Stuart Pigott
Weinwunder Deutschland
W e i nw u n d e r D e u t sch l a n d vo n St ua rt p ig ot t Herausgeber
Ralf...
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Stuart Pigott
Weinwunder Deutschland
W e i nw u n d e r D e u t sch l a n d vo n St ua rt p ig ot t Herausgeber
Ralf Frenzel © 2010 – Tre Torri Verlag GmbH, Wiesbaden www.tretorri.de © 2010 – Bayerischer Rundfunk (BR), Lizenz durch TELEPOOL Idee, Konzeption und Umsetzung: CPA ! Communications- und Projektagentur GmbH, Wiesbaden Die CPA ! ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik und fördert Slow Food Deutschland e.V. www.cpagmbh.de
Autor der Kapitel 13, 14, 15: Manfred Lüer, Rheingau Fotografie: Andreas Durst, Bockenheim an der Weinstraße Fotos Titel und Seite 6: Florian Bolk, Berlin Fotos aus Fine Das Weinmagazin: Guido Bittner, Johannes Grau, Alex Habermehl und Christof Herdt Fotos Kapitel 13 : Stockfood GmbH, München Fotos Seite 67 : Weingut Dr. Bürklin-Wolf, Wachenheim a. d. W. Fotos Seite 172 : Weingut Robert Weil, Kiedrich Gestaltung: Gaby Bittner, Wiesbaden Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. A. Printed in Germany ISBN 978-3-941641-37-2
H a f t u ng s auss ch luss Die Inhalte dieses Buchs wurden von Herausgeber und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Herausgebers bzw. des Verlags für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Stuart Pigott
Weinwunder Deutschland
Inh alt
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inhalt Kapitel 1 Riesling Renaissance: Deutschland und die Welt
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Kapitel 2 Mein Jahr als Jungwinzer
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Kapitel 3 Rotwein Revolution: deutsch rot und richtig toll
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Kapitel 4 Der Ökowahnsinn: Ökowein ist modern und cool
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Kapitel 5 Big is Beautiful: viel und gut
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Kapitel 6 SüSSwein: richtig gut und richtig kitschig 93 Kapitel 7 Die Quereinsteiger: gute Weine fast aus dem Nichts
106
Kapitel 8 Aufbau Wein-Ost: neue Bundesländer, neue Geschmackswelten
120
Kapitel 9 Gestern out, heute in
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Kapitel 10 Die verborgenen Schätze: Rückkehr der vergessenen Traubensorten und verlorene Weinberge
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Kapitel 11 Stichwort „Marketing“: Wandel und Wahnsinn im Weinhandel
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Kapitel 12 Der Wein und die Klimaveränderung
164
Kapitel 13 Traubensorten
175
Kapitel 14 Weinregionen
215
Kapitel 15 Das Glas in einer Welt
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Vorwort
Stuart Pigott
Wenn Wein erwähnt wird, schaltet jeder dritte Deutsche sofort ab und denkt an sein nächstes Bier. Dafür habe ich volles Verständnis.
Vorwort
Vorwort Mein Name ist Stuart Pigott. Seit fast 20 Jahren reise ich nun schon von meiner Wahl heimat Berlin aus immer wieder in die deutschen Weinbaugebiete, auf der Suche nach der „Wahrheit im Wein“ und nach den besten deutschen Weinerzeugnissen. Als Brite habe ich es immer noch schwer mit den tückischen Details der deutschen Sprache. Ich bin nicht Jörg Pilawa, aber Sie verstehen mich, oder? Meist bin ich mit dem Zug unterwegs, sodass der Großraumwagen des ICEs mein zweites Büro ist. Es kann gut sein, dass wir uns da bereits begegnet sind, weil ich kreuz und quer durch die Republik reise. Oder aber Sie haben mich schon im Fernsehen oder im Internet in der BR-Sendung „Weinwunder Deutschland“ gesehen. Ja, ich bin der Typ im großkarierten Sakko mit dem Akzent, der weder bayerisch noch berlinerisch spricht. Wenn Wein erwähnt wird, schaltet jeder dritte Deutsche sofort ab und denkt an sein nächstes Bier. Dafür habe ich volles Verständnis. Auch Stuart Pigott trinkt gern mal ein Helles. Die Menschen, die noch übrig bleiben, haben entweder Angst, dass es gleich kom pliziert wird, oder sie befürchten, es ginge nur um eitle Typen, die ihre superteuren fran zösischen und italienischen Flaschen feiern. Aber diesen Blödsinn lehne ich konsequent ab! Gute und großartige deutsche Weine gibt es auch für wenige Euro die Flasche, und die stehen bei mir im Mittelpunkt. Sie haben wahrscheinlich schon irgendwann gehört, dass der deutsche Wein inzwi schen deutlich besser geworden ist als sein Ruf. Das stimmt alles. Er hat eine wahrhaft wundersame Verwandlung durchlaufen, und ich hatte das große Glück, dies hautnah zu verfolgen. Möglicherweise ist das für Sie nichts Neues, und Sie trinken die neuen deut schen Weine mit einer ähnlichen Begeisterung wie ich. Doch egal, ob Sie schon einiges oder noch gar nichts darüber wissen, ich lade Sie ein, mit mir auf Reisen zu gehen. Sie werden nicht nur tolle und oft auch erstaunlich unbekannte Weinlandschaften er leben, sondern auch die Urheber dieser Geschmacksrevolution kennenlernen. In Deutsch land gibt es mittlerweile viele erstaunliche Winzer-Persönlichkeiten und darunter sind einige echte Superstars, die manch anderes Sternchen aus Film und Fernsehen ziemlich langweilig aussehen lassen. Sehr bunt und vielseitig sind diese Männer und Frauen im Alter von 20 Jahren aufwärts. Insgesamt hat sich die hiesige Winzergemeinschaft stark verjüngt und sich der Welt enorm geöffnet. Auch die Kluft zwischen Fachleuten und „normalen“ Weintrinkern hat sich weitgehend geschlossen. Ihre, ja Ihre Meinung zum Wein zählt. Vertrauen Sie Ihrer
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Vorwort
Zunge! Das lohnt sich, weil es so viele gute deutsche Weine zu entdecken gibt. Auch nach 20 Jahren Arbeit stoße ich immer wieder auf etwas Neues. Und wenn Sie mitkommen, warten viele tolle Überraschungen auf Sie. Die deutschen Weine sind dank Klima und Boden, kreativen Winzern und lebendi gen Traditionen sehr, sehr vielfältig. Mich würde es sehr überraschen, wenn keiner da runter ist, der Ihnen schmeckt. Für Weine von ganz blass mit Grünschimmer bis fast so dunkel wie schwarzer Rubin, von staubtrocken bis honigsüß, federleicht bis tonnenschwer, ganz unkompliziert oder tiefgründig wachsen in diesem Land Trauben, die fast jeden Ab schnitt des Geschmacksspektrums abdecken. Seit ich mich mit dem deutschen Wein be schäftige, habe ich mich daher noch nie länger als einen kurzen Moment gelangweilt. Und keine Angst, wir werden uns nicht ein Weinbaugebiet nach dem anderen vor nehmen, dies hier ist kein Geografieunterricht, und ich möchte Sie keinesfalls zurück auf die Schulbank setzen. Stattdessen werden wir uns verschiedene Aspekte des deutschen Weins vornehmen, also immer wieder den Blickwinkel wechseln. Wir fangen ganz einfach an, mit der wunderbaren Rieslingtraube und ihren genialen Weinen, dann reisen wir zu sammen zu den Jungwinzern, zum Rotwein und von da aus immer weiter. In diesem Buch erzähle ich zwar die Storys aus der gleichnamigen BR-Sendung, aber sie stimmen nicht ganz mit dem überein, was Sie dem Bildschirm entnehmen können. Nach dem Regisseur Alexander Saran „Schnitt!“ rief, Kameramann Sorin Dragoi und Tonmann Peter Wuchterl ihre Geräte und Assistent Florian Bschorr die Lichter ausschalteten, lief meine Unterhaltung mit dem jeweiligen Winzer oft weiter, manchmal wurde es dann noch spannender. Außerdem wurde das Gedrehte natürlich geschnitten, und die Sendezeit reichte bei Weitem nicht aus für die echt tollen Sachen, die wir aufgezeichnet haben. Es ist eben Fernsehen, wenn auch ganz besonderes Fernsehen. Jede richtig gute Geschichte lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise wiedergeben. Hier im Buch kommen noch andere Figuren und Gedanken hinzu. 30 Minuten sind leider schnell um, sodass Sie jetzt die Chance haben, noch mehr über das erstaunliche Weinwunder Deutschland zu erfahren. Dabei unterstützt mich mein Freund und Kollege Manfred Lüer, der aus Hamburg stammt und im Rheingau westlich von Wiesbaden lebt. Wir teilen die große Begeiste rung für die neuen Winzer und Weine des Landes. Nach Regionen und Traubensorten geordnet, stellt er Ihnen diesen reichen Schatz an Innovationen und wiederbelebten Tra ditionen vor. Wir sind überzeugt, dass die „neuen Weinkonsumenten“ der Republik im selben Maße zur erstaunlichen Verwandlung des deutschen Weins entscheidend beige tragen haben. Und genau diese bislang kaum beachtete Seite des Weinwunders Deutsch land beschreibt er in dem Kapitel „Das Glas in einer Welt“.
Riesling Renaissance
Riesling Renaissance: Deutschland und die Welt Es ist einer der ersten warmen, sonnigen Tage des Jahres. Überall blüht es, und die ers ten grünen Blättchen sind zu sehen. Ein paar Freunde sind vorbeigekommen, und wir sit zen auf dem Balkon. Ich hole eine Flasche Weißwein und schenke ein. Alle kosten, dann strahlen sie – ein Volltreffer! „Pfirsich“, ruft einer von ihnen, „Zitrus“, platzt es aus dem Mund eines anderen her aus, „Und diese herrliche Frische!“, fügt der Dritte hinzu. Der Wein ist nicht nur weiß, sondern er schmeckt auch wie der Inbegriff von erfri schendem trockenen Weißwein. Auf dem Designer-Etikett steht Riesling, der Name eines hochmodernen deutschen Zaubertranks. Er ist gerade ein halbes Jahr alt, er vibriert vor jugendlicher Heiterkeit, und seine Energie schlägt funkenartig über. Tolle Frühlingsge fühle mit Moselwein zu Hause! Junge Frauen in schwarzen, rückenfreien Kleidern und noch jüngere Frauen in haut engen Hosen und in Schuhen mit stratosphärisch hohen Absätzen drehen und winden sich auf der Tanzfläche zum Discobeat. Pailletten und Glitzer-Make-up funkeln kaleidos kopisch in dem pulsierenden Licht. Um sie herum hüpfen coole junge Typen in bunt ge streiften Hemden und distressed Denim, und irgendwo dazwischen bin ich in Lederho se und einem schrillen T-Shirt. Welche Partydroge ist nur im Spiel? Bei dieser Weinparty hat jeder mehr oder weni ger von einer gefährlichen, aber legalen und in Deutschland überraschend leicht zu be schaffenden Substanz genommen: Alle sind „Riesling-high“, und dadurch scheinen die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt. Auf einen Schlag haben wir eine geostationä re Umlaufbahn der Erde erreicht und schweben eine Handbreit über dem Boden. Wahn sinn, die Wein-in-den-Mai-Party der rheinhessischen Jungwinzergruppe Message in a Bottle! Ich sitze an einer langen Tafel in einem prunkvollen Saal, der schon alt gewesen ist, als Bismarck ihn betrat. Vor mir steht eine Reihe eleganter Weingläser mit hohem Stiel, darin jeweils ein anderer Wein. Das ist jetzt Arbeit für mich – ich muss eine Beschreibung von jedem Wein aufs Papier bringen –, aber natürlich ist Weinverkosten nicht der unan genehmste Job. Auf der Liste sehe ich, dass es links mit einem Wein des Jahrgangs ’09 beginnt, dann mit jedem Glas weiter nach rechts der Wein älter wird, bis ich das Glas ganz außen er reicht habe und beim 92er bin. Gut sind sie alle, aber der 99er, der nach getrockneten
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Riesling R enaissance
Aprikosen duftet und enorm viel Power hat, schmeckt mir am besten. Ich bin begeistert von einem längst vergangenen Jahr, erhalten in flüssiger Form. Historisch bewegen wir uns aber in einer ganz anderen Dimension, als Sie vielleicht annehmen. Der jüngste Wein, der gerade vor mir steht, stammt aus dem Jahr 1909, und der älteste von 1892. Alle kommen aus der legendären Schatzkammer der Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach im Rheingau. Meine Oma feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag – all diese Weine sind älter als sie! Und diese wahren Weinwunder heißen auch Riesling! Riesling ist eine Traubensorte, von der es noch mehr als Apfel- oder Rosensorten gibt. Mehr dazu später. Jetzt müssen Sie nur wissen, dass eine Traubensorte in den Hän den eines guten Winzers sich wie ein Instrument in den Händen eines Musikers verhält, auf dem dieser verschiedene Töne erzeugen kann. Bei manchen Traubensorten ist die Bandbreite der möglichen Töne eher schmal, beim Riesling jedoch nahezu endlos. Man che sind so sanft und dezent wie spanische Klassik auf der Akustikgitarre, während andere so wild anmuten wie ein E-Gitarrensolo von Jimi Hendrix. Erstaunlich viele dieser Töne sind aus Deutschland, und darunter gibt es alles, von Bach bis Rammstein. Riesling reift in allen 13 deutschen Weinbaugebieten, also entlang des Rheins vom Bodensee bis kurz vor Bonn. Auch in den geschwungenen Tälern von Ahr, Main, Mosel, Nahe, Neckar und anderen Nebenflüssen des Rheins wachsen an vielen Stellen Rieslingre ben. Hinzu kommen bedeutende „Rieslinginseln“ bei Dresden entlang der Elbe und an Saale und Unstrut bei Naumburg in Sachsen-Anhalt. Obwohl Riesling vor fast 600 Jahren in Deutschland zum ersten Mal schriftlich er wähnt wurde – in der heutigen Opel-Stadt Rüsselsheim, wo es noch einen kleinen Ries ling-Weinberg gibt –, ist aus der Traubensorte längst ein Weltenbummler geworden. Schon vor über 150 Jahren wuchs die Traube in Australien, im Süden Afrikas und in Nordame rika. Und vor knapp 100 Jahren gewann ein chinesischer Winzer für seinen Riesling eine Goldmedaille auf einer Weltausstellung in San Francisco. Die Globalisierung von Wein läuft also schon seit Langem, und Riesling war schon frühzeitig dabei. Heute wird er von den Weinbergen der weiten Tälern Chiles bis zu den Hängen des Ätnas in Sizilien gele sen, die unterschiedlichen Tropfen in zahlreichen Ländern von Planet-Wine gelobt und geliebt; ein bedeutender deutscher Botschafter für die Welt! Riesling ist aber sehr viel mehr als nur eine Traubensorte, er erzeugt auch eine groß artige Stimmung und einen weltumspannenden Zeitgeist. Immer öfter treffen sich Win zer mit Köchen, Weinfreunden, Sommeliers und Journalisten in Sydney und Seattle, im Rheingau und in Berlin, um das Riesling-Phänomen gemeinsam zu erforschen und zu
Riesling Renaissance
zelebrieren. Das Thema Riesling ist endlos und endlos faszinierend, weil er alle nur er denklichen Geschmacksschattierungen von knochentrocken bis honigsüß bietet und er im Körper von federleicht bis tonnenschwer ausfallen kann. Ständig erfinden kreative Winzer überraschende neue Riesling-Stile, und jeder Jahrgang schmeckt etwas anders als die vor herigen. Trotz aller Gemeinsamkeiten handelt es sich bei Riesling um eine weitverzweigte Weinfamilie mit jeder Menge Temperament. Deswegen lässt sich die Traube auch nicht auf eine Schlagzeile reduzieren, sondern bleibt ebenso spannend wie unwiderstehlich. Und so ziehe ich immer wieder los, auf der Suche nach neuen Riesling-Tönen. Meist liegt mein Reiseziel in Deutschland, nicht nur, weil das Land mit fast 22.500 Hektar die mit Abstand größte Rieslinganbaufläche der Welt bietet, sondern weil der Riesling seit der Jahrhundertwende quasi der Dynamo der neuen Weinkultur der Republik ist. Die „neuen deutschen Weine“ werden natürlich nicht nur aus der Rieslingtraube erzeugt, aber ohne sie gäbe es das deutsche Weinwunder nicht. Auch mein Leben hat der Riesling verändert. Ich bin der Sohn zweier Beamter und in einem spießigen, grünen Vorort von London aufgewachsen. Ich war schüchtern, intro vertiert und hatte Angst vor dem Fremden, Unbekannten. Wein kam nur auf den Tisch, wenn Gäste zu Besuch waren – und das war bei uns leider nicht sehr oft. Um ehrlich zu sein, es war ziemlich langweilig. Jetzt lebe ich mitten im Zentrum von Berlin am Hacke schen Markt und reise in Sachen Wein um die ganze Erdkugel. Alles dank dieser Trauben sorte, die mir seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Themen für meine Artikel liefert. Oft werde ich nach meinem Lieblingswein gefragt, und obwohl mich das immer wie der frustriert, antworte ich doch stets ganz ehrlich, dass es meine nächste Entdeckung ist. Denn nichts ist aufregender als ein guter Riesling, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Und das war in den letzten Jahren sehr häufig der Fall. Manche von ihnen sind in zwischen sehr begehrt und daher nicht ganz günstig, aber eine ganze Reihe von ihnen ist erstaunlich preiswert angesichts der Qualität. Viele dieser Weine stehen (noch) nicht im nächsten Discounter oder Supermarkt, denn das hat manchmal ganz einfach mit der knappen Menge zu tun. Ein anderer Grund ist die Einkaufspolitik mancher Lebensmittelhandelsriesen. Aber das ändert sich jetzt lang sam, weil immer mehr Menschen gute deutsche Weine verlangen, vor allem guten Riesling. Viele Deutsche glauben, ein halbleeres statt ein halbvolles Glas deutschen Weins vor sich zu haben. Aber wenn man die hiesigen Weine so genau unter die Lupe nimmt, wie ich es seit Langem tue, dann stellt man fest, dass das Glas fast voll ist! Sicher läuft manches in die sem Land falsch, ist doof oder enttäuschend – aber was die Weine betrifft, leben wir in sehr glücklichen Zeiten! Und mein Bauch sagt mir, dass noch bessere Rieslingzeiten kommen …
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Riesling R enaissance
Eh epaar Heymann- Löwenstein
Als Autor von Zeitungsartikeln und Büchern ist er für mich eine ernsthafte Konkurrenz. Glücklicherweise ist er ein Einzelfall, sonst müsste ich Schuhe verkaufen … Heute war der erste Schritt aus der Haustür recht schwierig. Viel zu früh bin ich auf gestanden und zum Berliner Hauptbahnhof gerannt, um den ICE nach Köln zu erwi schen, wo ich umgestiegen und weiter nach Koblenz gereist bin. Von da dann mit einem Regionalzug den kurzen Sprung nach Winningen an der Mosel. Dort angekommen muss ich mit meinem vollgestopften Rollkoffer nur wenige Meter die Bahnhofstraße entlang bis zum Haus Nr. 10, einem imposanten wilhelminischen Anwesen, in dem das Weingut Heymann-Löwenstein residiert. Die Fassade des Hauses sieht ziemlich herrschaftlich aus, aber das Weingut wurde vor nur 30 Jahren von Reinhard Löwenstein und Cornelia Heymann mit minimalem Eigen kapital gegründet und hat dort seit 1983 seinen Sitz. Als ich die beiden vor gut 20 Jahren kennenlernte, war Löwenstein noch dabei, seinen heutigen Weg zu finden. Damals fiel er der Allgemeinheit vor allem durch PR-Aktionen auf. Als etwa im Dezember 1993 ein Jahrhunderthochwasser viele Moselweinorte verwüstete – stellen Sie sich Hochwasser bis ins erste Obergeschoss vor! –, setzte er sich im Nadelstreifenanzug und mit Zigarre in sei nem überfluteten Keller ins Schlauchboot und ließ sich fotografieren. Zur selben Zeit wa ren viele seiner Kollegen völlig außer sich vor Angst und in Panik. Es war ein ziemlich guter Witz. Der groß gewachsene Löwenstein ist ein Selbstdarstel ler-Naturtalent, der bereits im Alltag sehr präsent ist, dessen Persönlichkeit aber bei öf fentlichen Veranstaltungen zur raumfüllenden Höchstform aufläuft. Manchmal beharrt
Riesling Renaissance
Die Verbindung von Rockmusik und Wein macht in unserer Welt einfach Sinn. Tesch würde bescheiden sagen, er sei halt der erste Winzer, der beides erfolgreich miteinander verbindet.
Dr. Martin Tesch
er beinahe störrisch auf seiner Position – stets aus Überzeugung, nicht aus egoistischen Gründen. Meist ist er extrem offen, und die Begeisterung für seine „gute Sache“ funkelt in den Augen hinter der metallenen Brille hervor. Dieser Mensch hat nie etwas Kaltes oder Distanziertes, sondern er sendet ständig seine starke Botschaft in die Welt. Und wie der Winzer, so der Wein. Sicherlich hätte Löwenstein ein bedeutender Schauspieler werden können, aber diese Zunft spuckt eigentlich nur die Worte anderer aus, was ihm vielleicht nicht gereicht hätte. Als Autor von Zeitungsartikeln und Büchern ist er für mich eine ernsthafte Konkurrenz. Glücklicherweise ist er ein Einzelfall, sonst müsste ich Schuhe verkaufen … Als mir Löwenstein zum ersten Mal begegnete, war er damit beschäftigt, seinen ers ten Beruf (Winzer) neu zu erfinden und sein Lebensthema Terroir zu erforschen. Eigent lich gehören diese zwei Sachen für ihn untrennbar zusammen. Terroir ist französisch und steht für den Geschmack eines Ortes. Seit Jahrhunderten sind kultivierte Franzosen da von überzeugt, die Herkunft von Käse, Dörrfrüchten, Hühnern und Wein in ihrem Ge schmack zu spüren. Und es stimmt, ein original Camembert, die Pruneaux d’Agen, ein Bresse-Huhn oder ein gelungener Chambertin-Rotwein haben alle einen ganz besonde ren Geschmack. Die Namen der Herkunftsorte stehen also für den jeweiligen besonderen Geschmack. Und das ist die Idee hinter den neuen deutschen Terroir-Weinen. Inzwischen ist die Be-
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Riesling R enaissance
zeichnung Terroir Neudeutsch, hat aber zahlreiche Bedeutungen, wobei es auf die Person ankommt, die das „T-Wort“ in den Mund nimmt. Bestenfalls bedeutet es wie beim Weingut Heymann-Löwenstein unverwechselbarer Wein von höchster Qualität. Gelegentlich aber verkommt es zur Winzer-Marketingfloskel, die eigentlich für „Kauf meinen Wein“ steht. Bei Löwenstein steht es nicht nur für eine neue Kategorie, sondern Terroir ist für ihn vielmehr ein tief greifendes Schlagwort von philosophischem und politischem Ge wicht. Das klingt vielleicht übertrieben, aber er schafft es, das Ganze sehr direkt und bild haft auszudrücken, etwa so: „Terroir ist der Unterschied zwischen authentischen Weinen und ‚Coca-Cola-Weinen‘. Es ist das Gegenteil von ,Merlot-Softie‘ und ,Fruchtsalat-Ries ling‘, von ,Plastiko-Fantastiko-Viagra‘ im Glas!“ Damit meint er die gefällig gemachten Weine, die überall auf Planet-Wine industri ell erzeugt werden – auch in Deutschland. Die säurearme Merlot-Traube eignet sich ziem lich gut für die Herstellung solch extrem gefälliger, leicht verständlicher Industrieweine; die Rieslingtraube mit ihrer verhältnismäßig ausgeprägten Säure hingegen viel weniger. Daher passt es, dass Löwenstein sich beruflich nicht mit dem weichen Merlot beschäftigt, sondern mit den „harten Sachen“, die immer etwas eigen sind. Fundamentalistische Sprüche dieser Art haben ihm viel Aufmerksamkeit gebracht und lauter Spitznamen wie „Terroir-Provokateur“, „Riesling-Rebell“ und „Martin Luther des Weinbaus“. Er nimmt diese Etiketten erstaunlich gelassen: „Als ich Kommunist war, habe ich gelernt, als bekloppt zu gelten. Ich brauche mir kein dickes Fell mehr wachsen zu lassen.“ Ein Winzer, der Kommunist gewesen ist? Das klingt wie ein ziemlich guter Witz, ist es aber nicht. Auf Kuba erlebte der junge neugierige Löwenstein die „Befreiung an allen Fronten“ und kehrte voller Begeisterung für die kommunistische Ideologie zurück. Kurz darauf nahm er teil an einer ähnlichen Reise in die DDR und kam, stark ernüchtert von der grauen kommunistischen Wirklichkeit im anderen Deutschland, nach Hause. Seitdem muss jeder Idealismus, sprich der Wein, bei Reinhard Löwenstein und Cor nelia Heymann entweder Alltag und Markt standhalten, oder er wandert zurück in ihre „Kreativwerkstatt“, wo er neu gedacht wird. Meist setzen sich ihre Weine auf eine erstaun liche Weise durch. Das ist beachtlich, weil sie oft nicht in gängige Wein-Kategorien passen. Die meisten ihrer Rieslinge sind definitiv ein Wein für den Essenstisch, sie sind jedoch nach der engen gesetzlichen Definition nicht trocken. Und ja, es handelt sich keinesfalls um Schmalspurweine, sondern um großes Kino im Glas. Die Geschmacksnuancen lassen sich nicht alle mit einem Schluck aufnehmen, man muss sich mit dem Mikrokosmos eines Heymann-Löwenstein-Weins vielmehr lange beschäftigen, um alles richtig wahrzunehmen.
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Diese geschmackliche Vielschichtigkeit führte zu ihrem bisher größten Erfolg, dem französischen „Wein-Oscar“ für den besten ausländischen Wein im Jahr 2005. Ihr „Lau bach“ vom Uhlen setzte sich 2002 gegen den „Unico“ aus Vega Sicilia in Spanien und den „Montebello“ aus Ridge in Kalifornien durch, zwei Weltklasse-Rotweinlegenden mit drei stelligen Europreisen. Die Weine vom Weingut Heymann-Löwenstein haben einen Rie sensprung gemacht seit der ersten Lese im Jahr 1980. Cornelia Heymann erzählte mir, wie es damals mitten im Herbst 15 Zentimeter Schnee gab und die Weine beileibe nicht das waren, was sie sich vorgestellt hatten. Auf den ersten Vorgeschmack dessen mussten die beiden noch ein Jahr warten. Der Weg zum Erfolg war lang und hart. In den Uhlen – der Name scheint von „Reich der Eulen“ zu kommen – will Rein hard mit mir sofort nach meiner Ankunft fahren. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Beginn der Weinlese, und die Trauben sind reif genug, um sie zu kosten. Vielleicht kann ich ja ein wenig erahnen, was später kommen wird? Ich deponiere mein Gepäck im Flur, und wir fahren gleich los. „Der Uhlen ist mit etwas über 14 Hektar Gesamtfläche die größte terrassierte Wein berglage Deutschlands“, erzählt er mir jetzt sehr sachlich. „Wenn man vom Moselufer bis ganz oben läuft, muss man an der extremsten Stelle 29 Trockenmauern hochsteigen. Typischerweise sind sie etwa 2,5 Meter hoch, können aber bis zu 8 Meter mächtig sein. Sie haben eine Gesamtlänge von 21 Kilometern. Ich finde, sie sehen aus wie Schwalben nester, die am felsigen Steilhang kleben.“ Der Uhlen ist nicht nur steil, sondern wirkt fast wie eine Wand, wenn man entlang der Uferstraße fährt und aus dem Autofenster hochschaut. Wie ist es, dort oben zu stehen und hinunterzugucken? Kein guter Gedanke, wenn man wie ich unter Höhen angst leidet. Der Uhlen folgt einer der großen Moselschleifen und beschreibt dabei eine Kurve, die 1,65 Kilometer lang ist. Zwischen Bergfuß und Fluss verlaufen Uferstraße und Bahn linie, die Trier und Luxemburg mit Koblenz verbinden. Experten und Laien vergleichen die Steillagen im Moseltal seit Jahrhunderten mit den Rängen eines Amphitheaters. Der römische Dichter Ausonius verwendete dieses Bild erstmals in seiner Mosella von vor über 1.600 Jahren. Als ich den Uhlen das erste Mal aus der Ferne sah, konnte ich sofort nachvollzie hen, dass die Einheimischen die engen Terrassen „Chöre“ nennen. Ja, der Uhlen ist ein Gesamtkunstwerk, dessen Bau etliche Jahrhunderte dauerte und erst im 19. Jahrhundert vollendet wurde, ganz wie der Kölner Dom. Deswegen erlaube ich mir, ihn „den Kölner Dom des Rieslings“ zu nennen.
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So zutreffend und stimmig dieser Begriff auch ist, eine Sache bringt er nicht zum Ausdruck. Durch die Trockenmauern und aufgrund der Tatsache, dass außer den Win zern nur wenige Menschen ihn tatsächlich betreten, ist der Uhlen eine Art inoffizielles Naturschutzgebiet. Das kommt besonders deutlich dadurch zum Ausdruck, dass dort der seltene Apollofalter in Deutschland am häufigsten zu finden ist. Darüber hinaus wachsen auf den Mauern und Felsen zahlreiche wilde Blumen und Sträucher. Inzwischen sind wir angekommen, und ich ziehe die Jacke aus, weil es hier wie im mer ziemlich warm ist. „Der Uhlen liegt im Brennpunkt des Hohlspiegels des gesamten Bergs“, sagt Löwen stein, „und er ist genau nach Süden gerichtet.“ Das klingt, als sei der Berg ein Vergröße rungsglas, mit dem man ein Feuer anzünden kann – und das trifft beinahe zu. Je weiter die Weinrebe nach Norden kommt, desto wichtiger ist es für sie, an einem Ort zu wachsen, wo sie nach Süden schaut. In unseren Breitengraden verändert die Hangneigung eines Südhangs den Winkel der Sonne: Je steiler er ist, desto intensiver die dortige Sonnenstrahlung. Auch wenn es das Ganze sehr vereinfacht, so ist Wein flüs siger Sonnenschein: Die Rebe braucht viel Energie aus der Sonne, um ihre Trauben zur Reife zu bringen, vor allem die spät reifende Rieslingtraube hier im mitteleuropäischen Deutschland. Und wahre Weinberge wie dieser in Winningen konzentrieren die Sonnenstrahlen. Stellen Sie sich ein normales Haus in einem Vorort mit einem spitzen Dach vor, das direkt nach Süden schaut. Es ist wie bei einem Berg, an dessen steilem Südhang Wein wächst. Mittags im Sommer bekommt die Vorderseite des Dachs – wie der Weinberg – 150 Prozent mehr Sonnenenergie durch direkte Einstrahlung als die Hinterseite des Dachs. Das ist schon ganz beachtlich, doch an einem herbstlichen Nachmittag bekommt die Vorderseite des Dachs fast genauso viel Sonnenenergie ab wie am sommerlichen Mit tag, während die Hinterseite komplett im Schatten liegt und nur indirektes Licht erhält. Deswegen montiert man Solarzellen logischerweise auf der Südseite von Hausdächern. Die Trauben reifen im Herbst, dann ist dieser Effekt am stärksten. Im Uhlen gibt es noch den zusätzlichen Faktor Stein. Stein, vor allem dunkler Stein wie hier, speichert Wärme sehr effektiv. Die Trockenmauern bilden somit ein riesiges Son nenwärme-Reservoir. Tagsüber tanken sie Wärme und geben diese nachts an die Reben ab. Die Steine im Boden machen dasselbe, und ehrlich gesagt, egal, in welche Richtung ich schaue, der Boden sieht aus wie eine Steinhalde! Aus Erfahrung weiß ich, dass die ser erste Eindruck trügt. Unter den Steinen liegt eine Schicht, die halbwegs als norma ler Boden erkennbar ist.
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„Hier sind die Böden flachgründig und verdammt steinig“, erklärt Löwenstein. „An vielen Stellen liegt der blanke Fels nur einen halben Meter unter der Oberfläche, und der Boden besteht zur Hälfte aus Steinen. Hier gibt es nicht viel Regen, und der Boden hält nicht viel Wasser.“ Die Rebe ist kein Kaktus, der monatelang ohne Wasser auskommt, aber sie kann sich an viele unterschiedliche Böden und Klimasituation anpassen. In die sem Fall müssen die Wurzeln in den Fels hinein, um genug Wasser zu finden. Wir wissen, dass sie bis mindestens 12 Meter tief gehen können, aber vielleicht reichen sie noch viel weiter hinunter. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind eine Sache, in solch einer Terrassenlage zu klettern und alles hautnah zu erleben eine ganz andere. Deswegen hat Löwenstein die Monorackbahn bereitgestellt, die hoch in den Uhlen führt. Ich habe vorher meinen grünen Overall übergezogen, um meine Kleidung zu schützen. Nein, nicht um mich vor den Reben zu schützen, sondern weil ich während der Fahrt auf der Ladefläche der Monorackbahn liegen muss, die eigentlich für den Transport von Werkzeug, Pfählen oder Trauben ausgelegt ist. Ein bisschen Abenteuer muss sein, und ich bin froh, nicht alle 29 Mauern hochsteigen zu müssen! Der Motor startet. Sein Klang erinnert mich an einen großen Rasenmäher, gleich geht es los. Die Fahrt ist ziemlich abenteuerlich, weil ich immer wieder die Stellung wech seln muss. Wenn der Wagen über eine Terrasse zwischen den Reben fährt, liege ich fast horizontal, wenn er eine der Trockenmauern zur nächsten Terrasse hochsteigt, stehe ich hingegen fast vertikal und schaue direkt hinunter auf die Mosel. Oh je, meine Höhen angst lässt grüßen … aber da sind Schmetterlinge, wenn auch kein Apollofalter, und lau ter Hummeln. Wir fahren bis ganz oben, 150 Meter oberhalb der Uferstraße, wo Löwen stein einige Terrassen reaktiviert, die verwildert waren. Er schaltet den Motor der Bahn aus, das Rütteln und Schütteln hört endlich auf, plötz lich herrscht eine herrliche Stille. Da steht seine zierliche, aber auch zähe Frau Cornelia Heymann, die die Fortschritte der jungen Reben auf diesen Terrassen inspiziert. Norma lerweise rechnet man drei Jahre vom Pflanzen bis zur ersten Traubenlese, aber in solchen Extremlagen kann es noch länger dauern. Weinbau ist wirklich langwierig, manches wie der Wiederaufbau von Trockensteinmauern erfolgt generationsübergreifend. „Dieser Teil des Uhlens fiel aus der Bewirtschaftung, weil der Riesling hier oben nicht jedes Jahr reif wurde“, erzählt Cornelia, während mir ihr Mann hilft, aus der Bahn zu steigen, „aber dank Klimaerwärmung geht es jetzt. Deswegen haben wir hier gepflanzt.“ Es scheint nicht sehr viel, aber der Unterschied in der Durchschnittstemperatur zwischen dem warmen Ufer und den kühlen Höhen hier oben beträgt durchschnittlich
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1° Celsius, obgleich es heute wegen des guten Wetters bestimmt noch mehr ist. Die Ries lingrebe ist eine sensible Pflanze, die auf die kleinsten Temperaturunterschiede reagiert, für sie ist 1° Celsius mehr oder weniger wirklich viel. Das kann ich, ja können auch Sie, deutlich an Geruch und Geschmack eines Weines erkennen. Je kühler der Ort, wo der Riesling wächst, desto schlanker und säurebetonter wird der Wein, aber auch seine Aromen und vielen anderen Inhaltsstoffe werden dadurch ver ändert. Wenn es zu kühl ist, fallen die Weine zu schlank und zu säuerlich aus. Dann riecht und schmeckt Riesling grasig grün, krass ausgedrückt sauer und unreif, wie es lange hier im oberen Teil des Uhlens der Fall war. „Terroir heißt sich einlassen, mit allen Sinnen dabei sein“, sinniert Löwenstein. „Man lernt … man reift … der Weinberg, der Wein verändert sich, der Winzer auch.“ Schon 1987 brachte einer der Rieslinge aus dem Uhlen den ersten Durchbruch, aber seitdem sind der Winzer und seine Weine nicht mehr dieselben. Löwenstein hebt einen roten, kantigen Stein vom Boden auf und holt aus seiner Jacke zwei weitere Steine, einer dun kelblau-grau, der andere hellgrau. „Seit dem Jahrgang 2002 erzeugen wir jedes Jahr drei verschiedene herbe Rieslin ge aus dem Uhlen, weil es hier drei verschiedene geologische Formationen gibt. Jeder wächst auf einer der Schieferarten“, erzählt er. „Alle anderen Faktoren in den drei Tei len des Uhlens sind sehr ähnlich. Nur der Boden ist unterschiedlich, und die drei Wei ne schmecken immer ganz anders.“ Das klingt plötzlich sehr praktisch, nach handfester Forschung. Meinetwegen müssen wir aber nicht ewig lang hier oben bleiben, wenn es un ten Wein zu kosten gibt! „Mit dem Wein nehmen wir Teil an Prozessen, die wir nicht ganz begreifen“, bemerkt Löwenstein, als seine Frau mir den letzten der drei herben Uhlen-Rieslinge aus dem letz ten Jahrgang einschenkt. Wir sitzen inzwischen in der Bibliothek. „Dieses Jahr war der Entstehungsprozess des Weins nicht so schwierig wie in manch anderen Jahren“, erzählt sie, „manche Jahre mussten wir bis in den nächsten Herbst war ten, bis die Gärung durch war. Das kostet natürlich Nerven. Bei vielen Winzern ist das Ganze innerhalb weniger Wochen erledigt.“ Jetzt stehen die Flaschen in einer Reihe, und neben jedem Glas liegt ein Stein. Der Stein links neben dem Wein aus dem Uhlen „Blaufüßer Lay“ ist dunkelblau-grau und be steht aus lauter dünnen Schichten; ganz offensichtlich ein Schieferstein. Der Stein vor dem Glas in der Mitte mit dem Wein aus dem Uhlen „Laubach“ hingegen ist grauer Schiefer, in dem ich kleine Fossilien erkennen kann. Rechts neben dem kantigen roten Stein, der auch eine Art Schiefer ist, steht das Glas mit dem berühmtesten Tropfen der beiden, dem
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Riesling aus dem Uhlen „Roth Lay“. Also dreimal Wein desselben Jahrgangs, gewachsen auf Schiefergestein in verschiedenen Abschnitten ein und desselben Bergs. „Wein zu erzeugen ist wie Rechnen nach einer Formel mit tausend Unbekannten!“, sagt Löwenstein oft. Das klingt vielleicht nach Esoterik, aber es stimmt. Auch Monika Christmann, in Geisenheim Professorin für Önologie, der Wissenschaft vom Weinma chen, betont das: „Wenn wir eine Partie Traubenmost teilen, beide Teile in identischen Tanks und mit der gleichen gezüchteten Hefe vergären, schmeckt der Wein aus den zwei Tanks unterschiedlich. Das können wir immer noch nicht erklären.“ Heymann und Löwenstein interessieren sich nicht für solche quasi zufälligen Unter schiede, die zustande kommen, weil der große Gott des Weins am Würfeln ist. Nein, ihnen geht es um Eigenschaften, die sich über die Jahre bei den Weinen aus einer bestimmten Ecke des Bergs wiederholen. Diesen „Terroir-Charakter“ möglichst klar herauszustellen ist Ziel ihrer Arbeit mit den Reben und im Keller, und damit stehen sie nicht allein. Inzwi schen sind zahlreiche Winzer überall in Deutschland von diesem Ansatz begeistert oder gar besessen; „Terroir“ ist der neue Wein-Zeitgeist! „Die Weine aus allen drei Teilen des Uhlens haben einen starken Hang zu Minerali tät. Damit sind aber ihre Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft“, sagt Löwenstein nach denklich. Ein mineralischer Geschmack im Wein klingt ganz schön mysteriös für viele „nor male“ Weintrinker. Aber eigentlich kennt ihn jeder von leicht salzigem Mineralwasser her. Auch die Weine vor mir haben alle solch eine Note, schmecken aber alle komplett anders. Sehr kühl und frisch wie ein Wald im Winter wirkt der „Blaufüßer Lay“ und weckt in mir Bilder von nordischen Landschaften im silbernen Licht. Fast meine ich, Eis und Schnee riechen zu können! Dagegen gleitet der „Laubach“ warm und geschmeidig über meine Zunge. Welcher andere Weißwein spendet so großzügig Streicheleinheiten, ohne mollig zu wirken? Lange könnte ich zwischen den beiden hin und her schlürfen. Ich muss aber heute noch weiter, weshalb ich eigentlich zu hastig zum dritten im Bund greife. Wenn jemand einen so anziehenden und dabei so rätselhaften Duft wie den des Uh len „Roth Lay“ im Labor kreieren würde, dann dürfte er sich mit Jean-Baptiste Grenouil le in Patrick Süskinds berühmtem Roman „Das Parfum“ vergleichen. Wenn man diesem Wein auch nur die geringste Chance dazu gibt, zieht er einen in seinen Bann. Eine ge wisse Strenge im Geschmack ist nicht zu leugnen – doch ein anspruchsvoller Wein ist das definitiv nicht! Hinzu kommt noch eine großartige Reife. Ja, er tapeziert meinen Mund förmlich aus mit salzig-mineralischem Geschmack. Löwenstein hört sich das alles an und nickt mehrmals dabei. „Manches kann ich in zwischen schon erklären“, sagt er ganz sachlich. „Typischerweise enthält Schieferstein fast
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gar keinen Kalk, aber der Schiefer der Laubach-Schichten besteht mindestens zu einem Viertel aus Kalk.“ Ein Geologe bin ich nicht, aber eines ist klar: Ein Ausnahmeboden kann zu Ausnahmeweinen führen. Aber das könnten wir nicht schmecken, ohne dieses außer gewöhnliche Winzerpaar. Wie die Winzer, so der Wein! Jetzt aber weiter. Den Zug in Winningen erreiche ich gerade so, wie üblich, und nach dem Umsteigen in Koblenz kann ich mich für eine Weile zurücklehnen. Wie im Zeitraf fer schießt alles durch meinen Kopf: Sämtliche Steine des Uhlens sind etwa 400 Millio nen Jahre alt, sie wurden vor 800.000 Jahren freigelegt, als die Mosel begann, sich in ihr heutiges Tal einzugraben. Vor knapp 2.000 Jahren wurden die ersten Reben von den Rö mern gepflanzt, vor gut 100 Jahren stieg der Ruf des Uhlens, und seit rund 30 Jahren gibt es das Weingut Heymann-Löwenstein. Ich setze die Kopfhörer auf und suche in der Playlist meines MP3-Players so lange, bis ich „Electric Ladyland“ von Jimi Hendrix gefunden habe. „All along the Watchtower“ schwingt durch meinen Kopf, als wir entlang des Rheins fahren … und ich bin mit mei nen Gedanken ganz weit weg – bei einem Konzert vor Monaten in Berlin. Dort spielte der junge, in Deutschland lebende amerikanische Sänger und Gitarrist Hanan Rubinstein eine überraschend zarte Neuinterpretation dieses Dylan-Liedes, das bereits vor 40 Jahren von Hendrix komplett neu erfunden wurde. Den Rubinstein-Abend verdanke ich dem Winzer, zu dem ich jetzt auf dem Weg bin: Dr. Martin Tesch vom Weingut Tesch in Langenlonsheim/Nahe. Seit 2008 präsentiert er seine Weine oft in Zusammenarbeit mit dem weltberühmten Gitarrenhersteller Gibson, untermalt mit Rockmusik. Rolling Riesling Show nennt er das, was bereits Kultstatus ge nießt. Immer in schwarzem Anzug und schwarzem Hemd präsentiert der groß gewachse ne Winzer mit dem Riesenvertrauen in den trockenen Riesling zuerst seine Weine, dann spielt ein neues Musiktalent wie Hanan Rubinstein. Jede Tesch-Weinprobe beginnt mit dem staubtrockenen Riesling „Unplugged“, be nannt nach der MTV-Sendung, in der berühmte Rockstars grundsätzlich nur akustisch spielen, also ohne elektrische Verstärker. Genauso ist der Wein, ganz straight, ohne moderne oder altmodische Tricks erzeugt, so einfach es nur geht. Inzwischen hat Tesch ein begeistertes Publikum für seine Rolling Riesling Show in Städten von München bis New York. Die Verbindung von Rockmusik und Wein macht in unserer Welt einfach Sinn. Tesch würde bescheiden sagen, er sei halt der erste Win zer, der beides erfolgreich miteinander verbindet. Die Idee hing in den letzten Jahren schon an vielen Orten in der Luft, aber eine Idee muss man zuallererst erfolgreich umset zen. Und dennoch – auch im Kopf von Martin Tesch – steckt das Bewusstsein für Terroir.
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In seinen Weinen wirkt das allerdings ganz anders als bei denen von Reinhard Löwen stein und Cornelia Heymann. So unterschiedlich wie Sound und Stimmung diverser Inter pretationen von „All along the Watchtower“. Aus den Trauben fünf verschiedener Hänge um Langenlonsheim und der Nachbar gemeinde Laubenheim erzeugt Tesch jedes Jahr fünf sehr unterschiedliche Rieslinge, die genauso strahlend wie sein „Unplugged“ schmecken, aber wie eine explodierende Feuer werksrakete in unterschiedliche Richtungen schießen und die Nacht erhellen. Das muss man gesehen beziehungsweise geschmeckt haben! Wenn man die Flaschen vor sich im Regal stehen hat, fällt sofort auf, dass jede da von ein andersfarbiges Outfit trägt. Das könnte man „Colour-Coding“ nennen, also Farb kodierung; einer der ältesten Marketingtricks überhaupt. Der Punkt ist aber, dass die Far ben dem Konsumenten nicht nur helfen, die Weine schnell zu identifizieren, sondern jede Farbe auch mit einem starken Bild verbunden ist und beides zusammen die Stim mung des Weins widerspiegelt. Ja, man könnte im übertragenen Sinne vom „Sound“ der Weine sprechen. Der „Löhrer Berg“ mit einer historischen Karte des einst unbebauten Bergs (seine Riesling-Geschichte geht bis 1688 zurück) in saftigem Grün auf dem Etikett macht einen lustigen und schwungvollen Eindruck. Dagegen ist die „Krone“ mit einem zitronengelben Bild vom Froschkönig auf dem Schild so belebend wie eine helle Frauenstimme – eine Königin singt. Blau ist traditionell eine „Anti-Wein-Farbe“, aber der „Königsschild“ trägt ein him melblaues Bild eines mittelalterlichen Turniers auf dem Etikett. Wenn man ihn trinkt, beginnt man zu tanzen, ohne überhaupt darüber nachzudenken, so stark ist der pulsie rende Beat des Geschmacks. Das Rotbraun des Etiketts vom „Karthäuser“ und das Bild schweigender Kartäuser mönche scheinen nicht gerade zur Party einzuladen. Leise, im Halbgesang äußert sich aber eine karge, tiefe Stimme, die unvergesslich ist. Dann setzt der Höhepunkt und Schluss der Verkostung mit einem c-Moll-Riesenak kord ein, er hallt und hallt im Riesensaal. Der „St. Remigiusberg“ im orangeroten Kleid entwickelt einen starken Sog, der einen entweder begeistert oder kaltlässt … „Wir leben in einer verrückten Welt! Der beste Golfer ist ein Schwarzer – Tiger Woods –, und der beste Rapper ist ein Weißer!“, bemerkte Martin Tesch vor einigen Jahren, als er mich wie immer am Hauptbahnhof in Bingen abholte. Den Namen des Rappers musste er nicht nennen, weil die unverkennbare Stimme des weißen Sängers Eminem aus den Lautsprechern seines Landrovers dröhnte. Bei Tesch hagelt es ständig solche Sprüche.
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Ich steige aus dem Zug, und da steht er, heute am silberfarbenen Mercedes, den er „meinen Tarnkappenbomber“ nennt. Dieses Mal läuft das letzte Livealbum von den Toten Hosen, die Lautstärke voll aufgedreht. Er kennt die Band, hat auch einen Wein für sie ge macht mit dem rätselhaften Namen „Weißes Rauschen“, weil das ihre Anweisung an ihn war. Wie er zu Kontakten wie diesen in der Musikszene kommt, weiß ich nicht, aber ich gehe davon aus, dass eins zum anderen führt. Wenn man wie er wiederholt für den Wein im VIP-Bereich von Rock am Ring zuständig ist und selber die ganze Zeit dabei ist, lernt man eine Menge Musiker kennen. Auch heute hat er ein paar skurrile Storys von den Begegnungen dort auf Lager, selbstverständlich alles „off the record“, leider darf ich sie nicht weitergeben. „Heute gibt es Science-Fiction zu verkosten!“, platzt es förmlich aus ihm heraus, als wir losfahren. Damit meint er die Weine des neuen Jahrgangs, die noch nicht auf dem Markt sind. Auch ohne die Weine zu probieren, weiß ich ziemlich genau, was mich erwar tet – wie der Winzer, so der Wein. Großes Staunen würde bei mir ausbrechen, wenn die Tesch-Rieslinge nicht ganz trocken und so geradlinig wie ein Laserstrahl wären. Kenner sprechen von der „Handschrift“ des guten Winzers in seinen Weinen. Das ist nur eine Metapher, aber eine ziemlich treffende für das, was die Weine aus einem Kel ler gemeinsam haben. Bei Heymann-Löwenstein sind die Weine, trotz aller Unterschiede, runder, körperreicher und nicht ganz so trocken wie die von Tesch. Welche sind besser? Seit etwa 2.000 Jahren steht fest, dass man über Geschmack nicht streiten kann, weil der Geschmack eines jeden Menschen subjektiv ist, abhängig von persönlichen Präferen zen und Abneigungen, auch Gewohnheiten. Das ist beim Wein nicht anders als bei Essen, Parfum, Filmen, Büchern oder Musik. Sicher haben wir Fachleute unsere spezielle Art und Weise, wie wir Weine analysieren, aber die Wahrheit ist, dass wir oft zerstritten sind, auch in grundsätzlichen Fragen. Jeder muss für sich entscheiden und kann auch ande res vorziehen, und sei es Bier. Dr. Otmar Löhnertz, Professor für Bodenkunde und Pflan zenernährung an der Fachhochschule für Weinbau in Geisenheim fragt gern, was „Wein qualität“ denn sei. „Wenn wir uns da einigen könnten, würde das viele Probleme lösen.“ Martin Tesch und ich parken auf dem kleinen Platz vor dem ziemlich unauffälligen Haus Naheweinstraße 99, dem Tesch-Hauptquartier. Es besteht aus zwei Backsteinhäusern aus dem späten 19. Jahrhundert. „Wir werfen einen Blick ins Yellow Submarine, dann ge hen wir nach oben und verkosten“, verkündet Tesch seinen Plan. Yellow Submarine nennt er seinen kuriosen Keller, der mich viel eher an die U-Boot-Szenen in Matrix oder anderen düsteren Science-Fiction-Filmen erinnert als an den bunten Beatles-Cartoon. Dort unten liegen in langen Reihen gelbe emaillierte Stahltanks aus den 1960ern, die bis zur hohen
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Decke gestapelt sind. Sie sehen durchaus ein wenig aus wie ausrangierte U-Boote. Tesch hat alle Alternativen ausprobiert, von blitzenden Edelstahltanks bis hin zu ehrwürdigen Holzfässern, und sich dann entschlossen, bei den alten gelben Behältern zu bleiben. Als Doktor der Biochemie hat er wohl eine wissenschaftliche Begründung für seine Entschei dung, aber schließlich war es eine praktische Frage, und es ist auch Geschmackssache. Im kargen alten Verkostungsraum steht nicht viel mehr als ein hölzerner Tisch und ein paar Stühle, außerdem hängen an der Wand einige sehr eigenwillige moderne Kunst werke. Ein Metallrelief zeigt eine Reihe von Köpfen – oder ist es ein Kopf zu unterschied lichen Zeitpunkten? –, die scheinbar immer tiefer in der metallenen Oberfläche versin ken. Der Anblick ist ein wenig unheimlich und erinnert mich an einen besonders starken Tesch-Spruch: „Man darf nicht nur durch die Tür gehen, manchmal muss man durch die Wand gehen!“ Immer wieder ist er „durch die Wand gegangen“, um seine eigene Welt des Rieslings zu verwirklichen, bzw. hat Wege genommen, die von den Winzern in seiner Umgebung oder auch vom Eliteverband der deutschen Winzer, dem VDP, nicht vorgesehen sind. Als ein in Berlin lebender Brite darf ich es sagen: Was nicht vorgesehen ist in Deutschland, ist eigentlich längst verboten, auch wenn es sinnvoll und nützlich wäre. Wenn es Regeln wie eine geschlossene und verriegelte Tür gibt, die nicht geöffnet werden darf, bleibt ei nem nur der Gang durch die Wand als Alternative. Erfreulicherweise ist kreativer Pragmatismus wie der von Tesch gar nicht so unge wöhnlich im gegenwärtigen Wein-Deutschland. Zum Beispiel haben die Winzer inzwischen gelernt, sich bei der Namensgebung ihrer Weine auf das Wesentliche zu konzentrieren. Einfache Sorten tragen schlichte Namen. Da werden Traubensorte und Geschmacksrich tung genannt, basta! „Gutsriesling“ ist ein Beispiel dafür, ein fast immer trocken oder herb schmeckender Wein, bei dem der Name von Traubensorte und Erzeuger groß gedruckt ist. „Gutswein“ gibt es auch von anderen Traubensorten. Es können sehr gute Tropfen sein, aber es geht dabei eindeutig um alltäglichen Trinkgenuss. Tesch musste natürlich eins draufsetzen, so heißen seine günstigsten trockenen Weine „ein Liter Riesling“ und „ein Liter Weißburgunder“. Auf dem Etikett ist ein altes SchwarzWeiß-Foto der Langenlonsheimer Tankstelle abgebildet; er macht sich einen Witz aus dem Flascheninhalt! Das Gros der Tesch-Produkte trägt jedoch die stimmungsvollen, emoti onsgeladenen Namen „Unplugged“ und „Deep Blue“. Auf dem Etikett des „Deep Blue“ ist das Meer in Knackblau abgebildet. Der Wein selbst schwebt in einem Niemandsland zwischen trockenem Weißwein und Rosé. Tesch spricht von einer „Jacques-Cousteau-Stim mung“, die er definitiv wertiger findet als „ein Liter X“. Für viele deutsche Winzer sind
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solche Namen und Assoziationen zu viel des Guten. Auf dem Etikett von immer mehr vergleichbaren Weinen werden einfach nur Winzer, Traubensorte und Gemeinde genannt. Aber „Langenlonsheim“ als Weinbezeichnung ist Tesch einfach zu platt. Die Tesch-Erzeugnisse sind freundlich im Preis, was zur Philosophie des Wein- undMusikdoktors gehört. Der Wein muss in die Stadt und unter junge Leute kommen, auch unter die älteren, die wie junge leben möchten. Der coole deutsche Soulsänger Jan Delay ist noch jung, der amerikanische Heavy-Rocker Gene Simmons von der Gruppe Kiss da gegen gehört zur zweiten Gruppe. So unterschiedlich wie die beiden Musiker sind auch die weniger berühmten Tesch-Fans. Um das zu dokumentieren, hat der Winzer ein Buch herausgegeben mit dem Titel Riesling „People Vol. 1“. Der fast ausschließlich in SchwarzWeiß gehaltene Fotoband dokumentiert nicht nur die Veranstaltungen des Winzers, son dern verbildlicht die neue „Riesling-Gesellschaft“ im In- und Ausland. Es ist eine Riesen sammlung an Fotos von Glück, und auf den fast 200 Seiten gibt es – abgesehen von dem Hinweis, wo das jeweilige Bild aufgenommen wurde – nur zwei Worte: COOL CLIMATE. Das ist doppeldeutig. Zuerst verweisen die Worte auf die Rieslingtraube, aus der in kühlen Klimazonen geniale Weißweine hervorgehen, sie deuten aber auch auf die mäch tig gestiegene Begeisterung für Riesling in Deutschland und sonst wo auf Planet-Wine. Da, wo er getrunken wird, ist das kulturelle Klima im übertragenen Sinn definitiv sehr cool. Die Entwicklung des Rieslings war quasi der Dynamo der gewaltigen Wende des deut schen Weins, die vor allem in den letzten zehn Jahren für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Aber schon vorher gab es Pioniere wie die bereits genannten, die an den Riesling glaub ten, lange bevor er cool war, und die im Nachhinein wie Propheten des kommenden gol denen Zeitalters wirken. Manche wie Reinhard Löwenstein waren Propheten im eigenen Land, andere wie Ernst Loosen vom Weingut Dr. Loosen in Bernkastel/Mosel sind mit der guten Nachricht vom neuen deutschen Rieslings durch die Welt gezogen. Zu Loosen, meiner letzten Verabredung an diesem aufregenden Tag, fahre ich an schließend. Es geht aber nicht zurück an die Mosel, sondern weiter nach Süden in die Pfalz. Nachdem der Winzer 1987 den ziemlich heruntergekommenen Familienbetrieb an der Mosel übernommen hatte, wurde er in Deutschland oft belächelt, weil sich viele fragten, wie dieser „exzentrische und chaotische Kerl“ wohl in der Weinwelt etwas bewegen wollte. Und es stimmt, verglichen mit konventionellen Vertretern seiner Zunft und Geschäftsleu ten in glatt gebügelten Anzügen ist er etwas skurril, auch wirkt er oft etwas desorganisiert. Aber hier im historischen Keller unter der Villa Wolf am südlichen Rand von Wachen heim/Pfalz gibt er eine ganz andere Figur ab – trotz des etwas wilden Haars und dem offe nen Kragen des gestreiften Maßhemdes. Loosen ist inzwischen ein weltweit agierender
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Ernst loosen
Loosen ist inzwischen ein weltweit agierender Riesling-Unternehmer … mit manchmal einer gewissen Exzentrik …
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Riesling-Unternehmer … mit manchmal einer gewissen Exzentrik … Dazu passt diese Traumvilla, die vom bekannten Karlsruher Architekten Eisenlohr 1843 fertiggestellt wurde, wie die Faust aufs Auge. Aber als die Familie Wolf 1996 nach einem Käufer suchte, war die Bausubstanz stark erneuerungsbedürftig, die Weine in einem noch schlimmeren Zu stand. Loosen und sein Partner, die Familie Sturm, sahen es als Chance, etwas Neues in historischem Rahmen zu schaffen. Damit hat er vom ersten Tag an seinen Wein in viele Exportmärkte verkauft, aber die Übernahme des Weinguts J. L. Wolf war der erste Schritt, über die Mosel hinauszudenken. „Ich war von dieser Chance so begeistert, weil man hier viel einfacher gute trockene Weine erzeugen kann“, erzählt Loosen. Wir kennen uns seit dem Anfang seiner Karriere, und ich kann mich noch gut erinnern, wie damals trockener Moselriesling mit 12 Prozent Alkoholgehalt oder mehr und von dezenter Säure, also eine sofort ansprechende Harmo nie, eine ganz große Seltenheit war. In der Pfalz war sie aber recht normal. Für den Win zer bot J. L. Wolf die Gelegenheit, Jahr für Jahr im größeren Stil gute trockene Rieslinge zu erzeugen, und das setzte er ab dem ersten Jahr in die Tat um. „Heute sind meine trockenen Rieslinge an der Mosel wegen der Klimaerwärmung von etwa 1° Celsius viel kräftiger und runder als früher, manchmal übertreffen sie sogar meine trockenen Rieslinge aus der Pfalz!“, fährt er fort und lacht darüber, wie die Na tur seine damaligen Pläne durchkreuzte. Die Weinwelt entwickelt sich selten linear, son dern spielt allzu gern verrückt. Aber bei Loosen spielt seit einem Vierteljahrhundert al les fast nur verrückt gut. Beim Wiederaufbau vom elterlichen Weingut Dr. Loosen hatte er zuvor gelernt, wie man Weinbaubetriebe saniert, und schon drei Jahre später gelang ihm sein größter und gewagtester Wurf, der herbe Riesling „Eroica“, angebaut in Washington State/USA, den er 1999 als Joint Venture mit Chateau Ste. Michelle bei Seattle lancierte. Dessen überra schende und sofortige Akzeptanz seitens Markt und Medien war einer der Faktoren, die zur „Riesling-Renaissance“ in Amerika führten. Seitdem wächst und gedeiht die neue Ries ling-Marke von Loosen & Ste. Michelle, die Begeisterung für deutschen Riesling steigt in großen Teilen von Amerika unaufhörlich, und immer mehr gute US-amerikanische Ries linge strömen auf den dortigen Markt. Das Potenzial dafür war schon seit Langem vorhanden. Chateau Ste. Michelle ist seit vielen Jahren der größte Rieslingerzeuger der Welt, aber diese Weine waren die am we nigsten erfolgreichen eines breiten Sortiments und dümpelten vor sich hin. Aus diesem Grund schenkten ihnen wiederum die Winemakers kaum Aufmerksamkeit. Und weil für die Trauben nur wenig bezahlt wurde, betrieben die Winzer (in Amerika gibt es meist
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eine klare Trennung zwischen traubenerzeugenden Winzern und den Winemakers, die aus den Trauben Wein keltern) nur minimalen Aufwand im Weinberg. Es war ein Teu felskreis, der nur von außen durchbrochen werden konnte. Guter Wein wächst leider nicht von selbst, der Winzer muss vielmehr im Weinberg gezielt darauf hinarbeiten. Auch im Keller muss man mindestens wissen, worauf man bei der Verarbeitung der Trauben, bei Vergärung und Klärung des Weins achten muss. Das ist beim Sensibelchen Riesling, dessen delikate Aromen leicht verloren gehen können, be sonders wichtig. Hinzu kommt die Gefahr, in warmen Klimazonen wie Washington State bei der Kelterung zu viele pelzig schmeckende Gerbstoffe aus den Beerenhäuten zu lösen, wodurch der Wein eher stumpf und schwer schmeckt. Die Rieslingrebe passt sich bis zu einem gewissen Punkt an, aber der Mensch im Keller muss das auch tun. Loosen schenkt mir ein Glas des aktuellen „Eroica“ ein, der alles andere als dumpf und klotzig schmeckt, sondern eher frühlingshafte Frische und saftige sommerliche Fruch tigkeit in sich vereint. Er wirkt überraschend leichtfüßig für einen Wein aus einer küh len Wüste. Denn so ist es im Columbia Valley, wo die Trauben für diesen Wein wachsen. „Es hat lange gedauert, um dahin zu kommen“, erzählt Loosen, „aber der Chief Winemaker für Weißweine bei Chateau Ste. Michelle, Bob Bertheau, hat sich mächtig rein gekniet. Jetzt sind die anderen Rieslingweine von Ste. Michelle auch richtig gut. Und im mer mehr von den Traubenerzeugern begreifen jetzt, was wir wollen.“ Heute habe ich eine der seltenen Gelegenheiten, Loosens herbe Rieslinge aus drei Betrieben und von zwei Kontinenten nebeneinander zu kosten. Trotz der deutlich spür baren Unterschiede – so schmeckt etwa „Eroica“ deutlich saftiger und etwas süßer als der strahlende, duftige Wein von Dr. Loosen und der dezente, elegantere J.-L.-Wolf-Wein – erkennt man auch eine Familienähnlichkeit. Wie bei drei Brüdern, die unterschiedliche Temperamente haben, aber doch die gleiche Nase und die gleichen Augen. Loosen hat nicht nur nach Amerika, sondern auch hier in die Pfalz sein Gespür für Leichtigkeit ge bracht. Immer sucht er eine ansprechende Harmonie, die zur Eigenart des jeweiligen Weins passt. Der inzwischen Anfang 50-jährige, quirlige Moselaner versucht das umzusetzen, was die Welt am deutschen Wein mag, und da er nicht weniger Pragmatiker als Perfektionist ist, mag er als nicht immer typisch deutsch erscheinen, er ist aber definitiv richtig gut. „In wie viele Länder exportierst du jetzt?“, frage ich ihn. „62!“, antwortet er mit ei nem breiten Lächeln. Wie wäre es mit einem Bier?“ Nach einer Weinprobe trinkt er gern ein Bier – ist das nun deutsch oder pragmatisch? „Ich muss dir die Geschichte vom letz ten Bitburger Pils in Bozeman, Montana erzählen!“, und erzählen kann er auch gut …
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stuart pigott im weinberg
Als ich erstmals zwischen den Rebzeilen den Berg hinaufstieg, merkte ich erst einmal, was 68 Prozent Steigung für die Beine und alles andere bedeutet.
Mein Jah r als Jungwinzer
Mein Jahr als Jungwinzer „Get on up!“ – James Browns „Sex Machine“ hallte mächtig durch die Ruine des Engli schen Baus vom Heidelberger Schloss. Vor einer tobenden Menge befanden sich drei Pfälzer Jungwinzer namens Thomas Hensel, Karsten Peter – beide aus Bad Dürkheim – und Markus Schneider aus Ellerstadt auf der Bühne. Ich stand neben ihnen und kam nicht mehr aus dem Staunen heraus. Hunderte von Armen mit einem Weinglas in der Hand streckten sich uns entgegen, und so gut wir konnten, gossen wir aus riesigen Fla schen kleine Kostproben des pechschwarzen Weins in jedes Glas. Einige Wein-Groupies schafften es bis ganz nach vorn und drängten uns per Handzeichen, ihnen direkt in den Mund einzuschenken, und warum auch nicht? Endlich stürmte eine Horde junger Frauen die Bühne – all das wurde von einem Fernsehteam aufgezeichnet. Der nackte Wahnsinn! Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fragte ich mich, was zum Teufel passiert war. Wie hat der deutsche Wein diese überraschende Anziehungskraft entwickeln können? Wie haben Wein und Popkultur ausgerechnet im sauberen, ordentlichen Deutschland zueinandergefunden? Die Antwort auf diese Frage lautet, dass eine neue Generation von Winzern die alten Spielregeln des Winzerdaseins völlig ignoriert und einfach loslegt – in der Überzeugung, Wein sei Teil der Popkultur. Diese „Bewegung“ fing um die Jahrtausendwende zögerlich an, gewann aber schnell mächtigen Schwung, bis im Sommer 2005 das Mannheimer Stadtmagazin Meiers davon überzeugt war, zusammen mit „Pfalz Hoch Drei“ – so nann ten Hensel, Peter und Schneider damals ihre Jungwinzergruppe – und meiner Wenigkeit eine große Weinparty im Heidelberger Schloss zu veranstalten. Für den Anlass wurde die ganze Gegend mit Hinweisen darauf zuplakatiert. Mir rutschte der Unterkiefer ganz weit nach unten, nachdem ich das Poster von uns neben denen von Mariah Carey, Anastacia und Lenny Kravitz gesehen hatte. Noch erstaunlicher war, dass das Ganze anscheinend einen Nerv traf und unser Auftritt in null Komma nichts ausverkauft war. Höhepunkt des Abends bildete „Sex Machine“, der pechschwarze, sehr gewagte JointVenture-Wein des Trios, den sie nach der gleichen Methode wie einen portugiesischen Vintage Port erzeugten. Das heißt, die Trauben werden während der Gärung von Füßen gestampft und der Wein mit Branntwein aufgesprittet, um die Gärung zu stoppen, bevor die Hefe die komplette Traubensüße in Alkohol umwandelt. So entstand im Herbst 2003 ein pechschwarzer Wein mit 20 Prozent Alkohol, enorm viel Gerbstoffen und ebenso viel Süße – exakt das Gegenteil des Klischees vom leichten, beschwingten deutschen Wein!
