Dort im Grenzland – und als solches galt der Großteil dieses halbwilden Königreiches! – konnten schon Kinder mit einer Waffe umgehen, denn so hoch im Norden ließen sich Goblins und Bergriesen öfter blicken als in den zivilisierteren Königreichen des Südens. Dies spiegelte sich auch in der Anlage der Siedlungen wider; Elkenbrook war, ganz anders als die Grenzorte des Bärenreiches, von einer acht Fuß hohen Palisade aus spitz zugehauenen Baumstämmen umgeben. So kam es, daß die Einwohner nicht allzu beunruhigt waren, als die Späher Goblin-Spuren meldeten. Selbst als sich zwischen den Spuren dieser niederträchtigen Gnome riesige Fußabdrücke fanden, zuckten die Oberhäupter der Stadt nur gleichmütig mit den Schultern und machten sich daran, ihre langen Breitschwerter und schweren Äxte zu schleifen. Erst unmittelbar vor dem Angriff war es, als die Sonne nach kaum achtstündiger Wanderung schon wieder im Westen den Horizont berührte, daß die Einwohner von Elkenbrook den
Feind richtig einzuschätzen wußten und einsehen mußten, daß sie verloren waren. Normalerweise kamen die Goblins nur als wilder Haufen durch das Buschwerk, um sich gegen die Wälle und Barrikaden zu werfen. Diesmal jedoch umzingelten sie die Stadt von einem Ende bis zum anderen, und ihre Reihen waren zehn Mann tief! Und alle zwanzig Schritte wurde diese Angriffslinie durch einen Bergriesen verstärkt, der sich in Schichten dicker Felle eingehüllt hatte. So viele Goblins hatte keiner der Einwohner je zuvor gesehen. Niemand hatte erwartet, daß diese haßerfüllten, selbstsüchtigen Wesen zu einer solchen Zusammenarbeit überhaupt fähig waren. Aber da standen sie, Schild an Schild, auf denen die Wappen des jeweiligen Stammes prangten, und die Spitzen ihrer Speere blitzten im letzten Sonnenlicht. Die ganze Stadt hielt den Atem an; niemand fand die nötigen Worte für einen neuen Befehl, einen neuen Schlachtplan. Marodierende Goblin-Horden schickten vor dem Angriff oftmals einen Unterhändler aus, um die kampflose Übergabe zu verlangen oder Schutzgeld zu erpressen. Die übliche Antwort auf solche Forderungen bestand darin, den Kopf des Unterhändlers auf eine Stange zu pflanzen und vor den Toren der Stadt aufzustellen. Diesmal jedoch fragten sich nicht wenige, ob sie nicht besser Verhandlungsbereitschaft zeigen sollten. Etliche Minuten lang standen die Goblins still und stramm da, dann teilten sich auf Kommando ihre Reihen, in einer einzigen, knappen Bewegung. In den entstandenen Lücken tauchte die nächste Überraschung auf, ein Reitertrupp. Daß ein einzelner Goblin auf einem zotteligen Pony dahergeritten kam, waren sie durchaus gewöhnt – den Anblick einer so gewaltigen Truppe jedoch nicht.
»Müssen vierhundert sein«, sagte einer, und damit war allein der Reitertrupp schon doppelt so groß wie Elkenbrooks gesamte Einwohnerschaft. Nicht weniger verblüffend war die Art und Weise gewesen, mit der sich die Goblin-Reihen geteilt hatten. »Ausgebildete Krieger«, murmelte ein anderer. »Und diszipliniert«, fügte ein dritter ungläubig und fassungslos hinzu, denn es galt unter den Menschen von Alpinador als offenes Geheimnis, daß die wilden und überaus fortpflanzungsfreudigen Goblins die Nordlande nur deshalb noch nicht überrannt hatten, weil sie nicht zusammenhalten konnten. Goblins kämpften öfter untereinander als gegen Menschen. Unmittelbar vor dem großen Tor lösten sich vier Gestalten aus den feindlichen Reihen: ein in Felle und die Haut eines weißen Bären gehüllter Bergriese von dreifacher Mannshöhe, der die größte Keule trug, die die Einwohner je gesehen hatten; ein selbst für einen Goblin häßlicher Kerl mit einem narbenzerklüfteten Gesicht und einem Armstumpf, der gerade noch bis über den Ellenbogen reichte, sowie zwei merkwürdige Männlein von Goblin-Größe, die aber nicht wie Goblins aussahen. Ihre Leiber waren dick wie Fässer, und ihre Beine waren ebenso spindeldürr wie die Arme und schienen sie kaum tragen zu können. Das beeindruckendste an ihnen waren jedoch die Mützen, die im rasch ersterbenden Tageslicht rot leuchteten. »Rotkappen«, vermutete einer der Bewohner, und um ihn herum wurde genickt, obwohl es im ganzen Dorf niemanden gab, der je einen der berüchtigten Pauris mit eigenen Augen gesehen hatte. Wieder verstrichen mehrere Sekunden, in denen die Feinde nur furchteinflößend dastanden. Dann sah einer der Zwerge den Riesen an, und dieser hob den Zwerg mit einem boshaften Grinsen hoch in die Luft empor. Den Blick fest auf Elkenbrook
gerichtet, nahm der Zwerg seine Mütze ab, um sie über dem Kopf in der Luft zu schwenken. Die Einwohner erkannten die dramatische Geste als Signal und wappneten sich für den Angriff. Was auch immer geschehen mochte, sie waren fest entschlossen, sich tapfer zu verteidigen. Doch was an ihre Ohren drang, war weder das Donnern von Hufen noch das Geheul angreifender Goblins, sondern das Knarren und Schwirren paurischer Kriegsmaschinen. Felsbrocken, zwölf Fuß lange Speere und brennendes Pech regneten auf den verstummten, erstarrten Ort herab und verwandelten ihn in einen Hexenkessel aus brüllenden, kreischenden Menschen, zerberstenden Hütten und hoch aufschießenden Flammen. Als die zweite Geschoßwelle kam, befanden sich nur noch wenige Verteidiger auf den Wehr anlagen, so viele Wunden wollten versorgt, Feuer gelöscht und Barrikaden verstärkt werden. Von dem Sturmangriff, der wahrlich prächtig anzuschauen war, sahen die meisten daher kaum etwas; aber sie hörten ihn, und unter ihren Füßen erbebte die Erde. Die dritte Geschoßwelle, die aus über zweihundert von den Fußsoldaten geschleuderten Speeren bestand, traf die Stadt unmittelbar, bevor die Reiterei heran war, und so kam es, daß die Reiter, als sie die zerlöcherten Wehranlagen hinter sich hatten, mehr tote als wehrhafte Bewohner vorfanden. Diejenigen, die den Geschoßhagel überlebt hatten, beneideten ihre gefallenen Kameraden nur allzubald um ihr jähes Ende. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, da war Elkenbrook bereits dem Erdboden gleichgemacht. Inmitten der Verheerung standen Maiyer Dek von den Bergriesen, Gothra von den Goblins und Ubba Banrock sowie Ulg Tik’narn von den Pauris. Hände und Gesichter zu den Rauchwolken emporgereckt, riefen sie ihren Führer an, ihren Abgott.
In weiter Ferne saß der Geflügelte unter dem Aida-Berg auf seinem Obsidianthron und hörte sie, labte sich an ihrer Greueltat, am ersten organisierten Angriff seiner frisch ausgebildeten Truppen. Der Dämon schmeckte das Blut und die Raserei ebenso deutlich, als stünde er neben seinen Generälen. Und dies war erst der Anfang, der Appetithappen, denn seine Armee wuchs noch immer. Tag um Tag warfen sich ganze Schwärme in Aidas schwarze Arme, und die einsamen Dörfler Alpinadors waren kaum mehr als ein Übungsgelände. Die echte Herausforderung lag weiter südlich, in den wohlhabenden und bevölkerungsreichen Landen des Bärenreiches. Sie brauchten nur noch zu warten, bis der Winter seinen Griff lockerte und der Schnee sich so weit zurückzog, daß die höheren Pässe wieder frei waren. Sie brauchten nur noch zu warten.
Jill wanderte ziellos auf dem bewaldeten Hang nördlich von Dundalis umher. Der erste Schnee war gefallen und hatte alles zärtlich zugedeckt. Frost lag in der Luft, und der Himmel prangte in seinem allerklarsten Blau. Allein diese Luft bedeutete schon Vertrautheit für sie; eine solche Frische hatte sie weder im großen Palmaris noch in Pireth Tulme je geschmeckt, wo der trübe, feuchte Nebel niemals weichen wollte. Diese Luft, diese frische, saubere Luft war Jill aus ihrer Kindheit vertraut, und nun lockte sie aus den hintersten Winkeln ihres Gedächtnisses Erinnerungen hervor, kurze Blicke auf das, was einst gewesen war. Sie wußte, daß ihr junges Leben ein glückliches gewesen war, voller Freiheit und ausgelassener Spiele. Sie wußte, daß sie viele Freunde gehabt hatte, Mitverschwörer in einem großartigen und spitzbübischen Plan nach dem anderen. In
gewisser Weise war das Leben einfacher und klarer gewesen damals, die Arbeit hart, das Spiel wild, das Essen gut und wohlverdient, und das Lachen war aus dem Bauch gekommen und nicht aus irgendeinem Sinn für das, was sich gehörte. Die Einzelheiten dieser vergangenen Existenz jedoch blieben ihr verborgen. Zwar kehrten viele Gesichter schon wieder, aber immer ohne Namen. Enttäuschung war es daher, die Jill an diesem strahlenden Morgen den bewaldeten Hang zum Grat und zu zwei Kiefern hinauftrieb, von denen man einen guten Blick über das breite Tal mit den gedrungenen Bäumen hatte, deren dunkle Zweige vom Schnee betupft waren, so daß sie sich kaum noch von der weißen Rentierflechte am Boden abhoben. Kaum hatte sich Jill in den Schutz dieser Kiefern gesetzt, da stürmten weitere Erinnerungen auf sie ein. Dort unten im flechtenbewachsenen Tal waren Jäger aufgetaucht; Jäger mit schwerbeladenen Stangen über den Schultern. Wie froh hatte dieser Anblick sie damals gemacht! Die Einzelheiten wurden immer klarer. Wie sie dem Trupp entgegenlief und ihn aus den Augen verlor, kaum daß sie in das Tal getreten war. Wie sie im Zickzack durch das Unterholz brach, um jemanden abzuhängen, einen Freund. Wie die Kiefernnadeln ihre Arme streiften, als sie das letzte Hindernis durchbrach und plötzlich vor den heimkehrenden Jägern stand – ja, und wie die Jäger aussahen, wie ihr Vater aussah! Sie sah alles ganz deutlich vor sich! Wie herrlich die Stangen sich bogen unter der Last von Hirsch und Hase, Rentierbock und… was war das? Jill riß die Augen auf. Die plötzlich allzu lebhafte Erinnerung an dieses häßliche, mißgestaltete tote Etwas sprang sie an, daß sie beinahe geflohen wäre. Doch sosehr sie auch nach Luft schnappen mußte, sie gab nicht auf. Wieder rief sie sich den Morgen vor Augen, den
herrlichen Morgen, der dem heutigen so ähnlich gewesen war. Sie hatte den Halo erblickt, und dann waren die Jäger heimgekehrt, darunter ihr Vater, waren heimgekehrt mit den Wintervorräten – und dem Goblin. »Der Goblin«, flüsterte Jill, und allein der Klang dieses Namens gab ihr die Gewißheit, daß dieses tote Etwas der Vorbote des Untergangs von Dundalis gewesen war – des Untergangs ihres Zuhauses, ihrer Familie, ihrer Freunde. Obwohl sie sich nach Kräften wehrte, zitterten ihre Hände, kam ihr Atem nur in flachen Stößen. »Seid Ihr wohlauf, werte Dame?« Fast wäre ihr das Herz stehengeblieben. Als sie den Kopf herumriß, sah sie, wer sie da angesprochen hatte: ein Abellikaner-Mönch. Er trug die gleiche braune Kutte wie Avelyn, und die zurückgeschlagene Kapuze enthüllte seinen kahlrasierten Kopf. Er war wesentlich kleiner als Avelyn, hatte aber breite Schultern, die auf einige Kraft schließen ließen. »Seid Ihr wohlauf?« Er stellte seine Frage ruhig und leise, aber in seiner Stimme schwang eine Härte mit, die jede Besorgnis geheuchelt erscheinen ließ. Und er nahm Jill genau in Augenschein, besah sich ihr Haar, ihre Augen und ihre Lippen, als habe er lange nach einer wie ihr gesucht. Und das hatte er auch. Bruder Richter, der die zahlreichen Beschreibungen der Reisegefährtin des irren Mönchs noch gut im Ohr hatte, brauchte sich nur die vollen Lippen dieser Frau anzusehen, die atemberaubend blauen Augen und diese dichte Mähne goldenen Haars, um Bescheid zu wissen. »Ihr solltet nicht ohne Begleitung hier heraufkommen«, erklärte er. Jill funkelte ihn an und berührte leicht den Griff ihres Kurzschwerts, um ihn darauf hinzuweisen, daß sie nicht unbewaffnet war. »Ich habe in der Armee des Königs gedient«,
versicherte sie dem Mönch. »Bei der Küstenwache.« Erst als sich die Augen des Mannes daraufhin prompt verengten, begriff Jill, daß sie das besser nicht hätte sagen sollen. »Wie heißt Ihr?« fragte er. »Wie heißt Ihr denn?« blockte Jill nun um so vorsichtiger ab. Es kam ihr merkwürdig vor, daß ein einzelner AbellikanerMönch so weit im Norden unterwegs war und sich dann auch noch von den Straßen fernhielt. Sie mußte an Avelyns Erzählung denken, an seinen Abfall vom Orden. Konnte eine solche Handlung Konsequenzen nach sich ziehen? Konnte es sein, daß der zunehmende Bekanntheitsgrad des irren Mönchs ungewollt die Aufmerksamkeit des gestrengen Ordens auf sich gezogen hatte? »Wie ich heiße, spielt für niemanden eine Rolle«, erwiderte der Mönch ruhig. »Mit einer Ausnahme. Für einen Mann, der einst mein Ordensbruder war, bevor er vom Weg abgekommen ist und mein Kloster bestohlen hat. Jawohl«, sagte er, denn ihm war Jills wachsende Besorgnis nicht entgangen, »für meinen Bruder Avelyn Desbris heiße ich Bruder Richter. Für deinen Gefährten, Mädchen, bin ich der verkörperte Untergang; mich hat die Kirche geschickt, um wiederzuholen, was nicht ihm gehört.« Jill war aufgesprungen und hatte die Klinge gezogen. »Du hebst die Waffe gegen einen rechtmäßigen Sendboten der Kirche?« herrschte der Mönch sie an. »Gegen einen, der vom ehrwürdigen Vater persönlich zum Bruder Richter ernannt wurde, auf daß er die gerechte Strafe an dem verbrecherischen Mönch vollstrecke, den du deinen Gefährten schimpfst?« »Ich werde Avelyn nicht im Stich lassen«, versicherte ihm Jill. »Er ist kein Verbrecher.«
Der Mönch stand nur da und sah sie böse an. Dann sprang er, ganz plötzlich und mit überraschender Heftigkeit, nach vorn und trat mit dem Fuß nach Jills vorgereckter Klinge. Jills rasche Reaktion rettete ihr das Schwert; der Tritt streifte sie nur und zwang sie einen Schritt nach hinten. Bruder Richter stand locker da, bereit zum nächsten Sprung und mit wachsendem Respekt. Diese Frau war keine Novizin, was das Kämpfen anging, und besaß höchst geschärfte Reflexe. »Es wird gemunkelt, daß auch du eine Verbrecherin bist«, versuchte er sie aus der Reserve zu locken, »eine Deserteurin aus Pireth Tulme.« Jill zeigte keine Regung. »Vielleicht hat die Küstenwache ja ein Kopfgeld ausgesetzt«, überlegte der Mönch, und dann ging er los wie eine Schleuder, sprang nach vorn und brachte in rascher Folge drei Tritte in verschiedener Höhe an. Jill wich aus und konterte dann mit einem eigenen Vorstoß. Ihr Gewissen ließ sie zögern – sie war im Begriff, ein menschliches Wesen zu töten! Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn der gefährliche Mönch ließ ihr nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit dazu. Im allerletzten Moment erst duckte er sich zur Seite weg und knallte ihr den linken Unterarm gegen die Breitseite des Schwertes; gleichzeitig machte er einen Schritt nach vorn und ließ die rechte Faust vorschießen. Jill wich prompt zurück, bekam den Schlag jedoch voll in die Rippen, so daß ihr die Luft wegblieb. Sie taumelte rückwärts, fing sich wieder und ging in Verteidigungsposition. Als sie wieder klar denken konnte, ging ihr auf, daß der Mönch ihr nicht nachsetzte, daß er nicht versuchte, das Bestmögliche aus seinem soeben gewonnenen Vorteil herauszuholen. Ruhig stand er da, ein Dutzend Fuß entfernt;
eine Hand war in seiner Kutte verschwunden. Zu Jills Verblüffung schloß er nun sogar die Augen. Dann hatte sie keine Zeit mehr für Verblüffung, denn obwohl er noch immer dort vor ihr stand, griff der Mönch sie erneut an, ihr Innerstes, ihren Geist, und plötzlich mußte sie mit nichts als ihrer Willenskraft darum kämpfen, die Kontrolle über ihren Körper zu behalten! Ein sengender Schmerz schoß ihr durch Leib und Seele. Dem Mönch mußte es ähnlich ergehen – aber dieser Gedanke vermochte sie kaum zu beruhigen. Sie spürte sein obszönes Eindringen als dunkle Wand, die sich in sie hineinschob, die sie vollkommen aus ihrem eigenen Körper hinausdrängte. Zuerst war sie vollkommen überwältig und hatte das Gefühl, dem überhaupt nichts entgegensetzen zu können. Aber bald gelangte sie zu der Erkenntnis, daß sie sich in diesem Körper – auf diesem ihrem Schlachtfeld – durchaus gegen das bösartige Eindringen des Mönchs wehren konnte. Die Schattenwand wich ein Stück zurück, als Jill sich mit aller Willenskraft dagegenpreßte, die sie nur aufbringen konnte. Sie stellte sich vor, eine Lichtquelle zu sein, eine heiß brennende Sonne und rechtmäßige Besitzerin dieser sterblichen Hülle, und es klappte. Die Schatten lösten sich in Nichts auf, und Jill stolperte einen Schritt nach vorn und riß die Augen auf. Er war unmittelbar vor ihr und grinste sie höhnisch an. Da begriff sie, daß sein geistiger Angriff nur eine Finte gewesen war, ein Ablenkungsmanöver, von dem er sich wesentlich rascher hatte erholen können als sie. Das begriff sie in der letzten bewußten Sekunde, die ihr noch blieb, und doch brachte ihr dieses Begreifen nur Verzweiflung, denn er war zu dicht heran, zu gut vorbereitet, und es bestand keine Möglichkeit zur Gegenwehr mehr.
Bruder Richter knallte ihr die Handkante gegen die Kehle, daß sie rückwärts in den Schnee fiel, auf die nasse Erde. Ein einzelner, sauberer Schlag war es, aber leicht abgebremst, denn der Mönch wollte die Frau nicht umbringen. Durch sie würde er erfahren, wo dieser hinterhältige Avelyn sich versteckt hatte, und mit ihr als seiner Gefangenen hatte er einen feinen Köder zur Hand. Er wollte sie nicht umbringen, aber sobald er mit Avelyn fertig war, würde diese Frau ebenfalls sterben müssen. Dem Bruder Richter war das einerlei.
11. Ein wirkungsvoller Schlag
Eibryan setzte sich ganz nach hinten und schob seinen Stuhl direkt in die Ecke, so daß er zu beiden Seiten Deckung hatte. Nicht, daß er Ärger erwartete – die Dundalier mochten ihn zwar nicht, aber sie waren nie offen feindselig gewesen –, ihm waren seine Lektionen nur so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß er sich jederzeit in die bestmögliche Verteidigungsposition begab. Die Menge war laut an diesem Abend und die Schänke berstend voll, denn draußen fiel leichter Schnee, und es stand zu befürchten, daß noch mehr herunterkam. Wurde ein ausgewachsener Schneesturm daraus, saßen die Leute womöglich für die nächsten sieben Tage in ihren Häusern fest. Die Getränke flossen in Strömen, die Reden waren grob und drehten sich überall ums Wetter, nur am einen Ende des Tresens nicht. Dort stritt sich ein fetter Kerl in einer braunen Kutte mit einigen Dörflern über die Wahrscheinlichkeit eines Goblin-Überfalls. »Ich erzähl euch doch nichts Neues«, verkündete Bruder Avelyn trocken. »Ein Riesen-Blutbad haben sie angerichtet und den ganzen Ort in Schutt und Asche gelegt.« »Aber doch nur, weil Dundalis’ Jäger sich vorher im Wald einen Goblin geschossen haben«, protestierte ein Mann namens Tol Yuganick, ein Bär von einem Mann, wenngleich er neben dem dreihundert Pfund schweren Avelyn nicht mehr ganz so bärig wirkte. »Und das ist bald zehn Jahre her. Die Goblins kommen nicht wieder. Warum sollten sie?« »Erst recht nicht, wo Väterchen so gut aufpaßt«, lachte ein zweiter und sah demonstrativ zu Eibryan hinüber, der allein an
seinem Tisch in der Ecke saß. Die anderen drei Zecher fielen bereitwillig in sein Lachen mit ein. »Und, wer ist dieser Mann?« wollte Avelyn wissen. »Genau der Richtige für Eure Weltuntergangsgeschichten«, sagte Tol und kippte das Bier in sich hinein, daß Mund und Kinn nur so troffen vor Schaum. »Und, war er nicht auch genau der Richtige für diesen wildgewordenen Schwarzbären?« fragte Belster O’Comely im Näherkommen und machte sich so energisch mit seinem Lappen am Tresen zu schaffen, daß zwei der Männer rasch ihre Krüge in Sicherheit brachten. »Eben jenen Bären, der dein Haus verwüstet hat, Burgis Gosen!« Der kleinere Burgis machte einen Rückzieher. »Bah!« schnaubte Tol, und eine Wolke des Zorns huschte über seine groben Züge. Der großgewachsene Mann hatte Belsters freundliche Haltung diesem schrägen Nachtvogel gegenüber nie gutgeheißen und daraus auch nie einen Hehl gemacht. Belster legte die Hände auf den Tresen. Für lange Zeit hatte der Schankwirt seine Freundschaft mit Eibryan nicht an die große Glocke gehängt, wohl wissend, daß sein eigener Ruf auf dem Spiel stand. Kürzlich jedoch hatte er davon die Nase voll gehabt und beim örtlichen Sattler einen Sattel in Auftrag gegeben, ohne großartig geheimzuhalten, daß dieser für Nachtvogel bestimmt war, als Gegenleistung für einige Gefälligkeiten. »Der Bär war krank und wäre eh bald gestorben«, tönte Tol Yuganick weiter. »Wer weiß, ob unser großer Reichsverweser da drüben das verdammte Viech überhaupt zu sehen bekommen hat.« Die anderen grunzten und nickten zustimmend. Belster, der einsehen mußte, daß er gegen eine so übellaunige Truppe nicht ankam, schüttelte nur den Kopf und machte sich wieder an die
Arbeit. Kein Wunder, daß Tol das mit dem Bären wurmte, denn der Jäger hatte das Tier selbst erlegen wollen – und hätte in diesem Falle auch eine ansehnliche Belohnung eingestrichen! Auch Bruder Avelyn beachtete Tol Yuganicks jubelndes Publikum nicht weiter. Er musterte den Mann in der hinteren Ecke, den Tol bissig als »unseren großen Reichsverweser« bezeichnet hatte. Vielleicht verstand er ja, was in der Welt wirklich vorging. »Eigentlich könnt ihr ihm doch allesamt dankbar sein«, dachte der Mönch laut, während er den Mann unverwandt ansah. Im nächsten Moment bekam er einen kräftigen Stoß vor die Brust. »Wir brauchen hier keinen, der auf uns aufpaßt!« Tol Yuganick baute sich so nah vor ihm auf, daß sich ihre Nasen beinahe berührten. Die jungenhaften Züge des Mannes waren von einer fast schon wahnsinnigen Wut verzerrt. Der Mönch hielt seinem Blick lange stand; dann warf er einen Blick zum Tresen, wo Belster resigniert den Kopf schüttelte; der Schankwirt wußte, was kommen mußte. Avelyn trat zurück und holte eine Taschenflasche aus den Tiefen seiner Kutte hervor. »Zum Mutmachen«, flüsterte er Burgis Gosen mit einem Zwinkern zu; dann nahm er einen ordentlichen Schluck. Mit einem zufriedenen »Aaah!« rieb er sich mit der einen Hand kräftig über das Gesicht und verstaute gleichzeitig mit der anderen die Flasche. Dann sah Avelyn wieder zu Tol, stellte dessen bedrohlichem Blick einen der reinsten Vorfreude entgegen. Tol knurrte und griff an, aber darauf hatte Avelyn nur gewartet. »Ho, ho, hoppla!« bellte der Mönch. Mit einem einzigen schwungvollen linken Haken streckte er den Kerl nieder.
Prompt stürzten sich zwei von seinen Kumpels auf den Mönch, und als dieser sie einfach abwarf, ging der Kampf erst richtig los. Hinter dem Tresen schüttelte Belster mit einem tiefen Seufzer den Kopf und fragte sich, wie viele nachher überhaupt noch würden stehen können, wenn es wieder einmal ans große Reinemachen ging.
Bruder Richter lächelte böse, als er die Heulende Sheila erreichte und das Getöse einer Schlägerei vernahm, denn das konnte nur heißen, daß Bruder Avelyn dort zugange war. Der Mönch hatte seine verräterische braune Kutte gegen die weniger auffällige Kleidung eines Grenzers getauscht. Er fragte sich, ob ihn sein alter Freund Avelyn ohne die Abellikaner-Tracht überhaupt erkennen würde, und dieser Gedanke veranlaßte ihn, sich die Kapuze seines Reiseumhangs überzustülpen. Sollte ja schließlich eine Überraschung werden.
Avelyn war fünf zu eins in der Minderzahl – und dieses Verhältnis war nur der Tatsache geschuldet, daß drei Männer auf seiner Seite kämpften beziehungsweise zumindest nicht auf Seiten der Meute, die gegen den Mönch vorging. Eibryan war bereits auf den Beinen und sah dem Ganzen neugierig zu. Er wußte nicht recht, was er von dem wilden Mönch halten sollte, dessen Kampfstil prächtig anzuschauen war und der ständig etwas von »Gewappnet sein« und »Üben« brüllte. Aber solange die Sache nicht allzusehr außer Rand und Band geriet, hatte er nichts dagegen einzuwenden, daß Tol Yuganick und seine Freunde eine Abreibung bekamen.
Eibryan gestattete sich ein Lächeln, als der ungeschlachte Tol sich aufrappelte und mit einem Brüllen auf den massigen Mönch losging; doch dieser wich im allerletzten Moment zur Seite aus, stellte ihm ein Bein und verpaßte ihm dann noch einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. »Ho, ho, hoppla!« dröhnte Avelyn schadenfroh. Eibryan hielt sich aus der ganzen Sache raus; das war eine der Gefahren, mit denen die Dörfler allein fertigwerden mußten. Er griff nur zu seinem ungespannten Elfenbogen, um für den Fall bereit zu sein, daß jemand tödliche Rache nehmen wollte, sobald der Mönch bezwungen war. Wenn er sich überhaupt bezwingen ließ. So fett er auch war, er kämpfte mit der Anmut und Präzision eines ausgebildeten Kriegers. Er duckte sich und ließ die Fäuste wirbeln, er steckte Schläge mit einem Lachen weg und streckte seine Angreifer mit einem ordentlichen Schwinger oder einem wohlplazierten Kniestoß zu Boden. Einmal schleuderte er zwei Männer gleichzeitig über die Schultern nach hinten, und dabei lachte er noch. Als auf seinem Rücken ein Stuhl zersplitterte, stöhnte zwar Belster O’Comely, der Mönch aber lachte nur um so lauter und schmetterte sein »Ho, ho, hoppla!« Eibryan lehnte sich auf seinen Stock, um das Schauspiel einfach zu genießen. Doch kaum machte er keinen wachsamen Eindruck mehr, da nutzte ein rauflustiger Dörfler die Gelegenheit der allgemeinen Schlägerei, um dem unbeliebten Hüter eins auf die Nase zu geben. Seelenruhig schob Eibryan seinen Stock vor und fing den Schwinger mit dem harten Holz ab. Sein Angreifer ächzte und klemmte sich die Faust unter die Schulter, und Eibryan stieß ihm das untere Ende seines Stockes kräftig zwischen die Beine. Dann zog er Falkenschwinge zurück, setzte dem Mann das untere Ende auf die Brust und verpaßte ihm einen ordentlichen
Stoß. Die eine Hand unter die Achsel und die andere zwischen die Beine geklemmt, ging der Mann zu Boden. Eibryan lehnte sich wieder auf seinen Stock. Der verrückte Mönch mußte bald ermüden; sobald er auch nur einen einzigen Fehler machte, würde die Meute ihn sich holen. Dann würde Eibryan einschreiten. Er mußte grinsen, als Tol Yuganick sich seine nächste Tracht Prügel abholte. Diesmal sah es so aus, als wäre er gegen einen Schmiedehammer gelaufen. Aber Eibryan verging das Grinsen rasch, als ein Neuankömmling in die Schänke geschlüpft kam und sich mühelos einen Weg durch das Kampfgetümmel bahnte. Als er angegriffen wurde, streckte der Neue seinen Gegner mit drei harten, perfekt plazierten Schlägen nieder, die so rasch aufeinanderfolgten, daß der Mann auf den ersten noch nicht reagiert hatte, als ihm der dritte schon den Rest gab. Eibryan runzelte die Stirn. Auch ohne diese Vorführung war zu sehen gewesen, daß es sich hier um keinen gewöhnlichen Grenzer handelte. Der Mann hatte den ausbalancierten Gang eines Kriegers und bewegte sich mit der Zielstrebigkeit eines Attentäters durch die Menge – vermummt, wie es sich für einen Attentäter gehörte, denn sein Gesicht war unter dem hochgezogenen Schal kaum auszumachen. Es war nicht schwer zu erkennen, wem seine Zielstrebigkeit galt. Was für Feinde hatte dieser wilde Mönch sich nur gemacht? Auch Eibryan arbeitete sich nun durch die wütende Menge, um dem Neuankömmling den Weg abzuschneiden. Der tödliche Schlag zielte auf Avelyns Kehle, wenngleich der fette Mönch, der genug mit zwei anderen Gegnern zu tun hatte, ihn nicht kommen sah. Eibryans Stock war schneller und lenkte den Schlag weit nach oben ab, was den Neuankömmling jedoch kaum bekümmerte, der in perfekter Haltung und Koordination den zweiten Schlag folgen ließ.
Eibryan ließ den Stock mit einiger Härte nach unten zischen und traf den Mann schmerzhaft am Unterarm. Bruder Richter wirbelte herum. Auch ihm war nun aufgegangen, daß es sich bei seinem Gegner um keinen gewöhnlichen Grenzer handelte. Als ein Mann versuchte, den Mönch von hinten anzuspringen, stieß Bruder Richter ihm seinen Ellenbogen in rascher Folge hart vor die Brust, dann in die Kehle und ins Gesicht, so daß der Mann nach hinten wegtaumelte. Das raubte allen Umstehenden die Lust, sich mit dem Fremden anzulegen; und da in der ganzen Schänke – von Tol einmal abgesehen, der immer noch am Boden lag – niemand war, der es auf einen Kampf mit Eibryan abgesehen hatte, waren die beiden auf merkwürdige Weise vom Rest der wütenden Meute ausgeschlossen. Auge in Auge standen sie da, Eibryan und Bruder Richter, eine Insel der Ruhe inmitten der wütenden See. Der Mönch schoß nach vorn, täuschte einen Faustschlag vor und trat zugleich nach Eibryans Knie. Eibryan riß seinen Stock hoch, um den Faustschlag abzublocken, aber er fiel auf die Finte nicht herein. Noch während Bruder Richters Fuß angeflogen kam, drehte Eibryan sich nach hinten um die eigene Achse und brachte sein Knie so außer Reichweite. Bruder Richter warf sich nach vorn, um der Drehung zuvorzukommen, um seinem Feind in den Rücken zu fallen. Eibryan stoppte mitten in der Drehung, kehrte seinen Schwung um und ließ den Stock schwungvoll zurückschießen. Er drehte sich unter der Waffe mit und stieß sie direkt nach vorn, so daß sein Gegner zurückweichen mußte. Dann verfiel er in einen wahren Wirbel von Hieb- und Stichbewegungen: Ein harter Schlag folgte auf den anderen, immer abwechselnd mit der linken oder rechten Hand geführt. Bruder Richter fing jede Attacke ab. Seine Arme verschwommen schier vor Schnelligkeit, als die abgehärteten
Unterarme gegen das polierte Holz krachten. Er versuchte eine Lücke in den Vorstößen auszumachen, eine Öffnung, durch die er selbst wieder angreifen könnte. Aber Eibryan war in Höchstform und ließ die Schläge viel zu rasch aufeinanderfolgen, als daß der Mönch einen Konterschlag hätte anbringen können. Aber damit hatte es der Hüter noch nicht geschafft, auch wirklich einen Treffer anzubringen, und so leicht konnte er den gewandten Mönch nicht noch einmal zurückdrängen. Die Heftigkeit seines Angriffs erschöpfte sich von ganz allein. Eibryan nahm eine geduckte Haltung an und hielt Falkenschwinge quer vor sich. Nun griff der Mönch an, mit wilder Kraft, als wollte er den Stock mitten entzweischlagen. Darauf hatte Eibryan nur gewartet. Er zog sich den Stock dicht vor die Brust, so daß der Abwärtsschlag des Mönchs ins Leere ging, um Falkenschwinge dann über den hinabsausenden Arm zu bringen und einmal kräftig nach unten schnappen zu lassen. Dabei machte Eibryan schon einen Schritt nach vorn, um beide Hände und damit auch den Stock nach oben zu reißen, dem Mönch direkt unters Kinn. Es gelang Bruder Richter noch, mit dem freien Arm etwas von der Wucht des Stockes abzufangen, dann traf er ihn böse unterm Kinn. Im Wegfallen ließ er seine andere Hand vorschießen und erzielte selbst einen Treffer. Die beiden stolperten voneinander weg. Eibryan schnappte nach Luft, Bruder Richter versuchte, die Benommenheit abzuschütteln. Prompt schob sich von allen Seiten die wogende Meute heran, denn die Heulende Sheila war nur noch ein einziges Fäustefliegen und Stühlekrachen. »Ho, ho, hoppla!« erhob sich ein ausgelassener Schrei über den Lärm. Der fette Mönch schien die Schlägerei zu genießen. Eibryan hörte eine Bewegung hinter sich und erkannte sie als Angriff. Er wirbelte herum, Falkenschwinge ausgestreckt, und
fing einen schwerfälligen Haken ab, um dann das obere Ende seines Stockes hart in Tol Yuganicks Gesicht krachen zu lassen, das sofort von Blut überströmt war. Als der Hüne benommen stehenblieb, ließ Eibryan seine Waffe mit einer Hand los und schickte ihn mit einem Faustschlag zu Boden. Dann beeilte er sich, den Neuankömmling wiederzufinden, diesen geschickten Kämpfer, diesen Attentäter. Hastig bahnte er sich mit den Ellbogen einen Weg durch das Getümmel, wehrte hier einen Fausthieb ab und brachte dort mit zwei, drei raschen Schlägen den nächsten angriffslustigen Betrunkenen zur Vernunft. Bruder Richter bewegte sich in einem großen Bogen um den gefährlichen Gegner herum. Aus dem Strick, der ihm als Gürtel diente, zog er eine kleine Nadel hervor und drückte sie fest gegen seinen Sonnenstein. Sonnensteine dienten hauptsächlich als Schutzsteine gegen Magie, aber auch gegen verschiedene Gifte. Dieser Zauber ließ sich jedoch auch umkehren – in sein genaues Gegenteil. Bald hatte der Mönch seinen Gegner wiedergefunden; wie er es sich gedacht hatte, wich Eibryan nicht von Avelyns Seite. Langsam, die Kämpfenden als Deckung nutzend, schlich Bruder Richter näher. Eibryan erwartete ihn bereits. Doch der gefährliche Mönch täuschte seinen Angriff nur vor und stürzte sich statt dessen pfeilschnell auf Avelyn, der sich gerade damit vergnügte, Burgis Gosen hoch über dem Kopf im Kreis herumzuwirbeln. Eibryan blieb nur eine Chance, er mußte sich seitwärts werfen, um noch dazwischenzukommen. Dabei sah er in der Hand des Attentäters etwas Silbriges aufblitzen, irgendeine winzige Waffe. Er mußte zwar einen Schwinger einstecken, bekam den Mann aber am Handgelenk zu fassen und konnte einen Schlag mit Falkenschwinge anbringen. Nur hatte Bruder Richter in diesem
Augenblick den besseren Stand, und so war es Eibryan, der zu Boden ging. Er kämpfte sich auf ein Knie und versuchte Deckung zu finden, bevor die Schläge auf ihn einprasselten. Aber die erwartete Attacke blieb aus. Eibryan sah einen Schatten an sich vorbeifliegen – Burgis Gosen, den Avelyn endlich losgelassen hatte –, und als sich das Knäuel von Kämpfenden wieder entwirrt hatte, war der Neuankömmling nirgendwo mehr zu sehen. Da erst bemerkte Eibryan, daß er sich beim Anspringen des Mönchs verletzt hatte; am Handgelenk blutete eine kleine Kratzwunde. Sie sah harmlos aus, brannte jedoch wie Feuer, mit einer ganz eigentümlichen Wut. Aber darum konnte er sich später kümmern. Er eilte zu dem fetten Mönch. Avelyn erwartete ihn schon, die Hände in flinken Abwehrbewegungen. Doch für so etwas fehlte Eibryan jetzt die Geduld. »Ich bin kein Feind!« erklärte er, doch als Avelyn mit seinem üblichen »Ho, ho, hoppla« konterte und trotzdem zuschlug, fiel Eibryan schlitternd auf ein Knie, hakte ihm seinen Stock hinter die Beine und riß ihn unsanft von den Füßen. Im selben Moment war Eibryan schon über ihm, mehr um ihn vor der wütenden Menge zu schützen denn aus Angst vor Vergeltung. »Ich bin kein Feind!« rief er erneut, und damit packte er den fetten Mann beim Handgelenk, riß ihn auf die Füße und zerrte ihn aus der Schänke. Die Schlägerei ging auch ohne sie weiter; augenscheinlich war Avelyn den Dörflern und Pelztierjägern gerade recht gekommen, um einmal richtig einen draufzumachen. Bruder Avelyn steckte voller Fragen, voller Protest, aber Eibryan ließ sich nicht darauf ein. Er schob den Mönch vorwärts und sah von Schatten zu Schatten, immer damit rechnend, daß der todbringende Fremde sich irgendwo verbarg. Schließlich waren sie an der Rückwand des
nördlichsten Hauses angelangt, gleich unterhalb des bewaldeten Hangs. »Zeit zum Üben«, erklärte Avelyn, dem es vollkommen egal war, ob er einen oder eine ganze Schänke voller »Schüler« hatte. Eibryans Anblick belehrte ihn jedoch eines Besseren. Dem Mann rann der Schweiß in Strömen das Gesicht hinab, und sein Atem war kaum mehr als ein Hecheln. Eibryan hielt sein Handgelenk hoch und starrte die Wunde an, präsentierte sie dem neugierig gewordenen Mönch als Erklärung. Avelyn ergriff den Arm und drehte die Wunde dem Mond entgegen. Es war keine schwere Verletzung, ein winziger Kratzer nur, zu klein, um auch nur von einem Dolch verursacht worden zu sein. Das allein sagte dem Mönch schon, daß der Mann in Lebensgefahr war. Wenn eine so geringfügige Verletzung so viel Schmerz verursachte, konnte das nur eines bedeuten… Avelyn suchte hektisch nach seinem Hämatit. Je länger er brauchte, um das heimtückische Gift aufzuspüren, desto enger mußte die geistige Verbindung zu seinem Patienten sein – mit um so schlimmeren Schmerzen für beide von ihnen. Kaum hatte er damit begonnen, da stieß er auch schon auf eine erschreckende Erkenntnis. Dieser Mann war vergiftet worden, daran bestand kein Zweifel, aber das Gift basierte nicht auf irgendeiner Substanz, einem Tiersekret, Kraut oder einer Pflanze. Es basierte eindeutig auf einem Zauber. Somit war es für den Mönch nicht weiter schwer, den Auswirkungen mit seinem starken Hämatit zu begegnen, und bald hatte Eibryans Atem sich beruhigt, waren die sengenden Schmerzen verschwunden. »Kein Feind?« fragte Avelyn, als er sah, daß es Eibryan wieder gutging.
»Kein Feind«, erwiderte dieser. »Aber Ihr schafft Euch welche, mein Freund, wenn Ihr weiterhin solche Reden schwingt, von Euren Fäusten ganz zu schweigen.« »Dient alles einem guten Zweck«, sagte Avelyn augenzwinkernd. »Wahrlich. Aber wenn Ihr Euch weiterhin mit den Halunken prügelt, die sich in dieser Gegend herumtreiben, schaufelt Ihr Euch Euer eigenes Grab.« Avelyn zuckte hilflos mit den Schultern. »Eure Wunde wird heilen«, versicherte er Eibryan, und damit marschierte er durch die dunkle Nacht zur Heulenden Sheila zurück, in der der Schlachtenlärm allmählich verebbte. Eibryan, der ihn nicht aus den Augen ließ, stellte mit einiger Erleichterung fest, daß der Mann dem Seiteneingang zustrebte und offensichtlich auf sein Zimmer ging, statt in die Schankstube zurückzukehren. Der fette Mönch war in ernsthaften Schwierigkeiten, denn der Mann, mit dem Eibryan gekämpft hatte, der Mann mit der vergifteten Nadel, war weit mehr als ein übereifriger Streithammel gewesen. Eibryan hatte keine Ahnung, welchen Platz er selbst in dieser Geschichte einnahm, die ihn eigentlich gar nichts anging, aber er wurde das Gefühl nicht los, daß er dem fetten Mönch – und diesem todbringenden Fremden – nicht zum letzten Mal begegnet war.
12. Gerechter Lohn
Als Bruder Avelyn auf sein Zimmer zurückkehrte, ohne Jill dort vorzufinden, war er nicht übermäßig besorgt. Sie hatte geäußert, zu dem Tal hinter dem Nordhang spazieren zu wollen, und der Mönch traute ihr durchaus zu, selbst auf sich aufpassen zu können. Außerdem hatte sie sich in den vergangenen Wochen wohl mehr um ihn kümmern müssen als umgekehrt. Darum ließ sich der Mönch kurzerhand aufs Bett fallen, und da ihn die Schlägerei und die Heilung dieser merkwürdigen magischen Vergiftung vollkommen ausgelaugt hatten und ihm der Kopf vom Trinken schwer war, verfiel er bald in lautstarkes Schnarchen. Angenehme Träume sollte er jedoch nicht haben, wo sich draußen ein zauberkundiger Attentäter herumtrieb. Der Anschlag hatte zwar nicht ihm gegolten, aber Avelyn war sich wieder einmal bewußt geworden, daß er ein Abtrünniger war. Als er am nächsten Vormittag spät erwachte, war Jill wieder nicht im Zimmer. Erneut machte er sich keine Sorgen. Wahrscheinlich war sie erst zurückgekehrt, als er längst geschlafen hatte, und inzwischen längst unten in der Schankstube mit ihrem Frühstück zugange. »Oder ihrem Mittagessen«, sagte der Mönch und lachte über seine Schlafmützigkeit. »Ho, ho, hoppla!« Doch als er nach unten ging, fehlte von Jill jede Spur, und Belster O’Comely erklärte gar, sie seit dem Vorabend nicht mehr gesehen zu haben. »Vielleicht hat sie endlich bessere Gesellschaft gefunden«, sagte der Schankwirt hämisch und
stützte sich auf den Besen, mit dem er gerade die Überbleibsel der nächtlichen Festlichkeiten zusammenkehrte. »Wahrlich, mit einem Irren wie mir sollte sich Jill besser nicht zu lang abgeben«, erwiderte Avelyn gequält, denn ihm brummte fürchterlich der Schädel. Schon vor langer Zeit hatte er zu seiner großen Enttäuschung feststellen müssen, daß der sonst so mächtige Hämatit bei einem Kater vollständig wirkungslos blieb. Avelyn nahm ein leichtes Mahl zu sich, dann schlurfte er nach draußen, um es prompt wieder von sich zu geben. Anschließend fühlte er sich besser. Der Tag war kalt und grau, ab und zu fielen ein paar Schneeflocken. »Ach, Mädchen. Wo steckst du denn?« fragte Avelyn laut, eher enttäuscht als besorgt. Aber diese Frage mußte warten. Er schleppte sich auf sein Zimmer zurück und ging wieder ins Bett. Er erwachte erst am nächsten Morgen, und wieder mußte er feststellen, daß Jill nirgendwo zu finden war. Nun machte sich Avelyn doch langsam Sorgen. Es war nicht ihre Art, einfach so mir nichts dir nichts zu verschwinden, geschweige denn ihm nicht wenigstens nachträglich eine Nachricht zukommen zu lassen. Ihm fiel der Attentäter wieder ein, und nun war er erst recht besorgt. Vielleicht war der Zwischenfall in der Schankstube kein Zufall gewesen. Vielleicht waren ihm die Klosterbrüder schon auf den Fersen. Bekamen sie ihn schließlich doch noch in die Finger, hier oben im hintersten Winkel des Bärenreiches? Und hatte Jill für seine Verbrechen büßen müssen? Er ging noch einmal zu dem Schankwirt, und als dieser wieder nur zu berichten wußte, daß Jill sich nicht hatte blicken lassen, bat Avelyn ihn um Hilfe, was den Aufenthaltsort des Fremden anging, der ihn am Abend der Schlägerei nach draußen verfrachtet hatte.
»Der Hüter?« fragte Belster ungläubig, und aus seinem Tonfall ließ sich schließen, daß Avelyn so ziemlich der erste war, der das wissen wollte. »Wenn er sich so nennt«, erwiderte der Mönch. »Er nennt sich Eibryan, jedenfalls mir gegenüber. Ansonsten trägt er einen anderen Namen. Und er gehört zu den Hütern, das könnt Ihr glauben.« Belster sah, daß der Mönch mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. »Die einen sagen, daß die Hüter bei den Elfen in die Lehre gegangen sind, für die anderen sind es einfach nur Nichtsnutze, die sich unbedingt wichtig machen müssen. Wie dem auch sei, sie streifen durch die Lande und halten die Augen auf und ihre schützende Hand über uns – überflüssigerweise, versteht sich.« »Versteht sich«, wiederholte Avelyn höflich und stellte fest, daß ihm dieser Mann namens Eibryan mit jedem Wort besser gefiel. »Und wo finde ich diesen Hüter nun?« hakte er nach. Belster zuckte mit den Achseln. »Mal hier, mal dort. Soweit ich weiß, wandert er regelmäßig bis nach Weltenend hinauf.« Avelyn sah mißmutig den Tresen hinab. »Und dieser andere? Dieser mysteriöse Fremde, der so gut kämpfen kann?« Belster verzog das Gesicht. »Um diese Jahreszeit kommen viele Fremde nach Dundalis. Und gute Kämpfer sind sie allesamt, sonst hätte sie sich längst der Wald geholt.« »Der kleine, wendige«, versuchte es Avelyn noch einmal. »Der sich so wild mit Eibryan geschlagen hat.« Belster nickte. »Der war gestern abend wieder hier. Diesmal ohne sich zu prügeln.« Avelyn holte tief Luft und verfluchte sich im stillen dafür, den ganzen Tag verschlafen zu haben, wo sich ein Stockwerk tiefer womöglich die Frage nach Jills Verbleib hätte klären lassen können. »Na schön«, seufzte der Mönch schließlich. »Dann sagt mir, in welcher Richtung ich Eibryan am ehesten finden dürfte.«
Zunächst zuckte Belster nur mit den Schultern, dann fiel ihm ein, daß Eibryan jedesmal, wenn er es mitbekommen hatte, von der Nordstraße her in die Stadt gekommen war. Er zeigte nach Norden. »Dort entlang, den Hang hinauf bis über den Grat, dann durch das Tal und westwärts halten.« Avelyn, der sogleich in die angegebene Richtung schaute, erblickte freilich nur die nördliche Wand der Schankstube. Aber ihm gefiel, was er da hörte. Auf dem Weg nach Norden mochte er nicht nur Eibryan finden, sondern konnte zugleich noch nach der lieben Jill Ausschau halten. Nach einer hastigen Mahlzeit brach er auf und lief schnaufend den bewaldeten Hang hinauf, um nach einer langen Rast, während der er zu den knorrigen Kiefern in all dem Weiß hinunterstarrte, die Rückseite des Grats hinabzuwandern. Nichts ließ darauf schließen, daß Jill hier durchgekommen war – dafür hatte Bruder Richter längst gesorgt –, und so wanderte der ahnungslose Avelyn keine dreißig Schritt entfernt an der versteckten Höhle vorbei, die inzwischen als Jills Gefängnis diente.
Sie war nicht schlecht behandelt worden… bis Bruder Richter vorletzte Nacht in schlechter Laune und mit Prellungen im Gesicht zurückgekehrt war, als sie sich gerade beinahe von ihren Fesseln befreit hatte. Da hatte der Mönch sie fürchterlich verprügelt und anschließend so fest verschnürt, daß ihre Hände und Füße sich inzwischen wie abgestorben anfühlten. Als sie ihm nichts über den stockbewehrten Fremden aus dem Wirtshaus zu berichten wußte, hatte der grausame Mönch noch einmal zugeschlagen, und nun war eines ihrer Augen völlig zugeschwollen. Den darauffolgenden Tag war der Mönch bei ihr geblieben, und seine Selbstgespräche hatten sich um die Frage gedreht,
wie er den fetten Mönch wissen lassen konnte, daß er Jill als Geisel hielt. Dann war Bruder Richter verschwunden, offensichtlich ohne einen konkreten Plan, sondern einfach nur, um weitere Fakten zu sammeln. Nun, da draußen der graue Morgen schon in den Mittag überging, war Bruder Richter noch immer nicht zurück. Hoffentlich hatte Avelyn ihn getötet. Und hoffentlich hatte er ihm vorher noch ihren Aufenthaltsort abgepreßt, denn diesmal war den Fesseln wohl nicht mehr allein beizukommen, geschweige denn dem zusätzlich angebrachten Knebel! Anfänglich war es Avelyn, der sein ganzes Leben in der dichter besiedelten und besser erschlossenen Zentralregion des Bärenreiches verbracht und das Land kürzlich der Breite nach auf Straßen mit anständigen Orientierungspunkten und Wegweisern durchquert hatte, gar nicht so schwer erschienen, diesen Eibryan zu finden. Erst als er tief in den Wald vorgedrungen war, der in allen Richtungen ähnlich aussah und so gut wie keine Orientierungspunkte bot, erkannte er das wahre Ausmaß seiner Suche. Die Entfernung zwischen Youmaneff und St. Mere-Abelle betrug über zweihundert Meilen, die zwischen Dundalis und Weltenend keine vierzig; aber die unübersichtlichen Trampelpfade, die oft genug im Nirgendwo endeten, ließen Avelyn bald zu dem Schluß kommen, daß er den Mann auf den vielen Meilen zwischen seinem Zuhause und der Abtei wahrscheinlich leichter gefunden hätte. Er wanderte im Kreis herum, prägte sich genau die Position der Sonne ein, wenn sie hinter dem grauen Wolkenschleier verschwand, und suchte nach Spuren. Natürlich hinterließ Eibryan, der bei den Elfen in die Lehre gegangen war, nicht einmal den Ansatz einer Fährte, und so wurde Avelyn bald von Mutlosigkeit ergriffen. Er wußte ja nicht einmal genau, ob Eibryan die Stadt überhaupt in diese Richtung verlassen hatte.
So war der Mönch um die Mittagszeit drauf und dran, die Suche abzubrechen. Er wollte nach Dundalis zurückgehen – wo Jill vielleicht schon auf ihn wartete – und dann den üblichen Weg über Weedy Meadow nach Weltenend nehmen. Es war einfach unmöglich, in diesem Wald jemanden aufzuspüren; das wußte er jetzt. Aber Avelyn war kein Hüter und kannte sich hier nicht aus, und was ihm unmöglich erschien, stellte für Eibryan eine der leichtesten Übungen dar. Der Mönch marschierte schnaufend einen Talweg entlang, der im Bogen um einen Hang herumführte, als er plötzlich Hufgetrampel vernahm. Er sah sich hastig nach einem Versteck um, fand jedoch keines. Also durchwühlte er seine Taschen nach irgendeinem brauchbaren magischen Stein. Im nächsten Moment donnerte ein prächtiger schwarzer Hengst an ihm vorbei, und Avelyn seufzte erleichtert auf. »Da renn ich wie ein kopfloses Huhn herum, und dann sitzt niemand drauf. Ho, ho, hoppla!« »Aber was für ein schönes Tier, nicht wahr?« erklang von oben eine Stimme, schräg hinter ihm. Avelyn erstarrte. In seinem Hals bildete sich ein Kloß. Langsam drehte er sich um. Aus dem Unterholz des Hügels lugte der Hüter hervor, kaum ein Dutzend Fuß entfernt. »Wwie seid Ihr – «, stammelte der Mönch. »Ich meine, wart Ihr da schon die ganze Zeit?« Eibryan schüttelte den Kopf und grinste. »Aber wie…« »Ihr habt Euch zu sehr auf das Pferd konzentriert«, erklärte Eibryan. Avelyn sah wieder in die andere Richtung. Dort stand stolz der Hengst und scharrte mit den Hufen. Die Augen, mit denen er zu Eibryan und ihm hinübersah, schienen viel zu intelligent für ein solches Tier.
»Er heißt Symphony«, erklärte Eibryan. »Ich kenne mich mit Pferden nicht sonderlich aus«, gestand Avelyn, »aber er scheint mir ein wahres Wunder zu sein.« Eibryan gab ein leises Klicken von sich, und Symphony spitzte die Ohren und wieherte. Der Hengst scharrte noch einmal mit dem Vorderhuf, dann donnerte er in die Richtung davon, aus der er gekommen war. »Den seht Ihr so schnell nicht wieder!« platzte Avelyn in dem Versuch heraus, etwas von seiner inneren Anspannung los zu werden. »Ho, ho, hoppla!« Ihm verging das Lachen, als er sah, daß Eibryan völlig unbeeindruckt wirkte. Der Hüter verzog keine Miene. »Ähm, ja«, begann der Mönch unsicher. »Was ich hier will, möchtet Ihr wohl wissen. Was denn sonst.« Eibryan saß reglos da und sah den Mann an. »Nun… ich habe nach Euch gesucht, wißt Ihr«, erklärte Avelyn schließlich, nachdem er seine fünf Sinne wieder beisammenhatte. »Jawohl, ich bin in den Wald gekommen, um denjenigen zu treffen, den man den Hüter nennt.« Eibryan nickte aufmunternd. »Wegen des Kampfes, wißt Ihr«, sagte Avelyn. »Oder um genau zu sein, wegen dieses Mannes, der es auf mich abgesehen hatte, aber dann Euch erwischte.« Eibryan nickte. Da sich der gedrungene Attentäter aus der Heulenden Sheila noch immer in der Gegend herumtrieb, überraschte ihn der Besuch des irren Mönchs nicht. Der Mann brauchte Hilfe, und die bekam er sicher nicht in Dundalis. »Er hat Euch erneut angegriffen?« »Nein-nein«, stammelte Avelyn. »Na ja, oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht so genau.« Eibryan rang sich einen müden Seufzer ab. »Es geht um meine Weggefährtin, wißt Ihr. Vielleicht habt Ihr sie schon gesehen; eine schöne junge Frau. Sie versteht
sich ebenfalls aufs Kämpfen. Aber nun ist sie verschwunden, und niemand hat sie gesehen, und ich habe Angst – « »Ihr tut recht daran, Angst zu haben. Das war nicht bloß irgendein Raufbold.« »Das magische Gift«, überlegte Avelyn. »Die Art, wie er sich bewegt«, korrigierte Eibryan. »Das ist ein ausgebildeter Krieger und ein kampferfahrener noch dazu.« Avelyn nickte eifrig, aber die Worte steigerten seine Angst noch, daß es sich bei diesem Angriff nicht um einen Zufall gehandelt hatte, daß ihm die abellikanische Kirche ihre Kampfmönche auf den Hals geschickt hatte. »Ihr müßt mir alles von diesem Mann erzählen«, sagte Eibryan. »Alles, was Ihr wißt.« »Wissen tu ich überhaupt nichts!« »Dann sagt mir, was Ihr Euch denkt. Wenn er Eure Freundin hat, dann braucht Ihr meine Hilfe – Hilfe, die ich Euch gern gewähre, aber nur, wenn Ihr kein Versteckspiel mit mir treibt.« Avelyn war froh, das zu hören. Er nickte. Eibryan kam den Hügel hinab und schlug die Richtung nach Dundalis ein. Avelyn blieb dicht hinter ihm. »Ich weiß nicht einmal Euren Namen«, sagte er, obwohl er sich noch genau an Belsters Worte erinnerte. »Ich bin El-«, sagte der Hüter schon, da faßte er den Mönch fest ins Auge, den ersten Menschen, der ihn seit Andur’Blough Inninness um Hilfe gebeten hatte, den ersten Menschen, der zugab, den Beistand eines Hüters zu brauchen. »Nachtvogel heiße ich«, sagte Eibryan schließlich. Avelyn zog eine Braue hoch. Ein anderer Name und ein merkwürdiger noch dazu. Aber der Mönch beließ es dabei, es ging ihn schließlich nichts an. Während sie zur Stadt zurückwanderten, erzählte Avelyn dem Hüter, daß er wahrscheinlich von der Kirche verfolgt wurde. Natürlich wurde ihm das Gespräch reichlich unangenehm, als Eibryan
wissen wollte, warum er auf der Flucht war. Avelyn hatte weder die Zeit noch die Muße, sämtliche Ereignisse aufzuzählen, die ihn zu seiner schicksalhaften Entscheidung geführt hatten. Und welche Rechtfertigung gab es schon für Diebstahl und Mord? Aber Eibryan verzichtete auf weiteres Nachhaken; zu diesem Zeitpunkt war für ihn nur eines relevant, nämlich daß Avelyns Gefährtin vermißt wurde und möglicherweise von einem Mann entführt worden war, den er selbst als äußerst gefährlich einstufte. Und Avelyns Beschreibung seiner Gefährtin sowie die Andeutung, daß er um ihretwillen nach Dundalis gekommen war, gaben dem Hüter ohnehin mehr als genug Stoff zum Nachdenken. Kurz darauf begann die Jagd. Eibryan bemühte sich, eine Fährte zu finden, die aus Dundalis hinausführte, und Avelyn befragte Belster und einige der Stammgäste, ob der Fremde heute wieder in der Heulenden Sheila aufgetaucht war. Ihre Antworten bekamen sie kurz vor Sonnenuntergang, als Avelyn in sein Zimmer zurückkehrte und auf seinem Bett einen Brief vorfand. Der Inhalt war kurz und bündig und bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Wenn er das Leben seiner Gefährtin retten wolle, solle er zu dem Grat über dem Kieferntal hinaufsteigen und an angegebener Stelle warten, und zwar allein. Er ging in den Schankraum hinunter und zeigte Eibryan den Brief. Keiner von ihnen beachtete die wenigen Gäste, die sich über sie das Maul zerrissen. »Dann geht«, forderte der Hüter den Mönch auf. »Und Ihr werdet dort sein?« Eibryan nickte. »Aber hier steht, ich soll allein kommen.« »So wird es für unseren Feind auch aussehen«, versicherte Eibryan, und nachdem der Mönch sich in Erinnerung gerufen
hatte, daß dieser Mann, der sich selbst Nachtvogel nannte, gänzlich unbemerkt auf fünf Schritt an ihn herangekommen war, nickte er, steckte den Brief ein und verließ die Stadt. Auf seinem Weg befingerte der Mönch immer wieder den Beutel mit den Himmelsjuwelen, bis er ihn, einer plötzlichen Eingebung folgend, in einem hohlen Baum versteckte und nur drei Steine bei sich behielt – Graphit, Hämatit und den schützenden Malachit. Wenn sein Verdacht sich bestätigte, dann war der Mann nicht nur hinter ihm, sondern vor allem hinter den Steinen her. Wenn Avelyn sie bei sich führte und dieser gefährliche Krieger sie ihm entwand, dann hatte er nichts mehr, womit sich um sein Leben feilschen ließ, geschweige denn um das Leben der lieben Jill. An der angegebenen Stelle, einer halbseitig abgestorbenen Kiefer knapp zwei Dutzend Fuß unterhalb des Grats, brauchte Avelyn nicht lange zu warten. »Wie ich sehe, hast du dich entschlossen, meinen Instruktionen Folge zu leisten, Bruder Avelyn«, erklang eine allzu vertraute Stimme. »Sehr schön.« Quintall! Das war Quintall! Avelyn hatte das Gefühl, als wolle sich die Erde auftun und ihn verschlucken – und beinahe wünschte er sich, daß dem so wäre. Das Kloster war hinter ihm her, der Orden. Da taugte nichts mehr als Versteck, nicht der hinterste Winkel der Welt, nicht das finsterste Rattenloch. »Ich hatte wenig Vertrauen, daß ein Dieb und Mörder genug Ehre im Leib hat, einer Freundin zu Hilfe zu eilen.« Avelyn sah sich nervös um. Wenn Nachtvogel nah genug auf der Lauer lag, um zu verstehen, was Quintall gesagt hatte, was dachte er dann wohl über den Mann, dem er beizustehen versprochen hatte? »Ich habe sie«, lockte die Stimme. »Komm her.« Die Erinnerung an Jills mißliche Lage ließ den Mönch all seinen Mut zusammenraffen. Ihn mochte die abellikanische
Bruderschaft vielleicht kriegen, aber Jill würde sie nichts zuleide tun. Während er den Graphit nervös durch die Finger seiner Hand gleiten ließ, ging der Mönch in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und erkannte bald den dunklen Umriß einer Höhlenöffnung und darin die dunklere Gestalt eines Mannes. Als der Mann sich weiter in die Höhle zurückzog, trat Avelyn ein. Es handelte sich um eine recht große Höhle; allein diese Kammer schon – denn es schien ihm nicht die einzige zu sein – war größer als sein Zimmer in der Heulenden Sheila. Quintall stand am Ende der schwach erleuchteten Höhle. Er lehnte entspannt an der Wand und schlug Stein und Eisen zusammen, bis die dort angebrachte Fackel Feuer fing. Als das Licht aufloderte und Avelyn das Gesicht des Mannes erblickte, der so viele Jahre sein Mitbruder gewesen war, der mit ihm nach Pimaninicuit gefahren war und das Geheimnis der Himmelsjuwelen kannte, da wurde er beinahe von Trauer übermannt. Er hatte so viel verloren, sein Zuhause, seine Kameraden, seinen Glauben vor allem, und nun fielen ihm all die guten Klostertage wieder ein – seine Lehrstunden mit Meister Jojonah, die Offenbarung der heiligen Steine, das Studium der Karten, die Schicht um Schicht enthüllten Mysterien der Magie; all das stürzte plötzlich auf ihn ein, in einer einzigen, rauschenden Woge. Um dann unter der Erinnerung an all die Toten begraben zu werden: Thagraine, der dumme Schiffsjunge, der einfach zur Insel geschwommen war, die gesamte Mannschaft der Windläufer, Dansally, Siherton. »Quintall«, hauchte Avelyn. »Das war einmal«, erwiderte der andere Mönch. »Warum bist du gekommen?« Gegen alle Vernunft hoffte Avelyn plötzlich, daß Quintall ebenfalls das Kloster verlassen hatte und wie er ein Abtrünniger war.
Quintalls gackerndes Lachen fuhr ihm durch Mark und Bein. »Ich bin Bruder Richter«, erwiderte der Mann schroff, »und soll holen, was du der Kirche gestohlen hast.« Quintall schnaubte. »Fast hätt ich dich nicht erkannt unter all dem Speck. Du platzt ja regelrecht aus allen Nähten. Bist wohl immer noch zu faul für ein bißchen Kraftsport!« Avelyn ließ die Beleidigungen über sich ergehen. Ja, er hatte mehr als nur ein paar schlechte Angewohnheiten angenommen, er aß und trank zuviel, und der einzige Sport, den er einigermaßen regelmäßig betrieb, waren die Wirtshausschlägereien. »Hast du dir nicht denken können, daß wir dir auf die Schliche kommen?« fuhr Bruder Richter fort. »Hast du ernsthaft geglaubt, mit dem Mord an einem Klostermeister und dem Diebstahl eines solchen Schatzes bis ans Ende deiner Tage davonzukommen?« »Das ist doch nur die halbe Wahrheit – « »Das ist Wahrheit genug!« brüllte Quintall. »Du bist abgefallen, mein einstiger Bruder. Was dir noch offensteht, ist allein der Schlund der Hölle. Ich will die Steine!« Avelyn rührte sich nicht. »Und mein Leben.« »Und dein Leben«, bestätigte Bruder Richter kalt. »Du hast es verwirkt, als Meister Siherton über die Mauer fiel.« »Ich habe es verwirkt, als ich die Pervertierung des Ordens nicht einfach hinnehmen wollte!« hielt Avelyn dagegen, und daß er für seine Überzeugung einstand, gab ihm neuen Mut. »Als Bruder Pellimar – « »Schweig!« befahl Bruder Richter. »Dein Leben ist verwirkt, und mit deinem Gestammel schindest du nur Zeit. Die Steine bekomme ich so oder so, aber wenn du sie mir kampflos übergibst und dich in dein wohlverdientes Schicksal fügst, lasse ich die Frau in Frieden ziehen. Mein Wort darauf.«
Avelyn schnaubte verächtlich. »Ist dein Wort soviel wert wie das Wort der Herren, denen du dienst? Ist dein Gold auch nur eine Gaukelei, mit der du ein Schiff in die Bucht hinausschickst, damit du es um so besser abfackeln kannst?« Quintalls Miene zeigte ihm, daß dieser entweder nicht begriff, wovon er sprach, oder ohnehin nichts darauf gab, zeigte ihm mit aller Deutlichkeit, daß sein Gegenüber nur eines im Sinn hatte und sich nicht umstimmen lassen würde. Damit blieben dem fetten Mönch nur zwei Möglichkeiten: die Steine und sein Leben in der Hoffnung herzugeben, daß Quintall die Wahrheit sprach – oder zu kämpfen. Er traute dem Mann nicht über den Weg, überhaupt nicht. Sobald Quintall die Steine hatte, würde er erst ihn umbringen und dann Jill, damit es keine Zeugen gab. Davon war Avelyn felsenfest überzeugt. Er nahm die Hand aus der Tasche und richtete den Graphit auf Quintall. »Willst du auch noch das Leben deiner Freundin vernichten?« fragte Bruder Richter grinsend. »Was ich will, ist dein Leben gegen das der Frau einzutauschen«, erwiderte Avelyn. Aber der Mann hörte nicht auf zu grinsen, und das ließ Avelyn zögern. Quintall wußte doch besser als sonst jemand, wie gut Avelyn mit den Steinen war. Quintall mußte doch wissen, daß er mit diesem Stück Graphit einen Blitz auslösen und ihn in ein verkohltes Etwas verwandeln konnte. Und doch hatte dieser Mann, der sich nunmehr Bruder Richter nannte, hatte dieser Arm des verderbten Abellikaner-Ordens keine Angst. Avelyn richtete seine Aufmerksamkeit auf den Ort, den Quintall für diese Begegnung ausgewählt hatte. Über der Höhle lag irgendein Zauber, ein kaum merkliches Pulsen. Avelyn sah auf den Graphit in seiner Hand, und als er
bemerkte, daß die Kräfte des Steins weit im Innern eingeschlossen zu sein schienen, ging ihm ein Licht auf. »Sonnenstein«, bestätigte Quintall, als er Avelyns Gesichtsausdruck sah. »In dieser Höhle wird niemand großartig herumzaubern, du Narr.« Avelyn zerbiß sich schier die Lippen. Es mußte doch einen Ausweg geben! Damals in St. Mere-Abelle hatte Meister Siherton eine magische tote Zone errichtet, während Avelyn zusammen mit einigen anderen versucht hatte, die Kräfte des riesigen Amethysts zu wecken. Nur die mächtigsten Steine funktionierten in einer solchen Zone, wenn überhaupt, und dann nur mit dem Bruchteil der eigentlichen Stärke. So mochte Avelyn in dieser Höhle zwar durchaus einen Blitz hervorrufen können, aber es stand zu bezweifeln, daß er damit mehr schaffte, als Quintalls Zorn noch anzustacheln. Quintall hielt ihm die offene Hand entgegen. »Die Steine«, sagte er ruhig, »gegen das Leben der Frau.« »Die Frau hat mit der Sache nichts zu tun«, erklärte Eibryan, der plötzlich neben Avelyn stand. »Von den Verbrechen Bruder Avelyns weiß ich nichts, aber gegen die Frau habt Ihr keine Vorwürfe erhoben.« Kaum hatte Quintall die eindrucksvolle Gestalt des Hüters erblickt, da war sein überlegenes Lächeln wie weggefegt. »Und schon wieder Verrat!« grollte er. »Was hätte man von einem wie Avelyn Desbris auch anderes erwarten können!« »Kein Verrat«, erwiderte Eibryan. »Nur Gerechtigkeit.« »Was wißt Ihr schon? Was wißt Ihr von diesem Fremden, diesem irren Mönch, der hilfesuchend in eure Mitte getreten ist? Hat er euch etwa gesagt, daß er ein Mörder ist?« »Und, ist die Frau eine Mörderin?« »Nein«, antwortete Avelyn, als der andere Mönch zögerte. »Eine Diebin?« fragte Eibryan.
»Nein!« sagte Avelyn mit fester Stimme. »Sie hat keine Verbrechen begangen. Was die meinen betrifft, so will ich offen und ehrlich von ihnen berichten, und wenn ich damit fertig bin, dann soll jemand anderer als ein Abellikaner-Mönch das Urteil über mich sprechen.« Bruder Richter starrte den Mönch aus zusammengekniffenen Augen an. An einer Gerichtsverhandlung war ihm selbstverständlich überhaupt nichts gelegen. Er war Richter, Geschworener und Henker zugleich, so hatte es der ehrwürdige Vater verfügt. »Eine Narretei, Avelyn hierher zu folgen«, sagte er zu Eibryan. »Nun ist dein Leben ebenso verwirkt wie Avelyns und das der Frau.« »Noch mehr Gerechtigkeit?« fragte Eibryan. Bruder Richter wirbelte herum und riß einige Ranken zur Seite, die den Eingang zur Nebenhöhle verborgen hatten. Eine rasche Bewegung des Handgelenks, und etwas Silbernes wurde in die Dunkelheit geschleudert. In der Tiefe der Höhle erklang ein gurgelnder Aufschrei. »Zu ihr, rasch!« rief der Hüter Avelyn zu und stellte sich Quintall entgegen, seinen Stock kampfbereit. »Diesmal überraschst du mich nicht mehr«, höhnte Bruder Richter und duckte sich. Er wollte bei der Tür bleiben, damit Avelyn nicht zu der Frau konnte, aber Eibryans Attacke war zu heftig, zu frontal. Der Hüter nahm einen schmerzhaften Schlag gegen die Brust in Kauf, schaffte es dafür aber, den Mönch mit der Schulter einen Schritt zurückzudrängen. Dann stemmte Bruder Richter sich ihm entgegen und hielt stand – bis sich Avelyn mit seinen dreihundert Pfund gegen Eibryan warf und die beiden Kämpfenden einfach aus dem Weg fegte. Eibryan mußte drei rasche Schläge einstecken – zwei gegen die Brust und einen ins Gesicht, der ihn fast zu Boden schickte –, bis er sich aus dem Griff des gefährlichen Mönchs befreien konnte.
Als sie sich dann gegenüberstanden, wußte der Hüter nicht, was er von seinem Gegner halten sollte. Bruder Richter wandte ihm sein Profil zu und hob den vorderen Fuß, zog ihn langsam das Standbein hinauf und reckte gleichzeitig die Arme empor. Er sah aus wie eine Schlange vor dem tödlichen Biß.
Es war ein Dolch, klein zwar, aber bösartig, der der gefesselten und geknebelten Frau gleich unter dem Kiefer in der Kehle steckte und die Hauptschlagader verletzt hatte. Das Blut sprudelte hervor und bildete bereits eine Lache um ihre zusammengebrochene Gestalt. »Jill, Jill! Ach, meine Jill!« jammerte Avelyn und eilte neben sie. Er zog den Dolch heraus und preßte verzweifelt seine Hände auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Jill blieb nur noch wenig Zeit. Ihre Haut fühlte sich kalt an. Avelyn holte seinen Hämatit hervor, dann fiel ihm der antimagische Schild ein, den Quintall errichtet hatte. Er dachte kurz daran, Jill einfach wegzutragen, aber er erkannte, daß sie sterben würde, bevor er es nach draußen geschafft hatte. Er umklammerte den Hämatit mit beiden Händen, legte ihn auf die Wunde, und dann betete er mit aller Inbrunst, die er in seinem Herzen noch fand. Wenn es einen Gott gab, wenn diese Steine wahrlich geheiligt waren, dann durfte der Hämatit einfach nicht versagen! Wahrlich, die Kampfeskunst des Mönchs war bemerkenswert. Er bewegte sich unglaublich flink und achtete in jeder Sekunde auf einen guten Stand. Für die meisten Menschen wäre er zu schnell gewesen; das wilde Wirbeln seiner Finten hätte sie so sehr verwirrt, daß der letztlich tödliche Schlag für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen wäre. Doch so kunstfertig Quintall auch kämpfte, er war nicht schneller als Tuntun oder Belli’mar Juraviel oder
sonst ein Elf, bei dem Eibryan in die Lehre gegangen war, und als er aus seiner schlangengleichen Position heraus zuschlug, um Eibryan die Kehle zu zerschmettern und sich endlich wieder um Avelyn kümmern zu können, da erlebte er eine böse Überraschung. Seine ausgestreckten Finger trafen nichts als leere Luft, und sein Ellbogen mußte einen schmerzhaften Stockhieb einstecken. Mit unglaublicher körperlicher wie geistiger Wendigkeit paßte sich der Mönch der neuen Lage an, senkte seinen schmerzenden Arm auf den Stock herab, um eine Öffnung in Eibryans Deckung herzustellen, und schlug mit der anderen Hand kurz zu, um dann einen Tritt folgen zu lassen, der den Hüter an der Innenseite des Knies traf und beinahe zu Boden gehen ließ. Eibryan konterte, indem er mit dem Stock zu einem flachen Streich gegen Quintalls Standbein ausholte. Bruder Richter sprang über den Stock hinweg, mußte aber zurückweichen. Der Mönch umkreiste Eibryan und schöpfte neue Zuversicht. Zwei rasche Schritte, und Bruder Richter holte zu einem Doppeltritt aus. Eibryan rammte ein Ende des Stocks in den Boden, riß ihn kräftig von links nach rechts in die Diagonale und lenkte den Schlag so ab. Dann schob er seinen linken Fuß vor und setzte die Drehung fort, während Bruder Richter auf den Füßen landete und sich andersherum drehte. Eibryan riß Falkenschwinge hoch und verpaßte dem Mönch genau in dem Augenblick einen Rückhandschlag in die Nierengegend, als dieser ihm einen Ellenbogen gegen den Hinterkopf rammte. Der Hüter reagierte gut und warf sich nach vorn, als der Ellenbogen ihn traf, warf sich über seinen Stock hinweg wie über den Ast eines Baumes. Als Bruder Richter herumfuhr, war Eibryan bereits wieder auf den Beinen, und so umkreisten die beiden einander erneut. »Ich gebe dir noch eine letzte Gelegenheit zu fliehen«, erklärte der Mönch, was seinem Gegner nur ein Grinsen
entlockte. Dieser selbstgefällige Blick ließ den stolzen Quintall auf der Stelle zum Angriff übergehen. Unmittelbar vor Eibryan kam er zum Stehen und ließ seine Faust schwer von oben herunterkrachen. Aber da hing Falkenschwinge schon quer in der Luft und blockte den Schlag ab. Die darauffolgenden Züge vorwegnehmend, riß Eibryan die Linke nach unten, um Quintalls rechtem Querschlag die Wucht zu nehmen, trat dann näher heran und stellte sein rechtes Bein vor das linke des Mönchs, um einen entsprechenden Tritt abzuwehren. Bruder Richter schlang seinen linken Arm um den Stock, um an Eibryans Gesicht heranzukommen, aber dieser zog den Stock mitsamt Arm nach außen, was ihn so dicht an den Mönch heranbrachte, daß er ihm den Kopf kräftig ins Gesicht rammen konnte. Für einen Moment war Bruder Richter benommen, und diesen Moment nutzte Eibryan voll aus. Den Stock fest gepackt, riß er ihn an sich heran, stieß ihn dann so weit von sich, wie es ging, und zog ihn wieder heran. Bruder Richter hätte loslassen sollen; aber dafür war er zu benommen. Er hielt sich an dem Stock fest, und so krachte er mit dem Gesicht noch einmal gegen Eibryans Stirn. Immer noch benommen, immer noch den Stock festhaltend, meinte der Mönch zu fallen, und das stimmte auch, denn Eibryan warf sich nach hinten auf den Boden und zog Quintall direkt über sich. Beide Füße in dessen Bauch gedrückt, hievte der Hüter den Mönch über seinen Kopf hinweg und schickte ihn auf einen kurzen Flug, der am Fuß der harten Höhlenwand sein Ende fand. Die reine Raserei war es, die den Mönch weitermachen ließ. Rasch rollte er sich herum und kam wieder hoch – nicht rasch genug. Ihm fehlte praktisch jede Deckung, als Eibryan das eine Stockende in beide Hände nahm und ihm das andere Ende mit
einem gewaltigen, weit ausholenden Streich gegen die Schläfe rammte. Die Wucht des Schlags schickte den Mönch halb stolpernd, halb stürzend durch die Höhlenöffnung nach draußen ins Tageslicht. Eibryan hielt nur für einen Moment inne, doch als er im Freien angekommen war, war der Mönch schon etliche Schritte entfernt und rannte, was das Zeug hielt. Ohne groß darüber nachzudenken – einen so gefährlichen Gegner konnte er nicht einfach laufenlassen –, steckte Eibryan die gefiederte Spitze auf seine Waffe und spannte rasch die Bogensehne. Dann lief er ein Stück nach vorn, um die bestmögliche Sicht auf den Grat zu bekommen, den entlang der Mönch floh. Für einen Sekundenbruchteil nur kam Bruder Richter zwischen zwei Bäumen in Sicht. Eibryans Pfeil traf ihn in die Wade, gleich unterhalb des Knies, und mit einem schmerzerfüllten Aufschrei fiel der Mönch seitlich zu Boden und rollte schneller werdend den steilen Hang hinab. Eibryan lief ihm nach und sah, wie er gegen einen Felsdurchbruch krachte und darüber hinwegrollte; dann sah er ihn nicht mehr, sondern hörte nur noch einen harten Schlag. Eibryan lief zur Felskante. Fünfzehn Fuß unter ihm lag der Mönch zwischen den Felsen, ein Bein und ein Arm in einem grotesken Winkel verdreht. Mit dem anderen Arm langte der Mann keuchend in die Falten seiner Kleidung und holte etwas hervor, das Eibryan aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte. Der Hüter fuhr zurück, als der Leib des Mönchs plötzlich aufglühte und um ihn herum schwarze Flammen züngelten. Eibryan schaute erstarrt zu, als sich die Gesichtszüge des Mönchs schrecklich verzerrten und plötzlich ganz verschwommen aussahen, als sich aus seinem Gesicht ein zweites löste, ein ganzer Kopf gar, der sich in grotesker Weise aus seiner sterblichen Hülle nach oben bog, als sich die
sichtbare Seele dieses Mannes von ihrem Fleisch und Blut löste und dann in den Gegenstand hinabfuhr, den seine Hand umklammert hielt. Es blitzte hell auf, und dann lag der Mönch still da, und an seinem leblosen Leib leckten gierig die Flammen. »Nachtvogel!« erklang ein Schrei aus der Höhle, und der zutiefst erschütterte Eibryan hastete dorthin zurück.