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Mein Jah r als Jungwinzer
Viele etablierte Winzer hielten die Vorgehensweise für verfehlt und das Ergebnis für missraten, einige bezeichneten es als entsetzlichen „Unwein“. Aufgeschlossene Menschen hingegen, unter ihnen auch Fachleute, schwärmten und benutzten Worte wie „geil“, um den Wein zu beschreiben. Spätestens nach dem Abend im Heidelberger Schloss wurde dieser Ausdruck in Verbindung mit einem deutschen Wein nicht mehr als überdreht oder lächerlich empfunden. Ein „weinkulturelles Erdbeben“ hatte stattgefunden, und seitdem ist alles anders. Der deutsche Wein war gründlich entstaubt worden und gilt seitdem zu nehmend als cool. Die einzige Enttäuschung ist, dass Hensel, Peter und Schneider sich später gegen den Namen „Sex Machine“ entschieden und ihren pechschwarzen Wahn sinn in „Über-Mut“ umgetauft haben. Diese Geschichte wirft eine noch unbeantwortete Frage auf: Was hatte ich auf der Bühne mit diesen jungen, wilden Pfälzer Winzern zu suchen? Antwort: Für mich war das Ganze eine Übung in Sachen Gonzo-Journalismus. Das ist die Bezeichnung für eine neue Art von Journalismus, die von Hunter S. Thompson und einigen seiner amerikanischen Kollegen im Laufe der 1960er-Jahre entwickelt wurde. Das oberste Prinzip des GonzoJournalismus ist, so nah wie möglich an sein Sujet heranzukommen, um zu ergründen, wie er/sie/es wirklich tickt. In diesem Sinne folgte ich monatelang mehreren deutschen Jungwinzergruppen immer mit dem Ziel, sie von innen heraus kennenzulernen. Warum sind deutsche Jung winzer um die Jahrtausendwende dazu übergegangen, diese Gruppen, die ein wenig wie Rockbands funktionieren, zu bilden, ihre jungen Kollegen im nahen und fernen Ausland jedoch nicht? Um solche Fragen ging es mir, aber auch um das Wesen dieses Phänomens. Aus Sicht der Gonzo-Journalisten gibt es keine andere Wahrheit als die sogenannte subjektive Wahrheit, und Anspruch auf Objektivität zu erheben, was viele Journalisten (meist indirekt) tun, ist immer mehr oder weniger arrogant und verlogen. Absolute Wahr heit setzt eine göttliche Perspektive voraus. Ich bin nur ein fehlbarer Mensch, wie jeder Journalist! Gonzo-Journalismus wird oft missverstanden, weil Thompson in dem damals weitver breiteten Glauben, sie würden seinen Geist befreien, bei seiner Arbeit eine Menge Drogen zu sich nahm. Drogen, ihre Konsumenten und die damit verbundene Kultur waren aber auch eines seiner großen Themen. Meines ist natürlich der Wein, weshalb ich mich bei der Arbeit auf den Konsum von vergorenem Rebensaft beschränke, und zwar mit dem Ziel, so gut wie möglich die neuen Weine der deutschen Jungwinzer zu durchblicken. So darge stellt kommt Gonzo-Journalismus wie ein Riesenspaß rüber, was er manchmal auch ist, aber um 2 Uhr morgens auf einer Weinparty Notizen zu machen ist auch ziemlich anstrengend.
Mein Jah r als Jungwinzer
Heute genauso wie damals sind die deutschen Jungwinzer ganz anders drauf als die der anderen Länder auf Planet-Wine, und man schmeckt das in ihren Weinen. Das wurde mir besonders klar, als ich 2008/2009 zwei Semester als Gasthörer an der Fachhochschule für Weinbau in Geisenheim am Rhein studierte. Der Autodidakt Stuart Pigott wollte end lich etwas systematisches Grundwissen zum Thema Weinbau erwerben, aber es war auch eine weitere aufregende Übung in Sachen Gonzo-Journalismus. Ja, Gonzo macht süchtig. Um von den Studenten akzeptiert zu werden, wohnte ich in einer piefigen ZweierWG und kleidete mich stets in schwarzen Jeans, T-Shirt und Jeansjacke. Trotzdem musste ich mich vier Tage gedulden, bis mich die ersten Studenten überhaupt nur ansprachen. Doch dann ging es richtig ab, sodass ich mich bald fragte, ob ich im falschen Film sei. „Hallo, ich bin der Helmut, Helmut Reh“, sagte ein großer, schlanker Typ, der über raschenderweise ähnlich alt schien wie ich, „Sie sind Stuart Pigott, oder?“ Ich stellte mich vor, und Helmut erklärte mir, er stamme aus Regensburg und sei Physiotherapeut bzw. ehemaliger Physiotherapeut, da er seine Praxis inzwischen verpachtet habe, um Winzer zu werden. Ihm folgten Katrin Engehausen, 23, aus der weltberühmten Weinstadt Hannover, und ihr Freund Julian Przybilla, 26, aus der ebenfalls weltberühmten Weinstadt Ulm. Dann stellte sich mir ein junger Kerl mit einem starken, mir unbekannten Akzent vor – Zoli Heimann aus Széksard in Ungarn, auch Anfang 20. Offensichtlich muss man in Deutschland nicht mehr aus einer Winzerfamilie oder einer Weingegend stammen, um Weinbau zu studieren, sondern nur genug Begeisterung für die Sache aufbringen und sich richtig hineinknien. Nahezu die Hälfte der Geisenhei mer Student(inn)en fällt heutzutage in diese Kategorie. Sie bilden eine unglaublich bun te Gruppe, die wirklich nur der Wein verbindet. Winzer(in) ist eine Karriereoption ge worden, und es ist eine ziemlich coole Option. Helmut und Zoli waren Teil einer Studentenclique, und über sie wurde auch ich da rin aufgenommen. Wir trafen uns immer dienstagabends, mal in einer größeren (aber immer noch piefigen) WG, mal im Studentenwohnheim das Kloster, um zusammen Wein zu verkosten, darüber lange und leidenschaftlich zu diskutieren, aber auch um zu ko chen, zu trinken und zu feiern. Jamsession nannte ich diese Treffen, weil sich dabei alles und jeder ganz frei entfaltete wie bei einer guten Jazzimprovisation. Wir hatten jedes Mal ein anderes Thema, und jedes Mal entwickelte sich der Abend komplett unterschiedlich. „Mensch, der hat einen geilen Körper!“, platzte es förmlich aus Gerrit Walter heraus, als ich ihm am Abend zum Thema Süßwein eine 2003er Riesling Auslese vom berühm ten Weingut Joh. Jos. Prüm in Wehlen/Mosel einschenkte. Der energische und ehrgeizige
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Jungwinzer stammt vom (noch) unbekannten Weingut Walter in Briedel/Mosel. In den Augen der Generation seines Vaters ist solch ein Tropfen ein überteuertes Produkt eines überschätzten Konkurrenten. Jemand wie Gerrit hingegen will alle Weine möglichst vor urteilsfrei kosten in der Überzeugung, dass das, was gut schmeckt, einfach gut ist, egal, wer es gemacht hat oder wie viel oder wenig es kostet. „Ziemlich guter Stoff“, lautete der Kommentar des rheinhessischen Winzersohns Nico Espenschied vom Weingut Espenhof in Flonheim zum Moselriesling aus dem nächsten Aldi-Markt für 4,99 Euro die Flasche: etwa ein Zehntel dessen, was die Prümsche Auslese kostet! Der Grundsatz dieser Generation lautet, lieber ein guter Wein aus dem Aldi-Regal als ein langweiliger oder gar schlechter aus renommiertem Hause. Manche dieser Abende gerieten gegen Ende so richtig außer Kontrolle. Einmal zo gen wir weiter zu einer Party, wo eine Studentin, die vom Alter her meine Tochter hätte sein können, ziemlich hinter mir her war. Ich fühlte mich an Gerrits Beschreibung der Mosel-Riesling-Auslese erinnert. Sie war eine wahre Wasserstoff-Sexbombe! Ich war nicht ganz unschuldig an der angeheizten Stimmung, da ich viel zu schnell eine halbe Flasche trockene Scheurebe aus Rheinhessen getrunken hatte. Die süßen rhein hessischen Scheureben waren früher meist recht langweilige, blumig-süffige Weinchen, während die neuen trockenen Weißweine aus dieser Rebsorte von Jungwinzern wie Nico so erfrischend wie rosa Grapefruit zum Frühstück sein können – ziemlich guter Stoff. Be vor die junge Dame ihre Zündung tätigen konnte, ergriff ich die Flucht. Ein anderes Mal landete ich nach der Weinprobe in einem Schwimmbecken, wo Wassersport und eine Fortsetzung der Weinverkostung stattfanden … alles ohne Beleuch tung, um nicht entdeckt zu werden. Verbotene Früchte sind immer die süßesten! Seitdem ist Poolparty auch bei mir ein fester Begriff für Freundschaft, Freiheit und Riesling „Rex“ vom Weingut Sex in einem der nahe liegenden Weinbaugebiete. Im Nachhinein erscheint es mir, als müsste man manchmal zu weit gehen, weil man sonst nicht lernt, wann genug ist. Nach dem Sturz einer Diktatur muss freie Meinungs äußerung proklamiert werden, und die lebt nur weiter, wenn sie ab und zu jemand ernst nimmt und es damit auf die Spitze treibt. In „Wein-Deutschland“ herrschte jahrzehnte lang, vor allem unter den Winzern, eine Diktatur der negativen Gefühle. Offene Worte der Unterstützung oder gar Lob unter Winzerkollegen schienen strengstens verboten. Aber dieses paranoide System wurde von den Jungwinzern glücklicherweise abge schafft und durch eine kreative Demokratie ersetzt. In diese Welt passen die Bücher mei ner Kritikerkollegen mit der klassischen hierarchischen Weinbewertung nach Zahlen na türlich gar nicht – aber keine Sorge, dies hier ist eine zahlenfreie Zone!
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Im Vergleich dazu begab ich mich zur Erzeugung meines eigenen Weins in eine richtige Gefahrenzone. Schon bevor ich Anfang Oktober 2008 nach Geisenheim ging, hatte ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Mein Ziel war, alles – vom Rebschnitt in den ersten Monaten 2009 angefangen bis zur Abfüllung des Weins ein gutes Jahr spä ter – so weit wie irgend möglich selbst zu machen. Zuerst die Theorie und dann die Pra xis, sozusagen als Prüfung. Die einfachste Lösung wäre dabei gewesen, einige Rebzeilen in der Nähe von Geisenheim zu pachten, aber das war mir zu einfach. Ein wenig Aben teuer musste sein. Mir fiel der Jungwinzer Christian Stahl vom Winzerhof Stahl in Auernhofen/Franken ein, den ich 2004 kennengelernt habe, als er noch in Geisenheim studierte. Ich dachte, wenn wir dieselben Vorlesungen besucht haben, würden wir vielleicht dieselbe Sprache sprechen. Außerdem gefiel mir damals schon, dass er sich für die in Vergessenheit gera tenen Steillagen im Taubertal stark interessiert und dort unter anderem trockene MüllerThurgau-Weine mit großem Charisma erzeugt, die mit den billigen banalen Müller-Thur gau-Weinen aus Literflaschen nicht das Geringste zu tun haben. Stahl macht heute viele gewagte Weine, reißt dauernd freche Sprüche und ist wahr scheinlich der mutigste unter den zahlreichen innovativen Winzern in Franken. Kein Wun der also, dass er sofort Feuer und Flamme für mein Weinbauexperiment war. Auch die extreme Landschaft der Tauberzeller Weinberge passte mir. Das, was man vom höchsten, fast 400 Meter hohen Punkt der Lage Hasennest erblickt, wirkt fast wie ein Stich aus der Goethe-Zeit – eine völlig unverbrauchte Landschaft. Stahl bot an, mir zehn Zeilen mit 25 Jahre alten Müller-Thurgau-Reben im aller steilsten Teil des Bergs zu leihen, wo ich – wie später dann in seinem Keller – ganz so vorgehen könnte, wie ich wollte, sodass es tatsächlich mein Wein werden würde. Auch ein paar meiner Kollegen haben schon Wein erzeugt, aber ich kenne keinen Weinjournalisten, der auch die anstehenden Arbeiten im Weinberg selber ausgeführt hätte. Mir jedoch gefiel die Vorstellung, konsequent zu sein – alles oder nichts, ganz oder gar nicht. Als ich erstmals zwischen den Rebzeilen den Berg hinaufstieg, merkte ich erst einmal, was 68 Prozent Steigung für die Beine und alles andere bedeutet. Berlin ist fast flach, ge nauso wie der Londoner Vorort, in dem ich aufgewachsen bin. Außerdem spürte ich am eigenen Körper, wie viel mehr Kraft die Sonne bei einem steilen, nach Südwesten ausge richteten Hang hat. Leider ist meine Haut empfindlich, sodass sie ziemlich leicht verbrennt. Sonnenschutzfaktor 20 und ein Hut waren zweifelsohne notwendig, trotzdem sagte ich begeistert zu. Erst später fiel mir auf, dass ich damit mit fast 50 zum Jungwinzer wurde … zumindest für ein Jahr. Ich fühlte mich auch wie ein Ehrenmitglied der Jamsession.
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Viele der offenen und mutigen Pioniere unter den deutschen Jungwinzern haben sich zu Gruppen zusammengefunden, manche sind klein, andere groß. Message in a Bottle besteht aus über 20 Männern und Frauen, die aus der alten Heimat der „Liebfrauenmilch“ Rheinhessen stammen. Vor rund zehn Jahren begannen sie, ihre Weine gemeinsam zu verkosten, um zusammen nach vorn zu kommen. 2002 veranstalteten sie erstmals eine große, einfach gigantische Weinparty namens „Wein in den Mai“, die das Publikum begeisterte und eine Kettenreaktion auslöste. 2010 haben sie stattdessen Ende August eine große Sommerparty gemacht. Der Austausch und die Zusammenarbeit klappten auf Anhieb, weil das oberste Prin zip von Message „Austausch geht vor Missgunst“ lautet. Nach wie vor steht es großgeschrie ben auf ihrer Website, um klarzustellen, dass die Würde des Jungwinzers unantastbar ist. Wer bei dem Versuch, einen guten Wein zu erzeugen, scheitert, wird nicht als schlechter Winzer belächelt, sondern bekommt Hilfe angeboten, damit er beim nächsten Mal sein Ziel erreicht. Denn das bringt nicht nur jeden nach vorn, sondern sorgt auch für Auf merksamkeit für alle. Das Message-Motto erinnert auch an die gar nicht so lange zurückliegenden dunk len Zeiten, als die Winzergeneration ihrer Eltern sich nur misstrauisch und neidisch aus der Ferne beäugte. Die Begrenztheit dieser Ich-Perspektive und das schnelle Geschäft mit rauen Mengen dünner Weinchen führte Rheinhessen in eine süße, billige Sackgasse. Wäh rend der „Goldenen Oktober“ des deutschen Weins der 1970er und frühen ’80er standen nur wenige Winzer hinter ihren Weinen, die im Tanker vom Hof rollten, um dann in ei nem noch größeren Tank einer riesigen Kellerei mit ähnlich belanglosen Erzeugnissen der Kollegen verschnitten zu werden. Da trafen sich die Winzer also, aber auch nur da. Zweifelsohne half es allen Message-Angehörigen, dass sich zwei ihrer Mitglieder, näm lich Philipp Wittmann vom Weingut Wittmann in Westhofen und Klaus-Peter Keller vom Weingut Keller in Flörsheim-Dalsheim, schon 2002 einen richtig guten Ruf erwarben. Sie zeigten bereits ansatzweise, welche Möglichkeiten in den Weinbergen (noch) unbekann ter rheinhessischer Weingemeinden stecken, und bewiesen, dass sich für den Wein von dort ein entsprechender Preis am Markt durchsetzen lässt und angemessenes Lob dafür zu bekommen ist. „Ich war nicht sehr erfolgreich in der Schule“, erzählte mir erst vor Kurzem Philipp Wittmann etwas wehmütig, „erst als ich nach Geisenheim kam, hat sich das geändert.“ In zwischen ist er fast 40, bekannt, erfolgreich und sehr selbstsicher, ohne arrogant zu wir ken. Als er 1998 mit 24 Jahren den heimischen Keller übernahm, machte er einen ganz anderen Eindruck. Damals war es noch sehr ungewöhnlich, dass ein junger Kerl frisch
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von der Weinbauschule frei nach seinen Vorstellungen arbeiten durfte. Klaus-Peter Keller, der ein Jahr älter als Philipp Wittmann ist, ging es ganz ähnlich. Auch er machte, nach dem er 2001 in Geisenheim fertig geworden war, sofort zu Hause seine ersten Weine. In beiden Fällen stieg man in gut geführte Betriebe ein, die bereits ein gewisses Ansehen ge nossen. Bei Wittmanns ging es um ökologisch erzeugte trockene Weißweine, bei Kellers dagegen vor allem um brillante edelsüße Weine. Sowohl Wittmann als auch Keller sind heute in erster Linie für ihren trockenen Ries ling „Große Gewächse“ aus den besten Lagen von Westhofen bekannt, vor allem Morstein, Kirchspiel, Brunnenhäuschen /Abtserde und nur bei Keller auch der Hubacker. Es sind großzügige trockene Weine mit der Power und Strahlkraft einer explodierenden fernen Galaxie. Bei Keller fallen sie deutlich üppiger und geschmeidiger aus, bei Wittmann sind sie herber und haben eine gewisse Kühle. Philipps Vater Günter meint, Philipp mache die Weine ähnlich wie sein Großvater, unterstützt von ein wenig moderner Technologie. Kellers Vorbilder sind eher im französischen Burgund beheimatet. Aber auch KlausPeter versucht nicht zu kopieren, nimmt aber die besten trockenen Weißweine Burgunds (Herzlich willkommen im Bereich der dreistelligen Europreise!) als Messlatte. Beide ha ben ihren Weg gefunden und wurden durch bahnbrechende Weine von etwa 25 bis 50 Euro pro Flasche zu den ersten richtigen deutschen Winzer-Stars. Sie haben allerdings auch wesentlich günstigere trockene Weine im Angebot. Das Message-Phänomen führte jedoch zu mehr, denn der Erfolg der Gruppe hatte eine wahnsinnig positive Auswirkung auf das Image von Rheinhessen. Innerhalb weniger Jahre befreite sich ein Großteil der dortigen Winzer aus dem billigen Süßwein-Sumpf, wie die Statistiken inzwischen bestätigen. Dank Message in a Bottle und einer Riege kreativer
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Winzer desselben Alters, die eher Mitläufer als Nachahmer sind, gilt Rheinhessen heute als Traumfabrik des trockenen deutschen Weißweins. Die Message-Winzer sind mittlerweile selber Vorbild für noch jüngere Winzer aus Rheinhessen, wie die Jamsession-Mitglieder Nico Espenschied, Peter Geil aus Monzern heim, Fabian Mengel aus Engelstadt, Justus Ruppert aus Dittelsheim-Hessloch und Jo hannes Spiess aus Bechtheim – und das Message-Phänomen hat längst überregionale Auswirkungen. Als ich meine neuen Geisenheimer Freunde fragte, ob sie bei meiner jährlichen Wohl tätigkeitsveranstaltung „Lange Nacht des deutschen Weins“ Ende Februar 2010 in Ber lin als Winzergruppe auftreten wollten, waren sie zuerst baff, weil sie zu dem Zeitpunkt noch gar keine richtige Winzergruppe waren. Doch in null Komma nichts hatten sie ein cooles Logo entwickelt und überzeugendes Werbematerial drucken lassen. Sie kommen aus Baden, von Mosel und Nahe sowie aus Ungarn – nämlich Zoli Heimann. Offensicht lich wurden die einst so wichtigen Grenzen zwischen den Weingebieten durch das starke Wirgefühl der jungen Winzer mühelos überwunden. Geisenheim ist nach wie vor die Keimzelle der deutschen Weinzukunft, weil sich dort die erstaunlichsten Dinge lernen lassen – nicht nur über Weinbau an sich, sondern was man am besten macht, wenn man etwas zu spät und verkatert zur Vorlesung kommt, was mir vielleicht etwas zu oft „passierte“. Die Studenten waren ganz schön baff, als sie das erste Mal die Vorlesung von Dr. Hans R. Schultz, Professor für Weinbau, besuchten. Angeblich wollte er uns einen Über blick über das Thema im Allgemeinen verschaffen, aber eigentlich ging es um die Klima erwärmung und ihre Folgen. Das geht uns natürlich alle an, aber für werdende Winzer, vorwiegend Anfang 20, die ihr Leben noch vor sich haben und mit viel Optimismus et was Neues aufbauen, ist das wirklich alles andere als lustig. Zuerst warf Schultz zwei Weltkarten an die Wand, von denen eine die heutige Kli masituation und die zweite eine Prognose der Situation in 50 Jahren zeigte. Man erkann te sofort, dass die Klimaerwärmung für manche Länder wie Spanien oder Australien zu großen Problemen führen wird. Dort dominieren bereits jetzt hitzeresistente Rebsorten, und wenn es noch wärmer wird, gibt es außer Kakteen kaum Alternativen. Genauso of fensichtlich war, dass sich für Skandinavien und Patagonien bzw. Chile und Argentinien ganz neue Weinbauperspektiven ergeben. Man kann davon ausgehen, dass es in 50 Jah ren eine neue Karte der weltweiten Weinanbaugebiete geben wird. Natürlich hing bei uns daraufhin die Frage im Raum, was uns in Deutschland erwar tet. Dass Schultz daraufhin Optimismus ausstrahlte, half allen Anwesenden, der Zukunft
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gefasst ins Auge zu schauen. Er zeigte eine Grafik über die Entwicklung der Durchschnittstemperatur unseres Planeten. Entlang der x-Achse waren Jahreszahlen, entlang der y-Achse die Temperatur angezeichnet. Die Grafik zeigte die bisherige Entwicklung als eine schwarze Linie, die eine Kurve beschrieb. Von links stieg sie allmählich an und wur de steiler. Rechts davon beschrieben mehrere Linien in unterschiedlichen Farben mehre re Prognosen für den zukünftigen Temperaturverlauf, die noch weiter nach oben stiegen. Eine blaue, als B1 bezeichnete verlief nicht ganz so besorgniserregend steil und führ te als sanfte Kurve zwei Jahrhunderte in die Zukunft. Das war beruhigend. Dagegen be schrieb eine rote, die Linie A2, eine verdammt steil Kurve nach oben und endete abrupt um 2100. Irgendwie sah das nicht gut aus. Normalerweise quasselten die Studenten in den Vorlesungen vor sich hin. Bei dieser Gelegenheit jedoch fragte kein Einziger seinen Nachbarn, was er oder sie am letzten Wochenende getrieben hatte. „Diese Grafik stellt die Prognosen des IPCC, der International Panel for Climate Change, für die Zukunft des Weltklimas dar“, erklärte Schultz, „die B1-Kurve zeigt, was passiert, wenn wir den Kohlendioxidausstoß in den Griff bekommen. Die Wahrschein lichkeit, dass dies gelingt, halte ich für gering. Dagegen stellt die A2-Kurve das HorrorSzenario dar, also was passieren könnte, wenn wir gar nichts tun. Sie endet um 2100, und wenn das eintritt, können wir unseren Planeten in die Tonne werfen.“ Einen Moment lang herrschte eisige Stille im Hörsaal. Bisher haben wir in Deutschland einen Temperaturanstieg von etwa 1°C, was für den deutschen Weinbau eigentlich nur positiv ist. Die Trauben sind bei der Lese einfach
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deutlich reifer als vor 25 oder mehr Jahren, und die trockenen Weine haben daher deut lich mehr Alkohol. Ein Teil des Geheimnisses hinter dem Aufstieg der Jungwinzer liegt darin, dass sie mit der neuen Situation besser umgehen können als die Generation ihrer Eltern, bzw. sie als Chance verstehen. Und das verdanken sie oft ihrer Ausbildung in Gei senheim. Aber was passiert, wenn die Temperaturen noch weiter ansteigen? Schultz erwartet für die nächsten 50 Jahre einen weiteren Temperaturanstieg von etwa 1,5 bis 3,5°C, das entspricht der Lebenszeit seiner heutigen Studenten. Er beschrieb das Laub der Reben als „Solarpanel“ mit einer bestimmten Leistung pro Quadratzenti meter, abhängig von der Temperatur. Dann erklärte er die grundlegende Bedeutung des Verhältnisses zwischen Blättern und Früchten: Sehr viele Blätter und wenige Trauben füh ren zu sehr reifen Beeren, wenige Blätter und sehr viele Trauben zum umgekehrten Er gebnis, also trotz Klimaerwärmung zu eher unreifen Beeren. Durch die Steuerung der Blattfläche kann der Winzer an der „Reife-Schraube“ dre hen, nämlich nach oben für kräftigere Weine oder ein wenig nach unten, das heißt einfach weniger Blätter pro Traube, wenn er die Bremse ziehen möchte. Manche tun das bereits. Außerdem wies Schultz auf die häufigen dramatischen Temperaturschwankungen hin. Wer erinnert sich nicht an den WM-Sommer 2006? Auf die Hitzewelle während der Meisterschaft folgte ein unangenehm kalter und nasser August. Im Hinblick auf die Re ben war es zuerst zu heiß und zu trocken, dann zu nass und zu kalt. Für Schultz war dies nur ein Vorgeschmack, solche Temperaturschwankungen werden seiner Meinung nach um 100 Prozent häufiger auftreten. Darauf muss sich jeder junge Winzer einstellen und lernen, wie er seinen Reben helfen kann, damit fertig zu werden. Wenn es lange heiß und trocken ist, muss er die Feuchtigkeit im Boden halten, wenn es hingegen lange nass ist, möglichst viel Wasser aus dem Boden ziehen. Das beste Mittel dafür sind andere Pflan zen, also das, was die alte Winzergeneration als Unkraut bezeichnete und konsequent bekämpfte wie einen Urfeind. So sehr kann sich der Zeitgeist ändern. Die positive Seite der Klimaerwärmung zeigt sich am deutlichsten in kühlen Ecken wie Windesheim an der Nahe, wo noch vor wenigen Jahrzehnten die Trauben oft nicht voll ausreifen konnten. Aus dieser Gegend, der Heimat der Winde, stammt Johannes Sinß. Keiner hat besser in den Vorlesungen von Schultz zugehört und sich mehr Gedanken da rüber gemacht als er. Er fiel mir bereits beim ersten Jamsession-Treffen in Geisenheim auf, seine trockenen Rieslinge präsentierten sich bestens in einer Blindprobe. Dieser groß gewachsene, blonde Junge Jahrgang 1986 ist entweder ein Naturtalent und/oder er hat verdammt schnell gelernt.
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Er erinnert mich an Stuart Pigott in jungen Jahren. Ich sah zwar keinesfalls so gut aus wie er, wirkte aber auch oft so, als habe ich es gerade erst geschafft, aus der braven Welt zu Hause auszubrechen. Wahrscheinlich hat Geisenheim Johannes Sinß exakt diese Chance geboten. Noch immer scheint er manchmal ein wenig schüchtern, und auch ich komme manchen Leute gelegentlich brav vor. Nachdem ich Johannes Sinß’ tolle Weine kennengelernt hatte, wollte ich unbedingt das Weingut kennenlernen. Windesheim liegt zwar nahe der A61, aber doch ziemlich ab seits von der Weinstraße, entlang der Nahe. Man muss Langenlonsheim an der Nahe den Rücken kehren und das Guldenbachtal hinauffahren. Bei meinem ersten Besuch war es tatsächlich windig, was ich allerdings im Juli bei Sonnenschein als angenehm empfand. „Meist fliegen die schweren Unwetter über uns hinweg, und wir bekommen wenig davon ab“, erzählte mir Johannes, „daher ist es aber auch ziemlich trocken.“ Obwohl Windes heim kein besonders hübscher Ort ist, gibt es viele gut erhaltene alte Häuser, zu denen auch das Weingut Sinß, Baujahr 1791, gehört. Nachbarbetriebe wie Martin Reimanns Lindenhof oder der Gebrüder Kauer und Poss sind zwar nicht weltberühmt, haben aber alle einen guten Ruf. Die Heimat der Winde ist also kein weißer Fleck auf der Weinkarte. Natürlich musste ich mit Johannes erst einmal Reben und Weinberge anschauen. Sie sahen durchgängig sehr gesund und gepflegt aus, als ob jemand immer wieder ganz ge nau hingeschaut hätte. Auf den ersten Blick schienen die Weinberge sich kaum zu unter scheiden, aber oft liegt das wichtigste Detail unter der Erdoberfläche. „In der Lage Sonnenmorgen ist der Boden sehr kiesig, wie ein Flussbett“, erklärte Johannes, „was zu einem unheimlich fruchtigen Charakter des Weins führt. Die Rieslinge von hier haben eine richtige Maracujanote und sind sehr saftig.“ In der Lage Römerberg fiel mir sofort die rötliche Farbe des Bodens auf, dann zeigte mir Johannes auch rich tig rote Felsen. „Rotliegendes, ein total poröses Gestein, hier kämpfen die Reben ums Wasser“, bemerkte er, „und die Rieslinge hier duften nach Pfirsich und Kräutern, mit viel Kraft und Frische.“ Genauso schmeckten dann die trockenen Rieslinge aus diesen Lagen auch, als ich sie mit der ganzen Familie im neuen Verkostungsraum probierte: der Sonnenmorgen fast paradiesisch fruchtig, der Römerberg karg, aber charakterstark. Dieser Moment ist mir seit Langem vertraut, Spannung auf allen Seiten des Tisches, Pigott im Kreuzfeuer, ziem lich manövrierunfähig. Manchmal erinnert mich das an Familienversammlungen wäh rend meiner Kindheit … Als ich vor einem Vierteljahrhundert begann, über Wein zu schreiben, stach ich im mer wieder in Wespennester namens Generationskonflikt. Die Jugendlichen der Familie
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total frustriert über ihre Eltern, der dominante Vater jedoch fest entschlossen, die Zügel in der Hand zu behalten, und trotzdem unglücklich. Dicke Luft. Heute ist das eher sel ten, so gut wie nie möchte ich bei einer Weinprobe einfach nur flüchten. Nicht nur die Winzerjugend hat sich geändert, sondern auch die Generation ihrer Eltern. Rudolf Sinß, der das Gut seit etwa 20 Jahren führt, freut sich ungemein, dass sein Sohn Johannes nicht nur Winzer werden will, sondern auch in Geisenheim so viel lernt. Er will ihm den bestmöglichen Start im Betrieb ermöglichen. Deswegen wurde der Ver kostungsraum neu gestaltet, mit roten Lederbänken als starkem Kontrast zum alten Fachwerk. Das klingt wie ein unwesentliches Detail, aber hier wird Johannes Kunden und Fachwelt seine Weine präsentieren. Es ist seine Bühne, warum sollte die nicht zu ihm passen? Seit er in Geisenheim studiert, macht Johannes die Weine zusammen mit seinem Vater, eine Kooperation, die bestens funktioniert und harmonisch abläuft. Beide schei nen gern voneinander zu lernen. Johannes will den Weinen noch stärker seine eigene Handschrift verleihen und die Richtung, die er anstrebt – ausdrucksstark, aber keinesfalls dick oder wuchtig, sondern filigran und fruchtbetont –, gefällt seinem Vater richtig gut. Sosehr beide Sinß-Generationen vom Riesling auch begeistert sind, es geht hier kei nesfalls nur um diese eine Sorte. Während der letzten Jahre hat das Weingut viel Aufmerk samkeit mit den Weinen aus den sogenannten Burgundersorten Weißburgunder, Grau burgunder (auch eine weiße Traube) und (blauem) Spätburgunder erregt. Sie heißen so, weil sie alle ursprünglich aus Burgund in Frankreich stammen. In Deutschland sind sie seit vielen Jahrhunderten zu Hause, und Jungwinzer in diversen deutschen Weinbaugebie ten haben in den letzten Jahren für Furore mit Weinen aus dieser Traubensorte gesorgt. Johannes Sinß ist ein tolles Beispiel dafür. Schon mit seinem ersten Jahrgang siegte sein trockener Weißburgunder „S“ beim großen jährlichen Wettbewerb der IHK in Kob lenz. Der Wein hatte das, was alle trockenen Sinß-Weißburgunder und -Grauburgunder auszeichnet: Sinnliche Geschmeidigkeit und lebhafte Fruchtaromen halten sich exakt die Waage, bei deutlich weniger Säure als im Riesling. „Wir lassen einen kleinen Teil des Weins im Barrique reifen, also in kleinen neuen Holzfässern, aber der Holzgeschmack soll nur ein wenig unterstützend wirken. Die fruchtigen Aromen sollen unbedingt im Mittelpunkt bleiben.“ Das ist die urdeutsche Vorstellung von der Weintraube als Wert und dem daraus ent stehenden Wein als Reinkarnation der Traube (die Traube muss sterben, damit der Wein zum Leben erweckt werden kann). Es klingt ein wenig religiös, aber hier im deutsch sprachigen Raum wird seit Generationen die Reinheit des Weins für wichtig gehalten.
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Geisenheim hat Johannes Sinß eine Art Werkzeugkasten voller Wissen und Methoden mitgegeben, womit er diese Idee noch besser umsetzen kann als sein Vater oder die Ge nerationen zuvor. „Mein Ziel ist es, an die vorherige Generation anzuknüpfen“, erzähl te er mir neulich, „bei den gleichen Rebsorten zu bleiben, auch bei dem eher schlanken Windesheimer Weintyp, aber hoffentlich weiter nach oben zu kommen.“ All das war für mich sehr inspirierend für die Bearbeitung meines eigenen Weinbergs im Sommer 2009. Als ich bei dem Versuch, auf dem steilen, steinigen Muschelkalkboden des Hasennests nicht abzurutschen, schier verzweifelte und die Reben nicht das machten, was ich wollte, verliehen mir meine Vorbilder Johannes Sinß und die anderen Jungwin zerfreunde immer wieder neuen Antrieb. Die Reben bereiteten mir unter anderem deshalb Probleme, weil der Boden zu reich an Stickstoff gewesen ist, dem wichtigsten Planzennährstoff. Bevor der Weinberg in den Händen meines Gastgebers Christian Stahl landete, war dort eindeutig zu viel chemischer Stickstoff gestreut worden. Die Reben brauchen diesen Nährstoff um zu wachsen, aber durch ein Überangebot kann der Winzer veranlassen, dass sie noch größere Trauben be kommen. Das Problem ist, dass große Trauben plus dschungelartigem Reblaub zu dün nem grünen Wein führt. Das war natürlich nicht mein Ziel. Ich wollte einen Wein erzeugen, der meine Jungwin zerfreunde begeistern würde. Ein Tropfen, der beweisen würde, dass trockener MüllerThurgau aus dem vergessenen und völlig unterschätzten Taubertal mit teuren und edlen Größen mithalten kann (mehr zum Thema Müller-Thurgau folgt im Kapitel 13). Wenn ein Jungwinzer wie Klaus-Peter Keller im rheinhessischen Flörsheim-Dalsheim für seine Großen Gewächse die teuersten Weißweine aus Burgund als Messlatte nehmen kann, dann kann ich ebenfalls für meinen Wein seine Großen Gewächse als Maßstab neh men … Das war natürlich ein wenig wahnsinnig vom Autodidakten Stuart Pigott, aber wenn man keine hohen Ziele anstrebt, wie soll man dann weiter nach oben kommen? Das Ganze setzte enormen körperlichen Einsatz voraus, der von mir viel Durchhal tevermögen verlangte. Der Rebschnitt fand komplett bei Minustemperaturen statt, am letzten der drei Tage lagen 20 Zentimeter Schnee. Die Stahls fanden es schon abenteu erlich, 10 Kilometer durch eine Schneewüste zu fahren, um zum Weinberg zu kommen. Dann schneite es weiter wie verrückt, meine Handschuhe lösten sich vor meinen Augen auf, und mein iPod streikte … Aber ich wurde mit dem Rebschnitt fertig. Ja, ich empfand die Arbeit sogar als beruhigend, meditativ. Die Fahrt auf dem Sitzpflug im Frühling zur Lockerung und Belebung des Bodens machte dagegen richtig Spaß. Man „reitet“ auf diesem Pflug, der von einer Seilwinde am
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Traktor gezogen wird. Manche nennen das Winzer-Rodeo, weil die Gefahr besteht, dass der Pflug an einen großen Gesteinsbrocken im Boden stößt, wodurch der Fahrer vom Wagen geworfen wird, ähnlich wie der Reiter beim Rodeo vom Pferd. Auf sehr steinigen Hängen wie dem Hasennest ist das eine realistische Gefahr, aber ich hatte Glück, und obendrein war es ein sonniger Apriltag. Weinbau ist doch schön! Als brutal hart entpuppte sich hingegen das Bändigen des Unkrauts mit der Hacke – in erster Linie ein Kampf zwischen mir und den Disteln. Sie sind oft die einzigen Hin terbliebenen eines übertriebenen Einsatzes von Herbiziden in den Vorjahren, denn sie wurzeln so tief, dass sie den Angriff der „Chemiekeule“ überleben. Für einen Durchgang – zehn Rebzeilen lang immer wieder neue Einzelkämpfe zwischen den Disteln und mir mit der Hacke – habe ich neun Stunden geschwitzt. Am Ende des härtesten Arbeitstags mei nes Lebens feierte ich einen vorübergehenden Sieg über meine stacheligen Gegner. Ich war so kaputt, dass mir jeder flache Weg wie ein Steilhang vorkam. Ein wenig Abenteuer muss sein. Und ich hatte Hunger wie seit Jahren nicht mehr. Das war gut, weil an dem Abend Christian Stahl und seine Frau Simone kochten. Ich konnte in der Hängematte liegen und die geniale trockene Scheurebe „Rauschgift“ der Stahls trinken, ein ziemlich guter Stoff. Nach dem Essen kam weiterer Wein ins Glas, und wir setzten unser abendliches Ritual fort mit einem Film. Ein typischer Pigott-Besuch bedeutete zwei Übernachtungen. An einem Abend kochte ich und wählte die DVD aus, am nächsten Abend waren die Stahls an der Reihe. Das Ziel war immer, die anderen mit dem Film zu überraschen. Christian zeigte mir ziemlich viele Filme von Quentin Tarantino und schenkte ziem lich viel seiner explosiv-aromatischen, blitzig-frischen trockenen Weißweine ein. Für man che sind die Filme von Tarantino zu plakativ, genauso geht es anderen mit den Stahl’schen Weinen. In beiden Fällen interessiert das den Künstler nicht im Geringsten, sie finden immer genug Menschen, die sich dafür begeistern. Es hat eine Weile gedauert, aber ei nes Filmabends wurde es mir klar: Christian Stahl ist der Quentin Tarantino des trocke nen Weißweins. Auch wenn ich ganz andere Filme aussuchte als er und er ein ganz anderer Typ ist als ich, sprechen wir dank Geisenheim eine gemeinsame (Fach-)Sprache. Das war sehr hilfreich, denn so konnte Christian meine Ideen verfolgen und mir zeigen, wo irgendein Gedanke nicht ganz logisch war. Horst Sauer aus Escherndorf, Frankens berühmtester und begnadetster Winzer, lieferte ebenfalls wertvolle Ratschläge. Er ist auch ein MüllerThurgau-Fan, wenn auch deutlich bekannter für seine trockenen Silvaner und Rieslinge als Christian.
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Helmut Reh, der ehemalige Physiotherapeut, den ich in Geisenheim kennengelernt habe, rettete mich Mitte August bei der letzten großen Arbeitsrunde vor der Lese. Ohne sein überraschendes Erscheinen und seinen körperlichen Einsatz hätte ich das „Fine Tu ning“ im Weinberg zeitlich nicht geschafft. Es war 32° Celsius heiß und schwül. Um mein Ziel zu erreichen, musste ich dafür sorgen, dass jede meiner Trauben so hing, dass sie die Morgensonne abbekam, aber nicht zu viel von der Nachmittagssonne. Sie sollten nicht von anderen Trauben oder Blättern eingeklemmt sein, was bei Regen eine Einladung für Fäulnis gewesen wäre. Ganz akribisch kümmerte sich Helmut darum. Und dann konnte ich nur noch hoffen. In meiner Zeit bei den Stahls wurde der hintere Teil des Betriebsgeländes komplett umgestaltet. Ein Stück Garten fiel dem Bau eines neuen Kellers zum Opfer. Als die Fun damente gegossen wurden, fragte ich mich, wie das Ganze bis zur Lese fertig werden soll te. Doch dann wuchs das „Stahlwerk“ in rasantem Tempo und war schon Mitte August quasi fertig, inklusive einer riesigen Solaranlage auf dem Dach. Wie hat er das geschafft, wenn lauter andere Winzer in halbfertigen Kellerneubauten eine Lese bewältigen müs sen, weil solche Vorhaben quasi nie planmäßig fertig werden? Ein wahres Wunder und gut für mich, denn Ende September oder Anfang Oktober sollten auch meine Trauben unter diesem neuen Dach zu Wein werden. Unweit von Geisenheim gibt es ein anderes Weinwunder. Die Garage Winery in Oes trich/Rheingau gehört dem Amerikaner Anthony Hammond und seiner deutschen Frau Simone Böhm, die sich beim Studium in Geisenheim kennengelernt haben. Heute wirkt das kleine Anwesen unweit vom schönen Friedensplatz einladend, war aber bis zum Um bau Anfang 2010 eher als alternativ zu bezeichnen. Die beiden Winzer sehen auch ziem lich alternativ aus, vor allem Anthony mit seinem langen Pferdeschwanz. Vor etwa einem Jahrzehnt gründeten sie in improvisierten Räumlichkeiten ihr Garagenweingut. Diesen Schritt hatte in Deutschland Karl-Heinz Johner in Bischoffingen/Baden als Erster gewagt. Er genießt längst einen Topruf und hat die Garage durch einen modernen stilvollen Weinkeller ersetzt. Eigentlich darf man die „Garagen-Karte“ nicht ziehen, weil der Lebensmittelaufsicht am liebsten Weinkeller sind, die wie ein OP aussehen. Hinzu kommt, dass in Deutschland ein Betriebsgebäude ein Betriebsgebäude sein muss. So hät te Microsoft in Deutschland laut Gesetz nicht in einer Garage gegründet werden können. Kurz nachdem ich in Geisenheim anfing, fuhr ich eines Abends mit dem Fahrrad zu Anthony und Simone. Es war zur Halbzeit der Weinlese. Ihre Weine waren immer gut gewesen, trotz der etwas improvisierten Technik. Vor allem die Kühlung, um die Gärung zu bremsen, hatte ihnen zu einem Sprung nach vorn verholfen. Denn wenn die Trauben
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zu schnell gären, wird der entstehende Wein immer wärmer, wodurch viele Aromastoffe quasi in die Luft gepustet werden und flöten gehen. Der Keller mit lauter kleinen Edelstahltanks auf Rädern, die Anthony günstig ge braucht von Milcherzeugern gekauft hatte, wirkte ein wenig wie ein Jugend-forscht-Pro jekt. Aber Einstein fing auch nicht in einem Riesenlabor an. Manche Weine von Garage Winery sind im besten Sinne des Wortes gebastelt. Die beiden erwarben gute Weinberge, die niemand haben wollte, meist weil die da wachsende Traubensorte mega-out war, und machen jetzt richtig gute Weine aus den Trauben. Ein Beispiel dafür ist der „Paradise Garage“, eine fast trockene Scheurebe mit wun derbarem Grapefruitaroma und von herrlicher Saftigkeit. So etwas mag in Rheinhessen cool sein, aber im erzkonservativen Rheingau ist es schlichtweg unmöglich. In demselben Maß verstoßen Anthony und Simone gegen die inoffizielle Riesling-Diktatur dieser Region mit ihrem trockenen Traminer mit feinem Rosenduft, dem sanften Auxerrois (ein selte ner Verwandter der Weißburgundertraube) sowie ihrer „Minis“ bzw. Weinkreationen in 0,25 Literflaschen mit Kronkorken. „2006 haben wir mit den kleinen Flaschen begonnen. Wir fragten uns, warum es so viele Breezers und Alkopops in kleinen Flaschen gibt, aber keinen Wein. Später haben wir uns gefragt, ob es tatsächlich eine gute Idee gewesen ist, denn nur wenige konnten damit etwas anfangen“, erzählte Anthony, „aber jetzt läuft es richtig gut.“ Warum? Weil das Zeug lecker ist. Genauso funktioniert ihr nicht weniger gewagt erscheinender Riesling „Wild Thing“. Auf dem Etikett fliegen Farbfetzen in alle möglichen Richtungen wie bei einer Explo sion in einem Comic. Der Duft wirkt ziemlich ähnlich, dank der Vergärung mit soge nannten wilden Hefen bzw. ohne Zusatz von moderner gezüchteter Hefe (in Form von Pulver in Tüten), wie sie überall auf Planet-Wine ganz normal sind. Als mit „mehr Speck und Schmelz“ beschrieb Anthony seine nicht ganz trockene Kreation. Man könnte auch „BANG!“ sagen, und das steht auch auf dem Etikett. Ich erkundigte mich vorsichtig nach dem Alter der beiden und war ein wenig baff, dass sie Mitte 30 und er schon Ende 40 ist. Von daher lag ich als Jungwinzer in Deutsch land gar nicht so weit über der Norm. Für den „normalen“ Weintrinker ist die Weinlese der Höhepunkt in seiner Vorstel lung der heilen Weinbau-Welt. Alles badet dann in goldenem Licht – oder hat es nicht so gar eine heilige Aura? Glückliche Menschen, für die die Lese mehr Urlaub als Arbeit ist, schneiden die Trauben mühelos von den Reben. Leider sieht die Realität ganz selten so aus. Ich absolvierte meine erste Weinlese Ende der 1980er-Jahre an der Mittelmosel und
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weiß seitdem, dass die Weinlese in Steillagen Knochenarbeit bedeutet, der Winzer außer dem von Stress geplagt wird, weil ein Unwetter seine Trauben schlagartig vernichten oder Fäulnis sie (manchmal kaum langsamer) verderben könnte. Hektisch ist es fast immer. Weil ich die Wochen vor der Lese im Urlaub war, mailte mir Christian Stahl in gewis sen Abständen Fotos meiner Trauben, die immer gelber wurden. 2009 war der Spätsom mer lange warm und trocken, was ein Segen war nach dem nassen Frühsommer, als ich Angst vor massivem Befall mit falschem Mehltau hatte. Dank Christians Aufmerksamkeit während meiner Abwesenheiten kam ich mit einem halben blauen Auge davon. Ende September schrieb ich endlose SMS und hing am Telefon, um meine Lese truppe zusammenzubekommen. Ein paar Freunde aus Geisenheim kamen, andere reis ten aus Berlin an. Eine Handvoll Journalistenkollegen, vor allem Fabian Hähnlein von der Fränkischen Landeszeitung und die Gebrüder Lange meldeten sich als Beobachter an. Am Mittwoch den 30. September würde es Action geben … oder Regen. Als ich am 29. September von Frankfurt nach Würzburg mit dem ICE fuhr, trübte sich der Himmel. Christians Vater Albrecht, der mich abholte, beruhigte mich: „Es bleibt trocken.“ In Auernhofen bewirtete ich meine Lesetruppe und die Stahls, so gut ich nur konnte. Es gab überraschende Verstärkung für das Pigott-Team: Nico Espenschied kam unangemeldet aus Geisenheim. Auch der Weinfotograf Andreas Durst war mit von der Partie. Ich schlief schlecht, und am nächsten Tag gab es erst mal ein ziemliches Chaos, weil parallel die reguläre Lese der Stahls lief und die Kommunikation zwischen Christian und mir zum allerersten Mal versagte. Endlich traf um kurz vor 11 Uhr das bunte Pigott-Team bei grauem Himmel und 19° C am Fuße des Weinbergs ein – aber es blieb trocken. „Essig!“, rief Nico mit großer Überzeugung. Viele Trauben waren goldgelb, bestan den aber zum Teil aus braunen und geschrumpften „edelfaulen“ Beeren. Mit dem ed len Weinpilz Botrytis cinerea (mehr darüber in Kapitel 6) lassen sich oft noch andere Pil ze auf den Trauben nieder, sodass es zur Essigfäule kommt. Essigfaule Trauben können den ganzen Wein verderben. Ich gab dem Team klare Anweisungen, die edelfaulen und die guten Trauben in getrennte Eimer zu geben und alles wegzuwerfen, was nach Essig roch. Und dann los! Aufgrund der Langsamkeit, mit der sich das Team bergauf bewegte, wurde mir bald klar, dass uns diese Vorgehensweise mächtig Zeit kosten würde. Journalisten kamen und gingen, um Interviews mit mir zu machen. Danach fragten Cornelius und Fabian Lange nach Lesescheren und machten einfach mit. Wunderbar! Nach sechs Stunden waren wir in jeder Hinsicht fertig. Gruppenfotos und allgemeine Erleichterung folgten.
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Mein Ziel hatte bei etwas über 600 Kilo Trauben gelegen, aber das Ergebnis sah nach deutlich weniger aus. Zumindest schmeckten die goldgelben Trauben richtig gut. Im „Stahlwerk“ jagte ich dann zuerst die goldgelben, dann die (hoffentlich edel-)faulen Trauben durch den Entrapper. Dieses Gerät entfernt die Stiele der Trauben, auch Rappen genannt, und quetscht die Beeren sanft an, die dann als sogenannte Maische in einem Behälter landen. Am Ende waren die beiden Maische-Behälter halbvoll. Durch das Quetschen werden Aroma- und Mineralstoffe aus der Beerenhaut gelöst, ein Prozess, der die sogenannte Maischestandzeit von einigen Stunden erfordert – je län ger sie dauert, umso mehr solcher Stoffe kommen in den Wein. Zu viel Aroma kann es kaum geben, aber zu viele Gerbstoffe, die dabei ebenfalls aus der Beerenhaut gelöst wer den, machen Weißwein pelzig wie Rotwein, was meist unerwünscht und geschmacklich ge wöhnungsbedürftig ist. Trotzdem entschied ich mich für volle 15 Stunden Wartezeit, um mein Ziel – einen außergewöhnlich kräftigen, ausdruckstarken trockenen Müller-Thur gau – vielleicht erreichen zu können. Es war ein aufregender Moment am nächsten Vormittag, als der erste Traubenmost von der Kelter floss. Im Zeitalter von vollautomatischen Keltern ist dieser Teil der Wein erzeugung eigentlich eine Leichtigkeit: Trauben mithilfe eines Gabelstaplers in die Kel ter kippen, das Gerät schließen, dann Knopf drücken. Frischer Traubenmost ist ziemlich trüb und muss geklärt werden, um einen sauberen Wein zu erhalten. Für mich wie für Christian kommt nur Absetzen durch Schwerkraft infrage; oft geschieht das über Nacht. Deshalb war ich überrascht, als Christian mich aus meinem Mittagsschlaf weckte mit der Nachricht, der Most hätte sich schnell und gut geklärt. Die nicht mal 200 Liter klarer Most aus den goldgelben Trauben pumpten wir sofort in einen Edelstahlgärtank, dann trennten wir mit viel mehr Mühe den nicht ganz so kla ren Most aus den edelfaulen Trauben von den reichlich vorhandenen Trübstoffen. Noch eine Überraschung: Diese 50 Liter Most rochen und schmeckten sehr gut. Von Essig war gar keine Spur. Ich entschied aus dem Bauch heraus, ihn zu dem anderen in den Gär tank zu pumpen. Dieser dickflüssigere Stoff hatte 50 Prozent mehr Zucker als der aus den goldgelben Trauben und würde meinem Wein Fülle geben und den Alkoholanteil erhö hen … oder ihn einfach zu hochprozentig werden lassen. „Jetzt brauchst du Hefe!“, sagte Christian. Mein Vater fährt dich, um sie abzuholen.“ Ich hatte lange zuvor entschieden, weder die gleiche zuverlässige gezüchtete Hefe wie Christian zu verwenden, noch mich auf eine wilde Hefe aus dem Weinberg oder die Kel lerluft zu verlassen. Statt ein zu großes oder zu geringes Risiko einzugehen, wollte ich ei nen sogenannten Gäransatz bzw. 10 Liter kräftig gärenden Müller-Thurgau aus einem
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anderen Keller holen, in dem die Weine seit Jahren mit wilder Hefe zuverlässig gären. Die trockenen Weißweine vom Weingut Luckert in Sulzfeld/Franken sind zuverlässig gut bis sensationell! Als wir dort ankamen, sah der drahtige Ulrich Luckert ziemlich abgekämpft aus – Weinlese … Doch er war glücklich mit den bisherigen Ergebnissen und freute sich, mich zu sehen. Wir zapften die 10 Liter Most aus einem Holzfass in zwei nicht ganz so romanti sche Plastikkanister ab und fuhren quer durch Franken zurück ins „Stahlwerk“, wo dann um 19 Uhr der Gäransatz zum Most kam. Am nächsten Morgen um 9 Uhr gluckerte es in meinem Tank – die Gärung hatte eingesetzt, die Luckert-Hefe fühlte sich wohl in mei nem Most! Glücklich und geschafft reiste ich zurück nach Berlin. Weinmachen ist nicht so romantisch, wie es klingt, kann aber sehr spannend sein, wenn man nicht alles nutzt, was für die „moderne Kellerwirtschaft“ angeboten wird. Wenn man minimalistisch arbeitet, lebt der Wein. Dem Winzer stehen genug „sanfte Mittel“ zur Verfü gung, um ihm viele Möglichkeiten zu geben, den Wein in eine bestimmte Richtung zu len ken. Und das ist die hohe Kunst des Weinmachens. Es war mein erstes Mal, aber ich hatte sehr gute Berater und Helfer. Ich hatte einen Plan, aber ich war entschlossen, ihn nicht nur stur zu verfolgen, sondern alle Entscheidungen nach dem Geschmack meines Weins zu treffen. Die erste Überraschung bestand darin, wie problemlos die Gärung verlaufen war. In nerlich war ich auf Schwierigkeiten, Angst und Bangen gefasst, aber nach zwei Wochen war kein Traubenzucker mehr zu schmecken, mein Wein also durchgegoren. Vor der ers ten Begegnung mit ihm hatte ich schon Bauchweh, aber für Christian Stahl schmeckte er nach Kokos und Gewürznelken. Enorme Kraft zeigte er, im Nachgeschmack spürte ich aber ein wenig Alkohol. Mir blieben einige Monate, um ihn behutsam so zu lenken, dass der Alkohol nicht mehr spürbar sein würde. Minimalistisch im Keller bedeutet auch, den natürlichen Prozessen so weit wie mög lich zu vertrauen, ohne den Wein entgleisen zu lassen. Zuerst rührte ich das Hefedepot von der Gärung etwa einmal wöchentlich auf. Da war der Wein noch „splitternackt“, also ohne den an sich unentbehrlichen Schwefel, der Wein konserviert. Durch Rühren des Hefedepots wird ein embryonaler Wein wieder frisch, was man auch sieht: Die Farbe wechselt von gelblich (was auf Oxidation deutet) zu grünlich (was auf Frische deutet). Dadurch gewinnt der Wein auch Geschmacksstoffe, die ihn cremiger und harmonischer wirken lassen. Erst Mitte November stellte ich beim Aufrühren der Hefe fest, dass der Wein da durch keine Frische mehr gewann – er blieb gelblich. Da war klar, dass eine bescheidene Menge Schwefel in Form von schwefliger Säure zugegeben werden musste, um den Wein
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vor dem Oxidieren zu schützen. Denn Letzteres stand nicht auf meinem Plan und muss te vermieden werden. Bei jedem meiner Besuche bei den Stahls im Winter 2009 /2010 verkostete ich mei nen Wein blind zusammen mit Christians Weinen. Erst Ende Januar fand das Ritual im Sitzen am Tisch statt und nicht mehr im Keller im Stehen. Das ist der Moment für das Treffen von grundlegenden Entscheidungen. Immer noch lag der Wein auf dem Depot aus Gärhefe, und dies machte sich nun stark bemerkbar. Eine an Leberwurst erinnern de Note drängte sich auf. Zeit, um den Wein zu filtern und somit zu klären, entschied ich, was ihm auch guttat. Christians Beschreibung meines Weins in dieser Entwicklungs phase gefiel mir sehr gut: „Einen fetten Arsch hat er, aber auch eine schlanke Taille und ein hübsches Gesicht.“ Dann stand nur noch das Abfüllen auf dem Plan. Das ist ein rein technischer Vor gang, aber er muss sehr akribisch durchgeführt werden, wenn der Wein später in optima ler Form ins Glas fließen soll. Am Nachmittag des 24. März füllten Christian und Simo ne Stahl mithilfe ihres Mitarbeiters Benedikt Buchert und mir drei mengenmäßig kleine Weine inklusive meines eigenen ab. Nur 264 Flaschen ergab meine Mühe im Weinberg, nach 200 Stunden Arbeit. Aua! Die ganze Arbeit hat mir mehr Spaß gemacht, als ich vorher für möglich gehalten hätte. Bin ich doch ein geborener Winzer? Nein. Die harte, sich immer wiederholende Arbeit im Weinberg musste genau durchgeführt werden, um immer weiter Richtung Ziel zu kommen, und das empfand ich als sehr positiv. Bei der wesentlich leichteren Arbeit im Keller musste ich mir viele Gedanken machen, um so behutsam wie möglich das Beste zu gewinnen: zuerst den Most aus Trauben, dann Wein aus dem Most, um schließlich den Wein in seiner ersten Reife vor der Abfüllung zu begleiten. Durch das Ganze habe ich ein ganz anderes Gespür für Wein entwickelt. Es funktionierte, weil die deutschen Jungwin zer mir gezeigt haben, dass Weinmachen im besten Sinne eine kreative Beschäftigung ist. Inzwischen bin ich 50 Jahre alt und offiziell nicht mehr jung, aber ich finde, das ist Blödsinn, wenn man von den grauen Haaren absieht. Das eigentliche Alter spielt keine Rolle und ist das geringste Problem, wenn der Geist jung bleibt. Dann will man auf die nächste Weinparty oder sogar in den Weinberg! PS: Wie der Wein schmeckt? Jeder muss für sich entscheiden. Ich versuche, die wenigen Flaschen möglichst weit zu streuen und die Urteile vieler zu sammeln, von meinen Stu dienfreunden und Professoren in Geisenheim bis hin zum Besucher meiner Veranstal tungen. Vielleicht kommen Sie auch in den Genuss und teilen mir Ihre Meinung mit?
Rotwein Revolution
Rotwein Revolution: deutsch rot und richtig toll Aus blauen Trauben wird nach der Lese während der weiteren Verarbeitung im Keller ro ter Wein. Manche Winzer stampfen sie bzw. die Maische aus zerquetschten Trauben immer noch mit ihren Füßen, die sich dabei schnell verfärben. Der Unterschied zum Weißwein ist aber nicht nur farblicher Natur. Weiße Trauben werden mehr oder weniger unmittel bar nach der Lese gekeltert und der klare Saft durch Hefe vergoren, während für Rotwein quasi die ganzen Trauben zunächst vergären und der Wein erst anschließend gekeltert wird. Dann reift der dunkelfarbige Rebensaft erst mal lange im Fass – in der Regel immer noch in einem Holzfass – im Keller, oft tatsächlich unter der Erde. Wer mag dieses Bild nicht, das wir vor allem mit Frankreich, Italien und Spanien, aber inzwischen auch mit Überseeländern verbinden? Noch schöner finden wir es natürlich, wenn der Wein aus seinem gläsernen Gefängnis, der Flasche, befreit wird und sich tiefes Rubinrot ins große, bauchige Glas ergießt. Diese Farbe passt wunderbar zur deutschen Gemütlichkeit, und am besten genießt man den Wein zu zweit vor einem Kamin – das ist
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einfach romantisch. Für schweren Rotwein zahlen wir vielleicht auch deswegen gern mehr als für den farbschwachen Weißwein, der „nur“ erfrischt. Er erscheint uns wie eine wert volle Botschaft – flüssiger Sonnenschein – aus dem Süden an uns auf der Nordseite der Alpen. Und wer hat noch nicht gehört, dass eine kleine Menge Rotwein gut fürs Herz ist? Ja, in Deutschland hängen wir mit Herz und Seele am Rotwein. Selbst die meisten Gelegenheitskonsumenten haben festgestellt, dass kräftige Rot weine ganz anders schmecken können als frische Weißweine. Guter Rotwein packt den Gaumen ganz anders an als frischer Weißwein, er fließt nicht so leicht die Kehle hinun ter und wird deswegen als schwer empfunden. Was steckt hinter diesem offensichtlichen geschmacklichen Unterschied? Was verursacht die Schwere und Wärme eines starken Rotweins? Um diese Fragen zu beantworten, bin ich weit gereist, saß viele Stunden im Zug. End lich stehe ich in einer herrlichen Weinlandschaft, die völlig anders ist als meine Wahlhei mat Berlin. Es ist Mittag, und die Sonne prallt auf die steilen, von Reben bewachsenen Hänge in einem felsigen Tal. Weinlaub in einem satten Grün unter knackblauem Him mel, toll. Wer jetzt in den Weinberg geht, ist entweder wahnsinnig oder hitzeresistent! Die Vernünftigen unter uns suchen den Schatten und nehmen eine kühle Erfrischung. Wagt sich jemand dennoch in die Reben, findet er dort tiefblaue Trauben vor. Die Szene hat etwas Südländisches, und auch ich denke ans Mittelmeer, Strände, Ba dehose und Bikini, Eiscreme … Der Süden ist eindeutig die gefühlte Himmelsrichtung, denkt man an Rotwein. Wir sind aber immer noch in Deutschland und befinden uns fast am nördlichsten Punkt, wo Wein angebaut wird, und zwar im Ahrtal zwischen Koblenz und Bonn. Das Ahrtal ist wegen seiner reizvollen Landschaft und aufgrund der Nähe ein belieb tes Ausflugsziel für Bonner und Kölner. Man könnte meinen, dass die Erzeugung von Rot wein hier im „hohen Norden“ des Weinbaus nur eine opportunistische Marketingstrate gie der Winzer ist. Nutzen sie den globalen Rotwein-Boom, um ihre Erzeugnisse leichter und teurer an die zahlreichen Touristen zu verkaufen und die Kassen klingeln zu lassen? Diese Vermutung stimmt aber nicht. Rotweinanbau hat hier eine sehr lange Tradition, die seit wenigen Jahren wieder mächtig belebt wird. Zu Recht glaubt der „normale“ Weintrinker aus dem Bauch heraus, dass Wärme und Trockenheit wie im Mittelmeerraum gute Voraussetzungen für die Erzeugung von kräfti gen Rotweinen sind. Dahinter stecken biochemische Prozesse, die Wissenschaftler inzwi schen ziemlich gut nachvollziehen können. Wir beschreiben sie jetzt nicht fachwissen schaftlich, denn das Ganze ist auch in wenigen alltäglichen Worten leicht zu vermitteln.
Rotwein Revolution
Auf den Punkt gebracht, zwingt Wassermangel im Boden die Rebe dazu, Gerbstoffe zu produzieren, und Wärme fördert diesen Prozess ganz erheblich. Unzählige Gerbstoff moleküle verwandeln die Beerenhaut in eine Art natürlichen Schutzschild gegen die Hitze. Die Weinrebe ist wie gesagt kein Kaktus und weiß ihre Früchte mit den wertvollen Samen wohl zu schützen. Gerbstoffe sind die wichtigsten Inhaltsstoffe, weswegen Rotwein anders schmeckt als Weißwein. Sie sind für das pelzige Gefühl im Mund verantwortlich. Es stimmt, dass Rotwein tendenziell reicher an Alkohol ist und einen geringeren Säuregehalt als Weißwein hat. Da durch wird die Schwere eines guten Rotweins nur unterstrichen; Ursache sind die Gerb stoffe. Sie gehören zur selben Familie wie die Stoffe, die zu lange gezogenen Schwarztee (Wer hat noch nicht irgendwann den Beutel zu lange in der Tasse hängen gelassen?) pel zig schmecken lassen, gleichzeitig aber auch einem guten Darjeeling seine Kraft verleihen. Rotweine mit wenig Gerbstoff gibt es auch, sie sind oft fruchtbetont im Aroma und sind eher saftig statt herb. Viele günstige, leichte Rotweine im Supermarktregal fallen in diese Kategorie, vor allem die aus Übersee, wo in den letzten Jahrzehnten ihre Erzeu gung perfektioniert wurde. In diesem Zusammenhang bezieht sich „leicht“ aber nicht auf den Alkoholgehalt. Ein Rotwein dieses Typs kann durchaus 14 Prozent Alkoholge halt haben und eine beachtliche Farbtiefe besitzen; ihre „Leichtigkeit“ bezieht sich näm lich auf den Trinkfluss. Es mag erstaunlich klingen, aber solange der Sommer nicht schlecht ausfällt, ist es an der Ahr durchaus warm und trocken genug, um diverse blaue Traubensorten mit ei nem ganz ordentlichen Gerbstoffgehalt auszustatten. An erster Stelle steht der edle Spät burgunder mit 61 Prozent der insgesamt 560 Hektar großen Anbaufläche, der in seiner Heimat Burgund Pinot Noir heißt. Aus dieser Traube werden dort viele Rotweine zu di cken zwei- oder gar dreistelligen Europreisen gewonnen, der Grand Cru Romanée-Conti der Domaine de la Romanée-Conti hat sogar einen vierstelligen Preis. Aua! Die felsigen Hänge des Ahrtals sind mit ihren steinigen Schieferböden für die Erzeu gung von guten und großartigen Rotweinen prädestiniert. An einem heißen Sommertag wie diesem herrschen in den steilen Weinbergen tatsächlich fast mediterrane Verhältnis se. Dank klimatisch günstiger Nischen wie diesem geschützten Ort kommen auch nörd liche Breiten für den Anbau von Rotwein infrage, sodass Deutschland für die Erzeugung von beachtlichen Rotweinen durchaus geeignet ist. Natürlich kommt die Klimaveränderung den Rotweinerzeugern entlang der Ahr ent gegen, ebenso wie ihren Kollegen in all den anderen deutschen Weinbaugebieten. Dort ist die Jahresdurchschnittstemperatur um 1º Celsius gestiegen im Vergleich zur Mitte des
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letzten Jahrhunderts, der August ist durchschnittlich sogar um 2º Celsius wärmer gewor den! Erst wenn es auch für uns schön warm wird, fangen die Reben richtig an, Gerbstoffe zu entwickeln – ein wahrer Kraftakt, der sie sehr viel Energie kostet. Die Umstände müs sen „richtig“ sein, damit eine blaue Traubensorte wie der Spätburgunder, der von Natur aus wenig Gerbstoff enthält, damit jedoch von der Rebe reichlich versorgt wird. Sie muss also von den Umständen regelrecht gezwungen werden. Ein guter Rotweinerzeuger schaut bei diesem Vorgang nicht bloß zu, sondern ist da mit beschäftigt, diesen Prozess zu fördern, indem er ihn optimiert. Bei dem Hang, vor dem ich stehe, handelt es sich beim zugehörigen Winzer allerdings um eine Sie, nämlich Meike Näkel, gerade 30 Jahre alt. Die hochintelligente, feinfühlige junge Frau führt den Familienbetrieb Weingut Meyer-Näkel in Dernau zusammen mit ihrer zwei Jahre jünge ren Schwester Dörte. Sie hat vor Kurzem mit ihrem Freund Markus Klumpp, der ebenfalls sehr gute Rot weine zu Hause auf dem Weingut Klumpp in Bruchsal/Baden erzeugt, einen Wanderur laub im Himalaja unternommen: Sie mag Berge. Das muss sie auch, wenn ich den stei len Hang vor mir so anschaue, sonst wäre die Arbeit darin nicht nur hart, sondern reine Qual. Ich stamme aus einer Ebene und lebe in einer Ebene, aber die Berge ziehen mich seit meiner Kindheit an. Ich schaue gern an ihnen hinauf, vor allem auf solche spannen den Weinberge wie diesen, auch weil ich wie schon erwähnt unter Höhenangst leide. Aber heute muss ich mit Meike Näkel in den Berg, um mehr über die Mysterien des Rotweinan baus zu erfahren. Hoffentlich kann ich mit ihr Schritt halten. Zuerst die steinerne Trep pe von der Straße zu den Reben, dann fängt das Weinbergsteigen an! Beileibe nicht jeder große Rotwein wächst auf solch steilen Hängen. Um Bordeaux etwa sind bereits sanfte Hügel eine Ausnahme, und flaches Gelände ist eher die Norm. Meine geschätzte Kollegin Jancis Robinson hat einmal geschrieben, Weinberge sähen oft so langweilig wie Kartoffelfelder aus, und meinte damit Weinberge wie diesen. Wenn man sich aber mal die Lage vor Ort genauer anschaut, stößt man schon auf einige Besonder heiten. Die Böden, auf denen die teuersten und berühmtesten Gewächse des Médoc in Bordeaux wachsen, bestehen überwiegend aus Kies, und an manchen Stellen ist der so weiß, dass man bei Sonnenschein geblendet wird. Bis niederländische Ingenieure im Laufe des 17. Jahrhunderts die Region trocken gelegt hatten und damit die Grundvoraussetzungen für den Weinbau im großen Stil ge schaffen waren, war das Médoc ein Sumpfgebiet mit lediglich wenigen kleinen Rebenin seln an den trockensten Stellen. Noch heute wird von den Château-Besitzern stark in die Entwässerung der Weinberge investiert, und trotz der Klimaerwärmung kommt es ab und
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zu zu einem feuchten Jahr, sodass die Médoc-Rotweine eher kalt und säuerlich schme cken, weil die Reben „nasse Füße“ hatten. Das ist zwar auch für Reben leichter Weißwei ne schlecht, aber fast tödlich für schwere Rotweine. Trotz des guten Renommees und den extrem hohen Preisen gehen die Weine des Médoc eindeutig auf eine künstlich geschaffene Kulturlandschaft zurück. Dasselbe ließe sich von der Ahr behaupten, denn vor etlichen Jahrhunderten wurden dort Wald und Gestrüpp gerodet, um an den Steilhängen Platz für die Reben zu machen. Oft müssen Meike und Dörte Näkel in den Erhalt von Weinbergsmauern investieren, um diese gran diose Kulturlandschaft zu erhalten. Hier gibt es keinen Kies, sondern ich laufe auf Schie fersteinen hinter Meike bergauf, was nicht einfach ist. Einen Hang mit 60 Prozent Steigung hinaufzuklettern ist immer anstrengend, aber wenn der Boden so steinig ist wie hier im Pfarrwingert von Dernau, ist es doppelt anstren gend. Dann glaubt man, alle zwei Schritte nach vorn mindestens einen nach hinten zu rutschen. Stabiles Schuhwerk wie meine australischen Farmerstiefel ist unentbehrlich. „Natürlich hält der Boden hier nicht viel Wasser“, sagt Meike an unserem Ziel ange kommen, „aber wie du weißt, ist das gut für Rotwein. Genauso ist die südliche Ausrich tung des Hangs optimal, weil es dadurch sehr warm wird. Hier wächst Spätburgunder, und dabei gibt es noch einen weiteren Faktor, mit dem sich dessen Qualität steigern lässt.“ Sie nimmt eine Schere, sucht nach Trauben, die noch halb grün sind – sie wechseln gerade die Farbe von grün nach blau –, und schneidet sie einfach ab. Nein, der Wein wird noch nicht gelesen. Meike lässt diese halbgrünen Trauben einfach auf den Boden fallen! „Durch die gezielte Reduzierung der Anzahl an Trauben pro Stock, auch pro Trieb, werden die restlichen Trauben, also die, die hängen bleiben, noch besser vom Laub ver sorgt. Bei Spätburgunder führt das auch zu einer wesentlichen Steigerung des Gerbstoff gehalts in den Trauben, und der Wein daraus schmeckt einfach viel kräftiger, konzent rierter … genau das, was wir wollen.“ Es klingt simpel, mit weniger Trauben zu besserem Wein. Trotzdem wurde dieser Grundsatz in Deutschland lange nicht beachtet. Die Winzer wollten es nicht glauben, weil es Mengenverlust bedeutet. Während des Wirtschaftswunders war man nicht nur in der Landwirtschaft auf die Produktion möglichst großer Mengen fixiert. Damals herrschte der Aberglaube, durch steigende Produktion würde man die Vergangenheit überwinden und allen würde es gutgehen. Die Weinanbaufläche in Deutschland wuchs rasant in dem Bestreben, mehr günstigen Wein zu erzeugen, was durch den Einsatz von Maschinen (weg vom Pferd und hin zum Traktor) ermöglicht wurde. Viele Winzer glaub ten, dank neuer Technologie und Chemie trotz enormer Erträge zumindest eine solide
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Meike Näkel
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„Ich stamme aus einer Ebene und lebe in einer Ebene, aber die Berge ziehen mich seit meiner Kindheit an …“ Zitat Meike Näkel
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Qualität erhalten zu können. Trauben lange vor der Lese wegzuschneiden erschien fast allen völlig hirnrissig. Das Klima war damals deutlich kühler als jetzt und ein mittelmäßiger Sommer keine Seltenheit. Kombiniert mit einem Überfluss an Trauben und dem damals vorherrschen den technokratischen Geist war es für deutschen Rotwein ein schweres Handicap. Die bis herige Rotweintradition wurde so gebrochen und der Wein selbst zu einer internationa len Lachnummer degradiert. Schlimmstenfalls hatten sie eine blasse Farbe, waren dünn und süßsauer. Genauso war auch mein erster deutscher Rotwein aus der Traubensorte Portugieser, Mitte der 1970er in Ludwigshafen, einfach unvergesslich im negativen Sinn! Aber deutsche Rotweintradition? Ja, die hatte es vorher gegeben, und wenn man sehr viel Glück hat, kann man das Ergebnis auch noch trinken. Zum Beispiel den Lemberger Rotwein der Grafen Neipperg in Schwaigern/Württemberg von 1959 und den Spätbur gunder der Staatsdomäne in Assmannshausen/Rheingau aus dem Jahr 1947, beides kräf tige und üppige Rotweine, die als junge Weine mit Sicherheit ziemlich gerbstoffbetont geschmeckt haben werden. Ab den frühen 1960er-Jahren wurden diese Bollwerke der da maligen deutschen Rotweinkultur jedoch gründlich „modernisiert“, was zur Demontage dieser Tradition führte. Offensichtlich war die Nachfrage aber auch nicht mehr da. Wir Konsumenten sind sozusagen die Koproduzenten des Weins. Denn das, was wir trinken, beeinflusst die Art der Traubensorte, die auf den Weinbergen von Planet-Wine steht, und was in den Kel lern passiert genauso wie die Visionen der Winzer! Im Laufe der 1960er-Jahre begannen die Deutschen, auf der Suche nach Sonne und Strand nach Italien und in andere Mittel meerländer zu pilgern. Anschließend wollten sie ihren Urlaubswein auch zu Hause trin ken. Die rasante Ausbreitung von Pizzerien in deutschen Städten trieb diese „O-sole-mioSehnsucht“ nach südeuropäischem Rotwein weiter voran, Supermärkte und Weinhändler zogen daraufhin nach. Die Toskana ist wirklich schön, um das berühmteste Weinbaugebiet Italiens als Bei spiel zu nehmen. Lange bevor die deutschen Winzer sich um die Erzeugung guter Rot weine ernsthaft kümmerten, hatten sich ihre toskanischen Kollegen in den eigenen Wein bergen und Kellern bereits damit beschäftigt. Damals kosteten diese Weine nur einen Bruchteil der heutigen Preise, und viele deutsche Touristen konnten es sich leisten, den Kofferraum vollzuladen und die Weine nach Hause zu fahren. Die Motorisierung der Wein konsumenten hatte nicht weniger radikale Folgen als die Motorisierung der Weinbauern. Erst ab den späten 1980er-Jahren wurde in Deutschland in vielen kleinen mühsa men Schritten eine neue Rotweinkultur aufgebaut. Zuerst lernte ein kleiner Kreis von
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führenden deutschen Winzern, inklusive Werner Näkel, Vater von Meike und Dörte, in Frankreich, wie man kräftige Rotweine macht, dann verbreitete sich dieses Wissens, und es entzündete sich eine wahre deutsche Rotwein-Revolution. Eine neue Generation von Jungwinzern sorgte in den letzten Jahren für einen weiteren großen Schub, und inzwi schen gibt es gute deutsche Rotweine in allen Preisklassen ab knapp 5 Euro die Flasche. In Steillagen wie dem Pfarrwingert funktionieren solche Preise auf gar keinen Fall, weil hier alles Handarbeit ist, die bezahlt werden muss. Inzwischen gibt es jedoch eine rege Nachfrage, und der häufig ausverkaufte Spätburgunder „Großes Gewächs“ der Nä kel-Schwestern kostet 48,- Euro die Flasche ab Hof. Damit ist er nicht einmal der teuerste Rotwein des Gebiets. Die Spitzen-Spätburgunder der Weingüter J. J. Adeneuer in Ahrwei ler, Deutzerhof (Cossmann-Hehle) in Mayschoß und Jean Stodden in Rech sind ähnlich beeindruckend und teuer. (Im Vergleich zu den Preisen für Wein aus Burgund sind die se aber moderat!) Die Ahr ist ein kleines feines Weinparadies, in dem nur wenige gute Rotweine für deutlich unter 10 Euro die Flasche zu haben sind. Nach der Weinbergsbesichtigung und der Demonstration, wie man die Qualität von Spätburgundertrauben steigern kann, möchte ich natürlich die Ergebnisse prüfen, und wir fahren zum verwinkelten alten Weingut in Dernau. Das hat sich seit meinem ersten Besuch vor vielen Jahren ziemlich verändert, es ist viel stilvoller geworden, aber doch kein Tempel des großen Gotts des Weins, den man nur andächtig still betreten darf. Wie Wer ner Näkel neulich mit einer gewissen Selbstironie bemerkte, gibt es auch ein Schild am Eingang, seit Frauen im Betrieb sind. Kreative Winzergenies wie er können manchmal die einfachsten Dinge übergehen. Im alten Keller setzen wir uns in eine Ecke. Der erste Wein, den mir Meike zu ver kosten gibt, ist der einfache Spätburgunder, duftig und süffig, auch dank einem Hauch von säuerlicher Frische. Es ist ein leichter Rotwein, aber die floralen Aromen verleihen ihm durchaus einen eigenen Charakter. Nicht jeder deutsche Spätburgunder duftet so. Der geschmackliche Sprung zum Spätburgunder „Großes Gewächs“ aus dem Pfarr wingert ist tatsächlich groß. Sein Duft nach hoch reifen Kirschen und Bitterschokolade strömt förmlich aus dem Glas. Ich könnte stundenlang nur daran riechen, aber das geht eigentlich nur abends zu Hause, wenn kein Zeitdruck herrscht. Das jetzt ist schließlich Arbeit. Der Pfarrwingert ist üppig und enorm reif, ein richtiges Maulvoll Wein mit einer großen Ladung Gerbstoffe, die ihn aber keinesfalls übermäßig schwer geschweige denn einseitig pelzig erscheinen lassen, sondern ihm vielmehr eine sanftherbe Kraft verleihen. Das Finale im Mund ist verführerisch seidig. Viele Deutsche denken immer noch, das wür den nur französische Weine vermögen.
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Wenn ich solch einen Wein zum allerersten Mal kosten würde, dann wäre ich aus dem Häuschen, aber für mich ist das natürlich nichts Neues. Am liebsten säße ich jetzt wintertags mit dieser Flasche und meiner Frau vor einem Kamin, aber das geht nicht, und ich weiß, dass ich nicht mehr als einen Schluck trinken darf, da andere Weine fol gen werden. Mein Bewusstsein für die konkreten Trinkanlässe hilft mir aber, die Begeis terung für guten Wein wachzuhalten, statt abzustumpfen oder gar zynisch zu werden wie allzu viele Fachleute. Zwei ältere Jahrgänge des gleichen Weins folgen, 2005 und 2006. Auch ohne Baum und Kerzen ist heute Weihnachten! Was die Zeit aus dem Wein kitzelt … der 2005er Pfarr wingert „Großes Gewächs“ duftet nach Kirschgelee und vielerlei Kräutern, der 2006er be sitzt die Kraft eines Giganten, wirkt aber zugleich unglaublich geschmeidig. Jedes Jahr wächst ein etwas anderer Wein im gleichen Weinberg dank der unterschiedlichen Witte rung – im 2006er steckt die Hitze des WM-Sommers. Der Geschmack von Meike Näkels Meisterwerken liegt mir wie eine lange samtige Er innerung auf der Zunge, als ich mit der Bimmelbahn meine Reise zurück Richtung Berlin antrete. Meine nächste Rotwein-Reise in einigen Wochen wird mich in die Pfalz führen, wo es dank noch größerer Wärme und sanften Hängen, die sich kostengünstig bewirtschaf ten lassen, gute Rotweine zu freundlichen Preisen gibt. Dahin werde ich fahren, wenn die Rotweinlese bereits begonnen hat, um endlich etwas Action in den Kellern zu erleben. Gerade weil es in der Pfalz wärmer ist als weiter im Norden, ist es dort einfacher, gute Rotweine zu erzeugen, von daher nahm die deutsche Rotwein-Revolution dort ihren An fang. Schon 1976 erzeugte Werner Knipser vom Weingut Knipser in dem damals völlig unbekannten Weinort Laumersheim seinen ersten „richtigen“ Rotwein aus der Trauben sorte Portugieser. Es war ein Tropfen, der damals entweder Begeisterung oder glatte Ab lehnung hervorrief. Er hatte etwas wahrhaft Revolutionäres, als der typische deutsche Rot wein damals bestenfalls weich und gefällig war. Damals war ich noch auf der Schule, und mein erstes Wein-Aha-Erlebnis lag noch in ferner Zukunft. Ich erinnere mich bestens an mein Staunen, als ich den 1985er-Jahrgang von Knipsers Revoluzzer-Wein das erste Mal Ende der 1980er-Jahre probierte. Wie war es möglich, aus der Portugiesertraube, die für meine schmerzliche Einführung in die Welt des deutschen Rotweins verantwortlich war, diesen tiefroten, samtigen Wein zu zaubern? Werner Knipsers Antwort lautete, man müsse die Reben einfach davon abhalten, zu große Mengen an Trauben hervorzubringen – der Portugieser trägt nämlich gern viele und ziemlich große Beeren, was normalerweise zu einem dünnen und recht einfachen, kraftlosen Wein führt. Dann sollte man ihn auf der Maische vergären. Das heißt, die
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Beeren müssen zuerst von den Stielen getrennt, zerquetscht und anschließend der Saft zusammen mit dem Fruchtfleisch und den Beerenhäuten vergoren werden. Knipser hat sie zwar nicht mit den eigenen Füßen gestampft, aber ganz ähnlich gearbeitet. Anschlie ßend reifte der Wein in Holzfässern eine ganze Weile im Keller, alles in allem also eine Rotweinerzeugung ähnlich wie aus den berühmten Gewächsen in Burgund und Bordeaux. 1985 erntete Knipser auch seine ersten Spätburgundertrauben. Heute ist dies seine wichtigste rote Rebsorte und macht etwa ein Viertel der Produktion aus, die im neuen, riesigen Holzfasskeller reift. In dieser „Wein-Kathedrale“ liegen über tausend Barrique fässer. Dieser Fasstyp stammt aus Bordeaux und ist dort Teil der Standardkellerausrüs tung für alle besseren und berühmten Rotweine. Heute werden Barriques in vielen Län dern hergestellt, auch Deutschland, und die Eiche stammt nicht mehr nur aus Frankreich, sondern kommt auch aus Ländern wie Litauen, Ungarn, Slowenien und Deutschland. Ihr Preis? Zwischen ein paar 100 Euro für gepflegte Gebrauchtware und bis zu 1000 Euro pro Stück, neu versteht sich. Nur 225 Liter Wein bzw. etwa 300 Flaschen Wein passen in solch ein Fässchen. Das ist ein teurer Spaß, vor allem in dem Ausmaß wie bei den Knip sers, aber wenn die Weine in Gastronomie und Handel so begehrt sind, dann lohnt sich die Investition hier in Deutschland genauso wie in Frankreich oder Italien. Wenn alles gut läuft, wird ein starker Rotwein durch das Reifen im Barrique nicht nur noch harmonischer, sondern er bekommt auch Duftnoten von Vanille, gerösteten Toast und Rauch, die durch die komplexen Reaktionen von Stoffen aus dem Holz und den In haltsstoffen des Weins entstehen. Die Erzeugnisse der Knipsers sind alle mehr oder weni ger davon geprägt, sie riechen und schmecken aber nie nur nach Barrique. Das war eine Phase, die viele deutsche Rotweinproduzenten vor 20 Jahren mitmachten, die aber glück licherweise weitgehend überwunden ist. Inzwischen beherrscht eine große Anzahl von deutschen Winzern die Kunst der Rot weinerzeugung mehr oder weniger gut. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum der Anteil an blauen Trauben in den deutschen Weinbergen innerhalb des letzten Vierteljahr hunderts so stark gestiegen ist. Als ich vor 30 Jahren anfing, mich für den deutschen Wein zu interessieren, lag der Anteil blauer Trauben in der damaligen BRD etwa bei 12 Prozent. Heutzutage ist es exakt die dreifache Menge, 36 Prozent. Zwar geht die Tendenz langsam zurück vom Rot- zum Weißwein, aber das Verhältnis an sich wird sich nicht so schnell grundlegend ändern. Viele junge deutsche Winzer arbeiten für eine oder zwei Weinlesen in ausländischen Weinbaugebieten, in denen Rotwein im Mittelpunkt steht, und wollen das Gelernte unbe dingt zu Hause in die Tat umsetzen. Außerdem ist die Akzeptanz des deutschen Rotweins
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bei den Konsumenten erheblich gestiegen, und diese Entwicklung ist noch nicht abge schlossen. Obwohl die toskanische Rotwein-Revolution schon in den 1970er-Jahren an fing, dauerte es bis Ende der 1980er, bevor die Italiener selbst die neuen heimischen Wei ne entdeckten. Genauso zögerlich ändert sich hier das Bewusstsein. Mein Ziel am nächsten Tag ist das Gut eines anderen Pfälzer Rotwein-Revoluzzers namens Thomas Hensel. Als er 1991 gerade 20 Jahre alt seine ersten Weine erzeugte, war der Familienbetrieb in Bad Dürkheim in erster Linie eine Rebschule, die vom Verkauf junger Reben lebte. Nach und nach stellte Thomas Hensel den Betrieb auf Weinbau um und verschaffte sich den Ruf des jungen Wilden. Dabei hatte er einen großen Vorteil: Er und seine Weine mussten sich nicht an der Leistung von Vater, Opa oder anderen Ver wandten messen. Diese Freiheit hat er genutzt, um eine ganze Reihe von neuartigen Rot weinen zunächst zu entwickeln und zu perfektionieren. In der Anfangszeit des neuen deutschen Rotweins lief einiges schief, weil die ehr geizigen hiesigen Winzer sich ausschließlich am Kennergeschmack orientierten. Roter Bordeaux war damals der Sammler-Rotwein Nummer 1 in Deutschland und schmeckte, bevor sich die Klimaerwärmung bemerkbar machte, ziemlich herb. Nichts gegen diese Weine, aber als Vorbild für die deutschen Rotweine waren sie eher schlecht geeignet. Die wichtigste Rotweintraubensorte Deutschlands war und ist der Spätburgunder, während in und um Bordeaux der Merlot flächenmäßig als Nummer 1 und der Cabernet Sauvig non in puncto Ansehen als Nummer 1 vorherrschen. Sie verleihen Wein von Natur aus viel mehr und ganz andere Gerbstoffe als Spätburgunder, ähnlich verhält es sich auch mit Aromen, und, und, und. Dazu kommt die bereits geschilderte, ganz besondere Wein landschaft um Bordeaux und ein erheblicher klimatischer Unterschied: Bordeaux hat ein maritimes Klima, was nur (in kühlerer Form) im Norden Deutschlands, weit abseits der Weinbaugebiete, zu finden ist. Aber wie so oft beim Wein – auch unter gebildeten Fachleuten! – spielen Emotionen eine sehr viel wichtigere Rolle als Verstand und Logik. Zusammen mit den Barriquefäs sern importierten die deutschen Rotwein-Pioniere eine Menge Vorurteile aus Frankreich. Das Bordeaux-Weinideal trieb die erste Generation in eine oft unglückliche Richtung. Häufig schmeckten ihre neuen Weine zunächst recht gut – jugendliche Frische hilft, her be Noten in allerlei Weinen zu überdecken –, doch nach recht kurzer Zeit in der Flasche wirkten sie einseitig herb, manchmal richtig kantig und hart. Nein danke. Die Jagd nach vordergründig spürbarem Gerbstoff, um manchmal bewusst, häufiger jedoch unbewusst den roten Bordeauxweinen Paroli zu bieten, war im Nachhinein ein echter Holzweg. Der Wunsch des durchschnittlichen Konsumenten nach harmonischen
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Weinen mit reifen, ansprechenden Fruchtaromen wurde meist komplett ignoriert bei der Suche nach Anerkennung seitens der frankophilen Kenner. Glücklicherweise lernten die fähigsten unter den deutschen Winzern schnell aus ihren Fehlern und schalteten auf die Erzeugung sanfterer, charmanterer Weine um. Die große Veränderung kam jedoch erst mit der neuen Winzergeneration, zu der Thomas Hensel gehört. Ihm war von Anfang an klar, dass ein guter Winzer überall etwas lernen kann, aber keinen einzigen Wein nachahmen darf, weil Imitate immer zweitklas sig sind. Darüber hinaus besaß er die teuflische Zuversicht, etwas ganz Eigenes aufbau en zu können. Dann gelang ihm 2000 ein großer Wurf, der bahnbrechende Rotwein na mens „Ikarus“. Der 2000er war wegen des feuchten Herbsts im Allgemeinen kein guter Jahrgang in Deutschland, aber Hensel besaß eine Geheimwaffe in Form der neuen deutschen Trau bensorte Cabernet Cubin. Weil sein Vater Züchter war, erfuhr er sehr früh von dieser Rebsorte und pflanzte sie an. Die Beeren dieser Traube sind sehr klein, von dunkler Far be und haben eine extrem dicke Haut, die voller Gerbstoffe steckt, wenn man sie bis zur vollen Reife bekommt. Und das gelang dem jungen wilden Hensel 2000 trotz der wenig hilfreichen Witterung. Fast pechschwarz strotzt „Ikarus“ vor allerlei dunklen Beerenaromen und umhüllt die Monster-Gerbstoffe mit seinem üppigen Körper. Er stellt einen völlig neuen deutschen Rotweintyp dar, einen, der in Deutschland lange für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten wurde. Beim ersten Probieren hielt ich es selbst nicht für möglich, aber das erste Mal ist immer ein wenig verwirrend, bestenfalls verwirrend beglückend. Seitdem bin ich mehr mals mit diesem Wahnsinnsrotwein abgestürzt, so süchtig macht dieser Stoff der moder nen deutschen Rotweinträume, der direkt ab Hof nicht ganz 30 Euro die Flasche kostet. Wenn man beim Weingut Hensel ankommt, landet man zuerst am Sportflugplatz von Bad Dürkheim. Dort kann man auch tatsächlich mit dem Flieger landen, was ich ein mal gemacht habe. Dabei sah ich, dass hinter einer Reihe kleiner Hangars noch ein Kas ten steht. So abgedreht es klingen mag, ist dies doch die Geburtsstätte des „Ikarus“. Die Nähe zum Flugplatz inspirierte den jungen Thomas Hensel zum Segelflugzeug als Logo und zu Weinnamen, die alle mit dem Fliegen zu tun haben. Heute habe ich jedoch die Bodenhaftung behalten. Als Journalist will ich kein abge hobener Überflieger werden, sondern auf dem Boden der Tatsachen bleiben und mich mit der Realität da unten auseinandersetzen. Seit meinem ersten Besuch im Herbst 2003 hat sich hier eine ganze Menge getan, auch wenn noch dieselben (leeren) alten Holzfäs ser die Einfahrt schmücken. Das wirkt nach wie vor ein wenig altmodisch, aber ein neues
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Gebäude ist schon in Planung. Das wird sicherlich besser zu den innovativen Rotweinen passen, die mir Hensel mit dem gewohnten teuflischen Lächeln vorsetzt. „Aufwind“ heißen die lustigen, etwas leichteren Weine, dann folgt die „Höhenflug“Serie von stärkeren Gewächsen, alles überflügelt vom „Ikarus“. Schon die rote „Aufwind Cuvée“ aus dem französischen Cabernet Sauvignon und der wiederentdeckten ur deutschen Traubensorte St. Laurent ist ein kleiner dunkler Knüller mit Kraft, Wärme und sattem Beerenduft, ohne übermäßig herbem Finale. Den Wein könnte ich einfach so wegtrinken, ich muss mich aber wieder zurückhalten, die professionelle Haltung ver langt das. Und wie findet Hensel selbst den Wein? „Ein Leckerschmecker“, sagt er, direkt wie immer, „muss er auch sein. Der St. Laurent bändigt und besänftigt den kernigen Caber net bestens.“ Also funktioniert Multikulti doch. An dieser Stelle muss ich Hensel eine Geschichte erzählen, die ich von meiner Bor deaux-Spionin gehört habe. Als Dank für die Lieferung geheimer Informationen aus dem Hauptquartier eines bedeutenden Bordeaux-Weinerzeugers schickte ich ihr ein paar Fla schen von Hensels Rotwein „Höhenflug Cuvée“. Eine davon schenkte sie zu Hause ei ner Gruppe wichtiger Kollegen aus der Branche blind ein. Sehr begeistert waren sie vom Wein, den sie ausnahmslos für einen innovativen Bordeauxwein hielten. La belle France! Wie teuer? Alle waren überzeugt, dieser Wein müsste richtig Geld kosten, weil er so kör perreich ist und so harmonisch schmeckt, was in Bordeaux Zeichen eines höherwertigen Gewächses ist. 40, 50 und mehr Euro die Flasche wurde geraten. Dann hat sie die Fla sche gezeigt, und es herrschte eisige Stille: ein Roter aus dem hinsichtlich Wein verfein deten Nachbarland. Noch länger wurden die Gesichter, als sie den Preis nannte: nicht ganz 15 Euro. Sacre bleu! Die „Höhenflug Cuvée“ enthält auch Cabernet Sauvignon, besänftigt in diesem Fall durch einen kräftigen Schuss Merlot. Dieser Wein ist der Beweis dafür, dass dank der Kli maerwärmung und geschickter Pflege diese Bordeauxtraubensorten in Deutschlands wärmsten Weinbaugebieten richtig reif werden und überzeugende Weine ergeben kön nen. Thomas Hensel ist begeistert von der Story meiner Bordeaux-Spionin und erzählt, er habe durchaus französische Kunden, die nicht nur Riesling, was er halbwegs erwartet hätte, sondern verblüffenderweise auch Rotwein kaufen. Dann bekomme ich den Spätburgunder „Höhenflug“ ins Glas, der nach Vanille duf tet und nach Schwarzwälderkirschtorte schmeckt, obwohl er analytisch betrachtet ganz trocken ist. Er ist keine so radikale Innovation wie die Cuvées, aber auch für solch einen Leckerschmecker-Rotwein aus dieser Rebsorte muss man in Frankreich viel Schotter
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lockermachen. Die ganze Weinwelt ordnet sich neu, und Deutschland kommt dabei einen Riesenschritt nach vorn in puncto Anerkennung, was auch wohlverdient ist. Hensel hat bereits die ersten blauen Trauben gelesen, Spätburgunder, und möchte mir zeigen, wie sie bei ihm zu Wein werden. Ich folge ihm in den Keller, was hier wie ein Arbeitsplatz aussieht statt wie ein Tempel zu Ehren des großen Weingotts. Seine Mitarbei ter sind kräftig am Springen, die friedliche Zeit der Herbstvorbereitung ist vorbei, Action! Thomas Hensel erklärt mir, dass er die allermeisten seiner Rotweintrauben nicht mehr stampft, sondern gärenden Wein aus der Tiefe des Gärtanks pumpt und über die oberste Schicht aus Beerenhäuten und Fruchtfleisch sprüht, die sich im Gärtank bildet, um den Kontakt zwischen Saft und Feststoffen zu maximieren. Dabei geht es um die Optimierung der Extraktion von Farbe und Gerbstoffen aus den Beerenhäuten, ohne durch mecha nische Belastung adstringierende Stoffe zu lösen. Der Urprozess der Weinwerdung in vorsichtig modernisierter Form. In einer Ecke entdecke ich einen offenen Behälter mit gärender Rotweinmaische; eine kuriose purpurfarbene Masse. Es handelt sich um ein kleines Experiment, und ich darf mit einem Stößel die Schicht aus Beerenhäuten und Fruchtfleisch hinunter in die Flüssigkeit drücken. Das musste ich oft stundenlang tun, als ich 2005 während der Weinlese bei Scherrer Winery in Sonoma County/Kalifornien arbeitete – ich kenne mich mit dem Urprozess der Weinwerdung aus. Am nächsten Tag muss ich weiter nach Stuttgart fahren, was vielleicht wie die Vor ankündigung eines großen Themenwechsels klingt. Das ist es aber nicht. Für die meisten mag Stuttgart vor allem Mercedes Benz und ihre Zulieferer bedeuten, doch es ist auch das Zentrum des württembergischen Weinbaugebiets. Von den größeren Weinbaugebie ten hierzulande hat Württemberg den mit Abstand höchsten Anteil an blauen Trauben sorten: 71 Prozent. Das ist nicht erst seit dem globalen Rotwein-Boom oder der deutschen Rotwein-Revolution so, sondern es ist Tradition. Württemberg wirbt seit Langem mit dem Slogan, die Region erzeuge Weine für Ken ner, was aber leider regelrecht gelogen ist. Lange Zeit waren sie ausgerechnet bei Wein experten außerhalb des Ländles eine richtige Lachnummer, weil die Hälfte der dortigen Weinberge mit den Sorten Trollinger und Schwarzriesling bepflanzt ist und aus diesen Trauben lange fast nur blasse dünne Weinchen mit kaum Geschmack hervorgingen. „Die Trollinger-Republik“ hat vor 15 Jahren einer der besten Winzer Württembergs mir ge genüber seine Heimat genannt. Es war heftige Ironie. Damit meinte er, Württemberg sei hauptsächlich für Trollinger-Weine von miserabler Qualität bekannt und dass die meis ten Erzeuger des Gebiets weiterhin solche schwachen und schwachsinnigen Rotweine er zeugten und darauf stolz wären.
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Doch dann gab es eine Art Erdrutsch im Remstal, was eine kurze S-Bahnfahrt vom Stuttgarter Hauptbahnhof entfernt ist. Ich steige in Fellbach/Remstal aus dem Zug, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Wenn man die lange Hauptstraße des schmucken Fleckchens (in der Tat ein Vorort von Stuttgart) entlangläuft, bekommt man wenig mit, aber ein Abstecher in den nächsten Supermarkt genügt für eine erste Begegnung mit den neuen hiesigen Weinen. Ganze Regale sind frisch gefüllt mit den letzten Weinen aus dem Remstal, vor allem direkt aus Fellbach. Manchmal stehen die Namen ihrer Weingärtner oder der örtlichen Winzergenossenschaft auf dem Etikett. Manchmal ist darauf Weingut Aldinger, das älteste unabhängige Familienweingut im Ort, manchmal Weingut Heid, das jüngste am Platz, oder der Name Schnaitmann zu lesen. Da will ich zuerst hin, zu Rainer Schnait mann, der 1997 sein Weingut mithilfe seiner Familie gegründet hat. Weinberge hatte man bereits, aber keinen Keller oder Geräte für die Erzeugung. Das war natürlich sehr mutig. Mit ein wenig Glück schaffe ich es noch bis knapp vor 18.30 Uhr in seinen Verkaufs raum. Mein Rollkoffer ist jetzt lästig, aber ich beeile mich trotzdem. Ein wenig später sto ße ich die Tür des Hauses Untertürkheimer Straße 4 auf und betrete einen hellen modern eingerichteten Raum mit einer langen Theke, an der die Leute in zwei, drei Reihen hin tereinander mit Weingläsern in der Hand stehen. Sie nehmen alles, was sie nur kriegen können, auch Trollinger und Schwarzriesling – dabei handelt es sich um echte Rotweine. Dass hier der beste Trollinger knapp 10 Euro und der beste Schwarzriesling gut 15 Euro die Flasche kosten, scheint niemanden zu stören. Ganz im Gegenteil, es herrscht Hoch stimmung, und Schnaitmann hat es schwer, den Laden halbwegs pünktlich zu schließen. Was ist hier los? Er hat vor allem mit seinen Spätburgundern mehrmals bei Blind verkostungen für großes Staunen gesorgt. Insgesamt legen Weinfreunde viel zu viel Wert auf solche Blindproben, weil sie sich nach einer absoluten und objektiven Bewertung seh nen. Leider gibt es bei der Beurteilung von Wein keine absolute Wahrheit, und auch eine Blindverkostung ist nicht wirklich objektiv. Selbst wenn alles bestens organisiert ist und die Mitglieder der Jury sorgfältig arbeiten, ist es immer noch Glückssache, welcher Wein Platz eins belegt. Wenn allerdings unter solchen Bedingungen immer wieder derselbe Wein vorn steht, dann sagt auch Stuart Pigott: kein Rauch ohne Feuer! Der Punkt bei Schnaitmann ist, dass er eine komplett neue Art von württember gischem Rotwein erfunden hat. Er hat keine Angst vor dem Barriquefass. Die kleinen neuen Holzfässer und eine für Württemberg ziemlich typische Palette von Traubensorten agieren wie Schauspieler unter ihm als ihrem Regisseur. Eine tiefe Farbe, genauso viel Fruchtaroma wie Kraft und enormen Schwung besitzt jeder seiner Rotweine. Kein Wun der, dass viele Profis sie in Blindproben oft für ausländische Gewächse halten.
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Zu dieser Jahreszeit – die Weinlese ist voll im Gang – ist mein Besuch bei Schnait mann alles andere als gut getimt, aber zum Verkosten ist es ein geradezu idealer Zeitpunkt, weil alle Weine aus dem letzten Herbst zumindest abgefüllt sind. Auch wenn Schnaitmann wenig Zeit hat, gibt es hier viele tolle Weine, der Tisch ist schnell voll mit leeren Flaschen, und ich fülle mein Notizbuch mit einem halben Roman. Hier wurde mir vor ein paar Jahren schlagartig klar, dass die Qualität von Schnait manns Rotweinen kein Geheimnis ist. Der Absolvent der berühmten Geisenheimer Fach hochschule für Weinbau versteht genau, wie die Rebe wächst, und richtet danach seine Arbeit im Weinberg sehr konsequent aus. Er hat das Glück, dass sein Vater die Trauben sorten für jeden Familienweinberg sehr sorgfältig ausgewählt hat. Den Blauen Lember ger etwa hat Schnaitmann senior nicht in die trockenste Ecke im Lämmler gesetzt – der besten Weinlage von Fellbach –, weil die Sorte nur einen gewissen Grad von Trockenheit verträgt. Im Keller beweist sein Sohn ein geniales Feingefühl für das richtige Maß an Ei chenaroma im Wein. Seinen günstigsten Lemberger lässt er beinahe ausschließlich in neu en Barriques reifen, was bei anderen Erzeugern ein Rezept für überholzten Wein wäre. Aber die Zwetschgen-, Holunder- und Pfeffernoten aus den Trauben sind so stark, dass sie immer noch im Glas dominieren, großartig! Dank solcher Weine wird diese württembergische Rotweinspezialität endlich wieder geschätzt und nachgefragt. Ein guter Lemberger hat mit seiner besonderen Würze und eigenartigen Kombination von Kraft und Frische ein ganz eigenes Profil. In seiner unga rischen Heimat kennt man diese Sorte als Kékfrankos und im österreichischen Burgen land als Blaufränkisch, aber dort schmeckt sie nochmals etwas anders. Schnaitmanns Erfolg – manche meiner zur Übertreibung neigenden Kollegen ha ben ihn Senkrechtstarter genannt – wirkte etwa wie ein Dynamo in Fellbach und Umge bung. Es gibt durchaus noch Winzer im Remstal, die vor sich hin dümpeln, aber viel we niger als noch vor 15 Jahren. Jetzt herrscht ein offener Qualitätswettbewerb jenseits der offiziellen Weinprämierungen. Das spürt man ganz unmittelbar auf dem sogenannten Weintreff, einer genialen Weinmesse für „normale“ Weinfreunde, die jedes Jahr Anfang Februar in der Alten Kelter von Fellbach stattfindet. Da wird alles mit allem verglichen, es werden Urteile gefällt und Kaufentscheidungen getroffen. Wer bessere Weine macht, wird erfolgreicher, und nur der dümmste Weinbauer zweifelt noch daran. Meine nächste Station ist Schnaitmanns Hauptkonkurrent im Ort, das Weingut von Gert Aldinger, nur wenige Straßen entfernt. Man könnte aber genauso gut sagen, Weingut Schnaitmann sei der Hauptkonkurrent von Aldinger. Als ich hier erstmals Mitte der 1990er war, hatte Gert Aldinger den Betrieb gerade von seinem Vater über-
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nommen. Jetzt gibt sein Sohn Matthias, noch ein Geisenheimer Absolvent, wieder neue Impulse in den Keller. Es werden aber auch radikale Entscheidungen getroffen, was die Zukunft im Weinberg betrifft. Zitat Gert Aldinger: „Schwarzriesling: raus! Dorn felder: raus!“ Sich von diesen beiden in Württemberg weitverbreiteten Traubensor ten ganz zu trennen ist nicht weniger radikal als die Aldinger-Entscheidung vor etwa 20 Jahren, 2 Hektar mit der französischen Traubensorte Merlot zu bepflanzen. Inzwi schen nennt sie Gert Aldinger „eine unserer wichtigsten neuen Errungenschaften.“ Als ich das Kelterhaus betrete, läuft Rotwein von der Kelter. Matthias Aldinger ist ein wenig überrascht, mich und meinen Rollkoffer zu sehen, aber ich kann bestens nachvoll ziehen, wenn Kommunikation und Gedächtnis während des Weinlese-Stresses manchmal versagen. Er erklärt mir, dass dieser „embryonale“ Rotwein ein Merlot und deswegen so tieffarbig sei. „Unsere letzten Merlot-Rotweine werden wir ziemlich sicher erst kurz vor Weihnach ten keltern, also fast zwei Monate, nachdem die Trauben gelesen wurden.“ Diese extrem lange Zeit „auf der Maische“ – der Masse aus gärendem, dann vergorenem Saft plus Bee renhäuten und Fruchtfleisch – ist eine der gewagten Neuheiten von Matthias. Das führt zu enorm gerbstoffreichen Weinen, aber während dieser langen Zeit auf der Maische finden auch Harmonisierungsprozesse statt. Dank eines gezügelten Luftkontakts (zu viel würde zur schlagartigen Oxidation des Ganzen führen) verbinden sich kleine Gerbstoff moleküle langsam zu größeren Molekülen, die deutlich sanfter schmecken. Matthias Al dinger will es jetzt wirklich wissen und treibt die Sachen, die sein Vater als große Inno vation im Laufe der 1990er-Jahre eingeführt hat, regelrecht auf die Spitze. Dabei denke ich an die uralte, also auch vorchristliche Verbindung zwischen Blut und Rotwein (Wie so viele andere Sachen haben die frühen Christen diese Verbindung von älteren Religi onen übernommen). Wir gehen hinunter in den Keller mit den Barriquefässern, der wie alle Räume bei Aldinger zugleich bodenständig und sehr gut gepflegt ist. Hier bekomme ich die letzten vier Jahrgänge vom „Cuvée M“ zu verkosten, dem Wein aus den alten Merlot-Reben. Gert Aldinger kreuzt auch auf, was passt – schließlich war dieser Wein seine Idee. Dass ich die neuesten, von Matthias geprägten Jahrgänge noch aufregender finde, ist für ihn gar kein Problem. Auch er wollte sich ständig steigern, und sein Sohn führt diesen Gedanken wei ter. Der jüngste der Weine liegt noch im Fass und besticht mit einer superreifen Johan nisbeernote – ja, eigentlich haben Johannisbeeren an sich nie so einen intensiven Ge schmack. Ein wenig überirdisch schmeckt er, aber so sind die allerbesten Rotweine. Die kann Deutschland jetzt auch!
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Der Ökowahnsinn: Ökowein ist modern und cool Manche Märchen müssen mit einer Beschreibung des Orts des Geschehens beginnen, wie zum Beispiel die Geschichte vom Aufstieg des ökologischen deutschen Weins. Ein großes Anwesen ohne Schnickschnack ist manchmal viel beeindruckender als ein Schloss oder eine Burg mit einem mittelalterlichen Turm oder einer strahlenden Barockfassade, weil bei dessen Betrachtung nicht der Vergleich mit dem Karlsruher Schloss, der Wartburg oder der persönlichen Vorstellung eines Traumschlosses ablenkt. Solch ein Anwesen ist das Weingut Dr. Bürklin-Wolf in Wachenheim in der Pfalz, aber eigentlich ist es noch viel mehr als das, weil es sich um ein Anwesen mit verschiedenen Funktionen handelt. Wenn man von Süden in den Ort kommt, stößt man rechter Hand direkt im An schluss an die letzten Rebzeilen auf Bürklins Gärten, die aus einem Englischen Garten, Gewächshäusern, einem Krocketfeld, einem Tennisplatz und einem Park bestehen. Au ßerdem gehören dazu noch der Opernplatz und die Kulturscheune, wo seit 1993 ein viel seitiges Kulturprogramm stattfindet. Weder das ehemalige Kelterhaus noch der alte Stall sind als klein zu bezeichnen, aber sie wirken rustikal im Vergleich zum Gutshof, den die heutige Besitzerin bewohnt, Bettina Bürklin-von Guradze. Alles in allem eine noble Heim statt für eine noble Frau. Für mich ist sie das, weil sie den Medien nie hinterhergelaufen ist und ihre Ziele immer aufrichtig verfolgt. Sie führt seit 1992 den Betrieb, der nach ihrem Großvater benannt ist, Geheimrat Dr. Albert Bürklin, der ihn auch berühmt gemacht hat. Sein Sohn Ökonomierat Dr. Albert Bürklin steigerte den Erfolg noch. Unter seiner Führung von 1924 bis zu seinem Tod 1979 wurde das Gut zu einer weltweit bekannten Weinlegende. Getreu diesen Vorbildern hat Bettina Bürklin-von Guradze das Weingut nach einem Durchhänger von gut einem Jahr zehnt zurück an die nationale Spitze geführt. Heute kostet der teuerste trockene Ries ling des Guts, der „Kirchenstück G.C.“ – die zwei Buchstaben gehen zurück auf das fran zösische Grand Cru, die Bezeichnung für Wein aus den edelsten Weinberglagen –, stolze 70 Euro die Flasche. Er ist allerdings meistens ausverkauft, doch für ganze 9 Euro gibt es den „einfachen“ trockenen Riesling des Hauses. Die Weinerzeugung spielt sich an anderer Stelle ab, und zwar mitten im Ort. Man muss sehr aufpassen, um die recht schmale Einfahrt in den entsprechenden Teil des Guts, den Kolbschen Hof, nicht zu verpassen. Belohnt wird man mit einer für die Pfalz selte nen Weitläufigkeit. An der hinteren Seite des Hofs liegt die Vinothek, in der man die
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imposanten und zugleich edlen Weine des Hauses verkosten kann. Ziemlich versteckt lie gen die Produktionsstätten Kelterhaus und Keller, aber so muss es bei einem noblen Wein gut auch sein. Das Erstaunliche ist, dass Bettina Bürklin-von Guradze die insgesamt 86 Hektar Anbaufläche 2005 komplett auf ökologischen Wein umgestellt hat, und zwar auf die extremste Variante: biodynamischen Wein. Das traditionsreiche und gediegene Wein gut Dr. Bürklin-Wolf ist heute die Speerspitze des ökologischen Weinbaus in Deutschland. Sie finden, das klingt etwas absurd? Mit dem Begriff Ökowinzer verbindet man in Deutschland immer noch ein wenig den langhaarigen Freak, der gewöhnungsbedürfti ge Säuerlinge erzeugt. Und zu den ökologisch arbeitenden deutschen Winzern, die ich Mitte der 1980er-Jahre an der Mosel traf, passt das Bild durchaus. Vor einem Vierteljahr hundert entsprachen diese Vertreter dem typischen „Alternativen“, dessen Hauptanlie gen im Kampf gegen den materialistischen Zeitgeist bestand. Trotz Gorbatschow war der Kalte Krieg noch nicht vorbei, und das dynamische Duo Ronald Reagan und Margaret Thatcher predigte Hardcore-Kapitalismus, als sei „Sub-Prime“ undenkbar. Die Haltung der deutschen Ökowinzer äußerte sich in der radikalen Ablehnung jeg licher chemischer Dünge- oder Schädlingsbekämpfungsmittel. Zwischen den Rebzeilen durfte Unkraut wachsen, manchmal zu einem richtigen Dschungel, und im Keller wurde am Wein nichts „gemacht“, auch wenn er dadurch richtig sauer geriet. „Wir hatten Mitleid mit der Erde“, beschreibt Rudolf Trossen vom biodynamischen Weingut Rita und Rudolf Trossen in Kinheim-Kindel/Mosel die damalige Einstellung der ökologischen Moselwinzergruppe, der er als ihr Philosoph immer noch angehört. Ihre dem Konventionellen verhafteten Kollegen nahmen ihnen dies sehr übel, weil der technokratische Glaube an moderne Chemie und Technik im Weinbau damals auf seinem Höhepunkt war. Aber zur selben Zeit begann allmählich ein großes Umdenken. Einer der Auslöser dafür waren die Probleme in Deutschland und Frankreich mit einem Insektizid, das vom Hersteller als großer Fortschritt angepriesen worden war. Winzige, gesundheitlich
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unbedenkliche Rückstände führten zu Weinen, die nach nassen Socken stanken. Gan ze Keller wurden so verseucht. Es war das Tschernobyl des Weins und ein eindrückli cher Beweis dafür, dass die modernen Mittel nicht nur positive Wirkung haben können. Nach und nach legte sich die Feindlichkeit der konventionellen Winzer gegenüber ihren ökologisch arbeitenden Kollegen. Der langsame, aber stetige Qualitätsanstieg der ökologischen Weine war dabei sehr wichtig. Chaotisch aussehende ökologisch bewirtschaf tete Weinberge wurden immer seltener, die Pflege der Reben und der Ausbau der Weine im Keller immer professioneller. Bereits vor 20 Jahren gab es einige ökologische Weingü ter in Deutschland, deren trockene Weißweine den Vergleich mit den angesehensten kon ventionellen Gewächsen nicht zu scheuen brauchten, und ihre Anzahl stieg mit jedem Jahr. Trossens Weine sind dafür ein gutes Beispiel. Vor einem Vierteljahrhundert schmeck ten manche seiner Rieslinge ein wenig mager oder etwas kantig, heute bestechen die her ben und edelsüßen Rieslinge durch Eleganz und Feinheit. Sie sind auch nicht mehr nur in einigen coolen Szeneläden in Düsseldorf zu finden, sondern auch auf der Karte des Restaurants Noma in Kopenhagen, das 2010 von einer internationalen Jury zum besten Restaurant der Welt gekürt wurde. Auch wenn es noch immer vereinzelt sehr konventionell arbeitende Winzer gibt, die nach wie vor blind an Chemie glauben, hat im deutschen Weinbau eine fundamen tale Wende stattgefunden. Aus dem früheren konventionellen Weinbau wurde der inte grierte Weinbau, bei dem die Kosten für jede Applikation von Spritzmitteln gegen die Folgen eines Verzichtes darauf abgewogen werden. Wenn die Folgen eines Verzichts wahr scheinlich gering ausfallen werden, fällt die Applikation aus. Gute fachliche Praxis ist heu te manchmal nur eine Floskel unter Experten, bedeutet aber meistens einen gesunden Respekt gegenüber Böden, Natur und Ökosystem. Bei den allermeisten qualitätsbewuss ten Winzern lautet das Prinzip längst, die Menge Chemie so weit wie möglich zu redu zieren. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, denn viele Mittel kosten richtig Geld, und der Aufwand des Spritzens ist auch nicht zu übersehen. Inzwischen sind viele der chemischen Spritzmittel, die noch in 1990er-Jahren weit – verbreitet waren, von der Liste der erlaubten Pflanzenschutzmittel gestrichen worden. Es fand ein fast vollständiger Austausch statt, und die Einsatzregeln wurden deutlich ver schärft, mit einem durchaus positiven Effekt für die Umwelt und einem deutlich verrin gerten Risiko für den Konsumenten. In den letzten Jahren gab es gelegentlich Horror schlagzeilen über Spritzmittelrückstände in Obst, Gemüse und Wein, doch die Werte bei deutschen Weinen lagen selten bei mehr als 1 bis 2 Prozent von dem erlaubten Maxi mum. Noch weniger Rückstände wären natürlich besser, aber dieser Wert ist nichts im
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Vergleich mit denen mancher Obst- und Gemüsesorten aus Spanien oder Italien. Rote Paprika und Erdbeeren sind davon besonders betroffen, weil auch die geringste Beein trächtigung durch Pilze hier sofort farblich sichtbar ist. Diese Entwicklung wurde durch eine Neuausrichtung des deutschen Weinbaus im All gemeinen unterstützt. Seit vielen Jahren sieht man überall in den Weinbaugebieten viele „grüne Weinberge“, denn Begrünung ist eines der Schlagwörter des modernen Weinbaus. Durch den eingesäten oder gesteuerten Bewuchs zwischen den Rebzeilen vermeidet der gute Winzer Bodenerosionen und schafft sich die Möglichkeit, auch nach starkem Re genfall mit dem Traktor durch den Weinberg zu fahren. Außerdem glaubt der moderne deutsche Winzer, so auch etwas Gutes für den Boden zu tun. Dass dieser vage Glaube nicht immer der Realität entspricht, soll uns vielleicht nicht überraschen. Zu Recht fragt Dr. Otmar Löhnertz, Professor für Bodenkunde und Pflan zenernährung in Geisenheim, seine Studenten Folgendes: „Handelt es sich um eine ech te Begrünung oder nur eine Begrasung?“ Damit meint er, dass es oft nur eine Grasnar be ist, die zwischen den Rebzeilen im Weinberg wächst, was dem Boden und den Reben nur wenig bringt. Es handelt sich dann eher um eine „Duokultur“, Rebe plus Rasen. Die Alternative dazu ist eine vielfältige Begrünung aus Kräutern, Kleearten und Gräsern, die wie eine Wiese aussieht und bei gutem Wetter Bienen und andere Insekten anzieht. Dort kann es dann sogar richtig laut summen. Wie groß der Unterschied zwischen einem verdichteten und einem gesunden, locke ren Weinbergboden ist, versteht man erst, wenn man es selber gesehen hat. Das war ei nes meiner unvergesslichen Erlebnisse in Geisenheim. Dr. Manfred Stoll schien mir bis dahin eher ein nüchterner Dozent zu sein, aber als wir Studenten mit ihm Spatenpro ben im Weinberg nahmen und diese gemeinsam anschauten, war er plötzlich in seinem Element. Wir stachen mit dem Spaten zwei blockförmige Proben aus dem Boden zwei er benachbarter Weinberge, einer mit Begrasung und der andere mit einer vielfältigen Begrünung, also ein direkter Vergleich von zwei Varianten, die sich nur in einem Faktor voneinander unterschieden, wie die Naturwissenschaft es vorschreibt. Letztere Probe fiel leicht auseinander, so krümelig und luftig war der Boden, während die andere als Block erhalten blieb. Stoll wies uns auf die Quaderstruktur hin, die in dem Fall durch Bodenver dichtung entstanden ist und auch für das starre Verharren des Blocks verantwortlich war. Der Quader sah aus wie Knete und war nicht belebt, weil kaum Luft hineingelangte. Und ohne Sauerstoff können Mikroben und Kleintiere wie Erdwürmer nicht leben. Alle Stu denten waren sichtlich baff, dass es zwischen nur wenige Meter entfernten Böden solch einen krassen Unterschied geben kann.
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Später im Hörsaal erklärte uns Otmar Löhnertz die fundamentale Bedeutung von Bodenleben und Bodenverdichtung für unseren Planeten. „Der menschliche Fortbestand auf der Erde hängt von den oberen 30 Zentimetern des Bodens ab“, setzte er an, und ei nen Moment lang fragten wir uns, was er damit meinte. Dann rief er uns in Erinnerung, wie das Bodenleben, sprich Nährstoffe, vor allem Stickstoff aus toten Blättern, Tiermist und anderem organischen Material freigesetzt wird. „Die einzige Alternative ist die Zuga be von chemischem Stickstoff, aber die Gewinnung davon aus der Luft ist sehr energiein tensiv“, fügte er hinzu. „Chemischer Stickstoff wird deswegen vorwiegend dort gewonnen, wo die Erdölförderung ist, vor allem in Norwegen und auf der Arabischen Halbinsel.“ Die Ablehnung von chemischem Dünger seitens der ökologisch arbeitenden Winzer erschien plötzlich viel zukunftsorientierter. „Wenn es zu Bodenverdichtung kommt, geht das nicht nur auf Kosten des Bodenlebens, sondern ein Teil des Stickstoffs entweicht auch aus dem Boden in die Luft in Form von Lachgas.“ Das klingt wie eine Lachnummer, ist aber leider genau das Gegenteil. Dann kam der Hammer für alle anwesenden Studenten: „Lachgas ist als Treibhausgas fast 300 mal so schlimm wie Kohlendioxid.“ Aua! Also spricht sehr viel für eine radikale Abkehr von der Monokultur hin zur vielfälti gen Begrünung des Weinbergs. Ein luftiger, lockerer Boden lebt auf eine Weise, die die Versorgung der Reben ohne chemischen Dünger ermöglicht und dabei die Klimaerwär mung nicht weiter vorantreibt. (Übrigens scheinen geflutete Reisfelder die Lachgaspro duktion von Weinbergen mit verdichtetem Boden bei Weitem zu übertreffen.) Aber wenn man als nicht-ökologischer Winzer die wunderbare Wiesen-Lösung wählt, dann muss man komplett auf chemische Insektizide verzichten, denn sonst lockt man Insekten erst an, um sie später damit zu töten. Heute müssen Winzer, auch die konventionellen, viel wei ter denken als noch die Generation ihrer Eltern. Um mir anzuschauen, wie der moderne Ökowinzer in Deutschland arbeitet, fahre ich zu verschiedenen Marktführern der hiesigen Szene. Vom Bimmelbahnhof Birkweiler muss ich nur wenige 100 Meter sanft bergauf laufen mit meinem Rollkoffer, um zum Weingut Ökonomierat Rebholz zu gelangen. Hansjörg Rebholz führt kein kleines oder etwa unbe deutendes Weingut, aber hier sind die Verhältnisse weit von der Pracht eines Dr. BürklinWolf-Hofs entfernt. Die letzten Jahre über wurde in kleinen Schritten vieles verschönert, aber trotzdem ist alles ziemlich normal geblieben. Parallel dazu verlief jedoch der Auf stieg eines für Pfälzer Verhältnisse sehr guten Produzenten zu einem der weltbesten Er zeuger von trockenen Weißweinen. Ja, ich rolle hier mit ziemlich hohen Erwartungen an. Es fällt sofort auf, dass neben dem großen Tor zwar ein Messingschild auf die Mit gliedschaft im VDP, dem Eliteverband der deutschen Winzer, hinweist, aber nichts deutet
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an, dass der Weinbau ökologischen Kriterien folgt. Auch auf der Preisliste gibt es kein entsprechendes Symbol dafür. Nur auf der Website findet man unter „Philosophie“ eine ganz kurze Erklärung der Umstellung darauf ab dem Jahr 2005, woraufhin alle RebholzWeine ab dem Jahrgang 2008 aus ökologisch angebauten Trauben erzeugt werden. Dieser Ball wird hier bewusst flachgehalten. Rebholz will auf keinen Fall, dass sich seine Weine aufgrund der Umstellung von anderen unterscheiden – sie sollen schlicht als RebholzWein erkennbar bleiben. Diesen Anspruch verstärkt das auf jedem Etikett, der Preislis te und überall auf der Website abgebildete Logo, ein großes R in der Mitte einer Traube. Wenn man sich die Geschichte der Familie Rebholz ein wenig genauer anschaut, dann sieht es aus, als sei die Umstellung auf ökologischen Weinbau eine logische Entwick lung gewesen, quasi der nächste Schritt in die richtige Richtung. Angefangen hat dieser Prozess mit Hansjörgs Großvater Eduard Rebholz, der am Anfang seiner Winzerkarriere ziemlich frustriert war. Hansjörg erzählte mir Folgendes: „Schon vor dem Krieg hat er alle möglichen neuen Ideen ausprobiert, die für mich heute selbstverständlich sind. Vieles hat bei ihm nicht funktioniert, entweder wegen der technischen Grenzen oder aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der damaligen Zeit.“ Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er richtig loslegen, unterstützt von sei nem Sohn Hans, Hansjörgs Vater. Schnell fanden sie gemeinsam einen ganz eigenen Weg, hochwertigen Wein zu erzeugen, sodass man durchaus von Wein-Philosophie spre chen kann. Das fing an mit der konsequenten Ablehnung der gängigen Mode der Nach kriegszeit, nämlich dem schweren und süßen Wein. Durch die – ganz legale – Zugabe von Zucker zum gärenden Wein (das Fachwort dafür ist Anreicherung oder Französisch chap talisation) kann der Winzer einen Wein alkoholreicher machen und durch die – ebenfalls ganz legale – Zugabe von blank filtriertem Traubenmost (Stichwort Süßreserve) süßen. Die Südpfalz war damals als „Süßpfalz“ verschrien und die Weine fast ausnahmslos billig. „Sie bekommen aus meinen Keller stets nur Naturweine“, teilte Eduard Rebholz sei nen Kunden 1951 in einem seiner inzwischen legendären Kundenbriefe mit und beschrieb sein Ziel als „Wein mit ursprünglichem Charakter“. Das klingt eigentlich sehr modern, fast wie Terroir, dem Schlagwort der Gegenwart, das im besten Fall für einen ausgeprägten Herkunftscharakter steht. Ab den späten 1940er-Jahren bis zu seinem Tod 1966 gewann Eduard Rebholz für seine meist ganz trockenen Weine (die wenigen natürlich-süßen Des sertweine eingeschlossen) viele Auszeichnungen und machte damit Schlagzeilen. Diese Philosophie setzt heute Hansjörg mit großer Begeisterung fort. Seine größte Innovation sind die trockenen Großen Gewächse aus den Spitzenlagen des Weinguts, von denen der Riesling aus der Lage Kastanienbusch 1998 der erste war. Heute gibt es jedes
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Jahr fünf solcher Weine, darunter drei Rieslinge, einen Weißburgunder und einen roten Spätburgunder. Es sind großformatig angelegte Kunstwerke, die aber alle einen ausge prägten ursprünglichen Charakter haben. Kein Wunder, dass sie manchmal polarisieren. Trotzdem zählen sie zu den gefragtesten trockenen deutschen Weinen, die im In- und Ausland mehr als genug Fans haben. Noch vor 15 Jahren war auch Hansjörg Rebholz skeptisch, ob sich solch großartige Rieslinge erzeugen ließen. Hier in Siebeldingen befinden wir uns nicht unten in der kuschelig-warmen Rheinebene, sondern in den Vorläufern der Haardt, einem Mittelge birgszug des Pfälzerwalds, und in manchen Weinbergslagen weht kühle Bergluft. Wäh rend des Herbsts 2003, wenige Jahre nachdem die neuen Rebholz-Weine der Spitzenklasse endlich auf den Markt kamen, machte ich eine Weinbergstour mit ihm, und wir kosteten die überirdisch-reifen Trauben, die später den Ausnahmejahrgang ergaben. „Ich glaube, mein Vater und Opa hätten einen unglaublichen Spaß an diesen Trauben“, sagte Hans jörg mit großer Überzeugung. Sie sind zwar längst tot, aber ihr Geist lebt weiter in ihm. Aber was bedeutet heute für ihn persönlich Weinerzeugung nach ökologischen Kri terien? Diese Frage geht mir durch den Kopf, als ich klingele. Ein junger Mann, der in zwischen zahlenmäßig in den besten Jahren ist, öffnet mir die Tür. Weinbau auf höchs tem Qualitätsniveau mit dieser Dynamik hält unglaublich jung, vor allem im Kopf. Ich folge Hansjörg Rebholz in den großen neuen Verkostungsraum, wo ich am langen Tisch Platz nehme, während er die Probeflaschen des neuen Jahrgangs holt. Natürlich bin ich mächtig gespannt, wie sie schmecken, aber ich muss meine Frage stellen, bevor die Wei ne uns mächtig ablenken, und als Hansjörg sorgfältig die Flaschen in einer Reihe mittig auf dem Tisch aufstellt, ergreife ich meine Chance. „Ich glaube, das Wichtigste für mich ist die Rückkehr zu Kreiswirtschaft und Nach haltigkeit, also dem Weinberg als Ökosystem, in dem Nährstoffe kreisen, statt verloren zu gehen“, schießt es aus seinem Mund hervor, „im Nachhinein kann ich nicht verste hen, wie wir davon abgekommen sind. Dazu kam es wohl, weil quasi die ganze Branche davon abgekommen ist.“ Was alle machten, erschien also plötzlich als normal, auch wenn es vorher nicht üblich war, aber wir machen tendenziell alle etwas mit, was vermeintlich normal ist, also irgendeiner gängigen Norm entspricht. Es läuft oft so mit neuen Moden und neuen Techniken, die zu neuen Verhaltens- und Arbeitsweisen führen und damit zu neuen Denkweisen. Dann erzählt Hansjörg, wie er einen Bauern gesucht hat, von dem er Mist als Basis für Kompost bekommt. In der Pfalz, wo Ackerfelder und Weinberge vor herrschen, war das sicher nicht so einfach. „Aber ich kann das alles viel besser im Wein berg zeigen. Wir fahren gleich nach der Verkostung hinaus.“
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Es wird uns nicht überraschen, dass viele Pfälzer Winzer nach wie vor von chemischem Dünger überzeugt sind. 1909 entwickelte Carl Bosch von der BASF in Ludwigshafen mit Fritz Haber den sogenannten Haber-Bosch-Prozess für die industrielle Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. Es war ein zweischneidiges Schwert, denn chemischer Stickstoff war auch die Basis für die unzähligen Millionen Tonnen von Sprengstoff in den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Heute werden jährlich weltweit 100 Millionen Tonnen chemischer Stickstoffdünger in der Landwirtschaft verbraucht. Man schätzt, dass bei der gegenwär tigen Arbeitsweise der Landwirtschaft die Hälfte der Weltbevölkerung ohne die mit che mischem Stickstoffdünger erzielte Ertragssteigerung hungern müsste. Auf der Kehrsei te kommt zu dem schon erwähnten hohen Energieverbrauch bei der Herstellung eine nicht unbedeutende Nebenwirkung hinzu: Ein erheblicher Anteil des chemischen Stick stoffdüngers landet als Nitrat in Grundwasser, Flüssen und Meeren, wo er viel Unheil an richtet. Auch konventionelle Weinbauern in Deutschland bemühen sich allerdings immer mehr, die Auswaschung des Nitrats aus dem Boden zu vermeiden. Das erzielen sie durch die rechtzeitige und vorsichtige Zugabe von Stickstoff, unabhängig davon, ob er organi scher oder chemischer Natur ist. Bei intensivem Salat- und Gemüseanbau ist dieses Pro blem jedoch bei Weitem größer. Ich bin froh, diese Gedanken für eine Weile auf die Seite zu schieben und mich mit den Rebholz-Weinen zu beschäftigen. Es ist wieder ein genialer Jahrgang, und die Wei ne besitzen eine Ausstrahlung, die sich nicht in irgendwelchen Zahlen messen lässt und die auch nicht leicht in Worte zu fassen ist. Alle Großen Gewächse sind sozusagen noch in ihrer Jugend, man kann sie vergleichen mit noch geschlossenen, ganz dichten Blü tenknospen, wo die bereits strahlende Farbe unterschiedlichste Schattierungen erahnen lässt. „Spieglein, Spieglein an der Wand, welcher ist der schönste Rebholz-Wein im Land?“ Jeder Mensch hat seine persönlichen Vorlieben bei Blumen, Musik, Bildern und Wein. Und Sie müssen auf gar keinen Fall meinem Geschmack folgen oder ihn als „rich tig“ erachten. Mein Credo lautet, dass jeder mit seinem Geschmack „recht hat“, der ein zige Fehler besteht darin, aus dem eigenen Geschmack ein Dogma zu machen und somit anderen den Spaß zu verderben. Denn das ist Geschmacksdiktatur, und die lehne ich wie den Faschismus oder ähnliche menschenverachtende politische Konzepte ab. Ich bin einfach dem Riesling Großes Gewächs aus dem Kastanienbusch verfallen. Er ist paradiesisch fruchtbetont, duftet und schmeckt nach Mango und Pfirsich, aber auch nach Kräutern und hat eine sanfte Säure. Dagegen ist Hansjörgs Riesling Großes Gewächs aus der Lage Sonnenschein wesentlich säurebetonter, deutlich dezenter im Duft … und deswegen mir persönlich weniger lieb.
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Wissenschaftler wie Prof. Dr. Ulrich Fischer vom Dienstleistungszentrum RheinlandPfalz, die den Geschmack von Wein erforschten, haben herausgefunden, dass er stark vom Weinbergboden abhängt. In der Lage Kastanienbusch ist der Boden von sehr kar gem Rotliegenden bestimmt, der wie ein roter Schiefer aussieht, aber streng gesehen kei ner ist, während die Reben im Sonnenschein in verwittertem Buntsandstein wurzeln. Die zwei Böden sind geologisch so unterschiedlich, wie ihre Weine riechen und schmecken. Aber warum der eine Wein wegen des Bodens schmeckt, wie er schmeckt, kann auch ein Wissenschaftler nur halb erklären bzw. Vermutungen darüber anstellen. Das Mysterium Wein bleibt bestehen. Hansjörg Rebholz glaubt, dass die geschmacklichen Unterschiede zwischen den Weinen verschiedener Weinbergslagen durch den ökologischen Weinbau noch intensiver werden. Das sei auch einer der Gründe, warum er sich dafür entschieden hat. So setzt er das i-Tüpfelchen auf seine Weine. Roten Boden wie in der Pfalz gibt es auch in den Weinbergen des ökologischen Wein guts Clemens Busch in Pünderich/Mosel, der nächsten Station meiner Reise. Mit den re benbedeckten steilen Hängen entlang ihrer Biegungen ist die Mosel eine ganz andere Welt als die tendenziell sanft anmutende Pfalz mit ihrem weiten Meer aus Reben. Die Mosela ner sind auch eigensinniger als die Pfälzer. Und vielleicht hat es deswegen länger gedau ert, bis die Winzer aus ihrem engen Tal hinaus in die anderen Weinbaugebiete Deutsch lands geblickt und festgestellt haben, dass Neid und Missgunst unter ihresgleichen längst passé sind. Mancher Moselwinzer geht zwar immer noch davon aus, aber definitiv nicht Clemens und Rita Busch. Ich lernte die beiden im Sommer 1987 auf dem Pündericher Straßenfest kennen, einem für Moselverhältnisse ungewöhnlich stilvollen „echten“ Weinfest. Mit seinen langen Locken und Vollbart sah Clemens exakt so aus, wie man sich einen Ökowinzer vorstellt. Er sieht immer noch so aus, ist nur ein wenig älter geworden. Rita passt halbwegs in die ses Bild, hatte aber schon immer ihren ganz eigenen Stil. Bei unserer ersten Begegnung fiel mir besonders ihre Entschlossenheit auf, eigene Wege zu gehen – sie hatten 1985 auf ökologischen Weinbau umgestellt –, und ihre große Offenheit gegenüber neuen Men schen und Ideen. Ihre Weine waren schon damals gut und hatten etwas Eigenes, waren aber nicht halb so gut oder erstaunlich wie heute. Über die Jahre wurden sie besser und besser, mal in kleineren, mal in größeren Sprüngen wie der Jahrgang 1999, dem ersten Jahrgang im heutigen Stil. Die Weine von Clemens und Rita Busch besitzen enorm viel Kraft und haben einen äußerst intensiven Duft, liegen also am anderen Ende des Geschmacksspektrums, als das Ökowein-Klischee vermuten lässt. Weiter als die beiden kann man es mit Moselries-
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ling hinsichtlich Fülle und Aromareichtum – Fruchtnoten, würzige Aromen und noch viel mehr – nicht treiben. Für manche Weintrinker sind ihre trockenen Weine mit bis zu 14,5 Prozent Alkoholgehalt (manchmal sind es aber auch nur 12 Prozent) sowie die natürlich-süßen Weine mit weniger Alkohol (oft nur 7 Prozent), aber einer ähnlichen geschmacklichen Opulenz einfach zu viel des Guten! „Ja, das, was ins Glas soll, muss zuerst einmal wachsen“, antwortet Clemens auf meine Frage, wie es im Weinberg laufe, „und dieses Jahr sieht es eigentlich ganz gut aus. Aber lass uns doch einfach mal schauen.“ Die letzten Jahre waren leider nicht immer einfach für die Winzer. Die Klimaerwärmung sorgt für eine bessere Reife der Trauben, aber leider werden die Reben von einer ganzen Schar von Pilzen und anderen Schädlingen bedroht. Bei man chen dieser Pilze liegt der Ursprung in der Globalisierung, vor allem bei Mehltau (Oidium in der Fachsprache) und falschem Mehltau (Fachbegriff Peronospera), die beide während des 19. Jahrhunderts aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt wurden. Die hiesige Weinrebe ist im Gegensatz zur nordamerikanischen Spezies nicht dagegen resistent. Das hatte verheerende Folgen, bis man herausfand, dass Schwefel gegen Mehltau und Kupfer gegen falschen Mehltau wirken. Seitdem gibt es keine ungespritzten Trauben in Europa mehr, da sonst jedes Jahr der Komplettverlust durch Mehltau und/oder falschen Mehltau drohen würde. Die konventionellen Winzer arbeiten inzwischen mit modernen chemi schen Mitteln, während die ökologischen Winzer bei Schwefel und Kupfer geblieben sind. Seit etwa fünf Jahren bauen Clemens und Rita Busch Wein nicht nur nach ökolo gischen, sondern auch biodynamischen Kriterien an, was zu einer Reihe von kleineren Veränderungen im Weinberg geführt hat. Biodynamische Landwirtschaft – Erzeugnisse werden häufig unter dem Namen Demeter vertrieben – geht zurück auf den Anthroposo phen Rudolf Steiner bzw. auf Vorträge, die er 1924 gehalten hat. Seit dieser Umstellung war ich nicht mehr in den Weinbergen der Buschs und bin gespannt, wie es dort aussieht. Wir machen einen ziemlichen Umweg, um in den Rothenpfad zu kommen, wo es neue Busch-Weinberge gibt, die ich noch gar nicht gesehen habe. Wir halten oberhalb eines steilen Hangs mit ganz jungen Reben hoch über der Mosel. Der Blick über Fluss, Wein berge, Felsen sowie die Bahnstrecke Richtung Trier und Luxemburg könnte kaum be eindruckender sein. „Diese einen Hektar große Parzelle haben wir 2006 übernommen und den größten Teil neu bepflanzt, was eine Wahnsinnsarbeit war“, erklärt Clemens. „2009 habe ich zum ersten Mal Peronospera, also falschen Mehltau, in richtig extremer Form erlebt. Manche unserer Weinberge für die Basisweine waren davon ziemlich stark betroffen, aber in tro ckenen Standorten mit Schieferboden wie hier war die Situation weniger problematisch.“
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Dieser Pilz liebt die Kombination von Feuchtigkeit und Wärme. Auch in meinem Wein berg habe ich im Sommer 2009 gegen falschen Mehltau gekämpft. Ich erkundige mich nach den anderen Pilzen. „Hier an der Mosel haben wir leider nicht nur mit Mehltau und falschem Mehltau zu kämpfen, sondern auch mit Rotem Brenner und Schwarzfäule“, antwortet Clemens ziem lich gelassen. Diese beiden Krankheiten sind alles andere als lustig. „2004 war ein schlim mes Schwarzfäule-Jahr, und es gibt kein richtig wirksames ökologisches Mittel dagegen, obwohl Kupfer und Schwefel zumindest eine hemmende Wirkung zeigen“, fährt er fort, „Schwarzfäule ist immer präsent, aber so halten wir sie im Griff. Gegen Roten Brenner sind die ersten zwei Spritzungen im Frühling kritisch, aber wenn man da den richtigen Zeitpunkt erwischt, hat man wenig Probleme.“ Das ökologische Moselwinzerleben ist ein hartes Brot, weil die Mittel zur Schädlingsbekämpfung weniger stark wirken als die kon ventionellen. Dadurch ist der richtige Zeitpunkt ihres Einsatzes umso wichtiger, zudem muss auch häufiger gespritzt werden. „Wir arbeiten auch mit biodynamischen Pflanzenstärkungsmitteln“, fährt Clemens fort, „mit pflanzlichen Extrakten wie Ackerschachtelhalm, der die Blätter abhärtet gegen über Pilzen. Wir dynamisieren den Weinberg außerdem mit anderen biodynamischen Mit teln wie einer extrem dünnen Lösung aus Kuhdung, der in Kuhhörner abgefüllt mehre re Monate im Boden vergraben war.“ Das klingt ein wenig nach Schwarzer Magie, aber es scheint tatsächlich eine Wirkung auf die Reben zu haben, auch wenn kein Wissenschaft ler bisher erklären konnte, warum die biodynamische Bewirtschaftung den Wuchs der Reben bremst. Auf alle Fälle handelt es sich um extrem sanfte Mittel, ganz anders als Kup fer, das ein Schwermetall ist und sich im Boden sammelt. „Auf Kupfer können wir noch nicht verzichten, aber wir gehen extrem vorsichtig damit um“, betont Clemens. „Es ist in fast jeder Spritzung mit dabei, aber immer in homöopathischen Mengen.“ Das ist seine Interpretation des biodynamischen Weinbaus. Für biodynamische Landwirtschaft gibt es kein fertiges Rezept, sondern jeder Winzer muss auf der Basis von einigen Grundregeln seine eigene genaue Arbeitsweise entwickeln. Braucht der Ökowinzer besondere Fähigkeiten? „Die Beobachtungsgabe ist sehr wichtig“, antwortet er, „immer das Wetter im Auge zu behalten und in allen Weinbergen sehr genau hinschauen, was dort passiert.“ Das ist vielleicht das, was ökologischen Wein bau ausmacht. Ein Winzer muss sehr genau aufpassen, wenn das Ergebnis so gut werden soll wie die Busch-Weine. Die ganze Arbeit ist daher viel stärker der tatsächlichen Situati on angepasst und erheblich weniger prophylaktisch als die der meisten konventionellen Kollegen. Wie viel davon ist Handarbeit? „Naja, in diesen Steilhängen fast ausschließlich!“,
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lautet die Antwort. „Wir haben schon zu tun, aber das Ergebnis entschädigt uns in den allermeisten Fällen.“ Der „Rothenpfad“ aus den übrig gebliebenen alten Reben – er heißt so, weil der Bo den aus echtem roten Schiefer besteht – will nicht nur angeschaut, sondern auch ver kostet werden, von daher müssen wir hinunter in den Ort ins Fachwerkhaus der Familie Busch. Es ist ein wahres Schmuckstück von 1663 und liegt idyllisch fast direkt am Mosel ufer mit Blick über die besten Weinberge der Lage Pündericher Marienburg, zu der auch der Rothenpfad gehört. Bei einem großen Wein – hinsichtlich Körper sowie Konzentra tion der Inhaltsstoffe – hilft ein großes Glas, um alles zu erschmecken. Aromen brauchen Platz, um sich entfalten zu können. Das trockene Große Gewächs aus dem Rothenpfad hat eine wunderbare Saftigkeit, eine seidige Säure und eine ausgeprägte Kräuternote, die mich an den Kastanienbusch von Hansjörg Rebholz erinnert, obgleich der Wein vor mir nicht so fruchtbetont ist. Es ist ein Tropfen für einen Abend zu zweit, da man ihm viel Zeit und Aufmerksamkeit schenken sollte. Man muss über ihn nachdenken, wird dafür aber auch sinnlich belohnt. Auf meiner Reise muss ich nur noch einmal Station machen. Das Ziel liegt eine kurze Zugfahrt entfernt in einer ähnlich schönen und atemberaubenden Weinlandschaft. Wie der muss ich meinen Koffer nur eine kurze Strecke vom Bahnhof, in diesem Fall ist es der in Bacharach/Mittelrhein, bis vor ein imposantes rotes Backsteinhaus ziehen. Auf der lin ken Hälfte der Fassade steht in großen Lettern „Weingut“. Das ist es auch, aber der Hin weis bereitet einen nicht darauf vor, dass inzwischen das ehemalige Gut Wasum das öko logische Weingut von Dr. Randolf Kauer beherbergt. Kauer ist nicht nur Winzer, der nach ökologischen Vorgaben Wein erzeugt, sondern auch Professor für ökologischen Wein bau an der Fachhochschule Geisenheim. Er verbindet Theorie und Praxis, bei ihm tref fen also persönliches Engagement und das gesamte Wissen über ökologischen Weinbau in Deutschland und der Welt aufeinander. Um mehr über die Zukunft des hiesigen öko logischen Weinbaus herauszufinden, gibt es keine bessere Adresse. Die Treppe zum Eingang des Weinguts ist steil und schmal, was mit dem schweren Koffer anstrengend ist. Dabei fällt mir ein, dass die Frage, wie ein deutscher Ökowein schmeckt, überhaupt keinen Sinn macht. Kauers trockene und feinherbe Rieslinge sind nämlich – trotz derselben Rebsorte und einem dem Mosel-Schieferboden sehr ähnlichen Weinbergsboden – komplett anders als die von Clemens und Rita Busch. Sie waren schon immer schlank und geradlinig wie ein Laserstrahl, richtig herb und selbstbewusst säure betont. Wie bei den besten Weinen aus konventionellem Weinbau gibt es keinen Öko wein-Einheitsgeschmack, sondern extreme Vielfalt.