Im Torkelflug raste er über den Wald hinweg, über die Seen und über die Lande, die bereits tief unterm Schnee begraben lagen – zu schnell, als daß er es hätte spüren, hätte begreifen können. Er spürte keine Schmerzen mehr, das immerhin begriff er. Dann war er über den Bergen, glitt durch Pässe und über Berggipfel hinweg bis zu einer Hochebene, die er bereits kannte. Kurz war da ein unermeßliches Heerlager zwischen den schwarzen Armen eines rauchenden Berges zu sehen, und dann ging es schnell im Zickzack durch enge Tunnel hinab, immer weiter hinab bis zu einem Tor, das einen Spaltbreit offenstand. In diesen schmalen Spalt hinein ging es, so knapp zwischen den Flügeln hindurch, daß der Geist vor Entsetzen aufschrie. Dann war er auf einmal in dem von Standbildern gesäumten Saal und stand vor dem Obsidianthron. Auf durchscheinenden Beinen stand er, auf halbem Wege hängengeblieben zwischen Diesseits und Jenseits. Auf Gespensterbeinen stand er und sah zu dem Geflügelten empor. Dies war das Ende, das Ende der Hoffnung, das Ende der Lüge, ein guter Mensch zu sein. Dies war die Wahrheit, die schwarz schimmernde Wahrheit, dies war die Wirklichkeit dessen, was er geworden war, das einzig ehrliche Ende des Weges, auf den seine abellikanischen Meister ihn geschickt hatten. Dies war der Geflügelte, Bestesbulzibar – er kannte
seinen Namen –, in all seiner abstoßenden Schönheit, all seiner Pracht und Herrlichkeit. Quintall, Bruder Richter, fiel vor dem Dämon auf die Gespensterknie, senkte den Kopf und sprach: »Herr!«
Eibryan nahm die Fackel mit, als er die Ranken beiseite schob und die innere Kammer betrat. Avelyn hockte auf dem Boden und wiegte die Frau in seinen Armen. Ihre Wunde war geschlossen, und sie war so lebendig, wie man es nur sein konnte, wenn auch zutiefst erschöpft, ebenso wie Avelyn, der in den Hämatit gegangen war und sich mit reiner Willenskraft und Entschlossenheit durch die Barriere des Sonnensteins gekämpft hatte bis zur heilenden Magie. Der Mönch fragte nach Quintall, doch Eibryan hörte es nicht. Avelyn wollte aufstehen, was ihn beinahe vornüberfallen ließ, doch Eibryan bemerkte es nicht. Er sah nichts als die Frau, hörte nichts als ihren Atem. Sein Blick wanderte über sie hinweg – die wilde, blonde Mähne, die blauen Augen, die trotz ihrer Erschöpfung glänzten im trüben Licht, und die Lippen, diese vollen, herrlichen Lippen, diese überaus weichen Lippen. Er konnte kaum atmen, konnte kaum auf den Beinen bleiben, als all sein Denken, seine Energie zu einem einzigen Wort zusammenschmolz, zu einem Namen, den er seit so langer Zeit nicht mehr ausgesprochen hatte. »Pony!«
Teil zwei Der Hüter Wie sehr ich mich danach sehne, zu ihr zu gehen, bei ihr zu weilen, auf daß wir erneut den Frieden erfahren, der vor jenem Schreckenstag unser Leben erfüllt hat. Wie gern ich Pony halten möchte, küssen möchte, ihr alle meine Gefühle verraten möchte, all meine Geheimnisse, meinen Schmerz, meine Hoffnungen. Die heutige Pony zu sehen heißt zu sehen, was einst war und was hätte sein können, wären die Goblins nicht nach Dundalis gekommen. Die heutige Pony zu sehen, heißt darüber nachzugrübeln, welcher Lebensweg mir sonst bevorgestanden hätte – hätte ich den Acker bestellt und gejagt, wie es Olwan tat, mein Vater? Wären Pony und ich verheiratet, hätten wir gar Kinder? Wie würde für Eibryan die Welt aussehen, wenn er nicht all diese Jahre in Andur’Blough Inninness gelebt hätte? Doch genau da liegt das Problem, Onkel Mather. Ich kann das nicht wissen, kann nur raten, und ich fürchte, daß jede Überlegung, die ich in dieser Richtung anstelle, von den Erfahrungen meines gegenwärtigen Lebens gefärbt ist. Vielleicht wäre mein Leben besser verlaufen, wenn Gott mir einen anderen Weg gewiesen hätte, einen ähnlichen wie Olwan. Ich wünschte, den ganzen Dundaliern – Mutter, Vater, Ponys Eltern und all den anderen – wäre ihr schreckliches Schicksal erspart geblieben. Ich wünschte, die Goblins wären nicht nach Dundalis gekommen!
Doch was wäre dann aus mir geworden? Ein gemächlicher Grenzer vermutlich und wahrscheinlich Ponys Mann, und das ist ein Schicksal, über das sich niemand beklagen müßte. Und dennoch will ich meine Jahre bei den Touel’alfar keinesfalls verwerfen; seine Elfenfreunde erst haben Eibryan zum Mann gemacht. Seine Elfenfreunde schufen Nachtvogel den Hüter, hoffentlich zum Wohle der Welt, ganz gewiß aber zu dem meinen. Aus dem Blickwinkel ihrer schimmernden Augen schauend, habe ich ein frischeres und strahlenderes Bild der Welt um mich herum gewonnen, wie ich es nie gekannt hätte, wären nicht die Goblins nach Dundalis gekommen, hätten nicht die Elfen mich gerettet und in ihr geheimes Tal gebracht. Durch diese Tragödie habe ich, Eibryan, das Leben um so tiefer zu erfahren und zu lieben gelernt. Durch diese Tragödie bin ich zu dem Mann geworden, der ich heute bin, zu einem Mann, der die Welt ebensogut mit Elfen- wie mit Menschenaugen sehen kann. Das ist die Schuld, die ich mit mir herumtrage, Onkel Mather, denn warum bin ich auserwählt worden und nicht irgendein anderer Dundalier – Olwan oder Shane McMichael, Pony oder Carley dan Aubrey? Diese Schuld trage ich mit mir herum, und Pony am Leben zu sehen, die schöne, wundervolle Pony, macht den Schmerz nur um so größer, erinnert mich an diejenigen, die gestorben sind, und läßt mich fragen, was sonst hätte sein können und ob ich diesen anderen Weg vielleicht lieber gegangen wäre. Und für die arme Pony ist es sogar noch schlimmer. Mich zu sehen, Dundalis zu sehen, hat ihr längst Begrabenes ins Gedächtnis zurückgerufen. Ich habe sie kaum gesehen in den wenigen Tagen, seit Bruder Avelyn und ich sie aus Quintalls Klauen gerettet haben. Sie weicht mir aus, das weiß ich, und ich nehme es ihr nicht übel. Sie braucht Zeit; sie hat sich in so kurzer Zeit an so vieles erinnern müssen.
Bis auf uns zwei sind alle Dundalier tot. Und wir haben weitergemacht nach dem Augenblick dieser Tragödie, sind in ihrem Feuer gestählt worden und haben uns neu eingerichtet im Leben, und nun, da wir wieder vereint sind, scheint das Potential nur um so größer. Doch genau darin… Darin liegt die Schuld, Onkel Mather, unsere Schuld. Ich kann Pony nicht den Schmerz ihrer Erinnerungen ersparen und sie mir nicht den meinen. Ich hoffe nur, daß sie unser Schicksal anzunehmen lernt und den Wunsch verspürt, so gut voranzukommen, wie wir es eben können. Ich wußte es von dem Augenblick an, da ich sie in der Höhle sah. Ich liebe sie, Onkel Mather, wie ich sie auch an jenem verhängnisvollen Tag geliebt habe, oben auf dem Grat über unserem Heimatdorf. Ich liebe sie, und die ganze Welt wird mir wie ein Schlaraffenland scheinen, wenn ich sie erst in den Armen halten kann und ihr Atemhauch meine Kehle streift. ELBRYAN WYNDON
13. Entkommen?
Pony. Der Name traf die junge Frau wie ein Donnerschlag, vor allem, da ihr die Stimme des Sprechers so bekannt vorkam. Wie hypnotisiert sah sie zu dem starken jungen Mann hinauf, der sich über sie beugte, zu seinen grünen Augen, in denen Tränen standen. »Pony«, sagte Eibryan wieder, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Meine liebe Pony, ich dachte…« Er sank vor ihr auf die Knie, schloß die Augen und versuchte, tief durchzuatmen. Als er nach einer Weile die Augen öffnete und wieder auf diese Erscheinung aus seiner Vergangenheit hinunterschaute, mußte er feststellen, daß ihr Gesichtsausdruck verwirrender war als alles andere. »Erinnerst du dich denn nicht an mich?« fragte Eibryan, und die Frage allein, die Notwendigkeit, sie zu stellen, schien ihm großes Leid zu bereiten. Die Frau wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie erinnerte sich an den Mann – er war da irgendwo tief in ihrem Hinterkopf und brüllte sie an, ihn herauszulassen. Die Art und Weise, wie er den Namen aussprach, ihren Namen – ihren Spitznamen, ging ihr plötzlich auf, denn sie hieß nicht Pony oder Jill, sondern Jilseponie! –, sie kam ihr so bekannt vor; ganz gewiß hatte dieser Mann sie schon früher Pony genannt. »Gebt ihr bitte etwas Zeit, Eibryan«, sagte Bruder Avelyn. So hieß er. Eibryan. Der Name traf Pony härter, als Bruder Richter es je vermocht hätte, bis ins Mark traf er sie und schleuderte sie in einen Abgrund von Jahren hinab.
»Als du damals weggelaufen bist auf dem Hang, in die brennende Stadt hinunter, da dachte ich, wir würden einander niemals wiedersehen«, fuhr der Hüter fort, angetrieben von dem unvermittelten Funken des Erkennens in ihren blauen Augen. »Meine liebe Pony. Wie ich nach dir gesucht habe! Deine Eltern fand ich, meine Eltern, unsere Freunde. Carley dan Aubrey starb in meinen Armen. Und ich wäre auch gestorben, als mich dieser Bergriese und die Goblin-Horde fanden, wären da nicht die – « Er hielt inne, als ihm klar wurde, daß er zu schnell war für die junge Frau, daß er sie förmlich überschüttet hatte mit seinen Erinnerungen. Aber es war Pony, seine Pony, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Er brachte sein Gesicht nah an das ihre heran. »Eibryan«, sagte sie leise und hob schwach eine Hand, um ihm über das Gesicht zu streichen. All diese zerrissenen Bilder in ihrem Kopf wirbelten durcheinander und fielen an ihren Platz – wie ein gewaltiges Puzzlespiel, bei dem sämtliche Teile wie durch Zauberhand an die richtige Stelle gelangen. Sie erinnerte sich an ihn, als hätte sie ihn nie vergessen gehabt, erinnerte sich an ihre Gespräche, ihre Spaziergänge, erinnerte sich an ihre Freundschaft, die mehr geworden war. Im Geiste sah sie, wie er näher kam, um sie zu küssen. Doch dann war er Connor, der arme Connor, und Pony keuchte erstickt und streckte sich nach dem Kamin aus, nach dem glühenden Scheit. Als sie ihre fünf Sinne wieder beisammenhatte, stellte sie fest, daß Eibryan von ihr abgerückt war und hilflos zu Bruder Avelyn blickte. »Wir haben einiges zu besprechen«, sagte der Mönch. Eibryan nickte und sah wieder zu ihr. Sie war so schön, wie er sie in Erinnerung hatte – nein, schöner war sie! »Bruder Quintall?« fragte Avelyn.
Eibryan sah ihn erstaunt an. »Bruder Richter?« stellte Avelyn klar. »Der Jäger, den mein eigener Orden mir auf die Fersen gehetzt hat, auf daß er mich umbringe und meine Freunde gleich mit.« »Er ist tot«, sagte Eibryan ruhig. »Bringt mich zu ihm.« Eibryan nickte. »Warum war er hinter Euch her?« stellte er Avelyn die Frage, die wahrheitsgemäß zu beantworten der Mönch sich nun verpflichtet sah. Er blickte erst Eibryan an, dann Pony, dann wieder den Hüter. »Nicht alle seine Anschuldigungen waren aus der Luft gegriffen, fürchte ich. Ich will euch alles erklären, wenn wir weit weg sind von hier, und dann will ich mich eurem Urteil fügen.« Avelyn straffte die Schultern. »Dem Urteil von euch beiden. Entscheidet selbst, ob Bruder Quintalls Mission das Wort Gerechtigkeit verdient hat, ob Bruder Avelyn, der irre Mönch, wirklich ein Gesetzesbrecher ist.« »Ich bin kein Richter«, sagte der Hüter. »Dann bin ich verstoßen und verdammt«, erwiderte Avelyn. »Denn diejenigen, die vorgeben, über mich zu richten, haben ihr Urteil längst gefällt, und zwar nicht im Sinne der Gerechtigkeit, sondern auf der Grundlage von Habgier und Furcht.« Eibryan starrte Avelyn lange an. Schließlich nickte er, und dann half er den beiden auf die Füße und führte sie nach draußen zu der Stelle, wo Bruder Richter abgestürzt war. Die Leiche des Mönchs war bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. »Wie ist das geschehen?« fragte Eibryan und untersuchte den Leichnam, ohne einen Hinweis darauf zu finden, warum er in Flammen aufgegangen war. »Die Antwort findet Ihr hier.« Avelyn zeigte neben die ausgestreckte Hand des Mönchs, von der kaum mehr als Asche übrig war. Daneben lag die zerstörte Brosche. Der Hämatit in
ihrer Mitte war zerschmolzen und verformt, ein langgezogenes schwarzes Ei. Darum verstreut lagen die kleinen Quarzkristalle, geschwärzt, und in den Überresten der goldenen Fassung steckten auch noch ein paar. Avelyn nahm die Brosche genauestens in Augenschein. »Ihre Macht ist dahin«, verkündete er dann. »Irgendwie müssen die magischen Energien der Steine durch den Aufprall freigesetzt worden sein.« Avelyn ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Konnte es sein, daß das mit Absicht geschehen war? Im Umkreis des Leichnams gab es beachtliche magische Rückstrahlungen. Vielleicht hatte diese Brosche als Warnvorrichtung für die Meister in St. MereAbelle gedient; dann wußten sie nun, daß Quintall tot war, daß er versagt hatte. Oder war die Menge freigesetzter Energie noch weit größer gewesen? Und ausgerechnet ein Hämatit war im Spiel! Sollte dies etwa eine Art Transportmittel für Quintalls Seele gewesen sein? Avelyn, der Erfahrung mit der Seelenwanderung hatte, der einst von einem anderen Körper Besitz ergriffen hatte, erschauderte bei dieser Vorstellung. Eibryan stocherte auf der Suche nach Hinweisen in den Überresten des Mönchs herum. Was er statt dessen fand, waren zwei intakte Steine: ein Sonnenstein – was Avelyn nicht im geringsten überraschte – und ein Cabochon. »Damit also hat er mich gefunden«, sagte Avelyn. »Mit dem Cabochon lassen sich magische Steine orten.« »Wie Ihr sie bei Euch führt«, schloß Eibryan. »In großer Zahl«, gestand Avelyn. »Vermutlich besitzt auf der ganzen Welt kein einzelner Mensch mehr davon als ich.« »Seit Ihr sie dem Kloster gestohlen habt.« »Seit ich sie denen weggenommen habe, die ihrer nicht würdig waren, die die gottgegebenen Steine für finstere Taten mißbrauchten«, sagte Avelyn mit fester Stimme. »Sucht uns
einen Lagerplatz, mein Freund. Ich werde euch meine Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählen, die ganze Wahrheit. Entscheidet selbst, wer von uns beiden eher das Recht zu richten hatte, Quintall oder ich.« Als sie bei Eibryans Lagerplatz angekommen waren und am Feuer Platz genommen hatten, löste Avelyn sein Versprechen ein. Er erzählte seine Geschichte, die ganze Geschichte, von der Fahrt nach Pimaninicuit über den Untergang der Windläufer und die Ermordung Dansallys bis hin zu seiner Flucht aus St. Mere-Abelle und Sihertons Sturz in den Tod. Zwar hatte er Jill gegenüber schon manches angedeutet, aber richtig erzählte er seine Geschichte nun zum ersten Mal. Zum ersten Mal war der Mönch in der Lage, seine Seele zu läutern, indem er seine Verbrechen offen eingestand, wenn es denn Verbrechen waren. Als er geendet hatte, kauerte wahrlich nur noch ein armer Tropf am Feuer, da konnte der Mönch so groß sein, wie er wollte. Pony ging zu ihm. Sie liebte ihn nun um so mehr, sie fühlte eine echte Verwandtschaft zu ihm und ein gerüttelt Maß an Mitleid noch dazu. Es tat ihr leid, daß Avelyn zum Dieb und Mörder hatte werden müssen, leid, daß dieser sanftmütige Mann – denn sanftmütig war er, da konnte er noch so viele Wirtshausschlägereien anzetteln – in einen so unausweichlichen Konflikt getrieben worden war. Nach einer Weile blickten die beiden ängstlich zu dem Hüter hinüber, dessen Urteil noch ausstand. In seinem gutaussehenden Gesicht war nichts als Mitgefühl zu erkennen. »Ich beneide dich nicht um das, was du hast tun müssen«, sagte Eibryan. »Ebensowenig sehe ich dein Handeln als kriminell an. Es war jedesmal ein Akt der Selbstverteidigung und als solcher entschuldbar. Du hast die Steine gestohlen, weil du völlig richtig zu dem Urteil gekommen bist, daß sie mißbraucht wurden.«
Avelyn nickte. Er war mehr als froh, diese Worte zu hören. »Dann sollte ich mich jetzt auf den Weg machen«, verkündete er überraschend. »Jill – Pony hat nach Hause gefunden, wie es scheint.« Er strich der Frau mit der Hand übers Gesicht, und das seine strahlte unvermittelt. »Ho, ho, hoppla!« rief er aus, um dann zu erklären: »Sie braucht mich nicht länger.« »Doch braucht nicht Bruder Avelyn sie?« fragte Eibryan. Der Mönch zuckte mit den Schultern. »Das Kloster wird die Suche nicht aufgeben, also muß ich weiterziehen. Nun, da ich um die Gefahr weiß, werde ich doch meine Freunde nicht mit hineinziehen.« Eibryan sah Pony an, und dann brachen die beiden in schallendes Gelächter aus, als sei diese Bemerkung das Dümmste gewesen, was sie je gehört hatten. »Du bleibst«, erklärte Eibryan entschlossen. »Pony ist wieder zu Hause, das stimmt, aber wenn mich nicht alles täuscht, ist ihr Heim auch Avelyns.« »Ihr Heim ist Avelyns«, sagte sie mit fester Stimme. Es hatte leicht zu schneien begonnen, doch vor dem Lagerplatz mit seinem prasselnden Feuer, vor der Wärme von Avelyns neuem Zuhause schienen die Flocken zurückzuweichen.
14. Auge in Auge
»Nun werden sie mich endgültig für irre halten!« röhrte Bruder Avelyn glücklich. »Ho, ho, hoppla!« Eibryan sah zu Bradwarden, und der Zentaur zuckte nur mit den Schultern. Er schien der Selbsteinschätzung des munteren Mönchs nicht widersprechen zu wollen. »Da springe ich nun auch noch mit dir in der Gegend herum«, fuhr Avelyn fort. »Und wie sie sich erst das Maul zerreißen würden, wenn sie wüßten, daß ich mit einem Zentauren gespeist habe!« »Würden sie Bradwarden so gut kennen wie ich, hätten sie eher Respekt«, warf Eibryan ein. »Anderenfalls würde er sie wohl auch unter seine Hufe nehmen, fürchte ich.« Bradwarden verschlang einen Riesenbissen Hammel und gab einen gewaltigen Rülpser von sich. »Ho, ho, hoppla!« heulte Avelyn entzückt. Der Mönch war sichtlich aufgelebt; er hatte sich seit seinen ersten Tagen in St. Mere-Abelle, seit jenen unschuldigen Zeiten, bevor er die Wahrheit über den Orden erfahren hatte, nirgendwo mehr so aufgehoben gefühlt. In Eibryan hatte Avelyn einen Mann gefunden, den er aufrichtig respektieren konnte, einen gleichmütigen Menschen, der sich der sehr realen Gefahren der Welt bewußt war und sich dem Bösen und der Ungerechtigkeit bereitwillig entgegenstellte. Er hatte dem Hüter seine Geschichte erzählt, und der Hüter hatte ihn nicht nach den Buchstaben des Gesetzes beurteilt, sondern nach dem eigentlichen Ideal der Gerechtigkeit. Nun verbrachte Avelyn seine Nächte in Dundalis, Weedy Meadow oder Weltenend und seine Tage mit Eibryan und
Pony im Wald – und manchmal auch mit den etwas außergewöhnlicheren Freunden des Hüters, wie Bradwarden etwa oder diesem prächtigen Hengst Symphony. Und all dem haftete ein Gefühl von Richtigkeit an, von Gottgefälligkeit, das er seit vielen Jahren nicht mehr verspürt hatte. Der einzige Wermutstropfen war, daß Pony die Heimkehr zutiefst erschüttert hatte. Sie verbrachte kaum Zeit mit einem von ihnen, sondern ging lieber allein spazieren, meist in der Gegend von Dundalis. Sie war dabei, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, das wußte der Mönch und war froh darüber, aber er wäre der jungen Frau dabei gern eine größere Hilfe gewesen. Bradwarden hob seine Pfeifen und ließ dem Mahl eine traurige, gefühlvolle Weise folgen, die in Avelyn Bilder von den Hügeln, den Weizenfeldern und Weingärten Youmaneffs heraufbeschwor. Er dachte an seine Mutter und seinen Vater und hoffte, daß sein Vater noch immer wohlauf war. Zwar konnte Jayson Desbris es nicht wissen, aber inzwischen brauchte ihn der Gedanke an seinen Jüngsten nicht mehr um den Schlaf zu bringen. Auch Pony, die nicht allzuweit entfernt auf einem Hügel saß, ließ sich von der Musik des Zentauren betören. Ihre Gedanken wanderten zu den sorglosen Kindertagen zurück, die sie mit Eibryan verbracht hatte – Eibryan! Sie waren nicht verblaßt, all die Schreckensbilder jenes schicksalhaften Tages in Dundalis, aber in gewisser Weise konnte die junge Frau nun besser mit ihnen umgehen. Sie konnte die Tragödie mit einigem Abstand betrachten, und nun, da Eibryan bei ihr war, fing sie langsam an, sich mit ihrem Schicksal auszusöhnen. Pony begriff allmählich, daß es nicht einfach nur all das Leid gewesen war, das sie diese entsetzlichen Bilder hatte vergessen lassen, sondern Schuld. Sie hatte überlebt, aber alle anderen, so hatte sie jedenfalls gedacht, waren tot. Warum war ausgerechnet sie verschont geblieben?
Jemanden aus ihrer Stadt wiederzusehen, den geliebten Eibryan wiederzusehen, hatte Pony gestattet, einiges von dieser Schuld abzulegen. Nun kannte sie die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und sie war stark genug, sie zu akzeptieren – und wenn sie einmal nicht stark genug sein sollte, dann würde Eibryan für sie dasein, wie sie auch für ihn da wäre. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war Pony nicht allein.
»Du übernachtest heute nicht in der Stadt?« fragte Eibryan, als der Mönch länger und länger am Feuer weilte. »Jill – Pony ist nach Dundalis gegangen«, erklärte Avelyn, »aber ich glaube, ich bleibe heut nacht im Wald.« »Der Wind ist kalt und der Boden hart«, warnte ihn Eibryan, und in der Tat rückte der Winter mit Riesenschritten näher. »Ho, ho, hoppla!« lachte Avelyn. »Du denkst wohl, ich wäre verweichlicht, mein Freund. Dieser rundliche Leib verrät nicht, welche Härten ich erduldet habe.« Eibryan lächelte. Es war ihm nicht verborgen geblieben, daß unter dieser weichen Schale ein rauher Kern steckte. »Nein, ich bleibe heut nacht hier«, fuhr Avelyn fort. »Es ist langsam an der Zeit, daß ich meine Schulden zu begleichen beginne.« »Schulden?« fragte Eibryan ungläubig. »Ich schulde dir mein Leben. Pony ebenfalls.« »Ich habe nur getan, was ich tun mußte.« »Zum Glück, kann ich da nur sagen! Ho, ho, hoppla!« Eibryan schüttelte amüsiert den Kopf. Dieser vielschichtige Mann schaffte es doch immer wieder, ihn zum Schmunzeln zu bringen. »Dann willst du mich also mit deiner Gesellschaft auszahlen.«
»Ach, das wird nicht reichen. Und ich fürchte, wenn ich dir zuviel von meiner Gesellschaft biete, schulde ich dir nur um so mehr!« Wieder lachte er, aber nur kurz, dann wurde er unvermittelt ernst. »Erzähl mir von deinem Pferd.« »Ich habe kein Pferd.« »Und Symphony?« »Symphony gehört mir nicht«, erklärte Eibryan. »Symphony ist frei, er gehört niemandem.« »Um so besser!« sagte Avelyn. Er wühlte in seiner Kutte herum, dann in seinem Beutel. Während Avelyn nach einem bestimmten Stein suchte, konnte Eibryan einen Blick in den Beutel werfen, und ihm fiel die Kinnlade herunter. Selbst im schwachen Licht des heruntergebrannten Feuers schimmerte und funkelte es darin ganz prächtig. Kein Wunder, daß die abellikanische Kirche hinter Avelyn her war! Schließlich hatte der Mönch den gesuchten Stein gefunden und hielt ihn vor Eibryans Augen: einen Türkis. »Ist Symphony in der Nähe?« fragte der Mönch. Eibryan nickte langsam, vorsichtig. »Was für einen Zauber hast du mit ihm vor?« wollte er wissen. Avelyn schnaubte. »Keinen, den er nicht gutheißen würde«, versicherte er. Gemeinsam wanderten sie in die dunkle Nacht hinaus und fanden Symphony auf einem mondbeschienenen Feld, wo er friedlich graste. Avelyn bat Eibryan, am Rande des Feldes zu warten; dann ging der Mönch langsam auf den Hengst zu, den Stein vor sich haltend und leise singend. Eibryan, der nicht wußte, wie der kraftvolle Hengst reagieren würde, hielt den Atem an. Ihn hatte Symphony zwar akzeptiert, aber der Hüter wußte, daß er für das stolze und wilde Tier eine Ausnahme darstellte. So hätte es ihn wenig überrascht, wäre
Symphony plötzlich vorgeschossen, um den Mönch in Grund und Boden zu trampeln. Doch Symphony tat nichts dergleichen. Als Avelyn bei ihm angelangt war, wieherte er nur leise. Der Mönch sang noch immer – es kam Eibryan beinahe so vor, als teile er dem Pferd etwas mit –, und was immer es war, Symphony hörte zu! Nach einer ganzen Weile bedeutete Avelyn dem Hüter, zu ihnen zu kommen. Als Eibryan neben ihn trat, flüsterte der Mönch noch immer. Symphony war vollkommen ruhig geworden; den Kopf hoch erhoben, bot er den beiden Männern die prächtige, muskelstrotzende Brust dar. Avelyn hielt Eibryan den Türkis hin. »Den Rest machst du.« Eibryan nahm den Stein, obwohl er keine Ahnung hatte, was er damit tun sollte. Bevor er den Mönch auch nur ansatzweise danach fragen konnte, spürte er plötzlich ein Drängen, ein drängendes Rufen. Er sah nach oben in Symphonys dunkle Augen und begriff plötzlich, daß es der Hengst war, der da nach ihm rief! Eibryan blinzelte ungläubig, dann sah er wieder den Türkis an. Der Stein schien zu glühen, und dabei handelte es sich nicht um eine Spiegelung des Mondlichts, sondern um ein Licht, das von innen kam, ein magisches Leuchten. Erst jetzt bemerkte Eibryan, wie warm der Stein geworden war. »Halt ihn an seine Brust«, wies ihn der Mönch an. Langsam bewegte Eibryan seine Hand nach oben. Symphony schloß die Augen, er schien in eine tiefe Trance gefallen zu sein. Der Hüter hielt den Stein gegen die Brust des Hengstes, genau in das »V«, wo die Muskeln der kraftvollen Schultern zusammenliefen. Lange hielt er ihn dorthin, während Avelyn einen lauteren, eindringlicheren Gesang anstimmte, der schon fast wie ein Lied klang. Eibryan war sich des Steins kaum noch bewußt, und der Hengst schien vollkommen ruhig – da senkte der Türkis sich
plötzlich in sein Fleisch, da fügte der Stein sich von ganz allein in seine Brust ein, als sei er immer schon dort gewesen. Entsetzt riß der Hüter die Hand zurück. Avelyn hörte zu singen auf und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Der Hengst öffnete die dunklen Augen; er war vollkommen ruhig und schien keinerlei Schmerzen zu verspüren. »Was habe ich getan?« fragte Eibryan. »Was hast du getan?« Avelyn zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht so genau«, gab er zu. »Aber der Stein ist gut für Tiere, dessen bin ich gewiß.« »Um ihnen Gesundheit zu schenken? Oder Kraft?« »Beides vielleicht.« Avelyn runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht immer so genau, welchen Zauber die Steine eigentlich wirken. Sie rufen mich. Sie sagen mir, was ich zu tun habe.« »Dann weißt du also überhaupt nicht, was wir Symphony da eingepflanzt haben«, überlegte Eibryan. Sein Tonfall zeigte deutlich, daß er alles andere als begeistert war. Mit Symphony experimentierte man doch nicht einfach irgendwie herum! »Ob Segen, ob Fluch, du weißt es nicht.« »Segen«, erklärte der Mönch prompt und mit aller Zuversicht. »Ho, ho, hoppla! Ich sagte doch, daß ich meine Schulden zurückzahlen will.« »Aber du weißt doch nicht einmal, was du getan hast!« »Aber ich kenne die Natur des Steins. Der Türkis ist der Stein der Tiere; das wahre Geschenk Gottes für diese Geschöpfe ist er. Ich vermute, daß er das Band zwischen dir und Symphony gefestigt hat, daß ihr jetzt enger und tiefer miteinander verbunden seid.« »Wie Herr und Hund?« fragte Eibryan, dem diese Aussicht überhaupt nicht gefiel.
»Wie Freund und Freund«, korrigierte Avelyn. »Wie du gesagt hast, niemand kann Symphony besitzen, und ich würde niemals versuchen, diesem Wunder von einem Hengst das Rückgrat zu brechen! Ho, ho, hoppla! Nur das nicht! Hab Vertrauen, mein Freund, vertraue den Steinen, die doch Gottesgaben sind. Du wirst die wahre Natur des Zaubers bald kennen, den Symphony nun trägt, und du wirst zufrieden sein. Und Symphony auch, das laß dir gesagt sein.« Wie zur Antwort stieg der Hengst mit einem Wiehern auf die Hinterbeine, dann kam er wieder herunter und donnerte in einem engen Kreis um die beiden herum, daß die Erde nur so spritzte. Er zeigte keine Anzeichen von Schmerz oder auch nur Unruhe, von einer plötzlichen Hochstimmung einmal abgesehen. Eibryan spürte diese Stimmung sehr deutlich. Ihm war, als könne er Symphonys Gedanken lesen, und das nicht nur durch die sichtbaren Bewegungen seines Körpers. Er konnte die Gedanken des Hengstes lesen! Eibryan sah den Mönch an, der breit lächelte. ›»Hörst‹ du sie?« fragte der Hüter in Ermangelung eines besseren Wortes. »Weißt du, was der Hengst fühlt?« »Ich war nur der Mittler«, erklärte Avelyn. »Der Bereitsteller sozusagen. Ho, ho, hoppla! Ich habe die Magie des Steins freigesetzt, aber du bist derjenige, der sie benutzt hat, mein Freund. Mit Symphony zusammen, und nun seid ihr beide enger miteinander verbunden. Aber ich weiß tatsächlich, was der Hengst denkt«, schloß er mit einem verschmitzten Lächeln. »Es steht dir nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben!« Symphony blieb abrupt stehen und wieherte erneut, rief in die Nacht hinaus. Dann donnerte der Hengst davon. Aber Eibryan wußte, wo Symphony sich befand; wenn er sich konzentrierte, konnte er sogar die Landschaft vor den fliegenden Hufen sehen. Also tat er es und sah den nächtlichen
Wald vorbeifliegen, spürte den rauschenden Wind. Und das war noch nicht alles; der Hüter konnte die Welt tatsächlich mit den Augen des prächtigen Hengstes sehen. Erst da vermochte Eibryan die Intelligenz dieses Tieres tatsächlich einzuschätzen; denn intelligent war es, wenn es auch einen anderen Blick auf die Welt besaß. Es sah die Dinge ursprünglicher, ohne Einschaltung der Vernunft, die die Domäne der Menschen, Elfen und anderen höheren Arten war. Was war, das war, ohne Interpretation; eine effiziente und vollkommene Art der Wahrnehmung, die auf Gefühlen basierte und in der Gegenwart angesiedelt war, ohne Sorge um die Zukunft oder Einmischungen aus der Vergangenheit. Vollkommen, ursprünglich, schön. Nach einer ganzen Weile öffnete Eibryan die Augen und sah Avelyn an. Er nickte anerkennend, denn er begriff schon jetzt, daß das, was der Mönch ihm und dem Hengst gegeben hatte, ein ebenso großzügiges und kostbares Geschenk war wie der Bogen, den Joycenevial für ihn angefertigt hatte. Eibryan legte Avelyn die Hand auf die Schulter und nickte erneut, denn ihm fehlten die Worte, um dem Mann angemessen zu danken. Am nächsten Morgen ging Avelyn nach Dundalis und begegnete unterwegs Pony, die wiederum auf dem Rückweg zum Lagerplatz war. Avelyn wollte sie schon fragen, ob er sie begleiten solle, doch da sah er den Ausdruck auf ihrem Gesicht und besann sich eines Besseren. Dann setzte er fröhlich pfeifend seinen Weg fort, denn die Miene der jungen Frau hatte Bände gesprochen. Als Pony im Lager ankam, war Eibryan gerade dabei, die Überreste des Feuers zu vergraben. Leise trat sie ihm gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Eibryan sah sie an und richtete sich auf. Sie waren allein, zum ersten Mal völlig allein, und ihnen lagen so viele Fragen
auf der Zunge, daß sie still blieben, daß sie einander nur zu umkreisen begannen, wie Kämpfende es tun mochten, wie zwei jagende Panther, die unvermittelt aufeinander gestoßen waren. Ponys Augen spiegelten eine Intensität wider, wie Eibryan ihr noch niemals begegnet war, einen Hunger vielleicht oder einen Zorn – eine innere Leidenschaft, die sie am Wegsehen hinderte, die ihre Eckzähne an der Unterlippe nagen ließ, während sie Auge in Auge um ihn herumstrich. Bald war Eibryan in eine ähnliche Trance verfallen, bald gab es nur noch Pony für ihn, nichts anderes. Nur sie, nur diese leuchtenden blauen Augen, diese weichen Lippen. Immer im Kreis gingen sie, aber langsam, sehr langsam näherten sie sich einander. Erst ein lautes Geräusch irgendwo im Wald, das sie beide zusammenfahren ließ, setzte der Stimmung ein Ende. Keiner von beiden wußte, wer oder was das Geräusch verursacht hatte, aber sie wollten es auch gar nicht wissen. »Komm.« Eibryan nahm Ponys Hand und führte sie einen schneebedeckten Pfad hinab, der auf eine Lichtung führte. Eibryan lächelte breit, denn drüben, auf der anderen Seite, stand Symphony Der Hüter hatte gewußt, daß er den Hengst hier finden würde, hatte Symphony sogar auf telepathischem Wege gebeten, dort auf ihn zu warten. Als der große Hengst ihn erblickte, stieg er schnaubend auf die Hinterbeine, eine weiße Atemwolke vor den Nüstern. »Komm«, sagte Eibryan erneut und führte Pony rasch über das Feld. Nun, da Symphony bei ihnen war, wußte der Hüter, was er zu tun hatte, welcher Ort diesem ersten ungestörten Beisammensein mit Pony angemessen war. Je näher er dem prächtigen Pferd kam, desto vorsichtiger wurde er. Würde Symphony zwei Reiter akzeptieren?
»Ruhig, mein Freund«, sagte der Hüter leise und strich ihm über die Nase und den muskulösen Hals. Er sah dem Hengst in die Augen, teilte ihm seine Überlegungen mit, erfuhr dessen Antwort und wandte sich mit einem Nicken zu Pony um. »Er ist schön«, sagte sie. Die Worte klangen allzu beliebig in ihren Ohren, leer angesichts solcher Pracht und Herrlichkeit, aber bessere hatte sie dem Hengst nicht anzubieten. Eibryan nahm sie bei der Hand und half ihr vorsichtig auf den Rücken des kraftvollen Tieres. Symphony schnaubte wieder und tänzelte hin und her, akzeptierte die Frau aber allmählich. Dann, als Eibryan vor Pony ebenfalls aufstieg, wurde es spannend. Der Hengst blieb ruhig, bereit loszustürmen. Und Symphony stürmte los! Schnell wie der Wind flog er über die Wege, so geschwind im Zickzack zwischen den Baumstämmen hindurch, daß Pony vor Angst und Freude aufschrie und sich fest an Eibryan klammerte. Bald waren sie bei dem rautenförmigen Wäldchen angelangt. Die Fichten und Kiefern waren schneebedeckt, aber der Erdboden um das Gehölz war vom Wind wieder freigelegt worden. Symphony hielt an, und das Paar glitt hinunter. Pony trat prompt vor und sah dem Hengst lang in eines der dunklen Augen. Ihr Atem wollte sich nicht wieder beruhigen; es war etwas zu Urtümliches, zu Ungezähmtes und Unkontrollierbares an diesem Tier, etwas furchteinflößend Starkes. Und doch hatte sie den Ritt überstanden, atemlos vor Freude und Aufregung. Sie hatte den Ritt überstanden! Sie wandte sich zu Eibryan um, der zu den Bäumen ging, und folgte ihm. Er verschwand zwischen den dichten Zweigen; Pony blieb stehen, als sie dort ankam, und überdachte die Konsequenzen, überdachte die eigenen Gefühle.
Die junge Frau schüttelte trotzig den Kopf; dann sah sie zu dem Hengst zurück, der auf die Hinterbeine stieg und wieherte, als wollte er sie antreiben. Ungezähmt, unbeherrschbar und furchterregend stark war er eine Verkörperung der Gefühle, die unter der Oberfläche ihres Bewußtseins wallten und sie zu überschwemmen drohten. Sie schob sich durch die dichten Äste. Da lag eine kleine Lichtung vor ihr, auf der Eibryan hockte und Feuer machte. Schon flackerten die ersten Flammen auf. Pony sah ihm dabei zu, wie er Äste zurechtdrehte und das Feuer behutsam anfachte. Ungezähmt, unbeherrschbar, furchterregend stark. Immer wieder gingen ihr diese Worte durch den Kopf, warnend und verführerisch. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten, erneut an ihrer Unterlippe nagend, und starrte diesen Mann an, der längst nicht mehr und doch noch immer der Junge war, den sie einst gekannt hatte, mit dem sie einst ihre Kindheit verbracht hatte. Sie fürchtete sich vor den Erinnerungen, die sie noch nicht freigelegt haben mochte, doch während sie Eibryan so ansah, wußte sie, daß sie sich ihnen bald stellen würde. Sie trat zu ihm, und er stand auf; das Feuer brannte. Auge in Auge standen sie da, viele Sekunden lang, viele Minuten, sahen einander schweigend an. Dann näherte er sich ihr, ihren Lippen, und sie stöhnte auf. Gleich mußten diese schwarzen Schwingen kommen, gleich mußte dieses Schreien kommen, dieses entsetzliche Schreien. Aber dann war er da, zog sie an sich, und seine Lippen strichen sanft über die ihren, sanft und sachte, und sie fühlte nichts als ihn, und sie hörte nichts als seinen leisen Atem und sein leichtes Seufzen. Der Kuß wurde drängender, und allmählich schmolzen Ponys Ängste in sich zusammen, wurden von der plötzlichen Woge der Leidenschaft hinweggespült, die in ihr aufstieg. Er küßte
sie heftig, und sie erwiderte seinen Kuß, und da waren nur noch ihrer beider Lippen, ihre Zungen. Und dann trennten sich ihre Münder, und Eibryan sah Pony an, sah ihr tief in die Augen. Er hob die Hand und löste das Band ihres Umhangs, der hinunterglitt, und sie ließ es zu, kalte Luft auf ihrer Haut. Dann machte er sich an die Knöpfe ihres Hemdes, und so ging es weiter, bis die letzte Hülle gefallen war. Und sie schämte sich nicht und war nicht verlegen, und da peitschten keine schwarzen Schwingen die Luft über ihr. Eibryan zog Umhang und Hemd aus und stand mit nacktem Oberkörper vor ihr. Sie näherten sich einander, und die Haare auf seiner Brust strichen über ihre Brüste; ein Kitzeln, das sie beide spürten. Auf seine Ermunterung hin hob sie die Arme hoch über den Kopf, und er umschloß ihre Finger mit den seinen. Dann gab er sie wieder frei und fuhr mit seinen Händen ihre Arme hinab, ganz langsam und ach, so sanft; kaum mehr als die Spitzen seiner Fingernägel berührten ihre zarte Haut. Hinunter strichen seine Hände, die Ellenbogen entlang, über die Arme und dann zum Rücken, wo sie nach oben wanderten, zu den Schulterblättern, den Nacken hinauf, so sanft und zärtlich, mit den Fingerspitzen nur. Welches Prickeln diese Finger ihrer Haut entlockten, und wie sehr sie sich sehnte, sich ihnen entgegenzulehnen – nur ihr Wissen, daß das Prickeln dann vorüber sein würde, hielt sie davon ab. Sie ließ den Kopf zurückfallen und öffnete den Mund, badete im Streicheln seiner Hände, die so sanft ihren Rücken hinabstrichen, bis zum Ansatz ihres Gesäßes, und dann um die Hüften herumfuhren, an den Hüften vorbei. Er hob eine Hand, um ihr Haar zur Seite zu streichen, und küßte sie zärtlich auf den Nacken. Langsam wurde aus dem sanften Kuß ein drängender, ein fester Kuß, ein leichtes Beißen und, als sie leise gurrte, ein festeres Beißen.
»Spürst du mich?« flüsterte er ihr ins Ohr. »Ja.« »Bist du lebendig?« »Quicklebendig.« »Möchtest du, daß ich dich liebe?« Pony zögerte. Sie mußte an ihre Hochzeitsnacht denken, an das Empordrängen der schrecklichen Erinnerungen. Für einen kurzen Moment schien ihr das glimmende Feuer ein Feind zu sein oder eine stille Mahnung. Aber dies hier war anders, anders als bei Connor. Stärker. Wieder gingen ihr die Worte durch den Kopf: ungezähmt, unbeherrschbar, furchterregend stark. Und richtig, fügte sie leise hinzu. Schlicht und einfach richtig. »Ja«, antwortete sie flüsternd. Gemeinsam sanken sie zu Boden, auf den noch immer warmen Umhang, und da waren sie, gefangen in der Gegenwart und von ihrer Vergangenheit umringt. Für Eibryan war dies der Gipfel seiner Jugendzeit, als ihn jeder wache Gedanke auf diesen Moment zugeführt hatte, zu dieser Frau, seiner Seelengefährtin, seiner Pony. Dieser Moment, der so viele Jahre auf sich hatte warten lassen, markierte das Ende der Beziehung zu dem Mädchen und den Anfang der neuen, tieferen Beziehung zu der Frau. Nun war er ein Mann und Pony eine Frau, und all die Liebe, die sie bis zu diesem Moment gebracht hatte, brandete über ihre Leiber hinweg und hob sie empor. Ihm war schwindlig vor lauter Glück, und doch war er zugleich auch verletzlicher, als er es je gewesen war, denn wenn Pony etwas zustieß, wenn er sie nun wirklich verlor, wie er es ja schon geglaubt hatte, dann würde sein Herz in tausend Stücke zerspringen, dann würde sein Leben für immer bedeutungslos sein. Für Pony war dieser Moment in dem Wäldchen das Ende der Finsternis; die dunkle Mauer wurde eingerissen und
geschliffen, die bösen Erinnerungen wurden hinweggespült von der Zärtlichkeit, der Liebe und den warmen Erinnerungen an ihre Zeit mit Eibryan: die Zeit, als er sie an den Haaren gezogen und sie ihn dafür verprügelt hatte, die Zeit, als seine Freunde ihn geneckt hatten und er nicht nachgegeben, seine Gefühle für das Mädchen nicht geleugnet hatte; ihre langen Gespräche und Spaziergänge auf dem Nordhang; dieser Moment auf dem Hang, als sie gemeinsam den Halo betrachteten, dieser Moment auf dem Hang, als sie einander zum ersten Mal küßten – o ja, dieser Moment des ersten Kusses! Und diesmal endete er nicht in Nacht und Verzweiflung, dieser Moment, sondern ging weiter und weiter und weiter, mit jedem Kuß und jeder Berührung, nun, da sie einander gänzlich spürten. Sie hatten ein gemeinsames Leben gelebt, waren durch gemeinsame Erinnerungen verbunden, durch Verlust und Wiedersehen, und trotz der langen Jahre dazwischen wußten sie doch alles voneinander, wußten sie um die Wahrheit dieses Moments. Danach lagen sie für lange Zeit in ihre Umhänge gehüllt beieinander, ohne zu reden, und sahen in die Flammen. Einmal stand Eibryan auf, weil er sich um das Feuer kümmern mußte, und Pony lachte ihn aus, als er nackt und barfuß auf der kalten Erde umhersprang. Als er wieder zu ihr unter die Decken wollte, ließ sie ihn nicht herein. Aber ihr warmes Lächeln, das ihre wahren Gefühle verriet, stachelte Eibryan an, sie zu kitzeln und mit ihr zu kämpfen, und dann hatte er es wieder unter die Decken geschafft, und ihre Leiber preßten sich aneinander, und für Pony verfiel die ganze Welt erneut in einen Taumel. Ungezähmt, unbeherrschbar, furchterregend stark. Später saß er über ihr und betrachtete sie im Licht des niedergebrannten Feuers.
»Meine Pony«, flüsterte er. »Wie leer mein Leben war, so leer, daß ich nicht einmal den Mut aufbrachte, mir das gähnende Loch auch nur anzusehen. Jetzt erst, da du wieder bei mir bist, weiß ich, wie leer es gewesen ist, wie bedeutungslos.« »Nicht doch.« Aber er nickte bekräftigend. »Meine Pony«, sagte er erneut. »Die Farben der Welt sind zu mir zurückgekehrt.« Dann schloß er die Augen und küßte sie. Die Nacht wurde dunkler, in den Bäumen seufzte der Wind, und die wenigen Vögel, die dem Nordwind trotzten, sangen. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf, und all diese Nachtmusik klang lieblicher in Eibryans Ohren als jemals zuvor, lieblicher sogar als damals während seiner Jahre in dem verwunschenen Elfenwald. Er fiel in einen tiefen, friedlichen Schlaf. Pony dagegen lag die ganze Nacht wach, Eibryan dicht bei ihr, Eibryan eins mit ihr. Sie dachte an Connor und ihre Hochzeitsnacht zurück, an die schwarzen Schwingen, die über sie gekommen waren. Unbewußt rieb sie sich die Handfläche, die vor so langer Zeit von einem glühenden Holzscheit verbrannt worden war. Nun sah Pony zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, was die Schwingen verborgen hatten. Nun hörte sie die Schreie der sterbenden Stadt, sah die Flammen und die Verheerung, sah Olwan im Griff dieses Riesen sterben, und sie krabbelte erneut unter das brennende Haus in die Dunkelheit hinab. Nur waren es diesmal Erinnerungen und keine schwarzen Schreckensgestalten. Diesmal, Eibryan an ihrer Seite, Eibryan ein Teil ihrer Stärke, konnte sie sich ihnen stellen und sie annehmen. Tränen strömten ihr die Wangen hinab, aber es waren Tränen aus einem klaren Gefühl heraus, und als sie versiegten, als der Moment der Trauer um Dundalis verstrichen war, da kuschelte
sich Pony an den schlafenden Eibryan und lächelte. Zum ersten Mal seit dem Moment auf dem Hang war sie wahrhaft frei, zum ersten Mal seit dem Moment ihres ersten Kusses.
15. Der Fang des Tages
»Ich will verdammt sein«, jammerte der dürre, nervöse Mann und machte, daß er von der Schwippgalgenfalle und dem häßlichen, menschenähnlichen Etwas wegkam, das darin baumelte. »Dreimal verdammt! Cric! Cric!« Bald ging ihm auf, daß sein Geschrei womöglich nur noch mehr dieser Wesen anlockte; da schlug er sich auf den Mund und warf sich zu Boden und zog einen Dolch aus seinen wohlbestückten Schultergurten. Zu seinem Leidwesen fand er kaum Deckung. Das Gras stand zwar hoch, war aber spärlich gesät. Nur hier und da stachen ein paar Büschel durch die dünne Schneedecke empor. Wenige Augenblicke später sah er den schlanken, glatzköpfigen Mann mit gezogener Klinge heranstürmen und atmete auf. »Eichhorn«, rief Cric leise. »Eichhorn, wo steckst du?« Eichhorn sprang auf und rannte zu seinem Freund, wobei er auf der schlüpfrigen Erde immer wieder ins Rutschen kam. »Was is’ los?« fragte Cric. Endlich war Eichhorn bei ihm angelangt, aber er war zu aufgeregt, um auch nur ein Wort herauszubekommen. Auf- und abhüpfend zeigte er immer wieder zu dem kleinen Wäldchen hinüber. »Unsre Falle?« fragte der Glatzkopf ruhig. Eichhorn nickte so eifrig, daß er sich dabei auf die Zunge biß. »Wir ham was erwischt?« Wieder das wilde Nicken. »Was man nich’ alle Tage fängt?« Eichhorn war nicht mehr zu weiteren Fragen aufgelegt. Er packte Cric beim Arm und schob ihn auf das Wäldchen zu. Als
Cric sah, daß Eichhorn nicht mitkommen wollte, schüttelte er den Kopf und ging allein zu der Falle hinüber. Eine Minute darauf erklang ein Aufschrei zwischen den Bäumen, und Cric kam ebenso aufgeregt durch das Unterholz gebrochen wie zuvor Eichhorn. »Das is’n G-goblin!« stammelte er. »‘n gottverdammter Goblin!« »Wir müssen Paulson holen«, überlegte Eichhorn, worauf Cric nur nickte und die Beine in die Hand nahm. Eichhorn kam kaum hinterher. Unter einer breiten Ulme fanden sie ihn, ihren Anführer. Er hatte es sich an der sonnenbeschienenen Seite des Stammes gemütlich gemacht und wärmte sich die schmutzigen Füße an einem kleinen Feuer. Ein Stück entfernt standen seine arg ramponierten Stiefel. Die beiden Männer näherten sich ihm nur langsam. Wer Paulsons Schlaf störte, handelte sich üblicherweise eine Kopfnuß ein. Cric bedeutete Eichhorn, den Mann zu wecken, aber Eichhorn bedeutete ihm nur, das lieber selbst zu übernehmen. »Nun macht schon das Maul auf«, forderte Paulson, die Augen immer noch geschlossen. »Und daß ja was Vernünftiges dabei rauskommt!« »Wir ham was erwischt«, sagte Cric. Paulson öffnete die Augen und rieb sich mit der Hand über sein narbiges Gesicht. »Pelz?« »Kein Pelz«, sagte Eichhorn. »Überhaupt kein Fell«, fügte Cric hinzu. »Bloß Haut.« »Was?« Paulson richtete sich auf und griff nach seinen Stiefeln. »Nun sagt bloß, ihr laßt da einen Menschen baumeln!« »Is’ kein Mensch«, sagte Eichhorn. »Is’n gottverdammter Goblin!« rief Cric.
Plötzlich war Paulson todernst. »Ein Goblin?« wiederholte er leise. Beide Männer nickten eifrig. »Ein einziger?« Wieder das Nicken. »Ihr verfluchten Narren«, schimpfte Paulson. »Wißt ihr denn nicht, daß es so was wie ›einen einzigen‹ Goblin gar nicht gibt?« »Wir gehen wohl besser nach Hause«, sagte Eichhorn. Paulson sah sich um, dann schüttelte er den Kopf. Cric und Eichhorn kannten sich in dieser Gegend nicht aus, sie waren erst vor etwa drei Jahren nach Norden gekommen; er dagegen hatte fast sein ganzes Leben am Rande der Wilderlande verbracht und nur ein Stück außerhalb von Weedy Meadow gelebt, als Dundalis in Schutt und Asche gelegt worden war. »Wir müssen rauskriegen, wie viele es sind und wo sie hinwollen.« »Au Mann, was gehen uns denn die Dundalier an?« fragte ein erschrockener Cric. »Die ham sich um uns doch auch nie geschert.« »Genau«, fügte Eichhorn hinzu. »Das ist nicht wegen der Dundalier«, sagte Paulson. »Sondern wegen uns. Wenn hier wirklich Goblins einfallen, sollten wir besser nach Süden gehen.« »Können wir dann nich’ einfach gleich nach Süden gehen?« fragte Cric. »Halt’s Maul und schnapp dir dein Schwert«, befahl Paulson. »So harte Brocken sind Goblins gar nicht – die Masse macht’s. Was natürlich nicht für ihre Freunde gilt«, fügte er grimmig hinzu, »denn mit Bergriesen sieht’s schon anders aus.« Die beiden anderen begannen zu schlottern.
»Aber eigentlich müssen wir bloß aufpassen, daß wir sie zuerst sehen«, fuhr der stämmige Mann fort. »Vielleicht gibt’s ja sogar ‘ne Belohnung für jedes Paar Goblin-Ohren.« Das flößte ihnen sichtlich Mut ein. Zuerst marschierten die drei zur Falle, wo Paulson den Goblin kurzerhand herunterholte, ihm die Ohren abschnitt und diese in einen Beutel steckte Für einen seiner Art war der Goblin überraschend gut bewaffnet, und auf seinem Lederwams prangte ein Abzeichen, ein schwarzer, fledermausartiger Umriß auf hellgrauem Grund. Paulson, der das Wams ohnehin nur für Diebesbeute hielt, dachte sich nichts weiter dabei. »Kann erst ein paar Stunden her sein«, verkündete er nach einer raschen Untersuchung der Leiche. »Wenn der Kerl Freunde dabeihatte, müssen sie sich noch hier herumtreiben.« In dem Wäldchen ließ sich die Fährte des Goblins leicht zurückverfolgen, auf dem offenen Feld jedoch hatte der Wind längst alle Spuren ausgelöscht. Aber die drei Fallensteller gingen einfach davon aus, daß er dir auf das Wäldchen zugelaufen war, und so überquerten sie eilig die Lichtung und drangen an der entsprechenden Stelle in den Wald ein. Eichhorn sah die Spuren als erster – drei Fährten, von denen eine in die Richtung abzweigte, aus der die drei Männer gekommen waren. »Damit sind wir dann ja wohl in der Überzahl«, grinste Paulson, der einem Kampf nur selten aus dem Weg ging. Keine Meile später hatten sie die beiden Goblins erspäht, die auf einem baumbestandenen Hang zwischen ein paar Felsen Rast machten. Paulson zog sein langes Schwert und bedeutete Cric mitzukommen, während Eichhorn weiter rechts den Hügel hinauf sollte, um einen guten Wurfwinkel für seine Dolche zu haben. »Ran und rauf?« flüsterte Cric.
Paulson dachte nach und schüttelte dann den Kopf. Sie verbargen sich im Unterholz und warteten, bis der flinke Eichhorn in Position war. Dann stand Paulson auf und spazierte seelenruhig auf die beiden Goblins zu. Cric und er waren auf ein Dutzend Schritte heran, bis sie bemerkt wurden – und wie die Goblins da aufheulten! Sie sprangen auf die Füße, und der eine zückte einen eisenbewehrten Speer, der andere ein gutgearbeitetes Kurzschwert. Daß sie ähnlich gut ausgerüstet waren wie ihr toter Kumpan, erstaunte Paulson zutiefst; sie trugen sogar die gleichen Wämser bis hin zu dem Abzeichen. Das widersprach allem, was der Hüne über Goblins je gehört hatte. Ihr Verhalten sollte ihn ebenfalls überraschen. Cric und er griffen an, aber nur ein Goblin sprang vor, nur der Speerträger stellte sich ihnen entgegen; sein solchermaßen abgeschirmter Kamerad hingegen ergriff sofort die Flucht. Schon waren die beiden Männer heran, und der Goblin ließ den Speer hin und her fahren, um sie auf Abstand zu halten. Als die scharfe Spitze Crics Arm ritzte, trat Paulson vor, packte den Speer beim Schaft und riß ihn zu sich heran. Im nächsten Moment schon bohrte er dem Wesen sein Schwert tief in die Brust. »Und noch ein Paar Ohren!« lachte Cric, aber Paulson hatte anderes im Kopf. »Eichhorn, schnapp ihn dir!« brüllte er. Der Goblin floh den Hügel hinauf, und Eichhorn, der ihm den Weg hatte abschneiden wollen, warf sich auf die Knie und schleuderte zwei Dolche nach ihm. Dem ersten konnte der Goblin ausweichen, der zweite jedoch erwischte ihn an der Hüfte und blieb stecken. Der Goblin quiekte, wurde aber kaum langsamer – nicht einmal, als ihm Eichhorns nächster Dolch tief in die Schulter fuhr.
Dann war der Goblin hinter der Hügelkuppe verschwunden, und Eichhorn schloß sich Paulson und Cric an, die bereits die Verfolgung aufgenommen hatten. Der großgewachsene Cric war bei weitem der schnellste von ihnen. Während der Goblin den Hügel auf der anderen Seite wieder hinunterflitzte, holte Cric beständig auf, hetzte ihn durch das Unterholz der nächsten Senke. Als der Goblin die nächste Anhöhe hinauffloh, hatte Cric ihn fast eingeholt. »Schnapp dir den kleinen Scheißkerl!« brüllte Paulson ihm nach. Eifrig sprang Cric den Hügel hinauf, das Schwert gezogen. Auf der Kuppe kam er, sehr zur Überraschung seiner beiden Freunde, schlitternd zum Stehen. Kaum hatten Paulson und Eichhorn ihn eingeholt, da leuchtete ihnen seine Zögerlichkeit ein, denn unter ihnen erstreckte sich ein breites Tal, in dem die größte Armee lagerte, die die drei jemals gesehen hatten – und sowohl Cric als auch Paulson hatten einige Jahre im königlichen Heer gedient. Überall im ganzen Tal standen Zelte, brannten Lagerfeuer, und dazwischen wimmelten Tausende, Abertausende von Gestalten herum, die meisten nur von Goblin-Größe, manche sogar noch kleiner, aber da war auch eine beträchtliche Zahl von Bergriesen zwischen ihnen. Noch mehr waren die drei Männer allerdings über die Kriegsmaschinen verblüfft. Mindestens ein Dutzend großer Katapulte standen dort unten herum, Bogenschleudern für Speere und riesige, korkenzieherähnliche Geräte, augenscheinlich zum Durchbohren von Wallanlagen gedacht. »Wie weit nach Süden wolltest du eigentlich?« fragte Cric ihren Anführer. Bis nach Behren am besten, wäre Paulson da beinahe herausgerutscht.
»Ich weiß genau, daß ihr wieder irgend etwas ausheckt!« dröhnte der Zentaur. »Das steht euch doch jedes Mal deutlich in eure häßlichen Gesichter geschrieben!« Bradwarden hatte es in der kleinen, baufälligen Hütte rumoren gehört, und als er der Sache auf den Grund gegangen war, hatte er die drei Fallensteller dabei angetroffen, wie sie ihr ganzes Zeug von den zusammengeflickten Wänden klaubten. Die drei Männer sahen einander nervös an. Selbst der großgewachsene Paulson nahm sich gegen den achthundert Pfund schweren Zentaur reichlich klein aus – dessen Zorn ihn nur noch beeindruckender wirken ließ. »Nun?« donnerte Bradwarden. »Habt ihr mir etwas zu sagen?« »Wir gehen, das ist alles«, sagte Eichhorn. »Ihr geht?« »Nach Süden«, fügte Cric hinzu, der schon eine entsprechende Lügengeschichte parat hatte, doch als Paulson ihn anfunkelte, hielt der glatzköpfige Mann lieber den Mund. »Was habt ihr angestellt?« wollte Bradwarden wissen. »Ich kenne euch – ihr würdet doch nur abhauen, wenn ihr jemandes Zorn auf euch geladen habt.« Der Zentaur stutzte, dann schmunzelte er. »Nachtvogel ist euch auf den Fersen.« »Wir haben den Hüter seit Wochen nicht gesehen«, protestierte Paulson. »Aber seine Freunde«, sagte Bradwarden. »Vielleicht habt ihr ja einen von seinen Freunden getötet.« »So ein Unsinn!« grollte Paulson. »Der Nachtvogel hat doch keine Goblins zum Freund!« fügte Eichhorn hinzu, bevor er noch recht über seine Worte nachgedacht hatte. Cric versetzte dem dürren Mann einen Stoß, und Paulsons böser Blick versprach ihm, daß er für den Ausrutscher noch würde bezahlen müssen.
Bradwarden trat einen Schritt zurück und sah die drei verdutzt an. »Goblins?« »Habe ich Goblins gesagt?« fragte Eichhorn unschuldig. »Hast du!« dröhnte Bradwarden und beschloß, dem Hin und Her ein Ende zu machen. »Du hast Goblins gesagt, und wenn sich hier in der Gegend Goblins rumtreiben, und ihr wißt davon, dann erzählt mir besser die ganze Geschichte, wenn ihr nicht in den Staub getrampelt werden wollt!« »Goblins«, sagte Paulson grimmig. »Tausende von Goblins. Wir haben sie gesehen, und wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben.« Er berichtete Bradwarden die ganze Geschichte, und abschließend warf er ihm die vier Goblin-Ohren vor die Hufe. Dann bat er den Zentauren, sie in Ruhe packen zu lassen, damit sie verschwinden konnten, aber so leicht wollte Bradwarden sie nicht davonkommen lassen. Sie würden ihn zu Eibryan und Pony begleiten, beschloß der Zentaur, damit diese die Geschichte ebenfalls aus erster Hand erfuhren. Den drei Fallenstellern schmeckte es überhaupt nicht, hier noch länger zu bleiben, aber sie verspürten auch keinerlei Neigung, sich mit einem wütenden Zentauren anzulegen. Eibryan hatte sein Lager ein Stück nördlich von Dundalis aufgeschlagen, im Schutze eines dichten Fichtenwäldchens. Bradwarden rief ihn, bevor sie es betraten – der Hüter stand den Elfen im Fallenlegen in nichts nach, und er war stets auf der Hut. Natürlich rief Eibryan ihn prompt herein, und er staunte nicht schlecht, Bradwarden in so schlechter Gesellschaft zu sehen. »Ich glaube, Mister Paulson hier hat euch eine Geschichte zu erzählen«, erklärte Bradwarden, nachdem er das Paar und Bruder Avelyn begrüßt hatte. Paulson machte keine großen Worte, aber dadurch trafen sie gerade Pony und Eibryan um so härter. Die Aussicht auf eine heranrückende Goblin-Armee drohte Pony mit Gefühlen zu
überschwemmen, mit denen sie gerade erst ihren Frieden gemacht hatte. In Eibryan jedoch löste die Geschichte des Trappers anderes aus. Zwar trug auch er diese schrecklichen Erinnerungen mit sich herum, aber andererseits war da noch sein Pflichtgefühl. Wie oft hatte der Hüter sich gesagt, daß er eine solche Tragödie kein zweites Mal zulassen würde? Und hier, vor seiner Nase, braute sich genau dieselbe Bedrohung zusammen. Pony kostete es große Kraft, ihrer Furcht Herr zu werden und nicht den Kopf zu verlieren; für Eibryan hingegen war es schlicht eine Frage der Pflicht und der Ehre. Der Hüter griff zu einem Stock vom Rand des Lagerfeuers und zeichnete eine grobe Karte in den Sand. »Zeig mir, wo genau sie sind.« Paulson kam der Aufforderung eilfertig nach, denn ihm war klar, daß der Hüter ihn bei einer unzureichenden Antwort womöglich zwingen würde, ihn dorthin zu begleiten. Eibryan ging im Kreis um das Feuer herum und sah immer wieder auf die Karte hinab. »Sie müssen es erfahren«, sagte Pony. Eibryan nickte. »Nur auf das Wort dieser drei Halunken hin?« fragte Bradwarden ungläubig. Eibryan sah erst Paulson an, dann den Zentauren, und nickte wieder. »Für eine Warnung ist es nie zu früh.« Damit schienen Paulsons Worte bestätigt, aber so rasch glaubte der Hüter ihnen nun auch wieder nicht. »Ich gehe nach Norden«, erklärte er, »und sehe mir die beschriebene Stelle an.« »Aber ohne mich«, protestierte Paulson. Eibryan schüttelte den Kopf. »Ich habe es eilig – zu eilig für dich.« Er sah Bradwarden an, und der Zentaur nickte. Er war mehr als bereit, seinen Menschenfreund zu begleiten.
»Deine Freunde und du«, sagte Eibryan zu Paulson, »ihr geht nach Weltenend und warnt die Leute.« Paulson hob die Hand, um Cric und Eichhorn zum Schweigen zu bringen, die prompt zu winseln und zu jammern begonnen hatten. »Und dann?« wollte er wissen. »Wohin eure Herzen euch tragen«, erwiderte Eibryan. »Bei meinem Wort, ihr seid mir nichts schuldig als diesen einen Gefallen.« »Und den sind wir dir schuldig, ja?« Ein grimmiges Nicken, mehr erhielt Paulson nicht zur Antwort; doch es genügte durchaus, um ihm den Tag in Erinnerung zu rufen, als Eibryan in ihrer Hütte hatte Gnade walten lassen. »Also nach Weltenend«, stimmte Paulson wütend zu. »Auch wenn ich nicht glaube, daß die Narren uns überhaupt zuhören werden.« Eibryan nickte und sah Pony an. »Avelyn und du, ihr übernehmt Weedy Meadow.« »Und was ist mit Dundalis?« fragte die Frau. »Das machen Bradwarden und ich, sobald wir uns die Goblins angesehen haben. Aber vorher kommen wir noch hierher.« Er wies mit dem Stock auf einen Punkt im Nordwesten, der beinahe gleich weit von Dundalis und Weedy Meadow entfernt lag und auch nicht viel weiter weg von Weltenend. »Das Wäldchen?« fragte Pony. Eibryan nickte. »Ein rautenförmiges Wäldchen von Nadelhölzern«, erklärte er den Trappern. »Ich kenn die Stelle«, sagte Paulson. »Gefällt mir nicht besonders.« Diese Antwort überraschte Eibryan nicht – wahrscheinlich schreckte derselbe Elfenzauber, der ihn so anzog, Halunken wie Paulson eher ab. »In einer Woche also«, erklärte der
Hüter. Er sah Paulson an. »Wenn ihr von Weltenend aus gleich weiter nach Süden wollt, dann sorgt dafür, daß die Leute wissen, wo ich zu finden bin.« Paulson wedelte mit der Hand; ihm schien das alles überhaupt nicht zu gefallen. Eibryan nickte Bradwarden zu. »Symphony ist schon unterwegs«, sagte er zuversichtlich. Noch bevor es dämmerte, rasten der Hüter und der Zentaur nordwärts, und Bradwarden hatte Mühe mitzuhalten. Avelyn und Pony, die zu Fuß unterwegs waren, ließen es langsamer angehen. Sie waren zuversichtlich, es auch so vor Einbruch der Nacht nach Weedy Meadow zu schaffen. Vor Paulson, Cric und Eichhorn hingegen lag ein ordentliches Stück Weg; doch obwohl die beiden letzteren Paulson ständig damit in den Ohren lagen, Weltenend einfach zu vergessen und lieber gleich nach Süden zu gehen, am besten bis nach Palmaris hinunter, wollte der Hüne, der zum ersten Mal seit Jahren jemandem gegenüber in der Pflicht war, nichts davon hören. Er hatte dem Hüter sein Wort gegeben, die Leute von Weltenend zu warnen, also würde er das auch tun. Pony und Avelyn hatten die Strecke nach Weedy Meadow unterschätzt, und da der Mönch es für besser hielt, solch grimmige Warnungen im hellen Tageslicht auszusprechen, schlugen sie ihr Nachtlager im Wald auf. Da sie sich in den vergangenen Tagen viel von Eibryan abgeguckt hatten, konnten sie es sich recht gemütlich machen, und so war Pony bald eingeschlafen. Sie schreckte hoch, als Avelyn wie am Spieß schrie. Der fette Mönch wälzte sich in den Fängen eines Alptraums auf dem Boden herum. Als Pony ihn endlich wach bekam und er die Augen aufschlug, stand ein solcher Irrsinn darin, daß es ihr kalt den Rücken hinunterlief.
Avelyn öffnete die Faust und hielt ihr eine Handvoll kleiner Steine entgegen, die verkohlten Rauchquarzkristalle, die er neben Bruder Quintalls Leiche gefunden hatte. »Es war noch ein Rest Magie in ihnen zu spüren«, erklärte der fette Mönch. »Sie sind gut für Fernsicht.« »Du hast nach den Goblins Ausschau gehalten.« »Und ich habe sie auch gesehen, mein Mädchen. Eine gewaltige Horde. Paulson hat nicht übertrieben!« Pony holte tief Luft und nickte. »Aber das war noch nicht alles!« sagte Avelyn und packte sie, schüttelte sie. »Ich wurde noch weiter vorwärts gezwungen. Gezwungen, sage ich. Diese Steine haben mich einfach weitergezogen, bis hin zu einer fernen Macht, die sie vor langer Zeit in Besitz genommen hat.« Pony sah ihn neugierig an, ohne recht zu verstehen. »Etwas Schreckliches ist erwacht, mein Mädchen!« rief Avelyn. »Der Geflügelte sucht Korona wieder heim!« Diese Worte waren für Pony nichts Neues; dergleichen behauptete Avelyn seit Jahr und Tag. Tatsächlich hatte er fast dieselben Worte damals in der Schänke in Tinson gebrüllt, als Pony ihm zum ersten Mal begegnet war. Diesmal jedoch schwang in seiner Behauptung etwas anderes mit, etwas Persönliches. In seinem Glauben war Avelyn schon immer fest gewesen, aber diesmal zeigte seine Miene, daß er weit über schlichten Glauben hinaus war. In diesem Moment, im Schein eines ersterbenden Feuers, hatte Pony keinen Zweifel daran, daß Avelyns Wissen um das Erwachen des Geflügelten mehr war als etwas, das er in alten Schriften gelesen hatte. Es beruhte auf einer persönlichen Erfahrung.
»Da hast du’s«, sagte Bradwarden leise und düster, während sie auf das gewaltige Feld dunkler Zelte hinabblickten. »Die drei haben nicht gelogen.« »Oder auch nur übertrieben«, fügte Eibryan mit gedämpfter Stimme hinzu. Als er diesen Grat erklommen und den ersten Blick auf die gewaltige Armee geworfen hatte, die dort unten lagerte, war ihm fast das Herz stehengeblieben. Wie sollten die Leute von Dundalis, Weedy Meadow und Weltenend einer solchen Armee widerstehen können, selbst wenn sie vereint hinter befestigten Wällen standen? Sie konnten es nicht, so einfach war das. Und es stand fest, daß diese Streitmacht südwärts zog. Das Lager befand sich etliche Meilen weiter südlich als von Paulson angegeben, und die Schneise der Verheerung, die die Goblins und Riesen im Norden hinterlassen hatten, war selbst aus dieser Entfernung deutlich zu sehen. »Wir suchen uns eine Höhle zum Verstecken«, sagte Bradwarden ruhig. »Hier sind schon früher Goblins durchgezogen, und sie werden wieder durchziehen. Das hab ich schon früher ausgesessen, und ich werde es wieder aussitzen!« »Wir müssen herausbekommen, was sie vorhaben«, sagte Eibryan unvermittelt, und der Zentaur starrte ihn verwundert an. »Kann man sich doch denken. Goblins haben nur eines im Kopf.« Eibryan wiedersprach: »Das hier ist etwas anderes. In so großer Zahl sind Goblins und Riesen sonst nicht unterwegs. Und sie arbeiten zusammen.« Er zeigte mit dem Arm das Lager entlang, das einen mehr als ordentlichen und disziplinierten Eindruck machte. »Und dort drüben?« Er wies zu dem Dutzend riesiger Kriegsmaschinen, die am anderen Ende des Lagers standen.
»Sind ein bißchen gieriger diesmal, das ist alles«, erwiderte Bradwarden. »Also bringen sie ein paar mehr um als sonst und machen vielleicht nicht eine, sondern zwei Städte nieder. Ist doch eine alte Geschichte, mein Freund; was müßt ihr Menschen da immer wieder aufs neue überrascht tun.« Eibryan konnte ihm nicht zustimmen, nicht diesmal, nicht angesichts dieses Militärlagers. Er sah nach Westen. Die Sonne berührte bereits den Horizont. »Ich muß dort hinein.« »Mußt du, ja?« fragte der Zentaur bissig. Eibryan glitt vom Pferd und händigte Bradwarden die Zügel aus. »Sieh dich um«, sagte er. »Stell fest, ob schon irgendwelche Truppen an uns vorbeigezogen sind. Sobald Sheila untergeht, komme ich hierher zurück – oder zur nächsten Hügelkuppe, falls die Goblins dann schon hier sind.« Bradwarden wußte, daß es sich nicht lohnte, mit dem störrischen Hüter zu streiten. Eibryan huschte von Baum zu Baum, von Busch zu Busch, von Fels zu Fels. Bald waren Späher um ihn herum und Wachen, die zwischen den Bäumen umherspazierten und sich mit ihren weinerlichen Stimmen über dieses und jenes beschwerten, über den Sitz ihrer Uniformen oder irgendeinen besonders gemeinen Vorgesetzten, der lieber die Peitsche als die Zunge sprechen ließ. Eibryan konnte nicht jedes Wort verstehen; die Goblins unterhielten sich zwar in seiner Sprache, aber da sie einen starken Akzent hatten und zahlreiche Dialektworte benutzten, verstand er kaum mehr als die groben Züge. Und diese bestätigten seine Befürchtungen. Die Goblins begriffen sich als Angehörige einer Armee, soviel stand fest. Eine Stunde darauf erlebte er seine nächste Überraschung. Er hielt sich in einer Baumkrone verborgen und lag keine zehn Fuß über dem Erdboden auf einem breiten Ast, als eine Gruppe Soldaten auf die Lichtung unter ihm trat. Drei waren Goblins,
bei dem vierten jedoch, dem Fackelträger, handelte es sich um ein Lebewesen, das der Hüter noch nie zuvor gesehen hatte, um einen Zwerg mit breiter Brust und dünnen Beinchen, der eine rote Mütze trug. Eine mit Blut gefärbte Mütze, wie Eibryan wohl wußte, denn wenn er auch noch nie einen Pauri gesehen hatte, so erinnerte er sich doch noch gut an die entsprechenden Gruselgeschichten seiner Kindertage. Die vier beschlossen, es sich unmittelbar unter der breiten Baumkrone gemütlich zu machen. Zu Eibryans Glück machte sich niemand die Mühe, einen Blick nach oben zu werfen. Der Hüter wußte nicht recht weiter. Er hätte gern die Rotkappe mitgehen lassen als weiteren Beweis für das Stadtvolk, daß Gefahr im Anzug war. Berichte über Goblins würden für kaum mehr als etwas Gesprächsstoff und den einen oder anderen zusätzlichen Wachgang sorgen; das kannte er noch aus den Tagen, als er selbst ein Städter gewesen war. Doch wenn er den Leuten eine Rotkappe vor die Füße warf, den eindeutigen Beweis, daß Pauris in der Nähe waren, jagte ihnen das vielleicht einen so großen Schrecken ein, daß sie alles stehen- und liegenließen und nach Süden flohen. Aber wie an die Kappe herankommen? Heimliche Diebestat schien das Gebot der Stunde. Die vier hatten sich bequem auf dem Waldboden ausgestreckt; vielleicht schliefen sie ja bald ein. Einer der Goblins holte einen prallen Wasserschlauch hervor, und sobald er etwas von der dampfenden Flüssigkeit in einen Becher füllte, wußte Eibryan, daß das Getränk es wahrlich in sich hatte. Eibryans Blut begann zu kochen, als sich die Goblins in Gesprächen über das Morden und Brandschatzen ergingen und ausufernd beschrieben, welchen Spaß sie mit den Menschenfrauen haben würden, bevor sie sie abschlachteten.
Das brutale Gerede trug den jungen Mann zu jenem Schreckenstag in seiner Jugend zurück; wieder hatte er all das Blut vor Augen, gellten ihm die Schreie seiner Familie und seiner Freunde in den Ohren. In seinem flammenden Zorn war an heimliche Diebestat nicht mehr zu denken. Ein paar Minuten später ging einer der Goblins ein Stück weg, um sich in einem Gebüsch zu erleichtern. Eibryan konnte ihn deutlich sehen, den dunkleren Schatten im Unterholz, der ihm den Rücken zukehrte und schwankend einen Busch wässerte. Langsam zog sich der Hüter in eine sitzende Position empor. Vorsichtig legte er einen Pfeil an die Sehne und zog durch. Er warf einen Blick nach unten, wo die drei anderen mit jedem Schluck lauter und prahlerischer wurden. Der Zwerg erzählte irgendeine derbe Geschichte, und die beiden Goblins brachen bei jeder grotesken Einzelheit in lautstarkes Gelächter aus. Eibryan, der spürte, daß der Zwerg gerade auf irgendeinen Höhepunkt zusteuerte, wartete noch einen Augenblick. Die Bogensehne summte, der Pfeil schwirrte, und die Schädeldecke des pinkelnden Goblins knackte. Er gab ein leises Ächzen von sich und plumpste der Länge nach ins Unterholz. Prompt brach der Zwerg ab und sprang auf, starrte in die Nacht hinaus. Die beiden Goblins jedoch grölten noch immer herum, vor allem als der eine anmerkte, daß ihr Kamerad seinen Rausch nun wohl in der eigenen Pisse ausschlafe. Der Zwerg war sich da nicht so sicher und brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen; dann bedeutete er ihnen voranzugehen. Oben auf seinem Ast legte der Hüter zwei Pfeile an die Sehne, den einen über den anderen, und zog durch. Die beiden
Goblins gingen vor dem Zwerg nebeneinander her und riefen leise nach ihrem verschwundenen Kameraden, aber sie klangen nicht übermäßig besorgt. Eibryan legte seinen Bogen quer, zielte sorgfältig und ließ los. Während des Fluges lösten sich die nicht ganz parallel gehaltenen Pfeile voneinander. Sie waren zwei Fuß weit voneinander entfernt, als sie sich in die Goblins bohrten und sie zu Fall brachten. Der eine Goblin tat keinen Seufzer mehr, der andere jedoch, den es unterhalb der Lunge erwischt hatte, heulte gequält auf. Eibryan ließ sich von dem Ast gleiten und schoß noch im Fallen einen weiteren Pfeil ab, der den verwundeten Goblin endgültig zum Schweigen brachte. Der Hüter rollte sich ab, entfernte dabei die gefiederte Spitze mitsamt der Bogensehne und kam auf die Füße, Falkenschwinge zum Stockkampf bereit. Der Zwerg war ebenfalls bereit. Einen zweiköpfigen Morgenstern herumwirbelnd, ging er ohne jedes Anzeichen von Angst zu einem wilden Angriff über. Die kurze Reichweite des Morgensterns bereitete Eibryan keine Schwierigkeiten. Er wich aus, machte dann einen Schritt nach vorn und stieß dem Zwerg die Stockspitze mitten ins Gesicht. Das hartnäckige Kerlchen wurde nicht einmal langsamer, sondern griff erneut an. Eibryan duckte sich weg und sprang zur Seite, und als der Zwerg ihn mit ausgestreckten Armen doch noch zu erwischen suchte, stieß er ihm senkrecht den Stock entgegen, so daß sich die beiden Kugeln des Morgensterns darumwickelten. Mit einem kräftigen Ruck versuchte der Hüter ihm den Morgenstern zu entreißen, aber der Zwerg war stärker als gedacht und riß nun seinerseits an der Waffe. Eibryan gab nach
und rannte mitten in den Zwerg hinein, wobei er ihm den Stock mit einer leichten Drehung erneut ins Gesicht knallte. Dann riß Eibryan den Stock wieder zurück, und diesmal lösten sich die verschlungenen Ketten des Morgensterns, und beide Waffen waren wieder frei. Doch der Hüter war im Vorteil, und er ließ Falkenschwinge herumwirbeln und schlug dem dickschädligen Zwerg zweimal auf jede Schläfe. Der Pauri machte einen Schritt nach hinten und schüttelte wild den Kopf, um dann – Eibryan konnte es nicht fassen – erneut anzugreifen. Es war ein ungeschickter Streich, den er da führte, sehr weit, sehr flach, und Eibryan stieß seinen Stock mit einer Hand in die entsprechende Richtung, so daß sich die Kugelketten erneut darumwickelten. Er machte einen Schritt nach vorn, krümmte die Finger, bog die Handfläche durch und verpaßte dem Pauri eine Serie kurzer, heftiger Schläge, daß ihm jedesmal der Kopf in den Nacken krachte. Als seine Attacken nur wenig Wirkung zeigten, drehte der Hüter sich seitwärts, wobei er seinen Stock wieder mit beiden Händen packte und kräftig zurückzog, dem Zwerg den Morgenstern entriß, daß er quer über die Lichtung segelte. Da er spürte, daß der wilde Zwerg erneut angriff, beschrieb Eibryan eine komplette Drehung und rammte ihm Falkenschwinge schwer in die Kehle. Der Zwerg blieb stehen. Eibryan dreht sich erneut und schmetterte ihm den Stock diagonal gegen das Kinn. Knochen barsten, aber der Zwerg knurrte nur und stürzte sich wieder nach vorn. Es war einfach unfaßbar, was dieses Kerlchen einstecken konnte! Der Pauri senkte den Kopf zum Angriff. Eibryan ließ ihn voll gegen den Stock laufen und versetzte ihm einen fürchterlichen Aufwärtshaken. Doch der Zwerg ließ sich nicht bremsen; er schlang seine Ärmchen fest um Eibryans Taille und schob ihn auf den Stamm des großen Baums zu.