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„Da bist du wieder. Auch du wirst älter!“, begrüßt mich Randolf Kauer, und sei ne Frau Martina, die im Weingut sehr aktiv ist, winkt mir zu. Die beiden kenne ich seit Anfang der 1990er-Jahre, als das damals winzige Weingut noch in den Kinderschuhen
Hansjörg Rebholz
pfalz
D r. R andolf Kauer, ÖKOWINZ ER UND WISSENSCHAFTLEr
Clemens busch Pünderich
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steckte, dort aber trotzdem schon gute Weine erzeugt wurden. Inzwischen ist der Betrieb auf die maximale Fläche gewachsen, die die beiden neben allen anderen Tätigkeiten be wirtschaften können: 3,6 Hektar. Wir wollen hoch in die steilen Weinberge oberhalb des historischen Ortskerns fah ren, was mir bei meinem letzten Besuch versprochen wurde, wofür aber die Zeit gefehlt hat, weil ich beim Verkosten so eine Schnecke bin. Ich bin froh, den Koffer loszuwerden, und genieße die neue Perspektive auf Bacharach und den Rhein, nicht weniger spekta kulär als der Blick auf die Mosel. Trotzdem muss ich meine Fragen stellen. Wie verbreitet ist der ökologische Weinbau in Deutschland, wie entwickelt sich die Gesamtfläche? „Die ses Jahr knacken wir die 5-Prozent-Schwelle in Deutschland, was man aber im Kontext sehen muss. 75 Prozent des weltweit ökologisch angebauten Weins kommt aus der EU, wobei nur etwa 2,5 Prozent der Gesamtweinbaufläche in der EU ökologisch bewirtschaf tet werden. In Deutschland liegen wir beim Doppelten des EU-Durchschnitts, also recht weit vorn. Die Zahl der Ökowinzer hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Hier in Rheinland-Pfalz etwa gab es 1980 gerade mal fünf Weinbaubetriebe mit 38 Hektar Reb fläche, die nach ökologischen Richtlinien produziert haben. 2008 waren es bereits 317 Betriebe mit 3.231 Hektar. Die Tendenz ist immer noch stark steigend.“ 5 Prozent klingt nach nicht viel, aber die zugrunde liegende Entwicklung ist wirk lich berauschend. Innerhalb einer Generation hat sich der ökologische Weinbau von ei ner alternativen Randerscheinung bis in die Mitte der Gesellschaft bewegt. Wie hat sich der konventionelle Weinbau während dieser Zeit entwickelt? Hat sich der Durchschnitts winzer in Richtung Öko bewegt? „Das Zeitalter der Heavy-Metal-Spritzungen ist glücklicherweise vorbei. E605 und eine Reihe richtig giftiger Spritzmittel sind auf Bundesebene längst verboten. Viele kon ventionelle Weinbaubetriebe bekämpfen Unkraut jetzt nur noch mechanisch, also ohne Herbizide. Das ist ein weiterer bedeutender Fortschritt. Der Traubenwickler, also der sehr destruktive Sauer-, Heu- und Süßwurm, wird weitgehend mit der Pheromon-Verwirrungs methode statt mit Insektiziden bekämpft. Aber vielleicht noch wichtiger ist der Wandel in den Köpfen vieler konventioneller Winzer. Du hast in Geisenheim erlebt, wie offen die jungen Winzer für diese Gedanken sind, auch wenn sie nicht gleich alles im eigenen Be trieb durchsetzen.“ Wir könnten noch viel länger reden, aber ich sehe, dass er eine Flasche seiner trocke nen 2009er Riesling Spätlese aus der Lage Kloster Fürstental dabeihat – „prüfen“ wir also die Reinheit des modernen Ökoweins ganz praktisch …
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Big is Beautiful: viel und gut Ich liebe Supermärkte. Die bunten Verpackungen in den Regalen haben mich eine ganze Zeit lang total fasziniert. Meine allererste Erinnerung ist ein Einkauf mit meiner Mutter Anfang der 1960er-Jahre. Dummerweise verließ ich allein den Supermarkt, ging in den Baumarkt nebenan, wo ich in einem Lagerraum für Türen angekommen den Ausgang nicht finden konnte. Es war wie in einem Albtraum. Tränen liefen unaufhörlich! Dann erschien meine Mutter, und alles war wieder gut. Vielleicht halte ich mich deswegen so gern in Supermärkten und Discountern auf und kaufe dort immer mal wieder ein paar Flaschen Wein, um zu erforschen, wie sich die Qualität der ganz normalen Allerweltsweine weiterentwickelt. Sich dort mit Wein zu versorgen ist eine typisch deutsche Verhaltensweise. Über zwei Drittel aller Weineinkäu fe in Deutschland werden in Supermärkten und Discountern getätigt. Allein ALDI deckt 27 Prozent des deutschen Weinbedarfs. Ich glaube, ein maßgeblicher Grund dafür ist die dort herrschende Anonymität. Wer sieht schon, welche Weine man im Supermarkt kauft? Im Normalfall höchstens die ge langweilte Kassiererin. Mit wem muss ich im Discounter über meine Weinauswahl spre chen? Gewöhnlich mit niemandem. So ist das Risiko, negativ aufzufallen, gering, man fühlt sich sicher und muss keine Angst haben, sich peinlich zu blamieren beim Thema Wein. Das geht mir durch den Kopf, während ich im Supermarkt ums Eck in Berlin vor gefühl ten 5 Kilometern Regal, allesamt voller Weinflaschen, stehe. Natürlich stellt sich die Frage, zu welcher der Flaschen ich greifen soll. Sie kennen die Situation, oder? Viele Menschen glau ben, Stuart Pigott fände stets und mit spielender Leichtigkeit genau „den richtigen Wein“. Die Wahrheit ist, dass ich mich vor dem Weinregal im Supermarkt ein wenig verloren fühle. Das erste Problem ist die schiere Vielfalt des Angebots. Ich stelle schnell fest, dass ich bei Weitem nicht jedes Etikett kenne, ja nicht mal alle Erzeuger, deren Produkte dort stehen. Dafür sind Weinregionen wie etwa Bordeaux, die annähernd so groß sind wie die gesamtdeutsche Anbaufläche, einfach zu gigantisch. Ebenso ist die Zahl der dortigen Er zeuger einfach zu groß, sie geht in die Tausende. Bordeaux ist auch ein Beispiel dafür, dass die Qualität innerhalb eines Gebiets stark schwanken kann. Bei Flaschen unter 10 Euro bewegt man sich auf einem wahren Minenfeld, weswegen Bordeaux bei uns in die sem Marktsegment an Bedeutung verliert. Der Mittelmeerraum, vor allem Südfrankreich, Südspanien und Süditalien, bietet eine echte Weinflut und ist deswegen auch ziemlich unübersichtlich. Dann gibt es noch
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den Wein aus den ganzen Überseegebieten von Chile über Australien bis Südafrika und so weiter. Da ist es auch für mich schwer, den Überblick zu behalten. Trotz der oft indus triellen Dimension der Weinerzeugung handelt es sich dabei aber um erstaunlich zuver lässige Quellen für Alltagswein. Deswegen haben diese Regionen und Länder in den letz ten Jahren so stark an Bedeutung gewonnen. Langsam, aber sicher setzt sich Qualität auch im Supermarkt durch. Sich einen Weg durch den Flaschenwald zu bahnen, finde ich auch deshalb schwie rig, weil eine Strategie der größten Erzeuger von Planet-Wine darin besteht, ihre Produk te unter mehreren unterschiedlichen Namen zu vermarkten, um alle Marktsegmente ab zudecken. Sie möchten vor allem bestimmte Markennamen nur im oberen Preisbereich positionieren. Gallo etwa, der größte kalifornische Erzeuger und weltweit Nummer 2, ist hier mit Flaschen ab 4,99 Euro vertreten. Es ist aber durchaus möglich, dass deutlich güns tigere Gallo-Weine der Discounter unter einem anderen Markennamen stehen. Dieser As pekt der Weinvermarktung stört mich, weil Zusammenhänge aus Marketinggründen be wusst verschleiert und Informationen vorenthalten werden. Im Supermarkt stoße ich aber noch auf ein weiteres Problem: die Hausmarken der entsprechenden Kette. Inzwischen gibt es davon eine neue Gattung, das heißt, Weine werden nach der jeweiligen Traubensorte benannt. Wenn ich eine eigene Supermarkt kette unter meinem Namen führen würde, dann gäbe es ganz bestimmt einen PIGOTTMerlot-Rotwein im Sortiment, weil diese Sorte so beliebt ist. Merlot hat bei einer breiten Konsumentenschicht fast die Funktion einer Marke. Die Beliebtheit dieser Rotweine ist verständlich: Diese Traube ergibt tendenziell säurearme Weine mit milden Gerbstoffen. Lassen Sie uns ein Gespräch von zwei meiner Stammkunden belauschen: „Irmchen, kennst du wirklich noch nicht den PIGOTT-Merlot?“ „Nee, Gaby, sollte ich?“ „Irmchen, er ist butterweich und schmeckt wie reife Blaubeeren mit Schlagsahne!“ „Dann nehme ich gleich eine Flasche mit. Sie kostet nur 1,99!“ Wie einfach das Geschäft mit Wein sein kann, wenn man genau den Geschmack ei ner bestimmten Käuferschicht trifft, man das Produkt im Supermarktregal gut platziert hat und der Preis niedrig ist! Dann gibt es noch einige altmodische Tricks zur Verkaufs förderung. Nehmen wir an, ich wolle jetzt durch den Weinverkauf in meinen Supermärk ten einer der reichsten Männer des Landes werden, wie beispielsweise Herr Albrecht. Um die Erwartungen meiner Kundschaft an einen Rotwein, der alles andere als herb und streng schmeckt, noch besser zu erfüllen, habe ich den PIGOTT-Merlot – ganz legal und ganz easy – vor der Abfüllung durch Zugabe von etwas unvergorenem Traubenmost oder
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Traubenmostkonzentrat leicht süßen lassen. Daher kommt die „Schlagsahne“, dadurch wirken die Fruchtaromen so „reif“, auch deswegen ist die Beschaffenheit „butterweich“. Auch deshalb ist Gaby so begeistert. Die Süße schmeckt sie als solche nicht, vielleicht weil sie an Zucker im Kaffee und in lauter Fertiggerichten gewöhnt ist. Sie glaubt felsenfest, dass ihr roter Merlot trocken ist, weil seine moderne Ausstattung eindeutig diesen Eindruck erweckt. Beim Wein gilt trocken als fein, während süß als minderwertig und unkultiviert betrachtet wird (mehr darüber in Kapitel 6), und wer will schon diesen Anschein erwecken? Gaby sicher nicht. Jeder von uns, egal wie alt oder jung, zieht geschmacklich unbewusst immer noch das vor, was er als Baby am liebsten mochte: Süße. Trotz der allmählichen Heranführung an Dinge, die etwa bitter, säuerlich oder scharf schmecken, und trotz guter Vorsätze und Selbstdisziplin fallen erwachsene Menschen ständig dieser allgemeinen, vorprogrammier ten Vorliebe zum Opfer, greifen unwillkürlich nach allem, das süß und fruchtig schmeckt. Gaby und ich auch, natürlich. Die großen Produzenten, die Wein wie Lebensmittel industriell erzeugen, spielen gern und oft mit dieser Neigung. Man braucht nur auf die Inhaltsangabe angeblich „herz hafter“ Lebensmittel, vor allem von Fertiggerichten zu schauen, wo entweder Zucker oder irgendein anderer Süßstoff fast immer ziemlich weit oben steht. Bei Wein stehen die In haltsstoffe noch nicht auf dem Etikett. Wenn das der Fall wäre, käme schnell ans Tages licht, dass der PIGOTT-Merlot einer von zahlreichen leicht gesüßten Rotweinen im Regal ist. Diese Billig-Wein-Produkte sind die Liebfrauenmilch des 21. Jahrhunderts!!! Mein Versuch, mit diesem Produkt reich zu werden, wird durch die Tatsache, dass die Traubensorte Merlot in jeder halbwegs bedeutenden Weinregion angebaut wird, wesent lich erleichtert. Jedes Mal, wenn ich neue Ware brauche, schaue ich als Erstes, wo in die sem Moment auf Planet-Wine Merlot-Rotwein als lose Ware am günstigsten ist. In dieser Größenordnung stellen 1 oder 2 Cent mehr Gewinn pro Flasche eine bedeutende Sum me dar. Ich lasse den Wein aufsüßen, verschiffe die Rohware in einem containergroßen Tank nach Deutschland und lasse ihn dann abfüllen. Das ist alles seit Langem das norma le Tagesgeschäft. Der nächste Schritt hingegen ist der wahre Coup: Auf die Flasche schrei be ich – ganz legal – so klein und unauffällig wie möglich das Herkunftsland, um es ge nauso unauffällig zu ändern, wenn die Rohware in einem anderen Land nächstes Mal ein paar Cent günstiger ist. Wo der Inhalt der Flasche herkommt, ist mir vollkommen egal! So handelt es sich um eines der globalisierten Weinprodukte, bei denen es quasi nur um den Preis geht und Qualität eher eine zufällige Nebenerscheinung ist. Ob es gut ist, hängt von der Qualität des Grundweins der betreffenden Charge ab, die momentan im
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Regal steht. Wenn Gaby also eine größere Menge meines Weins kaufen will, tut sie gut daran, zuerst eine Flasche zu probieren, und wenn die gut ist, nach weiteren Flaschen mit derselben L-Nummer (Los-Nummer, gehört zum Kleingedruckten) Ausschau zu halten. Nur diese Nummer stellt sicher, dass die Flaschen in ihrem Vorrat genauso nach Blaubee ren und Schlagsahne schmecken werden wie die erste. Die PIGOTT-Märkte sind meiner Fantasie entsprungen, aber der Rest der Geschich te erzählt von den unangenehmen Wahrheiten, die hinter vielen Supermarkt- und Dis counter-Weinen steckt. Was also mache ich vor dem Regal im Supermarkt um die Ecke? Ich überlege nicht lange, sondern greife zu einer Flasche eines mir bekannten Erzeugers, der mich noch nie enttäuscht hat. Der Wein ist bei Weitem nicht der günstigste hier, aber dafür habe ich eine wesentlich höhere Chance, dass er meinen Geschmack trifft und die Qualität stimmt. Das empfehle ich Ihnen auch, wenn Sie beim Weineinkauf auf Nummer sicher gehen wollen. Und wenn Sie keinen einzigen der angebotenen Erzeuger kennen, dann besteht die beste Lösung darin, einige Weine auszuprobieren, und die zweitbeste ist, einem Kritiker wie Stuart Pigott zu trauen. Jetzt aber die guten Nachrichten über im großen Stil erzeugten Wein zu günstigen Preisen. Inzwischen gibt es zumindest einige wirklich gute Weine in Supermarkt- und Dis counter-Regalen, die wesentlich besser schmecken als das, was noch vor wenigen Jahren die Norm war. Auch das frühere eher dürftige Angebot wie etwa in der Economy Class im Flieger oder im Bistro der Bahn hat einen Qualitätssprung nach oben gemacht. Guter Wein ist also leichter erhältlich und nicht mehr nur einem elitären Kreis vorbehalten. Und allmählich entwickelt er sich im angeblich genussfeindlichen Deutschland zur Selbstverständlichkeit. Wie schon gesagt, muss ein Erzeuger, wenn er die breite Masse mit guter Qualität beliefern will, eine große Menge seines Produkts zu einem günstigen Preis anbieten kön nen. Wie viel Wein braucht man also, um etwa die „nur“ 500 Filialen der PIGOTT-Märkte auch nur einmalig zu beliefern? Mindestens 50.000 Flaschen, doch dann wird er schnell wieder aus dem Sortiment fallen. Man benötigt mehrere Hunderttausende Flaschen pro Jahr, damit ein Wein kontinuierlich im Regal präsent ist, und ich bin klein im Vergleich zu ALDI mit seinen Tausenden Filialen! Im Handel darf dieser Wein allerhöchstens 9,99 Euro die Flasche kosten, aber ei gentlich sollte er deutlich günstiger sein, wenn sich das Rad richtig drehen soll. Um in qualitativer Hinsicht positiv aus der Reihe zu tanzen, genügt es nicht, dass ein Wein harm los und halbwegs harmonisch schmeckt, sondern er muss bezüglich Duft und Geschmack richtig was bieten. Das sind drei große Herausforderungen auf einmal für den Erzeuger, und selbst der schlaueste Winzer ist von der Natur abhängig.
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Bei der Bahn oder in der Economy Class einer Fluggesellschaft sind die Mengen etwas kleiner, aber von einem Wein darf es kaum unter 20.000 kleinen Flaschen sein. Hier ist der Preis vielleicht nicht ganz so kritisch wie im Supermarkt oder Discounter, aber viel höher darf er auch nicht liegen. Lange Jahre hat ein kleiner Kreis von Betrieben diese Großkunden beliefert. Diese „üblichen Verdächtigen“ waren weitestgehend verschiedene „Großkellereien“, also Groß betriebe, die lose Ware im Fass von zahlreichen kleinen Winzern kauften oder größere Chargen importierten, diese in riesigen Tanks verschnitten, anschließend – ganz legal – mithilfe von „Schönungsmitteln“ von etwaigen geschmacklichen Beeinträchtigungen befreiten und dann abfüllten – wahre „Weinfabriken“. Dazu kamen die großen Winzer genossenschaften mit jeweils Tausenden von Mitgliedern, verstreut über ein großes Wein baugebiet, die ihre Trauben für die zentralisierte Verarbeitung und Vermarktung ablie ferten, ebenfalls Branchenriesen. All das ist heute nach wie vor so, aber die Großkellereien kaufen zumindest für die nicht ganz so billigen Produkte Trauben statt Fasswein, um die Erzeugung und somit die Qualität des Endprodukts besser steuern zu können. Den Führungsriegen der großen Win zergenossenschaften ist klar, dass man als Lieferant von Ware für 1,99-Euro-Weine ohne eine gewisse Qualität austauschbar ist. Daran verdienen die Mitglieder nicht. Aber es gibt auch ein paar neuere Betriebe mit eigenen Weinbergen und zugekauf ten Trauben, die die Weinlandschaft Deutschlands mächtig verändern. Zu ihnen gehört das Weingut Schneider in Ellerstadt/Pfalz, dessen Weine Air Berlin und Hapag-Lloyd auf seinen Kreuzfahrtschiffen anbieten. Supermärkte hat Markus Schneider noch nicht be liefert, was aber nicht daran liegt, dass er damit ein moralisches Problem hätte, sondern weil sein Wein trotz einer Jahresproduktion von etwa 400.000 Flaschen in den letzten Jahren immer zu knapp ist. Das Erstaunliche ist, dass Schneider 1975 geboren ist und der Betrieb in seiner heu tigen Form erst seit 1994 existiert. Vorher baute sein Vater Klaus zwar Trauben an, lie ferte diese aber an eine Winzergenossenschaft, erzeugte also gar keinen Wein. Damit be gann erst sein Sohn, als dieser noch keine 20 Jahre alt war, wobei er schnell Fortschritte machte. Ich habe mich also heute in der Früh mit meinem Rollkoffer in Berlin auf den Weg gemacht, um das Phänomen Markus Schneider zu erforschen. Er erzeugte bereits 1996 einen neuen Rotwein, den er einfach „Rotwein“ nannte. Den Namen der Traubensorte, Portugieser, ließ er weg, weil deren Ruf nicht der beste war, eher ein Verkaufshindernis. Auch das beträchtliche Alter der Reben aus den 1920erJahren erwähnte er anfangs nicht auf dem Etikett. Unterschlagungen wie diese scheinen
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Bei einem begabten Winzer wie Markus Schneider ist ein Edelstahltank wie das Netz eines Schmetterlingssammlers.
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zu einfach und zu ehrlich, um am Markt eine Chance zu haben, aber Planet-Wine war dabei, eine ganz neue Umlaufbahn zu finden. Schneiders „Rotwein“ (der inzwischen in „Einzelstück“ umgetauft wurde) war ein großer Wurf mit einer bis dahin unbekannten kurvenreichen Üppigkeit für diese Traubensorte. In den Markt schlug er wie eine Bom be, genauso wie die Rotwein-Cuvée „Black Print“, die Schneider wenige Jahre danach ins Rotwein-Rennen schickte. Ihr Name rührte daher, weil er die farbliche Tiefe von schwar zer Drucktinte hatte. Kein Wunder, da war nicht nur Farbe, sondern ein wahres Füllhorn an Aromen nach vollen schwarzen Beeren und Früchten. Seine Weißweine sorgten für ähnliches Staunen beim Weinpublikum und in der Fach welt. Einen seiner trockenen Rieslinge nannte er „Kirchenstück“. Das Forster Kirchen stück gehört zu den bekanntesten Weinberglagen der Pfalz, für manche Kenner ist es sogar die Nummer 1. Aber Schneiders Wein stammt aus dem Ellerstadter Kirchenstück, einer vollkommen unbekannten Lage. Schon so mancher hat seinen „Kirchenstück“ im Lokal bestellt, ohne zu wissen, dass er aus Ellerstadt stammt, und ihn dann für einen (wesent lich teureren) Wein aus dem Forster Kirchenstück gehalten, bis er die wahre Herkunft auf dem Etikett entdeckte. Für Markus Schneider war es fast immer eine geniale Wer bung, dass dieser Wein oft gekauft wurde, weil er für was anderes gehalten wurde als er tatsächlich war, und trotzdem überzeugte. Dass diese Reaktion von ihm unbeabsichtigt war – er hat nur frech „Kirchenstück“ groß auf dem Etikett gedruckt –, machte es umso effektiver. Das Leben des noch jungen und recht wilden Winzers änderte sich, als er im Mai 2006 die Rheingauer Winzertochter Caro Helmer heiratete. 2007 bauten die beiden – aber nicht ein Häuschen, sondern einen ganzen Komplex, bestehend aus neuer Kellerei, Wohnhaus und Gartenanlage. Erstere wirkt wie ein Raumschiff, das inmitten von Wein bergen einen Landeplatz gefunden hat. Dorthin rolle ich meinen Koffer von der Bim melbahn-Haltestelle Ellerstadt West. Markus ist froh, mir endlich das „Raumschiff Schneider“ zeigen zu können. Alles ist neu entworfen worden, um optimale Bedingungen für die Erzeugung der 400.000 Fla schen pro Jahr zu schaffen. Hier blitzt viel Edelstahl, von den neuen Keltern bis zu den Tanks in allen Größen von 100 bis 48.500 Liter. Bei einem begabten Winzer wie Markus Schneider ist ein Edelstahltank wie das Netz eines Schmetterlingssammlers. Er erhascht damit Weinaromen. Das lässt sich auch mit einem Holzfass bewerkstelligen, was jedoch über die Jahre wesentlich schwieriger und aufwendiger sauber zu halten ist. Im Raumschiff sind die über 500 kleinen Barriquefässer aus Eiche für die Rotweine und den (weißen) Chardonnay reserviert.
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Und wie schmeckt nun der mengenmäßig bedeutendste Wein des Hauses, der tro ckene Riesling „Markus Schneider“ aus der 0,75-Liter-Flasche für 6,50 Euro ab Hof? Aus dem Tank kurz vor der Abfüllung verkostet, duftet er herrlich nach frisch aufgeschnitte ner Birne und Zitrusfrüchten, er ist voll und saftig, aber auch wunderbar erfrischend – sehr viel Wein im Glas für diesen Preis. Wie viel gibt es davon? „Die durchschnittliche Jahresproduktion liegt bei etwa 50.000 Flaschen“, sagt Schnei der ganz sachlich. „Wir könnten durchaus mehr in dieser Qualität erzeugen, bräuchten dann aber auch mehr Weinberge, aber meine Frau und Familie haben einen Wachstums stopp über den Betrieb verhängt. Nach einigen recht chaotischen Jahren sind wir jetzt erst mal am Konsolidieren.“ Die Menge würde also gerade reichen, um in den PIGOTTMärkten präsent zu sein, das würde aber nicht funktionieren, weil er seiner bestehenden Kundschaft treu bleiben möchte, statt alles auf eine Karte zu setzen. An Schneider klebt immer noch der Ruf des jungen Wilden, aber eigentlich steht er mit beiden Füßen fest auf dem Pfälzer Weinbergsboden. Das wirft die Frage auf, wie günstig ein richtig guter Wein sich tatsächlich erzeugen lässt – auch für 1,99 Euro die Flasche? Und wie viel man von solch einer Qualität produ zieren kann. Das Weinbaugebiet Franken ist ein guter Platz, um nach einer Antwort auf diese Fragen zu suchen, dort gibt es eine Reihe großer Weinbaubetriebe. Dahin reise ich anschließend, vom Würzburger Hauptbahnhof sind es nur wenige 100 Meter bis zu mei ner nächsten Station. Bombastischer als die Barockfassade des Juliusspitals kann die äußerliche Erscheinung eines Weinbaubetriebs kaum ausfallen. Es wurde 1576 als Stiftung von Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn gegründet, der 250 Meter breite Fürstenbau an der Juliuspro menade stammt von 1699. Man hat den Eindruck, als würde mindestens ein Prinz, wenn nicht sogar ein König darin wohnen, der Gebäudekomplex ist aber Teil des Krankenhau ses. Nach wie vor hat die Stiftung einen humanitären Auftrag, das heißt, sie unterstützt im sozialen und medizinischen Bereich das Krankenhaus sowie Pflege- und Altersheim. Der Grundbesitz – 3.220 Hektar Forst- und 205 Hektar Ackerfläche zuzüglich fast 200 Hektar für Weinanbau – bildet die wirtschaftliche Grundlage, die dazu beiträgt, ein Gebilde mit ei nem Jahresbudget von etwa 100 Millionen Euro und 1.150 Mitarbeitern am Laufen zu hal ten. Und das klappt gut, das Weingut schreibt seit Anfang der 1960er-Jahre durchgehend schwarze Zahlen. Das freut Stiftungsleiter Walter Herberth natürlich, froh ist er auch darü ber, wie das Weingut den Namen Juliusspital auf positive Weise in die große weite Welt trägt. Mit seinen rund 80 festen Mitarbeitern – während der Weinlese kommen noch mal so viele Helfer hinzu – ist das Weingut zwar nur ein kleiner Teil des Ganzen, aber immerhin
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das zweitgrößte Weingut Deutschlands. An dieser Stelle schnell eine kurze Definition des Begriffs: Ein Weingut ist ein Weinbaubetrieb, der weitgehend aus eigenen Weinanbau flächen, also aus selbst erzeugten Trauben, Wein erzeugt. Und schon kommt auch der nachdenkliche und immer fröhliche Weingutsdirektor Horst Kolesch, ein Pragmatiker, auf mich zu: „Wenn ich Trauben kaufen kann und die Weine daraus dem Ruf unseres Guts entsprechen und unsere Kunden glücklich machen, warum nicht?“, entgegnet er auf meine Frage, ob nicht Trauben aus dem eigenen Weinberg grundsätzlich besser sind. Er ist offensichtlich von seinen zugekauften Trauben und den Weinen, die der langjährige Kellermeister Benedikt Then daraus erzeugt, vollkommen überzeugt. Der „normale“ tro ckene Silvaner vom Weingut Juliusspital in der 0,75-Liter-Flasche ist ein nach reifen Äpfeln und Grapefruit duftendes, saftiges, aber klassisch-trockenes Paradebeispiel für den guten Wein, den sie verkaufen. Bei EDEKA in Würzburg habe ich ihn für 5,99 Euro die Flasche gefunden. Zumin dest regional beliefert das Weingut Juliusspital einige Supermärkte, durchaus aus Über zeugung. Für das größte Silvaner-Weingut der Welt ist dieses Erzeugnis eine gute Visi tenkarte. Auch da ist Horst Kolesch pragmatisch, da er seine Produkte nicht nur für bis rund 100 Euro die Flasche auf Weinkarten wie der von Alfons Schuhbecks Sternerestau rant in München sehen will. Ja, so viel kostet in manchen Gourmetrestaurants die enorm kraftvolle trockene weiße Cuvée „BT“. Aber die „BT“ und die genialen trockenen Gro ßen Gewächse des Juliusspitals aus den berühmten Lagen Würzburger Stein sowie Iphöfer Julius-Echter-Berg sind keine Prunk-Gewächse für Angeber und Blindverkostungen. „Unsere Weine sollen ,Trinksieger‘ sein!“, betont Kolesch und beschreibt sie damit sehr treffend. Der große Witz an den Weinen dieses traditionsreichen Hauses, dessen steinernes Stiftsbild aus dem Jahr 1576 die erste Abbildung des fränkischen Bocksbeutels zeigt, be steht darin, dass sie im Keller unterhalb eines Parkhauses erzeugt werden. Dieser hoch moderne Bau bietet für das Weingut viele Vorteile, wie etwa ein Flaschenlager mit opti malen Bedingungen, das zudem kaum klimatisiert werden muss. Aber billiger macht es die Weine nicht. „Manchmal bekommen wir Anfragen, ob wir Weine für 2,99 Euro die Flasche im Re gal liefern können, und ich antworte dann immer: ,Sehr gern, aber den Inhalt der Fla sche müssen wir getrennt abrechnen‘“, erzählt Kolesch mit einem breiten Lächeln. Es kostet ihn und sein Team viel Arbeit, um mehr als eine Million Flaschen pro Jahr auf die sem Qualitäts- und Preisniveau zu erzeugen. „Ich verstehe mich als Dirigent und die Mit arbeiter als Orchester“, beschreibt er die enge Zusammenarbeit aller Beteiligten, ange fangen beim Weinberg bis hin zu Verkauf und Betreuung von Besuchern wie Stuart Pigott.
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Bei der größten Winzergenossenschaft der Region, der Winzergemeinschaft Franken, von Fachleuten oft kurz GWF genannt, sieht alles zuerst ganz anders aus. Zu ihrem Sitz, ein Koloss im Industrie-Look der 1960er-Jahre oberhalb von Kitzingen, fahre ich mit dem Taxi. Der erste Eindruck ist ein ziemlicher Hammer, aber das kann bekanntlich täuschen. Der Geschäftsführer Michael Schweinberger ist schnell da und kommt direkt zur Sa che. Nachdem er 2005 von der Paulaner-Brauerei hierher gewechselt ist, hat sich hinter der Fassade viel geändert. Er will mir als Erstes die auffälligste Neuigkeit zeigen. Bereits 2007 wurde die alte Abfüllanlage durch den Bau einer komplett neuen Halle mit hoch moderner neuer Abfüllanlage ersetzt. Das klingt sehr technisch und eher nebensächlich, da die gute Qualität eines Weins auf den Weinberg zurückgeht, oder? „Vorher haben unsere Weine bei der Abfüllung, dem letzten Schritt des Produktions prozesses, zu viel Frische und Aroma verloren“, erklärt der groß gewachsene, intelligente und weltoffene Schweinberger, „jetzt erfolgt die Abfüllung viel schonender, und die Weine schmecken frischer und aromatischer.“ Im letzten Moment kann man einem jungen Wein förmlich das Genick brechen, wenn er schnell erhitzt oder mechanisch stark strapaziert wird. Wenn das mit den Weinen von 2.400 Mitgliedern mit 1.400 Hektar Weinbergen bzw. bis zu 15 Millionen Flaschen pro Jahr passiert, ist das eine ernste Sache. Die neue Abfüll anlage wirkt beinahe wie ein mythisches Tier aus Edelstahl – teils Schlange, teils Krokodil, teils Drachen. Das Ergebnis in der Vinothek zu prüfen ist der nächste Programmpunkt. Die GWF orientiert sich ganz offensichtlich an den dynamischsten Winzern dieses dynamischsten aller deutschen Weinbaugebiete, was aber aus meiner Sicht kein Grund zur Kritik ist, wenn das Ergebnis schmeckt und sich wirtschaftlich rentiert. Ein Beispiel dieser Politik sind „die jungen frank’n“, fruchtige, spritzige trockene Weine aus der Trauben sorte Müller-Thurgau, die für 2,99 bis 3,49 Euro die Flasche im Supermarktregal stehen. Selbst der helle Bocksbeutel lehnt sich an den trockenen „Frank & Frei“-Müller-ThurgauWeinen einer Gruppe selbstständiger fränkischer Winzer an, aber das ist ein gutes Vorbild. Vom erfolgreichsten GWF-Wein im Lebensmitteleinzelhandel gibt es etwa 650.000 Fla schen pro Jahr, damit ließen sich die 500 PIGOTT-Märkte das ganze Jahr über problem los beliefern. Wie schafft es die GWF, solch eine Qualität in dieser Menge zu erzeugen? „Die Menge ist an sich nicht das Problem“, erklärt Herr Schweinberger, „man muss nur richtig arbeiten und für die Menge auch entsprechend ausgerüstet sein. Wir haben einen Mitarbeiter, der sich nur um die Weine für die Marke ‚die jungen frank’n‘ küm mert. Vor der Lese schauen wir uns jeden Weinberg an und prüfen, wie gut die Trauben tatsächlich sind, dann wird entschieden, welche Trauben welchen Wein ergeben.“ Bei die sen Dimensionen muss der letzte Arbeitsschritt ein riesiger Aufwand sein.
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Aber Herr Schweinberger und sein Kellermeister Christian Baumann erzeugen nicht nur Markenweine zur breiten Distribution in Supermärkten. 40 Mitglieder pflegen mit einem wesentlich größeren Aufwand als üblich einige ausgewählte Weinbergsparzel len in den besten Lagen des Gebiets für die Weine der „Franken Riemenschneider – 1er Traube“-Serie, eine Art Konkurrenz zu den Großen Gewächsen vom Weingut Juliusspi tal und anderen Mitgliedern des Eliteverbands der deutschen Winzer, dem VDP. Warum auch nicht? Diese Weine kosten etwa 10 Euro mehr pro Flasche als „die jungen frank’n“. Es ist ein anderer Saft mit mehr Kraft. Es wäre einfach für einen Weinkritiker wie Stuart Pigott, solch einen Großbetrieb hochnäsig zu ignorieren und sich auf die Welt der handwerklichen Weinerzeugung zu beschränken, aber damit ist ein Auge schon blind, bevor man überhaupt anfängt, den Wein wahrzunehmen. Die Discounter sind ein wichtiger Teil des täglichen Lebens von Millionen Deutschen, und ich finde es großartig, wenn sich die Qualität der dort erhält lichen Weine steigern lässt. Das kann den Geschmackshorizont einer riesigen Zahl von Menschen erweitern. Mit dieser Vision begann Fritz Keller, Inhaber des bekannten Schwarzen Adlers in Oberbergen/Baden – Weingut, Weinhandlung und Restaurant in einem und sehr bekannt –, nachdem er das kleine Imperium seines inzwischen verstorbenen Vaters Franz übernommen hatte, 2007 mit dem Vitis-Projekt, gute Weine für ALDI zu erzeu gen. Eigentlich hat er damit einen Gedanken aufgegriffen, der ihm lange durch den Kopf gegangen war. Bereits vor gut zehn Jahren erzählte er mir bei einem Stück Stein butt in seinem Traditionsrestaurant Folgendes: „Bauhaus, Mies van der Rohe … ihr Ziel lautete: Qualität für alle, nicht nur Spitzenprodukte für eine Elite. Dahin müssen wir mit dem Wein auch!“ Badischen Wein für ALDI nach den Prinzipien von Mies van der Rohe? In der Tat, das ist wahrlich gelungen, und inzwischen dokumentiert dies jeweils ein Bauhaus-Motiv auf den Flaschenetiketten. Beim trockenen Weißburgunder ist es ein Ausschnitt des zwölftei ligen Farbkreises von Ludwig Hirschfeld Mack von 1922/23, zu sehen im Bauhaus-Archiv in Berlin. Um herauszubekommen, was wirklich dahintersteckt, muss ich die Fahrt mit dem ICE von Würzburg nach Freiburg/Breisgau hinter mich bringen und schaffe es erst ziemlich spät nach Oberbergen, das malerisch schön zwischen den Weinbergen des Kai serstuhls liegt. Bereits während der Autofahrt vom Bahnhof zum Weingut fängt Keller an, mir die Eckpunkte des Konzepts zu erklären. Qualität kommt nicht von ungefähr, sie muss in ihrer Entstehung gesteuert und kontrolliert werden. Er wendet den Bauhaus-Gedanken schon
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im Weinberg an, die nach einer Reihe von Kriterien ausgewählt werden, unter anderem dem Alter der Rebstöcke. „Es geht mir auch darum, die guten alten Weinberge zu erhal ten, die das beste Potenzial für gute Weine haben“, sagt er mit Leidenschaft. Passion bei der Produktion von Weinen für ALDI? Ja, genau wie bei der Erzeugung seiner „eigenen“ Weine, die den Namen des Weinguts tragen und bis zu gut 30 Euro die Flasche ab Hof kosten. Nichts anderes kommt für ihn infrage. Inzwischen sind 750 Win zer mit insgesamt über 300 Hektar Weinberg am Vitis-Projekt als Traubenlieferanten be teiligt, fast doppelt so viele wie am Anfang. Die Gesamtmenge der „Edition Fritz Keller“ muss schon bei weit über einer Million Flaschen pro Jahr liegen. Moderne EDV und GPSKoordinaten helfen ihm dabei, den Überblick zu behalten und die Qualitätskontrolle auch im Weinberg durchzuführen. In einer Weinbaugemeinde mit mehreren hundert Hek tar Weinberge ist es nicht immer leicht, die richtige kleine Weinbergsparzelle zu finden. „Jede Gemeinde hat einen Musterweinberg, der von einem sogenannten Kontroll winzer gepflegt wird“, erklärt Keller. Er sorgt dafür, dass die Produktionsregeln eingehal ten werden, und der Musterweinberg wiederum ist ein Beispiel für optimale Pflege. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Ertragsbegrenzung nach dem Menge-Güte-Gesetz. Obwohl das Prinzip je weniger, desto besser nicht bei allen Traubensorten und in jeder Situation gleichermaßen gilt, muss dieser Punkt jedoch immer beachtet werden, wenn man mehr als Unmengen dünner Weinchen erzeugen will. Und das waren die Weine der „Edition Fritz Keller“ der ersten drei Jahrgänge nie. „Mir geht es darum, die Schwellenangst bei gutem Wein zu überwinden“, sagt er, als wir in Oberbergen ankommen, „viele Menschen, auch Menschen mit genug Geld, haben Angst, eine Weinhandlung zu betreten. Ich will sie ganz sanft an guten Wein heranführen und sie dafür gewinnen.“ Das wäre natürlich sehr hilfreich für Stuart Pigott, der ebenfalls von manchen Leuten für abgehoben gehalten wird, trotz aller Bemühungen um einen basisdemokratischen Umgang mit Wein. Ich folge Keller ins Restaurant und staune wie bei all meinen vorherigen Besuchen, wie hier einfache Handwerker aus dem Ort neben weitgereisten Porschefahrern sitzen – wieder ein Beispiel seiner Grundhaltung. „Ich wollte keinen Massengeschmack: kein Tutti-Frutti-Bananenaroma, keine Operet tensüße!“, sagt er mit deutlichem Nachdruck. Wir erzeugen richtig trockene Weine mit einer mineralischen Note, basta.“ Der kleine Mann mir gegenüber zeigt keinerlei Anzei chen des üblichen Kleinen-Mann-Komplexes. Wir setzen uns, und Flaschen vom Weiß burgunder „Edition Fritz Keller“ trocken sowie dem normalen Weißburgunder trocken vom Weingut Schwarzer Adler kommen auf den Tisch – die 5,99-Euro-Flasche von ALDI gegen ein Exemplar für etwas über 10 Euro vom renommierten Weingut.
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Die Sommelière schenkt uns die Weine ein, und während Keller überlegt, was wir es sen sollten, verkoste ich diese. Ich stelle sofort eine Familienähnlichkeit zwischen den bei den Weinen fest, die nebeneinander wie kleiner und großer Bruder wirken. Beide sind richtig erfrischend, weil sie nichts von der aufgesetzt süßlichen Art vieler angeblich tro ckener Weine aus dem Supermarkt- und Discounter-Regal haben, ob nun weiß oder rot. Ich erzähle meinem Gastgeber, wie ich vor Kurzem in einer Blindprobe seinen „Edition Fritz Keller“ Weißburgunder erlebte, der dabei sogar im Vergleich mit fünf- und zehnmal so teueren Weinen bestehen konnte, darunter berühmten Franzosen. Fritz Keller strahlt. Sein Bauhaus-Traum scheint in Erfüllung zu gehen.
F ritz Keller
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„Ich wollte keinen Massengeschmack: kein Tutti-Frutti-Bananenaroma, keine Operettensüße!“, sagt er mit deutlichem Nachdruck. Wir erzeugen richtig trockene Weine mit einer mineralischen Note, basta.“ Zitat Fritz Keller
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SüSSwein: richtig gut und richtig kitschig Da sitzen die alten Omis zusammen am Tisch, erzählen von den guten alten Zeiten, schlür fen süßen Wein aus kleinen verzierten Gläsern, und ihre Augen leuchten. Hat man in Deutschland nicht Bilder wie dieses im Kopf, wenn süß im Hinblick auf Wein nach Rück wärtsgang klingt? Oft sind die Assoziationen noch schlimmer, und der Süßwein wird für mindestens gepanscht, wenn nicht für völlig künstlich gehalten. Wahrscheinlich kommt es deswegen manchmal auch zu geradezu panischen Reaktionen, wenn jemand vorschlägt, einen süßen Wein zu trinken: Nein, nein, bitte nur keinen schweren Süßwein! Wer will schon als mega-out gelten? Wer will keinen schweren Süßwein! Ich natürlich auch nicht, aber ich trinke leidenschaftlich gern süße deutsche Weine. Was da in mein Glas kommt, empfinde ich aber keinesfalls als altmodisch, sondern als großartig frisch und bele bend, von einer Duftigkeit wie feinstes Parfum und mit einem Geschmack, der richtig heiß auf der Zunge tanzt. Gepanscht ist es auch keinesfalls. Diese Weine haben meistens eher wenig Alkohol, und ich kann ziemlich viel davon trinken, ohne gleich einzuschlafen. Ich bin übrigens alles andere als ein Einzelfall. Solche süßen deutschen Weine sind weltumspannender Kult. Und was ist mit den Omis und ihrem schweren Süßwein? Aus meiner Sicht handelt es sich um eine der größten Weinlegenden aller Zeiten. Klar trinken manche älteren Damen gern süßen Wein, andere aber lieber trocken. Menschen, denen ich begegne und die gern Süßwein trinken, gehören allen Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten an. Die Älteren unter ihnen sprechen aber nicht laut darüber, weil sie nicht als Kultur banausen abgestempelt werden oder negativ auffallen wollen. In Wahrheit existiert das Bild von den Süßwein schlürfenden Omis vor allem in unseren Köpfen! Billige, banale Süßweine gibt es schon für 1,49 Euro die Flasche im Supermarkt, aber für wenige Euro mehr entspricht eine große Auswahl mehr oder weniger dem von mir gerade geschilderten genialen Geschmacksspektrum. Wegen der Omis in unseren Köp fen sind sie oft richtig günstig, hingegen zählt einer der besten deutschen Süßweine zu den allerteuersten Weinen der Welt. Die „Scharzhofberger Riesling Trockenbeerenauslese“ vom Weingut Egon Müller-Scharzhof bei Wiltingen an der Saar ist eine wahre deutsche Weinlegende, geschätzt von Kennern überall auf Planet-Wine. Ihr Preis? 1.500 Euro die halbe Flasche. Glücklicherweise ist der zart-süße und wunderbar anregende „Scharzhof Riesling“ des Hauses für „nur“ 15 Euro die Flasche im Regal zu finden. Ein Wein dieses weltberühmten Weinguts muss nicht zwangsläufig zum sofortigen finanziellen Ruin führen.
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Der Besuch eines legendären Weinguts kann manchmal ziemlich ernüchternd oder gar enttäuschend sein. So ist Château Pétrus in Pomerol/Bordeaux ein nicht besonders attraktives zweistöckiges Bauernhaus und der Eingang zur Domaine de la Romanée-Con ti in Vosne-Romanée/Burgund schwierig zu finden, weil das Tor so unscheinbar ist. Da gegen ist das Weingut Egon Müller-Scharzhofberg ein imposantes und gediegenes Anwe sen aus dem 18. Jahrhundert, dessen Erscheinungsbild durch die Lage am Fuß des steilen rebenbedeckten Scharzhofbergs noch gewinnt. Aus der einen oder anderen Perspektive, je nach Jahreszeit, wirkt der Berg wie eine gigantische grüne Wand hinter dem Weingut. Ich stehe an einem Herbsttag mit meinem Rollkoffer vor der Tür des Guts Scharz hof und klingele. Man macht mir auf, und vor mir steht der groß gewachsene, kahlköp fige Egon Müller IV in Maßanzug und Krawatte. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen der optische Eindruck – des Menschen nicht weniger als der des Hauses – bestens zum Geschmack des Weins passt. Bei Egon Müller gibt es keinen Verkauf ab Hof, eine alte Familientradition, die kon sequent fortgeführt wird. Ist man vom Fach, wird man nach Absprache empfangen, gele gentlich heißt man auch Gruppen von Weinfreunden willkommen, wenn rechtzeitig ein Termin vereinbart wurde. Doch Weintourismus findet hier nicht statt, dafür haben Egon Müller IV, seine Frau Valeska und das kleine Team um Kellermeister Stefan Fobian ein fach keine Zeit. Die Erzeugung hochwertiger Süßweine verlangt einen hohen Grad an Perfektion, wenn sie regelmäßig gelingen sollen. Nach einer kurzen Begrüßung betrete ich die kühle Eingangshalle, in der sich seit meinem ersten Besuch vor einem Vierteljahrhundert, bis auf wenige bunte Gemälde von Tochter Isabelle, so gut wie nichts verändert hat. Damals wurde ich von Egon Müller III (1919 bis 2001) empfangen. Der Vater des heutigen Besitzers, der das Gut nach dem Zwei ten Weltkrieg erfolgreich an die Weltspitze zurückführte, erzielte auf den jährlichen Wein versteigerungen im nahe gelegenen Trier einen Rekordpreis nach dem anderen. Der gute Ruf geht aber eigentlich zurück auf Egon Müller I (1852 bis 1936). Das Flaschenetikett im Jugendstil dokumentiert, wie das Gut mit der 1895er „Scharzhofber ger Riesling Auslese“ im Jahr 1900 auf der Exposition Internationale in Paris den ers ten Preis gewann. Auch drei Generationen später werden heute edle Riesling Auslesen aus dem Scharzhofberg erzeugt, die zwischen 150 und etwa 500 Euro die Flasche kosten. Die Müllers waren bereits vor 100 Jahren für Süßweine berühmt, und die Preise waren damals im Verhältnis mindestens so hoch wie heute. Es handelt sich um eine wahre Süß wein-Dynastie – der junge Egon Müller V wächst schon heran und ist bereits von Wein bergen begeistert.
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Egon M üller
Rheinhessen
A lex Gysler
Auf einem runden Marmortisch links von der Eingangstür bilden Probeflaschen ei nen Kreis. Vor jeder steht ein Verkostungsglas. Gleich werde ich den Geschmack der neu esten Inkarnation der Müllerschen Süßweintradition erforschen. Vor allem interessieren mich die Flaschen am Ende der Reihe, in denen die Spitzenweine des Hauses schlum mern. Es sind die hellgoldene Auslese, die tiefgoldene Auslese mit „Goldkapsel“ und die bernsteinfarbene Beerenauslese sowie die Trockenbeerenauslese. Diese natürlichen Es senzen der Rieslingtraube sind auf dem Tisch nach steigender geschmacklicher Intensi tät und Preis angeordnet. Schritt für Schritt nähert man sich dem Süßwein-Himmel und kommt einfach nicht aus dem Staunen heraus, weil es so viel mehr als nur Süße im Glas zu entdecken gibt. Das Besondere dieser Weine ist, dass sie nie schwer oder plump wirken, egal wie überirdisch konzentriert sie auch sind. Nein, sie behalten stets ihre geniale Harmonie und Feinheit bei. Bei den Beerenauslesen und Trockenbeerenauslesen handelt es sich eher um eine Art Honigsüße, also um eine intensive, würzige Süße, die an Honig erinnert, statt banale und eindimensionale Zuckersüße. Es gibt so viele andere Inhaltsstoffe neben
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der unvergorenen Traubensüße, so viele Aromen, Säuren und Mineralien, dass die Süße nie die Oberhand gewinnt und somit auch nicht der Eindruck von Schwere entsteht. Für diese Geschmackswunder zahlen Fanatiker rund um den Globus vierstellige Flaschenpreise. Das Paradoxe solch edelsüßer Weine ist, dass sie durch Fäulnis überhaupt erst entste hen können. Es handelt sich dabei aber um eine ganz besondere Form von Fäulnis, die wegen des hochwertigen Ergebnisses auch Edelfäule genannt wird. Das klingt sicher zunächst etwas absurd, aber Fäulnis ist nicht gleich Fäulnis. Auf der Erde gibt es Abertausende von Pilzen, die alle extrem unterschiedlich sind. Einerseits gibt es die meist bunten giftigen Pilze im Wald, die am Abbau von organischem Material beteiligt sind und so den Nährstoffkreislauf in Bewegung halten. Andererseits haben wir die Trüffeln, die teilweise für enorme Preise gehandelt werden und manchem Feinschme cker als das Edelste überhaupt gelten. Ich liebe Trüffeln, ziehe ihnen aber den Steinpilz, die Herbsttrompete oder gar den braunen Champignon vor. Bei edelsüßen Weinen neh men wir den Pilz selbst gar nicht in den Mund, sondern nur den vergorenen Saft aus den von ihm befallenen Trauben. Botrytis cinerea ist der wissenschaftliche Name dieses Schlauchpilzes, der bei günsti gen Bedingungen – warm sollte es sein, bei zumindest leichter Feuchtigkeit – durch die Beerenhaut in ihr Inneres eindringt, wo er Zucker, Säuren und manche anderen Inhalts stoffe der Traube futtert. Wenn die Weintraube reif ist, gibt es für ihn ein üppiges Mahl, weil diese in reifem Zustand wesentlich reicher an Zucker ist als fast jedes andere Obst. Sie sind auch viel süßer als das, was als sogenannte Weintrauben in der Obstabteilung oder auf dem Markt angeboten wird. Winzer messen die Süße des Mostes in Oechslegraden. Bei den allerreifsten Pfirsichen kommt man etwa auf 75° Oechsle. Äpfel schaffen auch nicht mehr, aber reife Riesling trauben kommen auf gut 100° Oechsle. So viel Zucker „pumpt“ die Rebe in die Trauben (zusammen mit Mineralien und anderen Inhaltsstoffen) als Lockmittel für die Vögel – und inzwischen für uns Menschen. Die Rebe hat uns so fest in ihrem Griff, dass wir in zwischen 8 Millionen Hektar Weinberg auf der Erde pflegen, anstatt die Trauben von ein paar Wildreben zu sammeln wie zu Beginn der Weinerzeugung! Aber zurück zur Edelfäule und der Entstehung edelsüßer Weine. Zuerst verringert sich die Konzentration von Zucker und Säuren im Saft, weil der Pilz sie frisst. Dabei er zeugt er Stoffe wie Glyzerin, die edelsüßen Weinen den Eindruck von Reichhaltigkeit ver leihen. Der Pilz führt vielfältigste chemische Veränderungen der Inhaltsstoffe herbei, aber so komplex wie das klingt und auch ist, so ist das Ergebnis dieses Prozesses auch für Lai en optisch deutlich sichtbar.
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Botrytis -t rau ben
Süss wein
Um mir das näher anzuschauen, gehe ich jetzt mit Egon Müller in den Weinberg. Inzwischen hat er sich seine Arbeitskluft angezogen, und ich folge ihm in den Scharz hofberg. Ich bin froh, meine australischen Farmerstiefel zu tragen, weil der Weg schnell steil und rutschig wird. Egon Müller berichtet, dass die Lese gerade erst begonnen hat, aber es sind schon massig Botrytis-Trauben zu finden. Mindestens ein Drittel jeder Trau be, manchmal auch die ganze Traube, ist von Edelfäule in jedem Entwicklungsstadium betroffen. Zuerst sieht man an den kleinen gelben Beeren winzige lila Flecken, die bald die ganze Frucht überziehen, wobei aus ihrer Farbe eher ein Lila-Braun geworden ist. Bis dieser Punkt erreicht ist, erzählt Egon Müller, hat der Pilz Hunderte von Löchern in die Haut jeder einzelnen Beere gebohrt, sodass bei warmen Temperaturen das Wasser darin schnell verdunstet ist und diese schrumpft. Anfangs kann der Pilz einen weißlichen Belag auf der Beere bilden, aber wenn das Wetter dann eher trocken bleibt, stirbt der Pilz, und aus den Beeren werden sozusagen Rosinen. Die Genauigkeit, mit der er mir Beispiele für die einzelnen Stadien zeigt, spricht Bände über die Präzision, mit der er und sein Team die edelfaulen Trauben bei der Lese selektieren. Je weiter dieser Schrumpfungsprozess vorangeschritten ist, desto mehr Zucker, Säu ren und Aromen enthält der Traubensaft. Bei idealen Bedingungen ist eine Konzentra tion um mehr als das Doppelte locker möglich. Aus 100° Oechsle können also mehr als 200° werden, im Extremfall sind auch 300° möglich, was aber immer Hand in Hand mit einer entsprechenden Verringerung der Saftmenge geht. Je stärker die Beeren schrump fen, desto mengenmäßig knapper, aber umso dickflüssiger fällt der Saft aus. Weine, die ausschließlich aus edelfaulen Trauben hervorgehen, werden fast automatisch süß, weil
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auch die leistungsstärkste Hefe nicht viel mehr als 100° Oechsle in Alkohol umwandeln kann. Bei Weinen aus Saft mit deutlich höheren Werten bleibt zwangsläufig Traubenzu cker unvergoren. Im Weinberg sind allerdings auch andere Pilze unterwegs, und wenn es nass und warm ist, steigt die Chance, dass die Botrytis Gesellschaft bekommt. Als ich ihn darauf anspreche, sieht mich Egon Müller einen Moment lang sehr unglücklich an. Doch zwei dieser Pilze verdienen ebenfalls besondere Erwähnung. Von Penicillium hat jeder schon gehört, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang. Als Antibiotikum in Tablet tenform wird diese Gattung vielleicht jeder schon geschluckt haben. Wenn sie sich jedoch auf Trauben ausbreitet, verleiht sie dem Wein einen unangenehm bitteren Geschmack. Ein weiterer unwillkommener Gast und Trittbrettfahrer der Edelfäule ist die Essigfäule, wie ich bei der Lese meines Weins schmerzlich entdecken musste (siehe Kapitel 2). Egon Müller erklärt, die Lese von edelfaulen Trauben sei auch so tückisch, weil man sie entsprechend den unterschiedlichen Stadien des Schrumpfprozesses trennen muss. Das heißt, um eine Trockenbeerenauslese zu erzeugen, muss die einzelne geschrumpfte rosinenartige Beere von den weniger stark geschrumpften und dem noch vollen Rest ge trennt gesammelt werden. Eine Traube, die zu einem Drittel oder mehr aus Rosinen be steht, ist ein Glücksfall. 2010 wird also bei Egon Müller ein großartiger Jahrgang für Süß weine. Dabei müssen sämtliche fremden Pilze sehr sorgfältig entfernt werden. „Jedes Jahr verhält sich die Edelfäule etwas anders“, erklärt Egon Müller, „es gibt Herbste, die einan der ähneln, wie 2006 und 1976, aber die jeweilige Situation war trotzdem anders. 2006 hatten wir 30° Oechsle mehr als 1976 in allen Trauben. Das ist viel.“ Insgesamt hat die Klimaerwärmung die Erzeugung edelsüßer Weine schon etwas ein facher gemacht. Mehr Wärme im Oktober bedeutet außerdem, dass die edelfaulen Trau ben tendenziell schneller schrumpfen. Was sich nicht verändert hat, ist die Unberechen barkeit der Jahreszeit. Egon Müller und seine Kollegen müssen im Herbst nicht nur die Lesemannschaft organisieren, sondern auch dauernd die verschiedenen Wettervorhersa gen studieren und miteinander vergleichen, um zu entscheiden, welcher Lesezeitpunkt der beste Moment für welche Trauben und in welchen Weinbergen ist. Seine langjährige Erfahrung im Gut und das, was er von seinem Vater lernen konnte, sind dabei enorm wertvoll, aber märchenhaft ist die Arbeit trotzdem nicht. Wie in jedem Herbst liegt auch dieses Jahr Egon Müllers Ziel darin, die edelfaulen Trauben so zu lesen, dass er wieder eine Palette an Süßweinen erzeugen kann, die in Aus lesen, Beerenauslesen und Trockenbeerenauslesen gipfeln. Das Spannende daran ist, dass diese Weine, wenn sie das Gut verlassen, keinesfalls auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung
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sind. Süßweine dieser Art sind extrem langlebig, und im Müllerschen Keller liegt eine Sammlung der Weine der letzten Jahre und Jahrzehnte, um ihre Entwicklung weiterzu verfolgen. Wenn Egon Müller den 1976er dem 2006er gegenüberstellt, dann hat er den Geschmack des älteren als Jungwein im Kopf präsent und kann diesen mit seinem heuti gen Geschmack als gereifter Wein vergleichen. Auch ich hoffe, heute wieder in solch ei nen Genuss zu kommen. Er gibt seinem Team für die Lese einige Anweisungen, und wir gehen zurück ins Haus. Er lädt mich in die Bibliothek ein, was ein sehr gutes Zeichen ist, weil die gereiften Weine des Hauses entweder hier oder am Esstisch getrunken werden, und bittet mich, Platz zu nehmen. Dann verschwindet er, zweifellos in den Keller. Als Egon Müller nach zwei Minuten zurückkehrt, hält er eine verstaubte unetikettierte Flasche in der Hand – wie immer werde ich raten müssen, um welchen Wein es sich handelt. Nach dem ersten – sinnlich – berauschenden Schluck bringe ich meine Eindrücke, ja vielmehr meine Be geisterung, in Worten zum Ausdruck. „Er tapeziert den ganzen Gaumen aus mit verschiedenen Nuancen … ein Gemälde mit vielen Farbschattierungen … subtil und fein … eher eine Ingrid Bergman als eine Marilyn Monroe …“ Es sind Metaphern, Hilfsmittel bei dem Versuch, dieses Geschmacks erlebnis halbwegs adäquat zu beschreiben. Ich meine, man könnte jetzt natürlich Worte gebrauchen wie: „Jetzt habe ich einen der teuersten Weißweine der Welt im Glas“, aber das finde ich ziemlich platt und auch angeberisch. Es sagt ja auch nichts über den Ge schmack aus. Stattdessen entscheide ich mich für eine Frage: „Wie viele Kilogramm Bee ren müssen die Lesehelfer einzeln aus den Trauben pflücken, um eine Flasche mit solch einem Wein zu füllen?“ „2005 haben wir bei der Kelterung von 700 Kilo extrem geschrumpften, rosinenar tigen Trauben ganze 15 Liter Most gewonnen“, antwortet Egon Müller, „so extrem kann es sein.“ Mehrmals habe ich erlebt, wie jemand ihn fragte, wie viel Oechsle die Trauben bei einem bestimmten Wein gehabt hätten. Immer kam dieselbe Antwort: „Ausreichend.“ Dieses feine Understatement wirkt fast britisch und passt zu Müller und der Geschichte seiner Familie, die zwar immer wieder große Erfolge feiert, aber keine lauten Töne zu Werbezwecken spuckt. So gern ich bei diesem Wein verweilen würde, weil er geradezu zum Dichten einlädt, muss ich doch weiter, weil der hiesige Süßwein sehr vielseitig ist. Kaum eine Bezeichnung ist abgedroschener als „Spätlese“. Für ältere Menschen ist dies oft der Inbegriff des alt modischen, billigen und süßen deutschen Weins im Supermarktregal. Die Jugend kennt sie meist gar nicht, weil sie entweder Cocktails und Bier vorzieht oder Wein ohne diesen
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Ballast aus der Vergangenheit kennengelernt hat. Katharina Prüm, Doktor der Rechtswis senschaften, ist zwar Chefin des legendären Weinguts Joh. Jos. Prüm in Wehlen/Mosel, aber mit Anfang 30 jung genug, um wie ihre Freunde und Bekannten einen unbeschwer ten Umgang mit Wein zu pflegen. Zu ihr fahre ich jetzt in Sachen Spätlese. Sie denkt über die Weine des Hauses mit der Klarheit eines Anwalts nach, vertraut aber gleichermaßen ihrem Bauchgefühl. Genau wie ihr Vater Dr. Manfred Prüm, der nach dem Tod seines Vaters 1969 das Weingut übernommen hat und den von ihm entwickel ten Weinstil verfeinerte, versucht sie jetzt dasselbe, statt radikale Veränderungen herbei zuführen. Bei Katharina und ihrem Vater steckt dahinter nicht etwa Angst vor Wandel – es sind starke, selbstbewusste Menschen –, sondern das Bestreben, mit etwas Wertvollem sehr vorsichtig umzugehen. Beide haben sich, bevor sie die Führung des Guts übernah men, alles sehr genau angeschaut und über alles nachgedacht, aber immer dasselbe Prin zip befolgt: Bewährtes zu behalten, also keine willkürlichen Veränderungen zu veranlassen und in keinen Aktionismus zu verfallen. „Es sind immer kleine Schritte, nie etwas Revolu tionäres“, hat Katharina Prüm es einmal beschrieben. Unter „Jay Jay“ – so wird das Wein gut überall im englischsprachigen Raum genannt – stellen sich Weinkenner rund um den Globus Rieslingweine eines ganz bestimmten Typs vor. Wie immer holt sie mich mit ihrem Kleinwagen am Wittlicher Hauptbahnhof ab. Wir haben uns seit einer ganzen Weile nicht gesehen und einige Nachrichten auszutauschen während der Fahrt. Wir sind beide sehr aktiv in der internationalen Bürgerbewegung gegen die Moselbrücke, also den Hochmoselübergang (B50 neu), einem gewaltigen Bau vorhaben des Landes Rheinland-Pfalz, das diesen Abschnitt des Flusses in mehrfacher Hin sicht bedroht. Mit am meisten bedroht sind die Rieslingreben in den weltberühmten Lagen Wehlener Sonnenuhr, Zeltinger Sonnenuhr und Graacher Himmelreich, wo das Weingut Joh. Jos. Prüm seinen Hauptbesitz hat. Das konkrete Problem ist eine Zubringerstraße, deren Fundament tief in den Bergrücken oberhalb dieser Steillagen gegraben werden soll und die Reben von einem erheblichen Teil ihrer Wasserversorgung trennen könnte. Die Rebe ist kein Kaktus, und Weißweinreben können nur eingeschränkten Wassermangel ver tragen, ohne Schaden zu nehmen, was beim Rotwein schon anders ist (siehe Kapitel 3). Die meisten Landespolitiker halten aber nahezu abergläubisch an dem verschwenderi schen, völlig überdimensionierten Bauvorhaben fest, als ob ungeheure Mengen Beton Menschen und Geld in eine ländliche Region locken könnten. Aufgrund dieser VoodooWirtschaftspolitik sind sie bereit, das Tal zu verschandeln und diese 2000 Jahre alte Kul turlandschaft aufs Spiel zu setzen. Dann jedoch schwenkt unser Gespräch auf den neuen Jahrgang um. Wie Egon Müller schon sagte, ist jedes Mal alles anders, und Katharina ist
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sehr gespannt auf meine Meinung zu ihren neuen Weinen, weil sie noch nicht so viel Er fahrung hat. Wie bei vielen Moselweinorten liegt auch Wehlen auf der einen und die zugehöri gen Weinberge auf der anderen Seite des Flusses. Verbunden sind sie mit einer grazilen Hängebrücke – der Unterschied zum geplanten Hochmoselübergang ist enorm. An der Uferstraße im Ort namens Uferallee steht eine Reihe beeindruckender Häuser verschiede ner Stilrichtungen, unter ihnen einige bedeutende Weingüter wie Heribert Kerpen, Stu dert-Prüm und Dr. Weins-Prüm. Haus Nr. 19, Heimat des Weinguts Joh. Jos. Prüm, ist ein dezentes Stück Jugendstil in Schieferbruchstein. Es ist groß, ohne gleich pompös zu sein, und nur ein wenig verspielt. In den Innenräumen stößt man immer wieder auf Trauben motive, die jedoch nicht plakativ wirken. Wenn ich wie jetzt allein mit Katharina die Weine verkoste, sitzen wir an einem klei nen runden Tisch in einem hellen Raum im Erdgeschoss. Ich komme mir ein bisschen alt vor, auch hier war ich erstmals vor einem guten Vierteljahrhundert, als sie noch ein kleines Kind war. An der Wand hängen immer noch dieselben Bilder, dieselben Ahnen blicken quasi auf mich herab, die meisten von ihnen erwecken den Eindruck von Stur heit und Freudlosigkeit. Aber ich konzentriere mich auf die Reihe schlanker grüne Fla schen vor mir auf dem Tisch und die davor stehenden Verkostungsgläser. Als wir vor we nigen Jahren zum ersten Mal zu zweit hier saßen, sagte mir Katharina, ich solle genau das
Dr. Katharina Prüm
Dr. Manfred Prüm mit Tochter Katharina
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sagen, was ich denke, selbst wenn es sehr negativ sei. Bisher war Letzteres glücklicherwei se nicht der Fall, ganz im Gegenteil, und so ist es auch heute. Was mich so begeistert an den süßen Rieslingen vor mir auf dem Tisch ist ihre be schwingte, frühlingshafte und heitere Art, allen voran die Spätlesen. Deutlicher und um fassender lässt sich das Süßwein-Image von Schwere, das in der Wahrnehmung des nor malen Weintrinkers wie ein Bleigürtel am Flaschenhals hängt, nicht widerlegen! „Diese Eigenschaften sind seit meinem Großvater unser Markenzeichen. Süßweine, die leichtfüßig daherkommen und zum Trinken einladen“, erzählt Katharina, als könne sie meine Gedanken lesen, „daran hat sich nichts geändert. Eher haben mein Vater und ich noch weiter daran gearbeitet.“ „Und wie schaffst du es, dass sie so fast übernatürlich frisch sind?“, frage ich, weil es mir beim Verkosten wieder besonders auffällt. „Man muss im Keller sehr aufpassen, dass der Wein nicht mit mehr als einem Mini mum an Sauerstoff in Kontakt kommt. Wir arbeiten also reduktiv statt oxidativ und bemü hen uns auch, den jungen Wein nicht unnötig zu bewegen.“ Oxidation bzw. schlagartiges, frühzeitiges Altern ist einer der größten Feinde des jungen Weins, Reduktion das Gegen teil. Jede Bewegung des embryonalen Weins führt zum Verlust von flüchtigen Inhaltsstof fen und Lebendigkeit. „Eigentlich sind es einfache Prinzipien, die aber viel Geschick in der Umsetzung erfordern. Dadurch behält der Wein sehr lange seine jugendliche Frische und sein Aroma, auch die Kohlensäure als Nebenprodukt der alkoholischen Gärung. Das unterstreicht die Frische nochmals. Durch diese Arbeitsweise behalten die Weine dann auch nach der Abfüllung ein ausgeprägtes hefiges Aroma, was manche Leute irritiert.“ „Aber mit der Zeit vergeht es“, füge ich hinzu. „Ja. Unsere Weine brauchen Zeit, um sich zu öffnen, aber dafür bleiben sie extrem lan ge lebendig. Für eine unserer Spätlesen aus der Wehlener Sonnenuhr sind zehn Jahre kein nennenswertes Alter. Was glaubst du, wie alt dieser Wein ist?“ In ein frisches Glas schenkt Katharina mir aus einer unetikettierten Flasche ein. Bei Egon Müller habe ich eine Blamage vermieden, indem ich die Frage ignoriert habe, aber hier muss ich es riskieren. Das gehört zu den Ritualen dieses Hauses. Auch Katharina und ihre zwei Schwestern mussten schon als Kinder am Familientisch Weine verkosten und identifizieren, sie wurden von ihrem Vater aber nie unter Druck gesetzt. Es ging immer darum, den Wein spielerisch zu ergründen. In den letzten Jahren haben die Töchter den Spieß immer häufiger umgedreht und präsentie ren ihrerseits dem Vater einen Wein, dessen Alter er erraten soll. Christina, die Jüngste, kann ihn dabei wunderbar imitieren. Ich habe inzwischen sehr viele ihrer Weine kennengelernt und habe es deutlich leichter, als es für einen Außenstehenden den Anschein haben mag.