Der Hüter ließ Falkenschwinge fallen, griff hinter sich an seinen Rucksack und riß das Beil aus seiner Schlaufe. Mit einem Grollen trieb er es dem Pauri in den Nacken. Aber der Zwerg hörte nicht auf, ihn zurückzudrängen. Wieder und wieder schlug Eibryan zu, bis er gegen den Baum krachte und fast sein Beil verlor. Der Pauri warf sich gegen ihn, als wolle er ihn durch die Borke drücken. Und angesichts der unheimlichen Kraft des Zwerges fragte sich Eibryan, ob er das nicht sogar schaffen konnte! Hektisch schwang der Hüter sein Beil, und ungefähr nach dem zehnten Schlag lockerte sich der Griff des Pauri endlich. Eibryan paßte den richtigen Moment ab, dann wand er sich mit einem letzten Schlag aus dem Griff des Pauri. Der halb bewußtlose Zwerg taumelte gegen den Baum und klammerte sich verzweifelt daran fest, um nicht umzufallen. Eibryan trat hinter ihn und trieb ihm das Beil mit aller Kraft in den Nacken. Knochen splitterten, und der Pauri gab ein Winseln von sich, hielt sich aber immer noch fest. Entsetzt schlug Eibryan noch einmal zu, und endlich war der Zwerg tot. Er sackte auf die Knie, ohne den Baum loszulassen. Eibryan sah auf seine Waffen hinab, die sich gegen den hartnäckigen Pauri als wenig nützlich erwiesen hatten. »Ich brauche ein Schwert«, murmelte er. Er zog dem Zwerg die Rotkappe vom Kopf, hob seinen Bogen auf und spannte ihn rasch wieder. Als er die Lichtung gerade verlassen wollte, hörte er hinter sich einen Goblin japsen, wirbelte herum und ließ so schnell und gewandt einen Pfeil von der Sehne schnellen, daß der Neuankömmling immer noch große Augen machte, als seine Kehle schon durchbohrt war. Der Goblin stolperte rückwärts gegen einen Baum. Eibryans nächster Schuß traf ihn ins Herz. Der Pfeil bohrte sich tief in den Stamm hinein und nagelte den toten Goblin daran fest.
Der Hüter machte, daß er wegkam, und erreichte die verabredete Stelle, als im Westen gerade die Mondin unterging. Bradwarden und Symphony erwarteten ihn schon, und der Zentaur hatte schlechte Neuigkeiten. Es hatte sich tatsächlich ein Teil der Armee vom Hauptheer getrennt und war den Spuren zufolge in südwestlicher Richtung unterwegs. »Nach Weltenend«, vermutete Eibryan. »Müssen fast dort sein«, sagte Bradwarden. »Wenn sie sich nicht schon längst dort schlafen gelegt haben.« Eibryan sprang auf Symphonys Rücken. Für ihn würde es in dieser Nacht keinen Schlaf geben – und in der nächsten auch nicht, soviel stand fest.
16. Vergoltene Gnade
»Bleib hier«, bat Eibryan den Zentauren, als sie das rautenförmige Wäldchen erreicht hatten, »oder wenigstens in der Nähe. Warte auf Nachricht aus Weedy Meadow und bereite die Dundalier auf die Entscheidung vor, die sie bald zu treffen haben.« »Mit meinesgleichen reden die Menschen nicht gern«, erinnerte Bradwarden den Hüter. »Aber ich will sehen, was sich machen läßt, und ich werde meine vierbeinigen Freunde nach Norden und nach Westen schicken, damit sie nach Goblins Ausschau halten. Du willst nach Weltenend?« Eibryan nickte. »Ich bete, daß ich noch rechtzeitig dort ankomme und die drei Trapper die Leute gewarnt haben.« »Bete lieber für das letztere, denn wenn du auf das erstere hoffst, verschwendest du nur deine Zeit, fürchte ich. Und was die Trapper angeht, so bete lieber, daß die Leute nicht so dumm sind, ihre Warnungen in den Wind zu schlagen.« Eibryan nickte ernst und ließ Symphony kehrtmachen. Der Hengst schwitzte bereits von dem langen Ritt nach Süden, aber sein Durchhaltevermögen überstieg das jedes anderen Pferdes, und er wußte, wie eilig es sein Reiter hatte. Schon donnerte Symphony in den frühmorgendlichen Wald hinein und hörte den ganzen Tag lang nicht mehr auf zu laufen. Von einem hohen Hügel aus bemerkte Eibryan mit einiger Hoffnung, daß im Westen keine Rauchschwaden zu sehen waren, daß Weltenend noch nicht brannte. Als sich die Dämmerung herabsenkte, sah Eibryan zum ersten Mal die geisterhaften Gestalten durch den Nebel huschen. Bis nach Weltenend waren es noch ein Dutzend
Meilen, und so verhießen irgendwelche Schatten im Wald, die noch dazu ostwärts unterwegs waren, nichts Gutes. Er führte Symphony hinter ein dichtes Gewirr weißer Birken und spannte seinen Bogen, bereit, sich notfalls jeden einzelnen Schritt bis zum Dorf freizukämpfen. Irgendwo seitlich vor ihm und nicht allzu weit entfernt glitt ein kleiner Schatten zwischen den Bäumen hindurch, eine schmale Gestalt, die ihm kaum weiter als bis zur Taille gehen konnte. Er hob den Bogen. Die Gestalt stolperte aus dem Unterholz und wankte den Weg entlang. Sie hatte die richtige Größe für einen Goblin, aber sie bewegte sich irgendwie anders. Dieser erschöpfte Soldat war nicht auf dem Vormarsch, sondern auf der Flucht. Der Hüter ließ ihn noch ein wenig näher kommen. Es war ein Junge, kaum mehr als zehn Jahre alt. Rasch ließ Eibryan den Hengst lospreschen. Der entsetzte Junge wollte fliehen, aber da beugte sich Eibryan schon herab und packte ihn unter der Achsel, zog ihn rasch vor sich auf das Pferd und versuchte ihn vom Schreien abzubringen. Seitlich bewegte sich etwas. Eibryan drückte den sich windenden Jungen fest auf den Pferderücken und ließ Symphony herumschwingen, den Bogen abwehrbereit in der anderen Hand. Der vermeintliche Angreifer blieb abrupt stehen, als habe er ihn erkannt. »Paulson«, hauchte Eibryan. »Nachtvogel«, erwiderte der Hüne. »Setz dem Kleinen nicht so zu. Er hat alles mit ansehen müssen.« Eibryan sah auf seinen kleinen Gefangenen hinab. »Weltenend?« Paulson nickte grimmig. Weitere Leute kamen auf die Lichtung, drei Dutzend vielleicht, von denen viele verwundet waren, und allen stand
jener leere Ausdruck des Entsetzens ins Gesicht geschrieben, der besagte, daß sie gerade durch die Hölle gegangen waren. »Zwei Tage nach unserer Ankunft griffen Goblins und Riesen an«, erklärte Paulson. »Und Zwerge«, fügte Cric hinzu, der zusammen mit Eichhorn die Lichtung betrat. »Übles Pack!« »Pauris«, sagte Eibryan und hielt die erbeutete Mütze empor. »Ein paar Leute haben wir vor der Schlacht noch auf die Straße nach Süden gekriegt«, fuhr Paulson fort. »Die wenigen, die schlau genug waren, auf uns zu hören. Aber die meisten sind geblieben. Dickschädel.« Eibryan, der an sein eigenes Dorf denken mußte, nickte bloß. Selbst wenn sie damals gewußt hätten, daß eine Horde Goblins unterwegs war, um Rache für ihren toten Gefährten zu nehmen, wären nur die wenigsten geflohen. Sie hätten sich den Goblins entgegengestellt und wären gestorben, denn Dundalis war ihr Zuhause, und wo sollten sie auch anders hin… »Nachtvogel, es war fürchterlich«, fuhr Paulson fort. »Das waren so viele, ich hätt’s kaum glauben wollen, hätte ich nicht vorher die Armee mit eigenen Augen gesehen. Wir sind abgehauen, Cric, Eichhorn und ich, zusammen mit dieser Handvoll Leute hier. Zwei Tage immer blindlings durch den Wald, und die ganze Zeit dachten wir, die Goblins säßen uns noch im Nacken.« Eibryan schloß die Augen. Er wußte genau, was diese Leute durchgemacht hatten und welch schreckliche Leere einige von ihnen nun empfanden, welch abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit. »Zweihundert Schritt von hier gibt es eine geschützte Niederung«, erklärte er Paulson und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. »Wärmt euch dort ein wenig auf. Ich werde rasch den Westen auskundschaften, und dann können wir eine Entscheidung fällen.«
Paulson nickte kurz. »Wir können eine Verschnaufpause gebrauchen.« Eibryan ließ den Jungen in Paulsons wartende Arme hinab. Gerührt sah er zu, wie zärtlich der bärige Mann mit dem Kleinen umging. Eine Zeitlang saß er einfach auf Symphonys Rücken, sah den Flüchtlingen nach und fragte sich, was er wohl für sie tun konnte. Dann preschte er los, jagte unter dem Licht der Mondin dahin. Eine Stunde lang durchstreifte er die Wälder, dann stand für ihn fest, daß sich hier weder Goblins noch Zwerge herumtrieben und erst recht keine Riesen. Das wunderte ihn einigermaßen. Warum hatten diese unseligen Wesen nicht die Verfolgung aufgenommen? Und warum war im Westen kein Rauch zu sehen gewesen? Die Goblins hatten Weltenend doch sicher ebenso abgefackelt wie damals Dundalis. Wieder zurück in der geschützten Niederung, erlaubte Eibryan den Leuten, einige kleinere Feuer zu machen. Das war im dunklen Wald nicht ohne Risiko, aber sie hatten die Wärme bitter nötig. Er selbst setzte sich zu den drei Trappern ans Feuer, nachdem er Symphony gebeten hatte, in der Nähe zu bleiben und gut auf sein Rufen zu lauschen. »Und ich hab gedacht, ihr drei geht nach Süden und nehmt nur diejenigen mit, die klug genug sind, auf euch zu hören«, sagte er nach einem Moment peinlichen Schweigens. Ihm blieb der unfreundliche Blick nicht verborgen, den Cric zu Paulson hinüberwarf, und ebensowenig die Tatsache, daß Paulson unverwandt ins Feuer starrte. »War nicht die Zeit dazu«, erwiderte der Hüne wenig überzeugend. Eibryan sagte nichts mehr, sondern blickte Paulson nur an, aber dessen Miene war nicht anzusehen, warum er plötzlich ein
so ritterliches Verhalten an den Tag legte. Schließlich hob Paulson den Kopf und begegnete seinem Blick. »Und jetzt sind wir hier«, knurrte der Hüne. »Aber bild dir bloß nichts darauf ein! Von uns dreien gibt keiner auch nur einen Biberfurz auf das Bärenreich oder irgendeine beschissene Stadt zwischen hier und Ursal!« »Warum dann?« fragte Eibryan schlicht. Paulson sah wieder ins Feuer. Er stand auf und trat gegen einen Ast, der aus der Glut gerutscht war, dann stapfte er davon. Eibryan sah die Gefährten des Mannes an. Cric zeigte zu dem Jungen hinüber, den Eibryan eingefangen hatte. »Paulson hatte auch mal so einen«, erklärte Cric. »Ungefähr im gleichen Alter. Is’ vom Baum gefallen und hat sich dabei das Genick gebrochen.« »Der da hat jetzt keine Familie mehr, schätz ich«, fügte Eichhorn hinzu. »Dann hättet immer noch ihr euch absetzen können«, sagte Eibryan. Cric setzte schon zu einer – augenscheinlich heftigen – Entgegnung an, da kam Paulson zum Feuer zurückgestürmt. »Ich kann diese stinkigen Goblins nicht ausstehen!« bellte er. »Ich werde mir so viele Goblin-Ohren holen, daß ich mir bei auch nur einem Goldstück Belohnung für jedes Paar anschließend ein großes Haus mit einem Dutzend Mägden und hundert Morgen Land zulegen kann!« Eibryan nickte beruhigend, aber der vierschrötige Kerl stampfte mit dem Fuß auf und stürmte davon. Hier ging es nicht um irgendwelches Kopfgeld, das wußte der Hüter genau. Und da auch Cric und Eichhorn geblieben waren, ging es auch nicht nur um irgendein Waisenkind. Diese drei hatten sich, bei all ihren Fehlern und lautstarken Protesten, doch noch eine gewisse Menschlichkeit bewahrt. Wie sehr Cric und Eichhorn
auch zetern mochten, sie waren wegen der Flüchtlinge noch hier, aus schlichtem Mitgefühl. Zu guter Letzt war es Eibryan völlig gleich, welchen Grund Paulson oder die anderen für ihr Hierbleiben angaben. Angesichts der zunehmend verzweifelten Lage um ihn herum war Eibryan froh, diese drei wackeren Kämpfer an seiner Seite zu wissen, zumal sie diese Gegend ebenso gut kannten wie er – wenn nicht sogar besser. Am nächsten Tag schickte Eibryan die Flüchtlinge auf den Weg – nach Dundalis, wenn möglich, obwohl er Paulson auch verschiedene andere Orte nannte, Höhlen und geschützte Täler. Dann machte er sich auf den Weg nach Weltenend, um Antworten zu finden und Hinweise auf das, was da kommen mochte. Außerdem hoffte er, auf weitere Flüchtlinge zu treffen. Als er sich dem Ort näherte, war es völlig still im Wald. Noch immer schwärzte keine Rauchwolke den Himmel. Er ließ Symphony im Wald zurück und bewegte sich von Baum zu Baum, gelangte unbemerkt an mehreren Wachen vorbei – allesamt Goblins – und bekam schließlich einen guten Blick auf das Dorf. Die Goblins, Zwerge und Riesen, die dort herumwimmelten, schienen sich ganz wie zu Hause zu fühlen. Zwar waren Leichen zu sehen, Dutzende von menschlichen und menschenähnlichen Toten, aber sie waren allesamt in eine Grube am Westrand der Stadt geworfen worden; auch waren die meisten Häuser unbeschädigt, und gebrannt hatte nicht eines. Das Bild unterschied sich völlig von dem des geplünderten Dundalis damals. Wollten sich die Angreifer hier niederlassen? Oder, und das schien wahrscheinlicher, wollten sie Weltenend als Basislager benutzen für den Nachschub? Diese Aussichten gefielen Eibryan überhaupt nicht. Von Weltenend konnte diese Streitmacht ein Stück nach Süden und
dann nach Osten ziehen und so sämtliche Straßen abriegeln, auf denen Flüchtlinge aus Weedy Meadow oder Dundalis unterwegs waren. Und da die Angreifer den Ort nicht plünderten, konnte das nur heißen, daß sie mehr vorhatten. Eibryan mußte an das gewaltige Lager denken. Die Feinde konnten in der Tat weiter vorrücken, und er mußte sich fragen, ob alle Männer des Bärenreiches zusammengenommen ihren Vormarsch auch nur bremsen konnten. Er konnte hier nichts weiter unternehmen, also zog er sich zurück und schlich auf den Wald zu, wo Symphony wartete. Dann hörte er das Weinen – in einem nahe gelegenen Haus weinte ein Kind. Eibryan duckte sich und überlegte, was er tun sollte. Ein so verzweifeltes Wimmern konnte er nicht einfach ignorieren, aber wenn er sich hier gefangennehmen ließ, würde das Wissen, das er erlangt hatte, womöglich nie Weedy Meadow oder Dundalis erreichen. Hier stand zuviel auf dem Spiel. Aber da erklang das Wimmern erneut, und diesmal fiel eine Frau mit ein. Eibryan stürmte auf die Freifläche zwischen zwei Häusern, blieb lang genug stehen, um sich umzusehen, und lief dann auf das fragliche Haus zu. »Das kannst du einem Hund vorsetzen!« vernahm er eine rauhe Stimme von drinnen, die ihn an den Pauri erinnerte, den er getötet hatte. »Entweder du bringst mir jetzt was Anständiges, oder ich freß deinem häßlichen Sohn den Arm ab!« Wieder war das Schluchzen der Frau zu hören, gefolgt von einem scharfen Klatschen und dem Geräusch eines Körpers, der hart auf den Boden schlug. Eibryan schlich am Haus entlang und erreichte schließlich ein kleines Fenster.
Der Pauri ging auf die Frau zu und holte schon zum nächsten Schlag aus. Ein paar Fuß vor ihr blieb er jedoch plötzlich stehen und sah verwundert auf sie hinab. Und sie sah verständnislos zu ihm hinauf – bis der Pauri nach vorn umfiel und sie den Pfeil in seinem Rücken erblickte. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie zum Fenster, wo der Hüter stand und ihr und ihrem Sohn bedeutete, sich zu beeilen. Die drei huschten von Haus zu Haus und dann über die kurze Freifläche vor dem Wald. Kaum hatten sie den Schutz der Bäume erreicht, da erklang ein Aufschrei hinter ihnen. Eibryan sah zur Stadt zurück. Aus dem Haus der Frau kam ein weiterer Zwerg gestürzt und brüllte, daß sich hier irgendwo ein Bogenschütze verberge. »Lauft!« flüsterte Eibryan drängend. Verzweifelt hetzten sie zwischen den Bäumen hindurch, während hinter ihnen Hörner erschollen. Eibryan begriff, daß die Goblin-Wachen nur allzubald das ganze Gelände durchkämmen würden. Schon sah er ein Stück neben ihnen die Umrisse zweier solcher Wachen. Die Falkenfedern spreizten sich, und zwei Schüsse später war die unmittelbare Gefahr vorbei. Aber was waren schon zwei ausgeschaltete Goblins gegen die systematische Verfolgung durch eine wohlorganisierte Truppe? Allmählich wurde es eng. Dann hatten sie Symphony erreicht. Der große Hengst scharrte mit den Vorderfüßen und schnaubte warnend. Eibryan hob die Frau auf seinen Rücken, in den Sattel, und setzte dann den Jungen hinter sie. »Sag dem Zentauren, was sich in Weltenend zugetragen hat«, wies er die Frau an, die nur verständnislos den Kopf schüttelte. »Sag Bradwarden – merk dir diesen Namen! – und allen anderen, daß die Goblins wahrscheinlich nach Süden und Osten ziehen, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden.« Er sagte das mit solchem Nachdruck, solcher Unnachgiebigkeit,
daß die Frau nur nicken konnte. »Ich komme nach, sobald ich kann.« »Lauf zu dem Wäldchen zu Bradwarden«, wies er das Pferd an, »und mach nirgendwo halt!« »Was ist mit Euch?« fragte die Frau und griff nach seiner Hand. »Wie wollt Ihr von hier wegkommen?« Für eine Antwort fehlte Eibryan die Zeit. Er riß seine Hand zurück, und Symphony machte einen Satz und donnerte den Pfad hinab. Zwei Goblins, die so dumm waren, ihm den Weg abschneiden zu wollen, machten mit seinen harten Hufen Bekanntschaft. Für einen Augenblick sah Eibryan ihnen in der Gewißheit nach, daß Mutter und Kind bei dem Hengst in guter Obhut waren. Dann wandte der Hüter seine Aufmerksamkeit wieder der eigenen Misere zu, den Schatten, die in allen Richtungen den dunklen Wald durchkämmten, den hin und her schallenden Rufen der Goblins und Zwerge und dem furchterregenden Donnergrollen der Riesen.
17. Der Unterschied
Sie waren im Begriff, Weedy Meadow anzugreifen. Jeder Vogelschrei verriet Eibryan das, jedes huschende Eichhörnchen. Das heranwogende Heer hatte die Tiere aufgeschreckt. Die Erde erbebte unter dem Getrampel der Riesen und den rollenden Kriegsmaschinen, die Luft erzitterte von den heiseren Befehlen der Pauri-Generäle und dem lauten Geheul der blutdürstigen Goblins. Sie waren im Begriff, Weedy Meadow anzugreifen, und Avelyn und Pony hatten es nicht geschafft, die Bevölkerung zur Flucht zu bewegen – jedenfalls nicht viele, wenngleich nun, da die Sturmwolke der Goblin-Armee über ihnen dräute, viele der Leute ihre Narrheit einzusehen begannen. Von seinem hohen Beobachtungspunkt zwei Meilen südlich der Ortschaft sah Eibryan sie umherwimmeln, um die Wälle zu verstärken oder sich sonstwie vorzubereiten. Nicht, daß das in seinen Augen noch einen Unterschied machte. Die einzige Hoffnung der achtzig Dörfler bestand darin, Weedy Meadow aufzugeben und zu fliehen. Und selbst das schafften sie nun, da sie von den Goblins umzingelt waren, nur noch mit der Hilfe des Hüters und seiner Freunde. Aber Eibryan hatte so wenige, mit denen er arbeiten konnte. Außer Pony und Avelyn, die irgendwo dort unten in dem Gewimmel waren, hatte Eibryan nur die drei Trapper und Bradwarden. Die Flüchtlinge aus Weltenend waren noch weit davon entfernt, wieder kämpfen zu können; die Hälfte von ihnen hatte noch nicht ein Wort über die Lippen gebracht. Der einzige Vorteil, den der Hüter hatte, war seine gute Ortskenntnis. Das Dorf lag inmitten steiler Hänge und enger
Täler, wo leicht hundert Leute untertauchen konnten, wenn sie nur einigermaßen geschickt waren. Hier sang die Natur ein lautes Lied: Hier plätscherten Bäche und schnatterten Vögel, hier brach Großwild durch das Unterholz. Ein von Leben erfüllter Wald war das, mit genügend Kiefern und Fichten, um selbst jetzt, wo schon der Winter das Land regierte, noch Deckung zu bieten. »Was denkst du?« fragte Bradwarden und trat leise neben ihn. »Wir müssen sie da herausbekommen.« »Kein leichtes Stück Arbeit, möcht ich wetten«, erwiderte der Zentaur, »sonst hätten Avelyn und Pony sie längst weit weggeschafft.« Bradwarden sah Eibryan an, der mit gequältem Gesicht nach Norden starrte. Der Zentaur konnte sich denken, was in ihm vorging; der alte Schmerz nagte wieder an ihm, das alte Gefühl von Hilflosigkeit, nun, da sich die Ereignisse zu wiederholen schienen. Bradwarden hatte Eibryan in den vergangenen zwei Tagen, seit er den Monstern bei Weedy Meadow entronnen und aus dem Wald gekrabbelt war, genau unter die Lupe genommen. Gleichmütig hatte der Hüter stets gewirkt und oft auch ernst, aber niemals zuvor hatte er solchen Ingrimm gezeigt. »Pony und Avelyn kriegen wir schon raus«, sagte der Zentaur, »und sicher auch noch eine Handvoll Einwohner. Die meisten aber werden bleiben wollen. Das weißt du. Sie werden ihre Häuser bewachen wollen, bis der Feind in Sicht kommt. Dann werden sie wissen, daß sie verloren sind. Dann wird es für sie zu spät sein.« Eibryan hob eine Augenbraue. »Wird es das?« fragte er schlicht. Bradwarden hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Selbst wenn Eibryan mit den drei Trappern, sämtlichen Flüchtlingen aus Weltenend und der gesamten Einwohnerschaft von Dundalis ins Tal zog, um bei der
Verteidigung von Weedy Meadow zu helfen, wäre das Dorf binnen einer Stunde dem Erdboden gleichgemacht. Das mußte er doch wissen – und doch glomm plötzlich Entschlossenheit in seinen Augen auf. »Dort«, sagte Eibryan und zeigte zu einem Paar zweitausend Fuß hoher Berge gleich im Osten der Ortschaft hinüber, deren steile Hänge weiß von Schnee waren. »Das Tal zwischen diesen Höhen ist voller Felsen und Kiefernwäldchen«, erklärte der Hüter. »Deckung genug, wenn wir die Leute dort rasch hinbekommen.« Eibryan sah nach unten und tätschelte Symphonys muskulösen Hals; er wußte genau, daß das Pferd den Plan nicht nur begreifen, sondern auch in die Tat umzusetzen helfen würde. »Du würdest durch die Täler fliehen wollen?« fragte der Zentaur ungläubig. »Zu viele Bäume«, antwortete Eibryan prompt, während der Plan Gestalt annahm. »Von oben bekommen sie kein freies Schußfeld auf uns, da können selbst Speere nicht viel ausrichten.« »Sie werden einfach runterkommen wie eine Wolke von herabstoßenden Adlern«, protestierte Bradwarden. Eibryan lächelte böse, als er daran dachte, wie tückisch diese steilen Hänge waren und wie hoch der Neuschnee dort lag. Er dachte an Avelyn und seine magischen Steine; der Mönch hatte ihm inzwischen manches erzählt. Er dachte an Paulson, Cric und Eichhorn, an ihren reichen Erfahrungsschatz. »Werden sie?« fragte er ruhig und klang dabei so gelassen und selbstsicher, daß der Zentaur sich jede weitere Entgegnung verkniff.
»Wie bist du denn bloß reingekommen?« fragte Pony atemlos und schlang die Arme um ihn, kaum daß Eibryan die
Schankstube von Weedy Meadow betreten hatte. »Draußen wimmelt es doch nur so von Goblins.« »Schlimmer, als ihr euch vorstellen könnt«, stimmte Eibryan zu und drückte sie an sich. Sie fühlte sich so gut an, so warm und wohltuend, daß von seinem Gleichmut nicht mehr viel übrigblieb und er sie am liebsten nach draußen in die dunkle Nacht entführt hätte, um alles Leid und allen Kampf hinter sich zu lassen und einfach irgendwo ein neues Leben anzufangen, nur mit ihr. Das konnte er nicht tun, er konnte nicht seiner Pflicht und Bestimmung entsagen, die die Touel’alfar ihm aufgezeigt hatten. Für jeden Gedanken, mit Pony davonzulaufen, besaß er fünf Erinnerungen an die Tragödie, die über seine Familie und Gemeinde gekommen war. Einen Augenblick später kam Avelyn herbeigeeilt, und der wilde Mönch schien diesmal weniger munter. »Ach, sie wollten einfach nicht gehen«, klagte er. »Sie wollten nicht auf uns hören, und selbst jetzt, wo sich im Wald die Dunkelheit zusammenzieht, sind viele ganz erpicht darauf, hierzubleiben und zu kämpfen.« »Jeder, der hierbleiben und kämpfen will, wählt den sicheren Tod«, sagte Eibryan laut genug, daß die anderen Gäste es hören konnten. Zwei bärige Gesellen, die nicht weit von der Tür entfernt saßen, standen auf. Polternd fiel ihr Tisch um. Einen langen Moment starrten sie Eibryan finster an, aber schließlich verzogen sie sich an das andere Ende des großen Raumes. Unverzagt ging Eibryan zu dem langen Tisch, der als Tresen diente, und sprang hinauf. »Ich sage euch dies nur einmal«, verkündete er, und die zwei Dutzend Männer und ein Dutzend Frauen sahen zu ihm hinüber, die meisten geringschätzig, aber manche auch zu ängstlich, um irgendwelchen Unmut zu zeigen. »Ich bin gerade erst durch die Reihen unseres Feindes
geschlichen, durch tiefe Reihen von Goblins, Riesen und Pauri-Zwergen.« »Pauris?« wiederholte eine Frau. »Bah, ‘n Haufen Lügen«, antwortete jemand aus der anderen Ecke. »Eure einzige Chance besteht darin, so weit wie möglich wegzulaufen«, sagte Eibryan und schleuderte die blutrote Mütze in den Staub. »Und das wird selbst jetzt nicht leicht sein. Ich werde heute so viele mitnehmen, wie ich kann, sobald Sheila untergegangen ist.« Der Hüter sah sich um, faßte jeden der Gäste kurz ins Auge, damit sie sich von der Intensität seiner grünen Augen, von der Entschlossenheit in seinen Zügen selbst überzeugen konnten. »Was den Rest von euch angeht, so wird euer Schlupfloch durch diese ungeheure Streitmacht klein sein, und für jedes Zögern werdet ihr bitter bezahlen müssen.« »Wer bist du denn, daß du hier hereinschneist und große Reden schwingst?« rief jemand. Aus allen Ecken erklang zustimmender Protest. Wie er gesagt hatte, wiederholte der Hüter seine Nachricht nicht. Er sprang vom Tisch und bat Pony und Avelyn, ihm nach draußen zu folgen, damit sie in Ruhe reden konnten. Als an der Wand neben der Tür ein Krug zerschmetterte, der offensichtlich auf seinen Hinterkopf gezielt gewesen war, zuckte Eibryan weder mit der Wimper, noch ließ er sich zu einem Drohblick herab. Draußen besprach er sich zunächst mit Avelyn, um das Potential der magischen Steine richtig einschätzen zu können. Anschließend redete er mit Pony, die mit den landschaftlichen Gegebenheiten hier vertrauter war, mit den hügeligen Wäldern und zahlreichen Bächen. »Die werden ebenfalls durch dieses Tal ziehen«, überlegte Pony, als Eibryan ihr seinen Plan erklärte. »Wenn sie so gut
organisiert sind, wie deine Beschreibung des Angriffs auf Weltenend vermuten läßt, dann lassen sie einen so deutlich sichtbaren Weg nicht einfach links liegen. Sie werden durch dieses Tal einmarschieren und beide Kuppen einnehmen.« »Viele kommen da nicht durch«, versprach der Hüter. »Die Reihe der Goblins wird dünn sein, und Schnelligkeit und Überraschung werden auf unserer Seite sein. Was die auf den Hügeln angeht, so bereiten sich bereits drei Freunde auf sie vor.« Pony, die seine Worte nicht anzweifelte, nickte; nur bereitete ihr ein anderer Teil seines Plans Kopfzerbrechen. »Wie können wir soviel Hoffnung in Tiere stecken?« Eibryan sah zu Avelyn. »Der Türkis«, erklärte er. »Er hat mir Einsicht in Symphonys Gedankenwelt verliehen. Ich kann gedanklich zu ihm sprechen, und er versteht mich. Dessen bin ich mir ganz sicher.« Avelyn, der die Macht des Türkises nicht bezweifelte, nickte. Als sei er mit Empfindungsvermögen ausgestattet, hatte dieser Stein ihn an jenem Tag gerufen, bevor er ihn Eibryan und Symphony geschenkt hatte, und Avelyn, der eine Meeresklippe hinuntergeschwebt war, der auf Wasser gewandelt war und ungeheure Feuerbälle freigesetzt hatte, der die Macht eines Gewittersturms in seinen kleinen, sterblichen Händen gehalten hatte, wollte die Erscheinungsform dieser gottgesandten Macht nicht verwerfen. »Wir haben kaum eine andere Chance«, gab Pony zu. »Überhaupt keine«, erwiderte Eibryan. Avelyn sah den Blick, den die beiden austauschten, und spazierte davon, ziellos zunächst, dann jedoch machte er sich zu der Hütte der einen Familie auf – einer Witwe mit ihren drei kleinen Kindern –, die der Hüter in dieser Nacht hinter die feindlichen Linien bringen wollte.
Pony und Eibryan verbrachten einen langen Moment der Stille miteinander und ließen ihn wortlos mit einem Kuß ausklingen, in dem Eibryans Versprechen mitschwang, die Frau nicht im Stich zu lassen, und ihr Versprechen, daß sie und diejenigen, die den Ort verlassen wollten, bereit sein würden, wenn ihre Chance gekommen war. Der Hüter verließ Weedy Meadow in jener Nacht, um die fliehende Familie durch das gewundene Tal nach Osten zu bringen. Der Wald war still, aber wie Eibryan vermutet hatte, war er nicht leer. Er sah die Frau an, formte das Wort »Goblins« mit den Lippen und hielt eine offene Hand empor, um ihre Zahl mit fünf zu beziffern. Zwar hatte er Falkenschwinge schußbereit, aber er wollte in dieser Nacht keine Ungeheuer töten, nicht an dieser Stelle, wo jeder Leichnam die Streitmacht auf ein mögliches Loch in ihren Angriffslinien aufmerksam machen konnte. Also kauerten sie sich eng zusammen und warteten, und die Frau hatte einiges damit zu tun, ihr Jüngstes, das kaum geboren war, vom Schreien abzuhalten. Die Goblins kamen dicht heran, so dicht, daß die fünf ihre winselnden Stimmen hörten, so dicht, daß das Zertreten eines Astes dem Hüter und der Familie in den Ohren schallte. Eibryan paßte auf, daß sie unten blieben, und versuchte alle zu beruhigen, indem er die anderen beiden Kinder tätschelte und ihnen seine Waffen zeigte und klarmachte, daß er bereit war, sie notfalls zu verteidigen. Der Hüter, der zuvorderst lag, sagte nichts, als ein GoblinStiefel kaum drei Fuß von seinem Kopf entfernt auf den kalten Boden stampfte. Sein Handbeil fest gepackt, hielt Eibryan den Atem an und wartete auf irgendeine plötzliche Bewegung, mit der der Goblin erkennen ließ, daß er sie entdeckt hatte.
Aber dann war der Moment schon vorüber und die Patrouille achtlos an dem Mann und seinen Flüchtlingen vorbeimarschiert. Ihre mangelnde Aufmerksamkeit rettete den Wesen in jener Nacht, da der Tod kaum mehr als eine Armeslänge entfernt war, das Leben – und was noch wichtiger war, sie rettete Eibryans Plan.
Kurz vor der Dämmerung nahm der Himmel ein stumpfes Grau an, und wieder ließ ein träger Schneesturm vereinzelte Flocken umhertanzen. Eibryan und Bradwarden standen erneut auf dem Hügel weit südlich von Weedy Meadow und warteten darauf, daß alles losging, warteten auf die ersten Anzeichen des Angriffs, der an diesem Tage kommen mußte. »Du hast sie dort gelassen«, sagte der Zentaur unvermittelt. Eibryan hob verwundert eine Augenbraue. »Das Mädchen«, erklärte der Zentaur. »Deine Geliebte.« »Mehr als eine Geliebte.« »Und du hast sie dort gelassen, wo zehntausend Ungeheuer auf sie zumarschiert kommen.« Eibryan, der nicht wußte, ob das ein Kompliment oder eine Kritik sein sollte, sagte nichts. »Du hast die Frau, die du liebst, der allergrößten Gefahr ausgesetzt.« Die Worten befremdeten Eibryan, zeigten ihm einen Blickwinkel auf, an den er kaum gedacht hatte. »Es war Ponys Entscheidung zu bleiben, sie mußte – « »Sie könnte sterben heute.« »Macht es dir Spaß, mich so zu quälen?« Bradwarden sah ihm in die Augen und lachte herzhaft. »Dich quälen? Ich bewundere dich, Bursche! Du liebst die Kleine, aber du läßt sie in einer Stadt zurück, die jeden Moment in Schutt und Asche fällt!«
»Ich vertraue ihr«, protestierte Eibryan, der in seinem Eifer, sich zu verteidigen, kaum auf die Worte des Zentauren achtete. »Und ich traue ihr einiges zu.« »Das seh ich«, sagte Bradwarden. Er legte Eibryan die Hand auf die Schulter und schenkte ihm einen aufrichtigen Blick der Bewunderung. »Und darin liegt deine Kraft. Zu viele Männer deines Volkes hätten die Kleine bei sich behalten wollen, um sie beschützen zu können. Du bist klug genug zu wissen, daß Pony keinen großen Beschützer braucht.« Eibryan sah wieder nach Weedy Meadow hinab. »Sie könnte sterben heute«, sagte Bradwarden ruhig. »Könnten wir auch«, konterte Eibryan. »Könnten zehntausend Goblins auch.« Der Zentaur lachte. Eibryan stimmte mit ein, aber ihr Frohsinn fand ein Ende, als der Himmel plötzlich von einem Flammenbogen zerschnitten wurde, als plötzlich brennendes Pech auf Weedy Meadow niederging. »Die Pauris«, sagte Bradwarden trocken. »Dann mal los«, erwiderte Eibryan. Er warf einen letzten Blick auf die ferne Stadt, auf die kleine Rauchwolke, die aufzusteigen begann. Pony war dort unten in allergrößter Gefahr. Eibryan verzog das Gesicht und drängte die Vorstellung beiseite. Er sah zu dem Zentauren, der ihm entschlossen vorausging, und zuerst war er verärgert darüber, daß Bradwarden ein so ernstes Thema angeschnitten hatte. Bis zu diesem Moment hatte Eibryan nicht einmal daran gedacht, daß Pony persönlich in Gefahr schwebte, so großes Vertrauen setzte er in sie. Sie würde die Leute aus Weedy Meadow hinausbringen, und wenn dabei auch ein paar getötet werden mochten, so doch nicht seine Pony. Das und nichts anderes hatte er gedacht.
Bradwarden hatte ihm die Wahrheit dieses Tages vor Augen geführt, und langsam verwandelte sich sein Ärger in Dankbarkeit. Er vertraute Pony nicht weniger, er konnte seinen plötzlich erwachten Beschützerinstinkt im Zaum halten. Bradwarden hatte ihm die Wahrheit seiner Beziehung zu dieser Frau, die erneut in sein Leben getreten war, vor Augen geführt, das wahre Ausmaß seiner Liebe und seines Vertrauens. Eibryan nickte und lächelte; für diese Lektion konnte er dem Zentauren, der da vor ihm herlief, nur dankbar sein.
»Ho, ho, hoppla!« bellte der Mönch und lief zu dem neuesten Brandherd, den Serpentin in seiner dicklichen Hand. Unter Benutzung des Schutzzaubers spazierte Avelyn mitten in das Feuer hinein. Die Flammen leckten an seinen Schultern, aber zur Verblüffung der Einwohner, die es mitbekamen, lächelte Avelyn. Der Mönch ließ sich tiefer in den Stein fallen, beschwor seine schützenden Kräfte herauf und dehnte seinen Einfluß so weit aus, daß die Flammen erstickt wurden. Als Avelyn aus seiner Trance erwachte, sah er schon das nächste Feuer aufflammen, nur ein Stück weit entfernt. »Ho, ho, hoppla!« bellte er erneut und drängte sich durch den verzweifelt kämpfenden Löschtrupp, um seine weitaus effektiveren Mittel einsetzen zu können. Doch der Regen der Pauri-Geschosse nahm noch zu, und wo kein brennendes Pech herunterkam, machte eben ein Felsbrocken Kleinholz. Ein Feuerball zerplatzte am Ostwall und überschüttete zwei Männer mit brennendem Pech. Den einen hüllte Pony rasch in eine schwere Decke, und um den anderen kümmerte sich Avelyn mit seinem Serpentin. »Den grauen Stein!« rief Pony ihm zu und zeigte auf die furchtbaren Brandwunden ihres Schützlings. Prompt griff
Avelyn zu dem Hämatit und kümmerte sich um den Mann, aber sein Gesicht wurde nur noch ernster dabei. Er mußte sich allmählich eingestehen, daß er gegen den Beschuß nicht ankam, der ja zudem nur der Auftakt zu weit Schlimmerem war. Pony überließ den Mann Avelyns helfenden Händen und lief zwischen den hektischen Dörflern hin und her, schalt sie für ihre Dummheit, geblieben zu sein, und erinnerte sie daran, daß sich bald ein Fluchtweg aufzeigen mochte. Es überraschte sie kaum, daß nun, da jede Minute ein Haus in Flammen aufging und überall Felsbrocken herabprasselten, mehr Leute bereit waren, Eibryans Plan Gehör zu schenken. Doch so sehr die Flammen auch wüteten, manch ein stolzer und störrischer Dörfler wollte noch immer nicht einsehen, daß es sich hier um mehr als ein paar Goblin-Horden auf Beutezug handelte. »Mit denen werden wir schon fertig«, erklärte einer, »die hetzen wir so tief in den Wald hinein, daß sie nie wieder herausfinden, die Drecksviecher!« Pony schüttelte den Kopf und versuchte ihn eines Besseren zu belehren, aber er bekam zuviel Unterstützung von den fünf Männern, die Schulter an Schulter mit ihm den Wall bewachten. »Goblins!« höhnte er und spuckte Pony vor die Füße. Die anderen pflichteten ihm bei, verstummten dann aber so plötzlich, um zum Waldrand hinüberzuglotzen, daß Pony herumfuhr. In den Schatten hinter dem kleinen Stück freien Feldes tänzelten angriffslustig zwei Riesen umher, fünfzehn Fuß groß und zehnmal so schwer wie ein kräftiger Mann. »Verdammt große Goblins«, sagte Pony sarkastisch. Sie sah auf die Waffen hinab, die die Männer bei sich trugen –
Schaufeln, Mistgabeln und ein einsames, rostzerfressenes Schwert. Ihr eigenes Schwert hatte Pony der Mutter überlassen, die mit Eibryans Hilfe geflohen war, und nun trug sie nur eine schmale Keule und eine kleine Axt; Waffen, die sich gegen diese beiden Kolosse dort draußen wie Spielzeug ausnahmen. »Am Ostwall«, erinnerte sie die Männer ein letztes Mal, dann marschierte sie grimmig dorthin. Als sie es zwischen den Stämmen des Osttores bläulich schimmern sah, blieb sie verdutzt stehen. Sie sah Avelyn an, der schon auf sie zulief. Er zuckte mit den Schultern. »Ich wußte bis jetzt auch nicht, daß man mit dem Serpentin eine regelrechte Barriere errichten kann. Frag mich also nicht, wie lange sie hält. Vorläufig wird das Tor jedenfalls nicht in Flammen aufgehen.« Pony, die wahrlich froh war, Bruder Avelyn an ihrer Seite zu wissen, legte ihm eine Hand auf die breite Schulter. Im nächsten Moment fuhren die beiden herum. Am Nordwall hatte jemand etwas von Angriff gebrüllt.
Eibryan rannte, was das Zeug hielt, um nicht hinter Bradwarden zurückzubleiben. Symphony war im Wald verschwunden, wie es ein Schatten tun mag, wenn vor die Sonne dunkle Wolken ziehen. »Langsamer geht’s nicht!« rief der Zentaur und grunzte, als der Hüter ihn beim Schwanz packte und nun halb hinter ihm herrannte und halb flog. Im Basislager warteten schon die drei Trapper auf sie. »Sie kommen ins Tal«, erklärte Paulson. »Eine lange Marschlinie, nicht allzu breit und hauptsächlich Goblins.« »Die Pauris sind auf den Hügeln«, warf Cric ein. »Aber die Fallen sind fertig?« fragte Eibryan.
Alle drei nickten. Eibryan schloß die Augen und sandte eine Gedankenbotschaft an Symphony. Das Pferd antwortete prompt. Zufrieden blickte Eibryan wieder zu seinen Gefährten. »Wir müssen unsere Ziele sorgfältig auswählen«, erklärte der Hüter. »Wir müssen ihre Reihen ausdünnen, so gut wir können. Das heißt, wir schnappen uns jeden Riesen und jedes Monster, das zu fliehen versucht.« Er schaute wieder nach Osten. »Alles Weitere überlassen wir Symphony.« Mit einem Nicken trennten sie sich. Die drei Trapper gingen zum Fuße des Nordhügels, Eibryan und Bradwarden machten sich zum Südhügel auf.
Die flinke Pony hatte das Dach rasch erklommen und warf sich flach auf den Bauch, um weiterzukrabbeln, während Speere über sie hinwegflogen, während die riesige Horde das Nordtor stürmte. Sie lugte über den Rand des Daches hinab. Von den fünf Männern am Wall waren nur noch drei am Leben, und sie flohen, so schnell sie konnten. Die beiden Riesen traten ein paarmal gegen den befestigten Wall, dann stiegen sie einfach darüber hinweg. In diesem gefährlichen Moment hielt Pony die Luft an, aber zu ihrem Glück beachteten die Riesen sie gar nicht, sondern stapften den Männern und Frauen nach, die schreiend davonliefen. Nun wußten die Dörfler, wie dumm es gewesen war, unbedingt bleiben zu wollen. »Ho, ho, hoppla!« erklang ein wohlvertrauter Ruf. Bruder Avelyn hatte sich den Riesen in den Weg gestellt. Pony wurde beinahe von einem Speer gestreift. Sie wirbelte herum, und im gleichen Moment tauchte der Kopf eines Goblins über der Dachkante auf. Mit einem Keulenschlag schickte Pony ihn wieder nach unten, nur um festzustellen, daß
schon hundert weitere voller Gier nach Menschenblut den Wall erklommen. Mit einem Knurren warf die Frau dem nächstbesten Goblin ihre Keule ins Gesicht, und auch dieser stürzte wieder hinab. Dann sah sie rasch nach Osten, wo immer noch alles ruhig war. »Verdammt«, murmelte Pony, kam wieder auf die Beine und lief zur südwestlichen Ecke des Daches, warf sich weit über den Rand und packte einen der beiden Riesen bei den Haaren. Ihr Schwung trug sie bis vor das Ungetüm, keine drei Fingerbreit von seiner häßlichen Visage entfernt, und Pony fackelte nicht lange, sondern schlug ihre Axt mitten hinein. Der Riese heulte auf, die Frau ließ sich fallen, und der zweite Riese wandte sich zu ihr um und hob einen Fuß, um sie zu zertreten. »Ho, ho, hoppla!« ertönte wieder Avelyns markanter Schrei, diesmal um die anwachsenden Energien des Graphits in seiner Hand freizusetzen. Zwei bläulichweiße Blitze durchschnitten die Luft, für jeden Riesen einer. Derjenige, den Pony sich vorgenommen hatte, flog, die Hände noch immer vorm Gesicht, nach hinten gegen den Wall, der ihm bis zur Taille reichte, und kippte prompt darüber hinweg, was einen Goblin das Leben kostete. Sein Kumpan zuckte einmal kräftig, dann blieb er, den Fuß immer noch hoch oben, um Pony zu zertreten, wie eingefroren stehen. Die Frau jedoch war schon bei Avelyn und sah sich verzweifelt um. Über die Wälle kamen Goblins gekrabbelt wie Ameisen, Hunderte und Aberhunderte, und begruben allein durch ihre Zahl jeden Dörfler unter sich, der sich ihnen in den Weg stellte. »Im Osten wird gekämpft!« schrie ein Mann und rannte auf die beiden zu. »Was ist nun mit eurem Plan?« fragte er bissig und hoffnungslos.
Pony lief mit ihm zum Osttor zurück, während Avelyn die Nachhut übernahm. Sein nächster Blitz schleuderte ein Dutzend Goblins von dem Dach herunter, auf dem Pony gerade noch gewesen war. Direkt vor Pony und dem Dorfbewohner kam ein Pauri auf den Ostwall geklettert, nicht allzuweit vom Tor entfernt. »Was ist nun mit eurem Plan?« wollte der Mann von Pony wissen, und seine verzweifelte Frage spiegelte sich auf den ängstlichen Gesichtern sämtlicher Einwohner wider, die es noch hierher geschafft hatten. Der Pauri richtete sich auf, dann jedoch lehnte er sich merkwürdig vor und fiel der Länge nach den Wall hinab, um unten reglos liegenzubleiben. Aus seinem Rücken ragte ein langer Pfeil empor, ein Pfeil, dessen Befiederung der Frau wohl bekannt war. »Das ist mit unserem Plan«, erklärte sie zuversichtlich. Im nächsten Moment war im Osten Donnern zu hören, das Donnern unzähliger Hufe, begleitet von den Schreien der unglückseligen Goblins, die von den Wildpferden zu Tode getrampelt wurden. »Avelyn!« rief Pony. »Ho, ho, hoppla!« erwiderte der Mönch und schoß einen weiteren Blitz ab, diesmal in die Erde hinein. Die Horde Goblins, die gerade auf ihn zugestürmt kam, wurde zwei Fuß hoch in die Luft geschleudert. Pony riß einem der Männer die Mistgabel aus den Händen und lief damit zum Osttor, das sie mutig aufschob. Draußen standen zwei Goblins, die es nicht fassen konnten, daß sich das Tor so plötzlich vor ihnen geöffnet hatte. Den einen erwischte Pony mit der Mistgabel am Hals. Der andere ergriff die Flucht, fiel aber fast sofort hintenüber, einen Pfeil zwischen den Augen. Pony sah den Nordhang hinauf und erblickte Eibryan, der dort auf einem niedrigen Ast saß. Und in
der Schlucht lief Bradwarden hin und her, zertrampelte Goblins und Zwerge oder zerschmetterte sie mit seiner schweren Keule. Einem Pauri schlug er nur leicht auf den Kopf, dann griff er sich den benommenen Zwerg und steckte ihn in einen Sack. Pony fehlte die Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die donnernde Herde kam näher, angeführt von dem mächtigen Symphony. Goblins und Pauris flohen oder wurden von den einhundert wilden Pferden zermalmt, die durch die Schlucht rasten. »Avelyn!« rief Pony, und der Mönch eilte an ihr vorbei. Er war von einem bläulichen Glühen umgeben, wie sie es zuvor am Osttor gesehen hatte. Pony hielt die Einwohner zurück, während Avelyn mitten zwischen die Goblins rannte. Die meisten waren zu verwirrt und erschrocken, um ihn anzugreifen, aber einige taten es. Avelyn streckte seine Hand vor – Pony erblickte darin kurz ein rotes Funkeln. Dann wurden der Mönch und sämtliche Ungeheuer um ihn herum von einem gewaltigen Feuerball verschluckt. Ein heißer Wind fegte über Pony und die Dörfler hinweg. Als die Flammen im nächsten Moment wieder erloschen waren, stand nur noch Avelyn vor ihnen. Der Fluchtweg war frei. Beinahe jedenfalls, denn hinter einem Fels kam ein Pauri hervorgeschossen, die Haare weggebrannt, das Gesicht geschwärzt, die Keule kaum mehr als ein dürrer, verkohlter Stock. Aber der Zwerg war noch immer sehr lebendig – und sehr wütend. Er heulte und brüllte und griff Avelyn an, bereit, ihn mit bloßen Händen zu erdrosseln. In der anderen Hand hielt Avelyn einen dritten Stein, der braun-schwarz gestreift war – Tigertatze genannt. Nun ließ der Mönch sich in den Steinzauber fallen und brüllte
schmerzerfüllt auf, nicht wegen des Pauri – dieser Feind hatte ihn noch nicht erreicht –, sondern wegen seines eigenen Wandlungszaubers, der ihm die Knochen des linken Arms verformte und zerbrach. Die Finger knackten und verkürzten sich, die Fingernägel wurden schmaler und zogen sich unter die Knöchel zurück, und dann kam ein gewaltiges Kribbeln, als am ganzen Arm orangefarbenes und schwarzes Fell hervortrat. Der Pauri war bei dem Mönch angelangt, doch dieser hatte seine Sinne wieder beisammen – nur daß sein linker Arm nun nicht mehr der Arm von Bruder Avelyn war, sondern der eines mächtigen Tigers. Ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, fuhr Avelyn seine Krallen aus und zog dem verdutzten Pauri das Fleisch vom Gesicht. Nun war der Weg frei. Aus dem Tal kam Symphony herangeprescht, gefolgt von seinen Pferdeuntertanen. Staub erfüllte die Luft, und dann blieb die wilde Herde stehen, bereit, die Menschen fortzutragen. Während Eibryan den Hang hinablief, kletterte Pony auf Symphonys Rücken; nur Avelyn blieb, wo er war, um den Rückzug zu decken. Beim Anblick seines Arms schnappten sowohl Pony als auch Eibryan nach Luft, aber in diesem verzweifelten Moment verloren sie kein Wort darüber. Dann preschten sie los, der Hengst und seine hundert Pferde, und trugen fünfzig der achtzig Einwohner Weedy Meadows davon, die sich ängstlich in den Mähnen festkrallten, und Goblins und Pauris krabbelten zu Dutzenden die Hänge hinauf, um von ihren Hufen wegzukommen. Als die Pauris oben auf den Hügeln die Menschen entkommen sahen, schrien sie erbost auf und stürmten hinab, aber die drei Trapper hatten ganze Arbeit geleistet. Etliche der
Zwerge rannten mitten in Baumfallen, Fallgruben und Fangeisen hinein; an einer Stelle wurde gar mit Hilfe eines Holzhaufens eine kleine Lawine aus losem Schnee und Steinen ausgelöst. Die Monster, die es nach unten schafften, mußten feststellen, daß sie von Bradwarden und seinen Prügeln bereits erwartet wurden. Der Zentaur metzelte sie blitzschnell nieder. Hinten am Osttor machte Avelyns Graphit mit einem lauten Knall einer weiteren Horde Goblins den Garaus sowie Elbryan den Weg frei, der unbedingt nach etwaigen Versprengten sehen wollte. Der Hüter mußte feststellen, daß mitten durch das Dorf ein Riese auf ihn zugestampft kam, voller Wut und von einem der Blitze des Mönchs versengt. Wieder und wieder ließ er die Bogensehne schwirren. Ein Pfeil bohrte sich dem Riesen in die Brust, einer in den Bauch, dann wieder einer in die Brust; der vierte prallte von den dicken Rippen ab, der fünfte jedoch verschwand wieder tief im Bauch. Jeder Treffer verlangsamte den Koloß ein wenig mehr und gestattete Eibryan einen weiteren verheerenden Schuß. Schließlich brach das Ungetüm zusammen. Kaum lag es im Staub, da sprangen einige verängstigte Menschen über seinen Rücken, eine Horde kreischender Goblins im Nacken. Neben dem Tor ging Eibryan auf ein Knie, zielte sorgfältig und erledigte Stück für Stück das jeweils vorderste Monster. »Avelyn, ich brauche dich hier!« rief der Hüter. Die Lage war sogar noch verzweifelter als zunächst angenommen, denn als er nach oben sah, entdeckte er einen Goblin auf dem Wall, vielleicht fünf Fuß seitlich vom Tor, der sich bereits auf ihn stürzen wollte.
Doch im Augenblick konnte Avelyn ihm nicht helfen. Der Mönch hatte genug mit einer Horde Pauris zu tun, die den Fallgruben der Trapper entronnen waren und den Hang herunterstürmten. Eibryan stellte sich dem Goblin entgegen, doch noch während dieser auf ihn zukam, sah der Hüter mehrmals Silber aufblitzen. Der Goblin landete direkt neben ihm, aber er war tot, bevor er den Boden berührt hatte. Drei Dolche steckten in seinem Hals und in der Brust. Eibryan warf einen Blick nach hinten. Eichhorn rannte bereits grinsend weiter, um sich als nächstes einen verwirrten Pauri vorzunehmen. »Avelyn!« rief Eibryan wieder, mit mehr Nachdruck. Er legte an und fällte einen weiteren Goblin, während die Menschen an ihm vorbei nach draußen flohen. Eibryan brachte sich mit einer Hechtrolle in Sicherheit. Die Goblins hatten das Tor erreicht und drängten hindurch. Avelyns Blitz mähte sie ausnahmslos nieder. Dann machten sie sich allesamt auf und davon, Eibryan und die drei Trapper, Bradwarden und Avelyn und alle Einwohner von Weedy Meadow, die noch übriggeblieben waren. Den ganzen Morgen über liefen sie, und oft mußten sie sich den Weg freikämpfen. Sie folgten der deutlichen Spur der Pferde und wurden zugleich von Eibryan auf wesentlich raffiniertere Weise geführt, denn der Hüter wiederum folgte dem Ruf des großen Hengstes. Zwei, drei Dutzend Zwerge wollten sich einfach nicht abschütteln lassen. Wann immer sie dicht genug herankamen, brüllten sie und zeterten und warfen ihre Dolche und Äxte nach ihnen, und wenn Eibryan oder Bradwarden dann innehielten, um einen Pfeil abzuschießen, der unausweichlich eines der Monster niedermähte, brüllten ihre Verfolger nur noch lauter auf.
Avelyn, der schnaufte und keuchte und zu erschöpft war, um auch nur versuchsweise nach einem Stein zu greifen, jammerte die ganze Zeit, die anderen sollten ihn Fettsack einfach zurücklassen. Davon wollte Eibryan natürlich nichts hören und Bradwarden ebensowenig. Der mächtige Zentaur trug noch immer den Sack, in dem der Zwerg herumstrampelte, und schaffte es irgendwie, dann und wann Gebrauch von seinem großen Bogen zu machen, aber beides hinderte ihn nicht daran, nun auch noch den fetten Mönch auf sich reiten zu lassen. Die Hufspuren verliefen nach Osten, aber Eibryan führte seine Gruppe in südlicher Richtung einen dichtbewaldeten Hang hinab, der an einem halb zugefrorenen Fluß endete, hinter dem sich eine weite Schneefläche ausbreitete. Sie platschten durch den Fluß und liefen weiter, und dicht hinter ihnen heulten die Pauris laut auf vor Freude, nun, da sie ihre Jagdbeute auf freiem Felde wußten. »Warum bloß hier entlang?« rief einer der Dörfler voller Verzweiflung, als er sah, daß die störrischen, unermüdlichen Zwerge langsam aufholten. Der Mann bekam seine Antwort, als zwischen den Bäumen vor ihnen Pony erschien, hoch oben auf dem großen Hengst und grimmigen Blickes, auf jeder Seite flankiert von zwanzig zornigen Dörflern und ihren feurigen Reittieren. Eibryans Gruppe lief weiter. Die Zwerge kamen schlitternd zum Stehen und wollten wieder zurück über den Fluß. Pony führte den Angriff an, und nur ein Zwerg sollte das Feld lebend verlassen – der unglückselige Pauri, der in Bradwardens Sack herumzappelte.
In ihrem Nachtlager, das näher bei Dundalis als bei Weedy Meadow lag, herrschte eine merkwürdige Stimmung. Mehr als sechzig der achtzig Einwohner waren entkommen, aber das
hieß eben auch, daß beinah zwanzig Tote zu beklagen waren, und der Verlust ihres Heimatdorfs. »Du hast ihn weggeschickt?« fragte Pony, als Eibryan zu dem Lagerfeuer kam, das sie sich mit Avelyn teilte. »So etwas kann ich im Lager nicht zulassen«, erklärte der Hüter. »Wie kannst du es überhaupt zulassen?« fragte Avelyn. »Wie könnte ich ihn davon abhalten?« hielt Eibryan prompt dagegen. »Gutes Argument«, stimmte der Mönch zu. »Ho, ho, hoppla!« Eibryan sah Pony an, und beide schüttelten sich, als sie an Bradwarden und sein grausiges Mahl dachten. Eibryan hatte den gefangengenommenen Zwerg verhört, ohne Nennenswertes in Erfahrung zu bringen, und dann hatte der Zentaur den Zwerg für sich beansprucht – als Abendessen. Immerhin hatte er Eibryan versprochen, das armselige Wesen nicht lange leiden zu lassen. Damit mußte der Hüter sich zufriedengeben; die Flüchtlinge und er waren nicht annähernd in der Lage, einen Gefangenen mitzuschleppen, erst recht keinen, der sich so wild und tolldreist gebärdete wie dieser Pauri. »Wir haben gute Arbeit geleistet«, sagte Avelyn. Er hielt Eibryan eine Schale hin und zeigte zu einem Kessel hinüber. Der Hüter, der in dieser Nacht nur wenig Appetit verspürte, winkte ab. »Du hast gute Arbeit geleistet«, sagte er. »Dein Feuerball hat Symphony den Weg frei gemacht – und schon die Hilfe der Pferde wäre ohne den Türkiszauber gar nicht möglich gewesen. Und deine Blitzschläge haben etliche Leben gerettet, meines eingeschlossen.« »Und meines«, fügte Pony hinzu und rieb dem fetten Mönch den Rücken.
Avelyn sah erst sie an, dann Eibryan, und machte ein zutiefst zufriedenes Gesicht. Für einen Moment vergaß er sogar sein Essen, saß einfach nur da und vergegenwärtigte sich die Ereignisse und die Rolle, die er und die gottgesandten Steine darin gespielt hatten. »Jahrelang habe ich mich gefragt, ob es richtig gewesen war, die Steine an mich zu nehmen«, erklärte er dann. »Jahrelang haben mich Zweifel gequält, habe ich gefürchtet, damit nicht im wahren Geiste Gottes gehandelt zu haben, sondern nur aufgrund meiner irrigen Fehlinterpretation dieses Geistes.« »Dann hat der heutige Tag dir recht gegeben«, sagte Eibryan leise. Avelyn nickte. Er hatte in der Tat das Gefühl, entlastet worden zu sein. Dann fiel ihm der Blick auf, den Eibryan und Pony einander zuwarfen, und er entschuldigte sich höflich. Im Lager wimmelte es von Verwundeten, und darunter waren sicher auch einige, die weiterer Hilfe durch einen heilkundigen Mönch bedurften. »Ich konnte Weedy Meadow nicht retten«, sagte Eibryan zu Pony, als sie allein waren. Pony ließ ihren Blick über die Männer, Frauen und Kinder schweifen, die an diesem Tage in den sicheren Tod gegangen wären, hätten der Hüter und seine Freunde sie nicht davon abgehalten. »Ich bin zufrieden«, gab Eibryan zu. »Das Dorf konnte nicht gerettet werden, aber wie anders ist es trotzdem im Vergleich zu dem Tag unserer eigenen Tragödie.« »Wir hatten keinen Hüter, der auf uns aufgepaßt hat.« Pony lächelte. Aber ihr Lächeln war nicht von Dauer; es verlor sich in der bitteren Verschränkung von neuer Tragödie und alter Tragödie. Die beiden rutschten näher zueinander, saßen aneinandergekuschelt da und starrten wortlos ins Feuer, ein
jeder versunken in die Erinnerung an das, was er verloren hatte, doch voller Zufriedenheit darüber, daß sie diesmal nicht hilflos zusehen mußten.
18. Nachtvogel der Führer
»Sie brennen den Ort nicht nieder«, bemerkte Eibryan, während er mit Pony, Bradwarden und Avelyn auf Dundalis hinabschaute. »Warum sollten sie?« fragte der Zentaur. »Das Dorf war leer, bevor sie dort ankamen.« »Nur zu wahr«, erwiderte Eibryan, denn die Schreckensberichte von dreiundsechzig Augenzeugen aus Weedy Meadow und einer Handvoll aus Weltenend waren mehr als überzeugend gewesen. Sämtliche Dundalier waren Eibryan zu den Lagern gefolgt, die seine Freunde und er tief im Wald errichtet hatten, fernab von allen Wegen. »Aber Weedy Meadow und Weltenend haben sie auch nicht angesteckt«, stellte Pony fest. Eibryan sah Bradwarden grimmig an. »Versorgungsstädte«, sagte der Zentaur düster. »Für den Nachschub.« »Das heißt, sie rücken noch weiter nach Süden vor.« Avelyn blieb fast die Stimme weg bei diesen Worten. »Wie weit?« »Es gibt kaum Dörfer südlich von hier«, sagte Bradwarden. »So gut wie gar keine bis hinunter zum großen Fluß.« »Palmaris«, flüsterte Avelyn hilflos. Ein langer Moment des Schweigens verstrich, als sich den vier Freunden diese schwere Last auf die Schultern senkte. »Aufhalten können wir eine solche Armee nicht«, verkündete Eibryan. »Aber wir haben drei Pflichten: die Ungeheuer zu treffen, wo wir nur können, Nachricht vorauszuschicken, damit die Dörfer und erst recht die große Stadt nicht unvorbereitet
sind, und für diejenigen zu sorgen, die nunmehr unter unserem Schutz stehen.« »Hundertsechzig«, sagte Bradwarden. »Und ich bin mit Zählen noch nicht fertig. Und, was noch schlimmer ist, höchstens ein Drittel von ihnen kann es auch nur mit einem einzigen Goblin aufnehmen.« »Dann müssen wir mit ihnen arbeiten«, erklärte Eibryan. »Wer nicht kämpfen kann, wird in Sicherheit gebracht, und wer in die Schlacht ziehen kann und will, wird zu unserem größtmöglichen Vorteil eingesetzt.« »Ein gewaltiges Stück Arbeit, Hüter«, bemerkte Bradwarden. Eibryan starrte ihn an. »Ich bin dabei«, grummelte der Zentaur einen Augenblick später, »aber nicht etwa, weil Zwerge so gut schmecken. Sind zähe kleine Zecken, sag ich euch!« »Ho, ho, hoppla!« grölte Avelyn. Noch am selben Tag machten sie sich an die Arbeit und teilten die Flüchtlinge in diejenigen auf, die bleiben und an Eibryans Seite kämpfen würden, und diejenigen, die an sicherere Zufluchtsorte gebracht werden sollten, in Höhlen, die Bradwarden einige Meilen östlich von Dundalis kannte, oder sogar, falls sich ein Weg finden ließ, weiter in die Südlande hinab. Als sie mit dem ersten Durchgang fertig waren, stellte Eibryan fest, daß er mehr als zwölf Dutzend Leute weiter fort schicken mußte, womit ihm gerade zwei Dutzend blieben, die zum Krieger taugten. Und was für ein zusammengewürfelter Haufen das war! Pony, Bradwarden und Avelyn einmal außer acht gelassen, war Paulson bei aller Unzuverlässigkeit wohl noch der beste Mann – wenn nicht gar Tol Yuganick, dieser ewige Störenfried. Genau diese Tatsache führte Pony ihm auch vor Augen, als sie am Abend beisammensaßen. »Du solltest ihn mit den anderen zusammen nach Süden schicken«, bemerkte sie und
zeigte dabei auf den grollenden Tol, der im Lager herumstapfte und jeden anfuhr, der ihm in die Quere kam. »Er ist stark und weiß gut mit dem Speer umzugehen«, hielt Eibryan dagegen. »Und er wird die ganze Zeit gegen dich kämpfen. Tol wird das Kommando haben wollen, und ich verspreche dir, sein ständiger Zorn wird ihn und jeden, der ihm folgen mag, noch in eine Lage bringen, aus der es kein Entrinnen mehr gibt.« Das konnte Eibryan nicht ernsthaft bezweifeln. Wenigstens machte Paulson den Eindruck, seine Befehle befolgen zu wollen; schließlich hatten die drei Trapper die Hügel im Osten Weedy Meadows mit Fallen bestückt, genau wie Eibryan es ihnen aufgetragen hatte. »Schick ihn zusammen mit den Ungeeigneten weg«, sagte Pony erneut. »Überlaß es Belster O’Comely, mit diesem Rohling fertig zu werden. Anderenfalls wirst du noch mit ihm das Schwert kreuzen, und ich fürchte, es wird nicht gerade für dich sprechen, wenn du einen der unseren vor aller Augen erschlägst.« Eibryan hielt das für ein bißchen zu dramatisch, aber er mußte zugeben, daß er in den vergangenen Monaten schon einige Male kurz vor einem Kampf mit Tol gestanden hatte – und da war die Lage bei weitem nicht so angespannt gewesen, wie sie es nun dauerhaft zu werden versprach. »Wann wirst du die Truppe nach Süden schicken?« fragte Pony und gab ihm damit klugerweise etwas Raum, bevor er zu einer so schweren Entscheidung gedrängt wurde. »Paulson, Cric und Eichhorn sind gerade aufgebrochen«, erwiderte der Hüter. »Sie sollen zuerst auskundschaften, ob Weedy Meadow und Weltenend tatsächlich besetzt sind, und dann nach Süden gehen und feststellen, welche Straßen frei sind. Wenn sie in ein paar Tagen wieder zurück sind, wollen wir entscheiden, was aus den Flüchtlingen wird.«
Pony nickte und dachte nach. »Wenn sie so bald zurückkehren, kommen sie nicht allzu weit nach Süden, jedenfalls nicht bis nach Caer Tinella und Landsdown, von Palmaris ganz zu schweigen. Wenn du die Südlande noch warnen willst, mußt du bald einen Boten ausschicken.« Eibryan, der ihren Überlegungen nur zustimmen konnte, stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wußte, daß es nur eine Person gab, die er damit betrauen konnte, die über das nötige Rüstzeug und Benehmen verfügte, die kampferprobt war und sich mit Pferden auskannte; aber ihren Namen brachte der Hüter einfach nicht über die Lippen. Pony nahm es ihm ab. »Symphony wird mich tragen?« fragte sie. Eibryan sagte nichts, sondern sah seine Geliebte nur lange an. Sie waren erst seit so kurzer Zeit wieder vereint, wie sollte er es da ertragen, sich schon wieder von ihr zu trennen? Seinem Gefühlsaufruhr zum Trotz ertappte Eibryan sich dabei zu nicken. Symphony würde Pony in der Tat tragen; das hatte der große Hengst Eibryan längst wissen lassen. »Dann werde ich noch vor Sonnenuntergang aufbrechen«, sagte Pony entschieden. Eibryan seufzte erneut, und Pony nahm sein Gesicht in ihre Hände, damit er sie ansah, zog ihn näher heran und küßte ihn zärtlich. »Ich reite bis nach Palmaris, wenn es sein muß«, versprach sie, »und dann kehre ich an deine Seite zurück. Auf Symphony. Da wird kein Goblin, kein Zwerg und kein Riese mich kriegen.« Eibryan, dem auf Symphonys Rücken der Wind nur so um die Ohren gepfiffen hatte, bezweifelte das keine Sekunde. »Und du wirst zu mir zurückkommen«, flüsterte er, »um an meiner Seite zu kämpfen und des Nachts an meiner Seite zu
liegen, wenn alles ruhig ist, wenn alle Sorgen des Tages weichen müssen.« Pony küßte ihn erneut, länger diesmal und intensiver. Überall im Lager kehrte langsam Ruhe ein, von dem gelegentlichen Gezeter des häßlichen Tol einmal abgesehen, und so verschwand das Paar wenig später im Wald und suchte sich ein ungestörtes Plätzchen.
Wie sie es vorausgesagt hatte, war Pony längst nach Süden unterwegs, als im Osten die Sonne aufflammte. Zuvor jedoch hatte sie noch Gespräche geführt, eines mit Eibryan, ein sehr vertrauliches, und eines mit Bruder Avelyn, der überraschenderweise auf sie wartete, als sie das Lager verließ. »Symphony ist gleich in der Nähe«, erklärte der Mönch. »Ist keine drei Minuten her, da war er auf diesem Hügel dort. Um auf dich zu warten, schätze ich.« Pony lächelte. Ihr Staunen über die Intelligenz, die das Tier – das so viel mehr als nur ein gewöhnliches Pferd zu sein schien – immer wieder an den Tag legte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wie auch ich auf dich gewartet habe«, schnaufte Avelyn. »Symphony wird uns kaum beide tragen«, sagte Pony trocken. »Was?« fragte Avelyn. »Ha, ha, guter Witz!« Im nächsten Moment war seine Heiterkeit wie weggewischt, und die plötzliche Anspannung hinter seinen fleischigen Wangen ließ Pony annehmen, daß er um ihre Sicherheit besorgt war. »Ich komme wieder«, versprach sie. Avelyn nickte. »Und damit um so schneller.« Er hielt einen silbernen Reif empor.
Vorsichtig nahm Pony ihn in die Hände. Sie hatte das Juwel kaum gesehen, das vorn in das Silber eingelassen war, da wußte sie, daß es sich nicht nur um ein Schmuckstück handelte. Einen solchen Stein hatte sie niemals zuvor gesehen, er war gelblichgrün mit einem schwarzen Streifen in der Mitte. »Katzenauge«, erklärte Avelyn. Er nahm ihr den Reif aus der Hand und setzte ihn auf ihre Stirn. »Damit kannst du in dunkler Nacht sehen«, erklärte der Mönch. Tatsächlich erschien ihr das erste Dämmerlicht des Morgens, der noch ein gutes Stück entfernt war, plötzlich heller. Obwohl, heller stimmte nicht ganz, eigentlich wurde nur alles deutlicher. Pony sah Avelyn an, von plötzlicher Dankbarkeit erfüllt, daß er sie in die Arbeit mit den magischen Steinen eingeführt hatte, aber auch einigermaßen überrascht, daß sie den Zauber dieses Katzenauges so leicht hatte hervorrufen können. »Wie kommt es, daß der Stein so einfach für mich arbeitet?« fragte sie. »Bin ich jetzt soweit, daß ich Feuerbälle und Blitzschläge auslösen kann wie du in der Schlacht von Weedy Meadow?« Pony machte ein hinterhältiges Gesicht. »Steckt die ganze Kraft also nur in den Steinen? Und wenn das so ist, warum ist Avelyn dann so reichlich mit ihnen gesegnet?« »Autsch, das hat gesessen!« bellte der gutmütige Mönch. »Ho, ho, hoppla! Gesegnet, ja, so sagen manche, aber ich sage: geschlagen, nämlich mit einer so treuen Freundin wie dieser!« »Autsch, das hat gesessen!« machte Pony ihn nach, und sie brachen in ein mehr als willkommenes Gelächter aus. »Die Kraft kommt sowohl aus dem Stein als auch aus dem Benutzer«, erklärte Avelyn dann, wie er es ihr während ihrer Wochen unterwegs oft erklärt hatte. »Manche Steine jedoch, wie der Türkis, den ich Eibryan und er Symphony gab, lassen sich dahingehend verändern, daß sie ihren Zauber konstant
aufrechterhalten, ganz gleich für welchen Träger. Aus den Steinen werden sozusagen Zaubergegenstände, die auch der Laie benutzen kann. Ich habe solche Stücke im ganzen Land gesehen, bei irgendwelchen Bauern oder bei kleineren Wahrsagern, und du sicher auch.« »Und nun hast du diesen hier präpariert.« »Für dich oder für mich oder vielleicht noch für Eibryan. Ho, ho, hoppla! Für den, der ihn gerade am meisten braucht, sage ich, und das bist nun du. Nimm ihn und führe Symphony damit gut durch die Nacht, wenn unsere Feinde nicht so aufmerksam sind.« Da erklang seitlich von ihnen ein Schnauben. Hoch oben auf dem Kamm stand der herrliche Hengst und tänzelte hin und her, als habe er ihr Gespräch belauscht. »Ich habe meine Zweifel, daß Symphony großartig geführt werden muß«, sagte Pony, »ob nun des Tags oder in der Nacht.« »Dann bewahrt dich der Stein eben davor, daß du mit dem Kopf an tiefhängenden Ästen hängenbleibst.« Avelyn lachte, was Pony ein kurzes Lächeln entlockte. Nun war es an der Zeit aufzubrechen. Kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, da riß Avelyn sie wieder herum. Der Mönch hielt ihr eine Hand entgegen, und als sie sie ergriff, gab er ihr einen weiteren Stein, ein Stück Graphit, den Stein, mit dem sich Blitze auslösen ließen. »Vielleicht bist du jetzt soweit«, sagte Avelyn mit Respekt. Pony nahm den Graphit, nickte kurz und machte sich auf den Weg.
Der Tag war strahlend klar, aber bitterkalt. Es ging ein beständiger Nordwind, und Eibryan fragte sich, ob der Winter das Land je wieder aus seinem Griff entlassen würde.
Am späten Morgen versammelte der Hüter die Männer und wenigen Frauen um sich, die als seine Streitmacht bei ihm bleiben würden. »Schlagen können wir den Feind nicht, der nun in unseren Häusern hockt«, erklärte er offen. »Dafür ist er zahlenmäßig zu überlegen!« Das sorgte für ein wenig Murren, einschließlich eines »Wie aufmunternd!« von seiten Tol Yuganicks. »Aber wir können ihm Schaden zufügen«, fuhr Eibryan fort. »Und vielleicht sorgen unsere hiesigen Anstrengungen dafür, daß der Krieg – « »Krieg?« fuhr Tol dazwischen. »Hältst du das hier immer noch für einen kleinen Beutefeldzug?« herrschte Eibryan ihn an. »Seit dem Fall von Weedy Meadow sind dort zehntausend Goblins durchgezogen, alle Richtung Süden.« Tol schnaubte und winkte verächtlich ab. »Unsere hiesigen Anstrengungen werden dafür sorgen, daß der Krieg im Süden vielleicht zu gewinnen ist«, sagte Eibryan laut, um die drohende Meinungsverschiedenheit im Keim zu ersticken, »damit Caer Tinella und Landsdown und vor allem Palmaris nicht auch noch fallen, denn darauf scheint diese Armee aus zu sein.« »Bah!« schnaubte Tol. »Was für ein dummes Geschwätz! Dieses Goblin-Pack hat sich in Dundalis eingenistet, also müssen wir nach Dundalis und es wieder verscheuchen.« »Und sterben, meinst du wohl«, warf Eibryan ein, bevor der Hüne noch mehr in Schwung kam. »Uns einfach abschlachten lassen.« Er ging zu Tol hinüber, bis sie direkt voreinander standen, und die Anspannung stieg mit jedem Schritt. Sie waren ungefähr gleich groß, aber Tol mit seinem faßförmigen Brustkorb und dem stattlichen Bauch war schwerer. Der Mann streckte die Brust raus und funkelte den Hüter wütend an.
»Ich werde niemanden aufhalten, der Tol Yuganick nach Dundalis folgen will«, sagte der Hüter nach einem langen Moment der Anspannung, »oder wo immer ihr euch sonst das eigene Grab schaufeln wollt. Diese Wälder sind voll von gut versteckten Plätzen, an denen sich ein Lager aufschlagen läßt, also werdet ihr mich auch nicht verraten können, wenn die Goblins euch die Fingernägel ausreißen oder eure empfindlichsten Teile ein wenig mit dem Hammer bearbeiten.« Diese Bemerkung ließ selbst Tol erbleichen. »Nein, ihr werdet mich und meine Sache nicht verraten, und ebensowenig werde ich um euer Leid weinen, ebensowenig werde ich das Leben derjenigen riskieren, die sich klugerweise für meinen Weg entschieden haben, um diejenigen zu retten, die willentlich in einen solchen Tod gegangen sind.« Das sollte fürs erste genügen, beschloß Eibryan, als erste Lektion, um seine Soldaten hinter sich zu sammeln, und so entfernte er sich gemächlich von Tol und spazierte zum Waldrand hinüber, wo ein amüsierter Bradwarden stand. »Ging ja richtig ans Herz, die Stelle mit dem Hammer«, begrüßte ihn der Zentaur. Eibryan zeigte ein listiges Lächeln, aber es war nicht von langer Dauer. Ihm drückten Ponys Worte über Tol zu sehr aufs Gemüt, von der Tatsache, daß Pony wohl längst etliche Meilen entfernt war, ganz zu schweigen. »Wir haben – du hast noch einen ganz schönen Weg vor dir, um sie hinter dich zu bringen«, sagte der Zentaur. Dieser bitteren Tatsache war sich Eibryan nur zu bewußt. »Aber ich hab auch wenig davon gehalten, als du die drei Schurken verschont hast«, sagte Bradwarden. »Du hast gesagt, daß ich sie besser totmachen soll«, erinnerte Eibryan den Zentauren, was diesem ein beschämtes Schnauben entlockte.
»Das habe ich! Das habe ich!« erwiderte Bradwarden. »Und die drei haben sich deiner Gnade dutzendfach als würdig erwiesen!« »Sie sind wertvolle Verbündete«, fügte Eibryan hinzu. »Mit diesem hier wirst du es schwerer haben«, sagte Bradwarden und wies mit dem bärtigen Kinn zu Tol Yuganick hinüber, der immer noch auf dem kleinen Feld stand und nicht allzu glücklich dreinschaute. »Der will dich einfach nicht respektieren, Hüter. Vielleicht solltest du ihn mit in den Wald nehmen und ein bißchen durchprügeln.« Eibryan lächelte nur, dabei kam ihm Bradwardens Vorschlag gar nicht so abwegig vor. Am Abend hob sich die Stimmung im ganzen Lager merklich, als ein Dutzend Versprengte – ebenfalls aus Weltenend geflohen und meist keine fünfzehn Jahre alt – hereingewandert kamen. Sie waren benommen und ausgehungert, aber von ein paar Schrammen abgesehen ging es ihnen gut. Sie hatten den Leuten eine bemerkenswerte Geschichte zu erzählen, die ihre beiden Anführer, ein Ehepaar in mittleren Jahren, anschließend noch einmal in aller Ausführlichkeit Eibryan und Avelyn vortrugen. Als der Sturm auf die Stadt losbrach, waren sie mit den anderen in den Wald geflohen. Aber sie waren nicht so gut weggekommen und hatten sich von der Hauptgruppe trennen müssen. Spät in der Nacht hatten die Pauris und ein paar Riesen sie in einer Felsschlucht festgenagelt, aber – wie die Frau ausführte – »da wurde die Luft lebendig, als ob eine Million Bienen zugleich summten«, und als die Verwirrung sich legte, lagen ihre Feinde tot am Boden und bluteten aus zahllosen winzigen Stichwunden. Eibryan Wyndon kam das nur zu bekannt vor. »Und dann wurden wir nachts durch die Wälder geführt«, fügte der Mann hinzu, »und tagsüber ruhten wir uns aus.«
»Ja, und?« fragte der Hüter wißbegierig. »Wer war es, der euch hierhergeführt hat?« Der Mann zuckte mit den Schultern und zeigte zu einem kleinen Jungen hinüber, der beim Feuer schlief, ein Bürschlein von kaum sechs Jahren. »Shawno sagt, er habe mit ihnen gesprochen«, erklärte der Mann. »›Taue‹ hat er sie genannt.« »Taue?« wiederholte Avelyn verblüfft. »Nicht ›Taue‹«, erklärte Eibryan. »Touel.« Der Hüter sah ernst zu dem Jungen hinüber. Sobald der Kleine morgen früh ausgeschlafen und einen Bissen gegessen hatte, würden sie sich einmal unterhalten müssen.
19. Sturmwind
»Onkel Mather?« Eine ganze Weile saß Eibryan wartend in der dunklen Höhle. Der graue Tag draußen sah schon wieder nach Schnee aus. Eigentlich hatte der Hüter es recht angenehm in dem Erdloch unter der breiten Kiefer, das er für sein Orakel zu benutzen pflegte; es blieb überraschend trocken, und hier unten quälte einen der kalte Nordwind auch deutlich weniger. Aber er war angespannt; er brannte darauf, sich mit dem Geist auszutauschen, seinem Onkel Mather von der Verantwortung zu berichten, die nun auf ihm lag, von der jähen Veränderung, die in sein Leben getreten war, in das Leben sämtlicher Grenzer hier draußen in den Wilderlanden. Da erst ging ihm auf, welchen Widerhall Pony ihm geboten hatte, welch offenes Ohr, und daß er das Orakel seit ihrer Rückkehr kaum noch aufgesucht hatte. Aber nun war Pony fort, unterwegs mit Symphony. Der Hüter hoffte inständig, daß sein Onkel Mather diesmal offen redete, daß er ihm greifbare Antworten gab, wie Pony das tat; aber das hatte das Orakel noch nie getan. Diesmal, so fürchtete Eibryan, lagen die Antworten und die Kraft nicht in ihm selbst verborgen und mußten nur entdeckt werden. Er rief erneut, leise, und dann nach einer knappen halben Stunde noch einmal, als es in der Höhle so dunkel geworden war, daß der Hüter kaum mehr den Rahmen des Spiegels ausmachen konnte, geschweige denn irgendein Geisterbild in seinem Glas. Eibryan schloß die Augen und rief sich die Ereignisse ins Gedächtnis zurück. Shawno, der Junge aus Weltenend, hatte
ihm nicht viel weiterhelfen können; dennoch war Eibryan überzeugt, daß es die Touel’alfar gewesen waren, die die Flüchtlinge vor den wilden Horden gerettet hatten. Aber wo steckten die Elfen dann? Gewiß hätte Belli’mar Juraviel, wenn er in der Gegend war, von sich hören lassen. Gewiß wäre Tuntun anspaziert gekommen – und sei es nur, um ihm unter die Nase zu reiben, wie jämmerlich er beim Schutz der drei Ortschaften versagt hatte! Der Hüter erschrak, als er die Augen öffnete und in den Tiefen des Spiegels die Reflexion einer Kerze erblickte, deren klare Flamme von einem weißlichen Dunst verschleiert wurde, dessen Quelle Eibryan nicht erkennen konnte. Nein, das war keine Reflexion, das Licht brannte tatsächlich dort im Spiegel! Einen Augenblick später schnappte Eibryan nach Luft, denn dort am Rand des Glases stand eine ruhige Gestalt, die, er wußte es aus tiefster Seele, seines Vaters Bruder war. »Onkel Mather«, sagte er leise, »wie froh ich bin, daß du mich an diesem sorgenvollen Tag erhört hast.« Die Erscheinung stand nur still da. Wo beginnen? fragte sich Eibryan. »Die Dörfer sind gefallen, alle drei«, platzte es aus ihm hervor, »aber etliche Einwohner sind entkommen, darunter fast ganz Weedy Meadow und ganz Dundalis.« Die Erscheinung bewegte sich kaum, aber Eibryan spürte, daß der Geist zufrieden war – mit ihm, wenn auch nicht mit der Situation. »Und nun halten wir uns verborgen«, fuhr der Hüter fort, »und das gestaltet sich schwierig, denn der Winter dauert an. Nun muß ich diejenigen, die nicht kämpfen können, nach Süden in Sicherheit bringen; das weiß ich und bereite es auch schon vor. Und die Südlande erhalten Warnung durch Pony, meinen Schatz, der zu mir zurückgekehrt ist und nun auf
Symphonys Rücken die Lande durchfliegt. Aber was die anderen angeht, Onkel Mather, diejenigen, die bleiben und kämpfen sollen, so weiß ich nicht, wie ich vorgehen soll.« Eibryan hielt inne und wartete auf die ersehnte Antwort. »Ich würde sie gern gegen die Invasoren einsetzen«, sagte er schließlich, als diese ausblieb. »Ich kann eine teuflische Waffe aus ihnen schmieden, einen flinken Geheimtrupp, der bei Nacht und Nebel zuschlägt und wieder weg ist, bevor die Goblins und Pauris noch zum Gegenangriff starten können.« Wieder hatte der Hüter das Gefühl, daß der Geist zufrieden war. »Und wieviel stärker wären wir, sollten meine Vermutungen sich als richtig erweisen und die Touel’alfar gekommen sein, um ihre Silberil-Bögen in den Dienst unserer Sache zu stellen. Weißt du etwas davon? Sind sie hier irgendwo?« Er brach ab, als sich das Bild im Spiegel verschob, als das Fenster, das der Spiegel war, plötzlich von dieser einen behüteten Kerze nach hinten wegzufahren schien und eine ganze Zahl Lichter zeigte, lauter kleine, leuchtende Kuppeln aus Schnee auf einem Feld, das ihm bekannt vorkam. »Onkel Mather?« fragte Eibryan, aber die Geistererscheinung war verschwunden. Da war nur noch dieses Feld von Kerzen, die unter dem weißlichen Schleier zu flackern begannen und erloschen, allmählich erloschen, bis es im Spiegel und in der gesamten kleinen Höhle absolut finster war. Eine ganze Weile saß Eibryan nur da und dachte über die nächsten Schritte nach. Die Mondin war bereits untergegangen, als er schließlich aus der Höhle krabbelte, vor der, ein paar Steine in der zitternden Hand, Bruder Avelyn auf ihn wartete. Eine Fackel, die der Mönch in einer Astgabel festgeklemmt hatte, warf mit ihrem orangefarbenen Licht wilde Schatten über die Erde.
»Kalt heute nacht«, sagte der Mönch trocken. »Ein wahrer Freund hätte einen nicht so lange warten lassen.« »Ich wußte nicht, daß du hier wartest«, erwiderte Eibryan, und dann sah er den Mann streng an. »Ich wußte nicht einmal, daß du von diesem Ort weißt.« »Haben mir die Steine gezeigt«, erwiderte der Mönch, und er hielt einen der Steine empor, einen münzgroßen Quarz. »Dann hast du nach mir gesucht.« »Vor uns liegt ein gutes Stück Arbeit, mein Freund.« Dem konnte Eibryan nur zustimmen. »Dies ist kein einfacher Raubzug, nicht einmal eine harmlose Invasion«, sagte Avelyn. »Eine harmlose Invasion?« wiederholte Eibryan, denn diese Wortkombination klang wirklich zu merkwürdig. »Kann eine Invasion denn harmlos sein?« »Wenn sie ohne größeres Ziel vonstatten geht«, erwiderte der Mönch. »Die Pauris sind schon oft übers Meer gekommen und in die Küstenlande eingefallen, um ihre Gier nach Blut und Beute zu stillen. Dann zerstreuen sich ihre Reihen allmählich, und sie verschwinden, und das Land heilt. So geschieht es wohl seit undenklicher Zeit.« »Aber diesmal ist es anders«, vermutete der Hüter. »Das fürchte ich, ja.« »Dabei sollte man meinen, daß eine Streitmacht, die aus so verschiedenen und so haßerfüllten Ungeheuern besteht, sich um so schneller in alle Winde zerstreut.« »Das würde sie auch«, murmelte Avelyn. »Das würde sie auch, wäre da nicht eine lenkende Hand über ihr, eine machtvolle Hand.« Eibryan lehnte sich an den breiten Baumstamm; auf diesen Punkt wußte er nichts zu entgegnen. Ihm fielen die Gerüchte wieder ein, die kurz vor seinem Abschied von den Elfen aufgekommen waren, das Geflüster von einem Dämon, der
angeblich hoch im Norden erwacht war. »Und wenn du recht hast?« fragte er schließlich. Avelyns Gesicht war todernst. »Dann liegt meine Bestimmung klar vor mir«, sagte der Mönch. »Dann weiß ich, welch prophetische, göttliche Wesenheit meine Hand geleitet hat, als ich meinen Beutel mit den Steinen von St. Mere-Abelle füllte. Selbst die Entscheidung, welche Steine ich mitnehmen sollte, ist dann weiter oben gefällt worden – « »Ich beneide dich um dein Gottvertrauen«, sagte der Hüter. »Was mich angeht, so glaube ich, daß wir uns unsere Bestimmung selbst aussuchen, unsere Fehler selbst machen, unsere Wahl in freier Entscheidung treffen.« Avelyn dachte einen Moment nach, dann nickte er. »Eine andere Sichtweise, aber dieselbe Sache«, entschied er. »Meine Wahl an jenem Tag gründete sich auf alles, was mir zuvor widerfahren war, sie stellte den Höhepunkt eines Weges dar, den ich schon lange vor meinem Eintritt in den AbellikanerOrden eingeschlagen hatte. Ich spüre, daß ich mich in meinem Gott nicht täusche, Hüter, und wenn mein Verdacht sich bestätigt, was die Natur dieser Invasion angeht, dann liegt mein Weg klar vor mir. Das ist alles. Ich dachte, ich sollte es dich besser wissen lassen.« »Weil du uns verläßt.« »Noch nicht«, erwiderte Avelyn rasch, »und laß dir versichert sein, daß ich an deiner Seite stehe, zu deiner freien Verfügung. Welchen Weg du auch einschlägst, ich werde die Steine und all meine Fähigkeiten und all meine Kraft dafür geben. Vorläufig jedenfalls.« Eibryan nickte erfreut; er wußte nur zu gut, was für eine große Hilfe der Mönch sein würde – und schon gewesen war. Der Hüter unterschätzte Avelyn nicht im geringsten; ohne diesen Mann und seinen Steinzauber wären in Weedy Meadow weit mehr Menschen gestorben. Und was Eibryan betraf, so
steckte hinter allem, was Avelyn tat – sei es die Flucht mit den Steinen aus St. Mere-Abelle, die Auseinandersetzung mit Bruder Richter oder der Kampf gegen die Monster – eine gehörige Portion Mut. »Glaubst du an Visionen?« fragte der Hüter unvermittelt. »An Prophezeiungen?« Avelyn kniff die Augen zusammen. »Habe ich nicht genau das gerade gesagt?« erwiderte er. »Und wie kann man wissen, ob eine Vision Wahrheit oder Täuschung ist?« »Ho, ho, hoppla!« donnerte Avelyn. »Hast heute nacht in deinem Loch wohl eine zu sehen bekommen!« Eibryan schmunzelte. »Aber wie kann ich wissen, woher sie kam oder worauf sie hinausläuft?« Avelyn lachte nur noch lauter. »Die Verantwortung lastet schwer auf deinen Schultern«, erwiderte der Mönch. »Du stellst deine Vision in Frage, weil nun das Schicksal so vieler Menschen von dir abhängt, weil du mit jedem Schritt, den du tust, die Schritte vieler anderer lenkst. Ho, ho, hoppla! Erleichtere deinen Geist von dieser Last und entscheide dann, mein Freund. Welchen Weg würdest du einschlagen, hättest du deine Vision gehabt, ohne soviel Verantwortung zu tragen?« Für eine Weile sagte Eibryan nichts, sondern sah diesen Mann nur prüfend an, dessen Weisheit ihm ebenso groß erschien wie die eines jeden Elfen, der geholfen hatte, Eibryan den Nachtvogel zu schaffen. Dann wußte er, was er zu tun hatte. Und da die Nacht nur noch wenige Stunden währte und ihm Symphonys fliegende Hufe nicht zur Verfügung standen, wußte er auch, daß er sich beeilen mußte. »Bitte entschuldige mich, mein Freund«, sagte er. »Eine Vision ruft?« Eibryan nickte.
»Brauchst du dann vielleicht meine Begleitung?« Eibryan war froh über dieses Angebot. Er hatte in der Tat das Gefühl, in dieser Nacht Hilfe gebrauchen zu können, aber er begriff auch, daß diese Vision, was immer sie vorhersagte, für ihn allein bestimmt war. Er trat zu Avelyn und klopfte dem Hünen auf die Schulter. »Ich brauche dich zu Bradwardens Unterstützung«, erklärte er, »damit die Leute auf dem rechten Weg bleiben.« Avelyn sah dem Hüter nicht nach, als dieser in der Nacht verschwand. In dem rautenförmigen Wäldchen herrschte eine unheimliche Stille. Kein Windhauch regte sich, kein Tier rief, kein Nachtvogel sang. Eibryan wünschte sich, vor dem Untergang der Mondin hierhergekommen zu sein, dann hätte er die hügeligen Schneefelder um das dunkle Gehölz herum besser sehen können. Er schwenkte den von Kerzen ausgebeulten Sack, den er zuvor noch geholt hatte, und fragte sich, ob er das Gelände besser zuerst etwas ausleuchten sollte. Es spielte keine Rolle, entschied der Hüter wacker und machte sich an die Arbeit. Langsam und vorsichtig errichtete er auf dem Feld lauter kleine Kuppeln aus Schnee, eine jede so groß, daß seine gewölbten Hände sie gerade umfassen konnten. Anschließend höhlte er sie sorgfältig aus und stellte eine Kerze hinein. Als dies getan war, als er nur noch eine Kerze übrig hatte, griff er zu Flintstein und Eisen und steckte sie an, und dann wanderte er über das Feld und entzündete Docht um Docht mit ihr, bis das ganze Gelände sanft von drei Dutzend gedämpften Lichtern erhellt wurde, hellen Flecken in der Dunkelheit. Eibryan hatte keine Ahnung, wie lange die Kerzen brennen würden, wie lange es dauern würde, bis die Kuppeln schmolzen und der heruntertropfende Schnee die Flammen zum Ersticken brachte. Die Kerzen brannten und brannten, und
er stand da und bekam allmählich den Verdacht, daß hier etwas Ungewöhnliches im Gange war, daß irgendeine fremde Macht die Lichter am Brennen hielt. Dann wurde leise sein Name gerufen. Als er sich zu der dunklen Reihe stattlicher Kiefern umwandte, wußte er instinktiv, woher der Ruf gekommen war. Er drang in das Wäldchen ein und ging durch den Schnee zu dem verborgenen Hügelgrab. Irgend etwas stimmte hier nicht, irgend etwas war schrecklich falsch, diesem Ort schien seine ureigene Harmonie entrissen worden zu sein. Auf einmal kam ihm diese heilige Stätte, von der er doch angenommen hatte, daß die Touel’alfar selbst sie errichtet hatten, gar nicht mehr wie ein Ort des Friedens vor. Eibryan stützte sich schwer auf Falkenschwinge und starrte das Hügelgrab an, und er brauchte einige Zeit, um zu begreifen, daß die Steine viel zu deutlich zu sehen waren, daß es hier einfach zuviel Licht gab. Die Quelle war das Grab selbst, das grünlich glühte! Eibryan verschlug es beinahe den Atem, als einer der oberen Steine sich zu verschieben begann. Er wollte fliehen, nur fliehen; sämtliche Überlebensinstinkte befahlen ihm das. Aber sosehr er es auch wollte, er konnte nicht; irgendeine unbegreifliche Kraft hielt ihn fest. Das Hügelgrab brach auf, merkwürdig langsam und gewaltlos; die Steine rollten einfach nach außen weg und übereinander, bis das Grab auf jeder Seite von einem Wall umgeben war. Das Licht nahm zu und legte verrottete, verblichene Überreste frei, eine leere Hülle, die einst ein Mann gewesen war. Seinen Stock in Verteidigungsstellung vor sich, schien der wachsame Hüter zu allem bereit, was da kommen mochte, doch als der Leichnam plötzlich die Augen öffnete, zwei rote Lichtpunkte nur, da wäre er beinahe in Ohnmacht gefallen –
als er mit ansehen mußte, wie das Ding sich plötzlich aufsetzte, so steif und ungelenk, daß dies allein schon Beweis genug für seine Widernatürlichkeit war. »Weiche von mir, Dämon«, flüsterte der Hüter vergeblich. Als ob an seinem Rücken ein Draht festgemacht wäre, stand der Zombie plötzlich kerzengerade da, ohne seine Hände zu Hilfe genommen, ohne die Beine angezogen zu haben. Eibryan wich einen Schritt zurück – wieder dieser drängende Fluchtinstinkt, diese Furcht, es mit diesem Ungeheuer nicht aufnehmen zu können –, doch dann pflanzte er Falkenschwinge fest in den Boden, um Halt zu gewinnen, um vor diesem untoten Ding nicht ins Wanken zu geraten. »Wer bist du?« verlangte Eibryan zu wissen. »Bist du geschickt worden, um Wohl zu bringen oder Wehe?« Die zweite Frage klang merkwürdig in seinen Ohren, denn welche wohlmeinende Macht würde schon jemanden aus seiner letzten Ruhestätte ins Leben zurückzwingen? Andererseits wußte der Hüter genau, daß dieser Ort geweiht war, daß dieser Leichnam und die Seele, die einst in ihm gewohnt, einem Elfenfreund gehört hatten. Das Wesen hob die Arme und streckte sie dem Hüter entgegen, der nicht sagen konnte, ob es eine drohende oder flehentliche Geste war. Doch dann war das tote Ding, ohne daß seine Beine es dorthin getragen hätten, plötzlich da, unmittelbar vor ihm – war da, kaum einen Fuß entfernt, und krallte ihm seine Knochenfinger um die Kehle! Eibryan versuchte sich aus dem unglaublich starken Griff wegzudrehen, doch vergeblich. Sein Protestgebrüll blieb ihm in der Kehle stecken. Wie sehr er sich plötzlich wünschte, daß Avelyn bei ihm wäre! Daß der Mönch dazwischentreten und dieses verfluchte Ding mit seinen magischen Steinen zu Staub zerblasen würde!
Doch nein, fiel dem Hüter wieder ein. Es war seine Vision gewesen, also war es auch sein Kampf. Seine Panik niederkämpfend brachte Eibryan den Stock nach oben zwischen die Arme des Zombies, packte ihn an beiden Enden und drehte ihn herum, nutzte ihn als Hebel, um den Griff zu brechen. Für einen Moment hatte er schon das Gefühl, daß eher sein Hals brechen würde, aber dann kam er doch noch frei, machte einen Satz nach hinten und schmetterte dem Wesen seinen Stock gegen die Schläfe. Er hätte ebensogut ein Liedchen schmettern können, denn das Monster schien vollkommen unbeeindruckt und streckte wieder diese steifen Arme nach seiner Kehle aus. Eibryan hechtete zur Seite, um etwas Abstand zu bekommen, damit er seinen Bogen spannen und es einmal mit den Pfeilen versuchen konnte. Doch als er aus der Rolle hochkam, war der Zombie schon da, ganz unvermittelt, wie durch Zauberhand. Der Hüter brachte Stock und Arm nach oben, aber der Rückhandschwinger des Wesens war nicht abzufangen. Eibryan taumelte nach hinten. Er warf sich herum und rannte los. Den Kopf eingezogen, um nicht noch einen Schlag abzubekommen – denn wieder war der Zombie schon zur Stelle –, lief er mitten in das Kieferndickicht hinein und schlug so wilde Haken, wie es ihm möglich war. Zweimal stand der Geist dann direkt vor ihm. Einmal entging er dem Schlag, indem er sich auf die Knie warf und dann sofort wieder hochkam und weiterrannte. Beim zweiten Mal erwischte ihn der andere schmerzhaft an der Schulter. Irgendwie schaffte er es, sich freizuwinden, bevor dieser ihn in den Schwitzkasten nehmen konnte, um ihm sämtliche Knochen zu brechen.
Bald war Eibryan am Rand des Wäldchens angelangt und stand vor dem kerzenerleuchteten Feld. Das Monster tauchte gegenüber auf, ein Stück seitwärts. Bei diesem vertrauten Anblick blieb Eibryan der Mund offenstehen. Genau dieses Bild hatte er im Spiegel gesehen, nur daß dort drüben statt seines Onkels ein Zombie stand. Die Szene war zu ruhig, zu friedlich. »Onkel Mather?« fragte er das Ding. Dann war es vor ihm, überaus plötzlich, und ließ seine stocksteifen Arme wie Dreschflegel fliegen, daß Eibryan rückwärts zwischen die Kiefern taumelte. Er spürte warmes Blut aus einem Ohr rieseln und mußte mehrmals den Kopf schütteln, um wieder klar sehen zu können. Dieses Ding, was auch immer es sein mochte, konnte zuschlagen wie ein Riese! Zwischen drei eng beieinanderstehenden Kiefern schlug er einen Haken und nahm zu Recht an, daß der Zombie schon auf ihn wartete. Er riß den Stock hoch und ließ ihn herumwirbeln, daß die Enden schier verschwammen, parierte hier einen der schnellen Schläge des steifgliedrigen Monsters und duckte sich dort unter einem hinweg. So flink war er, daß er sogar selbst ein, zwei, drei Stöße anbringen konnte, einen plötzlichen Schlag gegen die Schläfe des anderen und einen vierten Stoß, diesmal genau zwischen die rotglühenden Augen. Soviel Wucht er auch dahinter setzte, die Treffer zeigten keinerlei Wirkung. Wieder kam dieser Knochenarm herangeflogen, und Eibryan ließ sich verwirrt nach hinten fallen. Er stürzte ins Unterholz, und als er wieder auf die Füße kam, machte er, daß er wegkam. Gegen dieses Monstrum war einfach nichts auszurichten. Vielleicht war es ja der Geflügelte selbst, gegen den er hier kämpfte, vielleicht hatte der Dämon ihn hierhergelockt, um ihm ein für allemal den Garaus zu machen.
Er brach durch ein Gewirr von Ästen, und wieder stand der Zombie vor ihm. Der wenig überraschte Hüter riß im Weiterlaufen hart den Stock nach unten, direkt ins Gesicht dieses Dings hinein. Es scherte sich nicht weiter darum, sondern versetzte Eibryan einen Stoß gegen die Schulter, der ihn seitwärts taumeln ließ. »Warum habe ich eigentlich noch immer kein Schwert?« jammerte der Hüter und landete zu seinem Glück in einigen Zweigen. Wieder nahm er die Beine in die Hand, um etwas Abstand zwischen sich und dieses Wesen zu bekommen, damit er sich endlich eine Strategie zurechtlegen konnte. Vielleicht sollte er tiefer in den Wald hineinlaufen, wo er sich besser auskannte. Diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Wie vergeblich seine Anstrengungen auch scheinen mochten, er hatte dazu beigetragen, daß dieses Ding wieder zum Leben erwacht war, also mußte er auch für dessen Vernichtung sorgen. Er lief durch das Gewirr der Trampelpfade und bog dabei immer wieder irgendwohin ab, damit das Monster seine Bewegungen nicht vorhersehen und plötzlich wieder vor ihm stehen konnte. Die ganze Zeit über näherte er sich in einer ungefähren Spirale dem Herzen des Wäldchens, dem zerstörten Hünengrab. Er platzte durch die letzte Baumreihe in das grüne Leuchten hinaus. Kaum ragte vor ihm das geöffnete Grab empor, da war der Zombie auch schon hinter ihm! Er erhielt einen heftigen Hieb zwischen die Schulterblätter und wurde nach vorn gegen die Grabfelsen geschleudert. Benommen und blutend kämpfte er sich auf die Ellenbogen und sah über die Kante des Grabes. Er wußte, daß er hier nicht liegenbleiben durfte, daß ihn das Monster jeden Moment eingeholt hatte.
Und doch konnte er sich nicht vom Fleck rühren, sondern nur fassungslos in die geöffnete Grube hinabstarren. Dort lag genau in der Mitte, als wäre es der eigentliche Grabinhalt, ein Schwert – und nicht nur einfach ein Schwert, sondern ein Kunstwerk, ein schöner, schimmernder Schatz. Hätte Eibryan es mit der Klingenspitze auf den Boden gestellt, wäre ihm der Kugelknauf am Griffende kaum bis zur Taille gegangen, und die Breite der Klinge betrug kaum mehr als die Entfernung zwischen Knöchel und erstem Gelenk seines kleinen Fingers, aber da war etwas unmißverständlich Solides und Starkes an der Waffe, eine Aura von Macht. Der Hüter streckte den Arm aus, so weit er konnte. Das Schwert war knapp außer Reichweite. Er hörte den Zombie hinter sich. Dann war das Schwert plötzlich in seiner Hand, und Eibryan fuhr herum und beschrieb mit der Klinge einen wilden Bogen. Bläulichweißes Licht, stärker als das grüne Leuchten, umgab die Waffe, und der Zombie wich knurrend zurück. Rasch kam Eibryan auf die Füße und versuchte, einen Blick auf die Klinge zu werfen, ohne seinen gefährlichen Gegner aus den Augen zu lassen. Das Schwert war unglaublich leicht; eine Blutrinne lief die Mitte der Klinge hinab – und diese Klinge, erkannte der Hüter plötzlich, war aus Silberil geschmiedet! Auch das Querstück war aus dem kostbaren Metall der Elfen hergestellt und dazu mit goldenen Spitzen versehen, die sich zur Klinge hochbogen. Das Griffband war aus blauem Leder und eindeutig mit einem Silberil-Faden befestigt. Am wundersamsten jedoch war die ebenfalls aus Silberil gefertigte Kugel, die den Griff als Gegengewicht zur Klinge abschloß, denn in sie war ein Edelstein eingefaßt, wie Eibryan ihn noch nie gesehen hatte – ein blauer Stein mit weißen und grauen Flecken, wie Sturmwolken, die über einen Herbsthimmel
ziehen. Und in diesem Stein war eine Macht zu spüren, ein Zauber, wie er auch in Avelyns Steinen steckte. Eibryan ließ Falkenschwinge zu Boden fallen – er fragte sich, ob er den Bogen wohl je wieder als Stock benutzen würde – und brachte das Schwert vor sich, schwenkte es langsam hin und her, um ein Gefühl für seine Gewichtung zu entwickeln. Mühelos warf er es von einer Hand in die andere, ganz wie beim Schwerttanz, dann machte er einen plötzlichen Ausfall, der den anderen zurückzwang, und malte schließlich einen weit ausholenden Bogen in die Luft, um ihn wieder näher zu locken. Doch der Geist zollte dem Mann neuen Respekt und blieb auf Abstand. Er knurrte, und die roten Lichtpunkte, die seine Augen waren, glühten wild. »Na komm«, sagte Eibryan ruhig. »Du wolltest mich tot sehen, also komm und mach weiter.« Der Geist zog sich in das Gewirr der Äste zurück. Eibryan setzte ihm eilends nach. Aber das Wesen war weg, verschwunden, und der Hüter begriff, daß auch er in Bewegung bleiben mußte, daß der Kampf nun noch mehr von einem Katz-und-Maus-Spiel hatte, denn diesmal waren sie beide die Katze, beide die Maus. Meist blieb er auf den schmalen Wegen, um seine Schnelligkeit ausnutzen zu können, und baute darauf, das Monster zu sehen, bevor es unmittelbar neben ihm war. Er beschloß, auf Umwegen wieder zu dem kerzenerleuchteten Feld zurückzukehren, und war nicht überrascht, bei seiner Ankunft den Zombie dort vorzufinden. Da ging dem Hüter auf, daß es so hatte sein sollen, daß dieser Kampf auf diesem Feld vorherbestimmt gewesen war. Er ging auf das Gebilde zu, und es kam ebenfalls näher, langsam zuerst, dann in rasender Geschwindigkeit, mit Armen wie Dreschflegel.
Eibryan parierte und schlug zu, zog sich ein Stück zurück, warf sich seitwärts in eine Rolle und griff sofort wieder an, grimmig, wütend, das herrliche Schwert vorneweg. Nun trafen seine Hiebe den Zombie wahrhaftig. Die Klinge riß eine klaffende Wunde in das verrottete Fleisch, krachte hart gegen eine Rippe. Der andere entgegnete mit einer weit ausholenden Rückhand, die den sich wegduckenden Eibryan hart an der Schulter erwischte. Aber der zähe Hüter ließ sich nicht bezwingen, sondern richtete sich auf und stieß erneut nach den Rippen, um dann auf den Hals des Monsters zu zielen. Der Zombie hob abwehrend den Arm; der Edelstein des Schwertes flammte vor plötzlicher Energie auf, und über die Klinge fuhr ein Knistern, als habe das Schwert einen Blitz angezogen und wolle ihn nicht mehr loslassen. Die Klinge fuhr durch den Arm hindurch, trennte ihn gleich über dem Ellbogen ab, um dem sich duckenden Zombie dann das Gesicht zu zerfetzen. Geblendet wich der Zombie zurück und heulte schmerzerfüllt auf, aber Eibryan setzte ihm sofort nach und trieb ihm das mächtige Schwert tief in die Brust; dann riß er es wieder heraus und schlug dem Monster das Schlüsselbein entzwei. Der Zombie ging zu Boden und zerplatzte in einem grünen Lichtblitz, der Eibryan nach hinten taumeln ließ. Dann wurde es ihm schwarz vor Augen. Einige Zeit darauf, als es im Osten gerade zu dämmern begann, kam Eibryan wieder zu sich, den Kopf in die Arme gelegt, auf den Fundamentsteinen des intakten Hügelgrabs. »Wieder heil?« fragte er skeptisch. Vielleicht war es ja die ganze Zeit über heil gewesen. Als er aufstehen wollte, mußte er feststellen, daß ihm jeder Knochen im Leib weh tat, und erst da fiel ihm auf, wie durchgefroren er war. Er ließ den Kopf wieder sinken und
fragte sich, ob er wohl hier draußen sterben würde, allein in der Kälte, fragte sich, was ihm einen solchen Alptraum beschert hatte. Dann schoß ihm ein absonderlicher Gedanke durch den Kopf, und er sah auf, starrte zutiefst verblüfft auf das Hügelgrab. »Onkel Mather?« fragte er atemlos und wußte zugleich, daß es stimmte, daß dies das Grab seines Onkels war, des Hüters Grab. Aber war dann alles nur ein Traum gewesen? Das Monster? Das Schwert? Vor lauter Aufregung waren seine Schmerzen wie weggefegt; der Hüter kam mühsam auf die Beine, und als er über die Steine hinwegsah, lag auf dem Boden am Kopfende des Grabs ein wohlbekanntes, prächtiges Schwert. Eibryan streckte die Hand aus und wollte gerade herumgehen, um das Schwert aufzuheben, da kam es schon zu ihm geschwebt, direkt in die geöffnete Hand hinein! Er hielt es empor, bestaunte dieses Stück Handwerkskunst, das schimmernde Silberil, den Knauf mit seinem herrlichen Edelstein, das Blau, die Sturmwolken. »Sturmwind«, flüsterte er, als ihm plötzlich die Bedeutung dieses einzigartigen Edelsteins aufging. Dies war Sturmwind, Mathers Schwert, eines der sechs Schwerter, die die Elfen vor langer, langer Zeit für die Hüter geschmiedet hatten. »Wahrhaftig«, erklang eine melodische Stimme ein Stück hinter und über ihm. Eibryan wirbelte herum und sah Belli’mar Juraviel schmunzelnd auf einem tiefhängenden Zweig sitzen. »Mathers Schwert«, sagte Eibryan. »Nun nicht mehr«, erwiderte Juraviel. »Eibryans Schwert, wohlverdient in finsterer Nacht.« Dem Hüter stockte der Atem.
»Mein alter Freund«, sagte er schließlich, »alle Welt ist verrückt geworden, fürchte ich.« Juraviel nickte nur. Dem konnte er nicht widersprechen.
20. Ein guter Ruf
Der eisige Griff des Winters ließ schließlich doch noch nach, mehr als drei Wochen nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Es fiel noch Schnee, aber er ging oft in kalten Regen über, und der Boden verwandelte sich in eine graue, matschige Masse. Der Wetterwechsel stellte für Eibryan und seine Waldleute keinen reinen Segen dar. Während ihr Leben um einiges angenehmer wurde und sie sich des Nachts nicht mehr so dicht ans Feuer legen mußten, daß sie sich dabei die Augenbrauen versengten, verlieh der nachlassende Griff des Winters den monströsen Invasoren noch größere Beweglichkeit. Nun drangen die Patrouillen tief in den Wald vor, und wenn diese Kundschafter auch oft entdeckt und vernichtet wurden, so wuchs die Gefahr für Eibryan und seine Leute dennoch täglich. Pony war noch immer irgendwo im Süden. Nach drei Wochen jedoch waren Paulson und seine beiden Trapperfreunde mit einem recht gründlichen Bericht über die Bewegungen der riesigen Armee zurückgekehrt. Es war, wie sie befürchtet hatten – die Monster nutzten die eingenommenen Orte als Basis- und Nachschublager, während sie ihre dunklen Fühler weiter nach Süden ausstreckten, um dort bald, wie Paulson überzeugt war, in großer Zahl einzumarschieren. »Dauert keine Woche mehr, bis sie Landsdown angreifen«, sagte Paulson düster. »Es sei denn, wir kriegen noch einen anständigen Sturm.« »Der Winter ist vorbei«, bemerkte Avelyn. »Kein Sturm wird mehr heftig genug sein, um unseren Feind aufzuhalten.«
Eibryan nickte; das hatten ihm Belli’mar und die anderen Elfen – die nur er und der Zentaur zu sehen bekamen, weil sie sich fern der Menschenlager in den Schatten verbargen – auch schon erzählt. »Dann ist Landsdown verloren«, sagte Paulson. »Wir müssen sie warnen«, schlug Avelyn vor und sah den Hüter an, der wiederum zu Paulson sah. »Ein paar Bauern wissen bereits Bescheid«, erklärte dieser, »und deine Kleine ist auch schon mit derselben Nachricht durchgekommen.« Bei dieser spärlichen Neuigkeit spitzte Eibryan sichtlich die Ohren. »Aber werden sie zuhören?« wollte Avelyn wissen. »Wer sollte sie dazu zwingen?« fragte Paulson. Eibryan schloß die Augen, um sich das durch den Kopf gehen zu lassen. In der Tat, die Männer und Frauen der Grenzstädte nördlich von Palmaris konnten schon eine störrische Bande sein! Da beschloß der Hüter, daß es an der Zeit war, sich Belli’mars Truppe zunutze zu machen. Die beweglichen Elfen konnten Landsdown vor den Ungeheuern erreichen, und wenn der Anblick eines Elfen den Dickschädeln dort keinen Funken Vernunft einzuhauchen vermochte, dann sollte Landsdown eben bekommen, was es verdiente! »Um Landsdown kümmere ich mich«, versprach der Hüter und ging zu einem anderen Thema über. »Was ist mit unseren eigenen Leuten?« »Wir haben hundert, denen dieses Leben nicht gerade bekommt«, sagte Bradwarden. »Zäh sind sie allemal, aber wir haben ihnen einfach zuviel abverlangt.« »Gibt es einen Ort, wo sie besser untergebracht wären?« fragte der Hüter. Die drei Trapper waren ratlos; Bruder Avelyn fiel nichts Näherliegenderes ein als St. Precious, die Abtei in Palmaris,
aber wie sie einhundert Leute je so weit nach Süden bringen sollten, ohne daß die Monster es mitbekamen, wußte er nicht. Bradwardens Miene sagte dem Hüter, daß der Zentaur mit demselben Gedanken spielte wie er, daß die Elfen und ihr verstecktes Tal sich hier als wertvoll erweisen mochten. Aber Eibryan, der lange Zeit in Andur’Blough Inninness gelebt hatte, hielt es nicht für wahrscheinlich, daß so vielen Menschen der Zutritt gestattet werden würde, wie verzweifelt ihre Lage auch sein mochte. Belli’mar Juraviel, der mit Abstand freundlichste und am besten mit den Menschen vertraute Elf, hatte es sogar abgelehnt, sich auch nur in einem der Lager blicken zu lassen. Seine Anwesenheit, so hatte er erklärt, würde nur diejenigen verängstigen, die zu dumm seien, um Feind von Freund unterscheiden zu können. »Dann müssen wir den Leuten eben einen solchen Ort schaffen«, beschloß der Hüter, »und sie von unseren Feinden fernhalten, bis wir sie nach Süden hinter die Linien der königlichen Truppen bringen können.« Er sah Paulson, Cric und Eichhorn an. »Kümmert euch darum«, forderte er sie auf, und sie nickten. Gute Soldaten, dachte Eibryan. Die nächste Woche verstrich ereignislos. Eibryan, Bradwarden und Avelyn stießen auf einen Trupp Feuerholz schlagender Goblins und machten ihn vollständig nieder. Als ein Bergriese herangerauscht kam, um die Goblins zu retten, stellte Bradwarden ihm ein Bein, und das erste, was das Ding sah, als es den Kopf hob – und das letzte, was es jemals sah –, waren der ingrimmige Hüter und sein mächtiges, herabfahrendes Schwert. In dieser Woche hatte Eibryan nicht viel mit den Elfen zu tun. Kurz nach der Besprechung mit seinen weniger ungewöhnlichen Anführern hatte er sich mit Juraviel getroffen, und der Elf hatte widerstrebend zugestimmt, eine Handvoll
seiner Leute nach Süden zu schicken, um Landsdown zu warnen. »Ich fürchte, damit werden wir mitten in einen Krieg gezogen, der den Menschen gilt«, hatte Juraviel gestöhnt, worauf Eibryan nur leichthin entgegnet hatte: »Aus eigenem Antrieb.« Am Ende der Woche brachten Juraviel und Tuntun dem Hüter sehr willkommene Neuigkeiten. »Das Volk von Landsdown hat es noch vor den anrückenden Monstern auf die Straße nach Süden geschafft«, erklärte Juraviel. »Nicht einer ist geblieben.« »Und die Armee eures Königs kommt ihnen bereits entgegen«, fügte Tuntun hinzu. »Euch und den euren meinen Dank«, sagte der Hüter feierlich und verneigte sich. »Uns doch nicht!« Tuntun lachte. »Die Stadt war bereits verlassen, als wir dort ankamen.« Eibryan machte ein verwirrtes Gesicht. »Ihr hast du zu danken«, erklärte Juraviel, und wie aufs Stichwort trat Pony aus den Schatten einer dichten Fichte. Eibryan stürzte zu ihr und preßte sie an sich. Es brauchte eine ganze Weile, bis ihm aufging, daß die Elfen sie angekündigt und demzufolge auch getroffen hatten! Er sah wieder zu Juraviel und Tuntun. »Du hattest ihr bereits von uns erzählt«, sagte Juraviel trocken. »Aber ich glaube, sie hat trotzdem einen Schrecken gekriegt«, fügte Tuntun hinzu und stellte erneut eine gute Laune zur Schau, wie er sie von der säuerlichen Elfin gar nicht kannte. »Ich war noch immer in Landsdown, als letzte, da standen die beiden plötzlich vor mir«, erklärte Pony.
Eibryan sah an ihr hinab und stellte erleichtert fest, daß sie unverletzt war, nur schmutzig und müde von dem langen Ritt. »Bis ganz hinunter nach Palmaris«, beantwortete sie seine stumme Frage. »Kein Pferd wird je so schnell dahinfliegen wie Symphony! Er brachte mich ohne Murren bis Palmaris, und zurück ging es genauso schnell. Das Königreich ist gewarnt, die Truppen sind schon unterwegs, und von einem Überraschungsangriff kann unser Feind jetzt nur noch träumen.« Eibryan strich eine verirrte Locke ihres kräftigen, schmutzigen Haars zurück. Dann rieb er ihr sanft einen Schlammfleck von der Wange, und die ganze Zeit sah er ihr in die leuchtendblauen Augen. Wie sehr er sie liebte, sie bewunderte und verehrte! Er wollte sie an sich drücken, wollte sie für immer zärtlich lieben und beschützen – und das war sein Dilemma, denn wenn er diese wunderbare Frau Jilseponie Ault zu beschützen versuchte, dann beraubte er sie ihres innersten Wesens, des Willens und der Stärke, die er so sehr an ihr liebte. »Die ganze Welt kann dir dankbar sein«, flüsterte er und wandte sich zu den Elfen um, aber die welterfahrenen, lebensklugen Wesen waren längst verschwunden, um das Paar nicht weiter zu stören.
»Sie haben gewußt, daß wir in großer Zahl hier draußen sind, und nun fragen sie sich, warum es immer weniger Spuren gibt«, erklärte Eibryan auf seinem Pferd. Avelyn und er hielten sich in den dichten Bäumen am Rand einer Talmulde verborgen, in der der letzte, matschige Schnee lag, ein bläulichweißes Glitzern unter der strahlenden Halbmondin. Schräg gegenüber, im Nordwesten, bewegten sich drei
Gestalten durch die spärlicheren Baumgerippe auf das Tal zu, augenscheinlich Goblin-Kundschafter. »Vielleicht denken sie, daß wir uns allesamt abgesetzt haben«, sagte Avelyn hoffnungsvoll. Tatsächlich waren mehr als zwei Drittel der Menschengruppe weiter nach Osten gezogen, womit Eibryan weniger als vierzig Krieger geblieben waren, die verschwiegenen Elfen nicht mitgerechnet, deren Zahl nicht einmal der Hüter kannte. »Das wäre ein Fehler«, antwortete der Hüter grimmig. Der Klang seiner Stimme ließ Avelyn einen raschen Blick zu ihm hinüber werfen. Erleichtert stellte der Mönch fest, daß das Schwert noch immer in der Scheide ruhte, die an dem Sattel befestigt war, den Belster O’Comely für Eibryan hatte anfertigen lassen, und daß auch der Bogen an seinem Platz war und gleich neben dem wohlgefüllten Köcher emporragte. Dann jedoch ritt Eibryan zur Verblüffung des Mönchs gemächlich aus den Schatten hervor und ein Stück den sanften Südhang hinab, aufs freie Feld hinaus. Gegenüber, vielleicht hundert Meter entfernt, blieben die Goblins wie angewurzelt stehen, dann machten sie hektisch ihre Bogen schußbereit. »Eibryan!« zischte Avelyn. »Komm zurück!« Der Hüter saß ruhig im Sattel wie ein König, ohne seine Waffen auch nur anzurühren. Drei Pfeile stiegen in den Nachthimmel empor und senkten sich viel zu weit vor oder hinter dem Hüter in den Boden. »Sie vermuten nicht einmal, daß wir sie sehen können«, sagte Eibryan ruhig. Er war sichtlich amüsiert. Avelyn eilte zu ihm, wobei er hinter Symphony Deckung suchte. »Wir hätten sie auch besser nicht gesehen«, schnaufte der Mönch, »oder besser noch, sie hätten uns nicht gesehen!« »Nur die Ruhe, mein Freund«, erwiderte der Hüter, als sich der nächste Pfeil in die schneebedeckte Erde senkte, keine
zwanzig Fuß entfernt. Der wackere Hengst hielt absolut still; Eibryan wünschte sich, sein menschlicher Freund besäße ebenso großes Vertrauen. Avelyn spähte unter Symphonys Kopf hindurch und stellte fest, daß die Goblins in der flachen Talsohle angekommen waren, hinreichend geschützt durch die Baumgerippe. »Drei Schüsse auf einmal, und sie haben gute Karten«, bemerkte er und sah zu Eibryan hinauf, der gerade ganz ruhig den Bogen durchzog und dann, beinahe ohne eine Bewegung, einen Pfeil fliegen ließ. Avelyn sah gerade noch rechtzeitig hinüber, um mitzubekommen, wie es einen Goblin in der Brust erwischte. Den Pfeil konnte er natürlich nicht sehen, nur den Ruck, der plötzlich durch den dunklen Umriß ging, bevor dieser nach hinten umfiel. Die anderen beiden wollten sich rasch wieder nach oben auf den Hang zurückziehen und gerieten ins Rutschen. Eibryan saß hoch oben auf seinem Roß, die Bogensehne durchgezogen. »Nun hol sie dir schon«, drängte ihn Avelyn. »Zu unsicher«, antwortete Eibryan. »Der Schuß muß sitzen.« Er sah zu, wie das Goblin-Paar Haken schlug, dann hatte er seine Öffnung gefunden und ließ den Pfeil fliegen, der dem zweiten Goblin direkt in die Schläfe fuhr. Der letzte heulte auf und geriet ins Stolpern, fiel auf die Nase und rutschte bäuchlings wieder ein Stück den Hang hinab. »Ho, ho, hoppla!« jauchzte Avelyn. »Hol ihn dir!« Aber Eibryan hatte den Bogen wieder weggesteckt und saß ruhig im Sattel, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen, als gelte es, einfach nur die schöne Nacht zu genießen und ihren sanften Wind.
»Ho, ho, hoppla«, sagte Avelyn und sah zu, wie der Goblin es den Hang hinaufschaffte und zwischen den kahlen Bäumen verschwand. »Häh?« Eibryan öffnete langsam die Augen und sah zu dem Mönch hinab. »Ein guter Ruf ist alles«, erklärte der Hüter und ließ Symphony kehrtmachen. »Ein guter Ruf?« rief Avelyn. »Du hast ihn einfach davonkommen lassen! Jetzt kann er allen erzählen, daß wir noch nicht weg sind – oder zumindest, daß du noch nicht…« Der Mönch verstummte, und auf seinem runden Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Natürlich, der Goblin würde erst wieder zu laufen aufhören, wenn er im Lager war, und dann würde er allen erzählen, was er gesehen hatte. Den geheimnisvollen Hüter auf seinem mächtigen Hengst. Den Tod, der in den Wäldern auf sie wartete. »Ho, ho, hoppla!« bellte Avelyn voller Bewunderung. »Dann sollen sie eben wissen von Eibryan!« »Nein«, berichtigte ihn der Hüter. »Von Nachtvogel sollen sie wissen. Und fürchten sollen sie ihn.« Avelyn nickte und sah zu, wie der Hüter und sein Reittier mit den Baumschatten verschmolzen. Allerdings, dachte er, die würde er das Fürchten lehren!
Eibryan vollführte seinen Schwerttanz, wie er es so viele Male in Andur’Blough Inninness getan hatte, malte mit der Klinge namens Sturmwind wundersame Zeichen in die Luft, weiche Bögen, nadelspitze Striche – langsame, vollendete Figuren. Ein Fuß folgte dem anderen und übernahm dann die Führung: Schritt, Schritt, Ausfall und Rückzug. Alles war ein einziges schönes Fließen. Er war die Verkörperung des Kriegers, dieser muskulöse nackte Mann, der Gipfel der Harmonie, eins mit seiner Waffe.
Von den Bäumen aus sahen Pony und Avelyn ihm voller Ehrfurcht zu. Sie waren rein zufällig auf die Lichtung gestoßen, und der Mönch, dem Eibryan und seine völlige Nacktheit zuerst aufgefallen waren, hatte noch versucht, Pony in eine andere Richtung zu bugsieren. Aber sie hatte den Mann ebenfalls erblickt, und da war alles Abdrängen vergebens. Eibryan so zu sehen, seine anmutigen Bewegungen, seine tranceartige Konzentration, war wie eine Offenbarung für Pony; als läge sie in seinen Armen und teile die Höhepunkte seiner Leidenschaft und Freude mit ihm. Dies hier war etwas anderes, aber nicht weniger intensiv. Auch dies war eine Vereinigung von Körper und Seele, eine körperliche Meditation, die in gewisser Weise über die Grenzen der normalen menschlichen Erfahrung hinausging, in gewisser Weise heilig war. Avelyn hatte diese Art Übungen schon gesehen – sie unterschieden sich nicht allzusehr von dem, was die Mönche im Hof von St. Mere-Abelle lernten –, aber noch nie einen so anmutigen Tanz wie Eibryans, einen so vollendet harmonischen. Und das Schwert Sturmwind, das mit dem Hüter verwachsen zu sein schien, vergrößerte diese Schönheit noch, hüllte sie in seinen bläulichweißen Schleier, der der schmalen Klinge nach wehte. »Wir sollten allmählich verschwinden«, flüsterte der Mönch Pony zu, als Eibryan in eine lange Ruhephase überging. Pony konnte das nicht verneinen; vielleicht warfen sie ja wirklich einen heimlichen Blick auf etwas, das Eibryan allein gehörte. Doch als der Hüter sich wieder zu bewegen begann, als er das Schwert bis auf die Höhe seiner breiten Schultern hob und eine langsame Drehung beschrieb, mußte Pony feststellen, daß sie ihre Augen gar nicht abwenden konnte. Und Avelyn erging es nicht anders.
Bald darauf war Eibryan fertig und ließ sich ins Gras fallen. Pony und Avelyn schlichen sich davon. Als sich Pony mehr als eine Stunde später mit Eibryan traf, hatte sie schwer damit zu kämpfen, ihr schlechtes Gewissen zu verbergen, das Gefühl, daß sie ihm irgendwie Gewalt angetan hatte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. »Ich habe dich gesehen heute morgen«, gestand sie. Eibryan zog eine Augenbraue empor. »Bei deinen Übungen«, gestand Pony. »Ich – ich hatte nicht vor…« Stammelnd brach sie ab und senkte den Blick. »Und warst du allein?« fragte Eibryan. Irgend etwas in seiner Stimme ließ sie aufblicken, und das leichte Zucken seiner Mundwinkel enthüllte ihr die Wahrheit. »Du weißt längst Bescheid!« warf sie ihm vor. Eibryan griff sich getroffen an die Brust. »Du weißt Bescheid!« sagte sie erneut und versetzte ihm einen klatschenden Schlag gegen die Schulter. »Aber ich wußte nicht, ob du es mir sagen würdest«, erklärte der Hüter ruhig, und Pony wich zurück. »Wir sind versehentlich auf dich gestoßen«, erklärte die Frau. »Wir?« Pony funkelte ihn an. »Ja, du und Avelyn«, sagte Eibryan. Nach einer langen Pause fragte Pony: »Bist du mir böse?« Eibryan lächelte. »Es gibt nichts, was ich vor dir verbergen möchte.« »Aber ich bin dageblieben«, fuhr sie fort. »Ich hab dir bis zum Ende zugesehen.« »Hätte mich auch schwer enttäuscht, wenn du mich so siehst und einfach wieder verschwinden kannst«, sagte er neckend, und plötzlich war alle Anspannung wie weggefegt. Pony umarmte ihn und gab ihm einen langen Kuß. »Wirst du ihn mir beibringen? Den Tanz, meine ich.«
Eibryan sah sie ernst an. »Er war ein Geschenk der Touel’alfar«, erklärte er. »Ein Geschenk, das ich gern an dich weitergeben werde, aber nur mit dem Segen der Elfen.« Pony fühlte sich geehrt und wollte ihn erneut küssen, da nahm sie neben ihnen eine Bewegung wahr. Paulson trat aus dem Dickicht. »Sie müssen die halbe Nacht weitergezogen sein«, sagte er mit Bezug auf einen von Norden kommenden Nachschubtrupp der Goblins, den sie ausgekundschaftet hatten. »Entweder schlagen wir heute zu, oder sie schaffen es nach Weedy Meadow.« »Ziehen sie immer noch am Fluß entlang?« fragte Eibryan. Der Hüne nickte. Eibryan sah Pony an, die wußte, welche Rolle ihr zukam, und ohne weitere Worte davoneilte, um Avelyn zu suchen und die unter ihrem Befehl stehenden Krieger um sich zu scharen. Eibryan schloß die Augen und sandte seine Gedanken in den Wald hinaus, zu Symphony – wie immer in diesen Tagen war der Hengst ganz in der Nähe und graste. »Dann mal los«, sagte der Hüter zu Paulson, »bereiten wir das Schlachtfeld so gut vor wie möglich.« Höheres Gelände gab es nicht mehr auf dem Weg der Karawane, nur die Hügel um Weedy Meadow, und die lagen natürlich zu dicht an der besetzten Ortschaft. Eibryan und seine Streitmacht mußten den Zug weiter oben im Norden abfangen und zerstören, bevor von den bereits in der Gegend stationierten Monstern Hilfe kommen konnte. Es gab kein höheres Gelände, sondern nur dichten Wald und die grauen und braunen Felsen des Uferstreifens. Immerhin stellte wenigstens der Fluß ein Hindernis dar, das ihren Feinden die Flucht erschwerte. »Sind zwei Gruppen«, erklärte Bradwarden, als er zu Eibryan und den anderen stieß, die gerade über den Angriff berieten. »Eine kleine geht vorneweg, hauptsächlich Goblins, denen
aber auch ein Riese hilft. Sie fällen die Bäume und machen den Weg frei.« »Für Wagen?« fragte Eibryan und hoffte, daß er recht hatte. »Für Kriegsmaschinen«, erklärte der Zentaur. »Schleudern. Zwei Riesenapparate auf Rädern, jeder gezogen von drei Riesen.« »Zu viele«, murmelte Paulson, der neben Eibryan stand. Der Hüter sah den Mann an, der gewiß kein Feigling war, und wußte nicht, ob er das verneinen sollte. Sieben Riesen – mindestens – und eine Horde Pauris und Goblins mochten wirklich zuviel sein, um damit fertig zu werden. »Nun ja, angreifen können wir ja auf jeden Fall«, schlug Paulson einen Moment später vor. »Aber wir sollten besser gleich die Beine in die Hand nehmen, wenn das Blatt sich wendet.« Eibryan sah zu Bradwarden. »Was ist mit Kundschaftern?« »Ach, da wimmelt ‘ne ganze Schar Goblin-Ratten zwischen den Bäumen rum«, erwiderte der Zentaur mit einem breiten Grinsen und stocherte mit einem Stock zwischen den Zähnen herum. »Zwei weniger inzwischen«, sagte er schelmisch. Der Hüter machte eine verstohlene Handbewegung, die nur Bradwarden mitbekam; er hielt einen Zeigefinger neben dem Ohr empor und deutete so Spitzohren an, wie die Elfen sie besaßen. Der Zentaur nickte; die Elfen waren nicht weit, und so war Eibryan zuversichtlich, daß seine Truppe und er sich wegen irgendwelcher Goblin-Kundschafter nicht den Kopf zerbrechen mußten. Dann kam Pony angeritten, auf einer rötlichgrauen Stute, einem von mehreren Wildpferden, die bereitwillig einen Reiter akzeptierten. Hinter ihr kam – auf Schusters Rappen, aber klaglos – Bruder Avelyn herangeschnauft.
»Unsere wichtigste Aufgabe ist die Zerstörung der Kriegsmaschinen«, entschied Eibryan. »Denn sie sollen den Städten im Süden Verheerung bringen, wenn nicht gar den hohen Wällen von Palmaris.« Der Hüter ließ sich das bisher Besprochene durch den Kopf gehen. »Wie steht es mit der vorderen Truppe?« fragte er den Zentauren. »Ist ein bunter Haufen«, erwiderte Bradwarden säuerlich, als hinterlasse selbst das Reden über diese Wesen schon einen schlechten Geschmack auf der Zunge. »Ein Dutzend vielleicht. Hacken auf die Bäume ein und reißen sie um, und der Riese schafft zur Seite, was gefallen ist. Häßliche Wichte. Die bring ich allesamt um, wenn du willst.« Das glaubte Eibryan ihm beinahe unbesehen. »Wirst du mit einem Riesen fertig?« fragte er. Bradwarden schnaubte, als stelle allein schon die Frage eine Beleidigung dar. Der Hüter wandte sich an Pony. »Du nimmst zehn und den Zentauren«, erklärte er. »Ihr vernichtet die vordere Truppe, und zwar so schnell wie möglich. Alle anderen nehme ich mit. Wir stellen uns dem Hauptzug in den Weg.« »Gegen sechs Riesen?« fragte Paulson skeptisch. »Um ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen«, erklärte der Hüter, »damit Avelyn die Pauri-Schleudern in Brand setzen kann. Anschließend zerstreuen wir uns, wenn es sein muß, aber ich hoffe, daß bis dahin etliche Monsterleichen zwischen den Trümmern liegen.« »Aber sie haben Kundschafter«, hielt Paulson dagegen. »Vielleicht wissen sie von uns, bevor wir überhaupt in der Nähe sind.« »Die Kundschafter sind tot«, sagte Eibryan bestimmt. Paulson und etliche der anderen starrten ihn an.
»Deine Elfenfreunde?« fragte der Hüne. »Ich weiß wirklich nicht, ob mir das schmeckt.« »Das kannst du mir nach der Schlacht erzählen«, erwiderte Eibryan bissig; dann rief er Pony zu: »Auf mit euch!« Paulson seufzte ergeben. Zu seiner Überraschung forderte Pony ihn mit einem Klaps auf die Schulter auf, sich mit seinen Trapperfreunden ihrer Truppe anzuschließen. »Wir marschieren am Flußufer entlang und greifen sie frontal an«, erklärte Pony dem Hüter im Wegreiten. »Und wir schlagen vom Wald her zu«, erwiderte der Hüter. Er nickte seiner Liebsten zu. Er konnte spüren, wie prickelnde Kampfeslust in ihm aufstieg, und wußte, daß es Pony ebenso erging. Wahrlich, es würde gefährlich werden für sie beide, aber dies war nun einmal ihr Leben, dies war ihr Schicksal, und bei allem Schrecken und aller Angst hatte es doch auch etwas Erregendes. Eibryan mußte die Zähne zusammenbeißen und die vordere Gruppe von Ungeheuern an sich vorbeiziehen lassen, obwohl er bei jedem Axthieb gegen einen der schönen Bäume am liebsten hervorgeschossen wäre und den entsprechenden Goblin erschlagen hätte. Die Goblins und ihr kolossaler Begleiter kamen langsam, aber stetig vorwärts, und bald darauf vernahmen Eibryan und seine Gefährten das Rumpeln der Kriegsmaschinen und das Ächzen der sich in die Taue legenden Riesen. »Haltet euch zurück, bis sie direkt vor uns sind«, befahl der Hüter, »dann laßt eure Pfeile und Speere fliegen. Zielt nur auf die Riesen. Sie sind am gefährlichsten. Wenn wir mit der ersten Welle zwei von ihnen niederstrecken, ist unser Feind schon gehörig im Nachteil.« »Und wenn nicht?« grollte der bärbeißige Tol Yuganick. »Sollen wir uns dann von sechs Riesen zertrampeln lassen?«
»Wir treffen sie so schwer, wie wir gefahrlos können«, erwiderte der Hüter langsam und versuchte, sich seine zunehmende Verärgerung über den streitlustigen Mann nicht anmerken zu lassen. »Und dann fliehen wir, wenn es sein muß. Für einen einzigen Zug wollen wir keine großen Verluste riskieren.« »Du hast gut reden da oben auf deinem schnellen Roß«, schimpfte Tol. »Der Rest von uns darf rennen, und ich glaube nicht, daß man einem Riesen so leicht davonläuft!« Eibryan starrte den Mann wütend an und wünschte sich, Pony hätte ihn mit in ihre Gruppe genommen oder er hätte ihn gleich mit den anderen Flüchtlingen gen Osten geschickt. Tol war ein wackerer Krieger, aber die Zwietracht, die er ständig säte, machte ihn nicht gerade zu einer Bereicherung. »Laßt sie schön nah herankommen«, sagte der Hüter erneut, an den ganzen Trupp gerichtet. »Sie glauben ja, daß sie überall Kundschafter haben, und werden nicht allzu aufmerksam sein. Konzentriert eure Geschosse auf die Riesen an der vorderen Schleuder. Wollen wir sehen, was nach der ersten Welle übrigbleibt.« Dann wandte er sich an Avelyn. »Wie viele brauchst du zu deiner Unterstützung?« Der Mönch schüttelte den Kopf. »Niemanden«, erwiderte er. »Sorgt nur dafür, daß sie vorn genug zu tun haben, dann kümmere ich mich schon um den Rest! Und bleibt mir ja von den Schleudern weg. Ich komm mir heute ganz schön stark vor!« Damit machte sich der Mönch durch das Dickicht davon, und Eibryan hätte beinahe laut aufgelacht, als er sah, welche Leichtfüßigkeit Bruder Avelyn Desbris inzwischen an den Tag legte. Der Mönch hatte seinen inneren Frieden gefunden, ironischerweise inmitten eines Krieges. Was andererseits kein
Wunder war, denn die Schlachten rechtfertigten die Taten endlich, die so schwer auf ihm gelastet hatten. Eibryan wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gelände vor sich zu. Zehn Meter Wald, gefolgt von ein paar Metern gelichtetem Gestrüpp, einem Dutzend Fuß Uferfelsen und dann dem Fluß selbst, dessen Fluten mit der einsetzenden Schneeschmelze gehörig dahinrauschten. Über dem Gesang des Flusses hörte er das Rumpeln der Kriegsmaschinen und schloß aus den widersprüchlichen Geräuschen, die hell und gedämpft zugleich waren, daß sich die Karawane direkt an der Uferkante entlangbewegte. Der Hüter nickte seinen Gefährten zu, die sich rasch zwischen den Bäumen verteilten. Eibryan blieb, wo er war, hinter den ineinandergreifenden Zweigen zweier dicht beieinanderstehenden Hemlocktannen versteckt. Er sah sich nach den Elfen um, die hoffentlich in der Nähe waren. Auf der ganzen Welt gab es keine besseren Schützen als die Elfen, und ihre winzigen Pfeile konnten, wie Eibryan aus eigener Erfahrung wußte, selbst einen Riesen zur Strecke bringen. Weiter vorn gab eine Frau Zeichen, daß der Zug schon sehr nahe war. Eibryan legte einen Pfeil an die Sehne und starrte den Weg hinab, dann stellte er eine Gedankenverbindung mit Symphony her. Das Pferd wieherte leise. Der erste der Riesen kam in Sicht. Zwei weitere folgten dichtauf, wie der erste mit einem Brustgeschirr. Eibryan spürte die aufmerksamen Blicke seiner Gefährten, die auf sein Startsignal warteten. Er war beunruhigt, daß weiter südlich, bei der vorderen Gruppe, kein Kampflärm zu hören war. Doch nun gab es kein Zurück mehr; sie würden darauf bauen müssen, daß Pony die Goblins und den Riesen rechtzeitig daran hinderte, ihnen in den Rücken zu fallen.
Der Hüter ließ den ersten Pfeil schon von der Sehne schnellen, als er Symphony noch in die Flanken trat und das Pferd einen Satz nach vorn machte. Der vorderste Riese grunzte eher überrascht denn schmerzerfüllt auf, als der Pfeil ihm in die Schulter fuhr, und dann schwirrte die Luft um ihn und seine beiden Gefährten herum nur so von einem Dutzend Pfeilen und beinahe ebenso vielen Speeren. Eibryan brachte Pfeil um Pfeil ins Ziel, während Symphony ihn auf das offene Gelände vor dem Zug trug. Als er dort ankam, lag der vorderste Riese tot am Boden, und die anderen beiden suchten sich verzweifelt von ihrem Brustgeschirr zu befreien, während zwei Dutzend Pauris und doppelt so viele Goblins unter lautem Geheul zu ihren Waffen griffen oder in Deckung gingen. Da sprangen mehrere von Eibryans Gefährten hervor, gleich hinter ihm, und alle atmeten erleichtert auf, als hinter ihnen endlich Kampf lärm erklang. Hoch oben auf der vorderen Schleuder stand ein Pauri und brüllte Befehle. Der nächste Schuß des Hüters streckte ihn nieder. Pony stürmte los. Mitten zwischen die Goblins ließ sie ihr Pferd preschen, schlug einem von ihnen mit dem Schwert das Gesicht entzwei und durchbohrte dann einem anderen die Kehle. Dies war der leichte Teil, wie sie wohl wußte, denn ihre Gefährten und sie hatten die Monster überrascht, und die kleinwüchsigen Goblins konnten keine allzu schweren Schläge einstecken. Bevor die Frau überhaupt ihr Schwert geschwungen hatte, lag schon die Hälfte der kleinen Wesen tot oder sich vor Schmerzen windend auf dem Boden. Aber nun kam der weniger leichte Teil mit dem Bergriesen. Mit einem kräftigen Griff in die Mähne ließ sie ihre Stute wenden, als sie sah, daß der Koloß bereits herbeigestampft
kam. Aus dem Augenwinkel sah sie Bradwarden in fliegendem Galopp angreifen. Der Zentaur sang aus vollem Halse und schwenkte seinen riesigen Knüppel so leicht, als handle es sich um einen Spazierstock. Der Riese erwartete ihn schon, aber Bradwarden blieb kurz vor ihm stehen und warf sich herum, wandte dem Monster seinen Schweif zu. In der Annahme, daß der Zentaur es sich anders überlegt hatte und die Flucht ergreifen wollte, versuchte der Riese ihn beim Schweif zu packen, aber da schlugen Bradwardens Hinterbeine plötzlich aus, und die harten Hufe trafen das vorgebeugte Ungeheuer mitten ins Gesicht. Der Riese taumelte auf wackligen Beinen rückwärts. Wild singend griff der Zentaur an und drosch ihm den schweren Knüppel um die Ohren. Dann stürmte Pony vor und schlug dem Riesen eine klaffende Wunde in den Hals. »Hey, du willst mir wohl den ganzen Spaß verderben!« protestierte der Zentaur, während er sich erneut drehte und zum zweiten kräftigen Doppeltritt ansetzte. Diesmal traf er die massige Brust des Riesen, der schlagartig zu Boden ging. Bradwarden schmunzelte, als er sah, wie Pony den nächsten Goblin über den Haufen ritt, als er sah, daß die jämmerlichen Dinger von ihren Gegnern erschlagen wurden wie Fliegen. Vor allem aber schmunzelte er, als er den Riesen sah, der sich hilflos und benommen auf die Ellbogen gezogen hatte, mit schlaff herunterhängendem Kopf. Die perfekte Höhe für einen schönen, flach geführten Schwinger. Der zweite Riese brach zusammen, bevor er es schaffte, aus dem Geschirr herauszukommen. Dem dritten gelang es, aber Eibryan verpaßte ihm einen Pfeil ins Auge, und ein halbes Dutzend weiterer Pfeile trafen ihn in Hals und Gesicht. Auch er ging zu Boden.
Mehr Grund zur Sorge boten die zu ihren Waffen greifenden Pauris und die Riesen vor der zweiten Schleuder, die sich bereits aus ihrem Geschirr befreit und nicht einen Kratzer davongetragen hatten. »Nun mach schon, Avelyn«, flüsterte Eibryan. »Die Zeit wird knapp.« »Da kommt Jilly! Schnell wie der Wind!« rief einer der Männer – genau zur rechten Zeit, wie Eibryan fand, denn um die Moral seiner Truppe war es nicht allzugut bestellt. Wie es aussah, waren die Monster im Süden förmlich überrannt worden. »Konzentriert eure Schüsse auf die Riesen!« brüllte der Hüter, um dann leise hinzuzufügen: »Nun mach schon, Avelyn.«
Bradwarden galoppierte los, um die Frau auf ihrem windschnellen Rotschimmel einzuholen, aber als er Eichhorn erblickte, blieb er schlitternd stehen. Der Mann zog ein paar Dolche aus einer Goblin-Leiche, aber ihm strömten Tränen über die Wangen. »Cric!« weinte der Mann. »Ach, Cric, mein Freund!« Bradwarden folgte seinem Blick zu einem Haufen Goblins, zwischen denen unverkennbar auch ein glatzköpfiger Mann lag. »Er ist tot!« verkündete der kleine, nervöse Mann. »Wo steckt der andere von euch? Der Große?« »Paulson? Irgendwo da vorn«, erklärte Eichhorn. »Er will alles totmachen, was ihm in die Quere kommt, und wenn’s ein Riese ist.« »Dann steig auf, Mann, und zwar schnell!« befahl der Zentaur, und das tat Eichhorn auch. Schon donnerten sie los; Bradwarden ließ ein dröhnendes Lied erschallen, und Eichhorn
drängte seine Tränen hinter eine Mauer flammenden Zorns zurück.
Avelyn kauerte hinter einem Baum, keine zehn Fuß neben der hinteren Schleuder. Der Mönch wußte nicht, was er tun sollte. Zwar waren zwei der Riesen nach vorn gelaufen, wo gekämpft wurde, aber der dritte bewachte die Schleuder, auf der zudem mehrere, zum Teil mit Armbrüsten bewaffnete Pauris standen. Wenn sein Feuerball wirklich etwas ausrichten sollte, mußte Avelyn dichter heran, aber sobald er seine Deckung verließ, wurde er wahrscheinlich gepackt oder niedergeschossen, bevor er die magische Explosion ausgelöst hatte. Der Mönch wußte um die Lage weiter vorn; er wußte, daß Eibryan ihm nicht mehr sonderlich viel Zeit verschaffen konnte, ohne das Leben seiner Kämpfer aufs Spiel zu setzen. Also öffnete er seinen Serpentinschild und sprang, ohne noch viel zu überlegen, zwischen den Zweigen hervor und hechtete unter die Schleuder. Die Pauris schrien auf, und er wußte, daß ihm nicht viel Zeit blieb. Er versuchte sich auf den Rubin zu konzentrieren, auf das Ansteigen der Energie. Dann kniete der Riese neben der Schleuder, das Gesicht am Boden, und streckte seinen langen Arm nach Avelyn aus. Dem blieb nichts anderes übrig, als sich wegzurollen. Aber nicht allzu weit, dann bremste ihn schon ein neben ihm vom Boden abprallender kleiner Armbrustbolzen. Er warf einen Blick nach hinten und sah, daß zwei Pauris unter die Kriegsmaschine geklettert kamen, die Speere im Anschlag. Avelyn schloß die Augen und betete inbrünstig. Schon spürte er die prickelnde Energie des Rubins, die nur darauf zu warten schien, endlich freigesetzt zu werden; schon spürte er den
plötzlichen, sengenden Schmerz, mit dem die Zwergenspeere ihn jeden Moment zu durchbohren drohten. Avelyn riß die Augen auf und starrte dem Riesen direkt in die häßliche Visage. »Ho, ho, hoppla!« brüllte der Mönch ausgelassen, und Buuuum! wurde die Schleuder von einem Feuerball verschlungen, der die Pauris hinter dem Mönch verbrannte und den Riesen vor ihm blendete. Die große Holzkonstruktion brannte wie Zunder; die Pauris, die eben noch ahnungslos auf ihr gestanden hatten, sprangen mit einem Aufschrei hinunter und wälzten sich auf dem Boden herum, um die Flammen zu ersticken. Ein unglückseliger Zwerg tat dies direkt vor dem brüllenden Riesen. Immerhin, es erstickte die Flammen, als der kleine Kerl von dem riesigen gestiefelten Fuß plattgetreten wurde. Der brennende Riese verschwendete keinen Gedanken auf den Zwerg, sondern rannte blindlings umher und schlug verzweifelt auf die Flammen ein. Er lief in einen jungen Baum, daß es nur so krachte, fiel jedoch nicht um – was Pech war, stellte doch der Erdboden seine einzige Chance dar, der Flammen Herr zu werden –, sondern rannte davon. Avelyn hielt den Serpentin fest umklammert, während um ihn herum brennende Holzstücke herabprasselten. Vor dem Rauch konnte der Stein ihn jedoch nicht schützen, darum beschloß er, lieber unter der brennenden Kriegsmaschine hervorzukrabbeln. Er hatte es schon bis zur einen Seite geschafft, da gab ein Rad unter den Flammen nach, und die gigantische Schleuder kippte knarrend zur Seite und klemmte den Mönch ein. »Ho, ho, hoppla«, ächzte Avelyn und versuchte sich wieder zurückzuschieben. »Autsch! Hilfe!« Avelyns Explosion trug einiges dazu bei, das Kräfteverhältnis auszugleichen; nun standen Eibryans Dreißig lediglich zwei Riesen und zwei Dutzend Pauris gegenüber. Doch selbst das war für den Hüter inakzeptabel. Auch wenn er nur ein Fünftel
seiner Streitmacht verlor, wäre das für diesen einen Sieg noch immer zuviel. Er hielt Pony zurück, die auf ihrer starken Rotgrauen herangeprescht kam, und wollte gerade zum Rückzug rufen, da donnerte Bradwarden an ihnen vorbei, auf den Lippen einen Schlachtgesang und auf dem Rücken einen fauchenden Eichhorn, die Dolche gezückt. »Halt!« rief Eibryan dem Zentauren zu, doch da erhob sich plötzlich ein Summen um sie herum, ein Geräusch, das der Hüter als das Schwirren zahlloser ebenso zierlicher wie tödlicher Elfenbögen erkannte. Von der vorderen Schleuder stürzten mehrere Pauris hinab. Bradwarden warf sich dem vorderen Riesen entgegen, wobei ihm Eichhorn mit mehreren rasch aufeinanderfolgenden Dolchwürfen den Weg bereitete. Sie waren allesamt auf das Gesicht des Kolosses gerichtet, und dort schlugen sie auch ein, und hinter ihnen steckte sämtliche Wut, die sich in dem Mann aufgestaut hatte. Der Riese heulte schmerzerfüllt auf und verbarg sein zerstörtes Gesicht in beiden Händen, und Bradwarden schlug so heftig zu, daß der Koloß umfiel wie ein Kegel. Da war Eibryans Truppe nicht mehr zu halten und der wild dreinschauende Paulson schon gar nicht. Er packte den nächstbesten Pauri beim Speer und schleuderte ihn fünfzehn Fuß weit gegen einen Baum, daß der Schädel laut zerbarst. Der letzte Riese lief in die Wälder davon; auch die Pauris wollten mit dieser wilden Horde nichts mehr zu tun haben und machten, daß sie wegkamen. »Nehmt die zweite Schleuder auseinander!« befahl Eibryan seiner Truppe. »Und verfüttert ihre Balken an Avelyns Feuer.« »Wo steckt Avelyn überhaupt?« fragte Pony, als ihre Rotgraue neben Symphony trottete. »Im Wald bei den Elfen, schätz ich«, sagte Eibryan. »Vielleicht setzen sie dem Riesen nach.«
Wie aufs Stichwort knarrte die brennende Schleuder erneut und kippte noch etwas mehr. Eibryan starrte sie an. Irgend etwas stimmte da nicht. »Nein«, murmelte der Hüter und ließ sich von seinem Pferd gleiten. Erst ging er auf das brennende Ding zu, dann begann er zu laufen, und schließlich krabbelte er auf allen vieren so dicht an die hochstehende Seite der Schleuder heran, wie er konnte. Eibryan spähte durch den dichten Rauch. Da waren zwei Leichen zu sehen, glücklicherweise Pauris. »Aber was hatten die unter der Schleuder überhaupt zu suchen?« fragte der Hüter mit plötzlichem Schrecken und sprang auf. »Bringt mir einen Balken!« rief er wild gestikulierend. »Einen Hebel! Rasch!« »Avelyn«, flüsterte Pony, als ihr aufging, was ihren Geliebten so in Unruhe versetzte. Der Kampf war fast vorüber – der Zentaur und eine Handvoll Männer hatten bereits damit begonnen, die intakte Schleuder zu zerlegen. Bradwarden, der sich an dem langen Arm der Schleuder und dem großen Gegengewicht zu schaffen machte, hörte den verzweifelten Ruf des Hüters. Eichhorn schlug den letzten Befestigungszapfen heraus, und mit der Kraft eines Riesen hob der Zentaur den gewaltigen Balken empor. Die Männer beeilten sich, ihm zu Hilfe zu kommen, doch selbst als alle anpackten, konnten sie den Balken gerade mal über den Boden zu Eibryan zerren. »Seile an die andere Seite«, befahl dieser und begann mit Hilfe einiger Männer ein Ende des langen Balkens unter die höhere Seite der brennenden Schleuder zu setzen. »Sie muß auf die Seite gelegt werden, und zwar schnell!« Sie zogen, sie hoben mit all ihrer Kraft. Auf der anderen Seite der Kriegsmaschine legten sich Symphony und Ponys graurote Stute in die Seile. Und endlich kam Bewegung in die
Schleuder. Sie ächzte protestierend, und dann fiel sie um. Orangegelbe Funken stoben in alle Richtungen. Da lag Avelyn, reglos und rußbedeckt. Eibryan eilte zu ihm, alle anderen ebenfalls; Pony drängte sich zu dem Mann durch, den sie liebgewonnen hatte wie einen Bruder. »Er atmet nicht!« rief Eibryan und preßte ihm die Hände auf die Brust, um die Atmung wieder in Gang zu bringen. Pony versuchte es anders; sie durchwühlte den Beutel des Mönchs, bis sie endlich den Hämatit gefunden hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie vorgehen sollte; Avelyn hatte ihr nie gezeigt, wie man mit diesem höchst gefährlichen Stein arbeitete. Sie betete zu Gott, sie flehte um Beistand, und dann spürte sie – obwohl sie nicht den Eindruck hatte, die Kräfte des Steins auch nur ansatzweise wachgerufen zu haben – eine wohlmeinende Hand und sah hinab. Der Mönch blickte sie an und lächelte schwach. »Ho, ho, hoppla!« hustete Avelyn und würgte schwarzen Schleim hervor. »Ganz schöne Hitze!«
»Die Marschordnung war beeindruckend«, gestand Eibryan gegenüber Belli’mar Juraviel und Tuntun, als die Elfen viel später in jener Nacht mit ihm an Avelyns Ruhelager saßen. Avelyn öffnete ein schläfriges Auge, um seine neuesten Gefährten zu beobachten. Natürlich hatte er gewußt, daß die Elfen in der Nähe waren – jeder im Lager wußte es –, aber einen leibhaftigen Touel’alfar hatte er noch niemals zuvor gesehen. Er schloß die Augen wieder und blieb liegen, weil er die kleinen Wesen nicht verschrecken wollte. Zu spät; Eibryan hatte es bemerkt.
»Ich fürchte, daß deine Weltuntergangsprophezeiungen mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten«, sagte er und schüttelte Avelyn leicht, um ihm zu verstehen zu geben, daß er angesprochen wurde. Avelyn öffnete ein Auge, schaute jedoch nicht Eibryan an, sondern die Elfen. »Darf ich dir Belli’mar Juraviel und Tuntun vorstellen«, sagte der Hüter höflich, »zwei meiner Lehrer, zwei meiner engsten Freunde.« Avelyn riß beide Augen auf. »Na, dann sehr erfreut«, sagte er laut, was ihn jedoch so sehr anstrengte, daß er prompt wieder einen Hustenanfall bekam. »Dasselbe gilt für uns, guter Mönch«, sagte Juraviel. »Was du mit den Steinen vermagst, läßt neuen Mut schöpfen.« »Und wird auch bitter nötig sein«, fügte Tuntun hinzu. »Denn es liegt eine Finsternis über der Welt.« Das wußte Avelyn nur zu gut, das hatte er schon kurz nach seinem Weggang von St. Mere-Abelle gewußt – hatte es, rückblickend, seit seiner Reise nach Pimaninicuit gewußt. Er schloß die Augen wieder und lag einfach nur da, zu erschöpft, um über Derartiges zu reden. »Wir wissen ohne jeden Zweifel, daß diese Monster nicht einfach nur auf Beutezug sind, sondern Teil einer zusammenhängenden und organisierten Streitmacht«, stellte Eibryan fest. »Jemand führt sie an«, stimmte Tuntun zu, »und hält sie zusammen.« »Darüber sollten wir uns ein andermal unterhalten«, sagte Juraviel und deutete auf den Mönch, der wieder eingenickt zu sein schien. »Fürs erste gilt es, naheliegendere Schlachten zu führen.« Die beiden Elfen nickten und schlüpften leise aus dem Zelt, huschten lautlos an den schlafenden Soldaten und
aufmerksamen Wachtposten vorbei, waren für das ganze Lager nicht mehr als ein Rascheln von Blättern oder der Schatten eines Vogels. Eibryan wachte die ganze Nacht an Avelyns Bett, doch der Mönch rührte sich nicht. Er hatte sich in Grübeleien verloren, manchmal auch in Träumen, und ließ sich immer wieder durch den Kopf gehen, was er von der Dunkelheit wußte, die sich über das Land gesenkt hatte, von dem geflügelten Dämon und der Finsternis in den Herzen der Menschen.
»Unser Herr wird nicht zufrieden sein«, winselte Gothra, der einhändige Führer des Goblin-Heeres, und lief hektisch in dem kleinen Raum auf und ab. Ulg Tik’narn sah ihm angewidert dabei zu. Der Heerführer der Pauris hatte wenig für Goblins übrig und noch weniger für nervöse Jammerlappen. Andererseits teilte er Gothras Einschätzung der Lage durchaus, und das war mehr, als sich über Maiyer Dek sagen ließ. Dem Riesen ging jedes Gespür für ihre zunehmend verzweifelter werdende Lage ab. Wohl waren die Dörfer eingenommen worden, ja; aber es waren zuwenig Menschen dabei getötet worden, und dieser mysteriöse Nachtvogel und seine Freunde rieben jeden Nachschubzug aus dem Norden gänzlich auf, was dem gnadenlosen Geflügelten nicht entgangen war – die Ankunft des Geistes, der sich Bruder Richter nannte, war dafür Beweis genug. Und Ulg Tik’narn war sich darüber im klaren, daß die Störmanöver seitens der Menschen hauptsächlich ihm angelastet werden würden. Aber dem Pauri fehlte es nicht an eigenen Verbündeten, und es fehlte ihm auch nicht an einem Plan.