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In diesem Fall deuten eine klar erkennbare Reifenote – ich denke an Bienenwachs und Honig – und ein Fruchtaroma, das mich an reife Stachelbeeren erinnert, und die eher betonte Säure auf die Jahrgänge 1981 oder 1979. Die meisten Weinfreunde, die solch einen Tropfen zum ersten Mal erleben, schätzen ihn viel jünger ein und glauben, er könne nicht mehr als zehn oder zwölf Jahre alt sein. Das liegt am besonderen Stil der Joh.-Jos.-Prüm-Weine. Je älter der Jahrgang, desto häufiger sind unerfahrene Weintrinker überzeugt, es handle sich um einen fast trockenen Wein, was eine Folge der Alterung ist. Denn mit zunehmendem Alter schmeckt süßer Wein immer herber, obwohl der unvergo rene Traubenzucker sich nachweislich nicht abbaut. Ich tippe also auf 1981. „Nein, es ist mein Jahrgang, 1979“, sagt Katharina, „möchtest du mit in den Weinberg kommen? Ich muss mir Gedanken darüber machen, wie ich die Lese angehe.“ Ich stimme zu, und sie scheint froh darüber herauszukommen. Ein 22 Hektar gro ßes Weingut von Weltruf zu führen kann sehr anstrengend sein. Katharina wohnt nicht im Gut selbst, um gelegentlich ihre Ruhe zu haben und etwas Distanz zu schaffen. In der Uferallee 19 warten immer jede Menge Aufgaben. Als wir hoch oben in der Wehlener Sonnenuhr stehen, liegt das Weingut mit seiner Hektik und seinem Renommee weit unter uns am gegenüberliegenden Ufer. Vielleicht ist es der passende Moment, um sie zu fragen, warum sie nicht als Juristin tätig ist, sondern ein Familienweingut führt, bei dem schon alles vorgegeben und ganz festgelegt zu sein scheint. „Als ich während meines Studiums ein Praktikum in den USA machte, traf ich Men schen, die Kisten unserer 1971er Spätlesen und Auslesen im Keller liegen hatten. Sie kannten unsere Weine länger, als ich auf der Welt bin! Das hat mich fasziniert. Ich glau be, damit fing es an.“ „Solch süße Moselrieslinge werden immer noch von vielen Deutschen als falsch bzw. keinesfalls angesagt oder gar untrinkbar eingeschätzt. Wie gehst du damit um?“ „Ich habe gar nicht den Anspruch, dass jeder meinen Wein mögen sollte. Mir ist es sogar lieber, dass die einen begeistert sind und die anderen nichts damit anfangen kön nen. Ich will keinen Mainstream machen.“ Diese starken Worte gehen mir auf der Fahrt von Wittlich nach Alzey/Rheinhessen lange und ausgiebig durch den Kopf. Die meisten deutschen Weingüter erzeugen eine breite Palette von Weinen, um etwas für jeden Geschmack zu bieten, und wenn das An gebot ein paar süße Weine enthält, sind meist auch reihenweise trockene Alternativen da runter. Dagegen erzeugt Katharina Prüm nur ganz wenige trockene Weine. Bei „Jay Jay“ gibt es fast nur süße Tropfen, was ihre Absage an den geschmacklichen Mainstream noch extremer, mutiger erscheinen lässt.
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Bei meinem nächsten Ziel ist die Situation auf den ersten Blick wieder „typisch deutsch“: eine breite Palette von ganz trockenen bis betont süßen Weinen. Rheinhessen hat in den letzten Jahren hart gekämpft, um seinen alten Ruf – Region für billige süße Weine – abzulegen (siehe Kapitel 2 für die ganze Story) und sich den der neuen Traum fabrik von trockenem deutschen Weißwein erworben. Dank großem Innovationsvermö gen und viel Geschick ist dies auch gelungen. Damit macht der Süßwein bei den meisten regionalen Jungwinzern nur noch eine kleine Ecke des Sortiments aus, der Kunden nicht viel Aufmerksamkeit schenken. Alex Gysler vom Weingut Gysler in Weinheim bei Alzey ist daher eine Ausnahme in doppelter Hinsicht. Er widmet sich neben den trockenen genauso dem süßen Wein in al len Varianten von leichtfüßig bis opulent. Dass er das Gut auf biodynamischen Weinbau umgestellt hat (siehe Kapitel 4), macht die Situation noch ungewöhnlicher. Denn unter ökologisch arbeitenden Winzern war bis vor wenigen Jahren Süßwein entweder verpönt, oder er wurde zumindest vernachlässigt. Nach der langen Zugfahrt ziehe ich mit meinem Rollkoffer durch die sanften Hänge der Weinberge nach Weinheim zum Weingut Gysler. Wir gehen direkt in den stilvollen Verkostungsraum. Zum Glück finde ich sie gleich. Ich habe während der Reise die Preis liste studiert und möchte als Erstes wissen, wie es möglich ist, Süßweine in Rheinhessen so viel günstiger anzubieten als an Saar und Mosel. Ein Riesling Kabinett kostet 6,50 Euro die Flasche, eine halbe Flasche Beerenauslese 12 Euro. „Ganz einfach, wir können sie hier deutlich günstiger erzeugen“, antwortet Alex sehr direkt. „Anders als in den Steilhängen an der Mosel, wo so oft Handarbeit nötig ist, kön nen wir unsere Hänge mit dem Traktor bewirtschaften. Hinzu kommt natürlich noch die rheinhessische Geheimwaffe!“ „Du meinst die Huxelrebe?“, frage ich. „Ja, sie ist eine geradezu optimale Traubensorte für die Erzeugung von edelsüßen Weinen, weil die Beeren eine extrem dünne Haut haben und daher sehr viel leichter von der Edelfäule befallen werden. Mithilfe der Huxelrebe können wir relativ oft edelsüße Weine, also Beerenauslese und Trockenbeerenauslese, in relativ großen Mengen erzeu gen … und sie schmecken richtig gut!“ „Und Riesling?“ – ich bin sehr neugierig. „Aus Riesling erzeugen wir eher leichte Süßweine, also Kabinett und Spätlese, und dafür kommt uns die spezielle Situation hier in Weinheim sehr entgegen.“ So speziell sieht es hier auf den ersten Blick nicht aus, sondern wirkt eher wie „Standard-Rheinhes sen“, nämlich viele sanfte Hügel.
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„Wegen des Windes ist es hier recht kühl für Rheinhessen“, fährt Alex fort. „Das Tal ist hier wie eine Art natürlicher Windtunnel, und die kühle Luft sorgt für Trauben, die reich an Säure und Aromastoffen sind. Und das ist eine sehr gute Basis für leichte süße Rieslinge, die duftig und filigran sind. Hinzu kommt, dass wir in fast allen unseren Wein bergen steinige Böden aus Rotliegendem haben. Diese Grundlage wurde vor etwa 285 Millionen Jahren gebildet, als Deutschland eine heiße Wüste war. Das verleiht den Wei nen, auch den süßen, einen besonderen mineralischen Kitzel. Aber das kannst du selber feststellen bei der Verkostung.“ Die praktische Seite meines Berufs mag ich sehr, solange die Verkostung nicht aus ei ner endlosen Reihe von Flaschen besteht und jemand neben mir mit der Stoppuhr steht. Manche meiner Kollegen behaupten, auf diese Weise gut arbeiten zu können, aber ich komme so zu keinem vernünftigen Ergebnis. Aber das ist der Punkt. „Bevor du die süßen Weine bekommst, musst du aber auch einen trockenen Huxelrebe-Wein kosten“, sagt er entschieden, „in Jahren ohne Edelfäule mache ich so etwas sehr gern, weil er ein tolles Aroma nach Grapefruit und noch viel mehr hat.“ Es stimmt, dass dieser Wein sehr aromatisch und saftig ist, aber mir schmeckt die Huxelrebe Beerenauslese noch besser. Mit so viel Würze und Noten von zahlreichen getrockneten Früchten auf einmal ist er wie Weihnachten im Glas, und trotzdem wirkt er wunderbar erfrischend! Ja, ich schmecke genau das, was ein alter deutscher Weinbegriff als „Spiel“ beschreibt. Meine Gedanken platzen aus mir heraus, und Alex sagt darauf: „Wie Kinder, die einen Ball hin und her werfen und sich dabei freuen.“ Und die Omis, wo sind sie geblieben? Bisher habe ich keine gesehen.
„Ich habe gar nicht den Anspruch, dass jeder meinen Wein mögen sollte … Ich will keinen Mainstream machen.“ Zitat Dr. Katharina Prüm
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Die Quereinsteiger
Die Quereinsteiger: gute Weine fast aus dem Nichts Wie wäre es, den Schreibtisch oder Arbeitsplatz umgehend zu verlassen und unter blau em Himmel in der Natur zu arbeiten, ein wunderbares Naturprodukt zu erzeugen und dabei der eigene Chef zu sein? Warum nicht Winzer werden? Herrlich finden viele Menschen diese Vorstellung, weil Wein für sie Freizeit bedeu tet und nichts verlockender ist als der Gedanke, den Jobzwang gegen Freiheit einzutau schen. Dazu gesellen sich Bilder von einer strahlenden Sonne und knackgrünem Reben laub, prallen Trauben und dem eigenen Wein zum Essen – paradiesisch! Ich möchte auch keinesfalls davon abraten, denn es wäre inkonsequent, schließlich habe ich, wie in Kapitel 2 zu lesen, mein eigenes Weinanbauexperiment durchgeführt, also genau diesen Wechsel – zumindest vorübergehend – vollzogen. Dabei habe ich ge lernt, dass es eine ziemliche Herausforderung ist, weil man quer einsteigt. Quereinsteiger. Ein starkes Wort für starke Menschen, die es wagen, ihr Leben zu än dern, sei es durch einen Seitensprung in Weinberg und Keller. Aber unabhängig davon, welchen Weg Sie als Quereinsteiger einschlagen, Sie müssen mit Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen ausgestattet sein, wenn Sie nicht eine Bauchlandung hinlegen wol len. Es ist die (verständliche) Angst vor dem Scheitern, die die meisten Menschen vom ersten Schritt in eine neue Richtung abhält, und somit auch davon, Winzer zu werden. Die Welt ist voll von Menschen, die verkündeten, sie würden einen Roman schrei ben, dann aber entweder gar nichts geschrieben oder bestenfalls nur die ersten Seiten aufs Papier gebracht haben. Als Quereinsteiger muss man sich im neuen Beruf durchbei ßen, sei es nun als Schriftsteller oder Winzer. Manchmal wird man dabei von dem einen oder anderen Etablierten belächelt, der einfach Papi und Opi ins Familienmetier gefolgt ist, was natürlich schmerzlich ist. Das Positive daran ist, dass Quereinsteigen zum Querdenken verleitet. Thinking out side the box, wie es die Amerikaner treffend sagen, oder denken außerhalb eines festge legten Rahmens. Durch ihren frischen Blick erkennen Quereinsteiger sofort des Kaisers neue Kleider. Wenn sie richtig gut sind, schneidern sie echte neue Kleider für den Kaiser, und die Welt verändert sich. Und wer die Weinwelt schließlich verändert hat, wird von den Kollegen nicht mehr belächelt, sondern bewundert. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich vor langer Zeit selber quer eingestiegen bin. Weder Weinbau noch Journalismus habe ich studiert, sondern Malerei, dann Kulturwissenschaft.
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Lange Zeit kam ich mir in der damals konservativen Weinwelt wie ein extrem bunter Vogel vor. Es schien alles von strengen Gesetzen geregelt, und auch Quereinsteiger in Sachen Wein mussten eine ganz bestimmte Form annehmen … in die ich definitiv nicht passte. Aber dann änderte sich die Branche grundlegend, ein Glück. Die typischen Quereinsteiger waren damals erfolgreiche Unternehmer oder Ge schäftsführer, die in Frührente gingen und sich ein Weingut kauften. Lange Zeit waren die Toskana in Italien und das Kap in Südafrika die bevorzugten Orte dafür, ja es war gerade zu angesagt in bestimmten wohlhabenden Kreisen, in einer dieser Regionen Weinberge zu besitzen. Die Landschaft und das angenehme (mediterrane) Klima sind schön, und es sind beliebte Urlaubsziele. Und Chianti Classico sowie Sauvignon Blanc und Cabernet Sauvignon aus Südafrika sind international anerkannte Gewächse. Detlev Meyer, einer der Gründer des Modelabels Street One, scheint auf den ers ten Blick bestens in diese Schublade zu passen, aber im Gegensatz zu vielen seiner Kol legen – erfolgreicher Unternehmer verkauft seine Firma und wechselt ins Weinbusiness – hat er sich für Weinberge in Deutschland entschieden. Das hat in der hiesigen Weinsze ne für Staunen gesorgt, manche Fachleute fanden Meyers Schritt ganz toll, andere lach ten offen darüber. Als Erstes kaufte der ehemalige Geschäftsmann 2005 von MAN das Weingut St. Antony in Nierstein/Rheinhessen, dann pachtete er langfristig das Nachbarweingut Freiherr Heyl zu Herrnsheim von der Familienstiftung Ahr. Um alles im wahrsten Sinne des Wortes un ter ein Dach zu bringen, erwarb er schließlich im selben Ort die ehemalige Kellerei des Weinguts Gustav Adolf Schmitt – riesige Gewölbe unterhalb eines bombastischen wilhel minischen Anwesens. Dass dieses ehrgeizige Unterfangen nicht ganz ohne Probleme ver lief, scheint ihn nicht gestört zu haben. Jetzt baut er eine neue Kellerei für seinen inzwi schen fast 40 Hektar großen Weinbaubetrieb. Das stellt etwa 10 Prozent der Gesamtfläche der Niersteiner Weinberge dar, es geht um Klotzen statt Kleckern! Das klingt vielleicht, als sei Detlev Meyer ein eitler Mensch, dem es um möglichst viel Aufmerksamkeit geht, aber das stimmt nicht. Lieber schiebt er seinen Geschäftsführer, Fe lix Peters, ins Rampenlicht. Peters ist mit Anfang 30 tatsächlich sehr jung für solch eine verantwortungsvolle Position. Noch vor einem Jahrzehnt wäre das in der Weinbranche undenkbar gewesen. Er stellt eine andere, neue Art des Quereinsteigers dar. Bis er 17 war, wollte Peters Lehrer werden, dann brachten seine Eltern aus dem Urlaub einige Flaschen sehr guten italienischen Rotwein mit, der ihn elektrisierte. Wie viele andere junge Men schen aus Familien, die beruflich nichts mit Wein zu tun haben, stieg Peters in diese Ma terie aus der Genießerperspektive ein. Er produziert jetzt professionell Wein für andere
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Mit „O.“ ist der bärenhafte, bärtige gemeint, zugleich Chef von Team Schneider.
olaf Schneider
DANIEL VOLLENW EIDER
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Genießer, denn er hat an der Fachhochschule für Weinbau in Geisenheim studiert. Diese Art des Einstiegs wäre früher ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Peters’ wichtigster Wein ist der trockene „Rotschiefer“-Riesling, obwohl er bei Wei tem nicht der teuerste von St. Antony ist. Hinter diesem Etikett verbergen sich um die 50.000 Flaschen pro Jahr von sehr guter Qualität. Eine ausreichende Menge plus Quali tät ist eine wesentlich größere Herausforderung für einen Winzer, als aus einer großen Anbaufläche ein kleines Fass guten Wein zu erzeugen. Die Trauben für diesen Wein stammen tatsächlich von Reben, die auf Rotliegendem gewachsen sind, einem stark an Schiefer erinnernden verwitterten Gestein. Den Roten Hang kennen viele Pendler, die täglich die B9 in Richtung Mainz oder Frankfurt fahren. Auf dem Weg nach Mainz sieht man von dieser Bundesstraße aus nach Nierstein, einen imposanten rebenbedeckten Steilhang am linken Ufer des Rheins, der im Morgenlicht tatsächlich richtig rötlich leuchten kann. Wie ein frisch zubereiteter Obstsalat duftet der St. Antony „Rotschiefer“, er schmeckt nach saftigem Pfirsich und erfrischenden Zitrusfrüchten, dazu „schmilzt“ er auf der Zunge, fast wie gute Schokolade. Trotzdem ist der Geschmack am Ende richtig herb, also eher Edelbitterschokolade statt Vollmilch. Nicht schlecht für zwei Quereinsteiger. Laut einem alten Spruch soll man mit einer ordentlichen Menge Geld anfangen, wenn man mit Weinbau etwas Geld machen will. Meyer hat in Nierstein natürlich mit Mil lionen begonnen. Betriebswirtschaftlich gesehen ist das sicher nicht verkehrt, weil Wein bau auf verschiedenste Weise Kapital bindet und die Chancen auf Gewinn nicht nur we gen des sich ständig verändernden Marktes schwanken, sondern auch, weil das Wetter unberechenbar ist. Schlimmstenfalls kann Hagel in wenigen Minuten die gesamte Ern te vernichten. Aua! Die neuen Quereinsteiger im deutschen Weinbau lassen sich von solchen Horror szenarien weder überraschen noch abschrecken. An der Geschichte von Shelter Winery in Kenzingen/Breisgau etwa kann man sehr gut erkennen, wie sehr sich der deutsche Weinbau in den letzten Jahren gewandelt hat. 2003 haben die ziemlich mittellosen Gei senheimer Absolventen Hans-Bert Espe und Silke Wolf einen Minibetrieb gegründet mit dem ehrgeizigen Ziel, einen der besten deutschen Rotweine aus der Traubensorte Spät burgunder (Pinot Noir) zu erzeugen. Ausgebildet in Geisenheim klingt wie ein guter Ersatz für einen Haufen Millionen Euro, aber es handelt sich bei den beiden nicht um junge Leute aus Winzerfamilien, die von ihren tatkräftig unterstützt werden könnten. Espe stammt aus Osterode und Wolf aus Paderborn, beides Orte, wo es höchstens ein paar Reben an Hauswänden gibt.
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Weingut bzw. Weinbauernhof klingt auch gut, vor allem in den Ohren von Weinken nern und Fachleuten. Trotzdem hat das Paar seinen neuen Betrieb nicht so genannt, weil es sich eigentlich um ein gewagtes Start-up handelte. Der Name Shelter Winery geht auf ihren ersten Keller zurück, einen sogenannten Shelter, das heißt auf einen Bunker des ehemaligen kanadischen Luftstützpunkts in Lahr/Breisgau, der zur Hälfte unter der Erde liegt. Dummerweise befindet sich die kleine Weinbergfläche in Malterdingen, 35 Kilome ter südlich von Lahr, und sie wohnten in Offenburg, 20 Kilometer nördlich vom Shelter. Aber hinter den dicken Betonwänden und schweren Stahltüren des Shelter herrschten ideale Kellerbedingungen, es gab viel Platz, und die Miete war günstig. Günstig und gut waren auch die Gründe, warum sie sich für Reben in Malterdingen entschieden statt für eine der bekannten Weinbaugemeinden des Kaiserstuhls. All diesen Umständen zum Trotz sorgte ihr erster Rotwein, der 2003er „Pinot Noir“ für überraschend große Aufmerksamkeit. Es war kurz gesagt ein Volltreffer. „Die Farbe ist nicht so tief, aber er schmeckt wirklich toll!“, sagte mir der berühmte Stuttgarter Koch Vincent Klink bei einer Fernsehaufzeichnung, während der ich die Weine präsentierte. Er war ziemlich baff, dass zwei Unbekannte so schnell mit einer als Diva geltenden Trau bensorte solch eine Qualität erzielen konnten. Die Farbe war deswegen nicht so tief, weil die Farbstoffe der Spätburgundertraube sehr temperaturempfindlich sind. Ist der Herbst warm, werden diese vor der Lese in der Beerenhaut deutlich abgebaut. Der Geschmack war hingegen so gut, weil die beiden im Weinberg sehr perfektionistisch sind und die Arbeitsstunden nicht zählen. Hinzu kommt, dass Hans-Bert nicht nur in Geisenheim studiert hat, sondern danach auch bei Rex Hill Winery gearbeitet hat, einem der besten Pinot-Noir-Erzeuger in Oregon/USA. Er brachte sehr viel Wissen aus Amerikas berühmtester Pinot-Noir-Region mit nach Hause. Ich glau be, er hatte auch so etwas wie eine Vision im Koffer. Man könnte fast eine Formel aufstel len: (Vision × Weinberg) + Wissen + Arbeit = Erfolg. Die beiden sind in jeder Hinsicht Minimalisten. „Unsere Pumpe ist die Schwerkraft!“, sagt Hans-Bert stolz. Also nur sanfte Bewegung des jungen Weins, um flüchtige Aroma stoffe nicht zu verlieren. Inzwischen umfasst das Start-up volle 4 Hektar Weinberg in Mal terdingen und Kenzingen, aber immer noch keinen Traktor. Die damit zu verrichtenden Arbeiten, vor allem das Spritzen, um Pilze zu bekämpfen (siehe Kapitel 4), werden von einem Subunternehmer gemacht. „Er macht es gut, warum nicht?“, sagten sie sich ganz pragmatisch. Aber für konventionelle Winzer, die einfach Papi und Opi gefolgt sind, ist das meist völlig undenkbar. Da muss man einen eigenen Traktor haben, um die eigenen Reben und
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Böden zu pflegen, am besten gleich einen Fendt, den Rolls-Royce® der Traktoren. Ich will damit sagen, wir sind in Deutschland, und alles muss „richtig“ sein, vor allem wegen der kritischen Blicke der Nachbarn! So denken immer noch viele Winzer hierzulande, aber diese Denkweise ist natürlich auch in anderen Bereichen anzutreffen. In den letzten Jahren hatte das Weingut seinen Sitz in einem Teil des Erdgeschosses eines modernen Hauses in der Kenzinger Mühlstraße. Meist stand ein Landrover® vor der Tür, das Gefährt der beiden. Statt eines Hintergartens fließt ein Kanal direkt am Haus vorbei, ziemlich romantisch. Darin spielt gern Jack Russell Terrier Lily. Aber jetzt kämp fen Silke und Hans-Bert um die Fertigstellung ihres neuen und ersten eigenen Kellers. Dessen Form ist stark an die Form des ursprünglichen Shelter in Lahr angelehnt, auch wenn Stahl und Beton diesmal deutlich graziler ausfallen; Shelter bleibt dem Shelter treu! Wenn man so etwas ohne einen Haufen Millionen Euro oder eine Winzerfamilie im Rücken anfängt, muss man natürlich nicht nur Wein erzeugen können und hartnäckig sein, sondern auch sehr genau auf die Kosten schauen, um nicht auf halber Strecke zum Erfolg bankrottzugehen. Deswegen haben sich die beiden fürs „Heckenland“ entschie den, wie sehr viele südbadische Winzer den Breisgau abfällig nennen. Es stimmt, dass die Region Kaiserstuhl es als erster Teil von Baden nach dem Zweiten Weltkrieg schaffte, in puncto Qualität und Ruf nach oben zu kommen, früher sah aber alles in Baden ziemlich anders aus. Im Mittelalter war der Malterdinger Rotwein sehr ge fragt und teuer. Und seit wenigen Jahren ist es wieder so. Die teuersten und meist auch genialsten Rotweine Badens kommen aus Malterdingen, vom Weingut Bernhard Huber. Sein Aufstieg wurde möglich durch die im Vergleich zum Kaiserstuhl günstigen Preise für die Weinberge, die weniger als die Hälfte kosten. Das macht das Heckenland zur Spiel wiese für Quereinsteiger, zumindest für eine bestimmte Zeit. Die Geschichte eines Seitensprungs in Richtung Reben und Keller kann aber noch viel extremer ausfallen. Unsere Reise bis zum äußersten Rand des neuen Quereinstei ger-Weinbau-Universums ist noch nicht zu Ende, denn gleich kommt eine noch überra schendere Geschichte. Matthias Adams lernte ich Ende der 1990er-Jahre in Berlin kennen. Damals war der junge, hochintelligente Adams ein wahrer Schreibtischtiger. Er arbeitete zum Teil wahn sinnig lange Stunden für den Wirtschaftsprüfer KPMG und wirkte manchmal ganz schön abgekämpft und desillusioniert. Wein war für ihn schon damals eine Leidenschaft, oft aber auch ein Trost. Dann stieg er in den Finanzvorstand des Chip-Herstellers Infineon in München auf und machte danach einen oft noch abgekämpfteren und desillusionier teren Eindruck.
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Er begann davon zu reden, wie gern er sich radikal verändern würde – ein Wein gut kaufen und aufbauen. Das klang mutig, obgleich Geschäftsführer eines Weinguts zu sein inhaltlich nicht so viel anders gewesen wäre wie seine damalige Tätigkeit. Dann ver schwand er schlagartig von der Bildfläche. Den Gerüchten zufolge hatte er eine neue Freundin, eine Winzerin. Bis zu diesem Punkt ist die Geschichte eigentlich gar nicht so außergewöhnlich. Midlife-Crisis ist ein hässlicher neudeutscher Begriff, schien aber auf den ersten Blick dazu zu passen. Dann schlug ich Ende Februar 2004 den FOCUS auf, und mir fiel die Kinnlade mäch tig weit nach unten. Darin war auf fast einer ganzen Seite mein Freund Matthias abgebildet, wie er vor einem Weinfass steht und vorgestellt wurde er als „Winzer“ vom Wein gut von Racknitz in Odernheim/Nahe! Das Ganze war Teil der Titelgeschichte zum The ma „Die Mittdreißiger-Generation Ratlos“, aber wie sich Matthias in dem Artikel äußerte, wirkte er überhaupt nicht ratlos. Seine Gedanken zum Thema sinnvolle Arbeit und die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft waren durchaus nachvollziehbar. Mein erster Besuch beim Weingut wenige Monate später hingegen fiel ziemlich er nüchternd aus. Die dachlose Ruine des Kloster Disibodenberg, in dem Hildegard von Bin gen Anfang des 12. Jahrhunderts lebte, war sehr beeindruckend, auch die alten Rieslingre ben in der Lage Disibodenberg. Aber die Weinbergtour zu Fuß und im strömenden Regen mit Adams’ Frau, Luise von Racknitz, war ziemlich heftig. Im Weingut selbst lief die neue Pelletsheizung noch nicht. Vieles wirkte improvisiert, die historischen Räumlichkeiten waren stark renovierungsbedürftig, aber das schien die beiden überhaupt nicht zu kratzen. Die neuen Weine, allesamt Rieslinge und vorwiegend trocken, waren nicht schlecht, aber meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Zwei Jahre später hatten sie deutlich an Format gewonnen und entsprachen den ehrgeizigen Zielen von Matthias und Luise, die inzwischen Eltern geworden waren. Neben dem Energiebündel namens Moritz heißt eines ihrer weiteren Kinder „Schloss böckelheimer Königsfels“, für uns arme Engländer ein wahrer Zungenbrecher. Es han delt sich um einen extrem würzigen trockenen von-Racknitz-Riesling aus einer Parzelle, die zur vollkommen in Vergessenheit geratenen Spitzenlage desselben Namens an der mittleren Nahe gehört. Matthias schwärmte davon, wie er mit eigenen Händen die nicht zu rettenden kaputten alten Reben im größten Teil der Parzelle herausreißen und neue pflanzen musste, was in solch einem Steilhang verdammt harte Arbeit bedeutet. Da wusste ich: Er ist ein echter Winzer geworden. Später besichtigte ich mit ihm viele Weinberge des inzwischen deutlich gewachsenen Weinguts und war erstaunt, wie er für jeden davon einen eigenen Plan entwickelt hatte,
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so als seien es tatsächlich Kinder mit sehr unterschiedlichem Temperament. Am extrems ten sah der Königsfels aus, wo viele Kräuter friedlich zwischen den Reben gedeihen. Ein altmodischer Winzer hätte gesagt: „Viel zu viel Unkraut, weg damit!“ Für Matthias war es dagegen „ein Biotop, und kein konventioneller Weinberg“. Auch dank solcher Wagnisse wurden die Weine mit jedem Jahrgang immer besser und immer eigener. Ein eigener ausgeprägter Stil bei hoher Qualität spricht aus meiner Sicht für einen wahren Topwinzer – nicht hohe Preise oder ein großer Ruf. Und glücklicherweise, für uns Weintrinker, gehen Letztere wie im Fall von Matthias nicht immer einher mit Ers terem. Die von-Racknitz-Rieslinge sind ein Beweis für die Vielfalt der Welt des Weins im Zeitalter der Standardisierung. Schönheit wird zum Glück immer noch nicht aufgrund von banalen Zahlen definiert! Viele Konsumenten sehnen sich bei Wein nach Klarheit in puncto „gut“ und „schlecht“, nach einem ganz sicheren Hafen. Das ist verständlich, aber auch ein wenig traurig, weil Angst dahintersteckt, auch die Angst, sich zu blamieren. Manchmal werde ich ganz direkt gefragt, welcher Wein der richtige sei. Als ob es nur einen Weg zum Glück gäbe. Die Vorstellung, es gebe für jede Frau einen und wirklich nur einen „Mr Right“, wird heutzu tage als lächerlich empfunden, aber die größte aller Weinfragen, wie ich sie nenne, wird immer noch häufig gestellt. Viele sind schwer enttäuscht, wenn ich daraufhin abwinke. Die Wahrheit lautet, dass die Möglichkeiten in Weinberg und Keller immer vielfäl tig und nahezu unbegrenzt sind. Es ist viel einfacher, eine wahrscheinlich „falsche“ Ar beitsweise zu benennen als die bestmögliche Vorgehensweise. Solange der Wein sauber und fehlerfrei ist, ist es meist eine Frage des Stils – welche Art von Wein der Winzer also erzeugen möchte. Hinzu kommt die Frage nach dem persönlichen Geschmack des Trinkers. Jeder von uns hat nicht nur seine eigenen Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten, es sind auch genetische Faktoren im Spiel. Ein sogenannter Supertaster (etwa 30 Prozent aller Menschen sind dazu genetisch veranlagt) reagiert extrem sensibel auf bittere Töne und hat eine deutlich niedrigere Wahrnehmungsschwelle für Süße. Nicht umsonst heißt es seit 2.000 Jahren, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Deswegen ist meine Antwort auf die größte aller Weinfragen immer die simple Gegenfrage, welche Art von Wein man am liebsten trinke. Erst wenn ich darauf eine Antwort habe, kann ich Vorschläge machen. Egal, ob man nun Winzer oder Weintrinker ist, es hilft zu wissen, was man will. Viele Konsumenten wollen einen gefälligen Wein, der nicht viel kostet. Das ist kei nesfalls verkehrt. Viele Winzer liefern auch genau das, weil sie wissen, dass sie so am wenigsten Ablehnung riskieren. Mein Freund Matthias und ich finden solche Gewächse
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hingegen in Ordnung, aber langweilig. Wir wollen spannende Weine mit starker Persön lichkeit und akzeptieren, dass unsere Suche nach Überraschung und Aufregung zwar zu mancher Enttäuschung führt, aber auch zu grandiosen Entdeckungen. Wir haben kein Problem, mitten im Film das Kino zu verlassen, wenn er langweilt. Mehr zu diesem Thema von meinem Kollegen Manfred Lüer in Kapitel 15. Also: no risk, no fun. In diesem Geist erzeugen Matthias und Luise ihre Weine. Das klingt sehr kompromiss los, aber auch sie haben sich der Realität beugen müssen. Die 60- bis 80-jährigen Holz fässer im Keller, die aussahen, als sei dieser um sie herum gebaut worden, mussten gehen, weil sie nicht mehr ganz sauber waren. Jetzt vergären und reifen alle Weine in Edelstahl tanks, wodurch aber die Weine nicht schmecken, als seien sie mit moderner Technik in Berührung gekommen. Das Geheimnis heißt „Spontangärung“ oder wilde Hefen, wie sie uns schon in Kapitel 2 begegnet sind. Das muss nicht immer klappen, es kann sogar mächtig schiefgehen. Wenn gefährli che Mikroben im Keller herumschleichen, können sie alle Weine verderben. Am ehesten funktioniert das Ganze in den nördlichen Weingebieten Deutschlands mit der Rebsorte Riesling, weil diese Weine recht säuerlich sind. Ihre Säure verleiht ihnen einen natürli chen Schutz gegen viele gefährliche Mikroorganismen, die sich sonst im süßen Trauben most und in frisch vergorenem Wein vermehren können. Die Gärung kann bei Matthias und Luise im kalten Disibodenberg-Keller, genauso wie bei ihren ähnlich arbeitenden Kollegen, im Extremfall viele Monate dauern, mit un vorhersehbarem Ergebnis. In den letzten Jahren waren die Ergebnisse aber fast immer sehr gut bis genial. Luise ist in Geisenheim ausgebildet, aber die Weine haben sich erst entwickelt, seit der Quereinsteiger Matthias an ihrer Seite steht und im Weinberg wie ein Verrückter arbeitet. Doch auch das war nicht vorherzusehen, dass diese „menschliche Gä rung“ so eindeutig positiv verlaufen würde. Möglicherweise bleiben Sie als Leser skeptisch und denken, das seien schließlich nur einige wenige Extrembeispiele, es handele sich um Ausnahmen, die die Regel der geschlossenen, von Insidern bestimmten Weinwelt bestätigen. Ehrlich gesagt habe ich mich lange selber gefragt, ob das nicht der Fall ist. Doch dann reiste ich im September 2006 nach Traben-Trarbach an der Mosel und lernte dort die Mitglieder des Klitzeklei nen Rings (oder KKR) kennen und begegnete einem Haufen „Hobbits“. Das klingt alles ein wenig absurd und stark nach Tolkien, ist es aber nicht. Genius loci, die Vorstellung der Magie eines Ortes, ist sehr verlockend. Der Kulturwis senschaftler Stuart Pigott findet sie schwammig und schöngeistig, trotzdem glaubt er, dass zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten eine besonders kreative Situation entstehen
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kann. Traben-Trarbach war vor rund 100 Jahren eines der reichsten Weinhandelszentren Deutschlands, ein imposantes Jugendstilgebäude wurde neben dem anderen gebaut. Lan ge bevor das Gros der Großstädte dazu überging, hat man sich hier eine Straßenbeleuch tung geleistet! Ein wenig abgedriftet ins touristische Niemandsland war Traben-Trarbach, als ich Mitte der 1980er-Jahre zum ersten Mal herkam. Es war dort aber immerhin deut lich bunter als in den umliegenden Städtchen und Dörfern. Doch nichts hatte mich auf die aktuelle Entwicklung vorbereitet. Anfang 2006 wurde der KKR als Sammelbecken für mehr oder weniger kleine, unkon ventionelle und ehrgeizige Weinerzeuger in und um Traben-Trarbach gegründet. Allein der Name sagt viel aus über den Geist der Gruppe. Er spielt nämlich auf ironische Weise mit den Namen der etablierten Moselwinzervereine wie Großer Ring (die Gebietsgruppe des VDP, Verband Deutscher Prädikatsweingüter) und Kleiner Ring (heute meist „Bernkas teler Ring“ genannt) und drückt die diebische Freude über das (vermeintliche) Klein- und Unbedeutend-Sein aus. Das heißt, wenn man klitzeklein ist, kann man sich alles erlauben. Zu meinem großen Staunen kommen manche der interessantesten Weine der KKRWinzer von Weingütern, die erst 2005 und später von Quereinsteigern gegründet wurden, also alles ganz neu und ganz gewagt. Konstantin Weiser etwa stammt aus einem bayeri schen Dorf und hat Bankkaufmann gelernt, was ihm aber wenig Freude bereitete. Dann schwenkte er um auf Weinbau, studierte in Heilbronn und arbeitete für mehrere Top winzer in Deutschland, Österreich, Frankreich und Neuseeland. Seine Frau Alexandra Künstler hat nach wie vor einen Teilzeitjob im Sozialmanagement. 2005 kauften sie ge meinsam 1,8 Hektar Reben in der supersteilen Lage Enkircher Ellergrub und legten los. Die ersten Ergebnisse? Strahlende und filigrane Moselrieslinge in feinherber sowie saftig-süßer Geschmacksrichtung und von einer Klasse, wie man sie von einem seit Ge nerationen bekannten Spitzenweingut erwarten würde! Seitdem gehören 3 Hektar zum Weingut Weiser-Künstler, das den Umzug in das große alte Winzerhaus in der Wilhelm straße 11 gebührend feierte. Die Renovierung des großen Objekts kommt schneckenar tig voran mangels der dafür erforderlichen Millionen, zudem zählen die beiden die Ar beitsstunden in den Steillagen nicht. Aber wichtiger als die Renovierung ist ihnen, immer bessere Weine abzufüllen und die inzwischen öffentliche Anerkennung dafür. So gesehen haben sie in wenigen Jahren sehr viel erreicht. Wenige Häuser davon entfernt, in der Wilhelmstraße 15, hat das Weingut O. seinen Sitz. Mit „O.“ ist der bärenhafte, bärtige Olaf Schneider gemeint, zugleich Chef vom Team Schneider, einer Minifirma, die auf die Reparatur von Handys, Computern, Fernsehern und Ähnlichem spezialisiert ist. Angefangen hat das Ganze eines Abends Anfang 2005,
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als ein befreundeter Winzer O. herausforderte, die Reben eines bestimmten Weinbergs zu schneiden, dann könne er ihn pachtfrei bewirtschaften und Wein aus den Trauben machen. Schwer beeinträchtigt vom Weinkonsum, der dieser Abmachung vorausgegan gen war, zog Schneider tatsächlich am nächsten Tag aus zum Rebschnitt. Er hatte diese Arbeit als Jugendlicher gelernt, damals eine zuverlässige Taschengeldquelle. Schon im ersten Jahr erzeugte Schneider fünf verschiedene Weine aus den Trauben des Weinbergs, die alle sehr charaktervoll waren. Heute ist er Herr einer 0,6 Hektar gro ßen Parzelle in der Lage Trabener Ungsberg. 2009 erzeugte er aus den dort wachsenden Trauben seinen ersten trockenen Riesling namens „Bikiniblick“, ein funkelnder Edelstein mit blitziger Frische. Der Name gedenkt des inzwischen verbauten und während Olafs Jugend sehr begehrten Blicks von der Spitze des Ungsbergs auf das Freibad der Stadt. (Seine hocharomatischen, leichtfüßigen süßen Rieslinge treten bis jetzt ganz brav un ter dem Namen „Ungsberg“ auf.) Schneider schafft es so gerade, seine zwei Berufe zeit lich unter einen Hut zu bringen. „Wenn ich mehr Weinberge übernehmen würde, müss te ich mich voll darauf konzentrieren“, sagt er wehmütig. Dieser letzte Schritt fällt dem Noch-Elektriker schwer. Wieder dachte ich: Noch zwei Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Dann besuchte ich Thorsten Melsheimer, Ökowinzer im benachbarten Reil, der mit 11 Hektar als KKRMitglied die größte Anbaufläche besitzt, um dessen strahlende Rieslinge mit ihren tollen Kräuter- und Zitronennoten zu verkosten. Er zeigte mir den Keller, wo ich ihn nach den kleinen Edelstahltanks fragte. Kurz zuvor hatte er mir erzählt, alle seine Weine reiften in alten Holzfässern. „Ich habe Hobbits im Keller!“, antwortete er. Es klang nach einer Plage, er erklärte mir jedoch, „Hobbit“ sei Moselanisch für eine neue Art von Hobbywinzer. In den kleinen Edelstahltanks reiften die Weine der „Hobbits“. Diese wollen Spitzenweine erzeugen, also den besten Profis qualitativ Paroli bieten, statt nur einen möglichst billi gen Haustrunk zu keltern wie die alte Art von Hobbywinzern. Im Mai 2008 konnte ich einige erstaunlich gute „Hobbit-Weine“ bei Melsheimer kos ten und einen Teil ihrer Erzeuger kennenlernen. Die Bandbreite in puncto Alter, sozialer Herkunft etc. ist sehr groß. Wolfgang Lüchtrath etwa ist an der Mosel aufgewachsen, hat dem engen Tal aber den Rücken gekehrt und ist heute Kabarettist in Köln. Seine Frau Susanne hat ihm zum 40. Geburtstag einen 0,06 Hektar „großen“ Weinberg geschenkt, wo er einen skurrilen, fast trockenen Weißwein aus den Traubensorten Kerner und Ries ling namens „Der kleine König“ erzeugt. Ruth und Eberhard Duchstein von der Buchhandlung Reuffel in Koblenz nennen ihren Wein aus der Lage Enkircher Steffensberg „Kleine Fluchten“ und schenken den
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schlanken, trockenen Riesling bei manchen Veranstaltungen in ihren Läden aus. Mit Wein, gewonnen aus 0,1 Hektar, muss man vorsichtig sein, wann man eine der wenigen Flaschen aufmacht, wie ich bei meinem Weinbauexperiment schnell gelernt habe (siehe Kapitel 2). Wolfgang Höhler-Brockmann ist bei der Bundespolizei und entdeckte mit seiner Frau Christa die Mosel und ihre filigranen Rieslingweine während eines Urlaubs. Jetzt haben sie drei steile Terrassen mit etwas mehr als 200 Reben, und seit 2004 füllen sie Miniauflagen feinherben Rieslings unter dem Namen „Christa & Wolfgang“ ab. Der 2007er schmeckte nach reifem Pfirsich mit einem Schuss Zitrone und war genial saftig – nicht schlecht für „absolute Beginners“, also zwei Quereinsteiger ohne Ausbildung! Leider mussten sie aus beruflichen Gründen das Projekt für einige Jahre einstellen und den Weinberg vorüber gehend in die Hände von Thorsten Melsheimer geben. Der Geiger Ingmar Püschel aus einem Kölner Vorort wurde 2005 zum nicht weniger erstaunlichen Hobbit. Er baute seinen ersten Jahrgang zu Hause im eigenen Keller aus und setzte dafür eine von einer Bohrmaschine angetriebene Pumpe ein. Als er sie ein schaltete, sorgte das für einen Stromausfall im ganzen Ort! Jetzt stehen seine Weine in ei ner Ecke des Kellers vom „großen“ Weingut O. Püschel ist richtig klein im Vergleich zu Weingut O von Olaf Schneider: Aus nur 0,25 Hektar bepflanzt mit Rieslingreben erzeugt er kräftige trockene Weine und eine exotisch-duftende süße Auslese. An jenem Tag begegneten mir auch drei neue Winzer aus dem benachbarten Kröv, die offensichtlich weder richtige Hobbits waren noch in die Kategorie konventionelle Win zer passten. Kröv ist eigentlich die Heimat des sogenannten Nacktarsches, was fast wie der Titel eines Pornos klingt. Unter diesem Großlagennamen werden bestenfalls süffig-süßli che Weine verkauft, schlimmstenfalls banal süße Plörre verkloppt, vor allem an Bustouris ten wegen des kitschigen Etiketts mit dem Nacktarsch. Dazu passen weder der niederlän dische Ex-Hotelmanager Jan-Paul Driessen noch Andrzej Greszta aus Lubin/Polen, der die Mosel als Erntehelfer kennenlernte und dann beim Spitzenweingut Carl Loewen in Leiwen arbeitete, um Weinbau zu lernen. Driessen lebt seit 2005 in Kröv und hat ein Projekt namens Drei Wines ins Leben gerufen. Er kauft Rieslingtrauben von Winzern im Kröver Raum, die nach seinen Anwei sungen von seinem Freund Jan Klein zu Wein ausgebaut werden. Driessens Ziel ist es, die feinherben Weine in seiner Heimat, aber auch in anderen Ländern zu verkaufen und die besondere Art des Moselrieslings bekannter zu machen. Sein feinherber „Driesling“ und die „Blütezeit“ sind sehr lebhaft und durch die moderne Gestaltung von Flasche und Eti kett Lichtjahre vom zombiehaften Nacktarsch-Look entfernt.
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Jan Klein vom Weingut Staffelter Hof ist in puncto Qualität die Nummer eins in Kröv. Keiner tut mehr als er, um die Gemeinde aus dem tiefen Schatten des Nacktarsches he rauszuholen, wie er es ausdrückt. Er hat Weinwirtschaft in Heilbronn studiert und sucht mit neuen Ideen Auswege ins Licht. Unter anderem erzeugt er einen saftigen süßen Ries ling namens „Knackarsch“, der, wie er sagt, zum Anbeißen ist. Wieder ein junger Mosel winzer mit feinem Humor! In seinem Keller liegen auch die Weine von Weingut Greszta, wodurch es ein weiterer logistischer Knoten im Netzwerk der Moselwein-Quereinsteiger ist. Schon hat sich um Jan eine Gruppe Jungwinzer gebildet, die seine Vision für Kröv teilt, und Greszta ist Teil davon. „Ich habe das kleinste Weingut in Kröv, aber ich habe die zweitgrößte Fläche in den Steillagen“, sagt Andrzej Greszta stolz, „nur Staffelter Hof hat mehr.“ Sein 2006 gegründe tes Weingut erlebte im Juli 2009 einen großen Rückschlag, als das Haus, in dem er wohnte, abbrannte, jedoch kann so etwas den nicht besonders großen, aber zähen Andrjez nicht stoppen. So machte er trotz allem 2009 eine Reihe erstklassiger Rieslinge, vor allem aus der Spitzenlage Kröver Steffensberg. Wie Jan Klein ist er der Meinung, dass Kröv für diese Lage und nicht wegen des leidigen Nacktarsches bekannt sein sollte. Natürlich drängt sich jetzt die Frage auf, wie all das genau dort, wenige Kilometer von Traben-Trarbach entfernt, möglich ist, und sich nicht zum Beispiel ein wenig fluss aufwärts in Bernkastel, wo es eine ganze Menge berühmter Weinbergslagen gibt, erge ben hat. Dort ist eine Entwicklung wie diese schlichtweg ausgeschlossen, weil zahlreiche etablierte und erfolgreiche Weingüter quasi jeden kleinen Weinberg, der auf den Markt kommt, sofort wegschnappen. Gerade weil der Ruf von Traben-Trarbach, Kröv und En kirch lange am Boden war, ist der Preis für die Weinberge aufgrund fehlender Nachfra ge niedrig. Genau wie das Breisgauer Heckenland in Baden bietet sich so eine Spielwie se für Quereinsteiger an. Das ist aber nur ein Grund für die Entwicklung. Der andere ist ein weiterer, nicht sehr großer Kerl, der Winzer wurde: Daniel Vollenweider aus der Nähe von Chur/Grau bünden. Der junge Schweizer kaufte 2000 mithilfe von Familie und Bekannten etwa 1,4 Hektar der steilsten Weinberge in der seit Langem in Vergessenheit geratenen Spitzen lage Wolfer Goldgrube, die in direkter Nachbarschaft des Kröver Steffensbergs liegt. An fangs wurde Daniel von den meisten Fachleuten belächelt, weil er damals nicht ins kon servative Bild des Winzers passte. „Voll-en-weid-er? Wolf … wo ist Wolf?“, entgegnete einer der wichtigsten deutschen Weinkritiker, als ich ihm den Tipp gab. Aber die Weine des Schweizers waren so gut, dass auch er voll des Lobs war. Als ich Vollenweider erstmals be gegnete, hätte ich ihn eher in die Kategorie DJ oder Künstler eingestuft, obwohl er sich
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keinesfalls exzentrisch kleidet. Weil er nicht großspurig von seiner Ausbildung erzählte, musste ich förmlich aus ihm herausquetschen, dass er an der Schweizer Weinbauschule Wädenswil studiert und beim Weingut Dr. Loosen an der Mosel gearbeitet hatte. Dort liegt der Ursprung seiner Begeisterung für Mosel und Riesling. Als Nächstes half er der Fromm Winery in Neuseeland, die Qualität ihrer Rieslinge zu steigern. Aber dann wollte er seine eigene Musik mischen, eigene Bilder malen und war froh, günstige Weinberge im vergessenen Wolf zu finden, die steil und nach Süden exponiert sind und einen stei nigen Schieferboden haben. Was die „normalen“ Winzer in diesem Teil der Mosel als qualvoll ablehnten – zu viele Arbeitstunden für zu wenig Wein – erkannte er als Chance für Spitzenqualität. Daniel wollte echte neue Kleider für den Kaiser schneidern, und das ist ihm auch gelungen. Seit dem 2002er-Jahrgang setzen seine Rieslinge neue Maßstäbe in puncto Charakterstärke und Feinheit im Raum Traben-Trarbach. So wurde klar, dass dieser Teil der Mosel nur un terschätzt worden war, weil über einen sehr langen Zeitraum kaum ein Winzer optima le Qualität angestrebt hatte. Das Tor für die heutige Entwicklung wurde erst von diesem ehrgeizigen Queraufsteiger geöffnet. Zur Vollenweider’schen Methode gehört, einerseits nie die eigenen Arbeitstunden zu zählen, und er liebt es, in den Reben und im Keller zu arbeiten. Anderseits hat er von Anfang an gesunde Preise für seine Weine verlangt, die in Richtung Expansion statt in den Ruin führen. Er ist ein lebendes Beispiel dafür, wie unkonventionelle Wege beim Weinbau bestens funktionieren können, wenn Qualität kompromisslos angestrebt und ein Auge auf die Finanzen gerichtet wird. Deswegen wimmelt es im Wein-Biotop des Großraums Traben-Trarbach vor Leben. Wollen Sie also wirklich nicht Winzer werden?
ingmar p üschel
Ingmar Püschel baute seinen ersten Jahrgang zu Hause im eigenen Keller aus und setzte dafür eine von einer Bohrmaschine angetriebene Pumpe ein. Als er sie einschaltete, sorgte das für einen Stromausfall im ganzen Ort!
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Aufbau Wein-Ost: neue Bundesländer, neue Geschmackswelten Die schmucke Steinfassade erinnert mich stark an die Weinkeller berühmter BordeauxChâteaus aus dem 18. Jahrhundert, die ähnlich gediegen und zeitlos scheinen. Oft strah len sie genauso wie das Gebäude, vor dem ich gerade stehe, weil sie mithilfe eines Sand strahlreinigers vom Staub der letzten Jahrhunderte befreit wurden. Dann sehe ich die Bronzeskulpturen auf dem Dach, und mir fällt der Unterkiefer noch weiter runter: nackte Frauen, die durch ihre Pose manche nackten Tatsachen deut lich zur Schau stellen. Handelt es sich um Fruchtbarkeitssymbole? Wahrscheinlich. Die Kombination von Architektur und Kunst ist auf alle Fälle Lichtjahre von der üblichen „Kunst am Bau“ entfernt und somit höchst originell. Wir sind in Deutschland, aber weder im Rheingau, im Bundesland Hessen, wo alte Schlösser und Klöster das berühmteste deutsche Weinbaugebiet vielerorts schmücken, noch in der barocken fränkischen Weinstadt Würzburg, wo die Fassaden, hinter denen Wein entsteht, oft noch bombastischer ausfallen. Nein, wir sind im Osten, und dieses Ge bäude ist ganz neu. Auch so kann Aufbau Ost aussehen! Neben mir steht ein bärtiger Winzer von Anfang 50, der vor jugendlichem Taten drang förmlich strotzt. Klaus Zimmerling hat diesen erstaunlichen neuen Teil der Welt des Weins in Pillnitz bei Dresden/Sachsen nach der Wende mit tatkräftiger Unterstüt zung seiner Frau, der polnischen Bildhauerin Chodakowska, selber aufgebaut. Die Bronzefiguren auf dem Dach sind natürlich ihr Werk. Aber bitte nicht nach dem Preis ihrer Skulpturen fragen. Chodakowska ist ziemlich erfolgreich und ihre sehr aufwendigen Arbeiten schmerzlich teuer. Dagegen sind die Preise für Zimmerlings Weine verhältnis mäßig human kalkuliert. Die Halbliterflasche – bei ihm die Standardgröße – gibt es ab etwa 10 Euro. Zimmerlings Geschichte ist mehr als erstaunlich. 1959 bei Berlin geboren, zog er bald nach Dresden, lernte Maschinenkonstrukteur und legte schon gegen Ende der DDRZeit seine ersten Weinberge an. Dafür musste er mithilfe von Freunden vernachlässigte historische Weinbergterrassen in Dresden-Wachwitz vom Wildwuchs befreien, ohne Ket tensäge oder Traktor. „Wir haben sogar Bäume ausreißen müssen“, erzählte er mir bei unserer ersten Begeg nung, „ich habe meine Freunde dafür mit selbst gemachten Obstweinen bezahlt.“ Be vor er seine ersten Trauben lesen konnte, hatte Zimmerling bereits mit diversen Beeren
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angefangen. Der innere Drang, Früchte zu keltern und deren Saft zu vergären, war bei ihm schon früh vorhanden. „Als die Wende kam, wurde mir schnell klar, dass mein Job keine Zukunft hatte“, berichtete er im März 1996 während meines ersten Dresden-Besuchs. „Da meine Frau da mals noch in Wien studierte, ging ich zum Weingut Nikolaihof in der Wachau und lernte dort Weinbau von der Pike auf.“ An der Donau erfuhr er aber nicht nur, wie man einen guten Wein macht, sondern auch, dass man einen ganz eigenen Stil wagen kann, wie es die Familie Saahs auf dem Nikolaihof seit Jahrzehnten erfolgreich tut. „Im Herbst 1992 kam ich für meine erste Lese gerade rechtzeitig zurück nach Dres den. 1995 konnten wir dann dieses Anwesen und die dazugehörige gut 4 Hektar große Rebenfläche kaufen. Da fing die Arbeit erst richtig an!“ Eine Größe von rund 4 Hektar klingt nicht nach sehr viel. Sie entspricht etwa drei Fußballfeldern, macht aber immerhin 1 Prozent des gesamten sächsischen Weinbaugebiets aus. Die Arbeit war enorm, weil fast der gesamte kegelförmige Hügel namens Rysselkup pe neu bepflanzt werden musste. Diesmal wurden die Terrassen mithilfe von Kettensäge und Traktor reaktiviert. Technikfeindlich ist Zimmerling nicht, nur ein wenig wählerisch, welches Gerät wann und wie zum Einsatz kommt. Für ihn war die wichtigste Errungen schaft der letzten Jahre eine brandneue „altmodische“ italienische Korbkelter, weil da mit aus seiner Sicht die Trauben viel sanfter verarbeitet werden als mit den meisten „mo dernen“ Keltern. Zu DDR-Zeiten waren die ostdeutschen Winzer glücklich, überhaupt Jungreben zum Pflanzen zu bekommen und ihre wenigen, meist alten Geräte am Laufen zu halten. Die größeren, nicht steilen Weinberge wurden mit ganz normalen Traktoren bewirtschaftet. Das zwang die Winzer, die Rebzeilen sehr weit auseinander zu pflanzen, um Platz für die Traktoren zu schaffen, was aber für die Qualität der Weine abträglich war. Die schweren Traktoren verdichteten außerdem den Boden – Schäden, die nach der Wende sehr müh sam beseitigt werden mussten. Die heutige Rysselkuppe mit ihren mächtigen Trockensteinmauern und gepflegten Rebzeilen, die mit gespaltenen Baumstämmen anstatt mit industriell hergestellten Pfäh len enden, erinnert stark an eine zentralamerikanische Pyramide. Das macht die Ryssel kuppe zu einer absolut einmaligen Erscheinung auf Planet-Wine. Dasselbe lässt sich von Zimmerlings Weinen behaupten. Sie haben zum einen etwas Urtümliches und sind dabei hoch originell. Das war bereits vor 15 Jahren zu spüren, doch seitdem hat der Winzer mächtig hinzugelernt und beherrscht seine Profession bestens.
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Seine trockenen und feinherben Weine haben eine beachtliche Stärke, ohne schwer zu sein, verbunden mit einer intensiven eigentümlichen Würze. Damit unterscheiden sie sich deutlich von der glatt gebügelten, süßlich-fruchtigen Art vieler gut gemachter tro ckener Weißweine, ob diese nun im Westen, weiter im Süden oder noch weiter östlich erzeugt werden. Spieglein, Spieglein an der Wand, welcher Zimmerling-Wein ist der er staunlichste im sächsischen Land? Aber ich kann auch hier nicht allzu viele Weine kosten, sondern muss weiter nach Meißen reisen, allerdings nicht in Sachen Porzellan. Zimmerling bringt mich zum Haupt bahnhof, und von da geht es weiter. Der neue deutsche Osten des Weins wimmelt nur so von unkonventionellen und mutigen Winzern. Nicht alle sind echte Ossis wie Zimmer ling, aber das scheint längst keine Rolle mehr zu spielen. Irgendwie ist auf Wahlossis wie mich – ich lebe in Ostberlin – oder auch Dr. Georg Prinz zur Lippe vom Weingut Schloss Proschwitz, der bis Anfang der 1990er Unternehmensberater in München war, ein Fun ke übergesprungen. „Als ich Meißen zum ersten Mal sah, fühlte ich mich, als hätte ich eine wunderschö ne Frau kennengelernt!“, beschreibt dieser seine persönliche Wende. Mit dieser „Frau“ ist er seit 1991 glücklich verheiratet, wenn auch ihre Ehe anfangs sehr abenteuerlich ver lief. Im ersten Jahr hatte er noch keinen eigenen Keller und musste die Trauben selber mit einem alten Militärlastwagen von Meißen nach Castell in Franken fahren, wo sie in seinem Auftrag im Keller des Fürstlich Castell’schen Domänenamts zu Wein verarbeitet wurden. Solche tatkräftigen Aktionen erwartet man nicht unbedingt von einem Prinzen, geschweige denn von einem Unternehmensberater. Als ich vor dem schmucken heutigen Sitz des Weinguts mit seinem großen renovier ten Hof in Zadel oberhalb von Meißen aus dem Taxi steige, ist es schwer zu glauben, dass alles tatsächlich so angefangen hat. Ich bin gekommen, um das breite Sortiment an tro ckenen Weißweinen, Sekten und Rotweinen zu verkosten, die auf fast 70 Hektar Weinberg erzeugt werden. Mehrere improvisierte Zwischenlösungen gab es, bis alles den heutigen Stand erreichte, aber während dieser Jahre wurden die Weine des Prinzen immer besser, auch dank des Geschicks seines Kellermeisters Martin Schwarz. Am Erfolg ist auch der langjährige Marketingleiter Peter Bohn beteiligt, der weit über den nächsten zu verkau fenden Weinkarton hinaus denkt. Dank dieses Trios und des von ihm geführten Teams bewegt sich das Gut jetzt wie ein Riesenschiff, das mit scheinbarer Mühelosigkeit durch die Wellen gleitet. Heute sind manche Schloss-Proschwitz-Weine so erfolgreich, dass man sie hier im Gut kaum ergattern kann, wie die herrlich nach Schwarzen Johannisbeeren und Holunderblüte
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duftende, ungemein frische trockene Scheurebe. Ich bin froh, dass eine Flasche davon auf dem Tisch steht, als der Prinz mich im Verkostungsraum begrüßt. Auch die Rotweine sind sehr begehrt, weil sie eine herbe Kraft besitzen, die von Experten nördlich des 51° Breitengrads lange für unmöglich gehalten wurde. Bald wird es auch die ersten Scheure ben-Weine vom Weingut zu Weimar geben. Ja, es stimmt, der flotte und ehrgeizige Prinz ist mittlerweile dabei, ein zweites Wein gut aufzubauen, und zwar im anderen ostdeutschen Weinbaugebiet Saale-Unstrut, was mindestens so gewagt ist wie der Wiederaufbau von Schloss Proschwitz. Er erzählt mir mit großer Begeisterung, wie er bei Weimar im Frühling 2008 die Pflanzung eines gut 40 Hektar großen Weinbergs in Angriff genommen hat, dem Weimarer Poetenweg. Thü ringen ist nicht unbedingt das Bundesland, wo man spontan an Weinbau denkt, und nach der Wende gab es nahe der Grenze zu Sachsen-Anhalt nur 13 Hektar Weinberge. Bis 2005 wurde ihre Fläche dank der Gründung des Thüringer Weinguts in Bad Sulza durch An dreas Clauß auf 40 Hektar vergrößert. Mit seinem neuen Projekt verdoppelt der Prinz also die dortige Rebenfläche auf einen Schlag. Bald wird es von dort trockene Weißweine aus Müller-Thurgau, Weiß- und Graubur gunder sowie Rotweine aus Spät- und Frühburgunder geben. Wenn sie dem Niveau der Schloss-Proschwitz-Weine hier auf dem Tisch zumindest nahe kommen, dann kann das für die Qualität der Weine, die in den Lokalen der von Touristen überfüllten Dichter stadt ausgeschenkt werden, nur gut sein. Dann hat der Münchener Unternehmensbera ter sich vollständig in einen ostdeutschen Weinprinzen verwandelt. Jetzt kommt Martin Schwarz dazu, und damit ist es Zeit für mich weiterzufahren, um seine eigenen Weine zu kosten. Mit seinem Minibetrieb, der einfach nur Schwarz heißt und dessen Weine in einer Ecke des großen Proschwitz-Kellers untergebracht sind, er zeugt er etwa 10.000 Flaschen pro Jahr, also einen winzigen Bruchteil der Prinzen-Pro duktion. Offizielle Anschrift des Schwarz-Weinguts ist aber die coole Alaunstraße in der coolen Dresdener Neustadt, also die Wohnung von Martin Schwarz und seiner Freundin Grit Geißler, die aus Ostberlin stammt. Da fahren wir jetzt hin. Während der Fahrt erzählt er mir, wie sie 2002 in noch kleinerem Maße begonnen haben, eigene Weine in einem ganz anderen Stil wie die von Schloss Proschwitz zu er zeugen. Zuerst wurden die Weine in kleine Barriquefässer gefüllt in dem Bestreben, sie geschmeidiger zu machen, was man bis dato von ostdeutschen Weinen nicht kannte. Auch die sehr genaue Arbeit im Weinberg, vorwiegend von Grit erledigt, weil Martin sei nen Job bei Proschwitz hat, war für diese Zeit durchaus revolutionär. Weil die Menge der jeweiligen Traubensorte aus ihrem ersten Weinberg so klein war, kombinierten sie sie zu
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S aale-unstrut
Uwe Lützkendorf
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Klaus Zimmerling
Der neue deutsche Osten des Weins wimmelt nur so von unkonventionellen und mutigen Winzern. Nicht alle sind echte Ossis wie Zimmerling, aber das scheint längst keine Rolle mehr zu spielen.