21. Ein Ort von besonderem Interesse
»Stümpfe!« klagte der Zentaur und trampelte umher, daß das Wasser in den Pfützen nur so spritzte. »Nichts als Stümpfe!« Er ließ seinen schweren Prügel in den Schlamm klatschen. Der strömende Regen hatte den letzten Schnee in Matsch verwandelt und alles aufgeweicht. »Sie fällen die Nadelbäume nördlich von Dundalis«, erklärte Eibryan Pony grimmig. »Im ganzen Tal.« »Dann ist der Tag nur um so grauer«, erwiderte sie und sah in die ungefähre Richtung dessen, was einst ihr Zuhause gewesen war. Von allen Orten in diesem Landstrich übertraf nur Eibryans geheimes Wäldchen noch die Schönheit des Kieferntales mit seiner Rentierflechte, ohne jedoch ähnlich wehmütige Erinnerungen in der jungen Frau wachzurufen. »Wir werden ihnen Einhalt gebieten«, sagte der Hüter prompt, als er ihr schönes Gesicht von tiefem Schmerz gezeichnet sah. Dann jedoch seufzte er, denn genau über diese Frage waren Bradwarden und er sich gerade uneinig gewesen. Der Zentaur wollte zum Kampf blasen, Eibryan dagegen hatte den Verdacht, daß der Kahlschlag nicht mehr als eine Falle darstellte. Sie waren inzwischen ein beachtlicher Stachel im Fleisch der einmarschierenden Armee, und den MonsterHeerführern in Dundalis und den anderen Ortschaften mußte zweifelsohne sehr daran gelegen sein, ihn ein für allemal zu ziehen. Goblins waren dumme Geschöpfe, Pauris jedoch nicht, und Eibryan traute ihnen durchaus zu, daß sie wußten, welchen Stellenwert Schönheit im Leben der Menschen besaß. »Ist zu nah bei Dundalis«, sagte Pony traurig. »Die Verstärkung wäre schon da, bevor wir mit ihren Holzfällertrupps fertig sind.«
»Aber wenn wir ihnen tüchtig eins draufgeben, daß sie laufen wie die Hasen«, argumentierte Bradwarden erneut, »dann denken sie vielleicht zweimal nach, bevor sie sich wieder dorthin wagen!« Pony sah Eibryan an, den Nachtvogel. Dies war sein Spiel, hier hatte er das Sagen. »Ich würde sie sehr gern angreifen«, sagte sie leise, »und sei es auch nur aus Ehrfurcht vor den Landen, die sie verwüsten.« Eibryan nickte grimmig. »Was ist mit Avelyn?« »In seinem Zustand ist ans Kämpfen nicht zu denken«, erwiderte Pony mit einem Kopfschütteln, das Wassertropfen aus ihrer durchnäßten Mähne regnen ließ. »Und er ist mit den Juwelen beschäftigt – um in die Ferne zu schauen, wie er sagt.« Damit mußte Eibryan sich zufriedengeben. Ganz gleich, was Avelyn tat, es war von großem Wert; schließlich war der Mönch mindesten ebensosehr mit dem Herzen dabei wie Eibryan oder jeder andere hier draußen. »Mehr als eine Handvoll Pferde kann Symphony uns nicht bringen«, überlegte der Hüter laut. »Wir nehmen nur so viele mit, wie reiten können, und nur Freiwillige.« »Meine Rote wird mich tragen«, sagte Pony. »Und ich reite auch, wenn ich zu Fuß bin.« Der Zentaur lachte. Eibryan schmunzelte kurz, dann schloß er die Augen und sandte seine Gedanken durch den Regen und die Bäume zu dem schwarzen Hengst, der nicht allzu weit entfernt war. Keine Stunde darauf waren im Wald sieben Reiter und ein Zentaur unterwegs und näherten sich auf verschlungenen Pfaden dem Kieferntal. Wie Eibryan wußte, waren auch die Elfen mitgekommen, um über jeden ihrer Schritte zu wachen und als stumme Kundschafter zu dienen.
Ohne Zwischenfall gelangten sie zum Nordhang des Tals, in dem zwei Dutzend Pauris, ebenso viele Goblins und zwei Riesen munter Bäume fällten. Dies war eine der wenigen Zeiten des Jahres, in denen der Boden des Tals braun war, denn die Rentierflechte wuchs noch nicht, und der ganze Schnee war geschmolzen. Nichtsdestotrotz war der Anblick der kargen, geraden Nadelbäume beeindruckend und gemahnte den Hüter und Pony an die Schönheit dieses Ortes, den sie in ihrer Jugend so geschätzt hatten. »Wir schleichen uns an, schlagen zu und machen, daß wir wegkommen«, erklärte Eibryan seiner Truppe, wobei er jedoch Paulson ansah. Dem Hünen, der über den Verlust seines Freundes noch nicht hinweg war, war durchaus zuzutrauen, daß er geradewegs durch das Tal ritt, um Dundalis anzugreifen und alles niederzumähen, was ihm in die Quere kam. »Unsere Aufgabe hier ist es nicht, sie allesamt umzubringen – dafür sind wir zu wenige –, sondern sie aufzuschrecken und in die Flucht zu schlagen, in der Hoffnung, daß sie sich fürderhin nicht mehr aus dem Schutz des Dorfes hinauswagen.« Pony, Paulson und Eichhorn ritten mit Eibryan links hinab, während die anderen drei Bradwarden nach rechts begleiteten. Der Wind frischte auf und brachte noch mehr Regen mit. Wie aus Kübeln klatschte es herunter, und im Nu waren Rösser und Reiter bis auf die Knochen durchweicht. Aber Eibryan kamen die Fluten durchaus gelegen. Den Monstern erging es auch nicht besser als ihnen, und das Tosen des Sturms würde jedes Geräusch ihres Näherkommens verschlucken, vielleicht sogar den ersten Kampflärm. Der einzige Nachteil war, daß die Elfen, die gerade weiter unten am Hang Stellung bezogen, mit ihren Bögen einige Schwierigkeiten haben würden. Aber das ließ sich nicht ändern. Der Hüter suchte sich seinen Weg durch die niedrigen Kiefern, noch ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, wo die Monster wüteten. Dann war heute
eben ein Tag für Schwerter, und Eibryan bereitete es wahrlich Wohlbehagen, Sturmwind zu ziehen und quer über den Schoß zu legen. Die Klinge war rasch gezückt, als der Hüter eine buschige Fichte umrundete und feststellte, daß durch die Zweige ein Zittern lief. Belli’mar Juraviel steckte seinen Kopf hervor; hinter Eibryan schnappten Paulson und Eichhorn, die bisher noch keinen der Elfen zu sehen bekommen hatten, hörbar nach Luft. »Hinter dem Grat wimmelt es nur so von ihnen«, sagte Juraviel zu dem Hüter. »Viele Riesen darunter, mit Steinen zum Werfen! Macht, daß Ihr wegkommt, und zwar schnell!« Bevor Eibryan zu einer Antwort ansetzen konnte, verschwand der Elf zwischen den dichten Zweigen, und als es gegenüber raschelte, wußte Elbryan, daß Juraviel den Baum auf der anderen Seite verlassen hatte und wahrscheinlich längst weg war. »Eine Falle«, zischte der Hüter seinen drei Gefährten zu und trat Symphony in die Flanken. Die vier lockerten ihre Formation und stießen plötzlich auf eine Gruppe Pauris und Goblins, die verdattert zu ihnen emporstarrten. Elbryan beugte sich aus dem Sattel und schlitzte einem Monster das Gesicht auf, einem anderen trieb er die Klinge im Vorbeidonnern in die Brust. Eichhorn erwischte eines mit dem Dolch im Auge und trennte einem anderen, das sich wegzuducken suchte, ein Ohr ab, während Pony mitten durch ein Trio Goblins preschte, das umgehend die Flucht ergriff. Paulson erledigte seine Arbeit nicht im Vorbeireiten. Einen Pauri holte sich der bärige Kerl mit den Hufen seines Pferdes, einem anderen spaltete er mit seinem schweren Beil den Schädel. Angriffslustig brüllend schwenkte der Hüne zur Seite und umrundete einen Baum, nur um mitten in einen Bergriesen
zu krachen, was Roß und Reiter mehr zurückprallen ließ als den Koloß. Paulson stürzte aus dem Sattel in den Schlamm und sah genau in dem Augenblick wieder nach oben, als der leicht benommene, doch bei weitem nicht besiegte Riese sein Pferd zur Seite schob und die gewaltige, stachelbewehrte Keule hob. Da wußte Paulson, daß er dem armen Cric bald Gesellschaft leisten würde.
Er hatte kaum Kraft und war übel zugerichtet, aber er konnte nicht länger warten. Er, seine Freunde, die ganze Welt, alle brauchten sie Antworten, mußten sie wissen, was der genaue Grund für diese Invasion war. Also ließ sich Bruder Avelyn in seinen mächtigen Hämatit fallen, ließ seinen Geist sich von dem zerschundenen Körper lösen, um mit dem Wind dahinzufliegen. Er sah nach Süden, nach Dundalis und zu der Schlacht im Tal. Er sah die kampfbereiten Monster auf dem Hügel, die ihren Angriff organisiert begannen wie eine Armee – und nicht wie ein Zusammenschluß raubender und brandschatzender Stämme. Avelyn konnte nichts tun als beten, daß Eibryan und seine Reiter die Schnelligkeit und das Glück hatten, rechtzeitig wegzukommen. Dann richtete er seine Gedanken wieder nach Norden, und schon schoß er davon. Rasch war der Kampf lärm hinter ihm verklungen, und der Wald raste unter ihm dahin. Wie frei er sich fühlte! Genau wie damals, an jenem längst vergangenen Tag vor einer Million Jahren und in einem anderen Leben – so kam es ihm vor –, als Meister Jojonah ihn zum ersten Mal in die Lage versetzt hatte, seine sterbliche Hülle zu verlassen, und
er über St. Mere-Abelle geschwebt war und die Verzierung des Klosterdaches erblickt hatte. Doch der Anblick eines weiteren mit Kriegsgeräten beladenen Zuges, der eindeutig nach Süden unterwegs war, fegte diese friedlichen Betrachtungen hinweg. Er ließ den Sturm hinter sich, den Regen, doch wenn der Himmel auch freundlicher war, die Landschaft vor den Augen des Mönchs, die schroffe Bergwelt Barbakans, war es nicht. Avelyn spürte das Böse, fürchtete das Böse und wußte plötzlich, daß er diesen finsteren Ort, wenn er ihn erst aufsuchte, nie wieder verlassen würde. Sein Geist bewegte sich dennoch auf Barbakan zu, angetrieben von dem Drang des Mönchs, endlich Bescheid zu wissen. Er schwebte die schroffe Bergkette hinauf, den gewachsenen Südwall Barbakans, und erblickte dahinter eine Finsternis, wie nicht einmal eine mondlose Nacht sie bot. Wenn zehntausend Ungeheuer nach Süden marschiert waren, dann mußte hier die fünffache Zahl lagern. Das Tal war schwarz von Kriegern, vom Südwall bis zu der Ebene zwischen den schwarzen Armen eines einzelnen rauchenden Berges ein paar Meilen weiter oben im Norden. Ein rauchender Berg! In ihm war der Zauber geschmolzenen Gesteins aktiv, der Zauber der geflügelten Dämonen. Avelyn mußte nicht mehr näher heran, und doch fühlte er sich dazu gezwungen. Vielleicht war es ja seine Neugierde, die ihn weitertrieb. Nein, begriff er plötzlich, es war weder Neugierde noch die trügerische Hoffnung, an Ort und Stelle mit dem Geflügelten kämpfen zu können. Und doch konnte er nicht innehalten. Dieser einsame, rauchende Berg, er zog ihn an, er rief ihn… Er war bemerkt worden, das war die einzig mögliche Antwort! Der Dämon hatte seine geistige Gegenwart gespürt und versuchte ihn heranzulocken und zu vernichten. Dies zu
begreifen stärkte Avelyn den Rücken, und so wandte er sich ab, den weiten Südlanden zu. »Du bist gekommen, um dich uns anzuschließen.« Es war eher eine telepathische Botschaft als eine echte Stimme, und doch erkannte Avelyn den Sprecher sofort. Er schwang wieder herum, und dort, hinter einer Felsklippe, stieg der Geist des Mannes empor, der all diese Jahre an seiner Seite im Kloster studiert hatte, der mit ihm nach Pimaninicuit gefahren war, um an der Herrlichkeit ihres Gottes teilzuhaben, und der nun so abgrundtief gesunken war. »Um dich uns anzuschließen«, hatte Quintall gesagt. Um dich uns anzuschließen. »Du dienst dich Dämonen an«, rief Avelyn. »Ich habe die Wahrheit gesehen«, entgegnete Quintall. »Das Licht in den Schatten, das die Lügen bloßlegt – « »Du bist verdammt!« Avelyn konnte spüren, wie sehr das Quintall amüsierte. »Ich stehe auf der Seite des Siegreichen«, versicherte dieser. »Wir werden euch bekämpfen! Auf jeder Meile und jedem Fingerbreit!« »Eine kleinere Unannehmlichkeit, mehr nicht«, erwiderte Quintall. »Noch während wir hier plaudern, sind dein mächtiger Held und deine hochgeschätzte Weggefährtin am Verrecken. Ihr werdet weder siegen, noch werdet ihr entkommen.« Er brach abrupt ab, als Avelyn kochend vor Zorn zum Angriff überging und sich gegen die durchscheinenden Umrisse des bösen Geistes warf. Sie rangen miteinander, und ihr Kampf war ebensosehr einer der Willensstärke wie der Geisteskraft, und beide verdankten sie ihre Kraft dem Glauben, Avelyn dem Glauben an seinen Gott, Quintall dem Glauben an den Geflügelten. Aneinander zerrend und reißend glitten sie über die kahlen,
winddurchtosten Felsen Barbakans hinweg und durch sie hindurch. Quintalls Macht war die Finsternis des Dämons – kalt war sie und entzog seinem Gegner die Lebenskraft. Avelyns Macht war die grellen Lichtes – sie verbrannte seinen Feind. Todesqualen standen sie aus, und doch erlangte keiner von beiden einen Vorteil. Sie trudelten durch die Lüfte, und schließlich machten sie sich wieder voneinander los, um einander voller Abscheu zu umkreisen. Avelyn wußte, daß er nicht gewinnen konnte, nicht hier, wo der Geflügelte so nah war; und die Vorstellung, daß der Geist etwas über Eibryan und Pony wußte, das ihm nicht bekannt war, bekümmerte Avelyn zutiefst. Und, was noch schlimmer war, ihr Kampf drohte ungewollte Aufmerksamkeit von seiten des rauchenden Berges auf sich zu ziehen, und wenn der Geflügelte über ihn kam, während er mit diesem bösen Geist stritt, dann stand ihm seine sichere Vernichtung bevor. Diese Möglichkeit schreckte ihn merkwürdigerweise kaum; wenn er in einer Schlacht gegen das Böse sein Leben ließ, dann würde er bereitwillig zu Gott eingehen. Aber der Mönch durfte nicht nur an sich selbst denken, denn die anderen hinten im Wald mußten erfahren, was er nun wußte, mußten erfahren von dem rauchenden Berg und dem Barbakan, dieser Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen. Er würde seinen Kampf schon noch bekommen, beschloß Avelyn, doch erst, wenn die Welt angemessen gewarnt war. »Du bist verdammt, Quintall«, sagte er zu seinem bösen Feind, aber der Geist lachte nur und schoß vor. Avelyn widerstand dem Drang, sich ihm entgegenzustellen, und flog eilends gen Süden. Hinter ihm verklang das Hohngelächter Quintalls, der fälschlicherweise annahm, daß der Mönch vor lauter Angst die Flucht ergriffen hatte.
Avelyn hoffte, daß er und Quintall wieder aufeinandertreffen würden.
Pony und Eichhorn setzten ihren wilden Ritt im Zickzack um die Kiefern herum fort, Pony mit blitzendem Schwert, Eichhorn mit einem scheinbar endlosen Strom von wirbelnden Wurfmessern. Und wenn sie ihre Waffen nicht einsetzen konnten, trieben sie ihre kraftvollen Stuten an und ritten die hilflosen Pauris oder Goblins, die ihnen in die Quere kamen, einfach über den Haufen. Selbst die Ungeheuer, die einen kühlen Kopf bewahrten und einen günstigen Schußwinkel auf die Reiter zu bekommen versuchten, konnten gegen die schiere Kraft und Geschwindigkeit der Pferde nichts ausrichten. »Zu mir! Zu mir!« hörte Pony Bradwarden rufen und ritt prompt zu dem Zentauren und seinen drei Gefährten hinüber. Eibryan hingegen folgte seinem Ruf nicht. Paulsons Verschwinden hatte ihn nicht überrascht; der Mann war von seiner Trauer und Wut zu sehr vereinnahmt gewesen, und tatsächlich fürchtete der Hüter sogar, daß es ein Fehler gewesen war, ihn so kurz nach Crics Tod überhaupt mit hierhergenommen zu haben. Was den Hüter jedoch überraschte, war die Feststellung, daß Paulson nicht freiwillig zurückblieb, daß er sich durch den Schlamm kämpfte und verzweifelt versuchte, den Keulenschlägen eines Riesen zu entgehen. Eibryan trat Symphony in die Flanken und griff an. Da er Falkenschwinge nicht griffbereit hatte, konnte er zu seinem Bedauern keinen schmerzhaften Pfeil vorausschicken. Also benutzte er sein Pferd als Geschoß und krachte dem Riesen voll in die Flanke, als dieser sich bückte, um besser an Paulson heranzukommen.
Der Riese fiel in den Schlamm; Symphony hatte einige Mühe, blieb jedoch auf den Beinen. »Lauf!« rief Eibryan dem Mann zu, und das ließ sich der entsetzte Paulson nicht zweimal sagen. Blind vor Regen und Furcht kämpfte er sich durch die Kiefernzweige. Er stürzte in den Schlamm, kämpfte sich aber bereits verzweifelt wieder hoch, als er noch gar nicht aufgeschlagen war, wild mit Armen und Beinen rudernd. Eibryan versuchte ihm den Rücken zu decken und dachte kurz daran, ihn einzuholen und hinter sich in den Sattel zu ziehen, mußte aber einsehen, daß dieses Manöver sie zuviel Zeit kosten und dem hartnäckigen Riesen gestatten würde, sich auf sie zu werfen. Und Eibryan hatte keine Zeit dafür, gegen einen solchen Feind anzutreten, nicht hier, nicht jetzt, denn der gesamte Südhang des Tals wimmelte von Monstern, darunter auch etlichen Riesen, von denen die meisten gleich säckeweise mit Steinen bewaffnet waren. Schon bedachten sie die ganze Talsohle mit ihren Wurfgeschossen, daß der Schlamm nur so spritzte. Damit brachten sie eher ihre kleinwüchsigen Kumpane in Gefahr als einen der acht Angreifer, aber diese Tatsache vermochte an ihrer Taktik nicht das geringste zu ändern. Zu Eibryans Erleichterung waren Pony, Bradwarden und die anderen bereits dabei, sich den Nordhang hinauf in den Schutz des dichteren Waldes zurückzuziehen. Kurz hinter ihnen folgte Paulsons reiterloses Pferd, und wenn Eibryan auch froh über sein Entkommen war, so freute ihn doch der Anblick des Tieres nicht. Nun würde Paulson den ganzen Weg aus dem Tal hinaus zu Fuß machen müssen, und das war nicht zu schaffen, solange hinter ihm nicht Eibryan und Symphony für einige Verwirrung sorgten. Also machte der Hüter flugs seinen Bogen bereit, um im Zickzack um die Kiefern zu reiten und einen Pfeil
abzuschießen, wann immer ein Monster seine häßliche Visage zeigte. Dieses Schießen und Hakenschlagen betrieb er etliche Minuten, aber allzu rasch war die Zeit nicht mehr auf seiner Seite. Immer mehr Ungeheuer strömten in die Talsohle, und seine Fluchtmöglichkeiten verringerten sich zusehends. Ein rascher Blick nach hinten, und er sah Paulson, der sich den Südosthang hinaufschleppte – zumindest hielt er den dunklen Flecken dort oben für Paulson, denn gleich dahinter folgte der große Umriß des hartnäckigen Riesen. Damit blieb keine Zeit mehr, und so ließ er Symphony dicht um den nächsten Baum herumreiten – bei der Gelegenheit verlor ein im Geäst versteckter Pauri durch einen gutgezielten Bogenhieb rasch noch ein Auge – und machte, daß er hinter Paulson und dem Riesen herkam. Überall um ihn herum schmetterten Felsbrocken Äste von den Bäumen und fuhren klatschend in den Schlamm, und das Gebrüll von einhundert Monsterkehlen folgte ihm aus dem Tal. Aber dieses Gebrüll verklang rasch, denn Symphonys fliegende Hufe hatten die Verfolger bald abgehängt, und sein großes Glück trug den Hüter auch unter dem Steinregen hindurch. Als sie den Grat erreichten, machte Eibryan weiter vorn den plumpen Riesen aus, und schon ging es zwischen die Gerippe der blattlosen Bäume hinab. Paulson hatte Pech; er stolperte über eine Wurzel und landete bäuchlings im Dreck. Hinter sich hörte er den Riesen, der wohl schon mit der stachelbewehrten Keule ausholte, siegessicher auflachen und bedeckte seinen Kopf mit den Händen, obwohl er wußte, daß ihm das auch nicht viel nutzen würde. Der Riese hatte seine tödliche Waffe tatsächlich bereits zum Schlag erhoben, als ihm ein Pfeil tief in den Rücken fuhr und aus bösem Gelächter ein Aufschrei wurde. Wütend wirbelte der Koloß herum.
Eibryan stand auf dem Rücken seines Hengstes, der in vollem Galopp voranpreschte. Der Hüter zog sein Schwert. Der Riese stand bei zwei ausladenden Ulmen, deren schwere, kräftige Kronen ineinandergewachsen waren. »Sei schnell und präzise«, sagte der Hüter zu Symphony, der seinen Plan genau begriff. Der Hengst preschte an der vorderen Ulme vorbei, und Eibryan machte einen Satz und lief sicheren Fußes die regennassen Äste entlang. Der Riese starrte verwundert das plötzlich reiterlose Pferd an, das da auf ihn zugedonnert kam, gab sich dann aber nach einem Moment des Nachdenkens damit zufrieden und hob die Keule. Im allerletzten Moment wich das Pferd scharf zur Seite aus. Erst als er sich vorbeugte, um es doch noch zu erwischen, bemerkte der tumbe Kerl die Gestalt, die gleich neben ihm über die Äste huschte. Ein bläulichweißes Blitzen, und Eibryans Klinge zog dem Monster einen roten Strich über die Kehle. Mit einem Brüllen richtete der Riese sich auf und ließ die Keule hinabsausen, doch Eibryan hatte sich bereits rückwärts von dem Ast fallen lassen, in dessen Holz sich nun die Stacheln senkten. Ein Stück darunter kam Eibryan zum Vorschein, bohrte dem Riesen seine Klinge ins Fleisch und schlug sie ihm dann, während der noch verzweifelt an seiner feststeckenden Keule zerrte, von unten in die Lenden. Aber was für den Riesen viel schlimmer war als der stechende, sengende Schmerz dort unten, war die klaffende Wunde am Hals, die wild sein Blut verspritzte und ihn am Luftholen hinderte. Seine Wut nutzte ihm nichts mehr, als er mit dem vielen Blut auch seine Kraft verlor. Er ließ die Keule los, griff sich an die aufgeschlitzte Kehle und stolperte rückwärts. Nur verschwommen bekam er mit, daß dieser
verdammte Mensch wieder auf seinem Pferd saß und der andere, den er schon gehabt hatte, hinter ihm aufstieg. Der Riese streckte die Hände nach ihnen aus, aber da spielten ihm seine Sinne bereits einen Streich, denn die beiden Männer waren volle zwanzig Fuß entfernt. Der Riese streckte und streckte sich nach ihnen, bis er vornüberfiel. Er hörte das Hufgetrappel im Wald verklingen, hörte den fernen Ruf einer Menschenfrau, und dann war da nur noch Schweigen. Und pechschwarze Nacht.
22. Was Geister enthüllten
»Es war eine Falle, für euch bestimmt, die ihr einst in Dundalis lebtet«, sagte Juraviel. Der Elf saß mit Pony und Eibryan an Mathers Grab. Auch Tuntun und die übrigen Elfen, die Juraviel zufolge bald nach Andur’Blough Inninness zurückkehren würden, befanden sich in dem rautenförmigen Wäldchen. »Woher sollten sie das wissen?« fragte Eibryan, der einfach nicht glauben wollte, daß der Kahlschlag im Kieferntal eigens für sie erfolgt war. »Sie können es sich denken. Dundalis war leer, als sie dort ankamen. Also müssen viele der Krieger, die ihnen jetzt das Leben schwermachen, aus Dundalis stammen«, antwortete Juraviel. »Da ist es nur folgerichtig anzunehmen, daß das Tal im Norden des Dorfes von besonderer Bedeutung oder gar eine heilige Stätte ist.« »Nein«, widersprach Pony. »Sie würden es nicht für wichtiger als die Ortschaft selbst halten, und die haben wir doch verlassen.« »Und ich bezweifle, daß Pauris irgendeinen Sinn für Schönheit haben«, fügte Eibryan hinzu. »Von Goblins und Riesen ganz zu schweigen.« Angesichts dieser einleuchtenden Argumente verfiel Juraviel in Schweigen. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum die Monster ausgerechnet dieses Tal heimgesucht hatten. Eibryan ging es genauso, denn das Fällen der Nadelbäume war ein völlig sinnloser Akt. Die Holzausbeute war für die Monster zu nichts zu gebrauchen; für Schleudern waren die Fichten und Kiefern zu kurz, für Feuerholz zu feucht und
harzig und für irgendwelche Bauten zu biegsam. Warum marschierten die Pauris mitten durch den tiefen Wald, in dem es zahlreiche höhere Bäume aus härterem Holz gab, um ausgerechnet diese Nadelbäume zu fällen? Der einzig mögliche Schluß war, daß sie ihre Feinde und vor allem Jilseponie und ihn anlocken wollten, denn für sie beide hatte das Tal wahrlich etwas Heiliges. Aber auch das wollte dem Hüter nicht in den Kopf, ein solcher Plan war einfach zu feinsinnig. Woher sollten die Ungeheuer solche Dinge über die Anführer ihrer Feinde wissen? »Sie haben es gewußt«, erklärte Eibryan kategorisch. »Sie müssen es einfach gewußt haben.« »Woher?« wollte Juraviel wissen. Ein Pfiff aus den Bäumen – von Tuntuns Lippen, wie sie erkannten – warnte sie, daß Besuch kam, und einen Moment darauf schlenderte Bruder Avelyn zu ihnen hinüber. Er sah viel besser aus und schien wieder ganz der alte zu sein. »Ho, ho, hoppla?« sagte Pony neckisch, was dem Mönch ein Lächeln entlockte. »Sie haben es gewußt«, sagte er und ließ sich auf die Erde plumpsen. »Sie wissen viel über uns. Zu viel.« »Wie hast du das herausgefunden?« fragte Juraviel. »Ein Geist hat es mir gesagt«, erwiderte Avelyn. Eibryan spitzte die Ohren; vielleicht hatte der Mönch ja Verbindung zu Onkel Mather gehabt. »Während eures Kampfes im Tal bin ich weit nach Norden gereist«, erklärte der Mönch. »Und jetzt kann ich euch sagen, daß die Streitmacht, die über uns gekommen ist, nur so etwas wie die Vorhut darstellt, eine Sondierungsarmee, und daß unser Feind, der Geflügelte, uns noch ein Vielfaches an Soldaten auf den Hals schicken kann.« »Dann sind wir verloren«, flüsterte Pony.
»Unser Feind hat noch einen weiteren Verbündeten«, fuhr Avelyn fort und sah Eibryan an. »Den Geist des Mannes, den du zu meiner Rettung getötet hast.« »Bruder Richter«, vermutete der Hüter. Avelyn nickte. »Sein Name lautet Quintall«, sagte er, denn der andere Titel klang in seinen Ohren inzwischen nur noch lachhaft. »Bevor wir miteinander kämpften, habe ich ein paar Worte mit diesem Geist gewechselt, und ich sage euch, er wußte Bescheid über uns, über Pony und dich.« »Er und ich haben auch einmal miteinander gekämpft«, erinnerte ihn der Hüter. Aber Avelyn schüttelte den Kopf. »Er wußte, daß ihr in Schwierigkeiten wart dort unten im Tal. Er prophezeite, daß ihr alle beide sterben würdet.« »Also war es eine Falle«, sagte Juraviel. »So ist es«, erwiderte Avelyn. »Sie wußten, wie sie uns am besten kriegen konnten – oder zumindest euch zwei.« »Aber wie?« wollte Pony wissen. »Bruder – Quintall hat uns bei weitem nicht so gut gekannt, daß er über unsere Vorliebe für das Kieferntal Bescheid wissen konnte.« »Vielleicht war er auf Besuch hier, der Geist«, tönte es aus einem Baum neben ihnen. Dort saß Tuntun auf einem Ast und ließ die Beine baumeln. So einleuchtend ihre Vermutung auch klang, Avelyn war sich einigermaßen sicher, daß er die Gegenwart eines Geistes gespürt hätte. »Vielleicht«, sagte er. »Oder könnte es sein, daß Quintall nicht der einzige war, der der Finsternis anheimgefallen ist?« Für die kleine verschworene Gruppe, in der eines jeden Leben in den Händen der anderen lag, konnte nichts besorgniserregender sein als der Verdacht, einen Verräter unter sich zu haben. Tausend Fragen schossen Eibryan durch den Kopf, während er sich jedes Mitglied seiner Truppe vor Augen
rief, und den anderen erging es genauso. Als er schließlich sogar an der Loyalität Bradwardens zu zweifeln begann, begriff der Hüter, wie närrisch diese Angelegenheit war. »Wir wissen nichts dergleichen«, verkündete Eibryan nach einer langen Gesprächspause. »Wahrscheinlich hat der Geist unseren Feinden als Spion gedient. Oder die Pauris sind gerissener, als wir zunächst annahmen. Vielleicht haben sie Gefangene gemacht und ihnen unter der Folter Wissen abgepreßt.« »Ganz bestimmt niemanden aus Dundalis«, hielt Pony dagegen. »Niemanden, der wissen kann, wie sehr uns das Tal am Herzen liegt.« »Das ist alles reine Spekulation«, beharrte der Hüter. »Und gefährliche noch dazu. Wie sollen wir weitermachen, wenn keiner mehr dem anderen traut? Nein«, entschied er, und sein grimmiger Tonfall zeigte, daß er in diesem Punkt zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, »diesem Verdacht werden wir niemanden von uns aussetzen. Solange sich keine greifbaren Beweise finden lassen, darf darüber außerhalb unserer gegenwärtigen Runde nicht gesprochen werden.« »Aber wir sollten auf der Hut sein«, meinte Avelyn. »Wird als nächstes dieses Wäldchen dran glauben müssen?« stellte Pony eine Frage, die Eibryan sichtlich beunruhigte. »Die ganze Welt wird dran glauben müssen«, stellte Tuntun die richtige Perspektive her, »wenn sich Avelyns Worte als wahr erweisen.« »Das werden sie«, erklärte der Mönch. »Ich sah sie in größerer Zahl versammelt, als ich mir je hätte träumen lassen.« »In größerer Zahl, als es ihnen ihre Natur je gestattet hätte«, pflichtete Juraviel ihm bei, »wäre da nicht eine waltende Hand über ihnen.« Pony, die an dem vorangegangenen Gespräch an Avelyns Bettstatt nicht teilgenommen hatte, schien nicht zu verstehen.
»Ein Bündnis zwischen Pauris und Goblins ist nur von kurzer Dauer, solange sie nicht von einer höheren Macht, einem größeren Übel zusammengehalten werden«, erklärte Juraviel. Pony sah zu Avelyn und mußte an die gemeinsamen Wochen unterwegs denken, an all seine düsteren Prophezeiungen, an die ständig von ihm beschworene Schwachheit, die über die Welt gekommen sei, und an den Namen, den er dieser Schwachheit gegeben hatte. »Der Geflügelte?« fragte sie. »Bist du sicher?« »Der Geflügelte ist erwacht«, sagte Avelyn, ohne zu zögern. »Wie wir in Caer’alfar befürchtet haben«, fügte Juraviel hinzu. »Aber ich dachte, der Geflügelte sei die Schwäche in den Herzen der Menschen«, überlegte Pony, »und kein leibhaftiges Wesen.« »Er ist beides«, erklärte Avelyn und rief sich die in St. MereAbelle erhaltenen Lektionen ins Gedächtnis zurück. Welche Ironie, daß ausgerechnet jene Männer, denen er sein Wissen über den Geflügelten verdankte, durch ihre Schwäche und Gottlosigkeit ihr Scherflein zu dessen Wiederkehr beigetragen hatten. »Es ist die Schwäche des Menschen, die dem Dämon die Wiederkehr gestattet, aber wenn er dann da ist, ist er ein leibhaftiges und sehr mächtiges Wesen, das den Willen derjenigen beherrschen kann, die nicht reinen Herzens sind, das die Monsterhorden befehligen und jemanden wie Quintall in Versuchung bringen kann, einen jeden, der von Gott abgefallen ist.« »Es gibt mehr Götter als den deinen«, warf Tuntun trocken ein. »Ja, und alle sind sie ein und derselbe Gott«, erwiderte Avelyn rasch, da er die Elfe nicht hatte beleidigen wollen. »Ein Gott mit verschiedenen Namen vielleicht, doch mit ähnlichen Geboten. Und wenn diese Gebote falsch ausgelegt werden«,
fuhr der Mönch mit düsterer Stimme fort, »wenn sie für persönliche Zwecke mißbraucht werden oder als Mittel zur Ausbeutung und Unterdrückung anderer, dann gnade Gott uns allen, denn dann erwacht der Geflügelte aus seinen Träumen.« »Finstere Zeiten«, stimmte Juraviel ihm zu. Der Hüter sah zu Boden, aber nicht aus lauter Verzweiflung, sondern weil er nachdenken mußte. Zwar entzogen sich solche philosophischen Gespräche durchaus nicht seinem Verständnis, aber er hatte sich über anderes Gedanken zu machen, hatte einen Schritt nach dem anderen zu gehen, um diesen Leuten, die sich in seine Obhut begeben hatten und eher zwei denn einhundert Köpfe zählten, ein guter Anführer zu sein. Im Moment gab es dringlichere Probleme als irgendein Hunderte von Meilen entferntes mythisches Monstrum. Den in ihrer Mitte befürchteten Verräter zum Beispiel.
»Sie wußten Bescheid, Onkel Mather«, flüsterte Eibryan, als dieser ihm erschien. »Sie wußten, daß eine Schändung des Tals auch mich verletzen, ja vielleicht sogar aus dem Versteck locken würde. Doch wie können sie mehr von mir wissen als den Namen Nachtvogel, aus dem ich nie einen Hehl gemacht habe, wenn ich gegen sie ritt? Wie konnten sie wissen, daß mir ausgerechnet dieses Tal am Herzen liegt?« Der Hüter lehnte sich gegen die Rückwand der winzigen Höhle und schwieg, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden. Zwar erwartete er keine Antwort, aber er hoffte, daß der Anblick seines Onkels ihm wieder einmal helfen würde, Ordnung in seine Gedanken zu bringen und eine Lösung zu finden. Da tauchte in dem Spiegel – oder nur vor seinem geistigen Auge? – eine andere Gestalt auf, die eines Mannes, der an dem Kampf im Kieferntal hatte teilnehmen sollen und dann jedoch
eine Erkrankung vorgeschoben hatte. Eibryan, dem der Mann kerngesund erschienen war, hatte sich kurz über diesen plötzlichen Anflug von Feigheit gewundert; dann jedoch hatte er die Angelegenheit aus Zeitmangel auf sich beruhen lassen. Nun rief er sich noch einmal die Rückkehr seiner angeschlagenen Truppe ins Hauptlager vor Augen: Paulson, wie er erschöpft von Symphonys Rücken fiel, Pony, die sich gegen Bradwarden lehnte, als hielte sie nur noch der Zentaur im Sattel. Und im Spiegel sah er, was ihm zu diesem Zeitpunkt nebensächlich erschienen war: einen angeblich erkrankten Mann am Rand des Lagers und, was wesentlich wichtiger war, dessen Gesichtsausdruck, der ihm zu jenem Zeitpunkt kaum aufgefallen war, nun aber nicht deutlicher sein konnte. Der Mann war überrascht. Zutiefst überrascht, sie wiederzusehen.
Mit großer Umsicht, die er während seiner Jahre bei den Touel’alfar gelernt hatte, folgte er Tol Yuganick in einer dunklen Nacht aus dem Lager, einige Tage nach dem abgebrochenen Überfall. Der Hüne, der erklärt hatte, noch etwas Feuerholz sammeln zu wollen, sah immer wieder über die breiten Schultern nach hinten. Es lag auf der Hand, daß er sichergehen wollte, daß ihm niemand folgte. Gegen Eibryans elfenhafte Lautlosigkeit vermochte seine Vorsicht jedoch wenig auszurichten, und so war Tol sichtlich völlig ahnungslos, was seinen Verfolger anging, als er sich, keine zwei Meilen von ihrem gegenwärtigen Versteck entfernt, mit einem säbelbeinigen Pauri traf. »Ich habe getan, was ihr wolltet«, hörte Eibryan den Hünen klagen. »Ich habe sie euch ans Messer geliefert wie versprochen.«
»Bah! Den Hüter und diese Frau hast du uns versprochen. Von anderen Kriegern oder diesem verfluchten Zentauren ist keine Rede gewesen!« »Habt ihr im Ernst geglaubt, Nachtvogel wäre so dumm, ganz allein bis kurz vor Dundalis zu kommen?« »Schweig!« herrschte der Pauri ihn an. »Paß auf, was du sagst, Tol Yuganick; Bestesbulzibar ist nicht fern, und glaub mir, ihn hungert nach Menschenfleisch.« Der seltsame Name ließ Eibryan aufhorchen. Ihm entging nicht, wie blaß der rotwangige Tol plötzlich wurde. Der Hüter hatte keine Ahnung, wer oder was Bestesbulzibar sein mochte, aber er begann bereits einen beachtlichen Respekt vor diesem Feind zu empfinden. »Wir müssen Nachtvogel aus dem Weg räumen«, sagte der Pauri, »und zwar bald. Mein Herr weiß um unsere hiesigen Probleme, obwohl wir weit hinter der Front sind, und er ist nicht zufrieden.« »Das ist dein Problem, Ulg Tik’narn, und nicht meines!« grollte Tol. »Du hast mich benutzt, Pauri, und das hat einen fauligen Geschmack in meinem Mund hinterlassen, der sich mit keinem Fluß der Welt mehr wegspülen läßt, und tränke ich ihn ganz!« Eibryan nickte. Wenigstens bereute der Mann seine verräterischen Handlungen. »Und mit dir und diesem geflügelten Teufel bin ich ein für allemal fertig!« Er machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon. »Ach, und mit dem Geist, der dich in deinen Träumen heimsucht, wohl auch?« fragte der Pauri hinterhältig. »Der auf den leisesten Wink Bestesbulzibars gehorcht?« Tol Yuganick blieb stehen und wandte sich wieder um. »Und was würde Nachtvogel wohl tun, wenn er von deinem Verrat erführe?« fragte Ulg Tik’narn.
»Wir hatten eine Abmachung«, protestierte Tol. »Wir haben eine Abmachung«, korrigierte ihn Ulg Tik’narn. »Du tust, was ich sage, Menschendreck, oder mein Herr vernichtet dich, wie es schlimmer nicht geht.« Tol sah zu Boden, und der Kampf zwischen Pragmatismus und Gewissen ließ sein Gesicht wild zucken. »Verloren bist du ohnehin«, fuhr der Pauri fort und kicherte. »Da gibt es kein Zurück mehr, da läßt sich nichts wiedergutmachen. Du hast uns Nachtvogel einmal ans Messer geliefert, und nun wirst du es wieder tun, Fratzengesicht, denn solange er nicht tot ist, hast du keine ruhige Minute mehr. In jedem einzelnen Traum wird Quintall dich heimsuchen, und wohin du dich auch wendest, Bestesbulzibar der Allmächtige wird schon auf dich warten.« Eibryan verschlug es glatt den Atem, als ihm aufging, welch großen Eindruck er mit seiner kleinen Gefolgschaft auf den Herrn dieser Monsterarmee gemacht haben mußte. Der Name des abtrünnigen Mönchs war ihm natürlich nicht entgangen, und da der Geist Quintalls dem Pauri zufolge kaum mehr als ein Werkzeug Bestesbulzibars war, hatte der Hüter so seine Vermutung, um wen es sich bei diesem Wesen handelte. »Da gibt es ein Wäldchen«, begann Tol zögernd. »Es hat die Form einer Raute.« Die Worte brachten Eibryans Blut in Wallung; bevor er es noch recht merkte, hatte er schon einen Pfeil an der Sehne, dessen Spitze genau zwischen Tols Verräteraugen zeigte. »Es bedeutet dem Hüter sogar noch mehr als das Tal. Ganz gleich, wie schlecht die Chancen stehen, er würde nie tatenlos zusehen, wie ihr es zerstört.« Eibryan wollte den Mann nicht umbringen. So schwach Tol auch war, der Hüter wollte ihn nicht ohne Erklärung erschießen, nicht ohne daß er erfahren hatte, welche Drohungen den Mann derart hatten umdrehen können.
Dem Pauri gegenüber hegte er jedoch kein solches Mitgefühl, und so drehte er den Oberkörper ein klein wenig, fletschte die Zähne und ließ den Bogen schwirren. Schnurgerade sauste der Pfeil die zwanzig Fuß durch die Luft. So schien es jedenfalls, denn im letzten Moment beschrieb er einen Haken und blieb tief in einem Baumstamm stecken. Im Nu war Ulg Tik’narn im dunklen Wald verschwunden, aber bevor Tol sich noch rühren konnte, stand schon der Hüter vor ihm, Sturmwind in der Hand. Ein rascher Blick zu dem fliehenden Zwerg sagte Eibryan, daß von diesem im Augenblick keine Gefahr ausging. Tol hingegen hielt sein gewaltiges Schwert in der Hand und sah Eibryan nervös an. »Ich habe es gehört«, sagte der Hüter. »Alles.« Tol antwortete nicht, sondern sah sich nur kurz nach einem Fluchtweg um. »Nachts im Wald wirst du mir kaum davonlaufen können«, sagte Eibryan ruhig. »Dann machen wir’s eben umgekehrt«, erwiderte der Hüne. »Ich wollte deinen Kopf, seit wir uns das erste Mal begegnet sind, also hau lieber ab, bevor ich ihn mir hole!« Eibryan hörte, welche Furcht aus diesen barschen Worten sprach. Tol hegte nicht den Wunsch, mit ihm zu kämpfen, hegte nicht den Wunsch, sich Sturmwind zu stellen. »Wirf deine Waffe zu Boden«, sagte Eibryan langsam. »Ich habe nicht vor, an Ort und Stelle über dich zu richten. Kehre mit mir ins Lager zurück und sprich offen über deine Verbrechen; dann wollen wir sehen, welches Urteil die Leute über dich verhängen.« Tol schnaubte spöttisch. »Ich soll die Waffe fallen lassen, damit ihr mir um so leichter den Strick um den Hals legen könnt?« fragte er. »Wohl kaum«, erwiderte der Hüter. »So gnadenlos sind die Leute nicht.«
Tol spuckte ihm vor die Füße. »Ich gebe dir noch eine letzte Chance zur Flucht«, sagte er. »Tu das nicht«, warnte Eibryan, aber da stürzte sich Tol schon mit einem wilden Schwerthieb auf ihn. Eibryan ließ Sturmwind tanzen und wehrte die unbeholfenen Ausfälle mit Leichtigkeit ab. Als der Hüne ihm das Schwert entgegenstieß, brachte er die Spitze seiner schmaleren Klinge dicht an Tols Schwertgriff heran und wich gleichzeitig flink zur Seite aus. Eine Drehung mit dem Handgelenk, ein weiter Armschwung, und Tols Waffe flog durch die Luft, um in eine schlammige Pfütze zu klatschen. Der Hüne keuchte verzweifelt auf und sah sich um. »Tu das nicht«, sagte Eibryan, aber da stolperte Tol schon davon. Eibryan riß das Schwert hoch über den Kopf zurück, holte damit zum Wurf aus. Aber er warf es nicht, denn als Tol den ersten Baum passierte, schossen dahinter zwei muskulöse Pferdebeine hervor, und als die Hufe ihn seitlich am Kopf trafen, wurde er gegen den Stamm eines breiten Eschenbaums geschleudert. Bradwarden trat auf die kleine Lichtung. »Ich bin ihm hierher gefolgt«, erklärte Eibryan. »Und ich bin dir gefolgt«, erwiderte der Zentaur. »Und ich trug Avelyn auf meinem Rücken. Achte das nächste Mal auch ein bißchen auf deinen Arsch, wenn du jemandem im Nacken sitzt.« Eibryan sah sich um. »Und wo steckt der Mönch?« »Jagt einen Pauri«, erklärte Bradwarden. »Der Kleine ist so gut wie tot, hat er gesagt.« Eibryan sah zu Tol hinüber. Der Mann saß schwer gegen den Stamm gelehnt da, offensichtlich kaum bei Bewußtsein. »Ich habe nicht vor, ihn zu richten«, sagte der Hüter.
»Willst also wieder Gnade walten lassen, wie bei den drei Trappern.« »Die es, wie man sieht, auch verdient hatten.« »Aye«, gab Bradwarden zu. »Aber das läßt sich über den hier nicht sagen. Der ist rettungslos verloren. Seine Untat darf nicht verziehen werden, sage ich. Um die eigene Haut zu retten, wollte er uns allesamt an das Böse verraten.« Der Zentaur sah zu Tol hinüber. »Und das weiß er auch. Du erweist ihm gewiß weniger Gnade, wenn du ihn mit seiner Schande auch noch leben läßt.« »Ich werde mich hier nicht als Richter aufspielen.« »Ich aber«, sagte Bradwarden entschlossen. »Vielleicht gehst du jetzt besser, mein Freund. Avelyn könnte deine Hilfe brauchen, und vielleicht willst du das hier nicht mit ansehen.« Eibryan starrte den blutgierigen Zentauren grimmig an, aber er wußte zugleich, daß es nicht in seiner Macht stand, an dessen Entschluß zu rütteln. Und so heilig ihm die Tugend der Gnade auch war – wegen Tol Yuganick, der wahrhaftig tief gesunken war, würde er sich nicht mit Bradwarden anlegen. Er sah wieder zu Tol, der kaum etwas mitbekam und sich wahrscheinlich ohnehin tödliche Verletzungen zugezogen hatte. »Laß Gnade walten«, sagte der Hüter zu Bradwarden. »Er bereut seine Entscheidung.« »Die er bereitwillig getroffen hat.« »Selbst wenn das wahr ist«, entgegnete Eibryan, »so steht Gnade dem Gerechten gut an.« Bradwarden nickte düster, und Eibryan klaubte seinen Bogen auf und rannte in die Nacht davon, dem fliehenden Pauri nach, obgleich er Avelyn durchaus zutraute, allein mit ihm fertig zu werden. Er hatte noch keine zehn Schritte getan, da hörte er hinter sich einen dumpfen Schlag, den Tritt eines Zentauren
gegen einen Kopf, der an einem Baumstamm lehnte, und er wußte, daß es vorbei war. Übelkeit stieg in ihm auf, aber das war auch schon alles. Hier draußen standen einfach zu viele Menschenleben auf dem Spiel. Tol hatte sich entschieden, und Tol hatte für seine Entscheidung bezahlt. Bald darauf stieß er hinter einer Biegung des dunklen Weges auf eine Bande Pauris, von denen die meisten tot am Boden lagen. Einige wenige zuckten noch. Als dem Hüter aufging, daß sie von einem Blitz erschlagen worden waren, wußte er, daß es nicht mehr weit sein konnte. Er hielt inne und wandte seine Sinne der Nacht zu, und da hörte er ganz in der Nähe Stimmen. Flink und doch leise lief er weiter und hatte Avelyn bald entdeckt, der gerade einem weiteren Pauri den Garaus machte. Der dicke Mönch hatte sich den Zwerg unter den Arm geklemmt und rammte dessen Kopf wieder und wieder gegen einen Baumstamm. Eibryan wollte schon stehenbleiben, da nahm er weiter vorn auf dem Weg eine Bewegung wahr. Dies war der letzte Pauri – derjenige, der mit Tol Yuganick gesprochen hatte, Ulg Tik’narn. Auf ein Knie gleitend, legte Eibryan seinen Bogen an. Wieder saß sein Schuß, aber wieder beschrieb der Pfeil im allerletzten Moment eine Kurve und flog in die Nacht davon. Da ließ der Hüter seinen Bogen fallen und zückte sein Schwert. Der Pauri, dem aufzugehen schien, daß er dem langbeinigen Menschen nicht davonlaufen konnte, blieb schlitternd stehen und fuhr herum, ein schimmerndes, gezacktes Schwert in der Hand. »Nachtvogel«, sagte der Zwerg leise. »Dich befördere ich ins Jenseits!«
Eibryan sagte nichts, sondern ging zum Angriff über. Zweimal schlug er gegen die Zwergenklinge, dann zielte er direkt auf das durch keinerlei Rüstung geschützte Herz. Seine Klinge wurde von einer unbegreiflichen Kraft zur Seite abgelenkt, und so verlor der verdutzte Hüter das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Verzweifelt stieß er die Hand zur Seite und fing den Schwertstreich des grinsenden Pauri mit der bloßen Handfläche ab. »Was?« entfuhr es dem Hüter, während er herumfuhr, um sich seinem trügerischen Feind erneut zu stellen. Lachend griff Ulg Tik’narn an. Ein Stück entfernt stand Bruder Avelyn und sah verwundert zu, wie auch der nächste erfolgversprechende Ausfall Eibryans im letzten Moment danebenging. Diesmal jedoch war der Hüter vorgewarnt und verlor nicht das Gleichgewicht, sondern zog sich rasch genug in die Defensive zurück, um einer weiteren schmerzhaften Begegnung vorzubeugen. Avelyn steckte den Graphit weg, denn dessen Blitze hatten sich bei diesem Zwerg bereits als wenig nützlich erwiesen. Mit dem Kerlchen stimmte etwas nicht; einen solchen Schutzzauber hatte Avelyn noch nie gesehen. Er holte den Cabochon hervor, den er dem toten Quintall abgenommen hatte, und ließ sich genau in dem Moment in dessen Zauber fallen, als Eibryan zweimal – vergebens – auf den Kopf des lachenden Pauri einschlug. Und dann war Avelyn alles klar, dann sah er die beschlagenen Armpanzer des Pauri wild aufglühen vor Zauberkraft. »Soviel dazu«, knurrte der Mönch. »Ho, ho, hoppla!« Er holte den anderen Stein hervor, den er dem toten Quintall abgenommen hatte, den mächtigen Sonnenstein, und sandte dessen gebündelte Energien aus.
»Mich machst du nicht tot«, sagte Ulg Tik’narn und kam, die kurzen Arme weit ausgestreckt, auf den verwirrten Eibryan zu. »Mein Herr beschützt mich. Bestesbu – « Das Wort verlor sich in einem Gurgeln, als über die magischen Armpanzer seines Trägers neutralisierende Wellen hinwegrollten und Sturmwind tief in seine Brust fuhr.
»Der Name sagt mir nichts«, gab Juraviel zu und sah Eibryan über das Lagerfeuer hinweg an. »Mir aber«, warf Avelyn ein, der es sich an einem umgestürzten Baumstamm bequem gemacht hatte. »Bestesbulzibar, Aztemephostoph, Peluzin, Dekambreinzarr – « »Alles Namen der Geflügelten«, sagte Juraviel, dem zwei der seltsamen Namen bekannt vorgekommen waren. »Damit steht fest, falls dem Pauri getraut werden kann, daß unser Feind tatsächlich von einem Dämon angeführt wird, einem greifbaren Dämon«, sagte Pony. »Das steht fest«, sagte Avelyn und warf die verzauberten Armpanzer zu Boden, diese Werkzeuge des Bösen, die er niemandem zu tragen gestatten würde. »Für mich steht schon seit einiger Zeit fest, wie dieser Dämon heißt und wo er zu Hause ist.« »Im Barbakan«, sagte Eibryan. »Im rauchenden Berg«, fügte Avelyn hinzu. Ein langes Schweigen senkte sich auf die fünf herab, auf Juraviel, die drei Menschen und Tuntun, die sie alle das Gewicht der endgültigen Bestätigung spürten und sich plötzlich schutzlos vorkamen. Da gab es also wahrhaftig einen sehr greifbaren Geflügelten, und er beherrschte Quintalls Geist und wußte – ob nun durch Quintall oder seine Monster-
Streitkräfte – von Nachtvogel und seiner verschworenen Truppe. Avelyn stand auf und entfernte sich; Pony beeilte sich, ihn einzuholen. »Ich weiß um meine Bestimmung«, sagte er leise zu ihr, aber Eibryan, der ihnen gefolgt war, und die beiden Elfen mit ihren spitzen Ohren hörten es trotzdem. »Ich weiß nun, daß es eine göttliche Eingebung war, die mich die Steine stehlen und aus St. Mere-Abelle fliehen ließ.« »Du willst gen Barbakan ziehen«, vermutete Pony. »Ich habe die Armee gesehen, die sich dort versammelt hat«, erwiderte Avelyn. »Ich habe die Finsternis gesehen, die bald über uns, über das gesamte Königreich hinwegschwappen wird: Über St. Mere-Abelle und Palmaris, Ursal, ja selbst über Entel am Großen Gürtel. Vielleicht ist nicht einmal das ferne Behren sicher.« Der Mönch wandte sich um. Er sah erst Pony an und dann Eibryan hinter ihr. »Wir können die Hilfsvölker des Geflügelten nicht schlagen«, erklärte er. »Unser Volk ist schwach geworden, und die Elfen haben sich zurückgezogen und sind nicht zahlreich genug. Das einzige, was unser Land vor der Finsternis bewahren könnte, wäre die Zerstörung der Macht, die den Pauri an der Seite des verhaßten Goblin marschieren läßt und die wilden Riesen zusammenhält.« »Du willst Hunderte von Meilen marschieren, um dich einer so machtvollen Kreatur entgegenzustellen?« fragte Eibryan skeptisch. »Nicht einmal ein vereintes Heer sämtlicher Menschenreiche könnte auch nur in die Nähe des Geflügelten vorstoßen«, erwiderte Avelyn. »Ich aber könnte es.« »Eine kleine Truppe könnte es«, fügte Pony hinzu und sah Eibryan an.
Der Hüter ließ sich diese Bemerkung durch den Kopf gehen, dann nickte er grimmig. Pony sah wieder Avelyn an, sah dem Mann in die Augen, der wie ein Bruder für sie geworden war. Sie sah Qual in ihnen, eine Angst, die bei seiner Verkündung, allein gegen den Dämon ziehen zu wollen, noch nicht in ihnen gestanden hatte. Um sie hatte Avelyn Angst, nicht um sich selbst. »Du sagst, es sei deine Bestimmung«, erklärte sie, »aber da das Schicksal mich nun einmal an deine Seite gestellt hat, ist es wohl auch die meine.« Avelyn schüttelte den Kopf, aber Pony ließ nicht locker. »Denk gar nicht erst daran, mich aufzuhalten! Wo wäre ich denn sicher? Hier, wo die Pauris uns Fallen stellen? Oder in den Südlanden vielleicht, immer auf der Flucht vor den herannahenden Horden?« »Oder bei den Elfen gar?« sprang der grimmige Juraviel der Frau unvermittelt bei. »Ja, wo denn?« fragte sie. »Da stelle ich mich den Ungeheuern doch lieber Auge in Auge entgegen, um an Avelyns Seite zu stehen, wenn er seiner Bestimmung folgt und die ganze Welt den Atem anhält.« Avelyn sah zu Eibryan, als erwartete er von dem Hüter eine Widerrede. Wie konnte Eibryan, der Pony doch so sehr liebte, sie ziehen lassen? Aber Avelyn verstand das Wesen dieser Liebe nicht ganz. »Und ich werde an Ponys Seite stehen«, sagte der Hüter entschlossen. »Und an Avelyns.« Der Mönch schaute ihn fassungslos an. »War denn Terranen Dinoniel nicht ein von Elfen ausgebildeter Hüter?« fragte Eibryan mit einem Blick in die Runde und sah schließlich Juraviel und Tuntun an.
»Er war selbst ein halber Elf«, fügte Tuntun hinzu, als siedle diese Tatsache den legendären Helden irgendwo über Eibryan an. »Dann ist es wohl an mir, diese Hälfte zu ersetzen«, sagte Juraviel ernst. Tuntun riß die Augen auf, aber das überraschte ihn nicht. »Mit Lady Dassleronds Erlaubnis, versteht sich.« »Ho, ho, hoppla!« platzte der überraschte und hocherfreute Avelyn unvermittelt heraus. Seine Freude konnte jedoch nicht bestehen, nicht gegen eine so düstere Aussicht wie die ihrer Reise gen Barbakan. Der Mönch sah seine Gefährten der Reihe nach an, dann spazierte er davon, um mit seinem Gewissen und seinem Mut allein zu sein. Als Eibryan und Pony die Elfen verließen, stellten sie überrascht fest, daß sie von einem Freund belauscht worden waren, der nur ein Dutzend Schritte weit weg im Unterholz stand und ihren Augen und Ohren trotz seiner beachtlichen Größe entgangen war. »Hab ich’s mir doch gleich gedacht«, sagte Bradwarden. »Menschen!« Der Zentaur spuckte spöttisch aus. »Immer wollt ihr, daß man eines Tages Lieder über euch singt.« Er schüttelte den Kopf. »Also hol mir schon deine Satteltaschen. Ihr werdet jemanden brauchen, der eure Vorräte trägt und weiß, wie man sich Ärger vom Leibe hält.« »Du willst uns begleiten?« fragte Eibryan. »Ist ein weiter Weg«, erwiderte der Zentaur. »Ihr werdet die beruhigenden Klänge meiner Pfeifen noch bitter nötig haben!«
Teil drei Die Bestie Es ist ein neuer Punkt erreicht, Onkel Mather, eine neue Spielebene. Unsere Feinde wissen von uns und sind sichtlich beunruhigt, aber sie haben ein größeres Ziel vor Augen; und daß sie solchermaßen abgelenkt sind, läßt uns hoffen, läßt uns mit einiger Zuversicht behaupten, daß sie uns nicht erwischen werden. Aber ebensowenig werden wir ihnen ernsthaften Schaden zufügen können. Zwei Schleudern haben wir zerstört, doch was ist das schon gegen die Aberhunderte von Kriegsmaschinen, die aus dem Barbakan heranrollen? Fast ein Dutzend Riesen haben wir erschlagen in den vergangenen zwei Wochen, doch fällt das ins Gewicht, wenn schon tausend weitere zum Sturm auf das Bärenreich bereitstehen? Und nun, da sie von uns wissen, treffen sie Vorsichtsmaßnahmen und sind in größeren, besser organisierten Gruppen unterwegs. Jeder Angriff wird schwerer für uns. So werden wir zwar irgendwie durchkommen, denke ich, aber auch nichts Entscheidendes leisten, nicht hier, auf halbem Weg zwischen Front und Brutstätte dieser Invasion. Doch wenn Bruder Avelyn recht hat, wenn seine Bestimmung im Norden liegt und wir ihn sicher dorthin bekommen, wenn er den Geflügelten stellen und besiegen kann, dann fehlt unseren Feinden die Hand, die alles zusammenhält. Wer will den uralten, abgrundtiefen Haß eindämmen, der zwischen Pauris und Goblins schwelt, wenn Bestesbulzibar nicht mehr ist? Es ist davon auszugehen, daß ihr ganzes schönes Heer dann in
einzelne Gruppen zerfällt, die ebenso eifrig übereinander herfallen wie über das Volk des Königreiches. Es ist davon auszugehen, daß die meisten Riesen, die doch einzelgängerische Tierwesen sind, dann in ihre heimatlichen Berge zurückkehren und von keinem Menschen mehr gesehen werden. Daß all das so einfach klingt, läßt mich lachen, denn der vor uns liegende Weg ist gewiß der finsterste, den ich je beschreiten werde, und an seinem Ende lauert, was finsterer nicht sein kann. Finster ist die Reise auch für die Männer und Frauen, die ich zurücklasse, die den Kampf fortsetzen und zugleich die hilflosen unter ihnen an einen sichereren Ort bringen – wenn sich denn einer finden läßt. Ich gebe mich keinen bequemen Illusionen hin; diese Gruppe ist in ebenso großer Gefahr wie wir. Wenn sie keinen sicheren Unterschlupf finden, dann werden sie am Ende allesamt sterben, ob nun einer nach dem anderen oder in einer einzigen Blutnacht, wenn die Goblins ihr Lager entdecken. Was sind das für Wolken, die da über unseren Häuptern dräuen, schwärzer als der schwärzeste Sturmhimmel? Es ist das Leben, das die Vorsehung uns zugedacht hat, Onkel Mather. Es ist das Leben, daß die Vorsehung uns auferlegt hat, und ich bin wahrlich stolz, daß nur wenige, sehr wenige, unter ihrer plötzlichen, ungebetenen Verantwortung in die Knie gegangen sind. Jawohl, auf jeden Tol Yuganick kommen hundert andere, die sich von keiner Bedrohung, keiner Tortur ins Wanken bringen lassen, die ebenso mutig wie loyal sind und bereitwillig in den Kampf ziehen, damit ihr Volk überleben kann, und koste es das eigene Leben. Ich bin ein Hüter; ich bin es gewohnt, meine Pflicht zu akzeptieren, wie grausam sie auch sein mag, bin es gewohnt, alles zu akzeptieren, was das Schicksal für mich bereithält,
während ich diese Pflicht erfülle. Das bin ich den Elfen und meiner Ehre schuldig. Ich werde meine sämtlichen Fähigkeiten und Waffen zur Verteidigung der Prinzipien einsetzen, die ich hochhalte – auf daß die Unschuldigen Schutz finden und der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Und in diesen Zeiten führte das zwangsläufig dazu, daß ich Anführer der Bevölkerung der drei Dörfer wurde. Sie aber, diese Unschuldigen, die sich plötzlich in den Fährnissen des Krieges wiedergefunden haben, sie sind die wahren Helden des Tages, denn sie alle – die Trapper, die sich längst hätten absetzen können; Bradwarden, dem dieser Krieg gleichgültig sein könnte; Belster O’Comely und Shawno aus Weltenend –, sie alle kämpfen bereitwillig weiter, wo sie doch im Gegensatz zu mir durch keine Schuld gebunden sind. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, alle greifen sie bereitwillig zu den Waffen, ihres gemeinsamen Erbes wegen, weil sie den Wert der Einigkeit zu schätzen wissen, weil ihnen das Schicksal der Städte des Südens am Herzen liegt. Ich weiß nun, was es heißt, ein Hüter zu sein, Onkel Mather. Ein Hüter zu sein heißt, die menschlichen Schwächen in dem Wissen zu akzeptieren, daß das Gute das Böse überwiegt, heißt, den Leuten als oftmals ungeliebtes Vorbild zu dienen, damit sie, wenn die Finsternis sich auf sie herabsenkt, deinen Wert erkennen und sich – selbst wenn sie dich vorher womöglich geschnitten haben – deiner Führung anvertrauen. Ein Hüter zu sein heißt, ihnen vorzuleben, wie weit sie in der Not über sich hinauswachsen können, heißt, die besseren Anteile widerzuspiegeln, die sich in einem jeden Menschenherzen finden lassen. Die Männer und Frauen, die ich zurücklasse, werden dienen, wie ich gedient habe; wohin sie auch gehen, sie werden den Leuten Mut machen, sie werden ihnen den Rücken stärken und sie neue Hoffnung schöpfen lassen.
Und was mich angeht, so gelobe ich, Bruder Avelyn in den Barbakan zu bringen, ins finstere Herzland unseres Feindes. Und wenn ich dabei sterbe, dann sei es. Und wenn wir alle scheitern und sterben, meine geliebte Pony eingeschlossen, dann möge ein anderer meine Klinge führen und mein Wort. Denn wahrhaft finster wird es nicht, solang noch eines Menschen Seele ungebrochen ist. ELBRYAN DER NACHTVOGEL
23. Abschied
Es brauchte mehrere Tage, bis Eibryan und die übrigen Anführer der Rebellen geklärt hatten, was aus den fünfundzwanzig Kriegern und hundertsechzig Flüchtlingen werden sollte, die nun ohne sie würden zurechtkommen müssen. Der restliche Trupp sollte auf weitere Scharmützel verzichten und sich darauf beschränken, die Leute allesamt nach Süden in Sicherheit zu bringen, wobei sie versuchen sollten, den einmarschierenden Truppen soweit wie möglich auszuweichen. Für diejenigen, die nordwärts gen Barbakan zogen, war der Abschied ein schwerer, vor allem für Eibryan, der sich diesen Leuten gegenüber allmählich wie ein Vater vorgekommen war, wie ein willkommener Beschützer. Wenn sie entdeckt und vernichtet wurden, so wußte er jetzt schon, daß er sich das niemals würde verzeihen können. Die andere Sache jedoch wog schwerer; wenn sie den Geflügelten nicht zu besiegen versuchten, dann gab es keine sicheren Zufluchtsorte mehr, dann stand die Welt, wie die Menschheit sie kannte, vor dem Untergang. Pony erinnerte den Hüter mehrmals daran, daß er es gewesen war, der diese Krieger ausgebildet hatte, daß sie nicht nur mit seinen guten Wünschen von dannen zogen, sondern mit allem, was er ihnen über die Waldlande beigebracht hatte. Und so – wie ein Vater, dessen Kinder über seine schützenden Hände hinausgewachsen waren – ließ Eibryan sie ziehen. Sein Weg, über dem weitaus dunklere Wolken hingen, führte in die andere Richtung.
Sie schlugen ein gemächliches Tempo an. Eibryan ritt auf Symphony – ein kurzes Stück nur –, um jederzeit davonpreschen und die Umgebung auskundschaften zu können. Pony und Avelyn gingen neben Bradwarden her, der seine Pfeifen in der Hand hielt, aber erst aufzuspielen beginnen sollte, nachdem sie die drei besetzten Dörfer längst hinter sich gelassen hatten. Kaum waren sie außer Sichtweite des Lagers, da stießen sie auf eine Anzahl Elfen – es mochten fünf sein oder zwanzig, so kurz und flüchtig nur bekamen sie die scheuen Wichte zu sehen, die da zwischen den knospenden Bäumen tanzten. »Was sagt Lady Dasslerond?« wollte Eibryan von Belli’mar Juraviel wissen. »Lebewohl sagt sie«, erwiderte der Elf. »Lebe wohl, Eibryan der Nachtvogel, lebe wohl, Jilseponie, lebt wohl, guter Bruder Avelyn, mächtiger Bradwarden, und – « er machte eine Pause und schwebte, während seine winzigen Flügel mächtig flatterten, sanft zum Erdboden hinab, » – lebe wohl, Belli’mar Juraviel, der du die Caer’alfar auf dieser höchst wichtigen Mission vertrittst!« Der Elf machte eine tiefe Verbeugung. Eibryan sah zu Tuntun, die auf dem Ast sitzen geblieben war und lächelte – ein Lächeln, das dem aufmerksamen Hüter einigermaßen aufgesetzt erschien. »Daß du mir gut auf ihn achtgibst, Nachtvogel«, verkündete die Elfe drohend. »Du bist mir persönlich für die Sicherheit meines Bruders verantwortlich.« »Ho!« donnerte Bradwarden. »Eine mächtige Verantwortung, wenn man gerade einem Dämon gegenübersteht!« »Wenn es nach mir ginge, würde Belli’mar Juraviel bei den seinen bleiben«, erwiderte Eibryan. »Aber wenn es nach mir ginge, würde natürlich auch Pony – Jilseponie – bei den Flüchtlingen bleiben, Avelyn ebenfalls, und Bradwardens
Pfeifen würden die Morgendämmerung stets hier begrüßen, wo er jeden Baum kennt.« »Ho, ho, hoppla!« bellte Avelyn. »Der tapfere Nachtvogel will die Bestie ganz allein erschlagen!« »Aye, und vorher macht er noch rasch das Heer vor dem rauchenden Berg nieder!« fügte Bradwarden hinzu. Eibryan konnte nicht anders, er mußte lachen. Er trat Symphony in die Flanken und schoß den Weg hinab. »Lebe wohl, Nachtvogel!« hörte er Tuntun noch rufen, dann war er allein und ritt im Kreis die nähere Umgebung ab, trotz seines gegenteiligen Kommentars froh über diese jüngste Erweiterung ihrer Truppe. Als er nicht allzu weit entfernt eine Bewegung wahrnahm, ließ er Symphony langsamer werden. Doch es waren nur Paulson und Eichhorn, die ein Stück vor ihm auf den Weg traten und ihn offensichtlich nicht bemerkt hatten. »Wenn wir sie verpaßt haben, schlag ich dich dumm und dämlich«, knurrte der Hüne Eichhorn an, der klugerweise Abstand hielt. Eibryan entging nicht, daß die beiden gestiefelt und gespornt waren, obwohl der Flüchtlingszug doch erst am folgenden Morgen aufbrechen sollte. Der Hüter lenkte sein Pferd in den Schutz zweier Kiefern und ließ die beiden näher kommen. Vielleicht erfuhr er auf diese Weise ja, was sie vorhatten. Wahrscheinlich hatten sie schlicht die Nase voll. Abgesehen von Paulsons typischem Gegrummel erfuhr er jedoch nichts. »Seid mir gegrüßt«, sagte er unvermittelt, als sie fast vor ihm standen. Die beiden fuhren zusammen. »Gleichfalls«, sagte Paulson. »Bin ich froh, daß wir euch nicht verpaßt haben.« »Habt ihr eigene Pläne?« Paulson sah ihm in die Augen. »Was sollen wir noch hier, wenn Eibryan fort ist?« wollte er wissen.
Der Hüter starrte ihn an, dann zuckte er mit den Schultern. »Wir müssen die Flüchtlinge nach Süden bringen. Es darf keine weiteren Verzögerungen geben.« »Dafür stehen dir doch mehr als zwei Dutzend Krieger zur Verfügung«, antwortete Paulson. »Zwei Dutzend, die von Paulson und Eichhorn angeführt werden sollen«, argumentierte Eibryan. »Die hören wohl eher auf Belster O’Comely«, erwiderte Paulson. »Und der Mann hat im Lager längst unter Beweis gestellt, daß er ein guter Anführer ist. Für uns gibt’s hier nichts mehr zu tun.« »Dann seid ihr frei und könnt gehen, wann ihr wollt und wohin ihr wollt. Meine Dankbarkeit und die der Überlebenden der Invasion ist euch gewiß.« Paulson sah Eichhorn an, und der kleine Mann nickte nervös . »Wir wollen mitkommen«, sagte Paulson. »Wie wir die Sache sehen, wurde dieser Goblin, der Cric ermordet hat, von diesem Bestesbulzidings ausgeschickt; also werden wir ihn dafür zur Verantwortung ziehen.« Eibryan machte ein skeptisches Gesicht. »Kennst du jemanden, der sich in den Wäldern besser auskennt?« argumentierte Paulson. »Du hast doch gerade selbst gesagt, daß wir gehen können, wohin wir wollen«, sagte Eichhorn schüchtern und suchte prompt hinter Paulsons breitem Rücken Schutz. Inzwischen hatten die anderen den Hüter eingeholt, und Bradwarden – mit Juraviel auf dem Rücken, der es sich zwischen den schweren Bündeln bequem gemacht hatte – baute sich sofort neben Eibryan auf. »Unsere Freunde Paulson und Eichhorn möchten mit uns kommen«, erklärte der Hüter. »Wir haben doch beschlossen, daß der Trupp besser durchkommt, je kleiner er ist.«
»Wir beide nehmen zusammen weniger Platz weg als du, Zentaur«, argumentierte Paulson. »Da ist was dran«, sagte Eibryan trocken, noch bevor der furchteinflößende Pferdemann aufbrausen konnte. »Und wir kennen uns in den Wäldern aus«, fügte Paulson hinzu, »und mit unseren Feinden. Geratet in eine Schlacht, und ihr werdet froh sein, Eichhorn und mich dabeizuhaben.« Eibryan sah wieder zu Bradwarden, da der Zentaur und er stillschweigend als die Anführer dieser Mission akzeptiert worden waren. Unter den bettelnden Augen des Hüters hielt Bradwarden seine gestrenge Miene nicht allzu lange durch. »Dann kommt halt mit«, sagte er zu den beiden. »Aber ein böses Wort über meine Musik, und ich esse mehr als das Fleisch auf meinem Rücken!« Und so brachen sie auf, zu siebt nunmehr. Sieben gegen Tausende und Abertausende – was immer noch besser klang als: sieben Sterbliche gegen einen geflügelten Dämon. Kaum hatten sie den Dundalis-Wald hinter sich gelassen, da glitt Eibryan von seinem Pferd. »Du bist frei, mein Freund«, sagte er zu dem großen Hengst. »Vielleicht kehre ich ja wieder zurück.« Das Tier preschte nicht etwa davon, sondern stampfte wie zum Protest mit den Hufen. Eibryan spürte, daß der Hengst nicht zurückbleiben wollte, und für einen Moment genoß er die Vorstellung, die ganze Strecke reiten zu können. Aber wie sollte er das mit seinem Gewissen vereinbaren, wo er doch wußte, daß Symphony die schroffen Höhen Barbakans womöglich nicht würde durchqueren und ihm auf keinen Fall in Aidas dunklen Bauch würde folgen können? »Nun lauf!« befahl er, und Symphony schoß davon, nur um im Schatten einiger Bäume gleich wieder stehenzubleiben.
So war es schließlich nicht der Hengst, der sich entfernte, sondern Eibryan. Selten war dem Hüter etwas so schwergefallen. Sie hielten sich eher gen Westen denn gen Norden, um dem langen Zug, den Avelyn auf magische Weise ausgekundschaftet hatte, weiträumig auszuweichen. Selbst als sie mehrere Meilen nordwestlich von Weltenend auf einem Hügel standen, konnten sie die lange Staubfahne noch sehen, die über Dundalis und den anderen Ortschaften hing und selbst weit im Süden nicht zu Ende war. »So geht es bis zum Großen Gürtel hinunter«, bemerkte Avelyn düster, und diesen Anblick vor Augen, schien es ihnen ausgeschlossen, daß der Mönch sich irrte. Als sie das Holzschlaggebiet von Weltenend erst einmal hinter sich gebracht hatten, gab es keine Straßen mehr. Der Wald war alt, mit hohen, dunklen Bäumen und spärlichem Unterholz, und es galt oftmals, Flüssen zu folgen, deren Wasser zum Teil den ganzen Weg von den hohen Bergen Barbakans hinabgeflossen war. Gelegentlich stießen sie auf ein einsames Haus, selten auf mehrere; hier lebten die wahren Grenzer, denen selbst das bißchen Zivilisation der drei kleinen Städte noch zuviel war. Zu ihrer Beunruhigung mußten die sieben feststellen, daß sämtliche Häuser verlassen waren, darunter auch eines, mit dessen Bewohnern Paulson befreundet gewesen war. Den Grund dafür fanden sie am zehnten Tag heraus, als Eibryan eine Reihe Spuren ausmachte, die vor ihnen das schlammige Flußufer entlangführten. »Goblins«, teilte der Hüter seinen Gefährten mit, »und eine Handvoll Menschen.« »Könnte eine Räuberbande sein, die nichts mit unserem Feind im Norden zu tun hat«, überlegte Bradwarden.
»Goblins gibt es hier seit tausend Jahren«, fügte Paulson hinzu. »Meine Freunde haben mir ständig von irgendwelchen Kämpfen erzählt.« »Aber nehmen normale Goblins Gefangene?« wollte der Hüter wissen, und dieser zugegebenermaßen ungewöhnliche Umstand ließ sie einsehen, daß es sich hier um kein zufälliges Zusammentreffen, um keine Räuberbande handelte. Der Dämon werde sämtliche Goblins aus ihren Löchern locken, hatte Avelyn gewarnt, jeden einzelnen. Wie gern hätte Eibryan da Symphony bei sich gehabt, um die Bande rasch einholen zu können! »Wir ziehen uns zwischen die Bäume zurück und halten uns von ihnen fern«, sagte Bradwarden. »Gar kein Problem.« »Nur daß sie Gefangene haben«, hielt Pony prompt dagegen. »Das wissen wir nicht«, erwiderte Bradwarden. »Du siehst die Menschenspuren doch«, sagte Avelyn. »Na schön, dann hatten sie vielleicht Gefangene«, antwortete Bradwarden barsch. Eibryan wollte den Zentauren gerade darauf hinweisen, daß sie, wie immer ihre Mission auch lautete, zunächst einmal zu schauen hatten, ob jemand ihre Hilfe brauchte, als er unerwarteten Beistand von Paulson bekam. »Sie bilden ein Heer«, überlegte der Hüne, »also brauchen sie Sklaven. Wenn diese Räuberbande mit dem Geflügelten Verbindung hat, dann ist sie nicht so dumm, Menschen umzubringen, die sich ebensogut totschuften können.« Bradwarden warf die Arme hoch und bedeutete Eibryan auszukundschaften, was es eben auszukundschaften gab. Und das tat der Hüter denn auch, schlüpfte zwischen die Bäume und lief in einem weiten Halbkreis flußaufwärts. Schließlich, an einer Biegung des Flusses, wurde er fündig. Dort hatten die Goblins – eine ganze Horde Goblins! – zum Trinken haltgemacht, wobei sie jedoch den zwei Dutzend Menschen,
fast alles Frauen und Kinder, das dringend benötigte Naß verwehrten. Der Hüter sah nachdenklich zu Boden. Glücklicherweise waren nirgendwo Riesen oder auch nur Pauris zu sehen, aber es waren mindestens fünfzig Goblins dort unten, und etliche trugen das schwarzgraue Abzeichen des Geflügelten. Selbst wenn er und seine mächtigen Gefährten sie angriffen, wie konnten sie die Goblins daran hindern, die Gefangenen einfach niederzumetzeln? Eibryan machte kehrt, um seinen Gefährten Bericht zu erstatten, und rechnete schon mit einer wilden Auseinandersetzung über die Frage, ob ihre Mission hier vorging. Falls sie angriffen und getötet oder gefangengenommen wurden, wer sollte dann schließlich zum rauchenden Berg ziehen und sich dem Geflügelten entgegenstellen? »Fünfzig bloß?« höhnte Bradwarden. »Und bloß Goblins? Da wärm ich mir doch an den ersten zwanzig den Bogen, die zweiten zwanzig zertrample ich, und die restlichen zehn sind genau der richtige Happen für meinen Prügel!« »Wie können wir sie angreifen, ohne die Gefangenen zu gefährden?« fragte Pony pragmatisch wie immer. Damit wollte sie, wie Eibryan mit einem Blick auf seine entschlossene Gefährtin erkannte, den Angriff nicht in Frage stellen, sondern die Gedanken der Gruppe in vernünftige Bahnen lenken. »Wir dünnen sie erst mal aus«, antwortete er. »Greifen uns jeden Goblin, der sich in den Wald wagt, hinterherhinkt oder es vorn zu eilig hat.« Sechs Köpfe nickten grimmig. Keine Stunde darauf schlichen sie neben dem Zug her und beobachteten den Feind, kundschafteten Organisation und Rangfolge aus. An einer Stelle, wo das Ufer schmal und unpassierbar wurde, wurden sechs Goblins ausgeschickt, um einen besseren Weg zu finden.
Sie starben rasch und lautlos, niedergemäht von Pfeil und Dolch, von blitzendem Schwert und schmetterndem Prügel. Alles ging so schnell vonstatten, daß Avelyn nicht einmal dazu kam, einen Stein einzusetzen. Der Mönch ging zwar nahe genug heran, um einem verwundeten Goblin mit einem Wirbel tödlicher Faustschläge den Garaus zu machen, seine Zauberkraft jedoch hob er sich für später auf. Als deutlich wurde, daß die ersten sechs nicht zurückkehrten, schickten die Goblins ihnen noch eine Handvoll hinterdrein. Kaum waren sie außer Sichtweite des Zuges, da schossen Eibryan, Juraviel und Bradwarden sie nieder. »Jetzt ahnen sie etwas«, vermutete Pony, als die sieben sich erneut an die Hauptgruppe heranschlichen. Die Goblins rannten nervös umher, zogen den Gefangenen die Fesseln nach und trieben sie enger zusammen. Am schlimmsten war es für die Beobachter, wenn ein Goblin einen Menschen zu Boden schlug, vor allem wenn es sich dabei um ein kleines Kind handelte. Die Zähne zusammengebissen und Selbstbeherrschung über Mitgefühl stellend, hielt Eibryan seine Gefährten zurück. Die Goblins seien mißtrauisch, mahnte er sie; dies sei nicht der rechte Zeitpunkt loszuschlagen. »Wir verstecken die Leichen«, schlug Eibryan vor, »und wenn sie noch weitere Kundschafter ausschicken, lassen wir sie ungehindert durch. Lassen wir sie einen Weg finden. Und wenn sie dann weiterziehen und tief im Wald sind, schlagen wir zu.« »Aye«, stimmte der Zentaur zu. »Geben wir ihnen ein paar Stunden Ruhe. Sollen sie denken, daß diese lausigen Kundschafter sich einfach abgesetzt haben. Und wenn ihre Wachsamkeit dann nachläßt, holen wir sie uns und lassen sie für jede Ohrfeige bezahlen.« Eibryan sah zu Avelyn. »Du wirst eine wichtige Rolle spielen. Die Goblins kriegen wir schon ohne dich klein, aber
für die Sicherheit der Gefangenen brauchen wir deine Zauberkraft.« Der Mönch nickte grimmig, dann sah er Pony an. Eibryan tat es ihm gleich. Der Hüter spürte, daß die beiden ein Geheimnis miteinander teilten. Ungläubig sah er mit an, wie Avelyn der Frau ein Stück Graphit und dazu einen grünen Malachit aushändigte. Die Goblins schickten tatsächlich noch ein weiteres Paar Kundschafter aus, und diese beiden bewegten sich ungehindert durch den Wald und kehrten schließlich mit der Feststellung zurück, keinerlei Hinweise auf den Verbleib der acht verschwundenen Kameraden gefunden zu haben. Da Fahnenflucht bei den Goblins nicht gerade selten vorkam, schienen sich die Zugführer beinahe augenblicklich zu entspannen, und sobald die neue Marschroute festgelegt war, ließen sie die Gefangenen wieder lostrotten. Und erneut wurden sie klammheimlich begleitet, auf Schritt und Tritt, und der Hüter lief ihnen sogar voraus und hatte bald die perfekte Stelle für einen Hinterhalt gefunden, einen schmalen Paß zwischen einer steilen, hohen Wand und einem verschlammten See. Doch als er zu den anderen zurückkehrte, mußte er feststellen, daß ihm die Sache aus der Hand genommen wurde. Ponys Gesichtsausdruck war der erste Hinweis, daß etwas nicht stimmte, und sobald er freien Blick auf den Zug bekam, wußte der Hüter Bescheid. Zwischen einigen Gefangenen und ihren Aufpassern mußte es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, und nun wurden die Menschen erneut abgestraft. Eibryan zuckte bei jedem Schlag zusammen; er fühlte den Schmerz ebenso heftig, als wäre die Goblin-Keule auf ihn selbst niedergefahren. Wieder versuchte er, ruhig Blut zu bewahren, versuchte, seinem Gefühlssturm zum Trotz nicht das große Ganze aus den Augen zu verlieren.
Dann jedoch wurde ein Gefangener ein Stück weggezerrt, ein junger Mann, der ungefähr in demselben Alter war wie Eibryan damals beim Untergang des alten Dundalis. Was die Goblins mit ihm vorhatten, wurde rasch ersichtlich; sie wollten ein Exempel statuieren. Der junge Mann wurde in die Knie gezwungen und mußte den Kopf senken, so daß sein bloßer Nacken zu sehen war. »Nein, nein, nein«, flüsterte Eibryan, und es zerriß ihn schier. Die sieben und sämtliche Gefangenen hatten eine größere Chance, wenn der Hinterhalt sorgfältig geplant und vorbereitet wurde; aber wie sollte der Hüter einfach dastehen und zusehen, wie dieser unglückselige junge Mann hingerichtet wurde? Eibryan konnte natürlich nicht einfach zusehen, und er hatte seinen Elfenbogen kaum angelegt, da wußten die anderen, daß der Kampf losging. Der Goblin hob sein Schwert, ließ es dann aber zu Boden fallen, als ihm Eibryans Pfeil in die Brust fuhr. Wild schreiend rannte Eibryan zwischen den Bäumen hindurch, einen zweiten Pfeil schon an der Sehne. Die Goblins stoben auseinander, einer brüllte Befehle – bis seine Worte in ein Gurgeln übergingen und er am eigenen Blut erstickte. Eibryans zweiter Pfeil steckte tief in seiner Kehle. »Mach schnell!« rief Avelyn Pony zu, denn die beiden hatten sich abgesprochen, wie sie am besten zu den Gefangenen vordringen würden. Pony versuchte sich zu beeilen, konzentrierte sich mit aller Kraft auf den Malachit. Sie hatte dies schon einmal getan, in einer Übungsstunde mit Avelyn, aber nun war der Druck gewaltig, war der Preis des Versagens zu hoch. »Ho, ho, hoppla!« brüllte Avelyn ihr zu. »Du weißt doch, daß du’s kannst, Mädchen!«
Diese Ermutigung gab ihr den entscheidenden Stoß, ließ sie in die Tiefen des magischen Steins fallen. Sie spürte, wie ihr Gewicht nachließ, fühlte sich leicht wie eine Feder. Avelyn hob sie mühelos empor und schleuderte sie dem Monsterzug entgegen. Pony gewann noch an Höhe, indem sie nach Ästen griff und sich so weiterzog. Sie flog über Eibryan hinweg, der inzwischen sein Schwert gezogen hatte und gegen eine ganze Anzahl Goblins zugleich kämpfte und sie zurückzwang. Hoch oben und ohne einen Laut flog sie über die Goblins hinweg, bis sie schließlich direkt über den zusammengedrängten Gefangenen war. Pony hielt den Atem an. Die Bewegungen der Goblins unter ihr, die Befehlsfetzen, die sie mitbekam, alles deutete darauf hin, daß die Gefangenen niedergemetzelt werden sollten. Besorgt sah die Frau zwischen dem zweiten von Avelyns Steinen und ihrem Schwert hin und her, ohne recht zu wissen, welches die bessere Wahl war. So oder so, ihre Lage wurde allmählich verzweifelt. Eibryans Zorn ließ nicht nach. Zwei Goblins stellten sich ihm rasch entgegen, aber er fegte ihre Waffen mit einem wilden zweihändigen Bogenhieb zur Seite. Kaum war der Bogen an den Wesen vorbei, da ließ er ihn auch schon fallen, um in derselben blitzschnellen Bewegung sein Schwert zu ziehen und es dem vordersten Wesen in den Bauch zu rammen. Im Vorbeilaufen riß er die Klinge wieder heraus und verpaßte gleichzeitig dem anderen Goblin einen Fausthieb unters Kinn. Der Goblin rieb sich benommen das Kinn und stand gerade wieder auf, um Eibryan nachzusetzen, als Bradwarden das armselige Ding in den Dreck trampelte. Dann hatte der Zentaur Eibryan auch schon eingeholt, und er mähte keulenschwingend und lauthals singend Goblins nieder. Ihr Schwung trug sie weit in die gegnerischen Reihen hinein,
begann jedoch zu verebben, als die Wesen schließlich zu einer geordneten Taktik übergingen. Einen Halbkreis bildend, griffen die Goblins sie an, aber ihre schöne Formation löste sich rasch wieder auf, denn ein Stück entfernt saß Belli’mar Juraviel hoch oben auf einem Ast und schoß seine winzigen, doch tödlichen Pfeile auf sie ab. Zur selben Zeit stürmten auch schon Paulson und Eichhorn herbei, und der kleine Mann ließ seine Dolche nur so fliegen. »Auf meinen Rücken!« rief der Zentaur Eibryan zu. »Jetzt geht’s zu den Gefangenen!« Aber nicht mehr rechtzeitig, dachte Eibryan mit einem Blick zu der bejammernswerten Gruppe hinter den Goblins. Er betete, daß Pony und Avelyn gute Arbeit leisteten, und fragte sich, ob sein Zorn ihnen nicht allen miteinander zum Verhängnis wurde. Avelyn konnte die feindlichen Reihen kaum sehen und wußte nicht im geringsten, welcher Goblin das Sagen hatte. Kaum war Pony fort, da begann der Mönch sich nach einem Versteck für seinen stattlichen Leib umzusehen, was er jedoch rasch aufgab, weil ihm die Zeit knapp wurde. Das Birkendickicht gleich vor ihm mußte genügen. Er legte seinen Körper zwischen die Zweige, während er seinen Geist schon in den Hämatit fallen ließ, den seine Hand umklammerte. Er war auf Geistreise und schoß rasch davon. Sein Geist flog an Juraviel vorüber, dessen empfindsame Elfensinne ihn bemerkten, obwohl er gänzlich unsichtbar war. Er glitt an Paulson und Eichhorn vorbei, an Bradwarden und Eibryan, an den vordersten Reihen der Goblins, bis er schließlich die bejammernswerten Gefangenen und ihre Wachen erreicht hatte. Vor allem ein Goblin tat sich mit lautstarken Befehlen hervor, und so hielt Avelyns Geist direkt auf ihn zu, zwängte sich in dessen sterbliche Hülle und kämpfte um die Oberhand.
Von jemandem Besitz zu ergreifen war ein schwieriger und gefahrvoller Akt; andererseits konnte auf der ganzen Welt niemand so virtuos mit den Himmelsjuwelen umgehen wie Avelyn Desbris, der noch dazu in verzweifelter Sorge war, und zwar nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um die der anderen. Fast augenblicklich hatte er den Geist des Goblins bezwungen und setzte dessen barsches Brüllen fort, nur daß seine Befehle nicht mehr die Gefangenen betrafen. »Abhauen!« brüllte er seinen Untergebenen zu. »Ab in den Wald! Nun macht schon, haut ab!« Etliche Goblins taten genau das; sie waren nur zu gern bereit, Fersengeld zu geben, bevor der wilde Hüter und der mächtige Zentaur sich zu ihnen durchgeschlagen hatten. Andere jedoch wollten erst noch menschliches Blut zu schmecken bekommen. Pony sah, wie zwei von ihnen, die schon die Flucht ergriffen hatten, plötzlich mit gezückten Schwertern auf die Gefangenen zuhielten. Ihr Konzentrationsvermögen wurde bis an seine Grenzen belastet, als die Frau versuchte, sich in ihren anderen Stein fallen zu lassen und gleichzeitig die Gewichtslosigkeit des Malachits aufrechtzuerhalten, um ihre Geschwindigkeit abschätzen zu können. Die Zeit war zu knapp. Sie schloß den Malachit und stürzte zehn Fuß tief zu Boden, mitten zwischen die überraschten Goblins. Sie schrien auf, Pony schrie auf, und sie brachten ihre Waffen genau in dem Augenblick nach oben, als Pony sie bei den Schultern packte. Die Frau war schneller. Schon fiel sie in den Stein, den Graphit.
Es ertönte ein scharfer Knall, es blitzte schwarz, und die beiden Goblins stürzten zu Boden und zuckten; dann waren sie tot. »Vergiß die Frau!« brüllte der Mönch in Goblin-Gestalt einem Monster zu, das kehrtmachte, um sich auf Pony zu stürzen. Avelyn schnitt ihm den Weg ab und probierte etwas Neues aus; er stellte rasch die Verbindung zu seinem eigenen Leib wieder her und holte sich die Zauberkraft des Steins herüber, den er in der anderen Hand hielt. »Totmachen!« heulte der Goblin ihm in das Goblin-Gesicht, aber Avelyn streckte einen Arm aus, der weder der eines Goblins noch der eines Menschen war, sondern eher an die Tatze eines Tigers erinnerte. Damit schnitt er dem Monster nicht nur das Wort, sondern auch gleich den halben Kopf ab. »Ho, ho, hoppla!« brüllte der Mönch in Goblin-Gestalt und starrte seinen verwandelten Arm an. »Es funktioniert!« Das hatte es in der Tat, aber die Anstrengung war groß gewesen, zu groß, und schon fühlte der Mönch, wie er die Kontrolle über den Goblin verlor, wie sein Geist quer über das Schlachtfeld zu den Birken zurückgerissen wurde. Unmittelbar bevor er das Bewußtsein verlor, streckte er seinen Geist in einer letzten Willensanstrengung noch einmal nach dem Goblin aus, und als dieser sich wieder seiner leiblichen Hülle bewußt wurde, mußte er feststellen, daß er gerade seinen Arm hochriß – oder zumindest einen Arm, der von seiner eigenen Schulter ausging – und sich das eigene Gesicht zerfleischte. Der überraschte, verwirrte Goblin stolperte rückwärts und griff sich mit der anderen, normalen Hand an das zerfetzte Gesicht. Aus seiner Überraschung wurde Entsetzen, wurde entsetzlicher Schmerz, und dann bekam er Ponys Schwert so heftig ins Kreuz, daß ihm die Klinge an der Brust wieder herausfuhr.
Pony wandte ihre Aufmerksamkeit den Gefangenen zu und forderte sie auf zu laufen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber die meisten Männer und Frauen wollten nicht auf sie hören. Die Gesichter von Trauer gezeichnet, die zweifelsohne jenen Lieben galt, die von dieser Bande erschlagen worden waren, liefen sie in die andere Richtung, wo gekämpft wurde, und sprangen ihren unbekannten Helfern mit Waffen zur Seite, die sie den toten Goblins entrissen hatten, mit Stöcken und Steinen oder auch mit bloßen Händen. Nach wenigen Minuten war alles vorbei. Mehr als zwei Dutzend Goblins lagen tot am Boden, die übrigen flohen und zerstreuten sich im Wald. Mehrere Menschen waren verwundet, Bradwarden ebenfalls – wenngleich der zähe Zentaur seine Schnittwunden nicht weiter ernst nahm –, und als Avelyn auf unsicheren Beinen zu ihnen zurückkehrte, hatte er die schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens. Aber der gute Mönch jammerte nicht, sondern machte sich prompt mit seinem Hämatit ans Werk, diesmal um Blutungen zu stillen und Wunden zu schließen. Eibryan griff sich Paulson und Eichhorn und rief Juraviel herbei; dann ging es zu viert in den Wald, um eventuellen Gegenangriffen der Goblins vorzubeugen. Während ihrer mehr als einstündigen Suche stießen die vier nur auf zwei Goblins, die sich unter einem umgestürzten Baum versteckt hatten, und auf einen dritten, der verwirrt im Kreis umherlief. So hatte sich der Angriff als nahezu durchschlagender Erfolg erwiesen, und die Gefangenen waren frei. Damit jedoch sah sich der Hüter vor dem nächsten Problem, vor der nächsten Verantwortung, um die er nicht gebeten hatte.
»Belster dürfte längst etliche Meilen weiter südlich sein«, überlegte Avelyn. »Selbst wenn ich über die Steine mit ihm Kontakt aufnehme, wird es nicht leicht sein, unsere neuen Freunde zu ihm zu schaffen.« »Die halten schon was aus«, sagte Pony. »Sie kennen sich nur mit Goblins und dergleichen nicht aus.« Paulson sah sie ungläubig von der Seite an. »Mit solchen Goblins jedenfalls nicht«, berichtigte sich die Frau. »Gegen die Armee des Geflügelten haben sie noch nie gekämpft.« Dem mußte Paulson zustimmen. »Wir würden wochenlang mit ihnen üben müssen, bis sie auch nur annähernd eine Chance haben, sich allein durchzuschlagen«, schloß Pony. Eibryan, der allen aufmerksam zugehört hatte, ließ sich sämtliche Vorschläge durch den Kopf gehen. Dann sah er Paulson und Eichhorn an. Der Hüne wußte seinen Blick wohl zu deuten; Eibryan hatte sie nie um ihre Begleitung gebeten, hatte sie sogar sämtlicher Pflichten entbunden. Nun jedoch wollte der Hüter den beiden eine neue Pflicht auferlegen. Er wollte, daß sie die neuen Flüchtlinge irgendwie nach Süden schafften. Paulson, den der Tod seines engen Freundes noch immer sehr wütend machte, war wenig daran gelegen, die anderen einfach weiterziehen zu lassen, aber den Flüchtlingen zuliebe würde er es tun. Diese Erkenntnis traf den Hünen bis ins Mark; zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er das Gefühl, zu etwas Größerem dazuzugehören, zu einem fest zusammenhaltenden Kreis von Kameraden, von Freunden. »Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte Belli’mar Juraviel, der es sich auf einem Baum bequem gemacht hatte. Der Elf hatte sich kaum noch blicken lassen, weil er die verstörten Flüchtlinge nicht erschrecken wollte. Der Anblick des
Zentauren hatte die Leute fast ebensosehr beunruhigt wie der Anblick der Goblins, und so hielt der Elf es für angebracht, sie nicht schon wieder mit etwas Neuem zu konfrontieren. Die Runde sah zu dem Elfen hinauf, der ein paar Handbreit über ihnen die Beine baumeln ließ. »Nicht weit von hier gibt es einen Ort, an dem sie Zuflucht finden könnten«, sagte er. Alle nickten ihm aufmunternd zu, nur Eibryan nicht. Juraviels Tonfall ließ ihn ahnen, daß es hier nicht um irgendeinen Zufluchtsort ging, sondern um einen ganz bestimmten, ganz besonderen. Ihm fiel der Marsch wieder ein, der ihn nach Dundalis geführt hatte, Nachtvogels erste Reise. Von Westen kommend hatte er die Moorlande durchquert. Nun befand er sich erneut westlich der Moorlande, wenn auch Meilen weiter nördlich. »Dann könnten wir sie dorthin schaffen und unseren Weg fortsetzen«, überlegte Pony. »Nicht wir«, erwiderte Juraviel. »Ich. So nahe liegt dieser Ort nun auch wieder nicht, zu Fuß vielleicht eine Woche entfernt.« »In einer Woche können wir sie ja fast wieder bis nach Dundalis zurückschaffen«, sagte Bradwarden. »Und wozu?« fragte der Elf. »Dort wären sie ohne jeden Beistand, und die ganze Gegend wimmelt von Monstern. Bei dem Ort, den ich ihnen zugedacht habe, verhält es sich genau andersherum.« »Du redest von Andur’Blough Inninness«, vermutete Eibryan, und als der Elf dies nicht sofort abstritt, wußte der Hüter, daß er richtig lag. »Aber wird deine Herrin es zulassen, daß so viele Menschen dorthin kommen? Die Heimat der Elfen ist geheim, ihre Grenzen sind undurchlässig.« »Dies sind keine gewöhnlichen Zeiten«, erwiderte Juraviel. »Lady Dasslerond hat zwei Dutzend von uns entsandt, damit wir euch beistehen, damit wir unseren Teil zu dem beitragen,
was sich in der Welt tut. Sie wird den Menschen den Zutritt nicht verwehren, nicht in dieser verzweifelten Lage.« Der Elf lächelte. »Aber keine Sorge, wir werden schon dafür sorgen, daß der Weg in unsere Heimat geheim bleibt. Vielleicht reicht ein wenig von unserem Wein im Essen schon aus, um ihnen die Orientierung zu rauben.« »Wir sollten zusammenbleiben«, sagte Pony, die die Heimat der Elfen unbedingt einmal mit eigenen Augen sehen wollte und von Eibryans entsprechenden Erzählungen nie hatte genug bekommen können. Eibryan spürte diese Versuchung ebenfalls. Wie gern er Andur’Blough Inninness wiedersehen wollte, vor allem jetzt, um Kraft zu schöpfen, bevor er seine überaus wichtige, gefahrvolle Reise zu Ende brachte. Aber der Hüter wußte es besser. »Jeder Tag, den wir mit anderen Dingen verbringen, läßt den Feind tiefer in unser Heimatland vordringen. Jeder einzelne Tag kostet noch mehr Menschenleben«, sagte er leise. »Ich werde sie allein dorthin bringen«, verkündete Juraviel. »So wie du deine Bestimmung erkannt hast, Bruder Avelyn, so erkenne ich die meine. Du wirst mich den Leuten morgen früh vorstellen, und dann bringe ich sie in Sicherheit.« Eibryan sah seinen spitzohrigen Freund lange an. Er brauchte Juraviel auf dieser Reise und konnte auf dessen Weisheit und Mut nur schwer verzichten. Aber der Elf hatte recht; er allein konnte die Flüchtlinge in Sicherheit bringen, und wenn die Reise gen Barbakan auch höchst wichtig war, so durften die Nöte so vieler Unschuldiger nicht ignoriert werden. Am Morgen erfolgte der zweite schmerzliche Abschied. »Hab ich dich endlich gefunden!« rief Tuntun, als sie Symphony nördlich von Weedy Meadow dahintrotten sah. Die meisten Elfen waren längst fort. Einige deckten heimlich die Flucht der Menschen gen Süden, aber die meisten hatten sich auf den Weg nach Andur’Blough Inninness gemacht. Tuntun
und ein paar andere jedoch waren geblieben, um den Einmarsch der feindlichen Armee zu beobachten. Nur verspürte Tuntun dazu nicht die geringste Lust. Also hatte sie, sobald ihre Sehnsucht konkrete Formen annahm, nach Symphony Ausschau gehalten. Sie näherte sich dem großen Hengst nur vorsichtig, stellte jedoch bald fest, daß sie durchaus Verbindung zu ihm herstellen konnte. Der Türkis war zwar auf Eibryan abgestimmt, aber Tuntun, die immerhin eine Elfe war, konnte trotzdem einiges mit ihm anfangen. Wenn sie auch die Gedanken des Hengstes nicht lesen konnte, so bekam sie immerhin heraus, was er sich am meisten wünschte. Anscheinend hatten sie beide das gleiche vor. Es kostete Tuntun wenig Mühe, von dem großen Hengst akzeptiert zu werden. Sie war kaum aufgestiegen, da machte Symphony einen Satz, und sie flogen in gestrecktem Galopp gen Nordwesten dahin.
24. Des Teufels Teufel
Er konnte den Stein unter seinen Füßen nicht spüren, und diesen Aspekt seiner Existenz verabscheute er mehr als alles auf der Welt, mehr sogar als dieses Ungeheuer, diesen Dämon, der ihn errettet hatte. Bei allen Vorteilen seiner gespensterhaften Existenz sehnte sich Quintall doch nach den spürbaren Sinneseindrücken seiner sterblichen Hülle zurück, nach dem Gefühl von Gras oder Stein unter seinen nackten Fußsohlen, nach dem Duft köchelnder Speisen und dem Brandungsdunst der Allerheiligenbucht, nach dem Geschmack von Schellfisch, dem Aroma der exotischen Kräuter, die die Windläufer in Jacintha an Bord genommen hatte. Statt dessen stand oder besser schwebte er nun in der großen säulengesäumten Halle im Aida-Berg vor dem Obsidianthron und der Ungeheuerlichkeit, die sein Gott war. »Bis zum Hochsommer werden wir in Palmaris sein«, erklärte Bestesbulzibar und beugte sich auf seinem Thron vor. Die dicken Falten seiner roten Haut schimmerten in dem orangefarbenen Glühen der Lavaströme, die sich zu beiden Seiten des breiten Podests aus der Wand ergossen und im Boden verschwanden. »Und bis zum Herbstanfang sollte Ursal fallen. Dann kann kein noch so tiefer Schnee unseren Vormarsch gegen Entel und das Gebirge zwischen den Königreichen aufhalten.« »Und dann sind wir am Ziel?« fragte der Geist. »Am Ziel?« donnerte der Geflügelte. »Mit Behrens Stammesfürsten verhandeln wir dann. Wir spielen sie so lange gegeneinander aus, bis sie überhaupt nicht mehr wissen, wer Freund ist und wer Feind, und dann verleiben wir uns die
Südlande ein. Und dann gehört mir die ganze Welt. Und dann soll die Menschheit merken, was finstere Zeiten sind.« Quintall konnte schwerlich etwas gegen den Plan des Geflügelten vorbringen, wenn auch einige unwesentliche Punkte unberührt blieben. Alpinador war trotz der brutalen Grenzüberfälle und des anschließenden entschlossenen Marsches zur Küste nicht gefallen, aber das Königreich des Nordens ließ sich kaum zivilisiert nennen und war viel zu dünn besiedelt, um eine ernsthafte Bedrohung darstellen zu können. »Und die hat dein Volk sich selbst eingebrockt«, sagte Bestesbulzibar. »Eure Schwachheit ist es, die die Pforten geöffnet hat.« Der Dämon schlug mit den Flügeln, und eine Welle heißer Luft fuhr durch Quintall hindurch, fast wie eine Berührung. Und mit dieser Berührung fiel ihm alles wieder ein. Ihm fiel alles wieder ein, bis ins kleinste Detail: Was er gewesen war und all die Verheißungen seiner sterblichen Existenz. Das Kloster, die Reise nach Pimaninicuit. Avelyn, der verfluchte Avelyn. Die Rivalität zwischen ihnen. Er konnte Avelyns Stimme hören, hörte ihn mit einer Stimme gegen die Versenkung der Windläufer anbrüllen, aus der, wie Quintall nun wußte, Gott gesprochen hatte. Er mußte an die Flucht des Verräters denken, an die Geschichten, die in den Schänken über den irren Mönch zu hören gewesen waren, an dessen lautstarke Warnungen, die sich inzwischen als nur zu wahr erwiesen hatten. Quintall sah seinen dämonischen Gebieter an; er wußte, daß der Geflügelte ihm seine Erinnerungen nur wiedergegeben hatte, um ihn zu quälen. Seit er zum Aida-Berg gekommen war, seit dem Augenblick seines Todes, als seine Seele durch die Hämatitbrosche zu Bestesbulzibar geflogen war, hatte sich Quintall nur an ihre
letzte Begegnung erinnern können und nicht an den Weg, der ihn zu Avelyn und seinen mächtigen Freunden geführt hatte. Nun jedoch – nun erinnerte er sich. An alles. Und wußte, daß er verloren war, daß die Behauptungen des Geflügelten wahr waren, daß Avelyn mit seinen Warnungen recht behalten hatte. Die Schwachheit der Menschen, die Verlogenheit der abellikanischen Kirche, der Mord an den Seeleuten der Windläufer, der Neid, den er Bruder Avelyn gegenüber gehegt hatte – all das hatte den Dämon genährt, hatte die Finsternis heraufbeschworen, die sich nun über die Welt legte. Quintall verabscheute den Geflügelten, wußte aber gleichwohl, wie machtlos er gegen den Teufel war, dem er längst anheimgefallen war, ohne jede Hoffnung auf Umkehr. Bestesbulzibar streckte eine Hand nach unten und befahl Quintall auf gedanklichem Wege, ihm Respekt zu zollen. Der verfluchte Geist ergriff die Hand und küßte sie. Es gab keine Umkehr, keine Erlösung. Quintall wußte, daß dem Dämon keiner seiner Gedanken verborgen blieb, daß seine Hoffnungslosigkeit den Geflügelten nur noch ein wenig größer machte. »Es ist recht nützlich«, sagte Bestesbulzibar unvermittelt, »wenn du solche Narren wie Yuganick in ihren Träumen heimsuchst und unbemerkt zwischen unseren Feinden umherfliegst. Aber all das kann ich auch allein tun, Quintall.« Der Geflügelte schwieg, und seine letzte Bemerkung ließ Quintall annehmen, daß seine Zeit um war, daß er im nächsten Moment ausgelöscht oder geradewegs in einen bodenlosen Abgrund der endlosen Qualen geworfen werden würde. »Du sollst mehr für mich tun«, beschloß der Geflügelte. Bestesbulzibar sah zu einem der Lavaströme hinüber. »Ja«, sagte er leise und trat an den Rand des Podests, um einen Arm in die fließende Masse zu tauchen. Dann sah er Quintall an.
»Ja«, sagte der Geflügelte erneut. »Sehnst du dich nicht danach, wieder einen Körper zu besitzen, wieder zu fühlen?« Das tat Quintall wahrhaftig. »Ich bin dazu in der Lage, mein Diener. Ich kann dich wieder zum Leben erwecken, zu richtigem Leben.« Quintall merkte, wie er auf das Wesen zuschwebte, ohne daß es eine bewußte Entscheidung gewesen war. »Ich kann dich zu etwas Größerem machen«, flüsterte der Dämon und schlug erneut mit den schwarzen Schwingen. Wieder fuhr der Wind heiß durch den Geist hindurch, doch nachdem sich die Luft beruhigt hatte, spürte Quintall die Hitze immer noch. Er spürte sie immer noch! Da ging ihm auf, daß es die Wärme der Lava war, die er spürte. Bestesbulzibar hob zu einem langen, langsamen Gesang in einer Sprache an, die dem Geist verschlossen blieb, einer kehligen Sprache voller Klicklaute und Gekrächz, das sich nur mit dem Räuspern eines alten Mannes vergleichen ließ, der den verschleimten Hals wieder freibekommen wollte. Dann spuckte Bestesbulzibar Quintall an, und der Speichel flog nicht durch seinen Geist hindurch, sondern blieb an ihm haften. Wieder und wieder klatschte Bestesbulzibars Speichel auf ihn nieder, bis er gänzlich davon bedeckt war. Dann packte der Teufel den Geist, und während Quintall noch in instinktivem Protest aufschrie, landete er schon mitten in der Lava. Die ganze Welt war Schwärze, war sengende Hitze und unerträgliches Leid, und dann war es mit Quintall vorbei.
Er erwachte später, viel später, wenngleich er nicht wußte, wieviel Zeit vergangen war. Er befand sich noch immer im Thronsaal, aber diesmal schwebte er nicht, sondern hatte festen Boden unter den Füßen.
Er bestand aus Lava, aus Lava in Menschengestalt, mit ungeschlachten Armen und Beinen, einem steinharten Leib und einem ebensolchen Kopf. An den Stellen, wo einst Gelenke gewesen waren, glühte die Lava hellorange und war gerade soweit geschmolzen, daß sie noch nicht abfließen konnte. Quintall fühlte sich scheußlich, aber er fühlte! Erstaunt ballte er eine schwarze, orangegestreifte Hand zur Faust und spürte ihre übermenschliche Kraft. Mit ihr konnte er einen Stein zerquetschen – oder einem Feind den Schädel. Avelyns Schädel. Bestesbulzibars böses Gelächter riß Quintall aus seinen Gedanken. »Gefällt es dir?« fragte der Dämon. Quintall wüßte nicht, was er sagen sollte. Er setzte zu einer Antwort an, aber der Klang seiner Stimme, einer Stimme, die wie ein Felsrutsch klang, erschreckte ihn. »Du wirst dich an deinen neuen Leib schon noch gewöhnen, mein Diener, mein General, mein Attentäter. Mit dir kann es kein Riese und kein Mensch aufnehmen. Wenn Palmaris fällt, wirst du es sein, der den Einzug meines Heeres anführt, und du wirst es sein, der den Königsthron des Bärenreiches besteigt, wenn Ursal erst mir gehört.« Seine Macht, seine urgewaltige Kraft war überwältigend, sie ließ ihn schwindeln. Eroberungsphantasien schossen ihm durch den Kopf. Quintall spürte, daß er Palmaris leicht ganz allein einnehmen konnte, daß keine Waffe und kein Mensch ihm standzuhalten vermochte. »Gewöhne dich an deinen neuen Leib«, befahl Bestesbulzibar. »Lerne das Ausmaß seiner Kraft und seine Grenzen kennen. Passe alles, was du je über Kampfkunst gelernt hast, dieser neuen Gestalt an. Du sollst mein General sein und mein Attentäter. Sorge dafür, daß alle Menschen, alle Geschöpfe Koronas vor dir im Staube zittern.«
Wieder ließ der Teufel ein gewaltiges Lachen erschallen, und diesmal ertappte sich Quintall dabei, daß er mit einstimmte, mit seiner neuen, raspelnden Stimme. »Der Krieg entwickelt sich bestens, mein Hündchen«, fuhr der Geflügelte fort. »Während du schliefst und deine Seele sich mit diesem meinem Geschenk verband, habe ich mir die Südlande angesehen, den unaufhaltbaren Fortschritt. Palmaris fällt, noch bevor es Hochsommer ist, und schon kommt ein zweites Pauri-Heer übers Meer gefahren und hat die Zerschmetterte Küste fast erreicht. Ein Heer marschiert nach Süden, das andere nach Westen, bis sie sich schließlich unmittelbar vor den Toren Ursals vereinen. Wer vermag ihnen standzuhalten? Der schwächliche König des Bärenreiches?« »Von Königen verstehe ich nichts«, erwiderte Quintall. »Nicht doch, nicht doch!« zog der Geflügelte ihn auf. »Du hast doch wohl deinen ehrwürdigen Vater nicht vergessen, diesen zittrigen alten Abt. Selbst dieser Tattergreis ist ein würdigerer Gegner als der Schlappschwanz, der auf dem Thron des Bärenreiches sitzt. Wer also vermag der Bestie standzuhalten?« Für den gefallenen Quintall lag die Antwort auf der Hand. Der Bestie, seinem Gebieter, seinem Gott, vermochte niemand standzuhalten. Auf einmal verspürte er großes Verlangen, die Tore von Ursal zu sprengen und den Thron des Bärenreiches zu besteigen. Noch mehr als das jedoch wollte Quintall nach St. MereAbelle zurückkehren, zu Abt Markwart und Meister Jojonah, die ihm die steinernen Füße küssen sollten, bevor er sie zertrat wie Ameisen. Sie hatten ihn benutzt, das begriff er nun allzu deutlich. Sie hatten ihn benutzt, indem sie ihn erst nach Pimaninicuit schickten und ihn dann in etwas Geringeres als einen Menschen verwandelten, indem sie ihn zu Bruder Richter machten, dem Werkzeug ihres Zorns. Nun hatte
Bestesbulzibar nicht viel anderes getan, aber in Quintalls Augen war der Geflügelte der bei weitem wertvollere Gebieter. »Du wirst während meiner Abwesenheit hier Wache halten und mich vertreten«, verkündete Bestesbulzibar. Quintall war klug genug, seine Zunge zu hüten. In derselben Nacht noch verließ der Dämon den Aida-Berg und flog rasch nach Süden zu seinen Untergebenen. In wenigen Stunden hatte Bestesbulzibar den weiten Weg zum Basislager in Dundalis zurückgelegt, wo er den nervösen Obergoblin Gothra und Maiyer Dek, den Anführer der Bergriesen, in erbittertem Streit vorfand. Wie ihnen die Worte in der Kehle steckenblieben, wie das ganze Lager um sie herum in gelähmtes Schweigen verfiel, als der Geflügelte zwischen ihnen niedersank, als sich die tiefste Finsternis vom Nachthimmel herabsenkte. »Sprecht!« befahl der Geflügelte, und prompt begannen beide zugleich zu reden, um dann auf einen kurzen Drohblick hin wieder zugleich den Mund zu halten. Bestesbulzibar sah Maiyer Dek an. »Unsere Lager platzen bald aus allen Nähten«, erklärte der Riese, und selbst seine Donnerstimme nahm sich vor dem Dämon schwächlich aus. »Wir sollten endlich weitere Truppen nach Süden schicken!« Die Augen des Dämons glühten wild auf. Er riß den Kopf herum und starrte den Goblin an, der erzitterte. »Ulg Tik’narn ist nirgendwo zu finden«, sagte Gothra. »Er muß tot sein.« »Und?« schnaubte der Dämon, denn an potentiellen Nachfolgern schien es nicht zu mangeln. »Der Abschnitt ist noch nicht gesichert«, fuhr der Goblin fort. »Der Wald gehört immer noch Nachtvogel.«
»Nachtvogel ist ein Dorn!« brüllte Maiyer Dek. »Ein angreifender Riese bleibt doch nicht stehen, um sich einen Dorn zu ziehen!« »Und wenn dieser Dorn uns den Nachschub ab – « begann Gothra, aber das markerschütternde Geheul des Geflügelten ließ ihn verstummen. »Genug!« donnerte die Bestie. »Wegen diesem einen Mann, diesem Nachtvogel, willst du hier Tausende unserer Krieger festhalten?« »E-es sollte ein Abschnitt nach dem anderen g-gesichert werden«, stotterte der Goblin, dem aufging, daß sich das Gespräch sehr zu seinen Ungunsten entwickelte. Goblins waren von Natur aus konservativ, was taktische Manöver anging. Sie sicherten methodisch einen Abschnitt nach dem anderen und gingen erst dann zum Großangriff über, wenn ihnen der Sieg schon sicher war. Für so etwas fehlte Bestesbulzibar die Geduld. »Ich will Palmaris, und du hältst hier Tausende fest, um ein armseliges Dorf zu verteidigen?« dröhnte er. »Nein«, widersprach Gothra. Der Goblin-General wollte seinem Gebieter erklären, was er sich dabei gedacht hatte, wollte ihm deutlich machen, daß ihnen der Nachschub abgeschnitten werden mochte und ihnen ein Mangel an Ausrüstung oder Nahrungsmitteln im Süden leicht zum Verhängnis werden konnte, womöglich unmittelbar vor den Toren von Palmaris. Gothra, der – zumindest nach Goblin-Maßstäben – kein Dummkopf war, wollte diese seine Überzeugung in vernünftigen, nachvollziehbaren Schritten darlegen, und doch brachte er nicht mehr als einen gequälten Schrei über die Lippen, als Bestesbulzibar ihn mit einer Hand beim Kopf packte und zu sich heranzog. Mit einem bösen Grinsen hob Bestesbulzibar die andere Hand, so daß alle im Umkreis sie
sehen konnten; dann streckte er den Zeigefinger aus und ließ ihn gedankenschnell zu einer schrecklichen Klaue anwachsen. Ein plötzlicher, unglaublich langer Streich ließ Gothra aufkreischen, und der Dämon stieß den Goblin zurück. Gothra starrte auf den blutenden Strich, der von seiner Stirn bis zum Schritt verlief, dann sah er wieder zu dem Dämon hinauf. Bestesbulzibar streckte eine Hand aus, und sein Dämonenzauber packte den Goblin – oder zumindest dessen Haut – und riß sie ihm so vollständig vom Leib, als helfe er Gothra aus dem Mantel. Das hautlose Etwas fiel zitternd zu Boden und starb. Um die Bestie herum wurde kein Geräusch laut, während der Geflügelte Gothras zerfetzte Haut mitsamt den Kleidern verschlang. »Wer ist Ulg Tik’narns Stellvertreter?« fragte Bestesbulzibar. Zunächst antwortete niemand, dann jedoch wurde ein Pauri nach vorn geschoben und stand bebend vor seinem Gebieter. »Dein Name?« »Kos – « Die Stimme des Zwergs verlor sich in entsetztem Keuchen. »Kos-kosio Begul heißt er«, half Maiyer Dek aus. »Und was ist Kos-kosio Beguls Meinung in dieser Angelegenheit?« fragte der Geflügelte. Maiyer Dek grinste entschlossen. »Er war dafür, nach Süden aufzubrechen«, log der Riese, dem die Vorstellung gefiel, daß das Zwergenheer von dem wenig durchsetzungsfähigen Koskosio angeführt wurde. »Oder wenigstens einmal ordentlich unter dem Menschengelumpe durchzugreifen, damit die Angelegenheit uns endlich nicht mehr im Wege steht.« Der Dämon schien erfreut und nickte, und Kos-kosio straffte ein wenig die Schultern.
»Dann führst jetzt du die Pauris an, Kos-kosio Begul«, verkündete Bestesbulzibar. »Und du und Maiyer Dek, ihr teilt euch das Kommando über die Goblins, bis ein angemessener Nachfolger für Gothra gefunden ist.« Bestesbulzibar ließ seinen glühenden Blick über die Versammlung hinwegstreichen. »Ihr beide steht mir persönlich dafür ein, daß Palmaris am Masur Delaval noch vor der Mittsommernacht fällt. Wir sehen uns vor den Toren von Palmaris wieder, meine Generäle, und sollte ich es als notwendig erachten, euch wiederzusehen, bevor diese Tore mir gehören, dann freundet euch schon mal mit Gothras Schicksal an!« Mit einer schwungvollen Gebärde, einem donnernden Flügelschlag und ein wenig Magie, die die Flammen des großen Lagerfeuers hoch in den Nachthimmel auflodern ließ, schoß die Bestie empor und flog rasch westwärts, um die anderen besetzten Ortschaften und seine gewaltigen Heerscharen in Augenschein zu nehmen. Mit dem Anblick von Weltenend zufrieden, wandte sich der Geflügelte nordwärts. Er hatte vor, tief über den jüngsten heranmarschierenden Zug hinwegzufliegen, um seinen Untergebenen mit seinem Anblick zugleich Mut zu machen und Furcht in ihren Herzen zu säen. Da jedoch wurde seine Aufmerksamkeit von etwas abgelenkt, einer Aura, einer Ausstrahlung, die der Geflügelte seit Jahrhunderten nicht wahrgenommen hatte. Er bremste ab und ging tiefer, flog in engen Schleifen über die Landschaft hinweg, die Augen geschärft, die Ohren gespitzt. Irgendwo dort unten mußte ein Elf stecken, einer vom Volk der Touel’alfar, die seine ältesten und meistgehaßten Feinde waren.
25. Im Einklang
Die Nacht war still und von unleugbarer Schönheit. Dann und wann jagte über seinem Kopf eine Wolke auf den Südwestwinden dahin, meist jedoch funkelten weit und breit nur Sterne, und überall duftete es nach Frühling, nach neu sprießendem Leben. Es war eine Lüge, eine einzige Lüge. Eibryan wußte, daß der Duft neu sprießenden Lebens nur allzu rasch den Ausdünstungen von Goblins, Pauris und Riesen würde weichen müssen, dem Gestank des Todes. All diese heitere Schönheit würde im donnernden Marschschritt der schwarzen Horde untergehen, im Knallen der Pauri-Peitschen und im Dröhnen der rollenden Kriegsmaschinen. Es war eine grausame Lüge: die friedliche Ruhe, die Heiterkeit, die Frühlingsbrise. Eine seitliche Bewegung ließ ihn aufmerken, aber der wachsame Hüter griff nicht nach seiner Waffe, denn die leicht und anmutig gesetzten Schritte und der Geruch – zart wie der Duft einer fernen Blumenwiese auf dem sanften Wind – waren ihm wohlbekannt. Pony, die Frau, die er so sehr liebte, kam leichtfüßig durch das Buschwerk, nur mit einem weich fließenden Seidennachthemd bekleidet, das ihr kaum bis zu den Knien reichte. Sie hatte ihr Haar, diese wilde Mähne, gelöst. Die Locken, von denen sich eine vorwitzig um das ganze Kinn herumbog, umspielten ihre Wangen und umrahmten ihr Gesicht auf eine verführerische Weise, die Eibryans Herz schneller schlagen ließ.
Sie sah den Mann an und lächelte, dann verschränkte sie die Arme, um den Wind abzuhalten, und sah zum Sternenzelt empor. »Wie habe ich dich nur mit hierhernehmen können?« Der Hüter trat hinter sie und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Pony ließ den Kopf auf seine Hand sinken und lehnte sich an ihn. »Wie hättest du mich denn daran hindern wollen?« Der Hüter lachte leise und küßte ihr Haar, schlang seine starken Arme um sie. Ja, wie nur? Er konnte nur Bewunderung hegen für ihren freien, ungebundenen Geist. Er konnte Pony, konnte das, was Pony ausmachte, nicht lieben, wenn er sie zu beherrschen versuchte, denn jeder Versuch einer Einengung würde sich gegen eben jenen freien Geist richten, den Eibryan so sehr bewunderte. Ihr Herz mochte ihm gehören, ihr Wille jedoch nicht. Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie er sie hätte vom Mitkommen abhalten können: mit einem ordentlichen Schlag auf den Kopf und dem anschließenden Festbinden in einer tiefen Höhle! Die Frau drehte sich in Eibryans Armen, ihr zartes Gesicht ganz nah an dem seinen, und sah zu ihm hinauf. Für einen langen, stillen Moment sah Eibryan sie an. Dann stand ihm das Bild vor Augen, wie sie von einem Goblin-Speer durchbohrt am Boden lag, und er sah rasch weg, schaute zu den Sternen hinauf und fragte sich, wie er weiterleben sollte, falls Pony etwas zustieß. Sie streichelte seine Wange, bis er sie wieder ansah. »Wir schweben beide in Gefahr«, erinnerte sie ihn. »Und ich könnte ebenso sterben, wie Eibryan sterben könnte.« »Sag so etwas nicht. Das wäre schrecklich.« »Aber möglich«, erwiderte Pony. »Weil dieses Risiko untrennbar mit dem verbunden ist, was wir als unsere Pflicht ansehen. In einer Welt, die vom Geflügelten beherrscht wird,
würde ich nicht leben wollen; da stürbe ich schon lieber im fernen Barbakan von des Teufels eigener Hand…« Ihre Stimme verlor sich, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Eibryan einen sanften Kuß. »Da stürbe ich schon lieber an der Seite meines Freundes und Geliebten.« Er wollte wieder wegsehen, da er sich dieser Aussicht nicht zu stellen vermochte, aber Pony hielt ihn fest am Kinn gepackt. Plötzlich war alle Zartheit aus ihrem schönen Gesicht verschwunden. »Ich bin eine Kriegerin«, erklärte die Frau. »Seit dem Tage, da ich das zerstörte Dundalis verließ, habe ich mein ganzes Leben mit Kämpfen verbracht. Meine Pflicht wiegt nicht geringer als die deine.« »Natürlich nicht«, stimmte Eibryan rasch zu. »Und wenn ich schon sterben muß, dann auf dem Schlachtfeld«, sagte Pony mit zusammengebissenen Zähnen. »Im Kampf gegen den Geflügelten, auf daß Avelyn die teuflische Bestie vernichten kann. Ich bin eine Kriegerin, mein Geliebter. Beraube mich nicht eines würdigen Endes.« »Es wäre mir nur lieber, wenn unser beider Ende noch hundert Jahre auf sich warten ließe«, erwiderte Eibryan und brachte ein hilfloses Lächeln zustande. Pony berührte seine Mundwinkel, die von einem kratzigen, tagealten Bart umrahmt waren. »Na, na«, sagte sie leise, »du mußt wohl deine feine Elfenklinge zur Anwendung bringen, sonst brennt mir nachher das ganze Gesicht.« »Nicht nur das Gesicht, Geliebte«, sagte Eibryan neckend und hob sie empor, um sie sanft in den Hals zu beißen und ihr mit den Bartstoppeln über die Schulter zu fahren. Sie ließ sich wieder hinabrutschen und preßte sich eng an ihn, und als sie einander erneut ansahen, war alles Verspielte aus ihrer beider Blicke verschwunden, verlor sich alles Neckische in unvermittelter Leidenschaft, in dem Wissen, daß ihre
gemeinsame Zeit sich einem schrecklichen Ende nähern mochte. Da küßte Pony ihn, fest und leidenschaftlich, und grub ihre Hände in sein volles Haar, um ihn noch dichter an sich heranzuziehen, obwohl es gar keinen Abstand mehr zwischen ihnen gab. Eibryan umschlang sie sogar noch fester, zerdrückte sie fast mit seinen starken Armen. Eine Hand ließ er zu ihrem Schenkel hinunterwandern und dann hoch unter das Nachthemd, über die glatte Haut ihrer Pobacken, und dann zart den Rücken hinauf, um sie zu halten, während er sie langsam zum Erdboden sinken ließ.
»Ist ein Zaubertrunk«, beharrte Avelyn. Bradwarden schnaubte. »Mit dem sich höchstens jemand umhauen läßt. Welcher Narr braut denn so etwas zusammen? Einen Trunk, der dich zur Erde schickt, wo das jede Keule besser kann!« »Ist ein Trunk zum Mutmachen!« protestierte Avelyn und nahm einen ordentlichen Schluck, dann wischte er sich mit dem Unterarm das Gesicht ab. »Ein Trunk zum Versteckspielen«, sagte Bradwarden plötzlich ganz ernst. Avelyn starrte den Zentauren an. »Ich zeche auch schon mal ganz gern«, sagte dieser. »Mit Elfennebel, und du findest auf der ganzen Welt kein stärkeres Gesöff. Aber ich trinke, wenn es etwas zu feiern gibt, zu den Sonnwendfesten, und nicht weil ich etwas zu verbergen hätte.« Die Anschuldigung traf den Mönch schwer, vor allem aus diesem Munde. In den ersten Wochen ihrer Reise hatte sich Avelyn mit Bradwarden angefreundet, und es war eher Respekt als Kumpanei, was sie miteinander verband. So war der ernste, vorwurfsvolle Tonfall des sonst so fröhlichen
Zentauren auch nicht mißzuverstehen; Bradwarden sah es nicht gern, wenn der Mönch zu seiner Taschenflasche griff. »Vielleicht gibt es einfach nicht so viel, was du verbergen müßtest«, sagte der Mönch leise und hob trotzig die Flasche an die Lippen. Aber diesmal nahm er keinen ordentlichen Schluck – etwas in den Augen des Zentauren hielt ihn zurück. »Je mehr man verbirgt, desto mehr hat man zu verbergen«, erwiderte Bradwarden. »Sieh mich an, Bruder Avelyn. Sieh mir in die Augen, und dann weißt du, daß über meine Lippen keine Lügen kommen.« Avelyn setzte die Flasche ab und sah Bradwarden an. »Es war kein Unrecht, die Steine an dich zu nehmen«, sagte der Zentaur. »Was soll das denn bitte?« protestierte der Mönch. »Ach, hör mir auf mit dem Versteckspiel, Avelyn Desbris«, sagte Bradwarden prompt, den der allzu laute Protest des Mönchs nur noch bestärkt hatte. »Du fürchtest dich nicht vor deinem Volk oder deinen Mönchsbrüdern und auch nicht davor, daß dir ein neuer Bruder Richter auf den Hals geschickt wird. Nein, mein Freund, du fürchtest dich vor Avelyn, vor dem, was du dir und deiner unsterblichen Seele angetan hast. Hast sie besudelt und befleckt, was?« »Was weißt du schon!« »Ho, ho, hoppla!« ahmte der Zentaur ihn nach. »Ich weiß eine Menge über Menschen, über Avelyn. Ich weiß, daß dein ganzes Mutantrinken nicht mehr ist als der Versuch, vor deiner Vergangenheit davonzulaufen, vor den Entscheidungen, die du gefällt hast – und das waren gute Entscheidungen! Jetzt hör mir mal zu, mein Freund, denn ich sage die Wahrheit, weil ich auch gar nicht wüßte, warum ich lügen sollte: Es war richtig, daß du geflohen bist, daß du dir die Steine gegriffen hast, es war sogar richtig, daß du einen Menschen, der dich umbringen
wollte, selbst umgebracht hast. Du hast getan, was du tun mußtest, mein Freund, also reib dich nicht an irgendeiner Schuld auf, sondern kümmere dich um das, was vor dir liegt. Du hast gesagt, du wüßtest, was deine Bestimmung ist, und ich glaube an diese deine Bestimmung, denn sonst wäre ich nicht hier. Du hast gesagt, daß du gegen den Geflügelten kämpfen willst, daß du die Bestie vernichten willst, und das wirst du auch tun, aber nur, wenn in deinem Kopf und deinem Herzen kein großes Durcheinander herrscht.« Diese Worte, ausgesprochen von einem so geheimnisumwitterten, weisen und alten Geschöpf, berührten Avelyn zutiefst. Er schaute wieder auf seine Taschenflasche hinab und sah sie zum ersten Mal als Feind an, als Ausdruck von Schwäche. »Du brauchst diesen Trunk nicht«, sagte Bradwarden. »Aye, aber ich sage dir, sobald du den Geflügelten besiegt hast, werden wir uns ein Schlückchen Elfennebel zu Gemüte führen, damit du einmal weißt, wie es ist, wenn sich einem wirklich alles dreht!« Er packte Avelyn beim Handgelenk, zog die Flasche weiter von ihm weg und sah ihm in die Augen. »Avelyn braucht sich doch vor Avelyn nicht zu verstecken«, sagte er voller Ernst, und nach einer Weile nickte der Mönch langsam. »Aber vor dem Geflügelten, stimmt’s?« sagte Bradwarden unvermittelt, froh darüber, zu ihm durchgedrungen zu sein. »Stimmt’s, du würdest dich gern vor dem Geflügelten verstecken, bis der rechte Zeitpunkt gekommen ist – bloß daß die Flasche dafür nun doch ein bißchen klein ausfällt!« Avelyn sagte nichts, nickte nur erneut. Er war verblüfft, daß Bradwarden ihn so durchschaut hatte, ihm direkt ins Herz und in die Seele geschaut und den Makel der Schuld gefunden hatte. Dieser Trunk, den er stets griffbereit hatte, war kein
Mutmacher, sondern ein Eingeständnis der Feigheit und diente der Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Avelyn sah Bradwarden an, und als der Zentaur lächelte, weil die Taschenflasche ins Buschwerk flog, da lächelte auch er. Nun konnte sich Avelyn endlich seiner Bestimmung stellen, ohne länger den Weg zu bedauern, der ihn hierhergeführt hatte. Und der Zentaur, er hob seine Pfeifen und begann ruhig zu spielen, denn seinem Lied wohnte der Zauber inne, daß kein Goblin, kein Monster, kein Mensch und nicht einmal ein Tier im nächtlichen Wald herausfinden konnte, woher es kam. Die ebenso klagenden wie hoffnungsvollen Klänge schenkten Avelyn Frieden und bestärkten ihn in seiner Standhaftigkeit. Sie entschwebten durch die Baumwipfel, betörten erst die Liebenden und dann Paulson und Eichhorn, die weiter draußen ein wachsames Auge auf den nächtlichen Wald gerichtet hielten. Und so war die Gruppe durch Bradwardens Lied vereint. Sechs Seelen, ein Gedanke. Im Einklang.
Für Tuntun und Symphony brachte die ruhige Nacht keine Ruhepause. Die Elfe achtete sehr auf erste Anzeichen von Erschöpfung, aber der große Hengst lief einfach weiter und weiter, glitt durch die Blätterschatten wie das Licht der Mondin Sheila, immer weiter, bis zum Horizont und weit darüber hinaus. Sie waren auf einer Suche, die ihnen ebensosehr am Herzen lag wie den sieben der Sturm auf den Geflügelten. Tuntun spürte nach wie vor den Stachel, von dieser überaus wichtigen Reise ausgeschlossen worden zu sein, und daran konnte kein noch so vernünftiges Argument etwas ändern. Tuntuns Wunsch, den Geflügelten zu vernichten, war nicht weniger innig als der Juraviels oder sonst eines Elfen oder Menschen.
Aber sie mußte sich eingestehen, daß es mehr war als das; denn es war ein Gefühl, daß sie hinausgetrieben hatte, kein Gedanke. Tuntun konnte nicht anders, als der Gruppe nachzueilen, und das lag zum Teil daran, daß auch Belli’mar Juraviel mit ausgezogen war – trotz aller Querelen ihr engster Freund –, zum Teil aber auch daran, daß es Nachtvogel war, der die Truppe anführte. Die Elfe konnte die Gefühle, die sie für den Hüter hegte, nicht länger leugnen. Sie hatte einen gewichtigen Anteil daran gehabt, daß aus Eibryan der Nachtvogel geworden war, und konnte es, wie eine Mutter bei ihrem Kinde, nicht ertragen, ihn ziehen zu lassen. Ja, vor allem wegen Nachtvogel ritt die Elfe nun durch den nächtlichen Wald. Wegen dem Mann, den sie unterwiesen und schließlich in ihr Herz geschlossen hatte. Sie vertraute dem Hüter, sie traute ihm zu, den Sieg davonzutragen – aber dennoch, in dieser seiner dunkelsten, in dieser seiner glorreichsten Stunde wollte sie an seiner Seite sein. Die Elfe beugte sich über Symphonys wehende Mähne und bat den Hengst weiterzulaufen, und dazu brauchte Symphony, der ebenso tief mit dem Hüter verbunden war wie sie, weder ermuntert noch aufgefordert zu werden.
26. Feinde von alters her
»Ihr habt uns allen das Leben gerettet, das will ich gar nicht bestreiten«, sagte Jingo Gregor, dessen Stimme die Strapazen der ebenso unfaßlichen wie furchtbaren letzten Wochen deutlich anzuhören waren. »Aber sollen wir darum gleich freiwillig mitten in ein Zauberland hineinmarschieren?« Flehentlich sah er zu den Zweigen hinauf, zu dem sich selten zeigenden Führer, der die Flüchtlinge durch unwegsames Gelände nach Süden gebracht hatte, bis zu einem hochaufragenden Gebirgszug. »Besser das, als auf die Goblin-Horden zu warten«, entgegnete Belli’mar Juraviel. »Ich biete euch Schutz an, einen so sicheren Hafen, wie man ihn auf dieser Welt sonst kaum finden wird. Und dies anzubieten fällt nicht leicht, Meister Jingo Gregor. Ihr seid den Touel’alfar nicht minder fremd als sie euch, und unser Heimattal ist den Menschen üblicherweise verschlossen. Und doch bringe ich euch dorthin, denn wenn ich es nicht tue, seid ihr allesamt verloren.« »Ich will nicht undankbar sein, guter Juraviel«, erwiderte Jingo Gregor. »Nur vorsichtig«, schloß Juraviel für ihn und kam den Baum hinab, damit der Mann ihn richtig in Augenschein nehmen konnte, was er bisher kaum einem der Menschen gestattet hatte. »Und du tust gut daran, wenn man bedenkt, welche Tragödie über dich und deinen Klan hereingebrochen ist. Doch ich bin nicht euer Feind.« »Das hat sich längst erwiesen«, stimmte Jingo zu. »Dann sorgt euch nicht länger, denn Andur’Blough Inninness ist nicht mehr fern. Schätzt euch glücklich, das Nebeltal der
Elfen erblicken zu dürfen.« In seiner letzten Bemerkung schwang eine unbewußte Drohung mit, die Juraviels eigene Zweifel an der Entscheidung widerspiegelte, Menschen in das geheime Tal zu bringen. Sicher, Eibryan war dorthin gebracht und unterwiesen worden; sicher, Lady Dasslerond hatte ihm, Tuntun und den anderen gestattet, hinauszugehen und dem Hüter in seinem Kampf zur Seite zu stehen. Aber Menschen ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Herrin nach Andur’Blough Inninness zu bringen, stellte ihr Mitgefühl wahrlich auf die Probe, und Juraviel konnte nicht einmal ausschließen, daß die Gruppe kurzerhand in die Irre geführt werden würde, daß sich die Wege ins Nebeltal selbst ihm nicht offenbaren würden. Barmherzig war seine Herrin, das stand außer Zweifel; vor allem jedoch war sie eine pragmatische Beschützerin ihres Reiches. Das Wohlergehen der Touel’alfar ging ihr über alles, womöglich sogar über das Leben einer Handvoll unglückseliger menschlicher Flüchtlinge. Trotz der leisen Anklänge von Zweifel in Juraviels Stimme schien Jingo Gregor mit seinen Worten zufrieden – einer Rede, die Juraviel ihm in den letzten Tagen des öfteren gehalten hatte. Der Elf besaß nichts als Mitgefühl für diese abgerissene Gruppe, von denen viele enge Angehörige verloren hatten und die meisten gequält und gedemütigt worden waren. Juraviel hatte nichts dagegen, seine beruhigenden Worte so oft zu wiederholen, wie die armen Leute sie hören wollten, auch wenn er sich im stillen nicht wirklich sicher war, wie die Sache ausgehen würde. Jingo Gregor verabschiedete sich, um in die Wärme des Lagerfeuers und zu seinen achtzehn Gefährten zurückzukehren. Auch Juraviel zog seine Kreise nun wieder enger um das Lagerfeuer herum, aber er huschte so leise durch die knospentragenden Baumkronen, daß die Menschen von seinen Wachrunden nicht das geringste bemerkten.
Das Feuer war heruntergebrannt – nicht daß es vorher sonderlich höher gewesen wäre, denn Juraviel setzte auf Vorsichtsmaßnahmen, obwohl er sich einigermaßen sicher war, daß keine Ungeheuer in der Nähe waren, jedenfalls keine organisierten Gruppen. Nun bestand das Feuer nur noch aus orangefarbener Glut, die die ruhenden Gestalten in ein fahles Licht tauchte, das dem gleichmäßigen Atmen der Schlafenden zu entsprechen schien. Auch Juraviel war bereits schläfrig und machte es sich hoch oben in einer Astgabel gemütlich. Sicher, er hätte ein wachsames Auge auf den Erdboden werfen müssen, aber wie es nun einmal in der Natur seines gedankenvollen Volkes lag, wanderten seine Augen immer wieder zu den Sternen und den großen Mysterien empor. Und dann zu etwas anderem, etwas Dunklerem und Bedrohlicherem, das schnell wie der Wind über den Himmel zog, direkt auf das Lager zu, auf ihn zu. Der Elf spürte die Gegenwart des Geflügelten ebenso deutlich, wie dieser ihn spürte, spürte die schreckliche Erhabenheit des abgrundtief Bösen, den Eishauch der ewigen Nacht. Mit großer Anstrengung riß sich Juraviel von dem Anblick des Nachthimmels und des drohenden Untergangs los und schlüpfte rasch von Zweig zu Zweig nach unten, bis mitten ins Lager hinein. Er lief umher, trat gegen Füße und zischte Warnungen, bis sämtliche Menschen auf den Beinen waren. »Verschwindet!« befahl der Elf. »Bildet Vierer- und Fünfergruppen und zerstreut euch im Wald, schnell!« Fragen prasselten auf ihn und die bestürzten Anführer der Flüchtlinge ein, aber Juraviel zeigte sich unnachgiebig. »Was zögert ihr!« rief der Elf. »Gleich stürzt sich hier der Tod herab! In den Wald mit euch!« Der Geflügelte war nah, so nah! Die Menschen liefen durcheinander, um ein paar Habseligkeiten aufzuklauben oder
wenigstens noch in die Stiefel zu kommen, bevor es in die dunkle Waldnacht hinausging. Juraviel blieb neben dem Lagerfeuer stehen, bis alle verschwunden waren, den Blick himmelwärts gerichtet, um nach dem finsteren Schemen Ausschau zu halten. Er sah und spürte zugleich, wie der Geflügelte von hoch oben herabschoß und achtlos durch die Baumkronen brach, um im allerletzten Moment herumzuwirbeln und sanft auf dem Erdboden aufzusetzen, gleich auf der anderen Seite des Feuers. Obwohl Juraviel sich fragte, welchen Nutzen seine schmale Klinge gegen den schrecklichen Dämon haben mochte, zog er sein Schwert. Er hoffte inständig, daß die Leute allesamt zurückgestürmt kamen, um ihm gegen das Monster beizustehen, und gleichzeitig hoffte er, daß sie nicht so dumm waren, gemeinsam mit ihm in den Tod zu gehen. »Touel’alfar«, sagte der Dämon mit seiner kraftvollen Stimme. »Stirbt langsam aus, dein Volk. Wird schwach und schwächer.« »Hebe dich hinweg, Dämon«, erwiderte Juraviel mit aller Festigkeit, die er aufbringen konnte. »Du hast keine Macht über mich, keinen Anspruch auf mein Herz oder meine Seele. Ich bin es, der hier gebietet, und ich sage, hinweg mit dir und deinen Lügen!« Der Geflügelte schien seine Worte und seinen Mut für äußerst amüsant zu halten und lachte ihn aus. »Wie kommst du darauf, daß ich Anspruch auf dein winziges Elfenherz erheben will, auf dein bißchen Seele? Obwohl das mit dem Herzen gar keine so schlechte Idee ist. Am lieblichen Elfenblut habe ich mich schon lange nicht mehr gelabt.« Während er noch sprach, begann Bestesbulzibar langsam das Feuer zu umkreisen, und Juraviel bewegte sich mit ihm, um die glühenden Äste zwischen sich und dem Dämon zu halten – obwohl, wenn er es recht bedachte, selbst ein noch so hoch
aufloderndes Feuer keinen Schutz bot vor einer Kreatur aus den feurigen Schlünden der Unterwelt. »Was treibst du dich hier draußen rum, Touel’alfar?« fragte Bestesbulzibar. »Was hat dich aus eurem Tal getrieben – jawohl, ich weiß von eurem Tal. Ich habe viel gelernt seit meinem Erwachen, Elfennarr, und ich weiß, daß dein Volk sehr zusammengeschrumpft ist, wie auch eure Welt jetzt kleiner ist, kaum mehr als eine einzige Schlucht noch, während sich draußen das Menschenvolk breitmacht. Was also willst du hier, Elf, was zieht dich so weit fort von zu Hause?« »Die Finsternis des Geflügelten«, antwortete Juraviel mit fester Stimme. »Dein Schatten ist es, der die Touel’alfar weckte, Scheusal, denn du bist uns wohlbekannt.« »Aber was wollt ihr gegen Bestesbulzibar ausrichten?« dröhnte der Dämon plötzlich, und ebenso plötzlich griff er an, platzte mitten durch das Feuer hindurch, daß die Funken nur so stoben und Juraviel geblendet war. Rasch stieß er mit seinem kleinen Schwert zu und erzielte auch einen Treffer, der den Geflügelten jedoch kaum aufhielt, denn seine Panzerhaut war selbst für eine Elfenklinge undurchdringlich, und so schlug ihm der Dämon mit der einen Pranke das Schwert aus der Hand und packte ihn mit der anderen bei der Kehle und riß ihn von den Füßen. »Oh«, ächzte Bestesbulzibar wie in Verzückung. »Ich könnte es dir herausreißen, Elf«, sagte er höhnisch und fuhr mit einem Klauenfinger über Juraviels winzige Brust, »könnte es dir vor die Augen halten und in das rote Fleisch beißen, während du es zum letzten Mal schlagen siehst.« »Ich fürchte dich nicht«, keuchte Juraviel mit dem bißchen Luft, das ihm noch geblieben war. »Dann bist du ein Narr«, erwiderte Bestesbulzibar. »Weißt du, was nach dem Tode kommt, Elf? Weißt du, was dich
erwartet?« Der Dämon lachte böse, und ein Donnern fuhr durch die stille Nacht. »Keine Qualen…«, keuchte Juraviel. »Da du so reinen Herzens bist«, flötete Bestesbulzibar und wackelte mit dem Kopf, dann lachte er noch schallender als zuvor. »Keine Qualen…«, stimmte der Teufel zu. »Nichts! Hörst du? Gar nichts, Elf. Für ein so jämmerliches Geschöpf wie dich gibt es kein Leben nach dem Tode! Nur formlose Schwärze. Also vergeude deine kostbaren Sekunden nicht, Elfennarr. Bitte mich lieber, noch einen Morgen erleben zu dürfen.« Juraviel sagte nichts. Er klammerte sich an seinen Glauben, dessen Lehren tatsächlich davon ausgingen, daß einem die guten Taten im Jenseits vergolten wurden. Er dachte an Garshan Inodiel, den Gott der Elfen, der wie der Menschengott ein Gott der Gerechtigkeit und Verheißung war. Im Angesicht der Finsternis, die Bestesbulzibar hieß, erfuhr Belli’mar Juraviel, was Zweifel waren. »Aber warum treibst du dich hier draußen herum?« fragte der Dämon erneut und sah ihn forschend an. »Was weißt du, das ich nicht weiß?« Juraviel schloß die Augen und schwieg. Er rechnete damit, gefoltert zu werden, durch Ausreißen der Glieder vielleicht, bis er alles gestanden hatte, was er wußte, bis er seine Freunde und ihren heimlichen Vorstoß in den Barbakan verraten hatte. Nein, daran durfte er nicht einmal denken! Rasch wandte er seine Gedanken wieder Garshan Inodiel zu und versuchte, alles andere unter der heiteren Ruhe der göttlichen Verheißung verborgen zu halten. Dann jedoch bekam Juraviel die vielleicht schrecklichste Folter zu spüren, die sich einem der tapferen Touel’alfar antun ließ. Er spürte, wie etwas in ihn eindrang, wie die dunkle und kalte Anwesenheit Bestesbulzibars sich in seinen Gedanken
ausbreitete wie Tinte im Wasser. Entsetzt riß er die Augen auf, vor denen die verzerrte Fratze des Dämons stand, die flammenden Augen vor Konzentration auf diesen bösen Zauber zugekniffen. Juraviel kämpfte tapfer, aber vergebens. Je mehr er versuchte, nicht an Eibryan und die anderen zu denken, desto mehr erfuhr Bestesbulzibar über sie. Der Dämon, so fürchtete er, würde bekommen, was er wollte, und dann würde er erst ihn verschlingen und dann seine ahnungslosen Freunde! »Avelyn«, flüsterte Bestesbulzibar. »Nein!« schrie Juraviel. Er trat mit aller Kraft um sich und erwischte den Dämon am Auge. Er wand sich frei und stürzte zu Boden, rappelte sich auf, doch über ihm stand Bestesbulzibar wie ein Berg und lachte höhnisch. »Du hast hier nichts zu suchen«, ließ sich plötzlich eine wohlklingende Stimme vernehmen, die der Dämon nicht ignorieren konnte. Bestesbulzibar und Juraviel fuhren herum und sahen Lady Dasslerond aus dem Buschwerk treten, flankiert von einem Dutzend Elfen, die mit Schwert und Bogen bewaffnet waren. »Du lebst noch immer!« heulte der Dämon, als er die Herrin von Caer’alfar erblickte, eine Elfe, der er vor Jahrhunderten schon begegnet war. »Und du wandelst erneut auf Erden«, erwiderte sie, »was die Welt nur beweinen kann.« »So gehört es sich ja wohl auch!« schnaubte Bestesbulzibar. »Und, wer mimt diesmal deinen Terranen Dinoniel, Dasslerond? Wer will sich mir diesmal entgegenstellen?« Bei den letzten Worten sah er drohend auf Juraviel hinab, den die Furcht, seine Freunde verraten zu haben, zittern ließ wie Espenlaub. »Wer, Dasslerond? Du oder dieses jämmerliche Häuflein Elend hier?« Bestesbulzibar ließ seinen Blick über die
versammelten Wichte schweifen und lachte schallender denn je. »Dir alle zusammen vielleicht? Fein, sage ich, laßt uns loslegen. Je eher ich euch lästige Elfenfliegen los bin, desto besser!« »Ich kämpfe nicht mit dir«, erwiderte Lady Dasslerond kühl. »Nicht hier.« Damit hielt sie einen gewaltigen grünen Edelstein empor, dessen Magie hell aufloderte und alles im Umkreis in ein grünes Licht tauchte – nur Bestesbulzibar nicht, denn seiner dämonischen Finsternis war mit keinem Licht der Welt beizukommen. »Was für eine List ist das?« protestierte der Teufel. »Meint ihr, damit – « Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als sich alles um sie herum zu drehen und ineinander zu schieben begann, als alles um sie herum zu einem grünlichen Wirbel verschmolz und dann wieder klar wurde, kristallklar und schön unter dem Sternenzelt, dem prächtigen Gefunkel. Sie befanden sich allesamt in Andur’Blough Inninness. Lady Dasslerond, Juraviel, die Elfenkrieger, die Flüchtlinge. Und Bestesbulzibar. »Was für eine List ist das!« brüllte der Teufel in plötzlichem Zorn, als ihm aufging, daß er diesem Ort, dem Herzen der Elfenmacht, besser ferngeblieben wäre. »Ich heiße dich in meiner Heimat willkommen, Schattenwesen«, antwortete Lady Dasslerond mit einer Stimme, der die gewaltige Kraftanstrengung anzuhören war, die es bedeutet hatte, sie alle hierherzubringen – beziehungsweise den Erdboden unter ihren Füßen zu verwandeln. »Hier kannst du mich nicht besiegen, nicht heute.« Der Dämon knurrte, als er spürte, wie mächtig die Herrin und ihr Gefolge hier waren, in ihrem Herrschaftsbereich. »Aber bald«, versprach Bestesbulzibar.
Die Herrin hielt den grünen Edelstein empor, das Herz von Andur’Blough Inninness. Es glühte wild. Bestesbulzibars unirdisches Brüllen, ein schmerzerfüllter, zornentbrannter Aufschrei, verschlug ihr den Atem. »Dann hast du den armseligen Elfen und seine menschlichen Schützlinge also in Sicherheit gebracht«, schnaubte der Teufel. »Was habt ihr davon schon, wenn die ganze Welt erst mir gehört?« Er spreizte die schwarzen Schwingen und schwang sich unter dem Schwirren der Elfenbögen und den ebenso lautstarken wie wohlklingenden Beleidigungen der Elfenkrieger in die Lüfte empor. Aber so erfolgreich sie den Finsteren auch in die Flucht geschlagen hatten, unter den Touel’alfar wollte keine rechte Freude aufkommen. Lady Dasslerond war gezwungen gewesen, Bestesbulzibar an die geheimste, geheiligtste Stätte der Elfen zu bringen, um seine teuflische Macht zu neutralisieren, und damit hatten sie zwar die Flüchtlinge gerettet, aber mehr auch nicht. Juraviel trat neben Lady Dasslerond, die auf die Stelle hinabsah, an der Bestesbulzibar gestanden hatte. Der Boden, den seine klauenbewehrten Füße bedeckt hatten, war geschwärzt und aufgerissen. »Eine Wunde, die nicht wieder heilen wird«, sagte die Herrin mutlos. Juraviel kniete nieder. Er konnte die Fäulnis riechen: Die Erde selbst war durch die Anwesenheit des Bösen besudelt worden. »Eine schwärende Wunde, die sich allmählich ausbreiten wird«, verkündete die Herrin der Elfen. »Wir müssen uns Tag und Nacht um diesen Flecken Erde kümmern. Wann immer wir es versäumen, unsere Zauberkraft und unsere Lieder gegen die Fäulnis zu stellen, die Bestesbulzibar heißt, wird sie sich weiter in unserem Tal ausbreiten.«
Juraviel sah mit einem Seufzer der Mutlosigkeit zu seiner Herrin empor, und die Schuld an dieser Misere stand ihm deutlich ins ebenmäßige Gesicht geschrieben. »Die Macht des Geflügelten wächst«, sagte sie ohne jeden Vorwurf. »Ich habe versagt.« Lady Dasslerond sah ihn ungläubig an. »Der Dämon weiß Bescheid«, gestand Juraviel. »Der Dämon weiß von Eibryan, von Avelyn und von dem Plan.« »Dann beweine Eibryan«, erwiderte die Herrin. »Oder vertraue auf den Nachtvogel und auf Bruder Avelyn, der reinen Herzens ist. Sie zogen gen Norden, um Bestesbulzibar zu finden, und so wird es auch kommen.« Juraviel konnte den Blick nicht von der schwarzen Wunde wenden, die der Dämon in ihren Heimatboden geschlagen hatte. Die Macht des Geflügelten war wahrlich gewachsen, wenn er das Herzland von Andur’Blough Inninness so beflecken konnte. Die Herrin hatte an sein Vertrauen appelliert, also wollte er vertrauen. Aber als er den Blick von der Wunde gen Norden hob, stand ihm die Furcht nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben. »Und nun haben wir unsere Pflichten«, hob Lady Dasslerond die Stimme. »Ein jeder von uns. Wir haben unerwartete Gäste, die bewirtet und zu ihresgleichen an einen sicheren Ort gebracht werden wollen – wenn es denn noch irgendwo einen sicheren Ort gibt auf der Welt.« Sie schaute wieder auf die schwarze Wunde hinab, die in ihr herrliches Tal geschlagen worden war. »Es liegt viel Arbeit vor uns«, sagte sie leise.
27. Gehetzt
»Die Lande werden immer unwirtlicher, Onkel Mather, als paßten sie sich der Natur unseres Feindes an. Die Bäume, die keines Menschen Hand je beschnitten hat, sind älter und düsterer, und die Tiere zeigen keine Furcht, weder vor unserer Witterung noch vor unseren Waffen.« Eibryan lehnte sich gegen die Baumwurzel zurück, die quer durch sein behelfsmäßiges Orakel wuchs, und ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Sie waren nur zu wahr; so weit nördlich von allen bekannten Siedlungen der Menschen wirkte die Welt wahrlich größer und beeindruckender. Kaum eine Tagesreise entfernt ragten die zerklüfteten Berge des wilden Barbakan empor. Sie beherrschten den gesamten nördlichen Horizont und ließen die Reisenden sich um so kleiner vorkommen. »Das bereitet mir gemischte Gefühle«, fuhr der Hüter fort. »Ich fürchte um unsere Sicherheit – werde ich in der Lage sein, meine Freunde zu beschützen? Wobei ich gar nicht so sehr an unseren Feind denke, sondern schlicht an all das, was hier täglich unser Überleben bedrohen mag. Und andererseits fühle ich mich in dieser Unwirtlichkeit freier denn je. Hier lebe ich alles, was mich die Elfen einst lehrten. Hier, im hohen Norden, darf man sich keinen Irrtum und keine Schrecksekunde gestatten, und das läßt mich Tag und Nacht die Ohren spitzen, Tag und Nacht auf dem Sprung sein. Ich fürchte mich, also bin ich.« Wieder lehnte sich Eibryan zurück, und die Ironie des Ganzen ließ ihn schmunzeln. Ich fürchte mich, also bin ich.
»Wenn man sie vor die Wahl stellte, würden die meisten Menschen wohl ein Leben in Luxus und Behaglichkeit vorziehen«, sagte er leise, »umgeben von treusorgenden Dienern und Konkubinen. Darin liegt ihr Irrtum, denn hier draußen, wo stets Gefahr droht, bin ich zehnmal lebendiger, als sie es je sein könnten. Und aus der Herausforderung, die Pony mir bietet – und ich ihr hoffentlich ebenso –, ziehe ich zehnmal soviel Befriedigung. Das ist, glaube ich, der Unterschied zwischen körperlicher Befriedigung und dem echten Liebesakt, der Unterschied zwischen purer Gier und Leidenschaft. Der Weg, der vor mir liegt, mag mir einen frühen Tod bescheren, aber hier draußen, eins mit meiner Seele und meiner Natur, am Rande des Untergangs, habe ich zehnmal mehr erlebt, als die meisten je erleben werden. Und darum, Onkel Mather, bereue ich diese Reise nicht, die das Schicksal mir auferlegt hat, ebensowenig wie ich es bereue, die anderen – Bradwarden und Avelyn, Paulson und Eichhorn und vor allem Pony – mitgenommen zu haben. Ich bedaure Belli’mar Juraviel, der dies nicht mit uns durchstehen kann, weil ihm eine andere Verpflichtung in die Quere kam.« Eibryan legte sein Kinn in die Handfläche, um in Ruhe nachzudenken; dabei ruhte sein Blick wie immer auf der flüchtigen Gestalt im Spiegel. Es verhielt sich alles so, wie er gesagt hatte. Für Leid und Tod hatte er nicht viel übrig, das verstand sich von selbst; dennoch konnte er die Erregung und das Gefühl von Richtigkeit nicht leugnen, ebensowenig wie das Gefühl, für den Lauf der Welt von Bedeutung zu sein. Er sah Mathers Abbild genauer an, hielt nach einem zustimmenden Lächeln oder einem Stirnrunzeln Ausschau, das darauf hindeutete, daß er falsch lag mit seinen Überlegungen, daß sie kaum mehr darstellten als eine Abwehr gegen die Verzweiflung. Er sah genauer hin, und er sah einen Schatten aus den Tiefen des Spiegels zur Oberfläche dringen. Mit einem
Seufzen verstand er den anwachsenden Schatten als einen Verweis, als einen Hinweis darauf, daß er sich lediglich ein paar fadenscheinige Ausreden zurechtgelegt hatte. Allmählich jedoch ging ihm auf, daß diese Schattenwolke nichts mit Mather oder seinen eigenen Überlegungen zu tun hatte, ging ihm auf, daß es sich hier um etwas anderes handelte, um etwas Dunkleres. Eibryan richtete sich kerzengerade auf. »Onkel Mather?« flüsterte er mit weit aufgerissenen Augen, während etwas kalt nach seinem Herzen griff. Etwas Kaltes, etwas Finsteres, etwas Todbringendes. Verwirrt versuchte der Hüter, sich einen Reim auf das zu machen, was da vor sich ging. Es gab nur ein Wesen, das solche Finsternis bringen konnte, erkannte er plötzlich. Ob es sich um eine Warnung Mathers aus dem Jenseits handelte oder um eine durch den Orakelzauber entstandene Verbindung, wußte Eibryan nicht zu sagen, und es war ihm auch einerlei. Wichtig war nur eines: Der Geflügelte suchte nach ihm, nach ihnen, suchte mit seinen unirdischen Augen die ganze Welt nach ihnen ab. Entsetzen packte ihn, als er begriff, daß sein eigener Gebrauch des Orakels dem Feind womöglich geholfen hatte, sie ausfindig zu machen. Er sprang auf, krachte dabei mit dem Kopf gegen das Wurzelwerk und griff sich den Spiegel, um sämtliche Verbindungen zu unterbrechen. Anschließend eilte er zur Höhlenöffnung, riß die Decke herab und schlang sie um den Spiegel; dann kroch er in das schwindende Tageslicht hinaus und rief Avelyn herbei.
Der Geflügelte zog seine jüngste Schöpfung aus dem Lavastrom und hielt sie empor – einen glühenden Spieß, einen spitz zulaufenden Speer.
»Narren allesamt.« Er lachte und begutachtete sein Meisterstück, die Waffe, die diese jämmerlichen Menschen aufspüren und vernichten würde, noch bevor sie den AidaBerg gefunden hätten. Er hauchte dem Speer ein, was er gesehen hatte, die verräterischen Spuren menschlichen Zauberwerks. Er hauchte dem Speer ein, was die Magie der Unterwelt war, die Kraft zu sengen und zu brennen. Dann rief er nach seiner Leibwache, den gepanzerten Riesen, und ihrem Anführer Togul Dek. Als der Rohling vor seinem finsteren Gebieter stand, hielt Bestesbulzibar ihm den glühenden Speer entgegen. Togul Dek zögerte, als er merkte, welche Hitze von ihm ausging, welch gewaltige Zauberkraft. Bestesbulzibar hielt ihm die neun Fuß lange Waffe näher hin und knurrte eine letzte Warnung, und Togul Dek, der den Dämon mehr fürchtete als den glühenden Speer, griff hastig zu. Als seine Finger sich um die teuflische Waffe schlossen, winselte er. Dann stellte er überrascht fest, daß der Schaft sich kalt anfühlte. »Mit zehn Mann ausrücken«, befahl Bestesbulzibar. »Menschen nähern sich meinem Thron. Der Speer wird euch führen.« »Will Bestesbulzibar der Große irgendwen lebend?« fragte der Riese bellend. Der Geflügelte starrte ihn an, als stelle allein schon der Gedanke, er werde seine Zeit und Energie auf dieses jämmerliche Häuflein Menschen verschwenden, eine Beleidigung dar. »Bringt mir ihre Köpfe. Den Rest könnt ihr euch rösten.« Der Riese stampfte auf und machte kehrt, um sich aus der Leibwache die zehn auszuwählen, denen er am meisten vertraute; dann rauschten sie allesamt aus dem Thronsaal.
Der Geflügelte entließ die restlichen Wachen und trat wieder an den einen der beiden Lavaströme heran. Dort, die Klauenfinger in das glühende Gestein getaucht, so daß er die kraftvolle Magie spüren konnte, die nur ihm allein gehorchte, hing er seinen schönsten Träumen nach, den Träumen von Finsternis und Weltherrschaft.