Bernard Pawis
saCH SEN
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Paaren – die weißen Trauben Riesling und Traminer sowie die blauen Spätburgunder und Portugieser –, was bei Wein aus Sachsen ebenfalls vollkommen neu war. Diese Einstellung des „Wenn schon, denn schon“, wie Grit es beschreibt, war auf Anhieb Grundlage ihres Erfolgs. Die Weine schmecken anders und wurden in der Szene zu Beginn heiß diskutiert nach dem Motto: Darf man das überhaupt? Aber wie bei Filmen, Büchern und in der darstellenden Kunst ist solch eine Kontro verse das allerbeste Mittel, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. So bin ich auch auf die Weine der beiden gestoßen. Wir parken und steigen die Treppe zum Haus Nr. 70 hinauf. Grit hat bereits Verkostungsgläser auf dem Tisch bereitgestellt und holt die erste Flasche aus dem Kühlschrank. Jetzt bin ich in ihrem „Weingut“, was ziemlich skurril anmutet. Jede sinnvolle Verkostung startet mit dem einfachsten Wein, was in der Regel auch der günstigste ist. In diesem Fall ist es ein Müller-Thurgau, der voll und ganz das Haupt ziel der beiden verkörpert, also für Sachsen ganz untypisch schmeckt. Die übliche Mus katnote fehlt hier ganz, dafür gibt es Blüten-, Haselnuss- und Zitronenschalenaromen. Natürlich haben „Wenn schon, denn schon“-Weine einen gewissen Preis, und der liegt hier bei 11 Euro die Flasche. Ganz anders ist der trockene Riesling aus einem Weinberg in der Spitzenlage Meißener Kapitelberg, den sie 2007 übernehmen konnten. Er wird aus schließlich in Edelstahltanks ausgebaut, und das ist sicher eine gute Ausnahme von der Holzfassregel, sonst wäre er weniger strahlend. Als Abschluss folgt die „Vermählung“ aus Weiß- und Grauburgunder, die aufgrund der Holzfasslagerung nach Akazienhonig und Vanille duftet und Fülle mit Eleganz vereint. Drei tolle, sehr unterschiedliche Weine, die jeweils eine ganz eigene, andere Facette der sächsischen Vielfalt bilden. Es hat sich ganz offensichtlich gelohnt, hier die Treppe hochzusteigen. Das Beispiel Schwarz hat viele andere Menschen im Dresdner Raum ermutigt, sel ber im kleinen Rahmen Weinbau zu betreiben, vor allem in Radebeul. Da sitzt der jun ge Karl Friedrich Aust, auch ein richtiger Querdenker unter den Winzern Sachsens, der dem Sommelier vom Taschenbergpalais/Dresden, dem Franzosen Frédéric Fourré, ge holfen hat, seinen Minibetrieb auf die Beine zu stellen. Bei ihnen geht es höchst krea tiv zu, und bei jedem Besuch erfahre ich von weiteren mutigen Neuerungen. Jetzt wird so richtig entdeckt, oder vielmehr wiederentdeckt, was die Terrassenlagen rund um das Elb-Florenz wirklich können. Das vermutet man nicht unbedingt, wenn man die Deutschlandkarte studiert und sich anschaut, wo die ostdeutschen Weinbaugebiete liegen, nämlich abseits der übrigen Weinbaugebiete, weit entfernt vom Rhein und seinen Nebenflüssen. Immer noch glauben viele Wessis, „da drüben“ wüchse kein guter Wein. Und wer noch die DDR-Weine von Elbe,
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Saale und Unstrut kennt, meint oft, ostdeutsche Weine seien nach wie vor dünn, derb und sauer. Dabei gab es auch schon vor der Wende sehr gute Weine, etwa die 1982er und 1983er Auslesen vom Landesweingut Kloster Pforta Naumburg in Bad Kösen bei Naum burg. Es war ein Erlebnis, diese Weine vor einigen Jahren zu kosten, sie zeugen vom Stre ben nach Qualität unter widrigen Umständen. Sie entstanden unter der Ägide des damaligen Direktors Udo Lützkendorf, dessen Sohn Uwe heute die erstaunlichsten Weißweine von Saale-Unstrut im gleichnamigen Familienweingut erzeugt. Da fahre ich jetzt hin. Auf dem Papier wurde es 1992 gegrün det, aber eigentlich handelt es sich nicht um eine Neugründung. Schon 1893 standen die Lützkendorfs im Weinbergskataster als Besitzer der Lage Karsdorfer Hohe Gräte, die auch heute die Spitzenlage für ihren Wein ist. Wer offen ist und sehenden Auges durch den Osten Deutschlands fährt, stößt auf enorm viele beeindruckende Relikte aus der Zeit vor den ersten Plattenbauten und Trabi. Als Uwe Lützkendorf mich am Naumburger Haupt bahnhof abholt, reicht die Zeit leider nicht, um sich die schöne alte Stadt anzuschauen, wofür man mindestens einen ganzen Tag einplanen sollte. Während der Fahrt berichtet mir der gesprächige Lützkendorf die Neuigkeiten aus der Region, und ich erinnere mich an unsere anderen gemeinsamen Fahrten. Einmal ging es darum, welche Gewürze in die Thüringer Bratwurst gehören (seiner Meinung nach Majoran, Knoblauch und Weinbrand), ein anderes Mal erklärte er mir, er selber sei ein Medium, was er nicht weniger ernst nimmt als die Thüringer Bratwurst. Kurz gesagt, ein höchst origineller Winzer. Kein Wunder, dass seine Weine nicht weniger aus der Rei he tanzen – wie der Winzer, so der Wein. Wir fahren aber nicht direkt zum Anwesen der Lützkendorfs am Saaleufer in Bad Kösen, sondern in eine wahrhaft neue Weinlandschaft, die um die Jahrtausendwende in einem ehemaligen Tagebau unweit der historischen Weinberglage Hohe Gräte entstan den ist und denselben Namen trägt. „Es war eine Schnapsidee vom Chef der Tagebaufir ma, uns anzusprechen“, sagt Uwe, wie immer Feuer und Flamme für sein Thema, „aber wir waren sofort dabei. Die Idee war sehr gewagt, aber es hat bestens funktioniert.“ Gewagt war schon allein die Aufschichtung des Bodens für die Reben auf dem nack ten Kalkstein. Als wir in dem Riesentrichter stehen – er ist 1,6 Kilometer breit – und ich die 3,6 Hektar Weinberg betrachte, habe ich jedoch nicht den Eindruck, auf ein künst lich angelegtes Weinbaugebiet zu blicken. Eher erinnern mich die „Felsen“ am Rand des Tagebaus hinter den Reben an so manche uralte Weinlandschaft im Süden Frankreichs, wie etwa an Pic St. Loup nördlich von Montpellier. Keinesfalls wähnt man sich hier im ver hältnismäßig kalten deutschen Norden. „Hier wächst ein Teil unserer besten Rotweine“,
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erzählt Uwe, „aber auch tolle Weißburgunder.“ In Ostdeutschland gibt es weitere Wein berge, die in letzter Zeit in ehemaligen Tagebauen entstanden sind, in vergleichbaren Gebieten beispielsweise Nordrhein-Westfalens oder anderen Teilen Europas sucht man bislang vergebens. Ein paar der zuletzt erzeugten Weine aus dieser sowie der „Urlage“ Hohe Gräte hat mein stämmiger, aber quirliger Gastgeber praktischerweise in einer Kühlbox mitge bracht. Gläser sind auch dabei, und wir verkosten im Stehen neben dem Auto. Ein tro ckener Weißburgunder aus dem Tagebau steckt seine gut 13 Prozent Alkoholgehalt weg, als sei das nichts. Alle seine Weine sind genauso „energisch“ wie Lützkendorf selbst, wir ken aber in puncto Körper stets schlanker, als die Alkoholwerte es vermuten ließen. Das ist zum einen auf den steinigen Boden der Hohen Gräte und zum anderen auf die erst klassige Arbeit des Winzers im Keller zurückzuführen. Am meisten erstaunt mich dieser Effekt immer wieder bei seinen kräftigsten trockenen Weißweinen, den Großen Gewäch sen aus Riesling, Silvaner und Weißburgunder. Theoretisch sind hochwertige Weine wie dieser in picknickartigen Situation wie jetzt fehl am Platze, aber durch ihre erfrischende schlanke Art und die Aromen, die an Quitte, Lavendel und frische Kräuter erinnern, wir ken sie beinahe kühl und dezent. Auch so schmeckt der Osten heute! Dass es aber keinen „Ost-Einheitsgeschmack“ gibt, beweist ein Vergleich zwischen diesen Lützkendorf-Gewächsen und den wesentlich üppigeren und nach sattreifen gel ben Früchten duftenden Großen Gewächsen vom Weingut Pawis in Zscheiplitz bei Frey burg an der Unstrut, wohin ich mich anschließend auf den Weg mache. Die Entfernung zwischen den beiden Betrieben beträgt nur wenige Kilometer, beide sind kurz nach der Wende entstanden und haben heute eine ähnliche Größe erreicht, aber ihre Weine sind vom Typ fast konträr, was dieses verhältnismäßig kleine Weinbaugebiet so interessant und spannend macht. Richtig klein war es früher, was heute revidiert werden muss. Nach der Wende ent schied die EU, die Fläche der ostdeutschen Weinbaugebiete dürfe auf insgesamt 1.000 Hektar ausgeweitet werden. Inzwischen ist die Rebenfläche Sachsens von etwa 300 auf 462 Hektar gewachsen, ist also um etwa 50 Prozent größer als vorher, während die Reben fläche an Saale und Unstrut mehr als verdoppelt wurde: aus 300 wurden 685 Hektar. Vier der übrigen deutschen Weinbaugebiete liegen jetzt flächenmäßig deutlich hinter SaaleUnstrut. Wegen des 1984 von der EU verhängten Weinbaustopps ist diese Entwicklung in Deutschland und Westeuropa einmalig. Man kann natürlich sagen, dass im Bereich Wein alles relativ ist, aber der Blick über das Saaletal vom ehemaligen Kloster- und Rittergut Zscheiplitz aus, meiner nächsten
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Station, ist nicht nur relativ schön, sondern umwerfend. Mein letzter Besuch ist nun eine ganze Weile her, und inzwischen ist der Kellerneubau fertig, der an das Haus Nummer 2 in dem großen, hufeisenförmigen Gebäudekomplex angedockt wurde. Der Bau des im posanten Steinhauses geht auf das Jahr 1862 zurück, was für Zscheiplitzer Verhältnisse jung ist, das erstmals 1079 erwähnt wurde. Hier interessiert mich aber vor allem die Gegenwart, und da sind auch schon Bernard und Kerstin Pawis. Sie sehen aus, als ob ihnen der Umzug aus Freyburg richtig gutgetan hat. Dort war alles zu eng, und Enge führt beim Weinbau immer zu Zwängen und Zwischen lösungen. Das junge Paar übernahm das Gut 1998 von Bernards Vater Herbert, kam aber trotz aller Schwierigkeiten sofort gut voran, sodass sie und ihr Gut unter anderem in den Eliteverband des deutschen Weinbaus VDP aufgenommen wurden. Für optimale Arbeits bedingungen und stimmige Räumlichkeiten gibt es jedoch auf Dauer einfach keinen Er satz. Wie stimmig die Räumlichkeiten im ehemaligen Schafstall des Guts sind, erschließt sich mir auf den ersten Blick, nun muss ich auch noch den neuen Keller kennenlernen. „Wir haben ihn zur Hälfte unterhalb der Erdoberfläche eingegraben, dann aufge schüttet und ein Gründach darauf gesetzt“, erklärt mir Bernard, „daher ist es dort auch während der heißesten Monate des Jahres immer noch schön kühl, es herrschen also op timale Lagerbedingungen.“ Reihen kleiner und mittelgroßer Edelstahltanks blitzen hier unten. „Wir füllen die meisten Weine recht früh ab, um ihre Frische voll zu erhalten“, fährt er fort, „deswegen sind die meisten Tanks leer.“ Hier unten ist richtig Platz, um zu arbeiten, der Traum eines jeden Winzers. Auch in puncto Infrastruktur liegen die ost deutschen Winzer inzwischen definitiv auf Augenhöhe mit ihren Kollegen in den alten Bundesländern und dem übrigen Westeuropa. „Als mein Vater 1990 damit anfing, konnte er von solchen Bedingungen zwar nur träu men, hat aber schon im ersten Jahr einen guten Wein erzeugt. Die 1990er Kerner Aus lese schmeckt nach wie vor wunderbar.“ Immer noch stehen die „alten“ Sorten Kerner, Müller-Thurgau und Bacchus aus den Betriebsanfängen auf der Preisliste, und sie sind (zu Recht) sehr begehrt und ebenso schnell ausverkauft wie die etwas teureren trocke nen Spätlesen aus den „edlen“ Traubensorten Riesling, Weißburgunder und Grauburgun der. Bernard Pawis schenkt mir eine Probe des Rieslings Großes Gewächs ein, dem neu en trockenen Spitzenwein des Hauses. Glockenrein duftet er nach Aprikose, also nach Rieslingtrauben, die bei der Ernte durch und durch reif waren, sein Geschmack ist stark und fein zugleich – auch er gehört zu den strahlenden neuen Spitzenweinen Ostdeutschlands.
Gestern out, heute in
Gestern out, heute in Kurzer Rock oder langer Rock, hauteng oder weit und fallend? Ebenso wie Kleidung ist Wein Moden unterworfen. Rotwein war mega-in in den letzten 20 Jahren und trotz vieler ganz erheblicher kultureller Unterschiede sogar die erste weltumspannende Weinmode. Einige Jahre lang musste der Rebensaft nur rot sein, um sich unabhängig von der Her kunft wie von selbst zu verkaufen. Konsumenten, die beim Weißwein blieben, sahen oft ganz schön alt aus. Diese Marktsituation führte auch zu starken Veränderungen in den deutschen Weinanbaugebieten bis hin zu geklauten Weinbergen. Wahnsinn. Während der letzten zehn Jahre verdoppelte sich die Fläche, auf der die blaue Trau bensorte Dornfelder angebaut wurde, von 4.000 auf über 8.000 Hektar, um die Nachfrage nach günstigem Rotwein mit tiefer Farbe aus Deutschland zu stillen. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung konnten die Winzer manchmal nicht ausreichend Dornfelder-Jungre ben von den Rebschulen bekommen, sodass einige böse Hunde diese, nachdem sie frisch angepflanzt waren, von den Kollegen klauten. Viele der billigen Dornfelderweine hatten zwar eine tiefe Farbe, aber offensichtlich keinen so richtig überzeugenden Geschmack, sonst hätte die Dornfelder-Mode nicht so schnell ihren Zenit überschritten. Jetzt geht die Weinmode wieder eindeutig in Richtung trockener Weißwein, denn das große Rad der Zeit dreht sich, und wir kehren fast an den Ausgangspunkt zurück. So folgen auf kurze Röcke lange Röcke, dann landet die Frauenmode wieder bei kürzeren Röcken, auch wenn sie immer ein wenig anders ausfallen, weil das Rad der Zeit sich nicht nur dreht, sondern sich gleichzeitig auf einer Achse nach vorn bewegt. Die, die wider das Modediktat einen langen Rock tragen, sind entweder hoffnungslos hinter her oder trauen sich, einen ausgeprägten persönlichen Stil zu entwickeln. Außerhalb der Großstädte erfordert das Mut, weil frau schnell als unschick abgestempelt werden kann. Männern kann es genauso gehen. Ich mag es lieber bunt und groß als klein kariert. Oft werde ich von Männern, die Angst vor Farbe oder wilden Mustern haben, ziemlich schräg angeschaut. Vor allem wenn ich in Sachen Wein auf dem Land unterwegs bin, füh le ich mich deswegen manchmal wie ein halber Terrorist! Aber eine Mode entsteht oft nur durch Menschen, die es wagen, sich anders anzuziehen. Auf ähnliche Weise kommt es zu neuen Weinmoden. Ein oder mehrere Winzer igno rieren das, was „in“ ist, und erfinden einen ganz neuen Weintyp, der zuerst eindeutig „out“ ist. Das kann sie förmlich zu Outlaws machen, wenn sie etwa verbotene Reben pflanzen, was schon häufiger passiert ist, als man annehmen würde. Die für die Genehmigung von
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Wein zuständigen Ämter haben immer Argumente dafür, warum eine bestimmte Trau ben- oder geklonte Rebsorte nicht legal ist. Dahinter verbirgt sich aber oft bürokratische Sturheit oder die Engstirnigkeit eines Verbands. Die französische von der Loire stammende Traubensorte Sauvignon Blanc war lange in Deutschland verboten und ihre hoch aromatischen, knackig-frischen Weißweine nur als Import erhältlich. „Undeutsch“ lautete das Urteil der Behörden. Dann wurden Sau vignon Blancs aus Neuseeland und Südafrika zu richtigen Modeweinen, und unter dem Druck der Winzer gaben die Behörden schließlich nach. Nachdem die Sorte 2000 in den meisten deutschen Weinbaugebieten zugelassen wurde, ist ihre Anbaufläche explodiert. 2005 machte sie bereits 186 Hektar, fünf Jahre später über 500 Hektar aus – Tendenz weiterhin stark steigend. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, so handelt es sich beim Sauvignon Blanc um keine Weinnovität. Ab etwa 1900 bis zur NS-Zeit war er unter der Bezeichnung Muskat-Sylvaner die meistangebaute Traubensorte im württembergischen Remstal bei Stuttgart! Diese galt als „undeutsch“ und musste Ende der 1930er-Jahre verschwinden. Jetzt feiert sie ein Comeback, und aus dem Remstaler Sauvignon Blanc ist ein wahrer Kultwein geworden. Doch fast in allen deutschen Anbaugebieten ist dieser Wein schnell ausverkauft, und das oft zu Preisen, die noch saftiger sind als sein Geschmack. Er kostet selten weniger als 10 Euro die Flasche, meist deutlich mehr, was dazu geführt hat, dass weitere Flächen mit Sauvignon Blanc bepflanzt werden und es inzwischen günstigere Alternativen gibt. Die Weine der lange verschmähten deutschen Traubensorte Scheurebe wurden von einigen cleveren Winzern quasi neu erfunden. Durch geschickte Arbeit in Weinberg und Keller können sie ziemlich ähnlich wie Sauvignon Blanc schmecken. Bereits vor fast zehn Jahren bezeichnete der junge rheinhessische Spitzenwinzer Philipp Wittmann seine tro ckene Scheurebe als „unseren Sauvignon Blanc“ – seine Antwort auf die in Deutschland erneut zugelassene französische Sorte. Inzwischen gibt es viele trockene Scheureben, die sich in ihrer besonderen Aromatik – Gras, Kräuter, Schwarze Johannisbeere, Grapefruit und Maracuja – mit Sauvignon Blanc messen können und ähnlich frech und kräftig sind. Es stellt sich nur die Frage, ob man die Scheurebe als Trittbrettfahrer betrachten oder als legitime Konkurrentin anerkennen soll. Bevor man sie voreilig abtut, ist zu be denken, dass in Blindproben auch die erfahrensten Experten größte Schwierigkeiten ha ben, Scheurebenweine von „echten“ Sauvignon Blancs zu unterscheiden. Außer Frage steht die Entstehung einer ganz neuen Art deutschen Weißweins dank dem Zusammen spiel von Innovationsdrang der Winzer und dem Verlangen der Konsumenten. Wir dürfen
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nicht vergessen, dass wir den Wein, den wir trinken, indirekt mit zu verantworten haben! Werten wir die neuen Scheureben also als ein kreatives Beispiel der aktuellen Weinmode. Nicht nur in Deutschland gibt es Regeln dafür, was wo gepflanzt werden darf. Suit case Clone, direkt ins Deutsche übersetzt Koffer-Klon, ist unter Winzern im englischspra chigen Raum ein fester Begriff für geschmuggelte Reben eines verbotenen Klons. Schon lange werden genetisch identische Pflanzen mit den gleichen Eigenschaften, also geklon te Pflanzen, erzeugt. So ist zum Beispiel unter Winzern rund um Planet-Wine vom Spät burgunder/Pinot Noir der Klon 777 aus Dijon/Frankreich extrem begehrt. Dieser war jedoch in manchen Ländern jahrelang nicht amtlich zugelassen und daher nicht offizi ell erhältlich. Da ist die Versuchung groß, Reben dieses Klons in einen Koffer zu packen und nach Hause zu schmuggeln. Wer damit im Koffer oder – noch schlimmer – später im Weinberg erwischt wird, braucht einen guten Anwalt. Bei Spätburgunder/Pinot Noir war der Reiz groß, weil die genetische Bandbreite dieser Traubensorte so groß ist. Denn wer einen zweitklassigen Klon pflanzt, wird es schwer haben, nach vorn zu kommen. Wer dagegen eine optimal geklonte Rebe im Weinberg stehen hat, befindet sich in der Pole position am Anfang des Rennens. Deswegen gibt es weltweit besonders viele „Koffer-Klo ne“ von dieser Traubensorte. Manchmal ist es wirklich erstaunlich, wie eine einst bedeutsame und angesehene Traubensorte in absolute Ungnade fallen kann. So war der Silvaner bis noch vor wenigen Jahrzehnten die meist gepflanzte Rebsorte in deutschen Weinbergen, und vor etwa 100 Jahren machte er sogar annähernd 60 Prozent des Rebenbestands aus. Da er früher reift als Riesling, ergaben die Trauben auch vor der Klimaerwärmung herzhafte Weine mit de zenter Säure und rundem Körper. Oft wurden sie als „erdig“ beschrieben, weil sie selten ausgeprägte Fruchtaromen wie der Riesling hatten. Dann wurde der Silvaner in vielen Weinbaugebieten von modischen Traubensor ten wie Weißburgunder, Riesling, Spätburgunder und Dornfelder in den Hintergrund gedrängt. Franken und Rheinhessen waren schließlich die einzigen Regionen, wo sei ne Verbreitung konstant blieb und absolut gesehen eine bedeutende Fläche ausmachte. Laut Weinbüchern und Experten blieb er etwas Besonderes, aber nur eingefleischte Sil vaner-Fans verlangten noch nach ihm. Das liegt auf der Hand, weil er in puncto Körper inzwischen oft eher magersüchtig als rund ausfiel und vielmehr derb statt erdig schmeck te. Auch in Franken sank der Silvaner-Stern dramatisch und hatte Mitte der 1990er-Jah re einen Tiefpunkt erreicht.. Dann betrat ein ehrgeiziger junger Winzer namens Horst Sauer die Bühne. Mit seinen trockenen und edelsüßen Weinen aus dem Jahrgang 1997 gelang ihm der überregionale
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Durchbruch, und ein paar Flaschen davon fielen mir in die Hände. Ich öffnete sie mit gro ßer Skepsis, probierte und war völlig aus dem Häuschen. Die trockene Silvaner Spätlese aus der Spitzenlage Escherndorfer Lump betörte mit genialen Fruchtaromen – Mango und Pa paya, ja ein ganzes Paradies exotischer Früchte. Sie hatte etwas ungemein Saftiges und Le bendiges ohne jegliche Spur von derben Noten. Also hatte in Escherndorf ein mir bis dahin unbekannter Winzer einen ganz neuen Silvaner-Typ erfunden. Da musste ich natürlich hin. Trotz Glatze sah der flotte Kerl, der mich am Würzburger Hauptbahnhof abholte, eher jung aus. Im Nachhinein stellte er sich als einer der ersten deutschen Jungwinzer der neuen Art (siehe Kapitel 2) heraus und war damit seiner Zeit in mehreren Punkte voraus. Mit schwarz-weißem Fischgrätensakko, schwarzem Hemd und Krawatte wirkte er auf mich eher wie der Chef eines kleinen Hightech-Unternehmens, was wiederum zu seinen neuen Weinen passte. Als wir aus Würzburg herausfuhren, landeten wir in einem Stau, und das Energiebündel am Steuer neben mir bebte vor Frust. „Endlich ist Stuart Pigott da, und wir hocken im Stau!!!“ Ich fand seinen kleinen Ausbruch sympathisch und menschlich. Die Verkostung im Gut kurz darauf bestätigte voll und ganz das Ausmaß der Sauer’schen Revolution. Alle Weine waren heiter und tief zugleich, wie die beste deutsche Dichtung der Romantik, aber auch strahlend zeitgemäß, also ohne jeglichen Staub. Was hingegen kaum dazu passte, waren die Räumlichkeiten, die zweifelsohne ge mütlich, aber eindeutig ein Relikt des alten, miefigen Frankenlandes waren. Das banale orange-beige Tor zum Haus Nr. 14 in der Bocksbeutelstraße passte für mich einfach nicht zum brillanten Geschmackserlebnis. Es überraschte mich daher gar nicht, als er und sei ne Frau Magdalena wenige Jahre später mit dem Umbau des Hauses begannen. Dessen Dauer und die tiefgreifenden baulichen Veränderungen schockierten mich jedoch. Heu te ist keine Spur mehr vom alten Weingut zu sehen, das gesamte Ensemble wirkt hochmo dern und verkörpert den neuen fränkischen Silvaner-Geist. Das Verwunderliche daran ist, wie das Ganze in das schmale alte Grundstück eingefügt wurde, ohne dass der Kom plex an irgendeiner Stelle eng wirkt. Hier werden die Trauben von insgesamt 16 Hektar Weinberg verarbeitet, als Horst damit 1977 anfing, waren es nur 3 Hektar. Natürlich gin gen diese Veränderungen nicht ohne Frust und Ärger über die Bühne, aber auch die Ent stehung des neuen fränkischen Silvaner-Stils war nicht einfach. Es war eine Riesenarbeit. Entsprechend steht es in eine Glasplatte im neuen Keller eingraviert: „Selbstkritik, Träu me, Geduld“. Das Vorhaben war außerdem gewagt, schließlich wusste niemand, ob es für die neuen Sauer-Weine ein Publikum geben würde. Horst Sauers Antwort auf die Frage, wie er solche Weine macht, nämlich durch „kontrolliertes Nichtstun“, klingt einfach. So besteht im Keller die Hauptarbeit aus
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Putzen, um für absolute Sauberkeit zu sorgen. Bis es so weit ist, heißt es etliche Monate Schuften im Weinberg, um möglichst optimale Trauben ernten zu können. Silvaner rea giert auf eine Reduzierung der Menge – weniger Trauben pro Stock – mit einer sehr deutlichen Steigerung der Traubenreife. So muss die Reduzierung der Menge zum richtigen Zeitpunkt und auf die richtige Weise in die Wege geleitet werden, sonst geht das Ganze schief. Wenn das Rebenlaub – das „Solarpanel“ der Rebe – nicht bis zur letzten Reifephase der Trauben gesund bleibt, können die Reben keine schönen Aromastoffe produzieren, die den Wein später paradiesisch-fruchtig schmecken lassen. Durch Unreife fehlt auch die Grundlage für Duftigkeit, Saftigkeit und Harmonie. Ohne diese Basis kann nur ein dünnes Weinchen entstehen, und wenn dann beim Keltern der Trauben nicht aufgepasst wird, kommt ein derber Geschmack hinzu wie früher beim schlechten Silvaner. Wie Horst Sauer immer wieder betont: „Qualität wird nicht gemacht, sondern sie wächst.“ In manchen Jahren wie 2008 reifen die Trauben erst ziemlich spät. Jeder Tag, den man länger wartet, bringt mehr Qualität, aber das kostet Nerven. Ein plötzliches Unwet ter könnte die gesamte Ernte vernichten. Aufgrund des Klimawandels ist es in dem nach Süden ausgerichteten Escherndorfer Lump manche Jahre so warm, dass die Sauers die Reife der Trauben manchmal sogar etwas „bremsen“ müssen. Denn so stolz sie auf ihre kräftigen trockenen Silvaner-Spätlesen und Großen Gewächse sind, möchten sie nach wie vor auch leichtere Weine anbieten können. Mit denen bekommt man zwar kein großes Kritikerlob, aber man begeistert viele Konsumenten, die nicht schon nach zwei Gläsern betrunken sein wollen. Um diese Menschen glücklich zu machen, hat Tochter Sandra 2009 für die leichten Kabinett-Weine eine besonders frühe Lese eingeführt. Wieder ent stand ein neuer Silvaner-Typus mit Aromen, die an Stachelbeere und frische Kräuter er innern, sowie einer schlanken, sehr kühlen Art. Die Revolution geht weiter! Also ziehe ich heute meinen Rollkoffer weiter entlang der Bocksbeutelstraße von Escherndorf – bis zum Weingut Rainer Sauer, einem weit entfernten Verwandten von Horst, der im Haus Nr. 15 wohnt. Hier findet eine andere Silvanerrevolution statt. Die erste Phase dieser Entwicklung wurde von Rainer Sauer geprägt, als er 1999 erstmals ei nen sehr üppigen, kurvenreichen trockenen Silvaner namens „L“ erzeugte. Er hat wirk lich eher was von der ehemals prallen Sophie Dahl als vom klapprigen Knochenbau ei ner Kylie Minogue. Die Nachfrage war überraschend groß, obwohl es der teuerste Wein auf der Liste des Guts war. Und ein neuer Silvaner-Star war geboren. „Ich bin kein Fantast, und ich bin kein Künstler“, sagte Rainer Sauer bei meinem letz ten Besuch, „aber manchmal ist mir die betriebswirtschaftliche Seite egal … Doch bitte
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Christian Stahl ist mit MüllerThurgau dasselbe gelungen wie der Familie Sauer mit dem Silvaner.
Christian Stahl
Familie Sauer
Diese Winzer haben die Karten ganz neu gemischt.
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nicht denken, ich sei ein Heiliger.“ Bis heute bleiben seine Füße fest auf dem Boden, aber seine Weine sind trotzdem Teil eines überregionalen Kults. Er begrüßt mich mit der üblichen guten Laune. Viele Winzer neigen zum Nörgeln, was ich in diesem Haus noch nie erlebt habe, höchstens kurzes Nachdenken über echte Probleme. Wir gehen gleich zum Verkostungstisch in der recht traditionell eingerichte ten, aber hellen Probierstube. Aufgrund des Innovationsdrangs von Sohn Daniel gibt es mehr Weine als noch vor wenigen Jahren zu kosten. Nachdem er sein Studium in Geisen heim beendet hat, probiert Daniel so ziemlich alle denkbaren „Alternativen“ im Keller systematisch aus, um Wege zu neuartigen Silvanerweinen zu erschließen. Da ist der noch nachdenkliche Jungwinzer auch schon, der überhaupt nicht wild aussieht, selbst wenn manche seiner Experimente den Eindruck erwecken. 2006 feierte der erste Neuling namens „Freiraum“ Premiere, ein extrem würziger, tro ckener Silvaner mit feiner Ananasnote. 2008 folgte das nächste Experiment, eine Partie reife Silvaner-Trauben landete für die Gärung im sogenannten Betonei. Der Name be schreibt das gut zwei Meter hohe Gebilde ziemlich gut. Als auf dem Gut in Deutschland die ersten Experimente mit dem 900 Liter fassenden französischen Exoten unternommen wur den, gab es ein ziemliches Geschrei in den Medien, was durchaus verständlich ist. Irgendwie sieht das Betonei aus wie ein außerirdisches Wesen, das einem gleich an den Hals springen könnte. Dementsprechend nervös verhielten sich die Behörden bei der Einführung dieser Innovation. Aber für den Geschmack des Weins entpuppte sich dieses bizarr anmutende Gebilde als überraschend positiv. Kräftig und geschmeidig, mit einer Zartbitternote und einer leicht salzigen Frische im Finale schmeckt der charakterstarke Tropfen sehr gut. Eine weitere ganz neue Art von trockenem Silvaner aus dem Escherndorfer Geschmackslabor. Inzwischen hat Daniel sein Forschungsgebiet auf die Weinberge ausgedehnt, wo er 3 Hektar biodynamisch bewirtschaftet, also ökologischen Weinbau nach den strengsten Richtlinien betreibt (siehe Kapitel 4). Aus den Trauben dieser Weinberge erzeugt er zwei der gewagtesten neuen Weine Frankens, einen trockenen Kabinett und eine trockene Spätlese. Ihr Name „vom Muschelkalk“ bezieht sich auf den Boden in der Lage Eschern dorfer Lump. Die ersten Weine aus 2009 waren noch einen Tick gewagter und überzeu gender als seine bisherigen Forschungsergebnisse. Daniel gelang nämlich, aus dem zu Üppigkeit neigenden Jahrgang ungewöhnlich spannende und belebende Weine zu ma chen. Er ist damit zufrieden, spricht aber von noch weiteren Versuchen. Er kennt ganz offensichtlich keine Grenzen, und er will alles wirklich genau wissen. Es stimmt mich sehr optimistisch, dass die Silvaner-Revolution in dieser Region nach wie vor voller Schwung ist und dass uns weitere tolle Überraschungen erwarten.
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Horst Sauer hat Ende der 1990er ein Tor aufgestoßen, das heute zahlreiche junge Win zer passieren. Neben dem Silvaner sind es in Franken aber noch andere Traubensorten, die sozusagen neu erfunden werden. Von Christian und Simone Stahl vom Winzerhof Stahl in Auernhofen/Franken war bereits in Kapitel 2 die Rede, da ich bei ihnen mein eigenes Weinbau-Experiment durch geführt habe. Allerdings habe ich noch nicht explizit erwähnt, wie enorm ausdrucksstark die Weine der Stahls sind – erzeugt aus der verpönten Traubensorte Müller-Thurgau. Des wegen bin ich bei ihnen gelandet! Als Christian Stahl um die Jahrtausendwende anfing, den damals noch im ganz klei nen Stil betriebenen Anbau von Wein auf dem Familienbauernhof auszuweiten, tat er das zuerst in Tauberzell im Taubertal. Man muss wissen, dass Auernhofen 10 Kilometer ent fernt vom nächsten Weinberg liegt, der Betrieb auch Landwirtschaft hat und Auernhofen von intensivem Weizenanbau und Schweinezucht im großen Stil lebt (was ganz schön stin ken kann). Offensichtlich spürte er, dass in Tauberzell ideale Verhältnisse für den Anbau von Müller-Thurgau herrschen. Sein Wein aus der Tauberzeller Lage Hasennest strotzt vor Fruchtaromen, die von Zitrone bis Maracuja reichen, und besitzt eine enorme Saftigkeit, die von einer brillanten Säure „angestrahlt“ wird. Somit ist sein Müller-Thurgau Lichtjah re entfernt von seiner platten Konkurrenz mit ihrer banalen Muskatnote, die es in der Li terflasche gibt! Christian Stahl ist mit dieser Traubensorte dasselbe gelungen wie Horst Sauer mit dem Silvaner. Beide Winzer haben die Karten ganz neu gemischt. In vielen Kulturen gibt es Sprüche, die besagen, dass in jeder Krise eine Chance steckt, und bei den Traubensorten, die out sind, trifft das fast immer zu. Richtig klug sind die Winzer, die die verkannte Chance solch einer Traubensorte erkennen und mit Geschick aus ihr ein gutes neues Produkt machen. Selbst völlig verschriene Trauben wie der blaue Trollinger bieten diese Möglichkeit. Ein schlechter Trollinger ist wahrscheinlich der am weitesten abgeschlagene Rotwein, den man sich vorstellen kann. Angefangen bei der Farbe, einem hellen, rötlichen Braun, über den Duft – eine penetrante Bittermandelnote und sonst nicht viel – bis hin zu sei nem wässrig dünnen, säuerlichen und faden Geschmack, enttäuscht er alle involvierten Sinne. Aus meiner Sicht ist solch ein Trollinger eigentlich nur auf dem Papier Rotwein, für manche Württemberger aber immer noch ein Stück geliebte Heimat und als solches von Stuart Pigott nicht zu kritisieren. O. k., aber bitte nicht in mein Glas damit! Weine wie dieser entstehen, wenn viel Stickstoffdünger und ordentlich Wasser im Boden die Rebe veranlassen, viele riesige Trauben mit dicken Beeren zu tragen. Wenn dann der Winzer auch noch lieblos im Keller arbeitet, entstehen große Mengen eines
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Weins, der wie oben beschrieben schmeckt. Dummerweise müssen selbst die Trauben für diese Weinchen in den besten, also wärmsten Weinbergen wachsen – genau dort, wo man auch hochwertige Weine erzeugen könnte. Aber aufgrund der großen Menge bedeutete dünner Trollinger lange Zeit mehr Gewinn, als man mit besseren Weinen hätte machen können. Eine perverse Situation. Aber es gibt Alternativen. Und mithilfe eines weitsichtigen Winzers kann sich auch der Trollinger in einen ganz anderen Wein verwandeln. Um das näher unter die Lupe zu nehmen, fahre ich mit dem Zug von Würzburg nach Heilbronn und treffe eine würt tembergische Jungwinzergruppe, die sich unter anderem dieser Verwandlung des Trol lingers widmet. „ Junges Schwaben“ ist ein ziemlich bunter Haufen ehrgeiziger Winzer, die für würt tembergische Verhältnisse richtige Extremisten sind. Ich meine, im Schwabenland sind Fleiß und Sparsamkeit angesagt, wozu günstige Trollinger aus der Literflasche gut pas sen. Rotweinfreude und -sinnlichkeit für bis zu 20 Euro die Flasche klingen hier schnell nach dekadenter Verschwendung. Und wer offen zugibt, seinen Horizont erweitern zu wollen und dabei nicht an die Erschließung neuer Märkte für schwäbische Hightech denkt, könnte leicht mit einem Terroristen verwechselt werden. O. k., ich übertreibe ein wenig, aber viele Jahre lang war es mir wirklich ein Rätsel, wie eine Region so viele groß artige und innovative Produkte erzeugen konnte, aber nur so wenige tolle Weine. Inzwi schen sieht es deutlich besser aus, nicht zuletzt auch dank der Gruppe „ Junges Schwaben“. Am Heilbronner Hauptbahnhof holt mich Jürgen Zipf aus Löwenstein ab. Sein neues Gutshaus mit einem großartigen Blick auf die hügelige Landschaft der Löwenstei ner Berge ist heute Abend Treffpunkt für eine Verkostung mit den „ Jungen Schwaben“. Bei dieser Gelegenheit kommen immer so viele Weine auf den Tisch, dass ich ein halbes Notizbuch mit ihrer Beschreibung fülle und am Ende ziemlich platt bin. Jeder Einzelne der fünf hat immer so viele Neuigkeiten, die er mir zeigen will … aber vielleicht wird das eher spezielle Thema des heutigen Abends die Anzahl der Weine stark reduzieren, denn theoretisch geht es nur um Trollinger. Mehr als zwei oder drei Trollinger pro Nase wer den sie nicht haben. „Wir werden sicher mit ein paar Rieslingen anfangen“, sagt Jürgen, als könnte er mei ne Gedanken lesen, „sie sind dieses Jahr so gut, und du kennst die meisten noch nicht.“ Die Jungs sind eben erfinderische Querdenker. „Bernd Kreis kommt, und natürlich gibt es ein Vesper“, fügt er hinzu. Also wird dieses Treffen nicht viel anders als meine letzten mit ihnen. Bernd Kreis, Stuttgarter Sommelier und Weinhändler, ist ihr Coach und hat enorm viel Hilfe geleistet in puncto Horizonterweiterung. Quasi als Gegenleistung hat
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die Gruppe es geschafft, Bernd Kreis bedeutend zu verjüngen. Diesen Effekt kenne ich gut. Jungwinzer halten einen jung! Die Straße führt nach einer Weile nur bergauf, und es wird steiler und steiler, bis wir beim Weingut Zipf am Ortsrand von Löwenstein ankommen. Die Fassade des Weinguts sieht immer noch recht bodenständig aus. Als ich 2004 das erste Mal hier war, haben mir die fruchtbetonten, eher sanften Rotweine schon gut gefallen, aber was Jürgen heute er zeugt, ist viel stärker und markanter und passt damit auch viel besser in diese imposante Landschaft, die so gar nichts vom lieblichen Ländleklischee hat. Die Weine sind mit sei nem Selbstbewusstsein gewachsen. Das klingt vielleicht komisch, aber wer nicht selbstbe wusst ist, kann nicht entschlossen handeln, vor allem wenn der eingeschlagene Weg von der Norm abweicht. Jeder in der Gruppe hat jedoch auch viel von den anderen gelernt. Wir gehen ins Haus, wo ich gleich auf Hans Hengerer vom Weingut Kistenmacher & Hengerer in Heil bronn treffe. Hans hat schon vor Jahren einen starken Trollinger mit recht tiefer Farbe und spürbaren Gerbstoffen erzeugt, also mit Kraft und Wärme. Seine „Alten Reben“ aus einem tatsächlich alten Weinberg sind oft ein richtiger Knüller. Hans ist der ruhige Pol der Gruppe, so lange, bis er einige Gläser Wein getrunken hat und plötzlich lauter ver rückte Sachen erzählt, was immer sehr witzig ist. Dann trudelt der Rest der Truppe ein. Bernd Kreis, jetzt mit langer Mähne und einem gefährlichen Funkeln in den Augen, der bodenständige Perfektionist Rainer Wachtstet ter von Weingut und Gastwirtschaft Wachtstetter in Pfaffenhofen, der energiegeladene lustige Sven Ellwanger vom Weingut Bernhard Ellwanger in Großheppach und der ehe malige BMX-Europameister Jochen Beurer vom gleichnamigen Weingut in Stetten, der jetzt für den Europameistertitel für herben Riesling trainiert. Vermutlich steckt er hin ter der Riesling-Runde, die umgehend auf dem Tisch landet. Wir setzen uns und fangen an, uns zumindest sprachlich Richtung Trollinger zu bewegen. Da es nicht zum Thema dieses Kapitels gehört, zu den dort verkosteten Rieslingen nur so viel: Es sind Weine, de ren Lebendigkeit und Würze auch Lichtjahre entfernt sind vom faden alten württember gischen Riesling-Stil. Ja, die Riesling-Situation war hier lange fast ebenso desolat wie die des Trollingers … Wie immer ist Hans Hengerers Trollinger „Alte Reben“ das kernigste und markan teste Beispiel für diese Rebsorte, das mir je begegnet ist – ein Titan unter den Trollingern dieser Welt. Aber ich bin auch von Rainer Wachtstetters Variante „Steillage“ richtig beein druckt, der fein nach Kirsche duftet und von sanft-herber Kraft ist. Zu meinem Staunen stellt auch Jochen Beurer einen Trollinger auf den Tisch und beweist damit, dass ihn das
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Junges Schwaben ist ein ziemlich bunter Haufen ehrgeiziger Winzer, die für württembergische Verhältnisse richtige Extremisten sind. Thema inzwischen auch reizt. „Durch Ertragsbegrenzung kann man selbst Trollinger zu Trauben zwingen, die so viel Farbe und Gerbstoffe enthalten, dass man daraus einen rich tigen Rotwein machen kann“, bemerkt er, und genau das ist ihm auch gelungen. Offen sichtlich entwickelt dieser Riesling-Held jetzt richtige Rotwein-Ambitionen. Auf der Fachhochschule für Weinbau in Geisenheim habe ich bei Prof. Hans R. Schultz gelernt, dass die Trollingertraube wesentlich reicher an Farb- und Gerbstoffen wird, wenn man die Ertragsmenge reduziert, indem man die Hälfte jeder einzelnen Trau be entfernt. Das bedeutet, die Spitze der Traube, die von der Rebe tendenziell schlecht ernährt wird, wird nach der Blüte mit einer Schere abgeschnitten, was natürlich sehr zeit raubend ist. Trauben „halbieren“ heißt diese Arbeit, die auch zu Qualitätssteigerungen bei vielen anderen Traubensorten führen kann. Mit seinem eleganten Auftritt und floralen Duft – vor meinem inneren Auge sehe ich einen prächtigen Blumenstrauß – beweist Jürgen Zipfs Trollinger „Steillage“, dass die besonderen Löwensteiner Gegebenheiten auch zu einem besonderen Trollinger-Rotwein führen können. Wesentlich fruchtbetonter und saftiger ist der Trollinger „Gutswein“ von Sven Ellwanger. Im Vergleich zu den schlechteren Trollingern von früher sind dies Wun derweine, die trotz ihrer Ausdruckskraft nicht übermäßig schwer wirken. Ich habe bei
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dieser „Probe“ ausnahmsweise nicht gespuckt und habe trotzdem das Gefühl, im Kopf noch ganz klar zu sein. Aber jetzt packen die fünf Pioniere noch eine Ladung Wein auf den Tisch. Nach den Rieslingen und Trollingern muss ich noch ihre schweren roten Geschütze verkosten. Jetzt heißt es zumindest den einen oder anderen Wein auszuspucken, um nicht von den gerb stoff- und alkoholreichen Rotweinen aus den Traubensorten Lemberger und Spätbur gunder sowie den roten Cuvées (gewonnen aus mehreren Traubensorten) plattgemacht zu werden. Und doch … die Stimmung hebt dementsprechend ab, und ich verliere ein wenig die Selbstkontrolle … Wie immer führt das Junge-Schwaben-Gelage unausweichlich zu einem dicken Kopf am nächsten Morgen, und es ist schon ein wenig schwierig, in diesem Zustand die Rei se in den äußersten Südwestzipfel der Republik anzutreten. Aber ich muss in die Heimat des Gutedels. Das Markgräflerland im badischen Rheintal kurz vor Basel ist unglaublich schön, von den Weinbergen blickt man über den Rhein in die eine Richtung auf Elsass und Vogesen, in die andere in die Schweiz. Hier im Dreiländereck gibt es überall die Traubensorte Gutedel/Chasselas, obgleich die Elsässer sie inzwischen fast ausrangiert haben. In der Schweiz hingegen sind die daraus gewonnenen und entweder Chasselas oder Fendant genannten Weine für einen Teil der Bevölkerung mit starken Heimatgefühlen verbunden, genauso wie der Gutedel im deut schen Markgräflerland. Allerdings haben wir schon anhand des Trollinger-Beispiels gese hen, dass dies nicht unbedingt für die Weinqualität förderlich ist. Der normale Gutedel aus dem Markgräflerland ist ein sauberer, ganz leichter und säurearmer trockener Weiß wein, der tendenziell etwas frischer schmeckt als der durchschnittliche Schweizer Chas selas. Er ist im besten Sinne des Wortes ein Landwein (auch wenn diese gesetzliche Be zeichnung meist nicht auf dem Etikett steht), also ein Wein, den man vor Ort möglichst jung sehr gern trinkt, wonach aber niemand z.B. in Berlin im Weinladen fragt, geschwei ge denn ihn sich jemand flaschenweise in den Keller legen will. Erstaunlicherweise war aber genau dieser Wein vor einem Jahrhundert weit über die Grenzen Badens bekannt und gefragt, vor allem wenn er über mehrere Jahre im Winzer keller gereift war. Seitdem gab es auf dem Weinmarkt große Umwälzungen. Der leichte Gutedel und das Markgräfler Land wurden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg vom nördlich Kaiserstuhl oberhalb von Freiburg und den körperreichen Weinen aus dieser Gegend überholt. Aber solch eine Entwicklung kann sich auch umkehren, weswegen ich in Efringen-Kirchen aus dem Zug steige und nach dem alten cremefarbenen VW-Käfer aus dem Jahr 1948 von Hanspeter Ziereisen Ausschau halte.
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Wir kosten an dem großen Esstisch ein paar Weine, bevor sich die vier Generationen darum zum Mittagessen versammeln. Hansp eter Ziereisen und Familie
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Er ist der Pionier des neuen alten Gutedels – und da ist er auch schon. Der gelernte Tischler, seit 1991 Winzer, freut sich ganz offensichtlich, mich zu sehen, wobei er eigentlich immer einen sehr glücklichen Eindruck auf mich macht. Er ist vor allem für seine Spätburgunder Rotweine bekannt oder, wie er mit ironisch-übertriebener Betonung der hiesigen Aussprache sagte, „badischen Späääätburgunder“. Er braucht Humor, weil er sei ne Weinfässer auf fünf verschiedene Keller im Ort verteilt hat, was ihn zweifellos manch mal an den Rand des organisatorischen Wahnsinns treibt. Er ist stolz darauf, dass sein Gut edel der einzige auf der Karte des berühmten Berliner Hotels Adlon ist. Es hat bestimmt viel Mut gekostet, andere Wege für seine Gutedelweine einzuschlagen, weil am Anfang überhaupt nicht klar war, dass er damit solche Erfolge feiern würde. Eine wichtige Ori entierung für ihn sind die Berichte über seine 100-jährige Oma, die noch genau wuss te, wie Gutedel vor der Modernisierung des Weinbaus und dessen großem Stilwandel in Richtung betonte Frische und Spritzigkeit schmeckte. Ziereisens Weingut liegt mitten im schmucken Efringen und macht den Eindruck, als habe sich hier während der letzten 100 Jahre nur wenig verändert. Wir kosten an dem großen Esstisch ein paar Weine, bevor sich die vier Generationen darum zum Mittagessen versammeln. Mit seinem Wiesenduft und der sanften runden Art ist der „Heugumber“ – der Name bedeutet Heuschrecke im Markgräfler Dialekt – angenehm frisch und dezent. Mit nur etwa 11,5 Prozent Alkohol ist dies ein sehr leichter Wein für ein Weinbaugebiet mit dem Slogan „Von der Sonne verwöhnt“, das auch dank der Klimaerwärmung viele al koholreiche trockene Weine beheimatet. Ziereisens Gutedel „Visier“ – der Name der Traubensorte im Markgräfler Dialekt – hat viel mehr Kraft und Fülle. Er schmeckt, als habe er deutlich mehr Alkohol, wodurch er der gängigen badischen Norm von 13 Prozent und mehr entsprechen würde. Er hat aber erstaunlicherweise genauso viel Alkohol wie der „Heugumber“. Die Zitrusaromen und die hefige Note von Ziereisens „Visier“ liegen weit über der modernen Gutedel-Norm. Wie geht das? „Wir haben die Trauben in einer Korbkelter gekeltert, dann ausschließlich in großen Holzfässern ausgebaut“, antwortet Hanspeter Ziereisen, das seien in etwa die Methoden von vor 100 Jahren. „Ganz so konsequent sind wir beim ,Heugumber‘ nicht, der etwas leichter schmecken muss. Etwa 30 Prozent davon wird im Edelstahltank vergo ren, aber der Rest gärt und reift auch in großen Holzfässern.“ Der Witz ist, dass keiner der beiden Weine altmodisch schmeckt. Warum? Weil sie wie die Silvaner von Horst Sauer, die Müller-Thurgaus von Christian Stahl und all die an deren neuen alten Weine Vorreiter einer neuen Weinmode sind.
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Die verborgenen Schätze: Rückkehr der vergessenen Traubensorten und verlorene Weinberge Ich stehe auf einer Waldlichtung inmitten einer bergigen Landschaft mit alten Burgen. An dem Steilhang vor mir ziehen sich Rebzeilen empor. Ein regelrechtes Weinparadies der romantischen deutschen Art! Doch dahinter verbirgt sich eine abenteuerliche Geschich te, womit ich keinesfalls meine heutige Anreise mit dem lästigen Rollkoffer von meiner Wohnung am Hackeschen Markt in Berlin an diesen Ort, 49° 13' 28.83' Nord und 7° 58' 57.69' Ost, meine. Weinbau ist keinesfalls immer so romantisch, wie Sie und ich es gern hätten. Ein güns tiger und hoffentlich guter Tropfen landet nicht von selbst in der Flasche und wird nicht von übernatürlichen Kräften ins Regal gebeamt. Wir leben in einer hochtechnisierten Welt, die Weinerzeugung ist keine Ausnahme. Wo ist das Mysterium Wein also geblieben? Auch wenn nach wie vor manche Tropfen manipuliert werden, um sie gefälliger zu machen, ist damit heute in der Regel zumindest kein Risiko mehr für unsere Gesundheit verbunden. Schließlich erwarten wir auch, dass der Wein im Glas klar und sauber ist, und die moderne Technik hilft dem Erzeuger, unseren Wunsch zu erfüllen. Klar, die Wein produktion ist ein Geschäft wie jedes andere auch, und oft geht es einfach um Verkaufen, Verkaufen, Verkaufen. Schöne neue Weinwelt! Ein ausgeprägter Geschäftssinn schließt jedoch gewagte Schritte wie die Rettung des Gräfenhäusers, eines Weinbergs im Pfälzer Wald, keinesfalls aus. Er gehört zum Pfälzer Weinbaugebiet, obwohl er so gut wie nichts mit dem Rebenmeer in der Rheinebene, wo auf rund 23.500 Hektar Wein wogt, gemeinsam hat. Dort erfolgt die Arbeit meist mechanisch, und das Gros der Erzeugnisse ist günstige Alltagsware, die frisch und fruchtig schmeckt, genauso wie die vielen anderen Weine aus den zahlreichen anderen Weinbauregionen und Ländern auf Planet-Wine. Auf dem Gräfenhäuser hingegen stößt man noch auf viel harte Handarbeit und findet dafür echte Weinromantik, vor allem im Glas! Hier wächst ein einmalig seidiger und subtiler Spätburgunder Rotwein, nicht einmal tausend Flaschen gibt es davon im Jahr. Märchenhaft schmeckt der Gräfenhäuser Spätburgunder, ziemlich teuer ist er auch – der enorme Aufwand muss sich ja auch lohnen. Als der bunte Haufen Jungwinzer, der neben mir steht und der sich Südpfalz Con neXion nennt, 2002 eimerweise Schweiß investierte, um das Gestrüpp in diesem Hang
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zu roden und stattdessen Reben zu pflanzen, ging es ihm bereits darum, einen „verbor genen Schatz“ aus den dunklen Tiefen der Vergangenheit wieder ans Tageslicht zu hie ven. Bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war der Gräfenhäuser ein Kult-Wein. Dann woll te niemand mehr so viel Geld für einen deutschen Rotwein ausgeben, und die teuer zu bewirtschaftenden Weinberge verwilderten nach und nach zu Brachflächen. Anfang un seres Jahrhunderts stand der Gräfenhäuser Weinberg dann kurz vor dem endgültigen Aus. Nach der gewagten Pflanzaktion hatten die fünf Jungwinzer Glück und konnten 2003 einige Zeilen alte Reben neben ihrem Jungfeld von einem alten Winzer überneh men. Statt also noch Jahre auf die ersten Trauben ihrer jungen Reben warten zu müssen, konnten sie gleich mit der Produktion loslegen. Der erste Jahrgang wurde komplett von der MS Europa gekauft, Deutschlands Luxustraumschiff. Damit wurde auch eine Tradi tion wieder ins Leben gerufen, denn 1929 war der Gräfenhäuser Rotwein der teuerste deutsche Wein auf der Karte der damaligen MS Europa.
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Aber wir sind noch nicht am Ende der Geschichte vom zurückeroberten Weinpa radies! Klaus Scheu aus Schweigen, Peter Siener und Volker Gies aus Birkweiler sowie Boris Kranz und Sven Leiner aus Ilbesheim ging es nicht nur um die Rettung des Weinbergs, sie haben sich auch um den besonderen Charakter des Gräfenhäuser Rotweins bemüht. „Als wir den Weinberg angelegt haben, haben wir ein paar ältere Leute im Dorf ge fragt, wie die berühmten Weine damals gemacht wurden“, erklärt mir der sehr coole, drah tige Sven Leiner. Dann beschreibt er einen ziemlich abenteuerlich klingenden Herstel lungsprozess, an dessen Anfang eine konventionelle Rotwein-Maischegärung steht. Saft, Fruchtfleisch und Beerenhäute bilden eine purpurfarbene Masse (die Maische), in der die alkoholische Gärung zahlreiche Stoffe aus den Beerenhäuten löst, die dem in sei ner Entstehung befindlichen Rotwein Farbe und Kraft verleihen. Wer als Kind gern mit Schlamm spielte, könnte viel Freude bei der Arbeit im Rotweinkeller haben!
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In Gräfenhausen haben die Leute früher eine Art Kruste aus Lehm und Stroh auf die Maische gepackt, um sie bedeckt bis Weihnachten stehen zu lassen. Das klingt ziem lich verrückt und unappetitlich, aber die Kruste wurde vor dem Keltern, also dem Pres sen der Maische, säuberlich entfernt. Sie hatte wohl dazu gedient, die Masse oder viel mehr den Rotwein bis zum Keltern vor Oxidation zu schützen. Heute betrachten die meisten Experten für Kellerwirtschaft maximal zwei oder drei Wochen Gärzeit als sinnvoll und empfehlen darüber hinaus äußerste Vorsicht. Bei der al ten Gräfenhäuser-Methode setzt man hingegen auf eine Maischephase von zwei bis drei Monaten. Aus heutiger – konventioneller – Sicht ist diese Vorgehensweise mindestens ein waghalsiges Spiel mit dem Feuer, schlimmstenfalls aber ein Rezept für das Verderben von Wein, also schlichtes Scheitern. „Wir haben etwas moderne Technologie eingesetzt, um denselben Effekt zu erzie len“, beendet Leiner seine Erzählung, spürbar erfreut über den ganzen Wahnsinn. Bei diesem Gemeinschaftsprojekt wendet die Gruppe ein ganz anderes Verfahren an als je weils zu Hause im eigenen Familienbetrieb, wo meist deutlich konventioneller gearbeitet wird. Doch ihr Wagnis ging auf, der Gräfenhäuser Rotwein ist wieder da und durch ihn die Welt des Weins um eine bedeutende geschmackliche Facette reicher. Die Vielfalt des Weins hinsichtlich seines Geschmacks lebt zum Teil von Nischen, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Sie können wie der Ort Gräfenhausen räumli cher Art sein oder sich auf andere Weise vom allgemeinen Trend moderner Standardisie rung abgrenzen. Letzteres klingt oft negativ, aber es ist an sich etwas Gutes, wenn dadurch schlechte Weinprodukte vermieden und in Supermärkten und Discountern zumindest durch eine standardisiert solide Qualität ersetzt werden. Leider zeigen die regelmäßigen Tests der Weinfachzeitschrift „Weinwirtschaft“, dass wir noch weit davon entfernt sind. Natürlich ist es etwas traurig, welch dominante Rolle einige wenige Traubensorten bei der weltweiten Weinerzeugung spielen. Der weiße Chardonnay, um ein besonders auffälliges Beispiel zu nehmen, stammt aus Burgund, wo er in einem recht kühlen Klima sehr feine und subtile Weine ergeben kann. Bereits während des trockenen Weißwein-Booms der 1970er- und 1980er-Jahre wurde er so ziemlich überall auf Planet-Wine gepflanzt. Gründe dafür waren erstens zum einen sein guter Ruf und zum anderen die hohen Preise, die die Weißweine Burgunds erzielten. Zweitens ist Chardonnay leicht auszusprechen und klingt doch vornehm, und drittens ist die Chardonnay-Rebe ziemlich resistent gegen Hitze und Trockenheit. Daher kommt sie gut mit eher mediterranem Klima zurecht, wie es in Kalifornien, großen Teilen von Australien, am südafrikanischen Kap, in Chile, Argenti nien und, und, und herrscht.
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Wenn das Ergebnis allerdings nur wenige Euro die Flasche kosten darf, erfolgt die Erzeugung dieser Weinprodukte vollständig mechanisch, und der Mengenertrag wird zwecks Gewinnmaximierung so weit wie möglich gesteigert. Im Keller geht man dabei keinerlei Risiko ein und versucht, die sogenannte Geschmacksnorm zu erfüllen – ein heitlicher Geschmack etc. ist das Ziel. Diese Weine sind bei vielen Konsumenten sehr be liebt, weil sie einerseits billig sind und andererseits geschmackliche Sicherheit bieten. Es handelt sich um globalisierte Weine, deren Herkunft entweder unwichtig oder gar irre levant ist (siehe auch den Anfang von Kapitel 5, um den Tiefpunkt dieser Entwicklung zu ermessen). Chardonnay lässt dem Winemaker ziemlich viel Spielraum, um den recht robusten Wein in die eine oder andere Richtung zu „biegen“, ihm also seinen Willen oder den der Marketingabteilung eines global agierenden Weinimperiums aufzudrücken. Ich hatte dazu ein Schlüsselerlebnis Anfang der 1990er-Jahre. In London überreichte mir ein Kol lege ein Glas Weißwein mit der Frage, um was es sich wohl handeln könnte. Obwohl ich damals noch ziemlich unerfahren war, kam ich schnell zu dem Schluss, es handele sich um einen Chardonnay aus Australien. Damals schien jeder Chardonnay aus Australien die gleichen Ananas-, Butter- und Vanillearomen zu haben sowie einen üppigen, geschmei digen Körper. Aber nein, es war ein Chardonnay aus der Nähe von Qing Dao in China, der von einem australischen Winemaker gemacht wurde! Schon damals begannen vom Chardonnay gelangweilte amerikanische Weintrinker in Restaurants nach „A. B. C.“ zu verlangen, Anything But Chardonnay – alles außer Chardonnay. Wer will schon in einer gänzlich eintönigen Welt leben? Sehen Sie, ich auch nicht. Riesling ist auch eine Nische, weil diese Rebe hinsichtlich Klima recht anspruchsvoll ist. Es muss nicht den ganzen Sommer lang kühl sein, eine gewisse Wärme im Sommer mag sie durchaus, aber während der letzten sechs bis acht Wochen vor der Lese braucht sie einfach kühle Luft, wenn der Wein die für Riesling typische Frische und Aromareich tum besitzen soll. Auch in Deutschland kann der Herbst warm ausfallen, sodass diese Vo raussetzung nicht erfüllt wird, dann schmecken die Rieslinge runder als normal und sind weniger duftig. Im Keller ist der Wein hingegen empfindlicher und verliert allzu leicht sei nen Charme, wenn zu viel mit ihm herumhantiert wird. Daher bleibt er im Hinblick auf die Globalisierungstendenz der Weinwelt vermutlich eine Spezialität. Im Moment macht der Anbau von Riesling etwa 0,5 Prozent der weltweiten Rebfläche aus, dagegen liegt sein Anteil in Deutschland bei 23 Prozent. Aber es gibt wesentlich extremere, weil viel kleinere Nischen als Riesling. Die Biodi versität der Rebe an sich ist extrem groß, und der Mensch ist seit etlichen Jahrtausenden
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am Züchten. Die Genetik ist heute eine lebendige Wissenschaft, aber im Bereich Wein wird auch auf praktische Weise eine spannende Form von Archäologie von Winzern be trieben: Überall sucht man nach alten Rebsorten, die ein großes Qualitätspotenzial besit zen, da ihre Weine überzeugend „anders“ schmecken. Dass es sich dabei um ein globales Phänomen handelt, wird anhand des spektakulä ren Beispiels der Traubensorte Carménère deutlich. Ihre Story ist ein richtiger Weinkrimi. 1994 entdeckte Prof. Jean-Michel Boursiquot von der Weinbauschule in Montpellier ganz zufällig, dass zahlreiche Weinberge in Chile nicht, wie es offiziell hieß, mit Merlot-Reben bepflanzt waren, sondern mit Trauben einer ganz anderen Sorte namens Carménère. Diese spät reifende Traube stammt aus Bordeaux, ist dort aber seit etwa einem Jahrhundert fast verschwunden, weil sie in Ungnade fiel, als nach der Phylloxera-Plage Ende des 19. Jahr hunderts so gut wie alle Weinberge neu bepflanzt werden mussten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon Fuß in Chile gefasst, geriet aber dann durch die Verwechslung mit Merlot in Vergessenheit. 1998 erteilte das chilenische Agrarministerium die offizielle Zulassung für die Sorte, heute sind über 7.300 Hektar damit bepflanzt. Ihre extrem würzigen Aro men und die üppige, aber zartherbe Art der Weine kommen bei vielen Weintrinkern im In- und Ausland gut an. Vielleicht wechselt die Rotwein-Mode gerade von fruchtig-weich auf würzig-zartherb, sodass die Sorte eine große Zukunft vor sich hat. In Deutschland gibt es ähnliche Beispiele, wie etwa das des Tauberschwarz, einer Traubensorte mit einer gleichermaßen abenteuerlichen Geschichte. Das Taubertal liegt nicht nur in den Weinbaugebieten Baden, Württemberg und Franken, sondern auch in zwei Bundesländern (Baden-Württemberg und Bayern), was zu so manchen bürokrati schen Absurditäten führt. Beispielsweise dürfen die Weine im fränkischen sowie badi schen Teil in Bocksbeutel gefüllt werden, nicht aber im Württembergischen. In solchen Spitzfindigkeiten sind die Deutschen nach wie vor Weltspitze … Der Tauberschwarz galt als ausgestorben, als 1960 ein winziger Weinberg mit 400 Reben entdeckt wurde. Diese wurden vermehrt und 1986 gab es einen ganzen Hektar Tauberschwarz, der kommerziell bewirtschaftet wurde, also ein tausendstel Prozent der deutschen Weinbaufläche oder der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Das ist auch die heutige Produktion von mitt lerweile 15 Hektar immer noch, auch dank des Einsatzes der internationalen Slow-FoodBewegung, die die Sorte neben gerade mal 28 anderen deutschen Lebensmitteln und Weinen in ihre Arche des Geschmacks aufgenommen hat. Es ist eine lange und etwas verrückte Fahrt von Gräfenhausen zum Weingut Hof mann im fränkischen Röttingen – also in den bayerischen Teil des Taubertals. Ich muss mir selbst ein Bild machen von dieser Trauben-Wiedergeburt. So ist mein Leben heute,
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ich muss von einer verrückten Nische zur nächsten, denn was heute klein und unbedeu tend ist, ist vielleicht schon morgen Mainstream. Jürgen Hofmann, der mich in der beschaulichen Kurstadt Bad Mergentheim am Bahnhof abholt, ist ein ganz anderer Typ Mensch als die fünf halbverrückten Pfälzer. Er ist ein Tüftler und Freidenker, der in der kleinen beschaulichen Welt des Taubertals mög lichst großartige Weiß- und Rotweine erzeugen möchte. Er will mir – so sind bodenständige Winzer – unbedingt seine Tauberschwarz-Weinberge zeigen. Nach ein wenig Herumkurve rei durchs Tal halten wir endlich in der Weinbergslage Feuerstein von Röttingen. Wir stei gen aus dem Auto und gehen in einen Weinberg, gelegen an einem relativ sanften Hang. „1995 haben wir unsere erste Tauberschwarz gepflanzt und bald festgestellt, dass es sich um eine sehr stark wachsende Urrebe handelt, deren Kraft nicht leicht zu bändigen ist“, legt er los. „Die Beeren haben einen tollen Geschmack, wenn sie richtig reif sind, aber wenn die Trauben nicht voll in der Sonne hängen, dann kommt ein dünnes rosa farbenes Weinchen heraus.“ Das klingt nach viel Handarbeit, um die Blätter, die wie eine grüne Gardine die Trauben beschatten, einzeln zu entfernen. „Außerdem ist die Beeren haut sehr dünn, und die Traube kann deshalb sehr schnell verfaulen.“ Ein zusätzliches Problem für den Winzer, der im Taubertal Noah spielen möchte. Dafür ist der Preis von Hofmanns normalem Tauberschwarz-Rotwein mit deutlich unter 10 Euro die Flasche ab Hof eher freundlich. Den Tropfen muss ich natürlich probieren. Der Betrieb lebt zum Teil von seiner Heckenwirtschaft, dem Weinausschank des Hau ses, wo bei halbwegs schönem Wetter ab 18 Uhr die Hölle los ist. Die Preise sind zwar hö her als bei den meisten Konkurrenten, aber dafür ist die Qualität spitze. Wer zu viel trinkt, um noch nach Hause zu fahren, kann sich ein Zimmer im Gästehaus der Familie mieten, um Probleme mit der bayerischen oder baden-württembergischen Polizei zu vermeiden. Weil es noch vor 18 Uhr und deshalb entsprechend ruhig ist, setzen wir uns in die He ckenwirtschaft, und ich bekomme ein Glas Tauberschwarz. Rosafarben ist er definitiv nicht, sondern von einem ganz beachtlichen Rubinrot, das auf erfolgreiche Handarbeit hinweist. Vom Holzaroma ist wenig zu spüren, was auch Jürgen Hofmanns Absicht ist. Nach reifen Schwarzkirschen duftet er, er hat aber außer dem eine eigentümliche Kräuternote. Obwohl der Tauberschwarz ein voller Rotwein ist, verleiht ihm dieser Hauch von frischer Säure etwas sehr Anregendes, und wenn ich nicht aufpasse, wird das Glas gleich leer sein. Mir wird ein zweites Glas Wein gebracht, das die Luxusvariante „R“ enthält. Es steht für „Reserve“-Abfüllung, die aufgrund des Eichenfas ses durchaus eine Note von Toast hat, aber auch beeindruckend kräftig und warm ist. Die Kräuternote fällt hier subtiler aus, der ausdrucksstarke Wein ist richtig edel. Es kommt
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noch besser, denn er schmeckt wie kein anderer Rotwein, den ich bislang kenne. Dieses Glas Wein werde ich, selbstverständlich, leeren. Tauberschwarz ist nur eine von einer Handvoll Urtraubensorten, die in Deutschland Kultstatus erreicht haben. Bis vor wenigen Jahren galten sämtliche, angeblich „edlen“ und für den Qualitätsweinbau geeigneten Sorten als alteingesessen und urwüchsig, aber dank Genanalyse können wir inzwischen herausfinden, was tatsächlich dahintersteckt und wie sie entstanden sind. Spätburgunder/Pinot Noir etwa scheint eine zufällige Kreuzung von Schwarzriesling/Pinot Meunier und Traminer zu sein. Letzterer ist auch Teil des Stamm baums vom Riesling (ein Großelternteil), der ebenfalls eine zufällige Kreuzung ist. Trami ner findet sich überhaupt im Stammbaum zahlreicher edler Traubensorten und scheint quasi die Quelle vieler „edler“ Eigenschaften moderner Weine zu sein. Südtiroler Winzer sind seit Mitte der 1990er-Jahre auf dem italienischen Markt mit ihren trockenen Weißweinen aus der Traminer-Traube und aus deren engen Verwandten, dem Gewürztraminer, überraschend erfolgreich. In der guten italienischen Gastronomie serviert man diese Tropfen gern zu Fischgerichten. Weine aus Sachsen und von SaaleUnstrut ausgenommen, waren Traminer und andere Aroma- oder Bouquetsorten in Deutschland definitiv alles andere als „in“. Das hat auch mit den deutschen Gastronomen zu tun, die lieber Weine verkaufen, die sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern sich dem Essen geschmacklich unterwerfen. Nur die wenigsten deutschen Köche beschäf tigen sich so intensiv mit dem Wein, dass sie Gerichte kennen, die sich mit dem nach Ro sen duftenden, fülligen und säurearmen Traminer gut vertragen (eigentlich ist das rela tiv einfach, Blutwurst und Kalbsleber sind zwei gute Beispiele). Trotz dieser schwierigen Ausgangssituation gibt es über ganz Deutschland verstreut eine Reihe von Spezialisten wie Theo Minges vom gleichnamigen Weingut in Flemlin gen/Pfalz, die mit Traminer Erfolg haben. Minges ist ein noch größerer Coup gelungen, weil er gleich mit beiden deutschen genial duftenden weißen Urtrauben präsent ist: Traminer und Muskateller. Die Weine der zweiten Sorte haben nicht nur eine Muskatnote, sondern duften und schmecken oft auch ganz herrlich nach rosa Grapefruit, und noch vielem mehr. Aus beiden Trauben erzeugt Minges trockene und zartsüße Weine, die so überwältigend schön duften wie ein riesiger Obst- und Blumengarten in der Sommer abendsonne. Während der Traminer ein richtiger Gaumenschmeichler ist, hat der Mus kateller durch die betonte Säure eine eher freche, frische Art, die ihn zum Sommer nachtstraum macht. Zurück in die Pfalz kann ich heute jedoch nicht mehr fahren, weil ein ganz anderer Ort, der für eine andere Art verborgenen Schatz steht, mich und mei nen Rollkoffer ruft.