»Wie konnte ich nur so ein Narr sein?« jammerte Avelyn und verbarg sein rundes Gesicht in den plumpen Händen. »Was soll das heißen?« wollte Pony wissen, die fand, daß ihnen für Selbstvorwürfe die Zeit fehlte. Sie mußten nach vorn sehen, nicht nach hinten. »Ich hätte wissen müssen, daß der Geflügelte nach uns suchen würde, und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen sollen.« »Noch steht ja gar nicht fest, daß er uns gefunden hat«, unterbrach ihn Eibryan. »Vielleicht war dieser Schatten im Orakel nicht mehr als eine Warnung. Seit unserem Aufbruch sind wir kaum auf Feinde gestoßen, und von denen gehörte unseres Wissens nur eine einzige Gruppe zu seiner Armee. Warum sollte Bestesbulzibar – « »Sprich diesen Namen nicht laut aus, wo wir der Heimstatt des Geflügelten schon so nahe sind!« warnte Avelyn. »Du solltest ihn nicht einmal denken, falls du deine Gedanken so im Zaum halten kannst!« Eibryan, der sich einer Runde angsterfüllter Gesichter gegenübersah, nickte entschuldigend. »Noch steht jedenfalls nicht fest, daß es zu spät ist«, sagte er ruhig. »Und, hast du deine Maßnahmen inzwischen getroffen?« fragte Bradwarden. Avelyn nickte. Mit Hilfe des Sonnensteins, den er Quintall abgenommen hatte, hatte er einen Schild gegen etwaige
Suchzauber errichtet. Das war nicht weiter schwer und ließ sich über längere Zeit hinweg aufrechterhalten, ohne daß Avelyns ansehnliche Reserven auch nur angekratzt wurden. Eben darum hätte er den Schild auch schon unmittelbar nach ihrem Aufbruch errichten sollen. »Bescheuert!« knurrte Paulson und funkelte den Mönch bedrohlich an; dann stürmte er davon. Eibryan zögerte nicht lange, sondern lief dem Mann nach, packte ihn am Ellenbogen und führte ihn ein Stück vom Lager fort, hinter einen schützenden Wall aus Nadelbäumen, wo sich unter vier Augen reden ließ. »Ich kann mich nicht erinnern, daß du zu Beginn unserer Reise auf einem solchen Schutzschild bestanden hast«, brachte der Hüter es auf den Punkt. »Bin ich denn ein Zauberer?« hielt Paulson dagegen. »Ich wußte ja nicht mal, daß es so was gibt.« »Wie gut dann, daß wir Avelyn haben, der das Auge des Dämons zu täuschen vermag.« »Falls dieser verdammte Dämon uns nicht längst gefunden hat«, erwiderte Paulson, und während er diese düsteren Worte sprach, sah er sich nervös um. »Ich werde auf dieser Reise keinerlei Schuldzuweisungen dulden«, meinte Eibryan grimmig. Paulson hielt seinem Blick lange stand. Anstatt in die Defensive zu gehen, wie es sonst seine Art war, bemühte der Hüne sich nach Kräften, die Angelegenheit aus Eibryans Blickwinkel zu sehen. Schließlich nickte er. »Wie gut, daß wir Avelyn haben«, sagte er und meinte es aufrichtig. »Wir werden schon dort hinkommen«, sagte Eibryan abschließend und wollte wieder zu den anderen zurückkehren. Nach ein paar Schritten rief Paulson: »He, Hüter!« Eibryan drehte sich um und sah, daß der Mann grinste.
»Wir werden also dort hinkommen, ja?« tönte Paulson. »Bist du dir sicher, daß das gut ist?« »Ich bin mir sicher, daß das nicht gut ist«, erwiderte Eibryan. Vom Rande eines hohen Felsvorsprungs, hinter den sie sich vorsichtshalber duckten, sahen die Gefährten zu, wie der nächste lange Zug den Barbakan verließ. Er bestand überwiegend aus Goblins, die mit hängenden Köpfen dahintrotteten und erbärmlich aussahen, vor allem jene, die an die diversen Kriegsmaschinen der Pauris gekettet waren – Schleudern, Bogenschleudern und riesige Rammböcke, mit denen sich Löcher in Festungswälle treiben ließen. Der Zug wollte schier kein Ende nehmen, wie er sich da aus dem Paß zwischen den dunklen Bergwänden ergoß und sich weiter nach Osten erstreckte, als die Augen der Gefährten reichten. »Alpinador wird ebenfalls angegriffen«, vermutete Eibryan. »Der Geflügelte wird die Sommermonate nutzen, um bis zur Küste vorzudringen, wo seine Truppen gewiß schon von weiteren Pauris erwartet werden«, fügte Avelyn hinzu; dann schnaubte er laut. »Natürlich nur, wenn seine Soldaten die Küste nicht längst erreicht haben. Ho, ho, hoppla!« »Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Bradwarden, der ein Stück unterhalb des Grats stand. Der Zentaur, der aus leicht ersichtlichen Gründen weder sonderlich gut klettern noch sich ducken konnte, war in der letzten halben Stunde über die Beschreibungen der merkwürdigen Kriegsmaschinen und Paulsons nicht enden wollende Zählung der Riesen immer ungeduldiger geworden. »Wir müssen noch auf Pony warten«, erinnerte ihn Eibryan. »Dann wartet nicht länger«, ertönte von oben eine Stimme, und die Männer fuhren herum und sahen die Frau den Pfad herabkommen. »Es führen mehrere Pässe hindurch«, erklärte sie. »Dieser Weg verzweigt sich eine Viertelmeile weiter vorn. Links geht
es wieder abwärts und sonstwohin, aber der rechte Abzweig führt höher und ins Gebirge hinein, das gar nicht mal so breit ist.« »Gibt es Deckung dort?« fragte Eibryan. »Was sich so Deckung nennen läßt«, erwiderte Pony achselzuckend. »Der Weg ist auf beiden Seiten von Felsbrocken gesäumt, aber wenn unser Feind an den richtigen Stellen Wachtposten aufgestellt hat, werden sie uns sehen.« »Dann müssen wir sie eben zuerst sehen«, sagte Eibryan entschlossen und griff zu seinem Elfenbogen. Er schickte Eichhorn los, der ihre linke Flanke decken sollte, ließ Pony die rechte übernehmen, während er selbst weit vor Avelyn, Paulson und Bradwarden vorauslief. Binnen einer Stunde waren sie hoch in die Südwand des schwarzen Berges emporgeklettert, bis über die Baumgrenze hinweg, wo ein kalter Wind wehte. Eibryan markierte den anderen den Weg mit Zeichen, fürchtete aber dennoch, daß sie einander allesamt nicht mehr wiederfinden würden. Der Barbakan war schiere, ungezähmte Wildnis, wie der Hüter sie noch nirgendwo ungezähmter erlebt hatte, ein Land gewaltiger Felsdurchbrüche, zerklüfteter Schluchten und undurchdringlicher Baumdickichte. Ein Land, in dem ein achtloser Wanderer leicht einen losen Felsen auf den Kopf bekommen oder sich jäh in einem hundert Fuß tiefen, steilen Felssturz wiederfinden mochte. Ein Land der ursprünglichsten Gefahr, in dem der Hüter sich lebendiger fühlte denn je. Ein leises Geräusch zu seiner Rechten ließ Eibryan in die Hocke gehen und seine Hand vom Bogen zum Schwert huschen. Er glitt in den Schutz eines Felsens, warf sich flach auf den Bauch und spähte in eine kleine Schlucht hinein, einen schmalen Einschnitt, der mit Bäumen und Büschen bewachsen war.
Wieder erklang das Geräusch, leise Schritte, und Eibryan hatte ihre Quelle rasch ausfindig gemacht, einen Schatten, der sich flink durch das Dickicht bewegte. Er hob seinen Bogen, ohne das Ziel aus den Augen zu lassen. Und dann, als die Gestalt eine freie Fläche erreichte hatte, entspannte er sich. »Pony«, rief er leise, aber vernehmlich. Ihm fiel die Verstohlenheit auf, mit der sie sich näherte, und das ließ ihn wachsam bleiben. »Goblin«, flüsterte sie aus kurzer Entfernung, da sie es nicht wagte, die letzte freie Fläche zwischen ihnen zu überwinden. »Links oben zwischen den beiden Kiefern, hinter dem Felsvorsprung.« Eibryan spähte dorthin, mußte seine Deckung jedoch verlassen, um wenigstens den Felsvorsprung sehen zu können. Er nickte. »Wie viele?« »Ich habe nur einen gesehen«, antwortete Pony. »Aber weiter links und unten könnten noch andere stecken.« Eibryan sah wieder den Weg hinab. Er hatte sich von Schatten zu Schatten bewegt, und so war es unwahrscheinlich, daß der Goblin ihn aus dieser Entfernung erspäht hatte; Avelyn und vor allem Bradwarden dagegen würde es einige Schwierigkeiten bereiten, nicht aufzufallen. Wenn er es richtig einschätzte, mußten sie und Paulson demnächst in Sichtweite des Goblins kommen. Er sah eine Bewegung weiter oben, einen Schatten über dem Felsvorsprung. Hin- und hergerissen legte er einen Pfeil auf die Sehne. »Wenn da noch mehr sind, wissen sie bald von uns«, flüsterte er. »Vielleicht kann ich mich von hinten anschleichen«, erwiderte Pony.
Eibryan wollte sich diese Möglichkeit gerade durch den Kopf gehen lassen, da fiel ihm auf, daß der Goblin den Kopf reckte – in die Richtung, aus der Eibryan gekommen war. »Er weiß von uns«, erklärte der Hüter und legte an. Die Schußweite betrug glatte hundert Meter, und der Goblin bot ihm kaum mehr als Kopf und Schultern als Ziel, und das in den Seitenwinden einer Bergwand. Sein Pfeil traf das Ziel knapp unterhalb der Mitte, und der schwarze Schatten fiel nach hinten weg. Dann ertönte ein Schrei, und ein zweiter Schatten schoß hinter dem Felsen hervor und floh. »Wir sind entdeckt!« rief der Hüter Pony zu, und die beiden sprangen auf und nahmen die Verfolgung auf, wenngleich sie wenig Hoffnung hatten, das Wesen in diesem wilden Dickicht einzuholen. Nach nur wenigen Schritten jedoch blieben sie schlitternd stehen, denn der Goblin hatte kehrtgemacht. Er kam aus dem Dickicht auf einen Flecken kahlen Steins gestolpert. Verblüfft sahen sie zu, wie der Kerl plötzlich zuckte und umfiel, dann tauchte Eichhorn aus dem Buschwerk auf und machte sich ans Bergen seiner Dolche. »Gut gemacht«, sagte Eibryan, obwohl der Mann weit außer Hörweite war. »Besser ging’s nicht«, fügte Pony hinzu. »Wir drei«, beschloß der Hüter, »und hol mir Paulson auch noch dazu. Wir müssen das Gelände absuchen, um sichergehen zu können, daß es keine weiteren Zeugen gab.« Genau das taten die vier dann auch. Sie umrundeten das Gelände, nahmen es aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel in Augenschein und hielten nach Goblins beziehungsweise deren Spuren Ausschau. Als sie schließlich überzeugt waren, daß der Tod der Goblins unentdeckt geblieben war, hetzte Eibryan sie vorwärts, bis die Nacht über die rauhen Berge hereinbrach und sie bei einer weiten Senke angelangt waren.
Der Hüter wäre gern noch weiter marschiert, aber dafür war es in dem schwierigen und gefährlichen Gelände schon zu dunkel, und sie konnten ja schlecht Fackeln anzünden. Sie errichteten ihr Lager in der zuversichtlichen Gewißheit, unentdeckt geblieben zu sein. Sie konnten nicht wissen, daß ein Riese mit einer Waffe unterwegs war, die den Tod der Goblins gespürt und ihren Träger geradewegs an die Stelle geführt hatte, wo deren Überreste versteckt lagen, was nicht allzuweit von ihrem Lagerplatz entfernt war. Die Nacht war kalt und ruhig, wenn man einmal von dem Wind absah, der um die Felsen pfiff. Eibryan und Pony saßen unter eine Decke gekuschelt beieinander. Neben ihnen ragte der gewaltige Umriß Bradwardens empor, der seine Leibesfülle dazu benutzte, Avelyn vom Wind abzuschirmen. Paulson und Eichhorn waren auf Wachrunde unterwegs. »Morgen geht es noch steiler bergauf«, sagte Eibryan mit einiger Besorgnis. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte der Zentaur. »Ich werde mich schon irgendwie durchschlagen.« »Ich mache mir eher Sorgen wegen Avelyn«, erklärte der Hüter. Wie aufs Stichwort rollte der schlafende Mönch herum und schnarchte laut. »Er ist für so etwas nicht in Form.« »Er wird’s schon schaffen«, sagte Pony entschieden. »Ich bin monatelang mit Avelyn unterwegs gewesen und habe ihn niemals klagen gehört. Er folgte dem, was er als seine Bestimmung ansieht, da läßt er sich von ein paar Bergen nicht aufhalten.« Eibryan sah Avelyn lange an und dachte an seine eigenen Erfahrungen mit dem Mann zurück; schließlich gab er ihr recht. »Abgesehen davon«, bemerkte der Zentaur, »bekommt Avelyn von uns allen den meisten Schlaf.« Wieder ließ der Mönch ein Schnarchen ertönen.
»Eichhorn?« flüsterte Paulson. »Bist du das?« Der Hüne duckte sich tiefer und suchte mit den Augen die Baumgruppe ab, aus der das unmißverständliche Geräusch eines Schrittes gekommen war. Da erst fiel ihm auf, daß dort ein Stamm mehr zu sehen war als gerade eben noch. »Verdammnis«, flüsterte er und machte, daß er wegkam. Etwas wirbelte glitzernd an ihm vorbei, so dicht neben seinem Kopf, daß er mit einem Aufschrei zurückfuhr. Er landete auf dem Boden und sah wieder nach hinten zu dem Riesen, sah dessen überraschte, ruckende Bewegung, als Eichhorns Dolch ihn mit einem metallischen Klirren an der Brust traf. »Los, komm!« rief der Hüne und kam wieder auf die Füße. Das Wissen, daß sein zuverlässiger Kamerad in der Nähe war, flößte ihm neue Zuversicht ein. Das metallische Klirren jedoch wollte ihm nicht aus dem Kopf; Riesen waren schon gefährlich genug, auch wenn sie keine Rüstung trugen! Und daß dieser wahrhaftig eine trug, durfte Paulson feststellen, als das Ungetüm ihn einzuholen drohte. In rascher Folge wirbelten zwei Dolche durch die Luft, höher gezielt diesmal, um den Kerl am Kopf zu treffen. Das taten auch alle beide, und alle beide prallten von einem Helm ab. »Vergiß es und hau ab!« rief Paulson und wollte schon selbst die Flucht ergreifen, da sah er neben dem Riesen plötzlich etwas orange aufglühen. Verblüfft blieb er stehen, dann schrie er auf. Was da glühte, war eine Art Speer, und der wurde von einem zweiten Riesen getragen! Paulson riß seine Waffe hoch, aber der dämonengeschmiedete Spieß fuhr direkt durch seinen Unterarm und dann tief in seinen Bauch hinein. Wellen sengenden Schmerzes überschwemmten ihn, schlimmer als alles, was er sich je hatte vorstellen können. Kaum noch bei Bewußtsein, spürte er, wie der Riese ihn
hochhob und ausholte – dann flog er in die Nacht, in den Tod hinaus.
Eichhorn lief schreiend um sein Leben. Tränen der Angst, des Schreckens und des Verlusts eines weiteren Freundes strömten ihm die Wangen hinab. Überall um ihn herum waren Riesen. Er glaubte die Hitze dieser orangefarbenen Glut bereits im Nacken zu spüren. Er mußte zum Lager zurück; doch wenn er das tat, schickte er sie allesamt ins Verderben, bereitete er ihrem ganzen Unternehmen ein jähes Ende! Da stieß er am Fuß eines kräftigen Baums auf ein Erdloch. Er sprang hinein und deckte sich mit losen Blättern zu. Seine Zuversicht stieg, als die beiden ersten Riesen ahnungslos an ihm vorbeistampften. Ein dritter rauschte vorbei, und dann kam der Speerträger. Auch dieser Riese war schon vorbei, doch dann blieb er unmittelbar hinter dem Loch stehen. Eichhorn versuchte noch zu schreien, als die Blätter zur Seite gefegt wurden, als er zu dem hochaufragenden, fünfzehn Fuß großen Monstrum hinaufsah, zu dem gewaltigen, scheußlichen Spieß. Er versuchte noch zu schreien, aber es war kaum mehr als ein atemloses Gurgeln, das abrupt endete, als der Monsterspeer hinabgestoßen wurde.
Die Schreie der beiden Todgeweihten hatten Eibryan und die anderen auffahren lassen, und so waren sie nicht unvorbereitet, als der erste Riese in die flache Senke hinabstürmte Der abscheuliche Kerl, der den Zentauren für ein gewöhnliches Pferd zu halten schien, trampelte geradewegs an Bradwarden vorbei, der Kopf und Torso gesenkt hatte.
Als der Riese vorbei war, wandte sich Bradwarden um, hob den schweren Bogen und zog durch. Der Pfeil verbeulte die Rüstung und drang sogar hindurch, jedoch nicht tief genug für eine ernstliche Verletzung. Drei schnelle Sätze später hatte der Zentaur den Riesen eingeholt und warf sich ihm ins Kreuz. Bradwarden schwang seinen schweren Bogen wie eine Keule, aber die Waffe prallte an der Rüstung ab und zersplitterte. Der Riese ging stolpernd zu Boden, dicht gefolgt von dem Zentauren, der sich für seine Dummheit mit dem Bogen verfluchte und nach seinem Prügel griff. Aber da stürzten sich bereits zwei weitere Riesen auf ihn. »Wofür ist der gut?« fragte Pony den Mönch, als dieser einen Stein emporhielt, den die Frau noch nicht kannte, einen Klumpen schwarzer, achtflächiger Kristalle. »Ist ein Magnetit. Magneteisenstein«, erklärte Avelyn. Dann sagte er nichts mehr, sondern ließ sich in den Stein fallen, um dessen Kräfte mit seinen magischen Fähigkeiten zu wecken. Die Riesen stürzten sich in einer geraden Linie auf Bradwarden; Eibryan war zur Seite ausgewichen und rief, daß noch mehr Bergriesen kämen. Da beeilte Pony sich, zu ihm zu gelangen. Durch das orangefarbene Glühen gaben die drei Kolosse ein gutes Ziel ab. Eibryan machte sich ans Werk, schickte ihnen einen Pfeil nach dem anderen entgegen. Lautstark knallten sie gegen Rüstungsteile, blieben im Brustpanzer stecken, und schließlich durchdrangen mehrere das Visier und fuhren dem Riesen ins Gesicht, der vor Schmerz laut aufheulte. Einer der drei Riesen fiel geblendet zurück, die Hände vors Gesicht geschlagen. Eibryan ließ seinen Bogen fallen und zog Sturmwind, als Pony herbeieilte. Er schickte sie nach links, dem Riesen
entgegen, der keinen glühenden Speer trug, denn er spürte, daß dieser Spieß von einer teuflischen Macht beseelt war. Pony hatte nichts dagegen einzuwenden. Da ihr Riese kleiner als der Speerträger war, würde sie um so schneller mit ihm fertigwerden – abgesehen einmal davon, daß man mit keinem Riesen schnell fertig wurde! Sie rannte auf ihn zu, und als er sein gewaltiges Schwert hob, täuschte sie eine Ausweichbewegung zur Seite vor. Bei weitem die schnellere, machte Pony flink einen Schritt nach links, dann zurück nach rechts, dann wieder nach vorn, unter seinem ungeschickten Hieb hindurch, und warf sich in eine Hechtrolle, die sie genau zwischen die weitgespreizten Beine des Ungetüms brachte. Der Riese reagierte sofort und schlug die Knie zusammen, um die närrische Menschenfrau so einzufangen. Ponys Graphit jedoch nahm diesem Manöver jeden Schwung. Wild fuhren seine Blitze die Innenschenkel des Riesen empor, daß er die Knie prompt wieder auseinanderriß und die Frau es unter ihm hindurchschaffte. Nun zog sie ihr Schwert und fuhr herum, schlug ihm die Klinge heftig in die Nierengegend, wo sie eine Lücke zwischen den Panzerplatten zu finden hoffte. Vergebens. Aber sie blieb hinter ihm und versetzte ihm einen Tiefschlag nach dem anderen, während der verwundete Riese sich drehte und drehte, um sie endlich packen zu können.
Eibryan hatte keine Ahnung, was er von diesem gepanzerten Gegner und vor allem von dessen glühendem Spieß halten sollte. Warum verbrannte der Kerl sich nicht die Hände daran? Der Schaft mußte furchtbar heiß sein. Der Riese stieß seine Waffe nach vorn, und Eibryan hatte plötzlich andere Sorgen; er mußte aufpassen, daß er nicht bald ebenso viele Löcher hatte wie ein Käse aus Alpinador. Schwungvoll wich er zur Seite aus und parierte die
nachfolgende Speerspitze mit seinem Schwert, daß die Funken nur so stoben. Er mußte es irgendwie schaffen, an den Kopf des Riesen heranzukommen. Solang es noch hell gewesen war, hatte er sich mit dem Gelände vertraut gemacht und sich wichtige Einzelheiten gemerkt. Nun schlug er einen Haken, sprang auf einen runden Felsen hinauf und fuhr herum, um ihn gebührend zu empfangen. Er führte seinen gewaltigen Streich genau auf Augenhöhe des Riesen. Der Kerl versuchte noch, seinen Speer nach oben zu reißen, aber es war zu spät. Er bekam Sturmwind so heftig gegen das Visier geschmettert, daß ihm der Kopf zur Seite gerissen wurde. Als der Riese mit einem Speerstoß antwortete, wich Eibryan blitzschnell aus, und kaum war der schwere, unhandliche Speer wieder weg, da schoß der Hüter auch schon vorwärts und legte seine ganze Wucht in einen waagerecht geführten Streich. Die Klinge krachte dem Riesen so kräftig gegen die Schläfe, daß ihm der Helm vom Kopf flog und er seitwärts taumelte. »Der nächste findet weniger Widerstand!« versprach ihm der Hüter. Aber der Riese hatte selbst einen Trick auf Lager. Er griff Eibryan an, und als dieser sein Schwert zur Parade nach oben riß, mußte er feststellen, daß der Riese die Spitze statt dessen nach unten stieß, geradewegs in den Felsen hinein. Eibryan war zu überrascht, um die vorübergehende Verwundbarkeit des Riesen ausnutzen zu können. Und dann mußte er auch schon schnell zur Seite hechten, mitten hinein in Äste und Schößlinge, denn der Felsen kochte plötzlich rot auf vor Hitze und schmolz ihm unter den Füßen weg.
Während der geschmolzene Stein abwärts rollte und trockene Zweige in Brand setzte, versuchte Eibryan, seine Benommenheit abzuschütteln. Der plötzliche Feuerschein riß weitere Gestalten aus der Dunkelheit, große Gestalten, die rasch näher kamen. Da wußte der Hüter, der schon genug mit dem schrecklichen glühenden Speer zu tun hatte, daß sie in der Falle saßen.
Avelyn ließ sich tiefer in den Magnetstein fallen und spürte, wie dessen Energie sich gefährlich zusammenballte. Sobald der Höhepunkt erreicht war, würde der Stein mit schier unglaublicher Geschwindigkeit auf die nächstbeste metallische Oberfläche zufliegen, schneller als der Bolzen einer Armbrust. Der Mönch fiel fast hintenüber, als der Stein plötzlich losschoß und geradewegs auf den Brustpanzer des vordersten Riesen zuraste, der Bradwarden schon fast im Nacken hing. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug der Stein ein und riß den Koloß von den Füßen, und dann durchfuhr es den Kerl dahinter ebenso wild. Avelyn, der den Magnetstein noch nie richtig benutzt hatte, konnte es nicht fassen. Bradwarden hatte seinem gestürzten Gegner inzwischen den Helm heruntergerissen und war dabei, ihm das Hirn aus dem Schädel zu prügeln. Als es unmittelbar hinter ihm krachte, fuhr er herum und sah, wie die beiden Riesen zu Boden gingen. Der vordere hatte ein sauberes Loch in seinem Brustpanzer. Das Loch im Rückenpanzer sah allerdings weniger hübsch aus. »He, guter Schuß!« gratulierte Bradwarden dem Mönch. Avelyn eilte bereits herbei, um seinen Magnetstein zu bergen. Aber da wimmelte es plötzlich überall auf dem Rand der Senke von gewaltigen Schatten, waren überall Riesen um sie herum. »Auf meinen Rücken!« brüllte der Zentaur. »Mein Stein!«
»Keine Zeit!« »Alle raus hier!« erklang Eibryans Stimme. »Avelyn mit Bradwarden! Pony mit mir! Paulson mit Eichhorn!« Falls die beiden noch leben, fügte er im stillen hinzu. »Sucht euch irgendeine Richtung aus und flieht!« Pony konnte kaum glauben, was sie da hörte, was sie da sah. Sie hatten es so weit geschafft, und nun wurden sie in einen überstürzten, einen ungeordneten Rückzug getrieben. Pony wartete, bis ihr Riese sich wieder weit genug gedreht hatte, dann hechtete sie ein zweites Mal zwischen seinen Beinen hindurch. Wieder erklang dieses scheußliche Knistern, und diesmal hatte der Riese Pech mit seinen Muskeln. Sie zogen sich unter der Entladung zusammen, und der Kerl ging zu Boden. Aber um das zu ihrem Vorteil ausnutzen zu können, fehlte Pony die Zeit. Schon hastete sie zur Mitte der Senke hinab. So hoffnungslos es auch war, sie mußte einfach versuchen, zu Avelyn und Bradwarden zu gelangen. Aber der Mönch und der Zentaur preschten bereits nordwärts davon, in die Richtung, aus der die ersten Riesen gekommen waren. Schon hatten sie es über den Rand geschafft und waren verschwunden, da stand plötzlich, für einen kurzen Moment, der ganze Himmel in Flammen. Pony erstarrte; der Kampflärm verstummte für einen Augenblick, und als die Frau wieder Luft bekam, hörte sie zu ihrer Erleichterung sich entfernendes Hufgetrappel. Avelyn und Bradwarden zumindest hatten es geschafft. Für sie und Eibryan jedoch sah es schlecht aus, dachte sie während sie von zwei Riesen den felsigen Hang hinuntergehetzt wurde. Rein instinktiv warf sie sich nach vorn, über den Riesen hinweg, den Bradwarden erschlagen hatte. Sie spürte einen Luftzug, dann krachte hinter ihr eine Keule gegen die Rüstung des Toten.
Sie krabbelte weiter, erwartete jeden Moment den tödlichen Schlag, den plötzlichen, sengenden Schmerz, der allem ein Ende setzte. Dann war sie über den nächsten toten Riesen hinweg. Sie war gerade wieder halbwegs auf die Beine gekommen, da krachte sie in den dritten toten Koloß, verletzte sich die Hand an einem gezackten Loch in seinem Brustpanzer und rutschte bis zum Ellenbogen in seine zerrissenen Eingeweide hinein. Und unmittelbar hinter ihr wurde gekämpft! Sie drehte den Kopf und sah, wie Eibryan um die beiden Riesen herumschoß und einen wahren Sturmwind entfachte. Aber er konnte nicht gewinnen! Selbst wenn er diese beiden erschlug, kamen schon genug andere herbei, darunter auch derjenige mit dem glühenden Speer! Als Pony zwischen dem Gekröse etwas Hartes spürte, schloß sie instinktiv die Hand und zog sie zurück. Es war Avelyns Stein, den sie da gefunden hatte. Für einen kurzen Moment starrte sie ihn verblüfft an und versuchte zu erspüren, wieviel Energie noch in ihm steckte. »Lauf!« brüllte Eibryan. Pony kam auf die Beine und sah zu ihm. Den Bogen in der einen Hand, das Schwert in der anderen, sprang Eibryan einer herabsausenden Keule aus dem Weg, direkt in die Bahn eines waagrecht geführten Schwertes hinein. Pony schrie auf; Elbryan aber war flink genug, sich mit einem Salto in Sicherheit zu bringen. Kaum gelandet, stemmte er die Füße in den Boden und ging wild schreiend zum Angriff über. Seine aufglühende Klinge verursachte bläulichweiße Spuren in der Luft, so schnell ließ er sie hin und her sausen. Die Taktik des Hüters ging auf; der stürmische Angriff zwang die beiden zu einem raschen Rückzug, der sie das Gleichgewicht kostete. Der eine Riese stolperte über eine
Leiche und griff haltsuchend nach seinem Kameraden. Eibryan brauchte nur ein wenig nachzuhelfen, und schon fielen die beiden übereinander. Mehr wollte er nicht riskieren, da schon andere Riesen herbeigestampft kamen. Er machte kehrt, nahm die Beine in die Hand und hatte Pony rasch eingeholt. Gemeinsam hetzten sie den Nordhang hinauf, ihren längst verschwundenen Freunden nach. Sobald sie oben angelangt waren, sahen sie die Auswirkungen von Avelyns Feuerball. Überall knisterte es, überall züngelten Flammen, und das größte Feuer verschlang die zusammengerollte, verschmorte Leiche eines Riesen. Mitten durch die Hitze und den Rauch liefen die beiden hinab, stolpernd und einander stützend. Sie hörten das Gebrüll hinter sich und wußten, daß es der Tod war, der ihnen im Nacken saß. So kamen sie davon, flohen blindlings in die Nacht hinaus, zweimal zwei Versprengte, und zwei blieben tot zurück.
28. Flucht
Avelyn, der quer über dem Rücken des Zentauren lag, starrte ständig nach hinten, wo ihre Gefährten zurückgeblieben waren. Bradwarden jedoch wollte weder umkehren noch haltmachen. Entschlossen und unnachgiebig preschte er die Bergpfade entlang, daß die Erde nur so spritzte, und trug seine höchst wichtige Last immer weiter. Kurz nach der Flucht aus der Senke hatte Avelyn ihm das Katzenauge am Kopf befestigt, und so stellte die Dunkelheit für den Zentauren nicht mehr das Hindernis dar, mit dem ihre Verfolger zu kämpfen hatten – und ihre eigenen Gefährten. »Wir müssen irgendeine Stelle finden, die sich verteidigen läßt!« rief der Mönch immer wieder. »Wir werden auf keinen Fall anhalten!« erwiderte der Zentaur. Als wollte er diesen Punkt unterstreichen, beugte er seinen menschlichen Torso vor und legte noch einen Zahn zu. »Halt an!« rief Avelyn. »Wir müssen auf Eibryan und Jilseponie warten, damit wir uns wieder zusammentun und die Riesen gemeinsam in die Flucht schlagen können!« »Uns holt kein Riese mehr ein«, versicherte ihm der Zentaur. »Das gilt auch für Eibryan und Pony, so sehr mich der Verlust auch schmerzt.« »Sie sind nicht tot!« »Nein«, stimmte Bradwarden zu. »Den beiden wird schon etwas eingefallen sein. Aber einholen werden sie uns trotzdem nicht, und wenn du den Geflügelten erst einmal getötet hast, kehren wir hierher zurück und holen sie raus, keine Frage!« Darauf wußte der verblüffte Avelyn nichts mehr zu sagen. Er wollte kaum glauben, daß Bradwarden ihre Freunde einfach so
zurückließ, sie in einer so gefährlichen Lage im Stich ließ. Da erst begriff Avelyn, wie sehr der Zentaur wirklich daran glaubte, wie sehr alle seine Gefährten wirklich daran glaubten, daß er allein ihre Hoffnung war, daß er allein gegen den Geflügelten antreten und siegen konnte. Avelyn war überzeugt, daß ihm der Kampf mit dem Höllenwesen vorherbestimmt war, und das hatte er auch oft genug gesagt; also wollten seine Freunde ihn dorthin schaffen, und wenn sie dabei allesamt starben, dann hatte es – in ihren Augen jedenfalls – eben so sollen sein. Ein schweres Gewicht senkte sich auf seine Schultern herab, als er dieses erkannte, eine Verantwortung, wie Avelyn sie nie zuvor gespürt hatte: Sie wog sogar schwerer als seine acht Jahre der Hingabe, die ihn nach St. Mere-Abelle gebracht und so den innigen, lebenslangen Wunsch seiner lieben Mutter erfüllt hatten; schwerer auch als der Auftrag der Kirche, der Auftrag Gottes, nach Pimaninicuit zu fahren und die jüngste Generation von Himmelsjuwelen zu präparieren. Avelyn war schon bereit gewesen, sich mit Bradwarden zu streiten und darauf zu bestehen, daß sie anhielten und auf ihre Freunde warteten – selbst wenn er dafür von seinem Rücken hätte springen oder irgendeinen Zauber gegen ihn wenden müssen. Nun aber blieb der ernüchterte Mönch ruhig und klagte nicht. Bradwarden wollte ihn dorthin bringen, also hatte Avelyn sich dorthin bringen zu lassen. Oder alle Opfer waren umsonst gewesen. Es herrschte noch immer finstere Nacht, als sie durch den Paß zum großen Barbakan kamen, so schnell hatten sie die Meilen hinter sich gebracht. Bradwarden, der sichtlich erschöpft war, wollte an eine Rast nicht einmal denken; um so froher war er, als Avelyn verkündete, sich ein wenig die Beine vertreten zu wollen.
Der Blick auf das von Bergen umgebene Tal war überwältigend – vor allem für Bradwarden, der das gewaltige Lager bisher nicht zu sehen bekommen hatte. Die dunkle Ebene unter ihnen war mit Tausenden und Abertausenden von Lagerfeuern übersät. Und hinter den lagernden Massen ragte eine dunkle Silhouette empor, ein kegelförmiger Berg, dessen Haupt von einer dunklen Rauchwolke gekrönt war. Aida. »Die Heimstatt des Geflügelten«, flüsterte Avelyn, und er brauchte dem Zentauren nicht erst die Richtung zu weisen, denn der Anblick des Berges versprach Unheil genug. »Wir könnten dort hinunter und das Lager umrunden«, sagte Bradwarden einige Zeit später, nachdem er sich das Gelände genau angesehen hatte. Er zeigte nach links auf einen der großen schwarzen Arme, die der einsame Berg fast bis zum Fuße der Berge hin ausbreitete, die die beiden gerade durchquert hatten. »Dürfte allerdings einen ganzen Tag dauern«, schloß der Zentaur. »Bei hellichtem Tag an diesen Horden vorbei?« fragte Avelyn skeptisch. »Was bleibt uns übrig?« erwiderte Bradwarden. »Wollen wir hoffen, daß unser Feind auf der anderen Seite dieses Arms nicht auch noch ein Heer hat.« Avelyn nickte und trottete dem unbeugsamen Zentauren trotz seiner sichtbaren Erschöpfung wortlos nach.
Eibryan wußte, daß sie die richtige Richtung eingeschlagen hatten und ihren Freunden folgten, aber damit hatten sie sie noch lange nicht eingeholt. Ab und zu durchquerten die beiden eine tiefer gelegene Stelle mit feuchtschlammiger Erde, in der Bradwarden tiefe Hufspuren hinterlassen hatte. Weit
auseinanderliegende Hufspuren, wie Eibryan hoffnungsvoll feststellte; der Zentaur lief in vollem Galopp. Und so wollten Eibryan und Pony es auch. Ihre Pflicht schickte sie den beiden hinterdrein, ihr höheres Ziel jedoch gemahnte sie, daß es allein darum ging, Avelyn zum AidaBerg zu bringen. »Lauf, Bradwarden, lauf«, murmelte Eibryan nicht nur einmal, und jedesmal nickte Pony zustimmend. Eibryan war überrascht, wie leicht sich den Bergpfaden selbst in der Dunkelheit folgen ließ. Der Barbakan war eine beeindruckende Kette hoher Felsenberge, die das ganze Jahr über Schneekuppen trugen, mit Steilwänden, an denen es mitunter zwei- oder gar dreitausend Fuß hinabging. In dieser Region jedoch, wo der Pfad zwischen zweien solcher Berge hindurchführte und die Kletterer nicht annähernd in Gipfelnähe führte, war das Vorankommen stets einigermaßen leicht. Der Hüter war überzeugt, daß sie die andere Seite, den ins Tal hinabführenden Hang, noch vor Tagesanbruch erblicken würden. Avelyn hatte ihnen beschrieben, wie es hier aussah, hatte ihnen von dem Tal erzählt und dem einsamen Berg, den die Karten als Aida-Berg auswiesen. Dabei hatte der Mönch immer wieder aufmunternd betont, daß die zu überwindende Gebirgskette zwar schroff und gefährlich sei, aber nicht allzu breit. So kam es, daß Eibryan und Pony mit einiger Hoffnung weiterliefen, und wenn sie auch unmöglich das Tempo eines galoppierenden Zentauren anschlagen konnten, so fanden sich doch etliche Gelegenheiten, wo sie über einen Felsdurchbruch hinwegklettern konnten, den Bradwarden hatte umrunden müssen. Vielleicht waren sie bei Tagesanbruch schon auf Sichtweite an ihre Freunde heran und konnten zu ihnen aufschließen. Selbst ihren Verfolgern schienen sie entkommen – von den täppischen Riesen war weit und breit nichts zu sehen. Nur
wurde Eibryan die Befürchtung nicht los, daß die Kolosse sich in dieser Gegend besser auskannten und eine Abkürzung genommen hatten. Diese Befürchtung bestätigte sich, als Pony und er einen langen, schmalen Paß betraten, ein Durcheinander von Felsen und verkrüppelten Bäumen, das zwar Schutz vor dem starken Wind bot, dafür aber keinerlei Fluchtwege erkennen ließ. Auf halbem Wege durch den Einschnitt war plötzlich ein ebenso vertrautes wie bedrohliches orangefarbenes Glühen zu sehen – vor ihnen. Schon trat der Riese Togul Dek hervor, noch immer ohne Helm, das große Gesicht vor Wut verzerrt. Er hob zu einem gewaltigen Brüllen an – das sich noch steigerte, als ihm Eibryan einen Pfeil gegen den kolossalen Brustpanzer knallte – und stieß seinen glühenden Spieß erst in den Baum zu seiner Linken, dann in den zu seiner Rechten, daß sie beide hell aufloderten wie riesige Fackeln. Mitten zwischen die Bäume trat der Unhold, von Flammen umrahmt, und hinter ihm schälten sich die Umrisse zweier weiterer Riesen aus der Dunkelheit. »Greif ihn frontal an«, sagte der Hüter und warf sich, den Umhang fest um sich geschlungen, in den Schlamm. Mit einer schwungvollen Drehung kam er wieder hoch und sprang zur Seite weg, und Pony, die ihm vertraute, ging weiter geradeaus und winkte drohend mit dem Schwert, um die Aufmerksamkeit des Speerträgers auf sich zu ziehen. Der Riese setzte seine monströsen Füße weit auseinander und schlug sich den Schaft des Dämonenspeers klatschend in die offene Hand. Auf den Hüter, der nirgendwohin entfliehen konnte, achtete er nicht weiter, sondern konzentrierte sich ganz auf die Frau, die da todesmutig und dumm zugleich auf ihn zugestapft kam.
Jeder Schritt fiel Pony schwerer. Sie hörte Getöse weiter hinten und begriff, daß die anderen Riesen – drei oder vier Stück wohl, wenn ihre Zählung während des vorangegangenen Kampfes zutraf – den Eingang zur Schlucht abgeriegelt hatten. Wohin war Eibryan nur verschwunden – und warum? Warum hatte er nicht einfach zu seinem Bogen gegriffen und dem Speerträger so viele Pfeile in den ungeschützten Kopf geschossen, bis der Kerl tot umfiel? Dann hätten sie zwei gegen zwei kämpfen und versuchen können, zur anderen Seite durchzubrechen. Pony schlug sich diese verwirrenden Gedanken aus dem Kopf. Immerhin handelte es sich hier um Eibryan: den Nachtvogel, den Hüter, der schlau war wie ein Elf. Noch während ihre Entschlossenheit wieder zu wachsen begann, erblickte sie ihn im Baum zur Rechten des Riesen, wie er mitten durch die Flammen einen niedrigen Ast entlanglief. Die Flammen leckten an ihm, an seinem schmutzigen, durchweichten Umhang, er aber hüpfte weiter, ganz vom Feuer verschlungen, um sich auf seinen ahnungslosen Feind zu stürzen. Pony heulte laut auf und ging zum Angriff über. Kaum hatte sie die Aufmerksamkeit des Riesen ganz auf sich gezogen, da blieb sie schlitternd stehen und löste einen sich verzweigenden grellen Blitz aus, der dem Anführer und den beiden Monstern hinter ihm hart zusetzte. Dann, bevor sich Togul Dek von dem Blitzschlag erholt hatte, war Eibryan über ihm. Der Hüter lief bis zum Ende des Astes, sprang mit gezogenem Schwert hoch in die Luft empor und warf gleichzeitig einen rauchenden Umhang ab. Das Schwert ließ er auf das Gesicht des Kolosses hinabfahren, während er ihm die gestiefelten Füße schwer auf die massige Brust pflanzte.
Er hatte nur einen Schlag, in den er alles setzen mußte. Und das tat er auch: Er trieb dem Riesen das mächtige Schwert Sturmwind durch Fleisch und Knochen tief ins Hirn hinein. Togul Dek wollte noch den Speer hochreißen und ihm entgegenschleudern, aber da entglitt die Waffe schon seinen plötzlich kraftlosen Händen und malte einen glühenden Bogenstrich in die dunkle Nacht. Sie landete ein ganzes Stück weiter seitlich auf einem Stein, der sich prompt in einen glühenden Lavaklumpen verwandelte und den Hang hinunterzurutschen begann, wobei er die Waffe mit sich nahm, die wiederum weiteres Gestein zerschmolz und so einen brennenden Felsrutsch auslöste, der immer mehr an Schwung gewann. Eibryan zerrte seine Klinge aus dem gespaltenen Schädel, als der Riese nach hinten umfiel; er ritt den Koloß wie einen gefällten Baum. Die beiden Kerle weiter hinten wußten sich keinen Reim auf das zu machen, was sich vor ihren Augen abspielte, und bekamen Eibryan erst zu sehen, als Togul Dek schon zu Boden stürzte. Und da war es bereits zu spät. Eibryan landete mit einer anmutigen Vorwärtsrolle, lief sofort weiter und stieß einem Riesen die Klinge genau in die Lücke zwischen Brust- und Beckenpanzer. Bis zum Heft trieb er sie hinein, und während sein Schwung ihn mitten zwischen den Scheusalen hindurchtrug, riß er sie wieder heraus. Dann schlug er einen Haken und warf sich in die nächste Rolle, nun auf den zweiten Riesen zielend, als dieser gerade mit der Keule zuschlug. Die Waffe zischte wirkungslos vorbei – an Eibryan zumindest. Der Riese mit den zerfetzten Gedärmen jedoch beugte sich so weit vornüber, daß ihn die Keule an der Stirn traf. Er ächzte und fiel zu Boden, wo er benommen liegenblieb und gegen den sengenden Schmerz anbrüllte. Eibryan brachte einen raschen Treffer bei dem Keulenschwinger an, dann machte er, daß er wegkam. Er hatte
das Gefühl, nicht schnell genug zu sein und zumindest noch einen Schlag einstecken zu müssen, da ließ das Monster unerklärlicherweise mit einem Aufschrei seine Keule fallen und griff sich ans Visier. Pony stieß dem Kerl im Vorbeilaufen ihr Schwert in den Oberschenkel und schloß dann zu Eibryan auf. »Was hast du mit seinen Augen angestellt?« fragte der Hüter, aber darauf hatte Pony keine Antwort; sie zuckte nur mit den Achseln und lief weiter. Schon kamen ihre Verfolger näher, und die beiden mußten alles aus ihren erschöpften Leibern herausholen. Sie erreichten eine Felswand, die sich durchaus erklettern ließ, aber Eibryan fürchtete, daß die Riesen es leichter haben würden als sie, daß die Kerle sie einholen und einfach von der Wand pflücken würden, bevor sie es noch hinübergeschafft hatten. Keine andere Wahl, beschloß der Hüter, und so kletterte er los. Vielleicht fand er ja irgendwo so festen Halt, daß er Pony nach oben ziehen konnte, über die Felsen hinweg, in die dunkle Nacht, in die Freiheit. Er war fast oben, als er Pony nur ein paar Fuß unter sich überrascht aufschreien hörte. Eibryan sah sich um und brüllte ebenfalls, als er den Riesen erblickte, der schon nach seiner Geliebten griff. Pony hielt keine Waffe in der Hand – jedenfalls keine, die Eibryan sehen konnte –, streckte dem Riesen aber dennoch einen Arm entgegen. Wieder schrie sie auf, und dann schoß etwas aus ihrer Hand hervor und knallte dem Riesen vernehmlich gegen das Visier, und wenn das Geschoß den Helm auch nicht durchschlug, so hatte es dem Riesen das Metall doch mit solcher Wucht ein Stück weit ins Gesicht getrieben, daß er von Pony abließ. Rasch holte sie sich den Stein zurück, da sie eine so mächtige Waffe nicht einfach aufgeben wollte. Eibryan packte Pony an der Schulter, hievte sie neben sich und half ihr mit einem
kräftigen Stoß über die Felswand hinweg. Dann kletterte der Hüter los, so schnell er nur konnte, und schaffte es genau in dem Augenblick hinauf, als ein zweiter Riese die Finger nach ihm ausstreckte. Pony fackelte nicht lange; ein ordentlicher Hieb mit dem Schwert, und der Riese hatte ein paar Finger weniger. Dann liefen die beiden wieder los, und diesmal saßen ihnen keine Verfolger im Nacken. »Was war das da unten am Fuße der Wand?« fragte der Hüter. »Magneteisen«, erwiderte Pony. »Ein Stein, der auf das anvisierte Metall zufliegt. Hätt ich doch nur hundert Stück davon!« Eibryan sah wieder zur Schlucht zurück. Die gewaltige Macht des Steins ließ ihn schaudern. Er hatte sein Schwert für eindrucksvoll gehalten und sich selbst für einen hervorragenden Kämpfer, aber was war das schon gegen die Macht der Himmelsjuwelen? Wie gut, daß er Pony hatte, und wie gut erst, daß er Avelyn hatte, der noch weit mehr bewirken konnte. Dieser Gedanke ließ ihn hoffen, daß sein Mönchsfreund den Dämon tatsächlich besiegen konnte, der über Korona gekommen war.
Wenn sie auch nicht begriff, was diesen flammenden Felsrutsch ausgelöst hatte, so ergötzte sich die zufriedene Tuntun doch gern an dem Spektakel. Die Elfe hatte nur eine winzige Rolle in dem Kampf gespielt, hatte nur einen einzigen Pfeil abgefeuert. Aber was für ein Schuß! Tuntun hatte ihn dem Riesen sauber ins Visier gesetzt, sauber durch den Schlitz hindurch! Sie rief sich erneut sein Gebrüll ins Gedächtnis und den Anblick von Eibryan und Pony, wie sie in den Schutz der Nacht flohen.
Nachdem die Elfe sich davon überzeugt hatte, daß die beiden fürs erste in Sicherheit waren, hatte sie die Schlucht umrundet und war zu ihrem unschätzbaren Gefährten zurückgekehrt. »Weiter nehme ich dich nicht mit«, sagte sie zu Symphony und strich dem Tier, das ihr so gute Dienste geleistet hatte, sanft über die Nüstern. Das vor ihr liegende Gelände machte zwar einen recht vernünftigen Eindruck, aber Tuntun wollte lieber auf Heimlichkeit setzen. Allein konnte die Elfe laufen, so schnell ihre Beine sie trugen, ohne fürchten zu müssen, daß sie entdeckt wurde. »Ich weiß, daß du klug genug bist, dich davonzumachen«, flüsterte Tuntun, und der große Hengst schnaubte, als ob er sie verstanden hätte. Die Elfe schulterte Bündel und Bogen, steckte sich den langen Dolch in den Gürtel, und dann, nach einem letzten Blick zu Symphony, einem letzten anerkennenden Nicken, sauste sie in die dunkle Nacht davon.
29. Aida
Eibryan und Pony bewegten sich die Nordwestseite des Grenzgebirges hinab, als es über dem Barbakan zu dämmern begann. Da erst offenbarte sich ihnen, welch gewaltige Streitmacht der Geflügelte dort zusammengezogen hatte. Die herumwimmelnde schwarze Masse füllte das gesamte Tal zwischen den langen Armen eines einsamen, rauchenden Berges, der vielleicht zehn Meilen weiter nördlich emporragte. »Wie viele sind das?« flüsterte Pony. »Zu viele«, sagte der Hüter hilflos, um eine bessere Antwort verlegen. »Und wie sollen wir es zu dem Berg schaffen?« fragte Pony. »Wie viele Tausend müssen wir erschlagen, um es auch nur bis zu seinem schwarzen Fuß zu schaffen?« Eibryan, der diese Einschätzung nicht teilte, ohne recht zu wissen, warum, schüttelte entschieden den Kopf. »Ein paar Wachen vielleicht«, erwiderte er. »Mehr nicht.« Pony warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Der Dämon ist sich seiner sehr sicher«, erklärte Eibryan, »er öffnet uns förmlich Tür und Tor. Der Geflügelte fürchtet niemanden, ob Mensch oder Ungeheuer, und er hat keinen Grund zu der Annahme, daß wir es je wagen würden, mit so wenigen Leuten gegen ihn anzutreten!« »Aus diesem Grund sind wir aufgebrochen«, stimmte Pony ihm zu. »Und aus diesem Grund müssen wir weiterziehen«, sagte Eibryan. »Wenn der Dämon uns sein Heer entgegenstellen will, dann wird er es tun, und weder mein Schwert noch Avelyns Zauber noch Bradwardens Kraft noch die Waffen, die
du dein eigen nennst, werden uns einen Weg durch solche Unmengen von Gegnern bahnen. Aber dazu wird es nicht kommen. Selbst wenn der Geflügelte weiß, daß eine Handvoll Feinde in sein Reich vordringen, worauf die gepanzerten Riesen und dieser scheußliche Speer hindeuten, so ist er doch felsenfest davon überzeugt, daß ihm nichts auf der Welt etwas anhaben kann.« »Woher weißt du das?« Diese schlichte Frage schien Eibryan den Wind aus den Segeln zu nehmen. In der Tat, woher wußte er eigentlich soviel über ihren Feind, dem er nie zuvor begegnet war und schon gar nicht auf dem Schlachtfeld? Letzten Endes wußte er gar nichts, es war alles nur Raten und Hoffen. Er antwortete Pony lediglich mit einem Achselzucken, und das schien zu genügen. Sie waren zu weit gekommen, um sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die nicht in ihrer Macht lagen; also machten sie sich einfach wieder an den Abstieg. Nach den Strapazen der Nacht waren sie beide erschöpft, aber keiner von ihnen dachte auch nur im Traum daran, sich ein Weilchen auszuruhen, nicht mit so vielen Monstern vor der Nase – und vielleicht mehr als nur einer Handvoll im Rücken. Als sie eine Stunde später eine freie Fläche nackten Gesteins überquerten – und sich dabei wie auf dem Präsentierteller vorkamen! –, blieb Eibryan plötzlich stehen und duckte sich. Rasch duckte Pony sich ebenfalls und steckte eine Hand in die Tasche, um ihre wenigen Steine griffbereit zu haben. »Dort!« sagte der Hüter erregt und zeigte nach links zum Westarm Aidas. Hinter dieser schwarzen Linie bewegte sich ein schwarzer Fleck über die grüne Fläche, hielt eine einsame Gestalt in raschem Lauf auf ein dichtes Wäldchen zu. Nein, begriff Pony, nicht eine Gestalt, sondern zwei, ein Mann auf einem Pferd… ein Mann auf einem Zentauren! »Avelyn und Bradwarden!« flüsterte sie.
»Auf dem Weg zum Aida-Berg«, stimmte Eibryan zu. Er sah Pony an und lächelte breit. »Und niemand verfolgt sie, und niemand stellt sich ihnen entgegen.« Pony nickte ernst. Vielleicht hatte ihr Geliebter ja recht, und der Geflügelte öffnete ihnen wahrhaftig Tür und Tor. Fragte sich nur, ob das gut war.
Binnen einer Stunde waren sie von dem Berg herunter und wanderten an seinem Fuß entlang. Der Weg schlängelte sich um Felsen und Baumgruppen herum. Den wenigen gelangweilten Goblin-Wachen war leicht auszuweichen, und dann und wann stießen sie auf Spuren, die besagten, daß sie exakt der Route folgten, die Avelyn und Bradwarden genommen hatten. Schließlich überquerten sie den langen Arm Aidas und stellten überrascht fest, daß der Boden unter ihren Füßen sehr warm war. Da erst ging ihnen auf, daß diese wallartige Erhebung nicht massiv war, sondern wie etwas Lebendiges wuchs und sich ausdehnte. Der Großteil des Arms war hart, manchmal jedoch war plötzlich grelles Orange zu sehen, wo die Lava an die Oberfläche quoll und sich wie eine orangefarbene Schnecke das gehärtete schwarze Gestein hinunterschlängelte. Binnen weniger Minuten fand jeder dieser Ströme ein Ende, weil die Lava schneller abkühlte, als sie nachfloß, und von dem Glühen nur noch Schwärze blieb. »Wie etwas Lebendiges«, bemerkte Pony und gab mehr auf ihre Schritte acht. »Wie der Geflügelte«, erwiderte Eibryan. »Kommt aus dem Aida-Berg gekrochen und läßt nur schwarze Ödnis zurück.« Diese Vorstellung war nicht gerade angenehm. Aber sie konnten unbehelligt weiterziehen. Hinter diesem Arm Aidas, diesem zwanzig, dreißig Fuß hohen Wall aus
schwarzem Stein, gab es nicht einmal mehr gelangweilte Wachtposten. Wie Eibryan und Pony feststellten, als sie die Stelle erreichten, die sie ihre Freunde hatten passieren sehen, lagen sie mehrere Stunden zurück. In dem Wäldchen, das mit seinem wimmelnden Leben einen starken Kontrast zu dem öden schwarzen Wall darstellte, stießen sie erneut auf Bradwardens Spur. Bald tauchte daneben eine zweite Spur auf – die eines Menschen, die Bruder Avelyns –, und so lag der Schluß nahe, daß der Zentaur langsam ermüdete. Aber Bradwarden lief weiter, Avelyn lief weiter; und Pony und Eibryan liefen ebenfalls weiter und steigerten ihr Tempo sogar, da sie ihre Freunde noch einholen wollten, bevor diese in die Höhlen unter dem Berg vordrangen. Vielleicht, so malte Eibryan sich aus, kletterten die beiden ja immer noch draußen herum, weil sie keinen Eingang gefunden hatten… Es sollte anders kommen. Während der Hüter und Pony allmählich in die Ausläufer des Aida-Berges vordrangen, durchquerten sie ein zweites und ein drittes Wäldchen. Kaum waren sie wieder auf freiem Gelände, da sahen sie einen Eingang vor sich, eine gewaltige Öffnung, die die Strahlen der tiefstehenden Sonne glatt verschluckte. Wenn der Eindruck stimmte, wenn es hier tatsächlich in Aidas Bauch hinabging, dann waren Avelyn und Bradwarden längst dort drinnen und standen just in dem Moment, da Eibryan und Pony noch auf den Eingang starrten, womöglich schon dem Geflügelten gegenüber. Rasch kehrten die beiden in das Wäldchen zurück und schnitten sich mehrere Stöcke, aus denen sie mit Hilfe einiger Stoffstreifen Fackeln herstellten. Dann, voller Angst, zu spät zu kommen, teilten sie sich auf und eilten, einer links, einer rechts, verstohlen auf den Höhleneingang zu. Eibryan lugte um den Stein herum ins Dunkel, Pony ebenfalls, und sie stellten einigermaßen
erleichtert fest, daß die Höhle tatsächlich weiterzuführen und zudem leer zu sein schien. Kaum drinnen, stieß Eibryan auf den hufförmigen Abdruck eines Zentaurenfußes. Da sie es nicht wagten, eine Fackel anzuzünden, blieben die beiden dicht an der Wand und gingen nur langsam weiter, damit ihre Augen sich dem rasch abnehmenden Licht anpassen konnten. Allzu bald waren sie vor die unangenehme Wahl gestellt, entweder eine Fackel anzuzünden oder in nahezu absoluter Finsternis weiterzugehen. Der Stoff fing Feuer, und Eibryan zog den Kopf ein, als erwartete er, daß sich im nächsten Moment alle Kreaturen des Geflügelten zugleich auf ihn stürzten. Nach einigen angespannten, doch ereignislosen Momenten nickte er Pony zu, und die beiden schlichen weiter, bis sie an eine Stelle kamen, wo der Gang sich teilte: Rechts ging es auf gleicher Höhe weiter, links ging es hinab. Als Pony in den rechten Gang hineinsah, mußte sie feststellen, daß dieser sich ein Stück weiter vorn erneut teilte, und auch hinter dieser Gabelung war schon wieder die nächste zu sehen. »Ein Labyrinth«, stöhnte Eibryan. Er ging auf die Knie und hielt die Fackel nach unten, um irgendeine Spur seiner Freunde zu finden, irgendein Zeichen, aber der Boden bestand aus kahlem Felsgestein. »Gehen wir zunächst einfach weiter in den Berg hinein«, erklärte Pony, als sie seine Enttäuschung sah. »Und dann halten wir uns links und gehen weiter nach unten.« Das klang sehr entschieden, dabei war es nicht mehr als eine Vermutung – eine Vermutung, die Eibryan auch nicht schlechter vorkam als irgendeine andere. Also drangen sie zunächst weiter in den Berg vor und nahmen dann eine sanft gebogene Abzweigung nach unten. Eibryan verschwendete keinen Gedanken mehr daran, nach Spuren Ausschau zu
halten, da sie das nur aufhalten würde. Avelyn und Bradwarden wanderten hier irgendwo herum, wahrscheinlich ebenso orientierungslos wie Pony und er. Früher oder später mußte zumindest eines der Paare auf den Geflügelten oder eine Schar seiner todbringenden Anhänger stoßen. Die Lage war verzweifelt, und sowohl Eibryan als auch Pony mußten sich mehrmals vor Augen führen, daß sie seit ihrer Abreise aus Dundalis gewußt hatten, daß es so kommen würde. Bestesbulzibar war empört und ein wenig amüsiert zugleich, als er mit Quintall und zwei sehr nervösen Riesen einen völlig zerstörten Berghang besichtigte. Was für eine mächtige Waffe sein Spieß doch war! Eine solche Verheerung anzurichten, nur weil er der Hand seines sterbenden Trägers entglitten und zu Boden gefallen war! Einer der Riesen hörte nicht auf, fieberhaft nach einer Entschuldigung zu suchen, die ihn davor bewahrte, aus seiner Haut fahren zu müssen, und faselte irgend etwas von widrigen Umständen. Bestesbulzibar hörte ihm gar nicht zu. »Haben sie es geschafft?« fragte er Quintall und wies zum Aida-Berg hinüber. Der Steinerne betrachtete prüfend die Landschaft, schätzte die Entfernung ab. Er legte eine Hand ans Kinn, eine befremdend menschliche Geste. Allerdings sah er inzwischen auch wieder einigermaßen menschlich aus. Die groben, rauhen Kanten seines steinernen Leibes hatten sich geglättet und abgerundet und allmählich die exakte Form der sterblichen Hülle angenommen, die der Geist hinter sich gelassen hatte. Der Steinerne war wieder als Quintall erkennbar; die Züge, die Größe, die Proportionen, sie stimmten allesamt überein, ganz als sei es der Geist, der dem Körper sein Aussehen aufprägte. Seine neue »Haut« freilich war nicht nur von der Farbe des Obsidians, sondern auch von derselben Beschaffenheit, seine Gelenke bestanden nach wie vor aus roten Streifen
geschmolzenen Steins, und seine Augen waren nicht mehr als Löcher, in denen rot die Lava brannte. Aber gebaut, geformt war er wie Quintall, und der Steinerne konnte den Moment kaum erwarten, in dem Bruder Avelyn seinen neuen und überlegenen Körper zu sehen bekam. »Was ist?« drängte Bestesbulzibar. Quintall nickte. »Wenn sie die ganz Nacht gelaufen sind und sie niemand mehr aufgehalten hat, ja.« »Dann sitzen sie bei meiner Rückkehr womöglich schon auf meinem Thron.« Der Geflügelte grinste die beiden Riesen niederträchtig an. »D-die Umstände«, stammelte einer der beiden. »Wir werden – « begann der andere, aber der Geflügelte schnitt ihm das Wort ab. »Ihr werdet gehen und eure Plätze im Heer einnehmen«, befahl Bestesbulzibar. Es kribbelte ihm in den Klauen, den beiden die Haut vom Leib zu ziehen, und das galt auch für die anderen Riesen, die diesen völlig mißratenen Einsatz überlebt hatten und ihm nur nicht unter die Augen zu treten wagten. Vielleicht sollte er das ganze Pack einfach nach Aida zurückschaffen und dem tödlichen Nachtvogel vor die Füße werfen. Oder Quintall mit ihrer Bestrafung beauftragen, damit er sich von der Durchschlagskraft seiner jüngsten Waffe ein Bild machen konnte. Aber der Geflügelte war nicht dumm und konnte seine Triebe beherrschen, selbst den von ihm so überaus geschätzten Zerstörungstrieb. Wenn er bedachte, wieviel Arbeit allein in den Rüstungen seiner Leibwache steckte, dann hatte er bereits zu viele Riesen verloren; dagegen nahm sich der durch diesen mißglückten Fischzug verursachte Schaden eher gering aus. Dann waren Bruder Avelyn und dieser Nachtvogel eben in den Berg eingedrungen, na und? Das hieß doch nur, daß er ein bißchen zusätzlichen Spaß haben würde.
»Komm mit«, wies der Dämon Quintall an. Der Steinerne trat näher, und Bestesbulzibar hob vom Boden ab und hakte seine starken Beine um ihn. Dann schwang er sich über die Köpfe seiner Untergebenen hinweg in die Lüfte empor und trug das Werkzeug seines Zorns flugs zum Aida-Berg zurück. Und Quintall, der mit verbesserten Sinnen ausgestattet war, mit glühenden Augen, die die Finsternis der Tunnel zu durchdringen vermochten, nahm Witterung auf. »Wir sind zu tief«, schimpfte Avelyn, der an der Wand einer engen, stickigen Höhle lehnte. Er ließ seinen verzauberten Diamanten nur wenig Licht ausstrahlen, damit möglichst nicht noch mehr Wachen auf sie aufmerksam wurden als die beiden Zwerge, die Bradwarden und er gerade überwältigt hatten. Er trat das blutbesudelte Bein eines der Zwerge zur Seite und drehte sich so, daß er den Gang hinabsehen konnte, durch den sie gerade gekommen waren. »Sollte dieses Flügelvieh nicht im Herzen Aidas hocken?« fragte Bradwarden beiläufig, während er den anderen Pauri auseinandernahm. »Und sollte das Herz eines Berges nicht irgendwo weit unten sein?« Avelyn schüttelte den Kopf; die eingeschlagene Richtung wollte ihm einfach nicht schmecken. Sie waren gleich an der ersten Gabelung nach links gegangen, um in die tieferen Ebenen dieses Tunnelsystems vorzudringen; viel zu früh vielleicht. »Unser Feind könnte ebensogut weiter oben sein«, sagte er, »in der Nähe des rauchenden Kegels, um jederzeit seine Schwingen ausbreiten und zu seinen Untergebenen fliegen zu können.« Damit sah er wieder zu Bradwarden, und er bereute es sofort. »Bah! Reine Vermutung, mehr nicht«, erwiderte der Zentaur und nahm einen ordentlichen Happen Zwergenbein. Avelyn schloß die Augen.
»Wir gehen weiter, sag ich«, fuhr der Zentaur mit vollem Mund fort, »und nehmen die Wege, wie sie kommen. Ist alles nur Vermutung, das weißt du ebensogut wie ich.« Der Mönch seufzte, widersprach jedoch nicht. Für welche Richtung sie sich auch entschieden, er würde immer etwas daran auszusetzen haben. Es stand einfach zuviel auf dem Spiel; sein Nervenkostüm war einfach zu dünn. »Wozu bist du denn hier?« fragte Bradwarden schlicht. »Du bist gekommen, um dich deiner Bestimmung zu stellen, wie du gesagt hast, und das wirst du auch tun. Du wirst sie finden, mein Freund, und wenn es das ist, was du fürchtest, dann hast du mein vollstes Verständnis. Aber wenn wir jetzt kehrtmachen, kommen wir nirgendwohin, und jeder Schritt, den wir umsonst getan haben, gibt unseren Feinden eine Gelegenheit mehr, uns über den Weg zu stolpern.« Bei diesem Gedanken spuckte er aus und schleuderte das zähe Zwergenbein zu Boden. »Und die verdammten Viecher schmecken nicht einmal!« Avelyn rang sich ein Lächeln ab und trat neben den Zentauren, wobei er darauf achtete, nicht auf die verschmähte Mahlzeit zu treten. Sie gingen weiter, Seite an Seite, und ihre stattlichen Formen füllten den engen Tunnel aus.
»Der Anblick gefällt mir nicht«, flüsterte Eibryan und sah den langen, schmalen Felssims entlang, der die schroffe Felswand zu ihrer Linken hinunterführte. Rechts ging es steil hinab, am Beginn des Simses mehr als zweihundert Fuß tief, und an seinem Ende mochten es auch nicht viel weniger sein. Der Höhenunterschied vergrößerte die Gefahr jedoch kaum, denn unten im Abgrund loderte es rot auf, drehten sich träge Strudel geschmolzenen Gesteins. Selbst so hoch oben konnten Eibryan
und Pony die gewaltige Hitze spüren, und der Schwefelgestank war schier überwältigend. »Und mir gefällt die Aussicht nicht, den ganzen Weg wieder zurückzugehen«, erwiderte Pony. »Nach unten wollten wir, und nach unten geht es hier!« »Die Dämpfe…« protestierte der Hüter und stieß mit seinen Befürchtungen nicht auf taube Ohren. Pony kramte in ihrem Beutel herum und holte einen Stoffstreifen hervor, der als Verband gedacht war. Sie riß ihn entzwei und tränkte beide Streifen mit Wasser aus ihrem Schlauch, dann band sie sich den einen übers Gesicht, nachdem sie den anderen an Eibryan weitergereicht hatte. Der Hüter jedoch hatte eine bessere Idee. Er nahm das grüne Armband von seinem rechten Arm, das den Elfen zufolge gegen jedes Gift wirkte, riß es entzwei und reichte einen Streifen an Pony weiter. Mit einem vertrauensvollen Nicken maskierte sich die Frau, und Eibryan, der sie die ganze Zeit ansah, tat es ihr gleich, voller Bewunderung für ihren Mut. Diese tapfere Frau schreckte so schnell nichts ab. Der Lavaglut wegen brauchten sie an diesem Ort keine Fackeln, und so hatten sie, als sie sich an den Abstieg machten, beide Hände frei, um sich damit an die Wand zu klammern – so schmal war der Sims nicht, aber die Vorstellung, über seinen Rand zu treten, war mehr als beängstigend. Allmählich hielten sie sich immer weniger fest, gingen immer schneller, und bald hatten sie ein paar hundert Fuß hinter sich gebracht und damit fast schon die Hälfte des Abstiegs geschafft. Pony, die die Führung übernommen hatte, machte weit vor ihnen einen dunklen Schatten an der Wand aus, einen Seitenweg, der in die Felswand hinein- und von diesem Ort wegführte. Ihre Erleichterung war so groß, daß ihr der Spalt gar nicht auffiel, der vor ihr quer über den Sims verlief. Sie trat
über ihn hinweg, und als sie ihr Gewicht nach unten brachte, gab der Stein unter ihren Füßen nach. Pony schrie auf; Eibryan bekam sie zu fassen und riß sie nach hinten in Sicherheit, daß sie beide übereinanderpurzelten. Der Hüter krabbelte nach vorn zum Rand und sah die acht Fuß lange Steinplatte hinabstürzen. Sie prallte von einem Vorsprung in der Wand ab und stürzte kreiselnd weiter, bis das Magma sie verschluckte, ohne daß auch nur ein lauteres Platschen zu hören war. Pony versuchte ihrer Panik Herr zu werden, indem sie langsam tief ein- und ausatmete. Sie schaffte es, aber die tiefen Atemzüge hatten ihren Preis. Da ihr beim Sturz die Elfenmaske verrutscht war, bekam sie die ganze Wucht der Schwefeldämpfe zu spüren. Sie rollte sich an den Rand des Simses, zog die Maske herunter und übergab sich. »Wir müssen umkehren«, sagte Eibryan und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Runter geht’s schneller als rauf«, sagte Pony störrisch und würgte erneut. Dann setzte sie sich entschlossen auf, zog den Wasserschlauch hervor und wusch sich kurz das Gesicht, und schon stand sie wieder fest auf den Beinen und legte ihre Maske an. »Ein stattlicher Sprung«, sagte Eibryan und nickte zu der Lücke hinüber. »Ein kleiner Hüpfer«, berichtigte ihn Pony, und um den Beweis anzutreten, nahm sie nur einen Schritt Anlauf und sprang über die Lücke hinweg. Sie landete sicher auf der anderen Seite. Eine Weile starrte Eibryan sie nur an. Er bewunderte sie natürlich für ihre störrische Entschlossenheit, aber er fragte sich auch, ob es nicht einfach nur tollkühn von ihr gewesen war, ihm hier so etwas beweisen zu müssen. Sie hatten schließlich keine Ahnung, wohin dieser Durchgang dort unten
führte, und dieser Acht-Fuß-Hüpfer würde um etliches schwieriger sein, wenn es darum ging, wieder hinaufzukommen. »Ein kleiner Hüpfer«, sagte Pony erneut. Der Hüter rang sich ein Lächeln ab. Sie waren immerhin ausgezogen, um gegen einen Dämon zu kämpfen; wie sollte er die Frau da für etwas schelten, das er als leichtsinnig empfand? Pony riß die Augen auf, und Eibryan begriff, daß sie jeden Moment zu schreien beginnen würde. Noch während er herumwirbelte, zog er sein Schwert, aber die Bedrohung war nicht hinter, sondern neben ihm, und sie kam aus der massiven Wand. Steine platzten nach außen weg; Eibryan sprang rasch ein Stück den Sims hinauf und warf sich zu Boden. Verwirrt drehte er sich um, und als er sah, was diesen Steinschlag ausgelöst hatte, war er noch verwirrter. Quintall trat auf den Sims. Eibryan sprang auf, stand geduckt da, das Schwert schützend vor sich gehalten. Er wußte nicht, was er von dieser lebenden Statue halten sollte, diesem Obsidian-Abbild von Bruder Richter. Quintalls Absichten waren nicht weiter schwer zu erraten. Der Steinerne warf einen Blick auf Pony, dann wandte er sich wieder zu Eibryan um und vollführte mit seinen rotgestreiften Fingern drohende Greifbewegungen. »Ob du diesmal wohl auch gewinnst, Nachtvogel?« fragte der Diener des Dämons mit einer Stimme, die wie das Mahlen von Steinen klang. »Was hat er aus dir gemacht?« fragte Eibryan atemlos. »Was hat er deiner Seele angetan?« »Angetan?« höhnte Quintall. »Ich bin frei, du sterblicher Narr, und werde ewig leben, während dein Leben verwirkt ist!« Damit stürmte der Steinerne auf ihn zu. Eibryan schlug kräftig zu, aber die Klinge hinterließ keine sichtbaren Spuren, geschweige denn, daß sie Quintall bremsen
konnte. Der Hüter sprang einen Schritt zurück, dann machte er einen Ausfall, und das Elfenschwert schrammte kreischend an Quintalls Gesicht entlang. Dieser Treffer war schon folgenreicher, wie Eibryan erleichtert feststellte, denn die feine Elfenklinge drang hindurch und malte dem Steinernen einen dünnen orangefarbenen Strich auf die harte Haut. Aber der Strich kühlte beinahe sofort wieder zu Schwarz ab, und falls Quintall einen Schmerz verspürte, so zeigte er es nicht. Wild kam er heran und holte zu einem harten linken Haken aus. Eibryan duckte sich darunter hinweg und sprang nach hinten, als Quintalls Hand gegen die Wand donnerte. Ein kurzer Blick auf die Einschlagstelle erhöhte seinen Respekt vor diesem Feind beträchtlich, denn der Fels war gesprungen und rauchte. »Und? Willst du weglaufen und die Frau mir überlassen?« höhnte der Steinerne. »Ich kann zu ihr gelangen, mach dir da keine falschen Hoffnungen.« Die Worte ließen Eibryan zu Pony nach unten sehen, und er mußte zu seinem Schrecken feststellen, daß sie Anlauf für einen erneuten Sprung über die Lücke nahm. »Bleib unten!« schrie er. »Ich komme zu dir!« »An mir kommst du nicht vorbei, niemals«, sagte Quintall und unterstrich seine Worte, indem er wieder gegen die Felswand schlug, noch härter als zuvor. Damit gab er sich eine Blöße, der Eibryan nicht widerstehen konnte. Er schoß vor und stieß zu, so fest er konnte. Seine Klinge durchbrach die schwarze Panzerhaut und drang tief in den Magmakern des Monsters ein. Quintall heulte auf und begann auf ihn einzuschlagen, aber Eibryan war der schnellere von beiden. Schon zog er sein glühendes Schwert zurück – und der Hüter war froh zu wissen, daß das heiße Innere dieses gefährlichen Gegners der feinen Klinge nichts hatte anhaben können – und wehrte mit einer
flinken Links-Rechts-Links-Parade jeden seiner Faustschläge ab, um ihm schließlich noch einmal direkt ins Gesicht zu stechen. Aber selbst die tiefe Bauchwunde, die er Quintall geschlagen hatte, schloß sich rasch wieder, und die Bewegungen des Steinernen wurden immer achtsamer und gefährlicher. Pony rief etwas zu ihm herauf, aber Eibryan achtete kaum auf ihre Worte. Er mußte eine Möglichkeit finden, diesem Ding Schaden zuzufügen, und dabei konnte ihm sein Schwert nur bedingt helfen. Die Antwort schien auf der Hand zu liegen, und so dachte der Hüter nicht weiter über die Schwierigkeiten nach, die ein solches Vorgehen mit sich bringen würde. Er schoß erneut vor, stieß kräftig mit dem Schwert zu, dann tat er so, als ob er rechts an dem Monster vorbeilaufen wolle, an der Außenkante des Simses. Reiner Instinkt war es, der Eibryan auf ein Knie fallen ließ. Schwer zischte Quintalls Faust über seinen Kopf hinweg – anderenfalls hätte sie den Hüter glatt in den Abgrund gefegt! Dann kam Eibryan mit einer Rückwärtsdrehung wieder hoch, direkt vor dem Steinernen, warf sich gegen die Wand und war mit einem Satz zwischen Quintall und dem Fels. Das Ungetüm rammte die andere Faust in die Wand, um ihm den Weg hinunter zu Pony abzuschneiden. Aber Eibryan hatte anderes vor. Kurz vor der Barriere blieb er stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und versuchte mit all seiner Kraft, Quintall in den Abgrund zu stoßen. Er konnte kaum etwas ausrichten; Quintall, so schwer, so stark, lachte ihn nur aus. Dann spürte Eibryan den Druck und die Hitze, die von den Stellen des Steinernen ausging, die nicht aus hartem Stein bestanden. Eibryan schlug um sich, wand sich, aber der Druck wurde nur um so stärker. Er hörte Pony etwas rufen, aber ihre
Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Schon sackte er in sich zusammen. Dann fuhr plötzlich ein Windstoß über ihn hinweg, der Steinerne schrie auf, und Eibryan war wieder frei. Rasch krabbelte er ein Stück den Sims hinauf, dann drehte er sich um. Quintall preßte sich die Handballen vor die Augen, auf seinen Wangen glühten Magmatropfen. Und noch etwas gab dem Hüter Rätsel auf. Da führte ein dünnes, aber kräftiges Seil an ihm vorbei, führte hinter ihm und Quintall an der Wand entlang. Ein kurzes Ziehen offenbarte ihm, daß es ein Stück weiter oben auf dem Sims festgemacht war. Der Hüter hatte keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn Quintalls Augen begannen schon wieder zu heilen wie seine anderen Wunden auch. Nur eines wußte der Nachtvogel: Er mußte schnell sein und darauf hoffen, daß sein Schwert eine schwache Stelle fand. Wieder und wieder schlug und stach er zu, daß die Klinge nur so klirrte und aus dem Steinernen wilde Funken schlugen. Trotz der Tatsache, daß ihm das Schwert nicht wirklich etwas anhaben konnte, reagierte Quintall instinktiv und wehrte den Angriff mit seinen massiven Armen ab, wehrte sich mit eben den Manövern, die er vor langer Zeit in St. Mere-Abelle gelernt hatte. Eibryan verstärkte seinen Angriff noch und schlug so oft zu, daß nur noch ein einziges langgezogenes Klirren erklang. Er verpaßte dem Steinernen eine Kerbe nach der anderen und gab sich der flüchtigen Hoffnung hin, daß Quintall am Ende einfach auseinanderfiel.
»Mach es dort fest!« rief Tuntun. Sie warf der verblüfften Pony das kräftige Elfenseil zu und zeigte auf einen großen,
losen Stein, der ein Dutzend Fuß weiter unten auf dem Sims lag. »Und beeil dich!« Pony lief bereits los. Sie begriff nicht recht, was Tuntun vorhatte, aber sie wagte es nicht, wertvolle Zeit mit Nachfragen zu vergeuden. Jeder Plan, wie verzweifelt auch immer, war besser als nichts, und nichts war genau das, was Pony bis dahin hatte tun können. Als die Frau das Seil um den Fels zu schlingen begann, fühlte sie das Ziehen vom anderen Ende; das und die Tatsache, daß das Seil hinter dem Steinernen entlangführte, ließ ihr einiges klarwerden. Tuntun flog davon, zu den beiden Kämpfenden zurück, in jeder Hand einen ihrer schmalen Dolche, von denen das Magma aus Quintalls Augen troff. Eibryan war nach wie vor in der Offensive, als die Elfe herangesummt kam; er führte einen schweren Schlag nach dem anderen gegen Quintalls abblockende Arme, und ab und zu gelang ihm ein Hieb gegen seinen Leib oder sogar gegen den Kopf. Aber er hatte keine Ahnung, wie lange er diese Angriffswucht noch aufrechterhalten konnte. Wenn er nicht bald einen wirklich vernichtenden Treffer erzielte, ging ihm am Ende die Luft aus, und dann würde Quintall an der Reihe sein. Da jedoch heulte der Steinerne plötzlich wieder auf, denn Tuntun hatte ihm erneut ihre winzigen Dolche in die Augen getrieben. Quintall riß die Arme nach oben und streifte die Elfe, die flatternd nach oben wegtaumelte und einen Dolch an den Magmasee in der Tiefe verlor. Eibryan nahm sein Schwert in beide Hände, schoß vor und landete einen Schlag, in den er jede Unze Kraft legte, die er aufbringen konnte. Quintall riß seinen Arm zur Verteidigung herunter, und die Elfenklinge fuhr mitten hindurch, trennte ihm die Hand und den halben Unterarm ab.
Wieder heulte der Steinerne auf, und aus der Wunde quoll heiß das Magma, um sich jedoch wie schon zuvor rasch abzukühlen und unter dem rotgestreiften Ellbogengelenk des Monsters einen Stumpf zurückzulassen. Quintall brüllte und griff wutentbrannt an. Über ihm rief Tuntun mit ihrer wohlklingenden Stimme, so laut sie konnte: »Jetzt! Jetzt!« Eibryan hatte keine Ahnung, was die Elfe damit meinte, Pony aber schon. Die Frau drehte dem Felsbrocken den Rücken zu, quetschte sich mit angezogenen Beinen zwischen ihn und die Wand, und dann preßte sie sich gegen ihn, so fest sie nur konnte. Die Muskeln ihrer starken Beine traten hervor, und sie ächzte unter der gewaltigen Anstrengung, aber der Stein gab keinen Fingerbreit nach. Pony hörte, wie der Kampf von neuem entbrannte, wie die Klinge klirrte und das Monster brüllte. Mit Kraft allein war diesem Brocken nicht beizukommen. Sie drehte sich so, daß ihre Schultern etwas unter den Stein kamen, und preßte sich erneut dagegen. Tuntun stieß auf die Kämpfenden hinab, mußte Quintall jedoch in letzter Sekunde ausweichen, da er sich diesmal nicht überraschen ließ. Seine Drehung kostete den Steinernen einen weiteren Treffer, da Eibryan die Gunst des Moments wohl auszunutzen wußte. »Über das Seil!« rief Tuntun dem Hüter zu. »Über das Seil!« Was das zu bedeuten hatte, wurde Eibryan in eben dem Moment klar, als Pony es schaffte, den Stein in Bewegung zu setzen, und der schwere Brocken in den Abgrund stürzte. Der Hüter versuchte über das plötzlich straffe, heranschießende Seil hinwegzuspringen, aber er schaffte es nicht ganz. Er ließ sein Schwert auf den Felsvorsprung fallen und griff nach dem Seil, das dem stürzenden Stein nachfolgte und ihn und Quintall von der Kante fegte.