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Manche Weinberglagen haben einen sehr wohlklingenden Namen, was aber nicht bedeutet, dass ihre Weine dadurch automatisch beliebt werden. Eine Weinberglage ist ver gleichbar mit dem Skript für einen Film, bei dem letztlich die Begabung des Regisseurs darüber entscheidet, ob er gut wird. Ob ein Wein gelingt, hängt vom Winzer ab, der die Sache letztlich in die Hand nimmt, da kann die Lage noch so gut sein. Der Seligmacher in Lorchhausen/Rheingau ist eine Weinberglage mit viel Potenzial, was seit den 1960erJahren auch wissenschaftlich belegt ist. Über lange Zeit gingen keine besonderen Weine aus ihm hervor. Doch der Dornröschenschlaf dieses steilen Hangs am äußersten Nord zipfel des Rheingaus, im UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz, wurde von Eva Fricke überraschend beendet, seine Retterin sozusagen. Am Bahnhof von Lorch hievt die blonde, drahtige Frau von Anfang 30 meinen Rollkof fer mit beeindruckender Leichtigkeit in ihren Geländewagen. „Du kennst den Seligmacher nur aus der Ferne, deswegen müssen wir hinfahren, aber zuerst geht es in die Krone“, spru delt es aus ihr hervor. Die Krone ist eine der besten Lagen von Lorch und hat das Glück, dass neben Eva Fricke auch deren Freundin Tomoko Kuriyama vom Weingut Altenkirch, Kurt Gabelmann vom Weingut Graf von Kanitz und einige aufstrebende kleine Betriebe im his torischen Lorch Wein erzeugen – die Krone wurde schon vor einigen Jahren wach geküsst. An dieser Stelle im Rheingau klemmen steile, felsige Hänge den Strom ein, Wald wechselt mit Weinbergen ab, und viele Burgen vervollständigen das Bild, das die Welt vom „romantischen Rhein“ hat. Das erklärt den regen Schiffsverkehr aber nur zum Teil, denn der Strom ist wie schon vor vielen Jahrhunderten auch immer noch eine bedeuten de Handelsstraße. Als wir aus dem Ort in die Weinberge fahren, breitet sich dieses Pan orama vor meinem Auge aus. Allerdings muss ich an die so ganz andere Landschaft um Bremen denken, wo Eva Fricke geboren und aufgewachsen ist. Für sie sind die hiesigen Breiten genauso fremd wie für mich. Womit begann für sie die Reise hierher? „Es hat mich einfach interessiert, ich habe mit 18 Jahren mein erstes Praktikum auf einem Weingut in Südafrika gemacht, dann auf der FH in Geisenheim Weinbau studiert, in Spanien und Australien gearbeitet, und seit Juni 2004 bin ich Betriebsleiterin beim Weingut Leitz in Rüdesheim/Rheingau. Aber ich wollte daneben immer etwas Eigenes machen und habe dann 2006 ganz klein in Lorch angefangen. Hier kann man Weinber ge viel einfacher und günstiger kaufen oder pachten als im Hauptteil des Rheingaus.“ Die se Art Werdegang klingt logisch, aber neben der Führung eines der bedeutendsten Wein güter des Rheingaus – im ganzen Gebiet erzeugt kein Gut mehr erstklassige Weine als Leitz! – einen eigenen Betrieb aufzubauen ist doch mehr als mutig – trotz ausreichend vorhandenem Ehrgeiz.
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Wir halten, und ich beschließe sofort, nicht in den supersteilen Weinberg unterhalb der Straße zu laufen, weil der Boden dort auch noch supersteinig ist. „Das sind meine alten Reben in der Krone, 45 Jahre alt, sie wachsen auf Schieferboden“, erzählt Eva mit großer Begeisterung. „Hier gibt es viele alte Weinberge. Manche muss man ziemlich auf päppeln, aber dann bringen sie tolle Trauben. Das ist meine Chance!“ In ihren blauen Augen funkelt es richtig. „Jetzt in den Seligmacher!“ Wir kurven eine ganze Weile durch die ziemlich steilen Weinberge, wobei mir klar wird, wie groß die körperliche Anstrengung bei der Arbeit für die Lorcher Winzer sein muss. Die Schufterei im Weinberg ist jedoch ihre geringste Sorge. Der Hauptteil des Rheingaus profitiert von einer guten Anbindung ans Rhein-Main-Gebiet, was ihn für des sen Bewohner zu einem beliebten Ausflugsziel macht. Doch an der Bahnschranke am Rüdesheimer Bahnhof, kurz bevor der Rhein einen Knick nach Norden macht, drehen
„Hier gibt es viele alte Weinberge. Manche muss man ziemlich aufpäppeln, aber dann bringen sie tolle Trauben. Das ist meine Chance!“ Zitat Eva Fricke In ihren blauen Augen funkelt es richtig.
Eva Fricke
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die Mainzer und Frankfurter meist um. Damit ist Lorch vom Touristenstrom abgeschnit ten. Sie sehen, es gibt immer gute Gründe, warum ein Weinberg mit großem Potenzial für gute Weine in Vergessenheit gerät. Dann müssen erst weitsichtige Menschen wie Eva Fricke kommen, die dieses Poten zial erkennen, sich damit auseinandersetzen und dann die Sache mit Ehrgeiz und viel handwerklichem Geschick anpacken, um es für aufregende neue Weine zu nutzen. In Landschaften wie dieser oder Gräfenhausen/Pfalz ist das Abenteuer pur. Die Vermark tung ist der letzte Schritt, der über den Erfolg entscheidet. Ein neuer Wein muss sich am Markt durchsetzen, idealerweise auch bekannt werden. Der Lorcher Aufschwung der letz ten Jahre basiert auf der bewussten Entscheidung der agilen Winzer vor Ort, eine neue Kundschaft zu gewinnen. Die Tropfen von Graf von Kanitz etwa kann ich bei mir in Ber lin ums Eck im Ökosupermarkt kaufen, und meine Frau hat neulich die Weine von Al tenkirch in einem Weinladen in Haarlem bei Amsterdam gesehen. Als Eva und ich schließlich im Seligmacher halten, mutet die ganze Situation im Wein berg noch extremer an als in der Krone. Die Rebstöcke wirken wie urige Zwergpflanzen, ja fast wie Bonsai. „Diese Parzelle von 13 Zeilen zwischen der Straße am Fuß des Bergs und der Straße unterhalb von uns, dann 20 Zeilen von dort bis zu der Straße, auf der wir jetzt stehen, ist meine neueste Errungenschaft. Damit komme ich auf insgesamt 0,8 Hek tar steilen Weinberg, was im Vergleich zu den 40 Hektar des Weinguts Leitz gar nichts ist, aber ich schaffe die Arbeit und kann alles genau nach meinen Vorstellungen machen.“ Das Abenteuer Weinbau in verborgenen Lagen bietet auch Raum für die freie Ent faltung einer jungen Winzerin. Ich blicke nach Südwesten über den Rhein, der wie eine lange silberne Schlange vor mir liegt, und mein Bauch sagt mir: Hier muss ein ganz be sonderer Wein wachsen. „Ich habe diesen extrem schwierig zu bewirtschaftenden Wein berg übernommen, weil ich mir sicher war, dass diese Reben und diese Lage einen be sonderen Wein ergeben müssen, und ich glaube, das hat sich schon in den ersten zwei Jahren bewahrheitet. Lass uns verkosten.“ Aus einer Kühlbox im Auto holt sie zwei Flaschen, aus einem Karton zwei Verkos tungsgläser hervor. Die Autofahrt zu Evas Keller und Wohnung im historischen Koether hof in Kiedrich, fast am anderen Ende des mittleren Stücks Rheingau, wäre einfach zu lang, sodass wir gar nicht erst das Skript lesen und zum Film übergehen. Und der 2009er ist wie ein funkelndes Juwel, das gerade aus den Tiefen des Meeres geborgen und vom Schlamm befreit wurde. Intensiv und strahlend klar wirken die zitro nigen Aromen, brillant und rassig schmeckt der Wein, der einen leicht salzigen Nachge schmack hinterlässt. Der Seligmacher ist wieder da!
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Stichwort „Mark eting“
Stichwort „Marketing“ : Wandel und Wahnsinn im Weinhandel Neben mir in einem alten VW-Bus sitzt Gerd Rindchen, Weinhändler aus Hamburg, mit dem ich in die schöne Pfalz fahre. Heute habe ich dem ICE ausnahmsweise die Rote Kar te gezeigt. Gerd Rindchen geht einkaufen für die neun Filialen von Rindchen’s Weinkon tor und nimmt mich mit, ich werde diesmal also chauffiert, und schon bald werden die ersten Weinberge auftauchen – traumhaft! Die hünenhafte Gestalt neben mir am Steuer sprudelt vor Witzen, und ich lache so viel, dass ich gar nicht dazu komme, sie alle aufzuschreiben. Nur so viel sei gesagt, ich kom me manchmal nach Hause, und auf dem Anrufbeantworter erwartet mich eine RindchenNachricht, die mit „Rindchen ruft Schweinchen!“ anfängt. „Pig“ ist englisch für Schwein, und ich bin seit der Grundschule ein Pig-ott, das heißt ein Schweinchen. Erst viel spä ter, nachdem ich nach Deutschland gezogen war, wurde ich auch ein Pi-Gott, was mir das ständige Buchstabieren meines Namens erspart. Aber zurück zum Thema Weinhandel … Viele Deutsche haben Riesenvorurteile gegenüber Weinhändlern, sie halten sie für eine Art Maulwurf, die sich nur im Keller oder in ihrer engen dunklen Weinhandlung richtig wohl fühlen und ein völlig unverständliches Fachchinesisch reden: „Der ChassagneMontrachet 1er Cru Les Embrazées elevé en Fût de Chêne mit cremiger Struktur und sub tiler Brioche-Note, dagegen der Freinsheimer Musikantenbuckel Siegerrebe Beerenauslese mit goldener Kammerpreismünze und großem Preis der DLG – ein schmelziges Karamell konzentrat …“ In der Vorstellung des ängstlichen deutschen Weintrinkers hockt der Wein händler außerdem auf einer endlos langen Reihe Ladenhütern, die er ihm für einen absurd überteuerten Preis andrehen würde, wenn er ihm auch nur den Hauch einer Chance gäbe. „Alles hat damit begonnen … der ganze Wahnsinn!“, sagt das kleine Rind und weist mit einer großen Geste auf den alten VW-Bus. Er strahlt voll kindlicher Freude, aber gleichzeitig funkelt etwas Teuflisches in seinen Augen. Er ist Sandmann und Mephisto des Weins in einem und darüber hinaus ein großartiger Entertainer, der als solcher ge legentlich auch auf der Bühne steht. Er hat ganz und gar nichts vom Maulwurf, der auf seinen Ladenhütern sitzt. „Im April 1977 hatte ich gerade mein Abitur bestanden und den Führerschein ge macht. Mit einem Kredit meiner Eltern kaufte ich bei einem Pfälzer Weingut Traugott I, meinen ersten VW-Bus, und begann, Weine aus der Pfalz und aus Rheinhessen nach Bre merhaven zu ,importieren‘. Das erste Lager, na klar: die elterliche Garage!“
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Nach deutschem Recht konnte und durfte Rindchen nicht einfach so loslegen. Mi crosoft wurde zwar 1975 in einer Garage in Seattle gegründet, was in Deutschland nicht erlaubt gewesen wäre. Rindchen ist während seiner improvisierten Aufbauphase erfolg reich durch das Netz der Behörden geschlüpft, was für den Fiskus heute ein Riesenglück ist. Inzwischen ist er zahlenmäßig einer der fünf wichtigsten Weinhändler Deutschlands. „1978 kam ich nach Hamburg, um eine Lehre als Versicherungskaufmann zu absol vieren und begann parallel dazu, einen regelmäßigen ,Wochenend-Import‘ zu organisie ren“, erzählt er begeistert weiter. „Am Freitagnachmittag, nach der Arbeit, ging es mit dem 47-PS-Bus Richtung Frankreich, in der Nacht von Sonntag auf Montag wieder zu rück. Montagmorgens fuhr ich nach einer kurzen Dusche wieder ins Büro … schnarch!“ Das klingt natürlich nicht nach dem Stoff, aus dem die Spitzenversicherungskaufmänner Deutschlands gemacht sind. „Zu den französischen Hochkarätern – Sancerre und Vou vray von der Loire, Gevrey-Chambertin und Clos Vougeot aus Burgund – gesellten sich 1979 Montepulciano d’Abruzzo und Trebbiano aus Italien. Damals kannte sie niemand in Deutschland, aber sie boten eine herausragende Qualität für wenig Geld.“ Bis heute ist dies Rindchens Geschäftsformel geblieben: herausragende Qualität für wenig Geld + die Bereitschaft, sich dafür ins Zeug zu legen, + Spaß dabei zu haben = Ver kaufserfolg. Viele seiner „Maulwurf-Kollegen“ hassen ihn wegen seiner superdirekten Art und der superpragmatischen Geschäftspolitik, es ist auch viel Neid und Missgunst dabei. Das juckt den lustigen Unternehmer gar nicht, was seine kleinkariertesten Kollegen wie derum rasend macht. Rindchens Kommentar dazu wird von einem ganz breiten Lächeln begleitet: „Wer sich aus dem Fenster lehnt, wird angepinkelt!“ „Und das Ganze fing mit diesem VW-Bus an?“, will ich wissen. „Nein, wir sitzen jetzt in Traugott III, einem der ersten T2 aus dem Jahr 68/69, er ist baugleich mit Traugott I. Aber keine Angst, dieser Bus wurde 2006/2007 vollständig überholt, wir kommen schon heil an!“, beantwortet das Rindchen ruhig und sachlich die Frage des kleinen Schweinchens. „Wir fahren zu dem Weingut, wo ich das erste Mal Wein gekauft habe. Es ist der Klosterhof der Familie Schwedhelm in Zell, das im völlig unbe kannten hohen Norden der Pfalz liegt. Vor vier Jahren habe ich wieder angefangen, Wein von den Schwedhelms zu kaufen.“ Trotz seines Engagements steht Jungwinzer Stephan Schwedhelm in keinem der gro ßen Weinführer, die sich der Welt als Bibel des deutschen Weins präsentieren. Ganz offen sichtlich wollen die Kritiker ihn nicht so richtig wahrnehmen. Entweder sitzt er am fal schen Ort, und/oder er passt als Typ nicht in die vorgesehenen Schubladen für deutsche Jungwinzer. Agile Weinhändler wie Rindchen sind den Kritikern oft Meilen voraus – ein
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Stichwort „Mark eting“
Armutszeugnis für mich und meine Kollegen. Wir sind insgesamt zu engstirnig, zu unbe weglich und zu wenig begeisterungsfähig. Aber die Rindchen-Story geht weiter, und wir haben nur noch 20 Minuten bis nach Zell. „1983 eröffnete ich mein erstes Weinfachgeschäft in einer grauenhaften, versteck ten 10c-Lage in der nördlichen City Hamburgs“, fährt der großartige Erzähler in seiner spannenden Geschichte fort, „das war der letzte Schritt, um den Handel mit Wein zum Hauptberuf und zur lebenslänglichen Berufung zu machen. Damals habe ich meine Frau Christine kennengelernt, und sie stieg in die Firmenleitung ein. Aber erst nachdem 2003 Christoph Dippe als kaufmännischer Leiter dazukam, haben wir richtig Gas gegeben.“ Rindchen gibt jetzt auch richtig Gas, um trotz des nur 47 PS starken Motors einen LKW zu überholen, und wir fahren runter von der Autobahn auf eine Bundesstraße. Er ist weiterhin gern in Sachen Schnäppchen unterwegs, die richtig gut schmecken. „Trotz exzellenter Weinqualität liegt bei uns der Durchschnittspreis pro Flasche deut lich niedriger als bei den meisten vergleichbaren Anbietern.“ Ganz so großspurig, wie er seinen Kollegen erscheint, ist Rindchen nicht, er ist auch nicht halb so großspurig wie das Schweinchen. Gerade ist mir für die PIGOTT-Märkte ein hammerharter Slogan in den Sinn gekommen. Immer unübertroffen hohe Qualität, immer unübertroffen nied rige Preise. Das nenne ich das PIGOTT-Prinzip, was natürlich ein Witz ist. Leider gibt es aber keine PIGOTT-Märkte, wo alle Weine immer unübertroffen gut und günstig sind. Was ich bisher von Schwedhelm verkostet habe, war immer gut und fast immer günstig im Verhältnis zur Qualität. Schon der trockene Müller-Thurgau in der Literfla sche schmeckt sehr fruchtig, und trotz seiner milden Säure macht er lustig. Erheblich mehr Frische und Biss hat sein normaler trockener Riesling. Auch der trockene Riesling „Edition R“ liegt bei Rindchen weit unter der magischen 10-Euro-Schwelle, obwohl er Saft und Kraft hat. Erst beim Riesling „Wotanfels“ – da steht jemand offensichtlich voll und ganz zu seiner deutschen Herkunft – wird es geschmacklich etwas fülliger. Der hohe Norden der Pfalz ist recht kühl, und das führt zu einem tendenziell schlanken, spritzigen Typ Wein. Von Schwedhelm hat Rindchen viele Sorten auf seiner Liste, obwohl er oft von einem Erzeuger nur einen einzigen Wein ins Programm nimmt, wenn er glaubt, nur so einen Nerv bei seiner Kundschaft zu treffen, mit anderen Tropfen aus demselben Haus hinge gen wenig Chance zu haben. Es ist eine sehr undeutsche Art und Weise, als Weinhändler Geschäfte zu machen, und sie kommt dem amerikanischen Modell viel näher. Aber wir sind jetzt da, und es ist Zeit, die aktuellen Weine unter die Lupe zu nehmen, also stinknor male Stuart-Pigott-Arbeit, immer auf der Suche nach Empfehlungen für meine Kolumnen
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und meine Website. Unter www.stuartpigott.de können Sie übrigens alles über die Weine lesen, die ich gleich kosten werde. Einige Wochen später sitze ich wieder mit einem Weinhändler im Auto auf der Auto bahn auf dem Weg zu einem deutschen Weingut, aber dieser ist philosophischer drauf. Es ist Martin Kössler von K. & U., die Weinhalle, zu der wir fahren, liegt in Nürnberg. Mit locki ger Mähne, Schnurrbart und großer Brille wirkt Martin Kössler schon optisch wie ein intel lektueller Alternativer. Das ist er auch, schafft es aber gleichzeitig, als Weinhändler ziemlich erfolgreich zu sein, was ein halbes Wunder ist, wenn man bedenkt, dass nur 17 Prozent der Deutschen über 16 Jahre 67 Prozent des Weinkonsums der Republik verantworten. Hinge gen hegen 37 Prozent der erwachsenen Deutschen keinerlei Interesse für Wein, und wei teren 29 Prozent ist das ganze Thema ziemlich egal. Nichts gegen Bier, auch Stuart Pigott trinkt gern mal ein Helles, dennoch finde ich als Weinfreund diese Bilanz ziemlich traurig. Es kommt noch schlimmer, der Durchschnittspreis der in Deutschland verkauften Weine beträgt im Handel nicht mal ganze 2,50 Euro die 0,75-Literflasche. Das bedeutet, dass eine ganz erhebliche Menge Wein für weniger als 1 Euro die Flasche verkauft wird. Solche Produkte stellen fast immer ein Verlustgeschäft für den Erzeuger dar. Das ist so wegen der globalen Überproduktion von Wein. Ein Teil davon fließt in die billig zu ha benden Literflaschen und Tetrapaks, die im Discounter im Regal stehen. Der andere Teil wird destilliert und als Billig-Vodka verkauft (das Zeug, das Billig-Cocktails ermöglicht) oder landet als „Sprit“ in lateinamerikanischen Bussen. Auf den ersten Blick ist diese Situation eine katastrophale Basis für den alternativen Weinhändler, der sich weit außerhalb des üblichen Rahmens der Standardangebote von den Supermärkten und Discountern bewegt, aber offensichtlich gibt es unter den 17 Pro zent der Deutschen, die Wein trinken, viele Konsumenten, die gern besondere Weine ha ben, und Kössler schafft es, diese Menschen für seine Sache zu gewinnen. „Seit einem Vierteljahrhundert bemühe ich mich um die schwer geschädigte, aber glücklicherweise noch nicht ganz zerstörte Weinkultur“, erzählt er mir ganz entspannt. „In den letzten Jahrzehnten fiel diese alte Weinkultur einer rasant angezogenen Agrar industrie zum Opfer.“ Das ist eine starke Aussage, die sicherlich viele Leser überraschen wird. Es ist auch ein Frontalangriff auf die moderne Weinbau- und Kellertechnik. „Na türlich setze ich auf Winzer, die sich dieser Entwicklung verweigern. Dazu muss ich sie alle kennen und zu 100 Prozent direkt vor Ort einkaufen, egal wo auf der Welt.“ Das fin de ich ziemlich kompromisslos. „Ich unterscheide zwischen schnellen sogenannten Techniktropfen und authen tischen Genussweinen, und nichts verdeutlicht diesen Unterschied besser als der Faktor
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Zeit“, fährt er fort, „und ,Faszination Zeit im Wein‘ ist unser Konzept. Damit meine ich, dass der Winzer Zeit braucht für die Erzeugung eines Genussweins. Dafür muss er die komplexen natürlichen Vorgänge im Weinberg erst begreifen und dann mit der Natur arbeiten. Genauso braucht der Winzer Zeit im Keller, damit er ohne die angeblich fort schrittlichen Manipulationsmethoden arbeiten kann. Durch diese wurden Weine auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Trotzdem genießt auch der billigste Wein im mer noch das Image des Naturprodukts! Der handwerkliche Weg zum Genusswein erfor dert also vom Winzer viel Arbeit, Zeit und Geduld. So etwas kann nicht ganz billig sein.“ Bei K. & U. gibt es aber auch Weine für 5 Euro aufwärts die Flasche. Wir sind auf dem Weg zu einem Winzer, der an all diese Dinge ebenfalls stark glaubt, es ist Roman Niewodniczanski vom Weingut van Volxem in Wiltingen an der Saar. Seit 2000 arbeitet er unermüdlich an der Umsetzung seiner Vision eines trockenen und fein herben Rieslings von Weltklasse. Aber Kössler hat noch mehr auf dem Herzen, und das passt auch zu Niewo, wie viele Insider den großen schlanken Winzer mit dem blonden Pferdeschwanz nennen. „Auf jeder unserer Flaschen bürgt der Winzer mit seinem Namen und seiner Adresse für Authentizität und Inhalt, und wir ergänzen das mit unserem Statement auf der Web site und in unseren Mailings. Das sind Weine, die eine wahre Herkunft haben“, hämmert Kössler förmlich auf mich ein, weil dieser Aspekt für ihn so wesentlich ist, einer der un verzichtbaren Kernpunkte seiner Arbeit. „Auf den anonymen Flaschen eines schnellen Techniktropfens finden Sie dagegen nur eine Abfüllnummer und die Postleitzahl, viel leicht auch einen Firmennamen, aber nie den Namen desjenigen, der den Wein tatsäch lich erzeugt hat und für eine bestimmte Herkunft bürgen könnte.“ Er redet also von Weinen im Supermarkt- und Discounter-Regal, die aussehen, als ob sie echte Winzerweine mit einer nachvollziehbaren Herkunft seien. Das stimmt aber nicht, und handwerkliche Erzeugung wird nur vorgegaukelt. Plötzlich macht es „klick“ in mei nem Kopf, und ich erinnere mich an meinen Auftritt in der NDR-Talkshow vor ein paar Jahren. Als Jörg Pilawa mich interviewte, war ich ein wenig verwirrt, weil er über die bil ligsten Weine im Discounter sprach und den Eindruck erweckte, als würde hinter jedem ein kleiner netter Winzer stecken. Inzwischen ist mir klar, dass es sich dabei um eine weit verbreitete Denkweise handelt, eine richtige Wunschvorstellung. Tatsächlich aber stammen diese billigsten Weinprodukte fast ausschließlich aus großen Kellereien, in denen sogenannte Grundweine oder bestenfalls frisch gekelterter Trauben most, der von zahlreichen Weingütern eines großen Einzugsgebiets stammt, und in Riesen tanks gesammelt werden. Dann werden Zigtausende Flaschen mit einem Standardwein
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gefüllt, der oft für weniger als 2,50 Euro die Flasche angeboten wird. Dass die allgemei ne Vorstellung, ein derart produzierter Wein schmecke scheußlich, nur selten zutrifft, ist der modernen Kellertechnik zu verdanken. Produkte dieser Art schmecken zwar wenig spannend, sind aber oft gefällig und fruchtig. Der Durchschnittsweintrinker scheint Marketingillusionen deswegen zu verfallen, weil er sich nach der heilen Welt des natürlichen und reinen Weins sehnt, aber nicht be reit ist, dafür mehr als 2,50 Euro die Flasche zu zahlen. Diese Annahme ist genauso un realistisch wie der Glaube, man könne einen guten BMW® für wenige tausend Euro kau fen. Wenn Stuart Pigott von der wahren Geschichte des Billigwein-Angebots erzählt, sind viele „normale“ Weintrinker ziemlich schockiert, weil das Kartenhaus, basierend auf Mar ketingillusionen der Großkellereien und ihrem eigenen Wunschdenken, schlagartig zu sammenklappt. Schöne Neue Weinwelt! „Natürlich müssen die Weintrinker auch genug Zeit für Genussweine finden, sonst funktioniert das Ganze nicht“, fügt Kössler jetzt hinzu und deutet damit auf die mögli che Schwachstelle seines Konzepts. Wie viele Menschen nehmen sich tatsächlich die Zeit, etwas über den Inhalt ihres Glases herauszufinden, wie viele schenken Wein genug Auf merksamkeit, um geschmackliche Unterschiede zu erkennen, und wie viele trauen sich ein eigenes Urteil zu? Mehr als man denkt, aber immer noch zu wenig. Das liegt auch daran, dass die meisten Weintrinker glauben, ihre Zunge funktionie re sowieso ganz anders als meine und sie könnten grundsätzlich nicht die Unterschiede herausschmecken, die ich beschreibe. Auch hier ist etwas Heile-Welt-Wunschdenken er sichtlich, nämlich die Vorstellung vom großen Experten mit übermenschlichen Fähig keiten, der alles durchblickt und immer die richtige Antwort weiß. Und weil ich immer Klartext rede und kein Blatt vor den Mund nehme, werde ich häufig für eine Art Die ter Bohlen des Weins gehalten. Das ist schmeichelhaft, aber auch eine übersteigerte und leicht absurde Vorstellung. Vertrauen Sie Ihrer Zunge! Meine Erfahrung spricht dafür, dass Sie, lieber Leser, über Ihre Zunge ziemlich genau das wahrnehmen, was ich auch schmecke. Der Hauptunter schied zwischen uns liegt ganz woanders, nämlich in meiner Bereitschaft, mich mit dem Wein im Glas intensiv auseinanderzusetzen und meine Eindrücke in Worte zu fassen. Hin zu kommen die gespeicherten Eindrücke von jahrzehntelanger täglicher Übung. Aber Sie können ebenfalls Ihre Sinne schärfen, und nur keine Angst beim Formulieren! Alle Wörter, die Ihnen in den Sinn kommen, sind gut, um den von Ihnen wahrgenommenen Weingeschmack auszudrücken. Ich glaube ganz fest daran, dass der „normale“ Weintrinker weitaus mehr Freude am Wein hätte, wenn er sich nur ein wenig mehr damit beschäftigen
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würde. Aber das muss man selber wollen, und 66 Prozent (also besagte 37 plus 29 Pro zent) der erwachsenen Deutschen wollen es anscheinend nicht. Diesearmen Menschen haben keine Ahnung, wie viel Schönheit und Freude sie verpassen. Sie, lieber Leser, ha ben zumindest einige Seiten der Pigott-Erkenntnisse gelesen. Sie werden bald mehr vom Wein haben! Kössler und ich fahren jetzt über einen grünen Bergrücken, und dann liegt plötzlich die große Saarschleife bei Kanzem und Wiltingen vor uns. Dort ist eine Reihe der besten Weinberge Deutschlands zu finden. Vom Ufer der nach Süden und Westen gerichteten Seite der Schleife gehen die steilsten Hänge nach oben, unter ihnen die berühmten La gen Kanzemer Altenberg und Wiltinger Gottesfuß, wo auch Niewodniczanski Reben besitzt. Dort wachsen einige seiner Spitzenweine, die den Saar-Riesling neu definiert haben. Lange hieß es auch unter erfahrenen Fachleuten, Saarweine aus den guten Jahrgängen schmeckten schlank und hochelegant mit delikaten Fruchtaromen, schlimmstenfalls (aus den schlechten Jahrgängen) seien sie dünne Säuerlinge. Die besten trockenen Saar-Weine von Niewodniczanski sind hingegen üppig, geschmeidig und extrem würzig. Inzwischen gibt es einige Kollegen, die erfolgreich Saar-Wein im Van-Volxem-Stil erzeugen. Niewod niczanski hat eine neue Schule des Saar-Weins begründet, die, ähnlich wie der Kubismus von Picasso und Braque von anderen Malern aufgegriffen wurde! Bei meinem letzten Besuch habe ich eine große Weinbergtour mit dem Van-VolxemChef gemacht, bei der ich mehrmals richtig ins Staunen geriet, weil er einen großen Auf wand betreibt, um die optimalen Voraussetzungen für hohe Qualität zu schaffen und um den besonderen Stil der Van-Volxem-Weine zu wahren. Für ihn nimmt ein guter Wein seinen Anfang mit dem Boden und den Reben, die darin wurzeln, statt erst mit der Traubenlese. Viele Winzer bringen Kompost in ihre Weinberge, um durch Humusbildung die Was serspeicherfähigkeit des Bodens zu erhöhen. Vor allem in Hitzephasen ist die Leistung der Rebe stark von der Menge des verfügbaren Wassers abhängig – die Rebe ist bekanntlich kein Kaktus … Aber solch immense Mengen an Kompost, wie ich sie in den Van-VolxemWeinbergen gesehen habe, waren für mich ganz neu und erstaunlich. Es hat mich an die Art und Weise erinnert, wie mein Opa seine Rosen pflegte. Niewodniczanski bewirtschaf tet seine Weinberge, als sei das Ganze ein riesiger Garten! Er streut zusätzlich auch Schiefersteine in die Weinberge, obwohl es sich ausnahms los um Schieferböden handelt. Das klingt ziemlich verrückt, aber man muss wissen, dass diese Steine viele verschiedene Funktionen haben, unter anderem speichern sie Wärme am Tag und geben sie nachts ab, was das Reifen der Trauben fördert. Dazu kommt, dass
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bei der Verwitterung des Schiefers Mineralstoffe freigesetzt werden. „Schiefern“ nannte man diese im 19. Jahrhundert an der Saar übliche Praxis. Nach dem Zweiten Weltkrieg hörten die allermeisten Winzer damit auf, auch weil es richtige Knüppelarbeit ist. Aber für Niewodniczanski ist es wieder ein Muss statt einer Verrücktheit – ein Niewo macht keine halben Sachen. „Ich kämpfe nicht darum, den Zuckergehalt der Trauben zu erhöhen, für mich geht es um möglichst viel Aroma und eine reife Säure in den Trauben“, erklärte er mir mit to taler Überzeugung. „Das ist als Basis für die Art von Wein, die ich erzeuge, unentbehr lich.“ Aus diesem Grund hat er in seinen Weinbergen alle Reben, die zwischen 1980 und 2000 gepflanzt wurden, gerodet. Es handelte sich um geklonte Reben, die nicht automa tisch schlecht sein müssen, auch wenn es nach Science-Fiction klingt. Leider hieß aber bis vor wenigen Jahren das typische Ziel bei der Klonzüchtung von Weinreben, am Ende eine möglichst große Menge von Trauben mit möglichst hohem Zuckergehalt zu erhalten. Niewodniczanski fand den aus diesen Trauben gewonnenen Wein in den ersten Jahren nach seiner Übernahme des Van-Volxem-Guts 2000 nicht sehr überzeugend. Für die Verwirklichung seiner Vision besaß der Wein aus diesen jun gen Reben einfach nicht genug Aroma und zu viel Säure, sie schmeckten zu mager und aggressiv. Weg damit! Geklonte Pflanzen gibt es seit Langem, das trifft auf die meisten Zimmerpflanzen ebenso wie auf die meisten Reben zu. Bei Letzteren muss man dabei kein Hightech ein setzen, sondern im Winter nur die Ruten von einem Rebstock abschneiden und es dann in Stücke mit jeweils einem „Auge“ zerteilen. Aus jedem dieser Stücke kann eine neue Rebe wachsen, die genetisch mit dem Ursprungsrebstock identisch ist. Auf die Art und Weise „vermehrt“ Niewodniczanski seine Reben aus der Zeit vor 1980, die mit ähnlichen Zielen wie seine gezüchtet wurden. Natürlich ist das ein ziemlicher Aufwand, und es kostete Geld, wie auch die nächs ten Schritte entsprechend der Van-Volxem-Methode. Da ist die „Laubarbeit“ während des Sommers, um sicherzustellen, dass möglichst jede Traube zu optimaler Reife gelangt und lange gesund bleibt. Das erinnert mich wieder an die Gartenkunst meines Opas, der manche seiner Obstbäume ordentlich an Spalieren (wie Reben in modernen Weinber gen) entlang gezogen hat. Die Laubarbeit stellt sicher, dass genug Sonne und Luft an die Trauben gelangen und dass nicht ein Teil des Laubs – das „Solarpanel“ der Rebe – den Rest total beschattet. Mit anderen Worten: sinnvolle Ordnung statt Dschungel. Die Van-Volxem-Trauben müssen bis lange in den Herbst hinein am Stock auf die Lese warten und dabei gesund bleiben, denn nur wenn sie sehr spät gelesen werden,
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können sie die optimale Menge Aromen und ein sinnvolles Minimum an Säure enthal ten. Das Ganze gelingt nicht bei jeder Traube gleich gut, aber wenn alles nach Plan ver läuft, müssen sie bei der Handlese nur gründlich sortiert werden, um die bestmögliche Qualität zu sichern. Dagegen ist die Erzeugung der billigsten Weinprodukte eine Reihe von technischen Vorgängen, die erst nach der Lese anfangen und schnell ablaufen müssen. Das ist natür lich einfacher, als einfach nur zu hoffen, dass der Wein gut wird. Die besseren großen Weinerzeuger versuchen immer mehr, das Geschehen bereits im Weinberg zu beeinflus sen, ohne die Preise ihrer günstigen Weinerzeugnisse in die Höhe zu treiben (mehr zum Thema in Kapitel 5). Sie wissen genauso wie Niewodniczanski, dass gute Aromen im Wein berg entstehen und dass bereits in der Traube abgebaute Säure viel besser für den Ge schmack des fertigen Produkts ist, als jungen Wein chemisch zu entsäuern. Aber zurück in die wahrhaft schöne Welt des „neuen deutschen Weins“, wo das Erreichen von best möglicher Qualität eine tägliche Aufgabe und Leidenschaft ist. „Ich bin besonders gespannt auf den Goldberg, Niewos größtes und gewagtestes Pro jekt“, unterbricht Kössler meinen Gedankenfluss. „Der Wein ist zugleich filigran und ungemein dicht, seidig-weich und pikant, würzig und grün im Duft …“ Wenn Martin Kössler mit der Beschreibung eines seiner Lieblingsweine loslegt, kann es dauern. Er plappert aber nicht einfach vor sich hin, sondern macht sich dabei enorm viel Gedanken. Ich bin mir sicher, dass ihm durchaus bewusst ist, wie widersprüchlich seine Beschreibung dieses Weins dem gemeinen Leser vorkommen muss. „Hugh Johnson sagt immer, dass jeder großartige Wein etwas Paradoxes hat“, werfe ich ein, als der wortgewandte Weinhändler Luft holt. Man muss seine Chance nutzen! „Genauso ist das“, sagt er voller Überzeugung, „aber natürlich in unterschiedlichem Maß. Weine wie der Saar-Riesling von van Volxem sind nicht ganz so komplex wie die aus einer Spitzenlage wie dem Goldberg, aber sie werden mit dem gleichen Aufwand im Holz fass vergoren, und das schmeckt man.“ Das stimmt. Bereits der einfachste Wein des Hauses, der Riesling „Schiefer“, ist in übertragenem Sinn ein ganzer Korb voll saftiger Mandarinen, Aprikosen und Ananas, aber er hat auch eine spritzige Frische. Wer Saar-Riesling grundsätzlich für zu sauer hält, sollte diesen Wein erleben, der noch dazu unter 10 Euro die Falsche kostet. Großartig sind Würze und Kraft des Rieslings „Alte Reben“, der tatsächlich von Reben stammt, die mindestens 50 Jahre alt sind, also meine Generation. Aber jetzt sind wir da, und Niewod niczanski begrüßt uns am Eingang des historischen Gutshauses. Als Erstes möchte ich endlich wissen, was es mit dem großen Goldberg-Projekt auf sich hat.
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Roman Niewodnicz anski
„Der Wawerner Goldberg ist mein Lebensthema“, sagt Niewodniczanski mit Nach druck, „da habe ich die kompletten 14 Hektar Weinberg und Brachfläche nach und nach von den zahlreichen Besitzern zusammengekauft, um diese großartige Weinberglage zu neuem Leben zu erwecken.“ Wieder ein Winzer, der Dornröschen wach küssen will … „Von den 14 Hektar konnten wir nur 3 Hektar mit alten Reben stehen lassen. Der ganze Rest musste raus, da standen Traubensorten wie Dornfelder, Müller-Thurgau, Kerner und der ganze Scheiß. An manchen Stellen gab es Müllkippen, die natürlich auch abgetragen wurden. Dann haben wir mit dem Bulldozer gearbeitet, um riesige Mengen Grund zu bewegen, und unzählige LKW-Ladungen mit Kompost hingefahren, um den Boden um fassend für die Neupflanzung vorzubereiten. Und dann ging die Arbeit erst richtig los!“ Seine Beschreibung der getroffenen Maßnahmen klingt fast wie eine militärische Kampagne, aber Niewodniczanskis Ziel liegt keinesfalls darin, die Natur zu erobern, son dern einen möglichst ökologischen Weinbau zu betreiben und dabei in großen Mengen einen hochwertigen Wein zu erzeugen. Dafür sind die meisten Reben im Goldberg noch zu jung, und sie kosten ihn und seine Mitarbeiter viele Nerven, weil sie noch „Halbstarke“ sind, die vor Energie strotzen, die gebändigt werden will, um gute Qualität zu erzielen. Inzwischen habe ich durch mein eigenes Weinbauexperiment eine gewisse Ahnung, was dieser extreme Aufwand in Steilhängen bedeutet. Durch meine Arbeit als Journalist weiß ich auch, wie stark ein Weingut mit 42 Hektar wie van Volxem von agilen und gut ver netzten Weinhändlern wie Martin Kössler abhängig ist. Weil er die von Niewodniczanski erzeugten Weine gut vertritt, stellt er eine Art inoffiziellen Partner des Winzers dar. Und wenn er das weiterverfolgt, dann ist er auch am Erfolg des Goldberg-Weins inoffiziell mit beteiligt. Und wer den Wein von Martin Kössler kauft, wird ebenfalls zum „Koerzeuger“. Wir sind also alle mit dabei und sitzen im selben Boot.
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Der Wein und die Klimaveränderung
Der Wein und die Klimaveränderung Wie ist die große Qualitätssteigerung der deutschen Weine in den letzten Jahren zu er klären? Wir haben bereits sehr viele ehrgeizige und kreative Winzer kennengelernt, aber wir sind mehrmals schon einem weiteren Faktor begegnet, der hinter der neuen Stärke des deutschen Weins steckt: der Klimaerwärmung. Wir stehen aber erst am Anfang die ses Phänomens, und was sich da anbahnt, versteht man viel besser, wenn man sich über die Rebe grundsätzlich Gedanken macht. Wer Weinwunder Deutschland bis hierhin gelesen oder die eine oder andere Wein sendung am Bildschirm verfolgt hat, weiß, dass die Rebe zwar kein Kaktus, aber definitiv ein Sonnenanbeter ist. Die Riesling-Rebe, deren Triebe direkt in Richtung Sonne wach sen, macht das besonders deutlich. Sie strebt einen sonnigen Platz an, genauso zielsicher wie Menschen, die sich an den Strand legen. Für die Rebe sind Licht und Wärme jedoch kein Luxus, sondern Notwendigkeit. „Ich sehe, wie die Triebe bibbern!“, sagte etwa Johannes Leitz, der führende RieslingErzeuger in Rüdesheim/Rheingau, als der Sommer 2010 lange auf sich warten ließ – ein Winzer-Albtraum. Unter 10° Celsius ist die Rebe total passiv, sie tut einfach nichts. Für die Entstehung von hocharomatischen Weinen wie den Leitz’schen Rieslingen aus den stei len Lagen des Rüdesheimer Bergs reicht es aber nicht, dass diese Mindesttemperatur ge rade überschritten wird. Als es später während der WM reichlich Sonne gab, haben sich die Reben in Leitz’ Weinbergen schnell erholt, wie überall in Deutschland. Wie sämtli che anderen biologischen und biochemischen Prozesse auch ist das Rebenwachstum tem peraturabhängig und beschleunigt sich bis etwa 30 °C. Wird es noch wärmer, ändert die Rebe ihre Taktik und schaltet ab, um sich vor der Hitze zu schützen. Wein kann man durchaus als eingefangenen Sonnenschein bezeichnen. Dieser Ver gleich geht auf den großen italienischen Wissenschaftler des 16./17. Jahrhunderts, Galileo Galilei, zurück, für den der Wein in Wasser gespeicherter Sonnenschein war. Die Sonne ist dabei eine Art kosmisches Feuer, von dessen Strahlung so gut wie alle irdischen Lebewe sen abhängig sind. Die Blätter der Rebe bilden ein natürliches Solarpanel, das mithilfe von Photosynthese Sonnenenergie einfängt, wodurch die Trauben reifen. Aber das funktioniert nur, solange das Laub gesund und Richtung Sonne exponiert ist, statt im Schatten zu lie gen. Dafür muss der Winzer gekonnt und fleißig Laubpflege betreiben, wobei darauf zu achten ist, dass Pilze und dschungelartiger Wuchs als größte Feinde gar nicht erst entstehen.
Der Wein und die Klimaveränderung
Neben der Sonnenwärme fördert Regenwasser das Bodenleben, ohne das den Pflan zen viele essenzielle Nährstoffe fehlen würden. Nur Kohlendioxid holen sie aus der Luft, wofür sie Sauerstoff abgeben, der wiederum uns Menschen zugutekommt. Wasser brau chen die Pflanzen aber auch noch aus anderen Gründen, wobei der Nährstoffgewinn aus dem Boden mit am wichtigsten ist. Der Winzer muss einiges dafür tun, das heißt, der Bo den muss gepflegt werden. Feuer, Erde, Wasser, Luft. An der FH für Weinbau in Geisenheim habe ich von Prof. Otmar Löhnertz gelernt, dass die Wissenschaftler der Gegenwart diese vier Elemente für genauso wesentlich halten wie einst der griechische Philosoph Aristoteles, selbst wenn sie sie anders definieren. Klimaerwärmung ist die Verschiebung des Elements Feuer, was die anderen drei wiederum beeinflusst. Es gibt immer eine gegenseitige Wechselwirkung zwischen den vier Elementen. Unabhängig davon, wie das Wetter während der letzten Tage, Wochen oder Mona te war, der Klimawandel ist Fakt. In den letzten Jahrzehnten betrug der Temperaturan stieg in Deutschland durchschnittlich etwa 1° Celsius, was die Chancen der deutschen Winzer im großen globalen Wein-Zirkus sehr positiv beeinflusst hat. Wer daran zweifelt, sollte darüber nachdenken, wann man hierzulande zuletzt allgemein von einem schlech ten Jahrgang gesprochen hat, also das Gros der Trauben bei der Lese noch unreif war. In den meisten Weinbaugebieten war es 1987 der Fall. Eine derart lange Phase ohne einen schlechten Jahrgang ist absolut neu in der gut dokumentierten Weingeschichte Deutsch lands, sodass wir bisher eindeutig zu den Klimagewinnern zählen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war alles viel schwieriger. An der Saar, wo wir Egon Müller (siehe Kapitel 6) besuchten, gab es früher etwa drei sehr gute bis großartige Jahr gänge pro Jahrzehnt sowie ca. drei gute, aber eben auch vier schlechte. War ein Jahrgang schlecht, haben die Winzer, auch Egon Müller, Verluste gemacht. Interessante Gewinne konnten nur mit den besten Jahrgängen erwirtschaftet werden. Die veränderte Situation an der Saar, wo jetzt etwa jeder zweite Jahrgang sehr gut bis großartig ausfällt und die ande ren mindestens gut, ist also auch ökonomisch betrachtet wesentlich günstiger. So gesehen haben sich die Bedingungen für Wein im „cool climate“, also im kühlen, nördlichen Wein land Deutschland, in qualitativer als auch wirtschaftlicher Hinsicht wesentlich verbessert. Viele der Weinberge, die wir auf unserer Reise bis jetzt besucht haben, liegen nahe dem 50. Breitengrad. Eines der „Gesetze des Weins“, die ich vor 30 Jahren in London lernte, ist die sogenannte 30-50-Regel. Sie besagt, dass gute Weine nur zwischen dem 30. und dem 50. Breitengrad nördlich sowie südlich des Äquators wachsen können. So ver rückt das klingen mag, so gelingen gute Weine inzwischen dank menschlichem Geschick
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einerseits in einer Reihe tropischer Länder, allen voran Thailand, Indien und Brasilien, und andererseits in Regionen nördlich bzw. südlich des 50. Breitengrads auf der Nord halbkugel, wo an vielen Stellen erst die Klimaerwärmung den Anbau ermöglicht. Niemand in Deutschland hat sich mit dieser Sache intensiver auseinandergesetzt als Prof. Hans R. Schultz von der Forschungsanstalt und FH in Geisenheim/Rheingau. Er zitiert wissenschaftliche Studien, die einen weiteren Temperaturanstieg von 1,5° bis 3,5° C für die nächsten 50 Jahre voraussagen. Für ihn ist klar, dass sich dadurch die nördliche Grenze der Weinbauregionen um einige hundert Kilometer nach Norden verschiebt und die Winzer in den bereits bestehenden Gebieten ihre Arbeitsweise zum Teil drastisch ver ändern müssen. Manche Traubensorten werden in bestimmten Gebieten dadurch ver schwinden, weil es für sie zu häufig zu warm sein wird, bei anderen wird der Geschmack des Weins sich wesentlich verändern. Welche Richtung die Entwicklung nehmen wird, ist klar, nur nicht wie schnell und wie weit sie gehen wird. Vorboten gibt es bereits, und der beeindruckendste davon liegt nur eine kurze Fahrt mit der Regionalbahn von meiner Wohnung am Hackeschen Markt in Berlin entfernt. Dorthin fahre ich an diesem Herbsttag – endlich mal ohne Rollkoffer! –, um die Fort schritte eines weitsichtigen und hartnäckigen Winzers zu verfolgen: Dr. Manfred Lindicke in Werder bei Potsdam im Land Brandenburg. Mit 6,2 Hektar ist der Werderaner Wachtelberg heute der größte Weinberg Bran denburgs. Zur Zeit des Alten Fritz gab es in der Mark Brandenburg hingegen 500 Hek tar Weinberg, obwohl dessen Vater, der sogenannte Soldatenkönig, den Weinbau zuguns ten des Weizens ausmerzen wollte, um sein Heer füttern zu können. Die letzten Trauben wurden Ende des 19. Jahrhunderts als Tafeltrauben auf dem Berliner Markt verkauft. Als kurz vor dem Mauerfall die GPG in Werder knappe 5 Hektar Müller-Thurgau pflanzte, handelte sich um einen Neuanfang. Das letzte Stück vom Bahnhof Werder zum Wachtelberg fahre ich mit dem Taxi. Wäh renddessen wird mir gleich klar, dass es sich dabei um einen größeren Hügel handelt, den man aber angesichts der flachen brandenburgischen Verhältnisse durchaus als Berg be zeichnen kann. Das bestätigt der Panoramablick von dessen Spitze über den schimmern den Glindower See auf der einen und die grüne Ebene mit den vielen Obstbäumen auf der anderen Seite. Ich bin hier oben beim Weinausschank mit dem Chef, Manfred Lindicke, verabre det. Wir kennen uns, am Anfang hält er sich oft etwas bedeckt, aber die Begeisterung für die Arbeit schlägt immer durch, dann blitzen die Augen hinter den Brillengläsern. Gleich nach unserer Begrüßung fällt mir auf, dass direkt hinter ihm eine Tröpfchenbewässerung
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im Weinberg installiert wurde. Sie ist an den dünnen schwarzen Schläuchen zu erken nen, die entlang der Rebzeilen direkt oberhalb des Bodens verlaufen. Diese Technik wur de von den Israelis entwickelt, um Erdbeeren in der Wüste anzubauen. Seit Beginn der 1970er-Jahre wird sie sehr erfolgreich in warmen Klimazonen auch für den Weinbau ein gesetzt. Mit ihrer Hilfe lässt sich mit der kleinstmöglichen Wassermenge der größtmögli che Effekt erzielen. Aber hier sind wir nicht in einer heißen Klimazone, oder etwa doch? „Wir sind zwar nicht in der Wüste, aber der Wachtelberg ist eigentlich eine 30 Meter hohe Sanddünne, und Sandboden speichert wenig Wasser“, antwortet Lindicke. „Wenn es lange warm und trocken ist, müssen wir etwas Wasser geben. Ich bin gelernter Obst bauer, daher ist mir die Tröpfchenbewässerung seit Langem vertraut. Für den Weinbau kommt sie in Deutschland erst seit 2003 zum Einsatz.“ Das Klima hier ist aber wirklich nicht so schlecht, wie man denkt, will ich wissen. „Na ja, die Jahresdurchschnittstemperatur von nur 8,4° Celsius sieht nicht so gut aus“, entgegnet er darauf, was natürlich stimmt, wenn man diesen Wert mit der entsprechen den Angabe des Kaiserstuhls im Süden Badens vergleicht: 10,1° Celsius. „Aber wir haben hier ein kontinentales Klima, und dieser Wert wird stark durch die Winterkälte beein flusst. Im Sommer liegen wir bei durchschnittlich 16,4° Celsius, und 1.350 Sonnenstun den von April bis Oktober sind auch viel.“ Ja, diese Zahlen klingen durchaus nach Wein baubedingungen. Würzburg/Franken beispielsweise kommt jährlich zwischen April und Oktober „nur“ auf durchschnittlich 1.250 Sonnenstunden. „Die Seen und die Havel im Umland des Wachtelbergs schützen uns vor Frost im Frühjahr, da sich der Wind über dem Wasser erwärmt. In Glindow, wenige Kilometer von hier entfernt, kann es starke Frostschäden geben, und hier ist nichts. Das ist schon sehr vorteilhaft für uns.“ Von diesem Effekt habe ich schon in diversen Gebieten Nordameri kas gehört, wie etwa den Finger Lakes im Bundesstaat New York, wo die Reben im Winter noch stärker durch Frost bedroht sind. Nach diesen Zahlen inspizieren wir die Trauben. Neben den Sorten, die Lindicke für die Weingewinnung anbaut – etwa einem halben Dutzend –, gibt es eine ganze Reihe an derer, von denen er jeweils nur eine halbe Rebzeile zu Demonstrationszwecken für seine Kunden angepflanzt hat, und natürlich auch um ein wenig zu erforschen, welcher Wein hier am besten und welcher am schlechtesten gedeiht. Aus den Trauben von diesen hal ben Zeilen erzeugt er Federweißen, also gärenden Wein, den er hier im Gutsausschank während des Herbstes anbietet. Als wir durch die halben Rebzeilen laufen, staune ich wieder, was Lindicke da alles stehen hat. Unter den weißen Traubensorten gibt es neben der ganzen Palette deutscher
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Qualitätssorten auch frühreifende Exoten wie Solaris, der selbst hier im Norden in man chen Jahren schon Ende August reif ist, oder den Grünen Veltliner, weitab seiner nieder österreichischen Heimat. Bei den blauen Trauben ist die Vielfalt noch größer. Den deutschen Klassiker Spät burgunder habe ich erwartet, schließlich ist er mit fast 12.000 Hektar Gesamtfläche die meistgepflanzte blaue Traubensorte der Republik. Ich bin aber enttäuscht, wie unreif er schmeckt. „Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn mir Brandenburger Kollegen erzäh len, sie hätten Spätburgunder gepflanzt“, sagt Lindicke. Dann zeigt er mir, wie viel bes ser die Trauben der neuen schweizerischen Züchtung Pinotin aussehen und auch schme cken. Von dieser Sorte hat er inzwischen für die Weinproduktion gepflanzt. Ein richtiger Pragmatiker ist Lindicke. Doch wer vermutet die Bordeaux-Traubensorten Cabernet Sauvignon und Merlot oder den spanischen Tempranillo in Brandenburg? Können sie hier überhaupt reif wer den? „Wie Sie sehen, ist die Farbe schon ganz gut, aber unser Problem ist der Wind“, sagt er sehr sachlich. Die Tempranillo-Trauben schmecken erstaunlich reif, wenn man bedenkt, dass ihre Heimat ziemlich heiße Ecken in Spanien und Portugal sind. Wir gehen zurück zum Weinausschank, weil es hier oben keinen Keller gibt. Lindi cke lässt seine Trauben beim Landesweingut Kloster Pforta an der Saale bei Naumburg zu Wein verarbeiten. Das ist noch eine pragmatische Entscheidung, weil die Alternative dar in bestünde, hier eine Kellerei für die Erzeugung von 50.000 Litern Wein zu bauen und entsprechend auszustatten. So klappt mit dieser Menge alles bestens, und der Verkauf läuft auch gut. Es handelt sich um das nördlichste Weingut, das amtlich geprüfte Quali tätsweine erzeugt – obgleich es bei mir meine Zunge ist, die über Qualität entscheidet. Wir setzen uns, und die Bedienung bringt gleich den ersten Wein, einen trockenen Müller-Thurgau. Später am Tag, gegen 16.30 Uhr, wird es hier sehr lebhaft werden, aber zum Glück herrscht jetzt noch die Ruhe, die ich zum Verkosten brauche. Der Wein ist kein Riese, aber recht saftig, mit einer Note, die mich an reife Äpfel erinnert, und obwohl er ganz trocken ist, wirkt die Säure keineswegs aggressiv. Ähnlich gelungen, aber noch safti ger folgt umgehend die feinherbe Version des gleichen Weins, zwei wahre Qualitätswei ne, die optimal zu diesem Ort passen. „Sie müssen unbedingt den Sauvignon Blanc verkosten“, sagt dann mein Gastgeber, „dahinter verbirgt sich eine echte Story.“ Dieser Wein hat das reife Stachelbeerenaroma und die frech-frische Art, die ich mit dieser Traubensorte assoziiere. Und jetzt kommt die Story: In Deutschland müssen alle Weine eine Blindprobe-Prüfung durchlaufen, um als Qualitätswein zugelassen zu werden, und dieser ist dabei dreimal durchgefallen. Was war
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das Problem? „Wir sind verwaltungstechnisch Teil vom Weinbaugebiet Saale-Unstrut, wes wegen unsere Weine dort geprüft werden. Sauvignon Blanc gibt es dort allerdings nicht, weswegen die Prüfer diesen speziellen Duft und Geschmack nicht kennen und den Wein folglich ablehnen!“ Schließlich hat aber der Chef der Prüfstelle den Wein als einwandfrei durchgewunken. Ich glaube, das wird nicht das letzte Problem dieser Art sein, da sich die Weinbaufläche weiter nach Norden ausdehnen wird. Als Letztes kommt der trockene Dornfelder Rotwein ins Glas, der nicht nur tief in der Farbe ist, sondern auch eine ausgeprägte Pflaumennote hat, typisch für gelungene Weine dieser Traubensorte. Recht voll und warm, ein wenig rustikal, aber nicht zu herb wirkt er. Es ist nicht der beste Dornfelder meines Lebens, aber auch bei Weitem nicht der schwächste. Auch noch weiter im Norden kann durch geschickte Wahl der Traubensorte guter Wein gelingen, das habe ich vor ein paar Jahren schon in Dänemark erlebt. Auf der In sel Fejø zeigte mir Jens Michael Gundersen seine neuen Weinberge, aus denen er inzwi schen einen Rotwein namens „Rode Traktor“ erzeugt, der schon bald wie andere Weine auch im Regal in Kopenhagen angeboten wird. Der weiße Hauswein des weltbekannten Kopenhagener Restaurants Noma ist aus eigenem Anbau von der Insel Lillø. Beide Wei ne schmecken wirklich gut, wirken keine Spur sauer oder unreif, sondern sind mittelge wichtig mit einer angenehmen Frische, die sich durchaus als nordisch beschreiben lässt. Wenn der Weinanbau also bei 54° 57‘ Nord in Dänemark klappt, sollte es nicht über raschen, dass er hier bei 53° 23‘ Nord in Brandenburg erfolgreich ist. Und selbst die dä nischen 54° 57‘ sind gegenwärtig nicht die absolute nördliche Obergrenze auf PlanetWine. Kurz vor Oslo bei etwa 59° 45‘ gibt es ebenfalls ein paar Weinberge, und auf den Åland-Inseln vor der Küste Finnlands gerade jenseits der 60° Nord wurde neulich auch ein Mini-Weinberg angelegt. Und wir stehen erst am Anfang der Entwicklung des skan dinavischen Weinbaus! Aber wie entsteht ein neues Weinbaugebiet in Deutschland? Da gilt es nicht nur praktische Hürden zu überwinden, sondern auch juristische. Jeder erwachsene Bundes bürger darf bis zu 99 Reben pflanzen zwecks Weinerzeugung für den Eigenkonsum, aber auf die Art kommt man nicht zu einem neuen Weinbaugebiet. Aber es gibt durchaus Mit tel und Wege, wenn man sich mit der Rechtslage richtig auseinandersetzt und sich ein Fachmann dahinterklemmt. Deswegen muss ich über Berlin hinaus nach Norden, nach Neubrandenburg. Am Bahnhof Neubrandenburg – noch eine schöne historische Stadt im Osten Deutschlands – nehme ich ein Taxi für die lange Weiterfahrt nach Rattey/Mecklenburg,
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besser gesagt Schloss Rattey. Manchmal muss so ein Aufwand doch sein. Die Fahrt erin nert mich stark an meinen ersten Besuch vor ein paar Jahren, auch mit dem Auto. Mei ne Frau fuhr und nahm eine ganz spannende Route. Nach den ersten Alleen, für die Brandenburg zu Recht berühmt ist, fuhren wir durch das Villenstädtchen Wandlitz, dem ehemalige Wochenendsitz der SED-Bonzen, der politischen Führungsriege des kommu nistischen Ostdeutschlands. Hier wurden bis 1989 geheime Partys mit kapitalistischen Lu xusgütern gefeiert, darunter auch westdeutschem Wein. Inzwischen ist Wandlitz ein be liebtes Ausflugsziel für West- und Ostberliner. Damals kamen wir durch die Schorfheide, ein ehemaliges militärisches Sperrgebiet, heute Biosphärenreservat, in dem die Ziegen der exzellenten Käserei Schleusenhof Regow weiden, und schließlich in die wunderschöne Uckermark mit ihren grünen Hügeln, stillen Seen und urig anmutenden Wäldern. Das sah alles gar nicht so richtig nach Wein aus. Als wir in den Ort Rattey am Fuß der waldgrünen Brohmer Berge fuhren, bemerkte meine Frau: „Ziemlich schattig.“ Das stimmt, aber ehrlich gesagt habe ich so auch schon Bordeaux und Burgund an schlechten Tagen erlebt. Und tatsächlich, da waren die Weinberge, sie sahen sehr gepflegt und gesund aus, ganz „normal“, trotz der spektakulären Lage im hohen Norden. Damals erfuhren wir von Marion Hentschel, Direktorin von Hotel Schloss Rattey und Hotel Horizont in Neubrandenburg, wie das Entstehen dieser neuen Weinlandschaft trotz der nicht gerade hilfreichen Rechtslage möglich gewesen war. Einer der Besitzer von Schloss Rattey, Dr. Karsten Förster, ist Insolvenzanwalt in Bremen und ersann einen sehr cleveren Trick. Er gründete mit einer Gruppe Freunde den Verein der Privatwinzer zu Rattey e.V., der im Mai 1999 durch eine ausreichende Mitgliederzahl die ersten 500 Re ben von der ziemlich pilzresistenten Traubensorte Regent pflanzte. Weitere Pflanzaktio nen folgten 2000, 2001 und 2004 dank der stetig steigenden Mitgliederzahl, bis volle 3,5 Hektar mit Reben bestockt waren, also ein echtes kleines Weingut entstanden war, auch wenn die Stöcke vielen Hundert Menschen gehörten. Als ich diesmal aus dem Taxi steige, zur Abwechslung wieder mit Rollkoffer, erscheint auch schon Frau Hentschel. Ich bin heute gekommen, um etwas mehr über den Verein herauszufinden, aber natürlich auch, um die neuesten Weine zu kosten. Ich folge ihr an einen Tisch im Restaurant. Es ist schon eine besondere Mischung, die Kombination aus Hochzeitsschloss – und das ist es wirklich, zauberhaft dazu – und Weingut. Die tüchtige und eigensinnige Frau Hentschel packt diesen Spagat jedoch mit links. Im aufstrebenden Osten ist so etwas auch viel einfacher als etwa in Oberbayern. Hier in Mecklenburg gibt es zum Beispiel auch eine Firma namens Blühende Landschaften, die vor allem wilde und vergessene Kräuter vermarktet. Der Name ist natürlich eine ironische
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Anspielung auf Helmut Kohls Versprechen, aber weil der Verkauf an die Gastronomie gut läuft, trifft der Name auch zu, und niemand findet etwas dabei. Aber zurück zum Wein, wer sind nun die Privatwinzer zu Rattey, ich meine: Wer sind die Mitglieder des Vereins? „Das halbe Dorf, vom Forstarbeiter bis zum Klinikdirektor“, kommt prompt die Ant wort, „aber auch Leute in Berlin, Wuppertal und der Schweiz.“ Das klingt wirklich sehr bunt und unkonventionell. Und es hat geklappt. Am 13. Februar 2004 deklarierte der Bun desrat das neue Weinbaugebiet Stargaarder Land, das auf maximal 5 Hektar Rebfläche be grenzt ist und nur Tafel- und Landwein, also keine Qualitätsweine, vermarkten darf. Be reits 2005 brachte Schloss Rattey seine ersten kommerziellen Erzeugnisse auf den Markt. Gerade hat Frau Hentschel die aktuellen Jahrgänge des Mecklenburger Landweins in rot und weiß auf den Tisch gestellt. Die Bezeichnung passt wirklich gut, es sind leichte und fruchtbetonte Weine, die zum und ins Land passen. Mit dem Blick hinunter auf den großen Teich, umgeben von uralten Bäumen, machen sie richtig Spaß. Dr. Förster ist richtig besessen von der Geschichte des norddeutschen Weins und hat sogar ein Buch zum Thema geschrieben. Mecklenburg verfügt über 800 Jahre Weinbau tradition, erst Mitte des 19. Jahrhunderts war hier damit Schluss, fast zeitgleich in Werder/ Brandenburg. Mit der Eisenbahn kamen dank des Deutschen Zollvereins günstige Weine aus dem wärmeren Süden Deutschlands in den Norden. Damals war das Klima deutlich kühler und unfreundlicher, und der Weinbau hatte es deutlich schwerer als jetzt. Ge paart mit dem wirtschaftlichen Druck aufgrund der starken „Südweine“, verschwanden die letzten Rebinseln. Sylt hat, soweit ich weiß, gar keine Weinbautradition, und Weinbau auf Sylt klingt schon ganz schön schräg. Sylt liegt knapp hinter Rekordträger Zinnowitz auf Usedom (1.541 Sonnenstunden von April bis Oktober) auf der Hitliste der sonnenreichsten Orte der Republik, hat aber auch viel Wind. Trotzdem haben dort in den letzten Jahren die ersten waghalsigen Weinbau-Experimente begonnen. Unter den Mutigen ist auch Chris tian Ress vom Rheingauer Weingut Balthasar Ress, und der Wein wird „55°“ heißen. Ist es nur ein Marketinggag? Auf Sylt ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass der Ver such gelingt, in Kiel, wo 2009 die ersten 2 Hektar Reben von der Bartels-Langness-Han delsgesellschaft mbH gepflanzt wurden, ist man schon weiter. Bald sollen die ersten Fla schen unter dem Namen „Terra Altmühlen“ auf den Markt kommen. Insgesamt hat das Bundesland Schleswig-Holstein 10 Hektar Pflanzrechte vom Bundesland Rheinland-Pfalz erhalten, was eine weitere Zunahme zumindest der Fläche ermöglicht. Leider muss ich meinen Besuch auf Sylt und in Kiel etwas verschieben, denn ein anderer Aspekt des neu en deutschen Weinbaus ruft mich in den Rheingau – nämlich der Faktor Höhe.
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Weingut Robert WeiL
Wilhelm Weil
Gewissermaßen steht der Wiederaufstieg dieses Hauses für das Weinwunder Deutschland insgesamt.
Für jede 100 Meter, die man einen Berg hinaufsteigt, fällt die Temperatur um etwa 0,65° Celsius. Wenn ich also vom Meeresspiegel aus auf 1.150 Meter NN klettere, fällt die Temperatur um volle 7,5° Celsius. Der höchste Weinberg Europas liegt in Vispertermi nen im Wallis/Schweiz, dort steigen die Terrassen auf ziemlich genau 1.150 Meter NN. Es mag ein extremes Beispiel sein, aber es veranschaulicht die Bedeutung der Höhe für den Weinbau. Die Klimaerwärmung verschiebt die Grenze der Weinbaugebiete nicht nur nach Norden bzw. Süden, sondern auch in die Höhe. Das klingt sehr theoretisch, weswe gen ich nach meinem Besuch in Mecklenburg wie schon gesagt in den Rheingau fahre,
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um diesen Aspekt der Klimaerwärmung konkreter zu beleuchten. Ich suche also eines der führenden Weingüter Deutschlands auf, das Weingut Robert Weil in Kiedrich/Rhein gau, das sich damit intensiv auseinandersetzt. Natürlich bin ich am Ende meiner bislang verrücktesten Weinreise ein wenig ge schafft, aber die Neugier vergeht mir trotzdem nicht. Und im großen Fachwerkanwesen des traditionsreichen Weinguts Weil habe ich während der letzten 25 Jahre viele spannen de Verkostungen erlebt. Gewissermaßen steht der Wiederaufstieg dieses Hauses für das Weinwunder Deutschland insgesamt. Selbst zur dunkelsten Zeit während der Neuzeit, An fang der 1980er-Jahre, als ein Weinskandal nach dem anderen den schon heruntergekom menen Ruf der BRD-Weine immer weiter in den Schlamm zog, erzeugten einige Puris ten weiterhin geniale deutsche Weine, aber es waren wenige. Der Aufschwung, der Ende der 1980er zögerlich begann, gewann langsam, aber stetig im Laufe der 1990er-Jahre an Schwung, und seit der Jahrtausendwende ist Volldampf angesagt. Analog dazu verlief der Aufschwung dieses Weinguts unter der Leitung von Wilhelm Weil. Dort ist man stolz darauf, seit dem Jahrgang 1989 jedes Jahr Weine aller gesetzlichen Qualitätsstufen bis hin zur Trockenbeerenauslese erzeugt zu haben. Heute geht es mir je doch primär um drei Weine, alle trockener Riesling, die auf sehr ähnliche Weise erzeugt wurden, aber aus Lagen stammen, die unterschiedlich hoch liegen. Als Wilhelm Weil mich begrüßt und mich anschließend in den Verkostungsraum begleitet, ist mir schon klar, dass es die drei Weine sind, die uns dort auf dem Tisch erwarten. Hier ist alles im mer perfekt vorbereitet. Ich erkläre ihm, dass ich von Glas zu Glas „bergsteigen“ möch te, also mit dem Wein aus der niedrigsten Lage anfangen und mich dann langsam nach oben begeben möchte. „Wie du möchtest, Stuart“, sagt er mit einem Lächeln. Der erste Wein ist der trockene „Gräfenberg“, seit Jahren der Klassiker unter den trockenen Weinen des Guts. Der Duft nach Orange und Papaya ist ziemlich üppig, und der Wein schmeckt sehr saftig und geschmeidig. Es ist ein richtiger Gaumenschmeichler mit einem ganz starken Finale. Als einzige mögliche Kritik fällt mir ein, dass es vielleicht ein wenig „zu viel des Guten“ ist. „Dank der Klimaerwärmung ist er über die Jahre immer ausladender geworden“, gibt Weil zu, „aber wir lieben ihn so, wie er ist, und wollen nichts unternehmen, um ihn zu verschlanken. Dank der höher liegenden Lagen haben wir auch Alternativen, die deut lich schlanker schmecken.“ Dabei deutet er auf den nächsten Wein, den trockenen Ries ling aus dem Turmberg. Er hat eine exotische Note, ich glaube, es ist Maracuja, aber ich rieche auch ganz deutlich weißen Pfirsich – mein Lieblingsobst. Im Geschmack ist auch er sehr saftig, aber
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etwas leichter im Körper, filigraner und graziler. Es handelt sich eher um eine Ballerina als eine Operndiva wie beim „Gräfenberg“, vielleicht ist er deswegen auch eher mein Fall. „Der Gräfenberg geht rauf auf bis zu 180 Meter, der Turmberg auf rund 200 Meter.“, kommentiert Weil, „Das klingt nach nicht viel, aber zur Zeit meines Vaters hat der Turm berg nur ein- oder zweimal pro Jahrzehnt einen richtig überzeugenden Wein hervorge bracht, weshalb wir diesen Lagennamen lange nicht mehr führten. Erst 2005 haben wir ihn als Monopol unseres Hauses zurück ins Leben gerufen. Den ‚Klosterberg‘ haben wir 2007 erstmals getrennt abgefüllt. Diese Lage zieht sich hinauf bis auf 240 Meter.“ Nach Äpfeln und Apfelblüten duftet der ‚Klosterberg‘, aber es gibt hier auch einen Hauch von Grün, eine attraktive grüne Note wie Kaiserschoten. Schmecken tut er sehr rassig, und wer keine Säure mag, sollte ihn definitiv meiden. Wer jedoch viel Leben und Frische im Weißwein sucht und nicht säureempfindlich ist, liegt damit richtig. Mit jedem Schritt nach oben schmeckt der Wein schlanker und belebender, aber auch säurebeton ter. Das liegt auf der Hand, weil die Säure sich in den Trauben während der Wochen un mittelbar vor der Lese umso schneller abbaut, je wärmer es ist. Der Geschmack der drei Weine entspricht durchaus dem unterschiedlichen Kleinklima der verschiedenen Wein bergslagen, wo sie gewachsen sind. Wilhelm Weil hat nur versucht, das Gegebene so ge schickt wie möglich herauszuarbeiten, was ihm meiner Meinung nach sehr gut gelungen ist. Der letzte Wein, den ich probiere, ist eine gewagte Innovation für ein auf Tradition bedachtes Weingut wie das Robert Weils, und dieser Wein polarisiert nicht nur die Kon sumenten, sondern uns Fachleute. Aber wenn wir weitere 1,5° Celsius Klimaerwärmung hinter uns haben, wird er deutlich weicher und saftiger als heute schmecken. Dann wer den ihn manche, die den „Klosterberg“ heute ablehnen, wahrscheinlich sehr mögen.