Schreiend stürzten sie hinab. Es gab einen harten Ruck, als das Seil gestrafft war, und der Felsbrocken wirbelte hinab, bis er mit einem dumpfen Geräusch im Magma landete und verschluckt wurde. Eibryan hielt sich fest, und vielleicht fünf Fuß unter ihm hing Quintall am Seil, hielt sich mit seiner verbliebenen, starken Hand so fest, wie es selbst der zweihändige Mann über ihm nicht vermochte. »Komm rauf!« rief Pony ihrem Geliebten zu, und das tat Eibryan auch; er zog sich mit aller Kraft und aller Schnelligkeit nach oben. Quintall jedoch war noch schneller; er zog sich mit seiner einen Hand empor, um sie dann nach oben schnellen zu lassen und sich erneut festzuhalten. Jedesmal brachte er einen Fuß oder mehr hinter sich, und Eibryan hatte noch mindestens zwanzig Fuß zu überwinden. Pony nahm Anlauf und sprang über die Acht-Fuß-Lücke hinweg, knallte mit dem Schienbein hart gegen den höheren Rand. Aber sie war oben und lief zu ihrem Geliebten weiter. Hand über Hand kam der Hüter höher; Pony glaubte, daß er es schaffen konnte. Er stieß einen Arm über die Kante, und die Frau warf sich auf den Boden und packte ihn und zerrte nach Leibeskräften. Dann jedoch hievte sich Quintall das letzte Stück empor und bekam das Seil nur ein paar Fingerbreit unterhalb von Eibryans Fuß zu fassen. Noch ein Nachgreifen, und er hatte den Hüter. Tuntun kam herabgestürzt. Eibryan erkannte, wie verzweifelt ihr Manöver war, und brüllte sie an zu verschwinden. Auf Pony vertrauend, ließ er die Kante sogar mit einer Hand los und versuchte die vorbeifliegende Elfe abzufangen. Elfenseil war stark, aber Tuntuns Dolch war ebenfalls von Elfenart, und so schnitt sie das Seil gleich unter Eibryans Fuß mit einer leichten Drehung des Handgelenks entzwei.
Eibryan bekam die Elfe am Unterarm zu packen; Quintall erwischte sie am Fuß. Da hingen sie nun, zappelten und drehten sich. Pony schlang einen Arm um das Seil, um besseren Halt zu haben, und zerrte verzweifelt an Eibryans Hemd. Der Hüter, dessen Muskeln sich unter der Anstrengung wölbten, zerquetschte der armen Tuntun fast den Unterarm, aber das war noch gar nichts gegen den Griff des schweren Quintall weiter unten. »Ziehen!« flehte Eibryan Pony an, denn er rutschte langsam wieder die Kante hinab. Tuntun, die allmählich fürchtete, entzweigerissen zu werden, erkannte das Dilemma, begriff, daß ihre Freunde sie unmöglich zusammen mit dem schweren Steinernen emporziehen konnten. Sie hob die freie Hand, die immer noch den Dolch hielt, und sah Eibryan in die schimmernden Augen. »Nein«, flehte der Mann sie an, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er schüttelte den Kopf. Tuntun stieß ihm den Dolch ins Handgelenk, und dann stürzten sie und Quintall auch schon hinab. Der Steinerne hielt sie fest, er wollte der Elfe, dieser jämmerlichen Kreatur, die ihn in den Untergang geschickt hatte, nicht gestatten, sich mit Hilfe ihrer Flügel in Sicherheit zu bringen. Tuntun versuchte sich zu drehen, versuchte ihren Dolch zu benutzen… Eibryan und Pony sahen weg, sie konnten es nicht ertragen, den endgültigen Sturz in den Lavasee mit anzusehen, Tuntuns Ende mit anzusehen. Für eine ganze Weile lagen sie übereinander auf dem Sims, während die Rauchschwaden sie zu überwältigen drohten. »Wir müssen weiter«, sagte der Hüter. »Für Tuntun«, stimmte Pony zu. Sie sprangen über die Lücke hinweg und eilten weiter und waren zutiefst erleichtert, als sich der Seitenweg weiter unten nicht als Sackgasse erwies.
Sie zündeten die Fackel wieder an und liefen los, froh, die giftigen Dämpfe und den schrecklichen Anblick hinter sich lassen zu können. Bald danach jedoch blieben sie wie angewurzelt stehen, als sie weit vorn im Tunnel ein Glühen ausmachten. Eibryan sah hilflos auf die Fackel in seiner Hand; wenn er das Glühen sehen konnte… Plötzlich wurde das Licht in der Ferne heller, und dann bündelte es sich, schoß den Gang hinab und über Eibryan und Pony hinweg, die rasch die Arme hoben, um ihre Augen zu schützen. Bilder von dämonischen Gestalten schossen ihnen durch den Kopf, Bilder, die sich unter dem gebrüllten »Ho, ho hoppla!« vom anderen Ende des Lichtstrahls in nichts auflösten.
30. Durch das Labyrinth
Avelyn und Bradwarden waren überglücklich, ihre Gefährten wiederzusehen, doch verging ihnen das Lächeln angesichts der tränenüberströmten Wangen von Pony und des unmißverständlichen Schleiers in Eibryans Augen schnell. »Tuntun«, erklärte Eibryan und rieb sich die Augen. »Sie kam uns zu Hilfe und hat mir das Leben gerettet, aber um den Preis ihres eigenen.« »Vielleicht ist sie noch gar nicht tot«, erwiderte Avelyn und hob seinen Beutel mit den Juwelen. »Vielleicht kann der Hämatit – « Der Hüter bremste den Mönch mit einer Hand und schüttelte den Kopf. »Das Magma hat sie verschluckt«, erklärte er ernst. »Tapfer bis zum Schluß, das Mädchen«, bemerkte Bradwarden. »So sind sie, die Touel’alfar – ein edleres Volk habe ich nie gekannt.« Der Zentaur schwieg einen Moment. »Und was ist mit Paulson und dem Kleinen?« fragte er dann. »Ich weiß nicht, ob sie den Kampf mit den Riesen überlebt haben«, sagte der Hüter. »Und warum habt ihr dann nicht kehrtgemacht und nachgeschaut?« fuhr Bradwarden fort, und alle drei sahen ihn mit erstaunten Mienen an. Wie konnte er es wagen, Eibryan und Pony einen Vorwurf zu machen – falls es das war, was er beabsichtigte. »Unser Ziel war Aida und unsere Mission, Avelyn hierherzubringen und den Geflügelten zu vernichten«, sagte Eibryan entschieden und begriff noch beim Aussprechen dieser Worte, wie hintersinnig Bradwardens Frage gewesen war. Durch seine Erinnerung an ihr höheres Ziel half der Zentaur
ihnen, Tuntuns Tod in die richtige Perspektive zu rücken. Sie war tot, aber ihr war es zu verdanken, daß sie ihren Weg nun fortsetzen konnten, um den höheren Zweck der Reise zu erfüllen. Dieser Gedanke gab ihnen neuen Mut. Die vier Gefährten eilten durch die Gänge und suchten nach einem Hinweis darauf, wo der Dämon zu finden war. Überall zweigten neue Gänge ab, und jedesmal waren die Freunde auf nichts als ihre Vermutung angewiesen, wo ungefähr sie sich befanden und wo der Dämon hausen mochte. Dann jedoch blieb Avelyn plötzlich an einer solchen Abzweigung stehen und hielt Eibryan, der gerade nach links weitergehen wollte, am Arm fest. »Rechts«, erklärte der Mönch. Eibryan sah ihn forschend an. »Was weißt du?« fragte er, denn Avelyns entschlossener Stimme war zu entnehmen gewesen, daß er nicht einfach nur blindlings geraten hatte. Darauf wußte Avelyn seinen Freunden nichts zu antworten; es war nicht mehr als ein Gefühl, allerdings ein sehr ausgeprägtes, als spüre er die magischen Ausstrahlungen des Bösen. Wie auch immer, Avelyn wußte zutiefst, daß er recht hatte, und so lief er in den Gang zu ihrer Rechten hinein. Die anderen folgten ihm stehenden Fußes, und ihre Hoffnungen stiegen, als sie an einem massiven Gitter ankamen, dessen vom Boden bis zur Decke reichende Stangen ihnen den Durchgang verwehrten.
Im Süden lief alles gut, wie der Geflügelte wußte. Seine von Maiyer Dek und Kos-kosio Begul angeführten Truppen drangen zügig gen Palmaris vor, während Ubba Banrocks Streitmacht Alpinador der Breite nach durchquert und die Küste erreicht hatte, womit das Königreich des Nordens in
zwei Hälften geteilt war. Banrocks Pauris hatten sich planmäßig mit der großen Flotte vereinigt, die von den Julianthen herübergesegelt war, und nun war diese Flotte erneut in See gestochen und hielt auf den Golf von Korona zu. Trotz dieser vielversprechenden Entwicklung drehte der Dämon nun unruhige Kreise um seinen Obsidianthron. Er spürte das Eindringen machtvoller Zauberkraft; er wußte, daß Quintall vernichtet worden war. Der Geflügelte würde seine Widersacher, die nach Aida vorgedrungen waren, nicht länger unterschätzen. Wenn sie nun auch noch die letzten Schranken überwanden… Bei dieser Vorstellung kniff das Scheusal die Augen zusammen und grinste böse. Welche Freude es ihm bereiten würde, sich persönlich um diese Eindringlinge zu kümmern. Soviel Unheil seine Armee auch anrichtete, soviel Leid und Tod sie auch brachte, Bestesbulzibar hatte daran keinen wirklichen Anteil gehabt, von der Tötung einiger Emporkömmlinge oder Versager in den eigenen Reihen einmal abgesehen. So besorgt der Geflügelte auch war, er hoffte, daß wenigstens ein paar dieser Eindringlinge es schafften, in den Thronsaal zu gelangen.
»Geht ein ordentliches Stück weg«, sagte Avelyn und griff nach seinem Beutel, aber Eibryan hatte eine andere Idee. »Nein«, erklärte der Hüter. »Dein Zauber wird zu laut sein, fürchte ich. Es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Eibryan nahm sein Bündel von den Schultern und hielt nach einigem Gewühl den roten Elfenbrei empor, mit dem Belli’mar Juraviel damals in Andur’Blough Inninness den Nachtfarn präpariert hatte, so daß dieser trotz seiner großen Härte leicht zu fällen gewesen war. Wenn dieser Brei den silberilhaltigen Nachtfarn
mürbe machen konnte, dann wurde er vielleicht auch mit Metall fertig. Eibryan malte dicht unter der niedrigen Decke einen Strich um die mittlere Stange. Dann zog er sein Schwert, rief Bradwarden zu sich und kletterte auf seinen Rücken, um möglichst flach zuschlagen zu können. In der Hoffnung, daß ihn seine Ahnung nicht trog und er sein prächtiges Schwert nicht ruinieren würde, holte Eibryan aus, den Griff fest in beiden Händen, und schlug so kräftig nach dem Strich, wie er nur konnte. Sturmwind fuhr glatt durch die Metallstange hindurch und prallte dann mit einem Klirren von der danebenstehenden ab. Eibryan sprang vom Rücken des Zentauren, hob die Klinge vor die Augen und stellte mit einem Seufzer der Erleichterung fest, daß sie nicht beschädigt war. Der mächtige Bradwarden ergriff die durchtrennte Stange und bog sie weit zur Seite, so daß zumindest die anderen hindurchschlüpfen konnten. »Gute Arbeit«, gratulierte Pony. »Aye«, stimmte Bradwarden ihr zu, »aber meinen Körper kriege ich da nicht hindurch.« Eibryan zwinkerte dem Zentauren zu. »Ich hab noch mehr von dem Brei«, versicherte er ihnen, und bald war auch die Nachbarstange zur Seite gebogen. So liefen sie weiter und beeilten sich um so mehr, da ihnen das Gitter ein sicherer Hinweis darauf war, nicht nur einen wichtigen Bereich, sondern wahrscheinlich sogar das Versteck des Dämons selbst erreicht zu haben. Weiter und weiter führte der Gang, wurde einmal so breit, daß sie alle nebeneinander laufen konnten, und dann wieder so schmal, daß nur Pony und Eibryan nebeneinander Platz hatten. Sie kamen an mehreren Seitengängen vorbei, aber da ihrer der bestgearbeitete war, der glatteste und breiteste, folgten sie
weiter ihrem einmal eingeschlagenen Weg. Avelyn ließ mit seinem Diamantlicht große Sorgfalt walten; er richtete es nach vorn aus und benutzte das Katzenauge, wenn er nach hinten in die Dunkelheit spähen wollte. Und so war es Avelyn, der die großen Schattengestalten als erster bemerkte, die weit hinten aus einem Seitenweg kamen. »Gesellschaft«, flüsterte der Mönch, und während er noch sprach, spiegelte sich in einer Kurve vielleicht drei Dutzend Schritte vor ihnen schon der verräterische Schein einer Fackel wider. Der Hüter sah sich kurz um und führte die Gruppe an eine enge Stelle – wenn sie von vorn und hinten zugleich angegriffen wurden, dann stellten sie sich ihren Feinden besser dort, wo diese nur einzeln oder paarweise gegen sie antreten konnten. Das Licht kam um die Kurve, hinter ihnen flammte ein zweites auf, und ihre Gegner erwiesen sich als Bergriesen, vier vorn, vier hinten, allesamt gepanzert wie diejenigen, die sie durch die Pässe zum Barbakan gehetzt hatten. Eibryan war wahrlich froh, daß sie sich nicht auf offenem Gelände befanden, denn dann hätten sie ein jeder gegen zwei Riesen zugleich antreten müssen – und wahrlich kaum eine Chance gehabt. In diesen beengten Räumlichkeiten jedoch mußten die Riesen sowohl vorn als auch hinten in zwei Zweierreihen angreifen. »Pony und ich übernehmen die vorderen«, rief der Hüter. »Und ich die hinter uns!« rief Bradwarden und hatte einige Mühe, seinen massigen Leib in dem engen Tunnel zu drehen. »Nicht allein«, versicherte ihm Avelyn und trat an seine Seite, kaum daß die Lücke für seinen eigenen massigen Leib wieder groß genug war. Avelyn griff in einen kleineren Beutel und holte eine Handvoll kleiner prismatischer Zölestinkristalle
hervor, die hellblau schimmerten; dann begann er ihren Zauber heraufzubeschwören. »Wir dürfen ihnen nicht die Offensive überlassen«, sagte der Hüter zu Pony. Und schon griffen sie an, was die Riesen, die es nicht gewohnt waren, kleines Volk auf sich zustürmen zu sehen, einigermaßen verblüffte. Eibryan kämpfte wie ein Berserker. Immer wieder ließ er sein Schwert gegen die Klinge des Riesen krachen und schaffte es schließlich, sie so weit abzulenken, daß er dem Monster mit einem kräftigen Streich den Brustpanzer ein Stück weit aufschlagen konnte. Pony griff mit ähnlicher Wucht an, aber ihre Attacken waren nicht annähernd so effektiv, und sie erzielte nur einen kleineren Treffer. Und doch war es nicht sie, sondern Eibryan, dem zuerst der Schwung ausging. Immer wieder warf der Hüter unfreiwillig einen Blick zur Seite, sah beinahe ebensooft zu seiner Geliebten, wie er seinen Gegner im Auge behielt. Das war seiner Fechtkunst nicht gerade förderlich, und so bewahrte ihn bald nur noch ein verzweifeltes Ausweichmanöver davor, buchstäblich den Kopf zu verlieren. »Ich wünschte, du würdest hierher nach vorn kommen«, grummelte der Zentaur und starrte die beiden vorderen Riesen an. Die gewaltigen Scheusale konnten in dem engen Gang kaum nebeneinanderstehen, aber das brauchten sie auch gar nicht, denn derjenige, der etwas hinter dem anderen zurückblieb, trug einen langen Speer. »Die kommen nämlich zu zweit.« Der Zentaur schwang die Keule hin und her, um seine Gelenke zu lockern. »Mal abwarten«, versprach Avelyn hintersinnig und setzte seine Beschwörung fort. Schon kamen die Riesen herangestürmt; Bradwarden machte sich bereit und spannte die Hinterläufe an. Und dann schnellte
Avelyns Arm nach vorn, und ein Stück vor dem Zentauren entlud sich ein Gewitter von scharfen, grellen Explosionen; ein Dutzend oder mehr waren es, und die mitten hineinlaufenden Riesen schrien schmerzerfüllt auf und blieben wie angewurzelt stehen. Bradwarden hatte seine Sinne kaum wieder beisammen, da griff er auch schon an. Er rammte den vorderen Riesen, daß dieser rückwärts zu Boden krachte, schlug dem zweiten mit der freien Hand den Speer zur Seite und donnerte ihm seinen schweren Prügel so heftig gegen die gepanzerte Schläfe, daß dem Kerl nicht nur der Helm vom Kopf flog, sondern er mit dem Schädel auch noch gegen die Wand knallte. In seinen zweiten Schwinger legte der Zentaur alles, was er hatte, und das war mehr als genug. Hart ging der Prügel auf den ungeschützten Kopf nieder, der noch immer am Felsgestein lehnte. Der schwere Schädel zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Geräusch, und der Riese sackte zu Boden. Aber die anderen Bergriesen waren schon zur Stelle, wenn auch einer durch die Zölestinexplosionen vorübergehend erblindet zu sein schien, und Bradwardens Angriff kam zu einem abrupten Stillstand. Pony begriff, was hier vor sich ging, und fand keinen Gefallen daran. Sie wußte, daß Eibryan ihren Fähigkeiten vertraute – wie auch nicht nach all den gemeinsam bestrittenen Kämpfen? –, und doch ging er nun, da sie so dicht beieinander kämpften, um ihretwillen in die Defensive. Das durfte die junge Frau nicht hinnehmen, und zwar weniger aus Gründen des Stolzes als aus dem praktischen Grund, daß sie mit einer solchen Haltung kaum eine Chance hatten, die Riesen zu bezwingen. Pony mußte sich rasch etwas einfallen lassen, um ihrem Geliebten ihre Tüchtigkeit vor Augen zu führen. Sie nahm den Graphit, klemmte ihn fest
zwischen Schwerthand und Waffengriff und fragte sich, ob ihr Plan aufgehen würde. Eibryan duckte sich vor dem nächsten Schwertstreich weg, der eine saubere Öffnung für einen bösen Treffer bot; nur daß er sich statt dessen seitwärts bewegte und einen Schwertstoß abfing, der auf Pony gezielt gewesen war – und den sie mit Leichtigkeit selbst hätte parieren können. Aber die Bewegung des Hüters erstaunte den Riesen so sehr, daß er erneut seine Deckung vergaß, und so schoß Pony vor und stieß mit ihrer Klinge heftig nach seinem Bauch. Die Spitze fand ein schmalen, sehr schmalen Spalt, drang aber nicht tief genug ein, um einen entscheidenden Treffer zu erzielen. Das war auch gar nicht nötig, wie der Riese einen Moment später feststellen durfte, als Pony die Zauberkraft des Steins freisetzte. Mit einem Knistern entlud sich ein schwarzer Bogen, der die Klinge hinauf direkt in den Bauch des Kolosses fuhr. Wild zuckte der Riese, wieder und wieder, und fiel dann, als der elektrische Beschuß schließlich endete, nach hinten um. Betäubt blieb er liegen, vielleicht sogar tot. Die Lektion verfehlte ihre Wirkung auf Eibryan nicht, der voller Bewunderung für diese durchschlagende Kombination von Schwert und Stein war und sich zugleich für die Vorstellung schalt, Pony könnte seiner Hilfe bedürfen. Da schon ein Riese an die Stelle des Gefallenen rückte, wollte Eibryan nicht zurückstehen und stürzte sich in eine wilde Attacke, und seine Elfenklinge war für das schwere Schwert des Riesen viel zu flink. Treffer um Treffer erzielte er und schlug einen regelrechten Funkenschauer aus dem Metall der Rüstung. Schließlich hatte er die Lücke zwischen Brustpanzer und Gürtel erspäht und merkte sich die Stelle. Für einen Augenblick ließ der Hüter das Tempo schleifen, und der Riese brüllte wie erwartet auf und beschrieb mit der
Klinge einen gewaltigen Streich. Eibryan duckte sich tief, bevor das Schwert auch nur in seine Nähe kam, und sprang vor, während es noch über ihn hinwegzischte. Dann kam er hoch und stach nach jener schmalen Lücke. Und Sturmwind fand sie, fuhr an der Rüstung vorbei und senkte sich tief in weiche Eingeweide. Eibryan schob sich weiter vor, um innerhalb des Bogens zu bleiben, den dieses monströse Schwert in der Luft beschrieb, und drückte seine Klinge bis zum Heft hinein. Der Riese versuchte ihn mit der freien Hand zu packen, aber dazu fehlte ihm schon die nötige Kraft. Eibryan riß das Schwert empor, einmal, zweimal, und jedesmal ruckte der todgeweihte Riese hoch. Dann, als er ganze Arbeit geleistet hatte, riß der Hüter sein Schwert zurück und ließ das Scheusal umfallen. Der letzte Riese war schon zur Stelle, die riesige Fackel wie eine Waffe schwingend. Pony, die schwer mit dem dritten Riesen beschäftigt war, hielt schon den nächsten Stein für einen Trick bereit. Dann jedoch hörte sie, was hinter ihnen los war, hörte sie Bradwarden unter zahllosen Schlägen ächzen. »Avelyn!« rief die Frau und warf den Stein, den der Mönch weit todbringender einzusetzen vermochte als sie selbst, über die Schulter nach hinten. Er prallte vom Rücken des Mönchs ab, der sich gerade in den nächsten Steinzauber hatte fallen lassen wollen. Avelyn sah, welches Geschenk Pony ihm gemacht hatte, und brach seine Beschwörung ab. Rasch holte er sich den Stein, den Magneteisenstein. »Ho, ho, hoppla!« brüllte er fröhlich und reckte das tödliche Juwel nach vorn. »Das wird weh tun!« »Dann aber schnell, bitte!« flehte Bradwarden und grunzte, als er einen schweren Keulenschlag gegen die linke Flanke einstecken mußte, weil er genug damit zu tun hatte, sich das
Schwert seines anderen Gegners vom Leib zu halten. Der Zentaur hatte mit diesem Schwert bereits unangenehme Erfahrungen gemacht; die klaffende Wunde an der Seite seines Menschentorsos zeugte davon. Avelyn war soweit, und der Stein schoß davon, schneller als jeder Armbrustbolzen, mit mehr Durchschlagskraft als eine Bogenschleuder. Er traf den Schwertträger mitten in die Brust, schlug ihm ein Riesenloch in den Panzer, riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn an seinem Kumpan mit der Keule vorbei nach hinten, wo er schwer in den letzten Riesen krachte und ihn mit zu Boden nahm. Bradwarden nutzte den Moment der Ablenkung, um sich zu drehen, und als der Keulenträger sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, verpaßte ihm Bradwarden mit beiden Hinterläufen einen ordentlichen Tritt gegen den Brustpanzer. Der Riese flog bis zu seinen beiden übereinanderliegenden Kumpanen. »Vorwärts!« rief Avelyn. Dagegen hatte Eibryan nicht das geringste einzuwenden. Er machte einen Satz nach hinten, um von der wild geschwungenen Fackel wegzukommen, dann schoß er nach vorn und zwischen den beiden verbliebenen Riesen hindurch, wobei er Ponys Gegner noch einen Abschiedsgruß mit seinem Schwert verpaßte. Der Riese mußte sich zu ihm herumdrehen, um der Attacke zu begegnen, und bekam das Schwert der Frau zu schmecken, während er noch Eibryans Klinge parierte. Dann bekam er zu allem Überfluß auch noch die Fackel seines Kumpans ins Gesicht, als dieser den davonlaufenden Hüter zu packen versuchte. Pony machte einen Ausfall, hob ihr Schwert und rief gleichzeitig die Kräfte des Graphitsteins wach. Obwohl ihr Blitz diesmal viel schwächer ausfiel, hatte er noch genügend Energie; der Riese sackte benommen nach hinten weg.
Dann erfolgte eine Reihe knallender Explosionen vor ihr in der Luft, ein weiterer Zölestinhagel von Avelyn, der die beiden Bergriesen versengte und ihnen die Orientierung nahm. Pony starrte verblüfft den Koloß an, der gerade noch mit Eibryan gekämpft hatte. Er hatte sich plötzlich gereckt, Hüften nach vorn, Schultern nach hinten, wie ein Soldat beim Appell. Pony ging ein Licht auf, als ihm die Fackel entglitt, als er vorwärts stolperte, fort von Eibryans bluttriefender Klinge. Avelyn preßte sich flach gegen die Wand und bedeutete Bradwarden, an ihm vorbeizulaufen, denn von den vier Riesen, die sie von hinten angegriffen hatten, zeigte nur noch einer Kampfeslust. Bradwarden, der schwerer verletzt war, als er zunächst gedacht hatte, widersprach nicht, sondern schlüpfte an dem beleibten Mönch vorbei und eilte zu Pony, um sich den letzten der vorderen Riesen vorzunehmen. Der letzte hintere Riese hatte sich endlich von den schlaffen Gliedmaßen seiner Kumpane befreit, und als er sah, daß ihm nur noch Avelyn gegenüberstand, und das augenscheinlich unbewaffnet, griff er johlend an. Avelyn wartete bis zur allerletzten Sekunde, dann ließ er die Energie seines jüngsten Steins, des Malachits, den Gang hinabschießen. Plötzlich geriet der Riese aus dem Gleichgewicht, und seine Füße berührten kaum noch den Boden. Jede Bewegung des schwerelosen Kolosses erzeugte eine Gegenbewegung, so daß der dumme Kerl, als er für einen wilden Schwinger mit der Keule ausholte, durch seinen eigenen Schwung vom Boden abhob, um in Zeitlupe durch die Luft zu trudeln. Verzweifelt versuchte er, irgendwie an den trickreichen Mönch heranzukommen, aber jedes Recken und jede Drehung verschlimmerten seine Lage nur, und bald trieb er hilflos nach hinten den Gang hinab. Kaum war der Riese an seinen gefallenen Kumpanen vorbei, da stürzte Avelyn zu ihnen und
griff dem einen in die Brust, um seinen Magnetstein zu bergen. Als er wieder nach oben sah, war der letzte Riese, kopfüber mit Armen und Beinen rudernd, schon ein ganzes Stück weit weggetrudelt. Avelyn sah sich kurz nach seinen drei Freunden um, die gerade ihrem letzten Gegner den Garaus machten. Als er mit einem beinahe entschuldigenden Schulterzucken feststellte, daß sie weit genug von dem schwerelosen Riesen entfernt waren, eilte er ihm nach und errichtete noch im Laufen einen Serpentinschild; dann reckte er seinen mächtigen Rubin nach vorn. Eibryan zuckte zusammen, als er die böse Verletzung des Zentauren bemerkte, die klaffende Wunde, die dem armen Bradwarden rasch seinen Lebenssaft entzog. »Wir brauchen den Hämatit«, sagte Pony und sah zu Avelyn. »Versuch’s statt dessen mal hiermit«, schlug Eibryan vor und nahm sein anderes Armband ab, das rote, das die Elfen mit dauerhaften Heilsalben getränkt hatten. Pony ergriff es und machte sich an die Arbeit, während Eibryan weiter nach vorn lief. Sie zuckten beide gewaltig zusammen, als sie den ohrenbetäubenden Knall von Avelyns Feuerball vernahmen. Avelyn kam den Gang zurückgetrottet; der verbrannte Riese hing noch immer kopfüber in der Luft. Der Tunnel führte für ein Dutzend Schritte weiter geradeaus, dann wandte er sich nach rechts, wohin Eibryan gelaufen war. »Weiter geht’s«, sagte Avelyn zu seinen erschöpften Freunden, und sie nickten, denn sie wußten wohl, daß ihre Aufgabe bei weitem noch nicht erfüllt war. Pony sah Bradwarden an, aber der Zentaur lächelte breit, denn die Heilsalben der roten Bandage schlugen bereits an. So gingen sie weiter, und Avelyn führte sie an. Alle drei blieben mit einem Ruck stehen, als Eibryan um die Kurve
geschossen kam. Der Hüter krachte schwer gegen die Wand, benutzte sie für eine Drehung, um sich hinter die Ecke werfen zu können, und als er aus seiner Hechtrolle wieder hochkam, sahen die anderen schon neugierig an ihm vorbei nach vorn, wo glühende Steine auf dem Boden lagen. »Ein großer roter Mann!« erklärte der Hüter. »Mit schwarzen Flügeln wie von einer Fledermaus – « »Das ist kein Mann«, unterbrach ihn Avelyn, denn er wußte, welcher Feind sich ihnen da entgegenstellte, wußte, daß sie ihn schließlich gefunden hatten, den Geflügelten.
31. Bestimmung
Eine Welle geschmolzenen Gesteins schwappte um die Ecke und schob eine solche Hitze vor sich her, daß die Freunde zurückweichen mußten. Dann kam eine zweite Welle, eine dritte, ein ganzer Fluß aus Magma, und die Freunde ergriffen die Flucht. Nur Avelyn blieb stehen und machte sich rasch daran, mit Hilfe seines Steinzaubers einen Schild zu errichten, einen magischen Wall, der den Gang hermetisch abriegelte. Schon schwappten die wogenden Höllenfeuer auf den betenden Mönch zu. Als Pony auffiel, daß Avelyn fehlte, blieb sie stehen. Sie wandte sich um und kreischte auf, machte sogar einen Satz in seine Richtung, aber Eibryan hielt sie fest. Als die Hitze zunahm, wurde Avelyns Gottvertrauen auf eine harte Probe gestellt. Er hatte mit Hilfe des Serpentinsteins in der Mitte eines Feuerballs überlebt, aber wieviel er damit gegen das Magma ausrichten konnte, das doch dämonischen Ursprungs war, ließ sich wirklich nicht absehen. Die Hitze konnte der Serpentin wohl abwehren, aber was war mit dem enormen Gewicht des geschmolzenen Gesteins? Für solche Zweifel war allerdings kein Platz. Avelyn ließ sich tiefer in seine Gebete fallen, in die Trance des Steinzaubers. Das Magma war nur noch ein paar Fuß entfernt, schob sich Blasen schlagend näher. Der Mönch bekam keine Hitze zu spüren, keine heißen Ausdünstungen des geschmolzenen Gesteins. Wo das Magma die Serpentinbarriere durchfloß, kühlte es sofort ab, wurde schwarz und verfestigte sich, und dann schob sich neues Magma darüber hinweg, um ebenfalls zu erkalten.
Nun sah Avelyn ein neues Problem entstehen: Wenn die Lava sich immer weiter so aufeinanderschichtete, bis ganz nach oben, war ihnen schließlich ihr einziger Weg zu dem Geflügelten verschlossen. Mutig machte der Mönch einen Schritt nach vorn und betrat die Obsidianschwelle, und mit ihm schob sich sein magischer Schild vor und erstickte die dämonische Glut. Als die Freunde das sahen, als sie begriffen, daß ihr Gefährte den Angriff des Geflügelten abgewehrt hatte, eilten sie rasch zu ihm, und Eibryan ging neben dem betenden Mönch her, seinen Elfenbogen in der Hand. Dann waren sie um die Ecke herum, der Magmafluß erstarrte, und der Geflügelte kam in Sicht. Eibryan hob den Bogen und schoß, und der Geflügelte, den der Anblick seiner Widersacher sichtlich überraschte, bekam den Pfeil mitten zwischen seinen menschenähnlichen Armen in die Brust. Wild glühten Bestesbulzibars Augen, und der Dämon riß sein Maul auf und spie ihnen einen Magmastrom entgegen, und während ihnen die Hitze dank des Serpentinschilds nichts anhaben konnte, wurden Avelyn und Eibryan allein von der geschoßartigen Wucht des Erbrochenen gegen die Wand zurückgeschleudert. Mit einem Knurren kam der Hüter wieder auf die Beine und schickte seinem ersten Pfeil einen zweiten, ebenso gut gezielten nach. Der Geflügelte heulte auf, weniger schmerzerfüllt als wutentbrannt, denn für diese mächtige Wesenheit stellten Eibryans Pfeile kaum mehr als eine kleinere Unannehmlichkeit dar. Avelyn hingegen… der konnte schon handfesteren Ärger machen. Der Dämon warf seine Arme nach vorn, und aus seinen Fingerspitzen entluden sich schwarze, knisternde Blitze, die,
von den Wänden abprallend, den geraden Gang hinunterschossen und in Eibryan und Avelyn hineinfuhren, da der Mönch ihnen so schnell nichts entgegenzusetzen wußte. Für einen langen, schmerzhaften Moment hingen die beiden in der von Funkenschlag erfüllten Luft, dann wurden sie heftig gegen die Wand geschleudert. Rasch flohen sie, Pony und Bradwarden vor sich herschiebend, hinter die schützende Kurve zurück. Aus ihren Kleidern stieg dünner Rauch empor. Avelyn wühlte verzweifelt in seinem magischen Repertoire, doch es war Pony, die den nächsten Schlag führte. Sie stieß den Graphit nach vorn und löste einen Blitzstrahl aus, den sie so geschickt gegen die Außenwand der Kurve richtete, daß er davon abprallte und dem Dämon entgegenbrandete. Dem Geheul nach zu urteilen, das ihnen entgegenschallte, hatte sie gut gezielt; nur wurde es von einem zweiten knisternden schwarzen Blitz begleitet, der mit einem solchen Donnerschlag einschlug, daß es Pony und Avelyn glatt von den Füßen riß – Eibryan wäre es nicht anders ergangen, hätte er sich nicht an den standfesten Zentauren geklammert. »Zeit zum Abhauen!« brüllte Bradwarden. »Nimm du ihn, Avelyn!« rief Pony und warf ihm den Graphit zu, aus dem er sicher mehr herausholen konnte als sie. »Vorwärts, sage ich!« korrigierte Avelyn den Zentauren, während er den Stein auffing und Pony auf die Beine zog. Er hielt einen Augenblick inne, als er feststellte, daß er zwar die Hände voller Himmelsjuwelen hatte, aber nicht den Stein darunter fand, den er gerade gebrauchen konnte. Rasch gab er zwei Steine an Pony weiter, den Malachit und den leuchtenden Diamanten, dann lief er erneut auf die Ecke zu. »Von vorn kommt die Finsternis, also vorwärts!« Er griff in seinen Beutel und zog einen weiteren Stein hervor, den er schon einmal zur Abwehr eines Zaubers des Geflügelten eingesetzt hatte, im Kampf mit einem Pauri-General.
Avelyn bündelte die Energie des Sonnensteins und errichtete einen Wall vor sich, formte ihn und schleuderte ihn vorwärts, und es trug etwas zu seiner Beruhigung bei, daß Pony, die gleich hinter ihm war, das Licht des Diamanten in Gang hielt. Der Geflügelte löste einen weiteren ohrenbetäubenden Blitzschlag aus, als Avelyn um die Ecke kam, aber die knisternde Magie fiel in sich zusammen, sobald sie in die entzauberte Zone eindrang. »Ho, ho, hoppla!« brüllte Avelyn, und alle seine Freunde gingen zum Angriff über. Bestesbulzibar war verwirrt – ein solches Wirken von Antimagie hatte er in seinem ganzen Jahrtausend nicht erlebt. Er sah nur noch Avelyn, sah nur noch den Edelstein, den der Mönch fest mit seiner vorgestreckten Hand umklammert hielt, sah weder die angreifenden Freunde noch den Pfeil, der ihm entgegenschoß, nahm einfach nur all seine Zauberkraft zusammen. Sie waren kaum dreißig Fuß voneinander entfernt. Zwanzig – wieder sauste ein Pfeil heran, prallte von der knochenharten Stirn des Dämons ab. Zehn Fuß entfernt brüllte Avelyn wild auf, und der Hüter hängte sich den Bogen über die Schulter und zog sein Schwert – ein Elfenschwert! Das Kreischen des Geflügelten schallte durch das gesamte Tunnelsystem des Aida-Berges, so laut, daß die Freunde sich die Ohren zuhalten mußten und dennoch fast taub wurden. Der Dämon, der die Macht von Eibryans Silberil-Klinge erkannte und nichts mit einer Elfenwaffe zu tun haben wollte – Dinoniel hatte eine solche Waffe getragen! –, entfesselte einen Strahl seiner reinsten Zauberkraft, eine grüne Linie zischender, schwirrender Energie, die direkt auf Avelyn zuschoß, auf seine ausgestreckte Hand.
Der Strahl blieb direkt vor dem Mönch stehen, ein wildes, funkensprühendes Wabern, das Avelyn an Ort und Stelle festhielt und so grell war, daß Eibryan seine Augen abschirmen mußte. Avelyn schrie auf, und der Geflügelte kreischte erneut und warf all seine Zauberkraft in den Strahl. Die grüne Linie verlängerte sich, umschloß Avelyns Hand und den Sonnenstein, der wild aufloderte. So kämpften sie für einen langen Moment miteinander, der Wille des Mönchs gegen die Höllenkraft des Geflügelten. Dann absorbierte der Sonnenstein die dämonische Energie, entzog der Hand des Geflügelten den Strahl. Aber Avelyns Miene der Freude, des Sieges, war nur kurzlebig, denn der Stein konnte die viele Energie nicht halten und entlud sie wieder, spie sie als grünen Rauch aus, und die schiere Wucht dieses Ausstoßes schleuderte Avelyn und Eibryan gegen Pony und Bradwarden zurück, und der ganze Gang war von Rauch erfüllt. Verletzt war keiner der vier, aber die kurzzeitige Verwirrung gab dem Geflügelten die Gelegenheit zur Flucht. »Ho, ho, hoppla!« brüllte Avelyn, als das Wesen halb laufend, halb fliegend den Gang hinunterschoß, und der röhrende Mönch war der erste, der die Verfolgung aufnahm. Sie hetzten an mehreren Seitengängen vorbei, um mehrere Kurven herum, und immer lief Avelyn mutig voraus und versuchte, auf Sichtweite hinter dem Dämon zu bleiben, kampfbereit für den Fall, daß der Geflügelte hinter der nächsten Ecke auf ihn wartete. Sie liefen ein paar Stufen hinauf, eilten einen langen, schmalen, abfallenden Gang hinab und erreichten schließlich einen geraden Gang, in dem auch der Dämon wieder in Sicht kam. Eibryan wäre gern an seinem Mönchsfreund vorbeigekommen, um die Führung übernehmen und die
Entfernung zu dem Unhold verringern zu können. Aber Avelyn bemerkte die Versuche des Hüters nicht einmal, geschweige denn, daß es ihm eingefallen wäre, den schnelleren Eibryan an sich vorbeizulassen. Der Mönch versuchte hektisch, erneut den Zauber des Sonnensteins heraufzubeschwören; dabei war es ihm fast einerlei, ob das noch möglich war. Er wollte dieses verdammte Scheusal nur zu packen kriegen – mit bloßen Händen, wenn es sein mußte! Weiter vorn verbreiterte sich der Gang und endete in einer Mauer, die nur von einem großen Torbogen durchbrochen wurde, und dort hinein floh der Geflügelte. Hinter diesem Portal war ein Saal gewaltigen Ausmaßes zu sehen, von Standbildern gesäumt und von glühender Lava erleuchtet. Dies mußte der Thronsaal sein, das Herz der dämonischen Macht. Diese Vorstellung spornte den wütenden Mönch nur noch weiter an. Den Kopf gesenkt wie ein wildgewordener Stier, so stürmte Avelyn los und ließ sein unverkennbares »Ho, ho, hoppla!« erschallen. Er stürmte durch das Tor, ohne auch nur an eine Falle zu denken, und Eibryan, der vorsichtshalber ein wenig verlangsamte, war auch nur zwei Laufschritte hinter ihm. Der Geflügelte auf seinem Obsidianthron erwartete sie schon. Als Avelyn den Saal erreichte, traf ihn der nächste Dämonenzauber mit voller Wucht: ein gewaltiger Windstoß, der ihn bremste und die beiden riesigen bronzenen Torflügel in Bewegung versetzte. Auch Eibryan bekam den Wind zu spüren und erblickte die Torflügel. Mit einem Aufschrei stemmte er sich dem Wind entgegen, das Elfenschwert nach vorn gereckt. Die Flügel schwangen zu. Sie streiften Avelyn und wirbelten ihn im Kreis herum, und dann schlugen sie zu, zerschmetterten die Knochen von Eibryans Unterarm, zerrissen ihm das
Fleisch. Das Elfenschwert fiel zu Boden; der Wind schob das Tor weiter zu und drohte dem Hüter den Arm abzutrennen. Bradwarden stieß Pony zur Seite und warf sich mit aller Kraft gegen die Torflügel, die sich trotz der enormen Größe und Stärke des Zentauren gerade einmal so weit öffneten, daß Eibryan, der schon nicht mehr bei vollem Bewußtsein war, seinen Arm hervorziehen und in den Gang zurücktaumeln konnte. Bradwarden fing ihn auf und trug ihn rasch ein Stück weg, und die Bronzetore schlugen zu, und Avelyn war mit Bestesbulzibar im Thronsaal allein. So glaubte der Mönch jedenfalls. Hinter ihm warf sich Bradwarden vergebens immer wieder gegen das Tor, da Bestesbulzibar seine Zauberkraft ganz darauf zu verwenden schien, es geschlossen zu halten. Dann jedoch wurde deutlich, daß der Dämon schon etwas Neues ausgeheckt hatte. Ein Knirschen erfüllte den Saal, und die massiven Standbilder begannen sich zu drehen. Bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen, hob Avelyn das Elfenschwert vom Boden auf, aber er verstand sich nicht aufs Fechten. Er spürte die Kraft des Edelsteins der Waffe, nahm aber an, daß dieser nur die Klinge stützen und stärken sollte und für nichts anderes verwendbar war. Die beiden vorderen Standbilder streckten ihre steinernen Arme aus, durchbrachen den unbelebten Stein, der ihre Füße gehalten hatte, und stapften auf den Mönch zu. Mit einem Aufschrei sprang Avelyn zur Seite und hielt schützend das Schwert empor, das sich gegen die Steinkrieger winzig ausnahm. Aber die beiden Kolosse hielten gar nicht auf ihn zu, sondern auf die bronzenen Torflügel. Avelyn hielt den Atem an; er sah die beiden schon das Tor aufreißen und sich auf seine Freunde stürzen. Das taten sie zu seiner Erleichterung nicht, aber sie lehnten sich schwer gegen die Flügel, was den Thronsaal wirksam gegen weitere
Eindringlinge abriegelte. Die Tatsache, daß ihm damit zwei Obsidianriesen weniger gegenüberstanden, vermochte den Mut des Mönchs nur unwesentlich zu stärken, denn damit waren es immer noch achtzehn Steinkrieger, die nun ihre Fesseln sprengten, und da der Dämon das Tor verbarrikadiert hatte, brauchte Avelyn auf Verstärkung nicht zu hoffen. Der Geflügelte sah von seinem Obsidianthron auf den Mönch hinab. »Vernichtet ihn«, befahl Bestesbulzibar, und alle achtzehn Steinmonster bewegten sich auf Avelyn zu. Avelyn beobachtete aufmerksam, wie sie sich näherten. Sie machten keinen besonders beweglichen Eindruck, so daß er ihnen zumindest eine Zeitlang einfach würde weglaufen können. Genau das wollte er auch tun und dabei alles, was er an Zauberkraft aufbringen konnte, gegen Bestesbulzibar richten, aber zu seiner Überraschung blieb der Dämon nicht, sondern sprang auf, lief zum Rand des Podests und sprang kopfüber in den Lavastrom, um nicht wieder aufzutauchen. Avelyn knurrte enttäuscht und spielte kurz mit dem Gedanken, dem Dämon mit Hilfe seines Serpentinschildes nachzusetzen. Aber er mußte feststellen, daß er dringlichere Probleme hatte, denn schon stürzten sich zwei der Steinkrieger auf ihn. Er überlegte kurz, die Obsidiankerle einfach mit dem Sonnenstein zu entzaubern, aber es stand zu befürchten, daß sich der Stein von den Anstrengungen im Gang noch nicht erholt hatte. Also reckte er statt dessen den Graphit empor und erzeugte einen ohrenbetäubenden Blitzschlag, einen knallenden Blitz, der sich aufspaltete und in beide Säulenkrieger zugleich fuhr und sie nicht nur einen Schritt zurückzwang, sondern auch mit einem Netz von Rissen überzog. Avelyn rannte zwischen die beiden und hatte wenig Schwierigkeiten, ihren unbeholfenen Fangversuchen auszuweichen. Im Vorbeigehen schlug er obendrein mit dem
Elfenschwert zu, und die Klinge riß ein ordentliches Stück aus der Wade eines Riesenbeins. Sein erfolgreicher Schlag vermochte Avelyn jedoch kaum zu trösten, als er begriff, daß er mindestens hundertmal würde zuschlagen müssen, um einen der Krieger zu zerstören, und wahrscheinlich allein zwanzigmal auf die gleiche Stelle, um ihn überhaupt zu Fall zu bringen! So geriet das Ganze zu einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Avelyn die Maus war. Hin und her ging es, durch den ganzen großen Saal. Der Mönch löste einen Feuerball aus, und als sich das als nutzlos erwies, hielt er sich an den Graphit, löste Blitzschlag um Blitzschlag aus, daß die Krieger zuckten und das schwarze Gestein zersprang. Nach ein paar Minuten waren von drei Kolossen erstaunlicherweise nur noch große Geröllhaufen übrig, aber Avelyn mußte einsehen, daß er nicht mehr lange so weitermachen konnte. Schon ging ihm die Puste aus, von seiner Zauberkraft ganz zu schweigen. Also versuchte er es anders und sprang die Stufen zum Podest hinauf. Ein simples, aber äußerst wirksames Ausweichmanöver, denn die Riesen bekamen ihre schweren Füße einfach nicht auf das Podest. Nun konzentrierte Avelyn seine Energie auf die beiden Riesen an den Torflügeln, damit seine Freunde wieder zu ihm stoßen konnten. Er wußte es nicht, aber seine Freunde waren längst fort.
Eibryan war kaum noch bei Bewußtsein. Pony stützte ihn und hielt seinen zerquetschten Arm vom Körper weg, versuchte ihn möglichst ruhig zu halten. Bei der kleinsten Bewegung durchliefen den Hüter Wogen des Schmerzes, und ihm drehte sich der Magen um. Verschwommen sah er, wie Bradwarden
sich immer wieder gegen die Torflügel warf, ohne sie auch nur ein Stück weit aufzubekommen. Wie hilflos sich der Hüter fühlte! Da hatte er einen solchen Weg hinter sich gebracht, nur um die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen. Vor der Nase! Eibryan nahm alles zusammen, was er an Kraft noch aufbringen konnte, und machte zwei unsichere Schritte auf Bradwarden zu, um ihm mit den Torflügeln zu helfen. »Verpaß ihnen einen von deinen Blitzen!« bat der Zentaur Pony. »Den Stein hab ich Avelyn gegeben«, erwiderte sie und zeigte, daß sie nur noch den leuchtenden Diamanten und den grüngestreiften Malachit in Händen hielt. Diese Neuigkeit schien der Entschlossenheit des Zentauren einen Dämpfer zu versetzen. »Dann heißt es jetzt Avelyn gegen den Dämon«, sagte Bradwarden, »genau wie der Mönch es geahnt hatte.« Eibryan verlor das Bewußtsein und ging zu Boden. Sofort waren die beiden bei ihm, und Pony stützte seinen Kopf. »Vielleicht gibst du sie ihm besser«, sagte Bradwarden und zeigte auf die rote Bandage. Für einen Moment hatte Pony das wirklich vor, doch als sie die Bandage ein Stück herunterzog, stellte sie fest, daß Bradwardens klaffende Wunde noch nicht annähernd geheilt war und sich ohne die Bandage sofort wieder öffnen würde. Eibryans Armverletzung verursachte scheußliche Schmerzen, war aber nicht lebensbedrohend, und Pony kannte ihren Geliebten gut genug, um zu wissen, daß es ihn zutiefst erzürnen würde, wenn sie das Leben des Zentauren aufs Spiel setzte, nur um ihn von seinen Schmerzen zu erlösen. Die Frau schüttelte den Kopf und sah wieder zu Eibryan. »Seitengänge«, murmelte der Hüter.
Pony drehte sich zu Bradwarden um, der einen hilflosen Blick zu den großen bronzenen Torflügeln warf. »Was bleibt uns übrig«, stimmte er zu, und so kehrten die drei in das Tunnelsystem zurück, um nach einem Seitengang Ausschau zu halten, der durch irgendeine andere Tür in den Thronsaal führte. Bradwarden ging vor, während Pony Eibryan stützte. Wenig später bestätigten sich ihre Hoffnungen, als sie hören konnten, wie jemand – Avelyn – den Dämon verfluchte und dann schmerzerfüllt aufschrie. Sie hetzten weiter, so schnell sie konnten. Eibryan flößte die Erkenntnis, daß sein Freund in Schwierigkeiten war, so viel neue Kraft ein, daß er sich von Pony losmachte und allein weiterlief, unsicher und oftmals stolpernd zwar, aber da er seinen Bogen als Krücke benutzte, kam er recht schnell voran. Sie nahmen den nächsten Seitengang, ein enges, gewundenes Wurmloch, und als Avelyns Stimme lauter wurde, spornte sie das nur noch mehr an. Hinter einer Kurve mußten sie einsehen, wie töricht sie gewesen waren, denn vor ihnen war kein Thronsaal zu sehen und kein Avelyn, sondern nur der Geflügelte. Hoch aufgerichtet stand er in dem breiter werdenden Gang und grinste sie höhnisch an. »Willkommen«, sagte die Bestie mit einer Stimme, die wie Avelyns klang. Pony schaute hilflos auf ihren Diamanten und fragte sich, ob sie ihn wohl so hell aufleuchten lassen konnte, daß dieses Geschöpf der Finsternis es nicht ertrug. Bradwardens Vorgehen jedoch war geradliniger; der Zentaur griff an, aus vollem Halse singend. Eibryan folgte ihm, so gut er konnte. Der Dämon lachte nur. Er hob die Arme und schickte ihnen seinen teuflischen Strahl entgegen. Pony schrie auf, den sicheren Tod vor Augen.
Aber Bestesbulzibar hatte den Strahl nicht auf die drei Freunde ausgerichtet, sondern auf den Boden unter ihren Füßen. Die mörderische Energie zerblies den Fels zu Krümeln, und der Boden des Gangs brach unter ihnen weg. Lachend wandte sich der Dämon ab, zufrieden mit seinem Werk. Und das schien auch berechtigt, denn die Felsen und die drei Freunde stürzten in eine Tropfsteinhöhle hinab – mindestens einhundert, zweihundert Fuß tief –, deren Boden mit spitzen Stalagmiten übersät war.
Er kam durch das Loch im Boden neben dem Podest emporgeschossen, daß die roten Lavaklumpen nur so flogen, dann stieß der Dämon herab und landete schwer auf seinen muskulösen Beinen. Der Mönch ließ sich nicht ablenken, obwohl dieser Geflügelte, diese Finsternis, die über die Welt gekommen war, nur ein paar Schritte von ihm entfernt stand. Avelyn knurrte und ließ sich tiefer in den Stein fallen, klaubte alle Kraft zusammen, die der Graphit hergab, und schleuderte sie mit drei raschen Würfen den beiden Steinriesen beim Tor entgegen. Sie wurden zu Staub zerblasen. Der Weg war frei für Avelyns Freunde, nur daß Avelyns Freunde nirgendwo in der Nähe des Tores waren. »Gut gemacht!« Bestesbulzibar klatschte in die menschenähnlichen Hände. »Aber wozu eigentlich?« »Nachtvogel!« rief Avelyn. Der Mönch wäre am liebsten zum Tor geeilt, aber darauf schienen die Steinkrieger, die das Podest umringten, nur zu warten. Avelyn rief erneut, aber das Gelächter des Dämons ließ ihn verstummen. »Sie können dich nicht hören, du Narr«, erklärte Bestesbulzibar. »Sie sind längst tot!«
Diese Worte rissen Avelyn schier den Boden unter den Füßen weg, lähmten seinen Verstand und zerrissen ihm das Herz. Er wollte es leugnen, wollte es abstreiten – aber warum sollte Bestesbulzibar ihn belügen, warum sollte dieser schreckliche, mächtige Dämon es nötig haben, ihn zu belügen! Damit stand also nur noch Avelyn gegen den Widersacher, hier der Mönch, dort der Teufel, keine fünf Schritt voneinander entfernt. Plötzlich war Avelyns Schmerz, war Avelyns Furcht wie weggewischt. Er war hierher nach Aida gekommen, in eben diesen Thronsaal, um Bestesbulzibar zu bekämpfen, um der teuflischen Macht des Dämons seinen Glauben entgegenzusetzen. Und nun war er hier, im bestmöglichen Szenario, das er vernünftigerweise hatte erhoffen können. Wenn er jetzt siegte, dann waren all seine Freunde nicht umsonst gestorben. Dieser Gedanke ernüchterte den Mönch und beruhigte seine Nerven. Im Geiste ging er sein Repertoire durch und überlegte, welcher Steinzauber sich gegen den Teufel als am effektivsten erweisen würde; dann fing er mit dem an, was er zur Hand hatte, seinem Graphit. »Verfluchte Bestie!« donnerte Avelyn, und seine Stimme hallte von sämtlichen Wänden wider. »Ich leugne deine Macht!« Er ließ seinen Arm nach vorn schnellen und löste einen ohrenbetäubenden blauen Blitzschlag aus, der Bestesbulzibar mit einem scharfen Knall mitten in die Brust fuhr und ihn ein paar Schritte zurückzwang. »Du bist stark, Avelyn Desbris«, grollte der Widersacher, durch den noch immer die Energie aus Avelyns Graphitstein fuhr, und zitterte am ganzen Leib. Er hob die schwarzen Schwingen, streckte eine klauenbewehrte Hand nach hinten zur fließenden Lava aus und sog ihre Energie in sich auf.
Dann riß er seine Hände an die Brust, genau dorthin, wo Avelyns Blitzstrahl hineinfuhr, und aus seinen Klauen schoß knisternd rotes Licht hervor, brandete rot gegen Avelyns blauen Strahl, in einem einzigen gleißenden Funkensprühen. Avelyn gab ein tiefes Knurren von sich und rief Gott um größere Kraft an, um sie durch sich hindurchfließen zu lassen. Nie hatte es auf Korona ein reineres Gefäß göttlicher Macht gegeben, und dieser Kraftstrom brachte Bestesbulzibar ins Wanken und warf ihn beinahe zu Boden. Beinahe – denn Bestesbulzibar war kein Gefäß, er war eine Quelle, und so verbissen sich die roten Blitze förmlich in Avelyns Lichtstrahl und drängten ihn zurück. Das rote Gleißen wuchs und wuchs und hatte es bald bis zur Hälfte an den Mönch herangeschafft. Avelyn schloß die Augen und knurrte lauter, warf jedes Quentchen seiner Seele in den Kraftstrom, und da wuchs der blaue Strahl wieder und fuhr auf den Dämon zu. Dann jedoch verstärkte sich der rote Strahl und schob den blauen zurück, schob den knisternden Reibungspunkt unweigerlich auf Avelyn zu. Der Mönch riß die Augen auf und kämpfte und kämpfte, aber er mußte einsehen, daß es nicht reichen würde. Langsam kam das dämonische rote Licht herangekrochen.
Sie hätte nicht dazu in der Lage sein dürfen; weder Avelyns Unterweisungen noch ihre eigenen Erfahrungen mit den Steinen hätten es Pony ermöglichen dürfen, solche Kräfte zu entfesseln. Aber das reine Entsetzen, der reine Instinkt und eine Selbstlosigkeit, die an Tollkühnheit grenzte, ermöglichten es ihr dennoch. Pony ergriff den Malachit und richtete ihn nach vorn, und irgendwie umfaßte sie mit seinem Zauber nicht nur Eibryan,
der in Reichweite war, sondern auch den viel schneller fallenden Bradwarden, und alle drei sanken sie plötzlich langsamer hinab, wie Federn, während die Überreste des Fußbodens unter ihnen wegfielen; als sie schließlich sachte auf der unteren Ebene landeten, kostete es wenig Mühe, spitzen Stalagmiten auszuweichen. »Ich weiß zwar nicht, wie du das hingekriegt hast, Mädchen«, gratulierte ihr ein äußerst mitgenommener Bradwarden, »aber ich bin heilfroh, daß du es hingekriegt hast!« Doch so groß ihre Freude auch war, so sehr der Zentaur Pony auch dankte, die drei waren in einer prekären Lage. Pony wußte, daß sie sich noch einmal in den Malachit fallen lassen und beinahe gewichtslos machen konnte, aber die Aussicht, ihre Freunde wieder bis nach oben zu bekommen, war mehr als gering. »Ein Weg ist so gut wie der andere«, verkündete der Zentaur prompt und zeigte zu einem Tunnel hinüber, der aus der Tropfsteinhöhle hinaus in ein tiefergelegenes Tunnelsystem führte. Also gingen sie weiter. Pony kümmerte sich nicht nur um das Diamantlicht, sondern auch um den armen Eibryan, und Bradwarden übernahm die Führung, seinen Prügel in der Hand. Zu ihrer Enttäuschung erwies sich dieses Tunnelsystem als ein ebensolches Labyrinth wie die höheren Ebenen, und die meisten Gänge schienen weiter hinab statt hinauf zu führen. »Ein Weg ist so gut wie der andere«, sagte Bradwarden immer wieder, aber seine Freunde wurden den Eindruck nicht los, daß er damit eher sich selbst überzeugen wollte.
Avelyn schaffte es nicht. Das rote Licht des Dämons traf ihn mit der Wucht einer Riesenfaust und schleuderte ihn bis an den
äußersten Rand des Podests. Fast sofort war einer der Steinkolosse zur Stelle und beugte sich hinab, um Avelyn wie eine Fliege zu zerquetschen. Avelyn schrie auf. Nun war es aus mit ihm. Er hatte versagt, das ganze Unternehmen war umsonst gewesen. Dann jedoch zog der Steinkoloß knirschend seinen Arm zurück, legte ihn vor die gewaltige Brust und setzte die Füße genau nebeneinander. Binnen weniger Sekunden war er wieder ein Standbild, ein schiefes allerdings, das langsam umfiel. Avelyn rollte sich beiseite; der unbelebte Stein stürzte zu Boden. »Er gehört mir!« fuhr der Widersacher den impertinenten Säulenkrieger gellend an, die Kriegersäule, die ihn beinahe seiner edelsten Jagdbeute beraubt hätte. Da machten die anderen Säulenkrieger, daß sie wegkamen. Aber sie bezogen beim Tor Stellung, was Avelyns Fluchtgedanken ein jähes Ende setzte. Entschlossen kämpfte sich der Mönch auf die Knie, die Füße, bis er wieder aufrecht vor dem Monstrum stand. Der Geflügelte kniff die Augen zusammen, in denen Respekt stand, aber keinerlei Furcht vor dem Mönch, und kam langsam näher. Vielleicht ging es ja gar nicht um ein magisches Kräftemessen, schoß es dem Mönch durch den Kopf. Immerhin hielt er Eibryans Schwert in der Hand, diese mächtigste aller Waffen. Vielleicht ging es ja um Körperkraft, sein Leib gegen den des Geflügelten. In einer einzigen, fließenden Bewegung ließ Avelyn das Elfenschwert durch die Luft schwirren und schoß auf seinen Feind zu. Der Schlag ging daneben. Leichtfüßig wich der Geflügelte der Klinge aus und konterte mit einem Schlag seiner ledrigen Schwinge gegen Avelyns Schulter, der den Mönch bis ans andere Ende des Podests fliegen ließ.
»Du bist kein Schwertkämpfer«, sagte der Widersacher, und das konnte Avelyn schwerlich bestreiten. Dennoch kämpfte sich der Mönch auf die Füße, und diesmal näherte er sich dem Monstrum vorsichtiger, mit sorgfältig bemessenen, kurzen Schwertstößen. Bestesbulzibar begann Avelyn langsam zu umrunden. Avelyn riß seine freie Hand empor und schleuderte dem Dämon eine Handvoll Zölestinkristalle ins Gesicht. Noch während sie explodierten, griff er an. Aber Bestesbulzibar hatte sich in Luft aufgelöst, wie der Mönch verdattert feststellen mußte. Dann ging ihm ein Licht auf, und er fuhr herum. Der Dämon stand unmittelbar hinter ihm und verpaßte ihm erneut einen Schlag mit der Schwinge. Avelyn ging zu Boden, bevor er mit dem Schwert etwas ausrichten konnte. Wieder kämpfte er sich auf die Füße, und diesmal versuchte er, vom Podest herunterzukommen. Er konnte sich nur noch hinkend fortbewegen. Bestesbulzibar ging mit einem meckernden Lachen um ihn herum und schnitt ihm den einzigen Fluchtweg ab. Im Rücken eine Felswand, neben sich die Lavaströme, vor sich Bestesbulzibar, so stand Avelyn da und wußte nicht mehr, was er tun sollte. Er machte einen Schritt nach vorn und fuchtelte mit dem Schwert herum. Einen Angriff konnte man das beim besten Willen nicht mehr nennen; der Mönch wollte nur Zeit gewinnen und sich den Widersacher vom Leib halten. Aber die Geduld des Dämons war erschöpft, und Bestesbulzibar schoß plötzlich vor wie der Wind. Nur Sturmwind war noch schneller, und der Ausfall war auf das Herz des Dämons gerichtet. Aber Avelyn war, trotz seiner Lehrjahre im Klosterhof von St. Mere-Abelle, kein Terranen Dinoniel, und der Geflügelte fegte die ungeschickte Attacke
mit dem Unterarm zur Seite, was ihn nur unwesentlich verletzte. Avelyn, jederzeit zur Improvisation bereit, versuchte es mit einem Fausthieb gegen die Brust des mächtigen Wesens. Bevor er sich noch recht daran erfreuen konnte, wurde er an der Kehle gepackt und von den Füßen gerissen. Avelyn wollte mit dem Schwert zuschlagen, aber der Geflügelte wußte um die Macht der Elfenklinge und hinderte den Mönch daran. »Narr«, donnerte Bestesbulzibar und drückte fester zu – und Avelyn fürchtete schon, daß ihm der Kopf einfach absprang wie ein Korken. »Hast du ernsthaft geglaubt, mich auch nur verletzen zu können? Mich, Bestesbulzibar, der ich seit Jahrhunderten lebe, seit einem Jahrtausend gar? Ich vernichte täglich Leben, das zehnmal mehr wiegt als das deine!« »Ich leugne dich!« japste Avelyn. »Du leugnest mich?« höhnte Bestesbulzibar. »Sag mir, daß ich schön bin!« Fassungslos starrte Avelyn dem Dämon ins eckige Gesicht, in die Feueraugen, auf die weißen, spitzen Reißzähne. In gewisser Weise, stellte er erschüttert fest, hatte Bestesbulzibar tatsächlich etwas zutiefst Schönes an sich. Dieser Schimmer seiner Haut, diese kraftvollen Züge… Der Mönch verspürte einen überwältigenden Drang zu tun, was der Dämon befohlen hatte, und Bestesbulzibars Schönheit einzugestehen. Doch Avelyn durchschaute die Lüge, durchschaute die Versuchung. Er faßte Bestesbulzibar fest ins Auge. »Ich leugne dich«, sagte er ruhig. Der Geflügelte schleuderte ihn quer über das Podest gegen die dahinterliegende Wand. Avelyn sackte zusammen. Vor seinen Augen verschwamm alles, und sein Hinterkopf fühlte sich an, als versenke jemand glühende Nadeln darin. Er versuchte aufzustehen, sackte aber
gleich wieder zusammen, und die Ränder seines Blickfelds begannen sich zu verdunkeln. Der Mönch versuchte, an seinen Sonnenstein heranzukommen, um einfach jeden Zauber hier auszumerzen, wie er es zuvor im Gang getan hatte. Aber wozu sollte das gut sein, schoß es ihm gellend durch das getrübte Bewußtsein. Um ihn zu vernichten, brauchte Bestesbulzibar keine Magie mehr. Der Geflügelte schritt näher; hoch ragte er über ihm empor. Avelyn verlor das Bewußtsein; seine Gedanken flohen zu den glorreichen Tagen seines Lebens zurück, zurück nach Pimaninicuit, wo er sich seinem Gott so nahe gefühlt hatte wie nie. Wieder sah er die Insel daliegen und die ersten Juwelen vom Himmel herabregnen, sah Bruder Thagraine, den armen Thagraine, wie er verzweifelt versuchte, zu ihm in die schützende Höhle zu gelangen. Und dann tot umfiel, ein klaffendes Loch im Schädel. Avelyn war zu ihm geeilt, voller Entsetzen zuerst, dann zutiefst erstaunt… Avelyn griff in seinen zweiten Beutel und holte den riesigen Amethyst hervor, und der geheimnisvolle Stein summte vor Zauberkraft. Der Anblick dieses glühenden, bis zum Bersten mit Energie gefüllten Steins ließ den Geflügelten zögern. »Was hast du da?« donnerte er. Diese Antwort mußte Avelyn ihm schuldig bleiben, er wußte es ja selber nicht. Knurrend, sämtliche Schmerzen auf einmal wie weggefegt, kam er auf die Beine und schob sich mit dem Rücken die Wand empor, bis er seinem Gegner aus der Hölle wieder gegenüberstand. Der Geflügelte knurrte und griff an. Instinkten folgend, von denen er nur hoffen konnte, daß sie gottgesandt waren, schleuderte Avelyn den Stein in die Luft empor, und dann hielten sie beide inne, der Geflügelte und der
Mönch, denn zu ihrer Überraschung blieb der schwere Kristall einfach in der Luft hängen. Wieder tat Avelyn etwas, für das es keinen vernünftigen Grund gab; er nahm das Elfenschwert in beide Hände und schlug damit kräftig zu, gerade als Bestesbulzibar nach dem verlockenden Stein griff. Das mächtige Schwert fuhr mitten durch den Kristall hindurch, der in tausend Stücke zersprang, ja förmlich zu Staub zerfiel. Verblüfft starrte der Dämon erst die Staubwolke und dann Avelyn an, als wolle er ihn fragen, was er getan hatte, und wieder mußte Avelyn ihm die Antwort schuldig bleiben. Aus dem Innern der Staubwolke erklang ein tiefes Brummen. Dann breitete sich, wie eine Welle um einen ins Wasser geworfenen Stein, ein purpurfarbener Ring aus, rollte durch Avelyn und den Geflügelten hindurch, rollte bis zu den Außenrändern der Halle, wo das Gestein ihn wieder zurückwarf und er sich wieder und wieder mit sich selbst überschnitt. Ein Summen, ein Grollen fast, und dann kam Ring um Ring hervor. »Was hast du getan?« verlangte Bestesbulzibar zu wissen. Avelyn, in dessen Kopf es wieder zu pochen begonnen hatte, ballte verzweifelt die Faust um den Sonnenstein, wenngleich ihm das Ding nun, verglichen mit dieser Kraftquelle, wie ein Kinderspielzeug vorkam. Das bedrohliche Grollen verzehnfachte, ja verhundertfachte sich; schon konnte Avelyn nicht einmal mehr die gellenden Schreie des Geflügelten hören. Staunend sah das Wesen mit an, wie seine Säulenkrieger zu Staub zerfielen, als habe der Obsidian den Vibrationen nicht länger standhalten können. Bestesbulzibar drehte sich zu Avelyn um, Mordlust in den Flammenaugen.
Das Podest bebte; der Boden öffnete sich und spuckte eine Dampfwolke aus. »Du Narr!« kreischte der Geflügelte entgeistert. »Was hast du getan!« »Nicht ich«, sagte Avelyn, obwohl er wußte, daß der Dämon ihn unmöglich hören konnte. »Nicht ich.« Denn der Mönch hatte begriffen, hatte erkannt, was ihm bestimmt war, und er sah seiner Bestimmung willig entgegen. Er hängte den Beutel mit den Himmelsjuwelen über die Klinge des Elfenschwerts und behielt nur den Sonnenstein für sich. Dabei fiel sein Blick auf den Stein im Knauf des Griffes, und er erkannte diesen zum ersten Mal als eine Art Sonnenstein, ein zugängliches Juwel. Aber für ihn war es nun zu spät, und so ergriff er das Schwert in der Mitte der Klinge und reckte es hoch über seinem Kopf empor. Die linke Wand des Thronsaals stürzte ein; die beiden Lavaströme wurden stärker und ergossen geschmolzenen Stein in den Raum. Der Geflügelte kreischte auf und schleuderte Avelyn einen schwarzen Blitz entgegen, aber der Mönch war bereits gänzlich von dem Sonnensteinschild umgeben, und der Blitz fiel in sich zusammen, bevor er auch nur in seine Nähe gekommen war. Bestesbulzibar schwang sich in die Luft empor und hielt im ganzen Saal nach einen Fluchtweg Ausschau. Als er nirgendwo einen fand, stürzte er sich auf Avelyn hinab, um ihn in Stücke zu reißen. Da jedoch geriet der Dämon ins Trudeln. Mitten im Flug hatte ihn das widerhallende, ohrenbetäubende Brüllen seiner Konzentration und seiner Kraft beraubt. Bestesbulzibar krachte auf das Podest hinunter, und dann wandte er sich von dem Mönch ab – der stolz, strahlend, betend dastand – und krabbelte auf einen der Lavaströme zu.
Hunderte von Purpurringen liefen in der Mitte des Saals zusammen. Und dann explodierte der ganze Aida-Berg auf einmal.
Weit unten ließ die Wucht die drei Freunde durch den Tunnel fliegen, selbst Bradwarden, den so leicht nichts umwarf. Eibryan krachte mit dem bereits gebrochenen Arm hart gegen die Wand des schmalen Gangs. Schmerzwellen schlugen über ihm zusammen, und so sehr er sich auch zusammenzureißen versuchte, ihm wurde schwarz vor Augen. Auch Pony war benommen, aber nicht so sehr, daß ihr der Diamant entglitten und das kostbare Licht erloschen wäre, obwohl es in dem plötzlich aufwallenden Staub kaum noch von Nutzen war. Sie kämpfte sich auf die Beine, während das Rumpeln nicht aufhören wollte, während um sie herum alles bebte und schlingerte. Irgendwie schaffte sie es, zu Eibryan zu gelangen. Wie passend, daß sie nun jeder in den Armen des anderen den Tod fanden! Dann jedoch, nach einem Zeitraum, der ihr wie eine Stunde vorkam, aber kaum mehr als ein paar Minuten umfaßt hatte, ließ das Rumpeln nach, und die Decke hing noch immer über ihren Köpfen. Ponys Erleichterung hielt nur so lange an, bis sie Bradwarden erblickte; den Zentauren hatte es bei weitem am schlimmsten erwischt. Gegen die rechte Tunnelwand gepreßt stand er da, den Menschenrücken weit nach hinten durchgebogen, und hielt mit weitgespreizten Armen, deren Muskeln sich wölbten, den größten Felsbrocken zurück, den man sich nur vorstellen konnte, den Berg selbst! Sachte löste sich Pony von Eibryan, dann lief sie zu dem Zentauren und rief seinen Namen. Dabei zog sie den Malachit
hervor, um den Fels gewichtslos zu machen, damit der Zentaur darunter hervorkommen konnte. Sie schaffte es nicht einmal ansatzweise; selbst Avelyn hätte das nicht vermocht, nicht einmal mit einem zehnmal so großen Malachit. Zu Ponys Überraschung kam Eibryan herbeigestolpert, Falkenschwinge in der Hand. Unter großen Mühen klemmte der übel zugerichtete Mann den Stock zwischen Fels und Boden, um dem Zentauren das Gewicht etwas zu erleichtern. »Ach, Junge, das wird nicht viel nützen«, ächzte der Zentaur. »Der hat mich schon, der läßt mich nicht mehr gehen.« Eibryan taumelte gegen die Wand zurück, benommen, besiegt, mit seiner Weisheit am Ende. »Bradwarden«, flüsterte Pony hilflos. »Ach, Bradwarden. Der ganze Berg wäre über uns zusammengebrochen ohne deine starken Arme.« »Und zusammenbrechen wird er auch noch, der Berg«, erwiderte der Zentaur. »Drum lauft! Ins Licht hinaus mit euch, ins Leben!« Pony sah ihn entsetzt an. »Lauft schon!« brüllte der Zentaur, und diese Anstrengung kostete ihn einen Fingerbreit. Aber noch hielt er den Felsen oben. »Lauft«, sagte er erneut, leiser diesmal. »Diesen verfluchten Berg kann keiner versetzen! Laßt mich nicht umsonst gestorben sein, meine Freunde. Ich bitte euch, lauft!« Pony wußte nicht, was sie tun sollte, und sah Eibryan an, der aber sackte erneut in sich zusammen. Sie starrte den Zentauren an. Grausamer ging es ja wohl nicht. Wie sollte sie diesen großartigen Freund im Stich lassen können? Das konnte er doch nicht ernsthaft von ihr erwarten! Und doch stand ihm seine Ernsthaftigkeit deutlich ins Gesicht geschrieben. Pony stellte sich vor, an seiner Stelle zu sein, und wußte, was sie von ihren Freunden erwartet hätte.
Sie trat dicht neben ihn, beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Mein Freund«, sagte sie. »Immer«, erwiderte der Zentaur; dann verhärteten sich seine Züge und seine Stimme. »Jetzt lauft. Das seid ihr mir schuldig!« Pony nickte. Dies war das Schwerste, was sie je hatte tun müssen, und doch zögerte sie nicht. Sie zog Eibryan auf die Füße, hängte sich seinen Arm über die Schulter und lief los, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Sie hatten den Gang kaum hinter sich gebracht, da hörten sie, wie der Fels sich erneut verschob und der eingeklemmte Zentaur resigniert ächzte.
Stundenlang wanderte Pony in der Dunkelheit umher, und nur das allmählich schwächer werdende Licht des Diamanten leitete sie. Es fiel auf Gänge, die von zähfließender Lava blockiert waren; andere endeten schlicht vor einer massiven Wand oder einer tiefen Kluft, die sie nicht überqueren konnte. Eibryan gab sich große Mühe, mit ihr Schritt zu halten und keine allzu große Last zu sein, aber dafür stand er einfach auf zu wackligen Beinen, waren die Schmerzen einfach zu groß. Mehrmals flüsterte er, sie solle ihn zurücklassen, aber das kam natürlich nicht in Frage. Aber ihr kam eine andere Idee, und so zog sie den Malachit hervor und ließ einiges von dessen Levitationskraft in Eibryans Leib fließen, was ihr Vorankommen enorm erleichterte. Und dann, als die Hoffnung schon leerer Verzweiflung gewichen war, als von ihren magischen Energien nur noch Spuren vorhanden waren, spürte die Frau einen Luftzug, und er war nicht heiß und schweflig, sondern kühl und sanft. Pony konzentrierte sich. Der Diamant war so gut wie erloschen, sein Glimmen zeigte ihr in der dicken Luft nichts
mehr. Der Malachit war völlig erschöpft, längst stützte sich Eibryan wieder schwer auf sie. Sie stolperte weiter, immer dem Luftstrom, der sanften Brise entgegen. Sie stolperte und stürzte, krabbelte auf allen vieren weiter, Eibryan mit sich schleifend. Erst als sie sich über alle Maßen erschöpft auf den Rücken drehte, begriff sie, daß sie nicht mehr unter der Erde waren, sondern unter einem von Rauchwolken verdunkelten Himmel. Kurz bevor Pony in den Schlaf hinüberdämmerte, riß die Wolkendecke auf, und ein Stern trat hervor, dann ein zweiter, ein dritter. »Avelyn, Bradwarden und Tuntun«, flüsterte die Frau noch, dann umfing sie gnädig der Schlaf.
Epilog
Es war Eibryan, der zuerst erwachte, nicht Pony. Der Himmel war noch immer nachtschwarz und von Rauchschwaden verhangen. Der Hüter zerbrach sich den Kopf, was geschehen war, dann fiel es ihm ein, und er saß mit gesenktem Kopf da und kämpfte gegen seine Verzweiflung an. Am schlimmsten war es, daß er gar nichts über das Schicksal Avelyns wußte, wenngleich er ihn für tot hielt. Und der Geflügelte, was war mit ihm? Hatte der Berg ihn verschlungen, oder war er vor der Explosion einfach davongeflogen? Bei diesem beunruhigenden Gedanken hob Eibryan die Augen zum Himmel empor, als erwartete er, daß sich der Dämon genau in diesem Augenblick auf ihn herabstürzte. Was er statt dessen sah, war ein weißes Glühen. Weiter oben in den Überresten des Berges, oben auf dem Kegelstumpf, leuchtete etwas. Wenig später erwachte Pony. Es dämmerte bereits, aber das Glühen dort oben war noch schwach sichtbar. Ohne ein Wort zu sagen, sammelten die beiden ihre Sachen zusammen und stiegen erneut die Bergpfade hinauf, und sie mußten einander bei jedem Schritt stützen. Erst als es einigermaßen hell geworden war, wurde ersichtlich, welch gewaltige Verwüstung über den Berg und das darunterliegende Tal gekommen war. Dort unten mußte alles tot sein. Nichts und niemand konnte überlebt haben. Sämtliche Bäume lagen entwurzelt und blattlos da, die meisten Äste weggerissen. Überall kahle Stämme, wie Holzscheite übereinander geworfen und mit grauer Asche bedeckt. Nichts regte sich in diesem grauen Meer. Nicht ein
Vogel zeigte sich am Himmel, nicht ein Geräusch unterbrach die unheimliche Stille dieses wüsten Morgens. Weder Eibryan noch Pony fanden Worte, um sich Luft zu machen. Sie gingen weiter, mühten sich um zerschmetterte Felsen herum und durch warme, hüfthohe Ascheverwehungen hindurch, auf der Suche nach einer Antwort. Sie traten über den Rand des Stumpfes, der von Aida übrig war, und erblickten eine gewaltige, graue Ebene, die völlig leer war – bis auf dieses winzige weiße Licht. Dorthin gingen sie, trotteten durch die schwere Asche. Bis sie dicht heran waren, auf ein Dutzend Schritte, konnten sie die Lichtquelle nicht erkennen, und dann blieben sie zögernd stehen. Ein Arm ragte aus der Asche empor, Avelyns Arm, reckte Sturmwind empor, das Elfenschwert. Seine Hand umfaßte die Mitte der Klinge, an der ein Beutel befestigt war. Eibryan schoß vor, um seinen Freund aus der Erde zu befreien, der sicher noch lebte, der sich mit irgendeinem magischen Schild selbst vor diesen zerstörerischen Gewalten noch hatte schützen können. Als er dort angelangt war, begriff er seine Narretei, begriff, daß der Boden um Avelyns Arm fest und nur von einer dünnen Ascheschicht bedeckt war und der Mönch tot sein mußte. Arm und Hand waren verwittert, ausgedörrt, als habe die gewaltige Hitze der Explosion seinem Leib sämtliche Flüssigkeit entzogen. »Der Geflügelte ist vernichtet«, sagte Pony entschieden, als sie neben Eibryan trat. »Avelyn hat es geschafft.« Eibryan sah sie an. »Anderenfalls hätte der Dämon gestohlen, was Avelyn uns vermachen wollte«, erklärte sie, und dann beugte sie sich vor und machte das Schwert und den Beutel von der ausgedörrten Hand los. Das Glühen erstarb sofort, aber der ausgestreckte Arm blieb.
Pony händigte dem Hüter das Schwert aus und war nicht sonderlich überrascht, als sie den Beutel öffnete und sämtliche von Avelyns Steinen darin fand, nur den Amethyst und den Sonnenstein nicht. »Dies ist eine Botschaft«, sagte sie überzeugt. »Damit wollte er uns wissen lassen, daß der Geflügelte besiegt ist.« »Eine Botschaft und eine Verantwortung«, erwiderte Eibryan und sah zu dem Beutel mit den Juwelen. »Der Mönch hat uns gerettet, uns alle, aber das möchte er vergolten haben.« Die Frau nickte und sah ebenfalls auf den kostbaren Beutel hinab, auf Avelyns Vermächtnis und ihre Verantwortung. »Vielleicht ist schon der nächste Bruder Richter unterwegs«, sagte sie. Eibryan reckte Sturmwind empor, mit seinem gesunden Arm. »Dann sollte ich meinen Arm in Ordnung bringen«, erwiderte er. »Oder linkshändig zu fechten lernen.« So ließen die beiden Avelyns selbstgewähltes Grab hinter sich, Tuntuns letzten Atemzug und Bradwardens Gruft. Unter großen Mühen durchquerten sie die Aschewüste des Tals, und daß sie vor Erschöpfung oft haltmachen mußten, verschlimmerte ihre Lage nur, denn sie hatten weder Wasser noch Nahrung. Schließlich waren sie wieder in den Grenzbergen Barbakans, und sie hatten die Hochpässe kaum hinter sich, da stießen sie wieder auf Leben und Wasser. Sie machten mehr als einen Tag Rast, und als Pony wieder bei Kräften war, benutzte sie den Hämatit, um Eibryans Schmerzen zu erleichtern und die Knochen seines Unterarms zusammenzufügen. So kam es, daß die beiden wieder weitaus kräftiger waren, als es die Südausläufer Barbakans hinabging. Sie hatten die Ebene schon fast erreicht, wachsam wegen Goblins oder anderer herumschleichender Ungeheuer, als sie auf einen weiteren Freund stießen.
Eibryan spürte Symphonys Kommen lange, bevor der große Hengst in Sicht kam. Der Hüter hatte keine Ahnung, wie das Tier hierhergekommen war, aber dann fiel ihm eine gewisse Elfe ein, eine störrische und schelmische Elfe, die nie gelernt hatte, sich einem Befehl zu beugen. »Tuntun«, hatte auch Pony des Rätsels Lösung parat. Eibryan rang sich ein Lächeln ab. Er ließ Sturmwind in die Scheide gleiten, hängte sich Falkenschwinge über den Rücken, stieg auf und hielt Pony die Hand hin. An diesem Tag ritten sie gemächlich dahin, vorsichtig, und hielten immer wieder nach Feinden Ausschau. Die Nacht verbrachten sie auf einer Hochebene, was ihnen in diesen Landen am sichersten schien. Es zeigten sich weder Monster noch sonst eine Bedrohung, aber die Hochebene erwies sich dennoch als gute Wahl, denn am Südhimmel schimmerte der heilige Halo am Horizont, und es schien ihnen, als breite Gott seine schützenden Arme über die Welt. Kaum dämmerte es, da flogen Pony und Eibryan schon über die wilden Wege gen Süden dahin, zwei müde, traurige Sieger und die neuen Beschützer der Himmelsjuwelen.