„Hier im Rheingau haben wir Glück, weil wir den Taunus haben. Theoretisch könnten wir bis auf 500 Meter klettern.“ Zitat Wilhelm Weil
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Traubensorten Man muss gar nicht in den Weinberg gehen um festzustellen, dass nicht alle Trauben gleich sind – auch im Supermarkt oder beim Obsthändler können Sie das sehen. Der Un terschied zwischen weißen und blauen Trauben ist am auffälligsten, aber auch unter Trau ben derselben Farbe ist ihre Verschiedenheit deutlich zu erkennen, genau wie bei roten Rosen oder gelben Äpfeln. In der Tat existieren mehr verschiedene Traubensorten als Rosen- oder Apfelarten, dementsprechend gibt es Traubensorten, die mehr oder weniger aromatisch, alt oder neu bzw. angesagt sind oder vergessen wurden. Diese Biodiversität spiegelt die genetische Vielfalt wider. Es ist nur wenigen bewusst, aber wilde Reben wachsen überall – von der Wüste Gobi bis in die Karibik. Ich habe sel ber wild wachsende Reben in South Dakota/USA gesehen, also im sogenannten Wilden Westen, und ihre tiefblauen Beeren waren ungemein aromatisch, und der Wein namens „Wild Grape“, der daraus gemacht wird, schmeckt tatsächlich ein wenig „wild“. Das passt gut zu den Sioux-Indianern, die sie sammelten. Die Anpassung an viele extrem unterschiedliche Klimazonen ist der eine Faktor, der zur genetischen Vielfalt von Rebe und Traube führte. Ihre Farbe, Süße und Aroma waren Mittel, um ursprünglich Vögel anzulocken: Die Reben, deren Beeren am besten bei den Vögeln ankamen, vermehrten sich am erfolgreichsten. Symbiose nennen Biologen solch kuriose Beziehungen zwischen offensichtlich ungleichen Partnern. Der andere Faktor sind wir Menschen. Vor fast 10.000 Jahren gingen auch wir diese Beziehung ein, begannen unsere Partnerschaft mit der Rebe, von der beide Seiten profi tieren. Die Rebe liefert uns Tafel- und Weintrauben, im Gegenzug konnte sie sich auf eine weltweite Fläche von etwa 8 Millionen Hektar ausbreiten. Nicht schlecht für eine recht unscheinbare Pflanze, die in der freien Natur Bäume und Sträucher erklimmt! Der Rebenzüchter folgt vielleicht einfach seinem persönlichen Geschmack oder hat ein wissenschaftliches Ziel, aber letztlich sind es wir Konsumenten, die darüber entschei den, welche Traubensorten eine große Verbreitung erreichen. Wir sind eigentlich Ko produzenten, denn unsere Vorlieben und Abneigungen beeinflussen maßgeblich, wel che Traubensorten angebaut und zu Wein verarbeitet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die blaue Traubensorte Cabernet Sauvignon aus Frank reich. Während der 1980er- und 1990er-Jahre wurde sie in immer mehr Ländern rund um Planet-Wine angebaut, weil sie mitverantwortlich ist für die teuren Rotweine aus Bor deaux. Das hat aber nicht geholfen, den wirtschaftlichen Erfolg Bordeaux’ in andere
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Gebiete und Länder fortzupflanzen, weil diese theoretisch „edle“ Traube häufig nur un reif riechende sowie hart und kantig schmeckende Weine hervorbrachte, die von den al lermeisten Konsumenten abgelehnt wurden. Die Cabernet-Sauvignon-Traube braucht viel Wärme, um voll auszureifen, und – unabhängig von der Traubensorte oder Begabung des Winzers – ein guter Wein kann nur aus reifen Trauben erzeugt werden. Nach weni gen Jahren mussten die betreffenden Winzer die Cabernet-Sauvignon-Reben entfernen, auch in Deutschland. Die Sehnsucht der deutschen Winzer nach stimmigen Weinen, die geschmacklich rotem Bordeaux ähneln, blieb aber und fand eine Antwort in den soge nannten „neuen Cabernet-Trauben“ wie Cabernet Cubin. Zur selben Zeit feierten die hocharomatischen neuen Weine aus der ebenfalls ur sprünglich in Frankreich beheimateten weißen Sauvignon-Blanc-Traube bei Millionen von Konsumenten auf Planet-Wine einen richtigen Siegeszug. Nach und nach eroberte Sauvignon Blanc zahlreiche Märkte und Weinbauländer, in denen er vorher unbekannt gewesen war. Längst ist diese Sorte auch in Deutschland verbreitet, wo sie inzwischen die Lady Gaga unter den Traubenarten ist. Mehr dazu später. Aber bevor wir die einzelnen Traubensorten weiter hinterfragen, müssen wir noch mal kurz in den Supermarkt oder zum Obsthändler. Dort steht oft „Weintrauben“ auf dem Preisschild, es handelt sich dabei aber selten um Trauben, aus denen Wein gewon nen wird. Diese haben nämlich meist viel kleinere und weichere Beeren als Tafeltrauben und sind wesentlich süßer. Die Traubensüße schmecken Sie im fertigen Wein meist nicht, weil die Hefe sie vollständig in Alkohol umgewandelt hat. Ganz banal gesagt: Hefe frisst Zucker, vermehrt sich und scheißt Alkohol plus Kohlensäure. Das haben alle Weine, ob rot, weiß oder rosé, süß oder trocken gemeinsam. Beim Süßwein bleibt ein Teil der na türlichen Traubensüße erhalten. Blaue und weiße Trauben sehen nicht nur anders aus, sie enthalten auch unter schiedliche Stoffe. Erstere enthalten Farbpigmente und Gerbstoffe (in der Beerenhaut), die in weißen Traubensorten gar nicht vorkommen. Gerbstoffe sind für den pelzigen „Geschmack“ des Rotweins (ebenso wie beim Schwarztee) verantwortlich, was manche Weinfreunde mögen, andere aber eher ablehnen. Ohne Gerbstoffe hätte guter Rotwein hingegen nicht die für ihn typische Wärme und nur wenig Power. Blaue Traubensorten enthalten zudem verschiedene Mengen und Arten von Gerbstoff, weswegen die entspre chenden Weine sehr unterschiedlich schmecken. So empfinden die allermeisten Wein freunde gerbstoffarme Rotweine als „leicht“ und gerbstoffreiche Rotweine als „schwer“. Farblich betrachtet gibt es eine große Grauzone zwischen den beiden Extremen, also tiefblauen Trauben, aus denen Rotwein erzeugt wird, und richtig weißen Trauben, die für
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die Weißweingewinnung angebaut werden. Das Spektrum dazwischen reicht von blassro sa bis leicht bläulich. Grauburgunder, auch Pinot Gris oder Pinot Grigio genannt, ist das bekannteste Mitglied dieser bunten Truppe, bei dem es sich keinesfalls um „Rosé-Trau ben“ für pinkfarbene Weine handelt. Nur wenige wissen, dass Roséwein tatsächlich aus blauen Trauben erzeugt wird. Diese farbenfrohen Traubensorten im „ Niemandsland“ zwi schen Blau und Weiß ergeben immer Weißweine, aber durchaus von eigenem Geschmack. Alle Traubensorten, ob blau, weiß oder „grau“, enthalten natürliche Säuren, die sich nur durch extreme chemische Eingriffe im Keller vollständig entfernen ließen, was aber zu einer völlig faden Brühe im Glas führen würde. Wie viel Säure ein Wein enthält, hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, allen voran der Traubensorte und die Trauben reife. Auch bei Rotwein, der generell etwas sanfter im Säuregehalt ausfällt als Weißwein, gibt es erhebliche Unterschiede, wie der Vergleich zwischen einem weichen Merlot-Rot wein mit einem wesentlich frischer wirkenden Lemberger-Rotwein zeigt. Bei manchen Weißweinen, vor allem bei der Säure-Königin Riesling, würde der gewaltsame Entzug der natürlichen Säure zum sofortigen geschmacklichen Tod führen. Inzwischen wissen wir dank der Genanalyse, dass die allermeisten bekannten Trau bensorten für die Erzeugung von Wein natürliche Kreuzungen sind, sozusagen ungeplan te Kinder. Die Blüten der Rebe, die optisch sehr unauffällig sind, aber sehr gut duften, werden entweder selbst oder durch sanften Wind statt von Bienen befruchtet. Und in der Zeit, bevor die Reben in geordneten Reihen gepflanzt wurden, kam es zu ganz viel freier Liebe unter ihnen. Doch nur die ungeplanten Kinder, die gut wuchsen und leckere Trau ben hervorbrachten, wurden von den Winzern bewusst vermehrt und sind uns überliefert. Spätburgunder, der in seiner französischen Heimat sowie in den englischsprachi gen Überseegebieten Pinot Noir genannt wird, ist ein gutes Beispiel dafür. Die Heldin des witzigen Films „Sideways“ ist tatsächlich eine zufällige Kreuzung zwischen Schwarz riesling bzw. Pinot Meunier und Traminer. Genau wie ich die Nase meiner Mutter und die Figur meines Vaters habe, vereint Spätburgunder das charmante, fruchtige Aroma vom Schwarzriesling mit dem vollen, samtigen Körper des Traminers – eine Summe, die großartiger schmeckt als ihre Teile! Auch wenn Sie vielleicht glauben, keine Traubensorte mit Namen zu kennen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie unwissentlich die eine oder andere Bezeichnung gespeichert haben. Seit kalifornische Winzer vor etwa einem halben Jahrhundert herausgefunden haben, dass sich der Name der Traubensorte auf dem Etikett verkaufsfördernd auswirkt, wird er immer häufiger groß darauf abgedruckt. So haben manche eine markenähnliche Stellung erreicht, wie etwa der rote Merlot und der weiße Chardonnay. Beide stammen
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aus Frankreich, sind aber inzwischen der Inbegriff des globalisierten Weins und wachsen in unzähligen Ländern rund um Planet-Wine. Ob Ihnen ein Wein schmeckt oder nicht, ist tausendmal wichtiger, als zu wissen, dass Merlot und Chardonnay die Namen von Traubensorten sind, während Bordeaux und Burgund die Bezeichnung ihre Heimatgebiet sind. Andersherum bietet ein Quäntchen Wissen über die Traubensorten eine tolle Orientierungshilfe im dichten Wald der Wein flaschen im Regal. Die Traubensorte beeinflusst nämlich maßgeblich den Geschmack ei nes Weins! Nur der Name des Erzeugers ist ähnlich wichtig. Auf den Jahrgang kommt es, dank der Klimaerwärmung im 21. Jahrhundert, hingegen eher weniger an. Die Wei ne aus verschiedenen Jahrgängen schmecken zwar unterschiedlich, aber in Deutschland gibt es keine schlechten mehr! Von großer Bedeutung ist jedoch, wo genau ein Wein gewachsen ist. In jedem Wein berg herrschen andere Bedingungen, die sich aus dem sogenannten Kleinklima und den Bodenverhältnissen ergeben. Sie beeinflussen den Geschmack der Trauben und den des daraus entstehenden Weins. Dies ist ein großes und sehr komplexes Thema, ja es ist ein Thema, mit dem sich manche Weinfreunde ein Leben lang beschäftigen. So weit muss man jedoch keinesfalls gehen, um einfach einen guten Wein zu genießen!
Ob Ihnen ein Wein schmeckt oder nicht, ist tausendmal wichtiger, als zu wissen, dass Merlot und Chardonnay die Namen von Traubensorten sind. Andersherum bietet ein Quäntchen Wissen über die Traubensorten eine tolle Orientierungshilfe im dichten Wald der Weinflaschen im Regal.
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von manfred lüer
Riesling So multi wie kulti Pfirsich und Aprikose, Apfel und Birne, Zitrone und rosa Grapefruit sowie Ananas und Maracuja, aber auch Kirsche, Schwarze Johannisbeere, und, und, und … Kein Weißwein ist so fruchtig wie Riesling, ohne wie ein Lauthals zu erscheinen oder künstlich zu wirken. Wenn diese Traube vollreif gelesen wird und der Winzer sie behutsam behandelt, über reicht uns die Natur einen ganzen Früchtekorb im Glas! Kurz darauf quellen verschiedene Wohlgerüche schier über. Duftwolken hüllen uns ein, und wir haben das Gefühl, auf einem riesigen orientalischen Basar zu sein, wie im Märchen aus Tausendundeiner Nacht mit ihren Mythen, Düften und Gewürzen. Die Far ben leuchten, es ist die Welt der Gewürze, die der Orient Europa geschenkt hat. Dann kommt es uns vor, als öffne sich urplötzlich ein wunderbarer Garten für die Sinne mit ätherischer Minze, duftenden Blütenwundern im Schnee, blühendem Flieder, Thymian, Obstblüten und Heilkräutern. Ein Gefühl von Leichtigkeit, schmetterlingsglei chem durch die Luft Schwirren stellt sich, als würde die Zartheit von Gräsern uns um schmeicheln und der Duft von Holunder und Hölzern sanft herüberwehen. Und als würde ein leichter Wind den schweren Wohlgeruch von Hyazinthen aus einigen Metern Entfer nung zu uns hin tragen, und wir staunen über dieses komplexe, ineinander verschlunge ne und schier unergründliche Ganze, das sich auftut. Es war nur einen Schluck entfernt, denn eigentlich haben wir nur eines getan: richtig guten Riesling getrunken. In ihm kann mehr als eine Welt eingefangen sein, und zwar deutlich mehr als eine. Das macht ihn so besonders, er ist einfach eine Kategorie für sich. Wie keine andere Sorte spiegelt Riesling Gunst oder Ungunst von Boden und Klima. Daher nennen manche Winzer diese Rebe auch Chamäleon. Dabei ist Riesling einzigar tig und sollte dies auch tunlichst zeigen. Moderne Technik ist begrüßenswert, solange sie nicht für die Verunstaltung des Weins, um ihn trendgerechter zu machen, missbraucht wird. Ein klassischer Riesling hat jedoch Ecken und Kanten, definiert sich über Säure und
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ist in der Lage, das Terroir, also den Herkunftscharakter, widerzuspiegeln. Kein trockener Riesling zeigt dies so exemplarisch wie die berühmte Auslese „R“ aus dem Kallstadter Saumagen von Koehler-Ruprecht aus der Pfalz, dessen geschmackliche Bandbreite schier unerschöpflich ist: von knochentrocken bis edelsüß. Daraus ergeben sich ein ganzes Bündel von Eigenschaften und seine hohe Originalität. Unerreicht ist die Liaison zwischen Extrakt und Leichtigkeit (daher gilt Riesling auch als sexy): die fe derleichten Kabinettweine von Joh. Jos. Prüm aus Wehlen an der Mosel sind 3D-Schiefe ranimationen für den Gaumen. In hoher Reife ausgereizte trockene Rieslinge erreichen etwa als Großes Gewächs aus der Niederhäuser Hermannshöhle von Dönnhoff (Nahe) eine unglaubliche Dimension. Oder aber sind ähnlich cremig und üppig wie ein Char donnay – etwa die des Westhofener Brunnenhäuschen Abtserde vom Weingut Klaus Kel ler im rheinhessischen Flörsheim-Dalsheim: Rassiger trockener Riesling kann aber auch für unter 10,- Euro die Flasche brillieren: etwa wie der von Jakob Schneider (Nahe) oder der vom Weingut Weingart in Spay (Mittelrhein) sowie die von den Weingütern Winter, Bischel, Riffel und Georg Gustav Huff in Rheinhessen. Einen richtigen Kick geben fruchtige Spätlesen wie die aus dem Rüdesheimer Berg Ro seneck von Leitz (Rheingau) mit ihrem superklaren, rassigen Spiel, während Edelsüße von explosivem Süß-Säure-Spiel leben: die Schönheit im „Roth Lay“ aus dem Winninger Uhlen von Heymann-Löwenstein oder dem Wein aus der Brauneberger Juffer-Sonnen uhr von Haag ist geradezu verschwenderisch – bei niedrigem Alkoholgehalt. Dabei sind solche Kreszenzen ungeheuer langlebig: Beste Moselauslesen erreichen erst nach 30, 40 Jahren ihren Höhepunkt, Trockenbeerenauslesen können gar ein Menschenleben über dauern! Weil die Trauben recht kompakt sind, breitet sich die Edelfäule, Botrytis Cine rea, recht leicht aus, und bei keiner Sorte ist das Ergebnis so beeindruckend wie bei Tro ckenbeerenauslesen. Das kann man oft in Jahrzehnten statt in Jahren zählen. Dann findet eine wundersame Verwandlung des Weins statt – er wird herber, leichter und ätherischer. Wie bei einem knackigen Apfel definiert die Säure das Geschmacksbild des Rieslings. Seine spät reifenden, kleinbeerigen Trauben sind reich an Aromen, aber auch an Säure. Die von vielen gewünschte rassige Art hängt von der richtigen Menge ab: Man sagt, zu viel Säure mache Wein grün, zu wenig mache ihn schlaff und rund. Der Alkohol ist eher se kundär (auch wenn man in den letzten Jahren bei trockenen Weinen den Eindruck hatte, 13 Volumenprozent seien das Minimum): Manche Beeren- oder Trockenbeerenauslesen aus eingeschrumpelten Weintrauben haben nur 6 oder 7 Volumenprozent und gehören trotz ihrer geschmacklichen Dichte zu den leichtesten Weinen der Welt!
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Riesling ist für den Anbau in kühlen Zonen bestens geeignet. Brät die Sonne erbar mungslos, wird er geschmacklich flach, und ein unangenehmer Petrolton kann sich ver stärken. Durch die Klimaerwärmung ist Riesling aber milder und weicher geworden. Er ist grundsätzlich heliotrop, sehnt sich durchaus nach Sonne und streckt seine Triebe in die Höhe. Er mag aber auch frische, kühle Herbstluft, die seine Frische und Duftigkeit bewahrt und für eine möglichst langsame Reife sorgt, wodurch die Aromen besonders subtil ausreifen können. Wie keine andere Rebsorte steht Riesling für ein heiteres, fast verdrängtes Stück Deutsch land, wo er am Rhein und seinen Nebenflüssen quasi erfunden worden ist. Bereits vor über 150 Jahren definierten die Winzer in seiner Ursprungsregion Rheingau den Riesling als ihre Leitsorte. 1435 wurde die Sorte bereits in Zusammenhang mit einem Weinberg mit der jahrhundertealten Flurbezeichnung Im Rüsselsheimer erwähnt. Inzwischen ist er in die Lage Hochheimer Hölle aufgegangen. Der Rüsselsheimer Gutsverwalter des Grafen von Katzenelnbogen notierte damals den Kauf von Rieslingreben. Und Schloss Johannis berg pflanzte 1720 gar 294.000 Stück – damals war ein sogenannter Gemischter Satz aus vielen Sorten üblich – und kelterte 1775 auch die erste „offizielle“ Spätlese. Noch immer kolportiert wird die Mär, der Riesling stamme von einer Wildrebe aus den Rheinauen ab, dabei handelt es sich um eine natürliche Kreuzung der Sorten Heunisch, dem er seine frische Säure, Wüchsigkeit, aber auch eine Tendenz zu großzügigen Erträgen verdankt, und Traminer, den üppiger Duft kennzeichnet. Rieslingrebe und Rieslingtraube sind Sensibelchen. Man spürt später im fertigen Wein, wo ein guter Riesling gewachsen ist nicht weniger als die Witterung der gesam ten Zeit, angefangen beim Austrieb der Knospen bis zur Traubenlese (bis zu 150 Tage!). Wohl kaum eine andere Sorte kann so altern und von der Reife profitieren wie der Ries ling. Große Weine zeugen dann von einer echten Metamorphose, insbesondere die Spätoder Auslesen. Das jugendlich Ungestüme, ja Wilde wird dabei abgelegt, überschwäng liche und hochfeine Duftigkeit sowie sein besonderer Charakter treten zutage. Heraus kommt der originäre Geschmack des Bodens, auf dem der Riesling gewachsen ist – ob Schiefer, Quarzit, Vulkangestein oder Muschelkalk. Auch minimale Unterschiede in der Bewirtschaftung der Weinberge, bei der Lese, der Vergärung und Verarbeitung von Trau ben, Most und Jungwein prägen das jeweilige Erzeugnis. Für Winzer wie Helmut Dönn hoff ist Riesling „das Klare, Heitere, Helle und Frühlingsfrische“, während Peter Jakob Kühn aus dem Rheingau einen klassischen Wein mit ordentlich Gerbstoff und cremig ein gehüllter Mineralität schätzt. All das macht die Vielfalt des Rieslings aus!
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Spätburgunder Der dritte Weg Die roten Burgunder aus Grand-Cru-Lagen wie der Romanée-Conti von der Domaine de la Romanée-Conti, der Richebourg der Domaine Leroy oder der Musigny Vieilles Vignes von der Domaine Georges de Vogüé sind mit ihren hohen drei- oder gar vierstelligen Eu ropreisen für viele Weinfreunde einfach unerreichbar, und die Angeberei, die oft dazu gehört, kann den normalen Weinfreund einschüchtern. Das ist schade, weil sie grandios schmecken können. Es gibt glücklicherweise aber viele andere tolle Weine aus der PinotNoir-Traube oder Spätburgunder, wie sie hierzulande heißt. Denn eigentlich hat die wunderbare Welt des deutschen Spätburgunders sehr viel zu bieten, schon für wenige Euro die Flasche. Es sind schwungvolle, feine, heitere und ganz normale Weine, die mal feenhaft zart, dann wieder gehaltvoll, kräftig ausfallen. Wunder bar entspannte Spätburgunder mit zart eingeregelter Fruchtsüße (nicht Restsüße!) und le bendiger Säure gibt’s für unter 10,- Euro die Flasche bei Hartmut Schlumberger und Hol ger Koch in Baden, beim Benderhof und bei Gies-Düppel in der Pfalz, bei Thilo Strieth im Rheingau, bei Wachtstetter in Württemberg oder bei Sermann-Kreuzberg und Paul Schumacher an der Ahr. Er schmeckt wie die seidige Haut vollreifer Kirschen und duf tet wie ein ausgewogenes, zartes Parfüm. Das wundersame Zusammenspiel von Kraft und Leichtigkeit des Spätburgunders ist einzigartig unter den Rotweinen. Und zum Glück gibt es immer mehr Winzer in Deutschland, die die ewigen Vergleiche mit der Goldküste langsam, aber sicher satt sind. Wie Jacob Duijn aus Bühl in der badischen Ortenau arbeiten sie am dritten Weg: „Nur weil etwas nicht typisch deutsch ist, muss es nicht gleich typisch französisch sein.“ In der Tat kann es auch ein Königsweg sein heraus zufinden, welche Stärken wir hierzulande haben und ob der regionale Charakter ausge drückt werden kann. Die Möglichkeiten der Traubensorte in Deutschland sind zahlreich, und wir stehen immer noch am Anfang einer tollen Entwicklung.
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Die offizielle Lehrmeinung, Rotweine sollten möglichst säurearm, mollig und weich sein, ist leider noch immer stark verbreitet. Der sinnlich rot funkelnde Spätburgunder, der auch hellfarbig noch glücklich machen kann, führt dieses Credo ad absurdum. Er vereint vermeintliche Gegensätze wie männlich und weiblich, kraftvoll und delikat, fruchtig und mineralisch, seidig und gerbstoffbetont. Gute Weine sind von einer Zartheit, die durch gängig ist, und verströmen eine sanfte Wärme. Spätburgunder haben einen vollen Bur gunderton, der an Brombeeren, Kirschen oder Johannisbeeren erinnert. Pinot Noir alias Spätburgunder ist eine der ältesten Kulturreben und scheint eine Zu fallskreuzung von Pinot Meunier (Schwarzriesling) und Traminer zu sein. Ihre Heimat ist Burgund, wo die ersten Erwähnungen aus dem Mittelalter stammen. Damals war sie schon unterwegs, auch Richtung Deutschland. Die Trauben sind tendenziell gerbstoffarm, der Tanningehalt kann jedoch durch rigorose Ertragsreduzierung gesteigert werden. Erst bei weniger als 50 Hl/Ha kommt dieser Effekt üblicherweise zum Vorschein, ab 30 Hl/Ha und weniger wird der Wein so richtig intensiv. Durch Verschnitt mit anderen gerbstoffbe tonten Traubensorten und/oder lange Reifezeit in neuen Barriquefässern kann der Win zer den Gerbstoffgehalt und damit die Kraft des Weins „stärken“. Der Farbstoff ist auch sehr labil, weswegen die sogenannten Deckrot-Traubensorten wie Dornfelder oder Dun kelfelder gezüchtet wurden. Wenige Prozent davon in einem farbschwachen Spätburgun der motzen dessen Farbe (ganz legal) kräftig auf. Der typische Burgunderton und das Subtile können dadurch jedoch zerstört werden. Vorsicht also bei tiefroten Spätburgun dern mit violetten Reflexen! Am besten wächst Spätburgunder dort, wo es warme, aber nicht zu heiße Tage und kühle Nächte gibt: in Burgund, Oregon, Neuseeland oder Deutschland. Bei uns gedeiht er ganz vorzüglich in hochwertigen Rieslinglagen, wo er je nach Art der Böden, Neigung und Exposition unterschiedlich ausfallen kann. Keine Frage, bei keiner anderen roten Sorte werden Charakter, Geschmack, Duft und Fruchtsäure so sehr von der Lage beein flusst. Es ist, bei sachkundigem Ausbau, diese unnachahmliche facettenreiche Trans parenz, die den Spätburgunder so einzigartig und wertvoll macht. Und: Gute Spätbur gunder trotzen dem Trend der frühen Trinkreife. Sie fangen wie bei Hans-Josef Becker aus Walluf im Rheingau erst nach fünf Jahren zu singen an. In solchen Kalibern wie aus dem Wallufer Walkenberg schmeckt man das Kostbare: natürliche Fruchtigkeit, leben dige Säure, lagerfähige, samtweich eingebundene Gerbstoffe, strahlendes Cassis- und Kirscharoma. Keine Frage, mit dem Rotweinjahrgang 2007 haben die deutschen Winzer großflächig den Durchbruch geschafft. Er ist in der Breite beim Spätburgunder der Beste, den viele
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bislang verkostet haben. In der Pfalz feilt die Südpfalz ConneXion, eine junge Garde von fünf Winzern (Boris Kranz, Sven Leiner, Volker Gies, Klaus Scheu und Peter Siener), am Remake des einst hochgerühmten Gräfenhauser Edelburgunder. Heraus kam ein Spät burgunder aus dem Bilderbuch: Alles scheint ruhig, aber unter der Oberfläche brodelt es gewaltig! Sogar aus dem kühleren Norden, etwa vom Harzer Weingut Kirmann in Wes terhausen, kommen erstaunliche Spätburgunder. An der Ahr lesen Erzeuger wie Gerhard Stodden früher, setzen auf mehr Frische und eine längere Reifezeit im Holzfass, die zwei Weihnachten überdauert. Und aufregende Weine wie der „Rhini“ von Hanspeter Zierei sen aus dem Markgräflerland müssen längst keine Vergleiche mehr mit Tropfen aus dem Burgund scheuen – kurioserweise gerade deshalb, weil sie diesen eigentlich nicht mehr anstreben auf ihrer Suche nach dem dritten Weg! Die große genetische Bandbreite, sprich sehr unterschiedliche Klone, stellt die Winzer allerdings vor die Qual der Wahl. Immer mehr Erzeuger setzen auf neue burgundische Klo ne wie Dijon 115, 667 oder 777, weil sie sich davon kleinere, locker-beerige Trauben, weiche re, kräftigere, samtige Gerbstoffe und ein volleres Mundgefühl versprechen. Allerdings gibt es auch deutsche Winzer wie Reinhold Schneider aus Endingen am Kaiserstuhl, die dies ab lehnen, weil sie Einheitsbrei fürchten und die Qualität hiesiger Klone schätzen. Sein Spät burgunder aus der Parzelle Schönenberg hat fein eingewobene Gerbstoffe, ist von viriler Kraft, hat durchaus knackige Beerenaromen und ein ganz unverwechselbares Aromaprofil! Die Qualität des Pflanzmaterials – ob Klon oder ungeklonte sogenannte Sélection Massale – ist beim Spätburgunder also in der Tat eine Wissenschaft für sich. Es ist ein Teil des Geheimnisses von großen deutschen Spätburgundern wie dem „Klingenberger“ von Paul Fürst in Franken, dem „Wildenstein“ von Bernhard Huber in Baden, dem wür zig-rauchigen „Assmannshäuser Höllenberg“ mit edlem Cassis-Duft von August Kesseler aus dem Rheingau, dem Oberrotweiler „Eichberg“ von Salwey am Kaiserstuhl, der Pha lanx großartiger Weine von Friedrich Becker, Hansjörg Rebholz und den Knipsers in der Pfalz und dem immens kalibrierten „FR“ von Klaus-Peter Keller aus Flörsheim-Dalsheim in Rheinhessen. Das Feuer brennt trotz nördlicher Kühle. Vielleicht noch einen Tick ungezügelt sinnlicher ist der Frühburgunder, der vor 100 bis 200 Jahren im deutschsprachigen Raum weitverbreitet war. Heute ist er eine rare Spe zialität, die an der Ahr seit Anfang der 1990er-Jahre regelrecht boomt und auch in Rhein hessen, im Rheingau, in der Pfalz und in Teilen von Württemberg und Franken große Er folge feiert. Die Weine sind so extravagant wie verführerisch, erinnern mit ihren Aromen von dunklen Beeren, Schokolade, aber auch Datteln, Feigen und einer Würze aus Tau sendundeiner Nacht an südlichere Gefilde.
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Die ausgesprochen kleinen Beeren reifen etwa zwei Wochen früher aus als die des Spätburgunders, was zu Problemen führen kann. Kein Scherz, die Lese fällt oft in den Jahresurlaub des Winzers. Dabei kann die Traubenfülle wahrhaft mitreißend und majes tätisch sein – die trockenen Auslesen aus dem Dernauer Pfarrwingert vom Weingut Mey er-Näkel von der Ahr und der „R“ aus dem Bürgstadter Centgrafenberg von Paul Fürst in Franken sind großartige Weine. Und den Konsumenten freut’s, dass es bei Eric Manz in Weinolsheim (Rheinhessen) und vom Weingut Sermann-Kreuzberg in Altenahr samtwei che leckere Frühburgunder für kleines Geld gibt. Auch bei Spätburgundern haben wir hierzulande köstliche Weine für kleines Geld. Der einfachste Spätburgunder von Friedrich Becker ist eine Granate, der Erbacher Mi chelmark vom Rheingauer Weingut Jakob Jung für unter 10,- Euro die Flasche erinnert an mit Schokolade überzogene Kirschen, und die akribische Handschrift vom Rotwein-Win zerstar Bernhard Huber aus Malterdingen ist bereits bei den vermeintlich kleinen Spät burgundern zu schmecken. Die besten Weine werden immer puristischer, transparenter, finessenreicher und können als eine Art rotes Pendant zum deutschen Riesling immer selbstbewusster selbst den Vergleich mit den Weinen aus Burgund bestehen.
Am besten wächst Spätburgunder dort, wo es warme, aber nicht zu heiße Tage und kühle Nächte gibt: in Burgund, Oregon, Neuseeland oder Deutschland.
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Grauburgunder Badens Sahneschnitte Vor dem inneren Auge backt im Ofen eine leckere Aprikosentarte mit Mandelkruste. Ganz betörend ist der Geruch von geschmolzener Butter, gerösteten Nüssen, reifen, gel ben Früchten, dann kommt ein Hauch Akazienhonig hinzu. Doch woher kommt auf ein mal der Geruch von frisch gemähter Bergwiese, reifer Butterbirne und Quitte? Halt, der Duft von Brioche, Crème brûlée und Nuss-Sahne-Torte mit Vanille kommt ins Spiel. Einen Geschmack von Exotik geben köstliche Limetten und vollreife Cavaillon-Melonen. Wie können all diese gefühlten Köstlichkeiten in nur einer Rebe stecken? Es ist der Grauburgunder, die prototypische badische Traubensorte für Weißweine, die im Süden des Gebiets ihre höchste Ausdruckskraft erreicht. Dabei geht es um die geschmackliche Vermählung von Frucht mit Schmelz und Kraft. Doch ohne Schwung und präzise Eleganz ist diese Sorte nichts, und daran feilen die Erzeuger besonders. Grauburgunder sollten nun mal etwas auf den Rippen haben, die Muskeln müssen sich jedoch unter dem Fell abzeichnen! Die Ablehnung dessen markiert auch den Anfang der Geschichte des modernen Grauburgunders. Ende der 1970er-Jahre rebellierten Pioniere wie Franz Keller II. vom Schwarzen Adler aus Vogtsburg-Oberbergen gegen die fetten „Ruländer“, die eine ganze Mahlzeit ersetzten, voller Fruchtzucker steckten und den Turboalkohol zündeten. 1979 stand dann auf dem Etikett der Weine vom Kaiserstuhl zum ersten Mal der Name Grau burgunder statt Ruländer und der frische, klare Stil verblüffte, provozierte und begeister te. Dieser moderne Typ war richtig trocken, aber auch geschliffen und belebend, dabei immer noch kräftig und voll. Er war ein Frontalangriff all dessen, was im Zuge der PinotGrigio-Einfachheit aus dieser Sorte herausgequält worden war. Heutzutage ist die Grauburgunder-Welt schillernder denn je. Auch junge Konsu menten schätzen inzwischen die schlanken, trockenen Weine, die nicht so säurebetont wie Riesling sind. Bei den badischen Weingütern Bercher, Freiherr von Gleichenstein,
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Holger Koch, Michel, Claus Schneider, Pix und Hartmut Schlumberger wird dem Wein freund für einen absolut fairen Preis Großartiges geboten – gute Grauburgunder mit be lebender Frucht und von nachhaltiger Frische sind auch für unter 10,- Euro die Flasche zu haben. Meist werden die Trauben etwas früher gelesen, größtenteils im Stahltank ohne biologischen Säureabbau ausgebaut und mit einer kleinen Partie aus dem Holzfass rück verschnitten. Das ergibt genau den richtigen Mix aus Frucht, Frische und Fülle mit de zent rauchigen oder toastigen Noten. Zum Glück gibt es sie inzwischen aber auch, die ganz großen Kaliber, die Benchmarks, die man einmal getrunken haben sollte, um zu begreifen, welche Dimensionen diese Spät burgunder-Mutation annehmen kann. Viele von den in ihrer Reife ausgereizten Weinen werden im Barrique ausgebaut, was wegen ihrer angestammten Fülle und Kraft oft wun derbar gelingt. Man hat das Gefühl, dass die Großen Gewächse von Salwey (Oberrotwei ler Henkenberg) und Bercher (Burkheimer Feuerberg), der „R“ Malterdinger Bienen berg von Bernhard Huber und die Selektion „A“ von Franz Keller Schwarzer Adler nicht nur die Fruchtnoten in einen höheren Energiezustand versetzen, sie sind auch von gera dezu berückender Balance. Sie sind mehr als nur badische Kraftprotze und zeichnen sich aus durch Transparenz, die das Mineral durchscheinen lässt. Alle, die meinen, Graubur gunder sei zu schwerfällig oder gar banal, können ihre Vorurteile getrost zu den Akten legen. Und auch wenn Baden bei der Entwicklung eines zeitgemäßen Stils tonangebend war, so trumpfen inzwischen auch die Winzer anderer Gebiete mit den modernen Prototypen auf. Etwa im rheinhessischen Dittelsheim-Heßloch stehen lokale Klone mit kleinen Bee ren, von großer Intensität und tollem Geschmack, die bei Stefan Winter ganz groß her auskommen. Der Garagenwinzer Alex Koehler aus dem rheinhessischen Alzey-Heimers heim keltert von über 50-jährigen Reben einen nussig-mineralischen Wein, der bei allem Muskelspiel sehnig ist. Der biodynamisch arbeitende Axel Gysler aus Alzey-Weinheim verleiht seinen Grau burgundern ungewöhnliche Vitalität und zeigt, dass die besten deutschen Weine zwar mehr Körper haben als der oft lahm wirkende Pinot Grigio (es handelt sich um diesel be Traubensorte, sie hat jedoch mehrere Namen) aus Italien, dabei aber feiner und fri scher sind. Nur wenige Ortschaften davon entfernt, in Bechtheim, erzeugt Shootingstar Jungwinzer Jochen Dreissigacker ein druckvolles Kraftpaket, das dennoch weit unter 10,Euro die Flasche kostet. Im Glas tut sich eine ganz neue und komplexe Welt aus Düften, Früchten, Kräutern und Sahne auf !
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WeiSSburgunder Burgunder-Wunder In deutschen Anbaugebieten duftet es aufregend nach Wiesenblumen, Kräutern, Linden blüten und Sommer. An den Bäumen hängen Birnen und Äpfel, auch Quitten oder mit unter gar Zitrusfrüchte. Für viele Konsumenten sind oft Weine, die danach schmecken und duften, die wunderbarsten: Es handelt sich um die vermeintlich kleinen Schmacko fatz-Weißburgunder, die wie Samt die Kehle hinuntergleiten, oft nur wenige Euro kosten und schmecken, als befände sich die besagte Landschaft im Glas. Es reicht ihm, denn als Weinfreund will er mit einem guten Tropfen einfach Spaß haben, gesellig sein, Freunde dazu einladen, für sie kochen oder einfach mal zwischen durch etwas Leckeres trinken, das man sich auch bei knapperem Budget durchaus leis ten kann. Und da gibt es hierzulande nun einmal nichts Besseres als den süffigen, pfiffi gen Weißburgunder mit cremigem Körper, feiner Frucht und sanfter Säure. Die Chardonnay-Testphase ist großflächig mehr oder weniger gescheitert, weil diese Sorte hierzulande nur selten zu Hochform aufläuft. Genau das war die Chance für den subtilen Weißburgunder, der zwar als eine der feinsten Rebsorten der Welt gilt – und Er folge in Norditalien, im Elsass und Österreich feiert –, aber lange ein „unterbelichtetes“ Dasein führte. Seine angestammte Hochburg ist die Pfalz, wo er in den kalkreichen südli chen Lagen wie dem Birkweiler Mandelberg von Dr. Wehrheim und dem Kirrweiler Man delberg von Bergdolt in der Tat ein formidabler Klassiker ist: mineralisch, nussig, faszinie rend und spannend, irgendwo zwischen nördlicher Frische und südlicher Wärme. Auch die Weine von Hansjörg Rebholz aus Siebeldingen öffnen eine ganz neue Welt. Im Son nenschein heißt die Lage, die dem geradezu berückend subtilen Weißburgunder ein solch strahlendes Lächeln zeigt, dass sich dieses beim Genießen sofort auf den Trinker über trägt. Riesling-Hype hin, vielbeschworene Riesling-Renaissance her, diese für Weißburgun der typische Kombination von Zartheit und Fülle ist unnachahmlich.
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Richtung 30,- Euro die Flasche kosten diese Spitzengewächse, aber die Pfalz wäre nicht die Pfalz, wenn es nicht ein ganzes Füllhorn an herrlich saftigen Weißburgundern für unter 10,- Euro die Flasche gäbe: originell komponiert, souverän delikat und womög lich Auslöser für Dauerdepressionen bei eingefleischten Bordeaux- oder Burgunder-Trin kern. Bei Faubel in Maikammer steht die Sorte für Leichtigkeit und Charme, auf dem Wil helmshof in Siebeldingen für cremig eingehüllte Mineralität, während der junge Volker Gies die Fruchtigkeit in einen höheren Energiezustand versetzt. Auch in Baden hat man bei den besten Weißburgundern etwa von Salwey, Huber und Seeger das Gefühl, die wunderbare deutsche Landschaft mit all ihren Facetten im Glas zu haben. Auch hier gibt es Ausnahmeweine wie die trockene Auslese mit drei Sternen von Reinhold und Cornelia Schneider aus Endingen, die immens kalibriert, gebündelt und geradezu muskulös ist: Hier darf der Weißburgunder zeigen, wie sehr er vom Holzausbau, in dem Fall sogar neues Barrique, profitiert. Ein Riese von Wein, der langjährige Versu che, aus dem Weißburgunder einen Pseudo-Chardonnay zu machen, geradezu konterka riert: durch kleines Eichenholzfass und Aufrühren der Hefe gelingt ein Wein mit buttri gem Schmelz, der trotz immenser Kraft noch laufen kann. Damit und indem Reinhold Schneider das mangelnde Bemühen um noch hochwer tiges Pflanzmaterial kritisiert, legt er den Finger in die Wunde. Keine Frage, der Weißbur gunder stellt hohe Ansprüche an die Lage, sodass die Ergebnisse von durchschnittlichen Standorten fast immer enttäuschen. An warmen Plätzen und auf tiefgründigen Böden pro fitiert die Mutation des Spätburgunders (Pinot Noir) ungemein von akribischer Weinbergs arbeit, wodurch die Trauben sehr süß und reich an Aromastoffen werden. Selbst bei spä ter Lese hochreifer Trauben schmeckt der daraus gewonnene Wein noch lebendig. Wie beim Grauburgunder sind die Trauben eher klein und kompakt, was grundsätzlich die Gefahr von Fäulnis und bei trockenen Weinen meist die unerwünschte Edelfäule (Botry tis Cinerea) erhöht. Nur beim Chardonnay, einer Zufallskreuzung zwischen Spätburgun der (Pinot Noir) und Heunisch (Gouais Blanc), ist alles anders. Die Chardonnay-Rebe ist viel winterfester und von stärkerem Wuchs, und ihre Trau ben sind reicher an Weinsäure. Sie ist das weiße Pendant zum Global Player Cabernet Sauvignon und hat, wie schon gesagt, auch in Deutschland Zwischenstation gemacht. Die Spitzenweine aus ihrer burgundischen Heimat, die Montrachet Grands Crus, tragen oft dreistellige Europreise, sind häufig überteuert, aber bestenfalls Weine von großartigem Aromareichtum und geschmeidiger Eleganz. Die Hitze- und Trockenresistenz des Char donnays verleihen der Rebe eine enorme Anpassungsfähigkeit, was den Anbau dieser Sorte in zahlreichen Ländern auf Planet-Wine ermöglicht, was wiederum zu Unmengen
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banaler Weine geführt hat. Indes feilen die besten deutschen Winzer, ähnlich wie beim Spätburgunder, unbeirrt an einem Weg zwischen zwei angestammten Varianten: einer frischen, fruchtigen und ohne biologischen Säureabbau aus dem Stahltank und einer schweren, reichen, cremigen und üppigen mit deutlichen Noten von Toast, Vanille und Rauch aus dem Eichenholzfass. Karl-Hermann Milch heißt der Winzer, der im rheinhessischen Monsheim seinen Chardonnays eine unvergleichliche Traubigkeit verleiht – das Holz stützt nur die Reife der Frucht. „Blauarsch“ hat er seinen gewagt eigenwilligen Spitzenwein genannt, der auf der Nadelspitze tanzt. Der „Valentin“ hingegen dürfte angesichts seiner Qualität für den schier unglaublichen Preis von knapp 5,- Euro die Flasche jedem Chablis-Fan die Tränen in die Augen treiben. Dieser deutsche Beitrag zur Globalisierung ist weder ein Monster wein, noch hat er was von Fruchtzwerg! Es gibt sie hierzulande durchaus, die eleganten, zartbuttrigen Top-Chardonnays von Rebholz, Huber und Wittmann, die nicht ins Fette abgleiten und einen mit ihrer minera lischen Kraft packen. Und beim Weißburgunder leisten auch andere Anbaugebiete ihren Beitrag zum Burgunder-Wunder: Luxuriöse Alltagsweine mit filigranen Fruchttönen und Schmelz der Extraklasse gibt es in Rheinhessen (Wittmann, Sander, Riffel), an der Nahe (Diel, Lindenhof-Martin Reimann) und in Franken (Fürst sowie Zehnthof). Karibik-Fee ling und regelrechtes Bounty-Flair verströmt der nach Kokosnuss duftende „Einzigacker“ von Jochen Dreissigacker aus Bechtheim. Und auch an Saale-Unstrut gibt es etwa bei den Gütern Pawis, Gussek und Klaus Böhme das wunderbare Paradoxon von Finesse und Kraft.
Die subtile Weißburgunder-Traube gilt als eine der feinsten Rebsorten der Welt.
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Müller-Thurgau Des Müllers Lust Wie schmeckt das Salz der Erde? Wenn man im Taubertal die atemberaubenden Steil hänge hinaufblickt, kann man sich vorstellen, was für eine Plackerei die Weinbergsarbeit dort sein muss: kaum Halt unter den Füßen, rutschiges Geröll und zwischen den Kalk brocken immer wieder versteinerte Muscheln. Ein unwirtliches Areal, aber dennoch ist es eine spektakuläre Lage, ein grandioses Terrain für einen Wein, der glattweg als Sau vignon Blanc aus Übersee für 15,- Euro die Flasche durchgehen kann: Der Geschmack von Wiesenblumen, Kräutern, goldenen Äpfeln, Steinobst und eine fein ziselierte Säure, an die pikante Mineralien eng gebunden sind. All das zwitschert förmlich beim Genuss dieses Tropfens im Glas und ist von zartem Schmelz umhüllt. Jeder Schluck fühlt sich an, als beiße man in saftiges Fruchtfleisch. Appetit bekommen? Die strahlende Frische und das originäre Duft- und Geschmacksprofil des Weins gehen allein auf die Rebe zurück, die wahrscheinlich mega-out ist: Müller-Thurgau. Kein Wunder, gilt „der Müller“ doch gemeinhin als problemloser Masseträger, der früh reift und auch auf so manchem ehemaligen Rüben- oder Kartoffelacker gedeihen kann. Bei der Ausweitung der Rebflächen in den vergangenen Jahren konnte deshalb auch so man che minderwertige Lage mit dieser ertragreichen Sorte bepflanzt werden. Zudem endete ein Großteil des Ertrags der 1882 von Hermann Müller an der Weinbauforschungs anstalt Geisenheim gezüchteten Rebe in Deutschlands einstigem Exporthit, der pappsüßen Liebfrauenmilch. So wurde und wird eine große Menge Müller-Thurgau minderer Qualität zu Schleuderpreisen verramscht. Da hilft auch kein wohlklingender Name wie Rivaner, um besser wegzukommen. Dabei lassen sich so manche Weinfreunde durchaus von einem fruchtbetonten, spritzigen Müller-Thurgau überzeugen. Denn Winzer, die die Ertragsmenge kontrollieren und diese akribisch vinifizieren, keltern einen ganz herr lichen Sommerwein und Essensbegleiter. Und von diesen Erzeugern gibt es immer mehr.
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So helfen seit 1996 die fränkischen Winzer von Frank & Frei dem Müller auf die Sprünge, der mit dem überholten, teils penetrant an Muskat, dropsige Erdbeere oder überreife Banane erinnernden Geschmacksbild nun rein gar nichts mehr zu tun hat. Ungewöhnlich gehaltvoll schmeckt der im großen Holzfass vergorene Wein von 20- bis 35-jährigen Reben vom fränkischen Zehnthof Luckert in Sulzfeld: Der dortige Cyriakus berg ist nichts für Etikettentrinker, aber mit seinen reifen gelben Fruchtaromen, seiner dezenten Fülle und sanften Frische ist er genau das Richtige für weltoffene Genießer, die auf Weine mit Profil stehen. Auch rund um den Bodensee zeichnet sich solch ein Um schwung ab. In Norditalien und in der Schweiz gibt es sogar schon richtige Müller-Stars! Zum Glück beginnt der Müller-Thurgau wieder zu strahlen. Etwa beim Solitär vom jungen Christian Stahl aus Auernhofen. Ihm ist es im fränkischen Teil des Taubertals ge lungen, einen der charaktervollsten Müller-Thurgau-Weine Deutschlands zu erzeugen: Der „Hasennest“ wird quasi am Stock konzentriert und bietet ein Spiel aus Frucht und Mineral. Und tatsächlich: So schmeckt das Salz der Erde!
Silvaner Kopfsache Wahrer Weingenuss entsteht zuerst im Kopf, und der verlangt, dass man offen an eine Sache herangeht und sich nicht hinter einem Panzer aus Vorurteilen verschanzt. Ein für alle Mal: Riesling ist wertvoll, wichtig und kann strahlen wie ein explodierender Stern. Aber: Silvaner kann und ist das auch! Er ist vielleicht nicht ganz so filigran und weniger über die Säure definiert wie sein Konkurrent, dafür aber etwas geschmeidiger, satter und voller verkannter Facetten. Er kann lebendig, schwungvoll und erfrischend ausfallen, aber
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auch cremig und hoch konzentriert. Manche modernen Silvaner sind wahrhaft sensati onell, wie der „Siefersheimer“ von Daniel Wagner in Rheinhessen oder der „Edelstahl“ vom Winzerhof Stahl in Franken. Sie bieten fast das beste Preis-Genuss-Verhältnis in ganz Deutschland! Wer subtilen Charakter, Terroir, Ausdruck, Kraft und Tiefe sucht, sollte Unikate wie „Vom langen Sterk“ von Michael Teschke oder die Weine aus dem Escherndorfer Lump von Horst Sauer einem Bodycheck unterziehen. Diese strahlenden Weine haben nicht nur einen vollen Geschmack und üppigen Körper dank enormer Traubenreife, sondern be sitzen auch besondere Fruchtaromen und eine funkelnde Frische. Ein Geheimtipp sind die trockenen Kabinettstücke vom Weinhaus Joachim Heger am Kaiserstuhl: Sie sind hei ter, hell, bekömmlich, glockenklar und kernig-frisch. Ganz anders die immens kalibrierten Silvaner von Keuperböden des Steigerwalds in Franken wie der berühmte Iphöfer Julius-Echter-Berg vom Juliusspital, Johann Ruck und Wirsching: Mächtig- und Langlebigkeit und ein furioser Geschmack, aber dezente Kräu ternote. Auch diese Weine zeigen, dass Silvaner groß und eigenständig sein kann, und die Liste der Weine ließe sich allein in Franken, der qualitativ bedeutsamsten Silvaner-Region, fast beliebig fortsetzen: der famose kräuterwürzige „Asphodill“ von Fürst Löwenstein aus dem Homburger Kallmuth, die eleganten Prachtweine aus dem Casteller Schlossberg, die brillanten Edelsüßen von Horst Sauer aus dem Escherndorfer Lump. Das sind Ikonen des Frankenweins und einer verkannten Rebsorte, die akribische Weinbergspflege braucht. 2009 feierte man in Deutschland ein Jubiläum – 350 Jahre Silvaner, denn am 6. April 1659 fand die erste urkundlich belegte Pflanzung der Sorte in Castell statt. Die recht spät reifende Traube kann ziemlich groß ausfallen und hat Beeren, die so groß wie die einer Plastiktraube sein können. Aber eine Reduzierung der Anzahl und Größe der Trauben führt zu einer sehr deutlichen Steigerung der Qualität. Während Reben mit einem nicht reduzierten Ertrag meist Weine mit Noten wie grüner Apfel, Quitte und Zitrone ergeben, führt die höhere Reife, die durch Ertragsreduzierung zustande kommt, zu üppigen Aro men wie Mango, Orange und Honig. Wächst die Sorte auf Muschelkalkboden, werden die exotischen Fruchtaromen betont, und man meint, sich in den Tropen zu befinden, etwa bei den besten Weinen von Divino Nordheim und Winzer Sommerach. Der Silvaner „Alte Reben“ vom Weingut Max Müller I in Volkach beweist, dass Silva ner so fruchtbetont und belebend sein kann wie Riesling, während der „L“ von Horst Sau er im fränkischen Escherndorf burgundische Tiefe zeigt. Kultstatus hat inzwischen der „S“ von Jürgen Hofmann aus Appenheim/Rheinhessen, inzwischen gar sein wichtigster ImageWein. Überhaupt outen sich immer mehr junge Winzer, insbesondere in Rheinhessen, als
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wahre Silvaner-Seelen. Der Lagensilvaner Krähberg von Axel Koehler (Winzerhof Koeh ler, Alzey) ist ein echtes Unikat, während der „S“ von Johannes Geil Bierschenk (Weingut Oekonomierat Johann Geil I. Erben, Bechtheim) ein ganzes Meer an Aromen von Wei ßen Johannisbeeren verströmt. Die führenden Winzer Deutschlands sind gerade dabei, das wiederzuentdecken, was in dieser so lange für banal und minderwertig gehaltenen Traubensorte steckt. Sicher lich bringen die nächsten Jahre viele neue Entdeckungen, auch zu günstigen Preisen. Der fruchtbetonte, saftige „Jungen Frank’n“ für etwa 3,50 Euro die Flasche aufwärts aus dem Supermarktregal zeigt, dass Silvaner nicht nur beeindruckende exklusive Tropfen ergibt.
Dornfelder Raus aus dem Tintenfass Dumpfbacke Dornfelder! Die Rübe unter den roten Reben! Warnung vor dem lila Wein aus dem Tintenfass! So oder so ähnlich klingen die Parolen von vielen Weinkritikern, die sich vornehmlich der Königin (Riesling) oder dem König (Spätburgunder) unter den Weinen widmen. Für sie ist Dornfelder der Schwarze Peter, aber der ganz normale Kon sument trinkt ihn ganz gern, weil dieser – kommt er von einem guten Erzeuger – all das bietet, was man sich von einem ansprechenden Rotwein für den Alltag erwartet: dunkle Farbe, sattes Kirscharoma, kräftiger Körper. Wenn man viel Glück hat, kommt ein leich ter Geschmack von Vanille oder Kokos vom Holz dazu. Dann hat man einen richtig gu ten Dornfelder, der nicht säuerlich oder kantig wirkt. Wer jedoch bereit ist, nur ein paar Euro mehr auszugeben, kann für verhältnismä ßig immer noch kleines Geld erfahren, was Veredelung ist: Für Aufsteigerin Eva Vollmer
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aus Mainz ist Dornfelder ein Premiumwein, der bei ihr auch so schmeckt. Noten von ge trockneten Pflaumen, molliger Wildkirsche und zarter Vanilleschote verwundern jeden durch Vorurteile geblendeten Zweifler. Ein Volltreffer ist auch der Dornfelder Barrique vom Weingut Karl Haidle in Württemberg, und Wolfgang Hehle vom Deutzerhof in May schoß/Ahr konterkariert mit seinem Dornfelder souverän jeglichen Sortenfetischismus: raus aus der Statistenrolle, mit einer faszinierenden Aroma-Liaison aus dunklen Früch ten und Kräutertee. Distinguiert, fordernd, langlebig. Wer dann noch den Dornfelder „Flur 1 Nr. 361“ von Gutzler probiert, wird kaum glau ben können, was man aus dieser Sorte alles machen kann. Konzentration, satte Frucht und Gerbstoffe verlangen nach einem großen Glas. Kaum jemand würde annehmen, dass das Dornfelder ist. Aber genau das ist die Crux: Was soll man schon über eine Sorte schreiben, wenn selbst Spitzenwinzer ihre besten Kreationen damit loben, dass der Wein ja gar nicht wie ein Dornfelder schmeckt? Ein für alle Mal: Dornfelder ist eine Winzersorte! Die Trauben sind riesig und kön nen locker zweimal so viel wiegen wie eine große Rieslingtraube. Sehr bescheiden mit der Traubenmenge muss der Winzer sein, und sehr gesund muss er das Reblaub halten, wenn die Trauben ein Mostgewicht von über 80 Grad Oechsle erreichen sollen, das ab solute Minimum für reife Rieslingtrauben! Auch eine schöne Cassis- und Süßkirschnote sowie einen gewissen Schliff bekommt er aber nur über moderate Erträge und ein akri bisches Laubwand-Management. Daher bekommt man guten Dornfelder nur bei guten Winzern. So einfach ist das. Sonst schmeckt der Wein ruppig und scharf, was oft mit zu gesetzter Süße kaschiert wird. Vielleicht stammen die Vorurteile aber auch nur daher, dass diese früh reifende und auf Farbintensität hin selektierte Sorte ursprünglich nur sogenannter Deckrotwein sein bzw. als Verschnittpartner farbschwache Rotweine aufmotzen sollte. Das war der Rotwein geist der 1970er- und 1980er-Jahre. Heute ist Dornfelder ein geschätzter Teil von erfolg reichen Rotwein-Cuvees wie dem „Dreiklang“ von Jürgen Hofmann (Rheinhessen). Damals hätte wohl niemand einen Pfifferling darauf gegeben, dass der robuste Dorn felder als sortenreiner Wein einmal richtig Karriere machen würde. Und tatsächlich dau erte es einige Jahre, bis man das Potenzial erkannte – und nutzte. Die einen keltern ihn mit betont saftigen und intensiven Fruchtaromen von Sauer- oder Süßkirsche, Brombee re und Holunder und bringen ihn jung als eine Art Primeurwein auf den Markt. Die an deren setzen mehr auf Gerbstoff, Schliff und Tiefe: Sie bauen die Sorte im großen oder kleinen Holzfass aus. Der Dornfelder-Boom in puncto Menge ist vorbei, aber die stilisti sche Vielfalt nimmt weiter zu.
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Regent „Piwi“ power Ein Wein, der Feuer hat und tief von innen glüht. Etwa ein Roter vom badischen Vulkan gestein? Nein, das muss ein Wein aus dem Süden sein! Mindestens aus dem Languedoc, vielleicht sogar aus Australien. Das verrät schon die Farbe: tiefrot, fast schwarz, so dunkel, dass man nicht hindurchschauen kann. Dann die samtigen Gerbstoffe, die sanfte Fruch tigkeit, die Röstaromen, die virile Kraft und Würze. Unsere Blindprobe erinnert wieder mal an einen dunklen Bühnenraum, der nun von einem Spot erleuchtet wird. Wir decken die Flasche auf und staunen: Der Schauspie ler hat seine Sache prima gemacht und ist salonfähig. Ein gut gebauter Typ, der gerne die Muskeln spielen lässt. Und davon hat er jede Menge. Seine Bewegungen sind jedoch präzise. Er heißt Regent. Diese Erfolgsgeschichte wurzelt Mitte des 19. Jahrhunderts, als man zwei für den Weinbau ziemlich fatale Pilzkrankheiten von Amerika nach Europa einschleppte: den echten Mehltau (Oidium) und den falschen Mehltau (Peronospora). Beide befallen Blät ter und Trauben. Das war ein Desaster, das weitaus weniger bekannt ist als die zur selben Zeit herrschende Reblausplage. Der Reblaus wurde man schließlich durch einen einfachen Kniff Herr. Man pfropf te die europäischen Reben fortan auf resistente amerikanische Unterlagen. Beim Mehl tau und beim falschen Mehltau sah die Sache schon schwieriger aus. Hier setzte man an fangs auf Schwefel- (Mehltau) und Kupferpräparate (falscher Mehltau), die später durch chemisch-synthetische Fungizide ergänzt wurden. Wirkungsvoll, aber nicht unumstritten. Ökowinzer lehnen sie ab und halten fest an Kupfer und Schwefel. Alternativ begann man schon vor über 100 Jahren, neue Sorten kontinentübergreifend zu züchten. Gene von amerikanischen Reben sollten den europäischen Sorten eine Wi derstandsfähigkeit gegenüber diesen Pilzen stiften. Allerdings waren die Ersten dieser
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Hybriden geschmacklich umstritten. Regent ist der Erste, für den in Deutschland eine Zulassung zur kommerziellen Weinerzeugung erteilt wurde und der sich rasch durchge setzt hat. Dieser Neuzüchtung wird seitens des Deutschen Weininstituts sogar eine „rosige Zukunft“ vorhergesagt. Mittlerweile weitet sich die Rebfläche zunehmend aus, und immer mehr Winzer wie beispielsweise Stella und Matthias Höfflin vom ökologisch arbeitenden Schambachhof in Bötzingen (Baden) setzen auf Regent mit seinen kräftigen Noten von Kirsche, schwar zen Beeren und Cassis. Raus mit der Vesperplatte, ran an das stundenlang Geschmorte oder den Ochsenschwanz! Dank der frühen Reife, den überdurchschnittlich hohen Mostgewichten und der ho hen Widerstandskraft gegenüber Winterfrost passt die Sorte gut in das sogenannte Cool Climate – zumal der Säuregehalt eher niedrig ist, was das volle, samtig-weiche Gefühl im Mund noch verstärkt. Problematisch war anfangs allerdings die Tendenz vieler Winzer, wie beim Dornfelder einen zu hohen Ertrag zu erzeugen, was zu kitschigen, unharmoni schen Weinen führte. Wenn man jedoch bereits den einfachen trockenen Regent zum günstigen Kurs beim Weingut Benderhof in Kallstadt probiert hat, ist man von solch einem festgeschnürten Fruchtpaket auf das Angenehmste überrascht. Und beim „S“ aus dem Barrique ist das Er staunen noch größer. Hier kommen sogar exotische Aromen mit ins Spiel. Das schmeckt fast so, als würde die Deutsche Weinstraße von der nördlichen Pfalz aus mitten ins aust ralische Outback führen. Doch auch zahlreiche neue, mindestens ebenso interessante „Piwis“, das gebräuch liche Kürzel für pilzwiderstandsfähige Traubensorten, werden uns künftig wohl mit span nenden Weinen überraschen. Vielversprechend sind etwa die beiden sehr früh reifenden Züchtungen Cabertin und Pinotin des Schweizer Züchters Valentin Blattner von Anfang der 1990er-Jahre. Der Cabertin (Cabernet Sauvignon gekreuzt mit dem Resistenzpartner) schmeckt nach leckeren Waldfrüchten, Brombeeren und Cassis und erinnert durchaus an Syrah und Cabernet Sauvignon, während Pinotin (Blauer Spätburgunder gekreuzt mit dem Resistenzpartner) sanft und mild daherkommt und ein typisches Aroma von schwar zen Kirschen entfaltet. Der Cabernet Blanc (eine Kreuzung von einer weißen Cabernet Sauvignon Rebe und dem Resistenzpartner) ist Blattners dritte Wunderrebe im Bund dank seines Dufts nach Maracuja und Stachelbeeren sowie seiner frischen, eleganten Art. Für manche Win zer ist er ähnlich wie Sauvignon Blanc aber noch interessanter. Die Spielregeln ändern sich!
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Kerner Kerniger Wandel Winzer mögen sie, denn sie reift praktisch überall bei gleichmäßig guten Erträgen aus. Schoppenschlotzer mögen sie auch, denn ihre Frucht kann der des Rieslings ähneln, bei weicher Säure mit ihrer weinigen Art. Findige Marketingstrategen hingegen verschmä hen sie total. Kein Wunder, diese Sorte ist eine Quelle für pappsüße Liebfrauenmilch und andere günstige Massenweine. So steht auf dem Etikett der erfolgreichsten deutschen Weinkreation nicht einmal der Name der Rebe: Justinus K. prangt dort drauf, von Kerner keine Spur. Welch krasser Gegensatz zu den banalen dünnen, süßlichen Wässerchen, die mit ihrer berüchtigten Eis bonbon-Kühle den Gaumen förmlich penetrieren. Und doch gab es in den letzten Jahren eine heimliche, stille und sehr leise Revolution, ja eine Renaissance dieser Sorte, die etwa in Südtirol ebenso wie in Sachsen oder Württemberg das Zeug zum Star hat. Vor dem inneren Auge leuchten saftige Schwarze Johannisbeeren im Garten, voll reife Birnen und Aprikosen satt hängen an den Bäumen, und auf dem Boden protzen Melonen – willkommen im Reich des Kerners, der so ganz andere Ausmaße hat, als man es gemeinhin glaubt. 1929 kreuzte die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Weinsberg erfolgreich rötlichen Trollinger mit Riesling. Seit 2000 widmet man sich dort verstärkt der dramatischen Erneuerung einer Sorte, deren Name auf den Weinsberger Dichter Justinus Kerner (1786-1862) zurückgeht. Dramatische Erneuerung heißt hier: Profil schärfen mit ausgeprägtem Sortenaroma, hoher Geschmacksfülle und einer reifen, wachen, gut eingebundenen Säure. Für einen neuartigen, modernen Kerner darf der Winzer die spät reifende Sorte nicht zu früh lesen, die Ertragsmenge muss reduziert werden und das Lesegut gesund sein. Ein daraus resultie render höherer Alkoholgehalt wird bewusst in Kauf genommen, denn eines ist Fakt: Die Vorlieben haben sich grundlegend geändert. Passé sind die Zeiten dicker, fetter, pappsü ßer Spätlesen von einst, die zudem noch firn sind und nach Botrytis schmeckten. Frische,
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fruchtige Weine mit ausgeprägtem Sortenaroma und Profil sind hingegen die Renner. Zu dem ist die Sorte eine Gewinnerin der globalen Erwärmung. Denn in den letzten Jahren konnten immer mehr Mostgewichte um oder sogar über 100 Grad Oechsle erreicht wer den, was im fertigen Wein zu einem Alkoholgehalt Richtung 14 Prozent führt. Manchmal ist es zu viel des Guten, aber manchmal schmeckt es ziemlich genial. Der Wandel geht aber noch sehr viel weiter, nämlich von süß zu trocken. Bei moder nen Prototypen schiebt lediglich eine geringe, sogenannte dienende Restsüße die Frucht noch weiter in den Vordergrund, ein guter Extrakt sorgt für nachhaltige Länge, und eine reife, stabile Weinsäure gibt Frische. Etwa der Kerner vom Weingut Klaus Zimmerling in Sachsen, wo es eine lokale Tradition für den trockenen Ausbau gibt, umhüllt und emp fängt einen geradezu mit seinem unverschämt leckeren Wohlgeschmack. Im Nachklang hinterlässt er gar eine leichte pikant-salzige Spur. Man staunt einfach und ist perplex über diese Entwicklung, die an die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling, der zu wah rer Farbenpracht erblüht, erinnert.
Bacchus Schluck ins Fruchtfleisch Tatsächlich gab es in der Vergangenheit unselige Bacchusweine en masse, die alle Vorur teile zu bestätigen schienen. Plump, parfümiert und vorlaut, zudem säurearm und pene trant im Geschmack. So hat kaum jemand wirklich einmal guten Bacchus getrunken, zu mal sich die meisten Weinjournalisten heutzutage vornehmlich für „edle“ Traubensorten wie Riesling und Spätburgunder interessieren und nur wenige wirklich kreative Winzer wie André Landgraf oder Christian Peth aus Rheinhessen es wagen, Bacchus ernst zu nehmen
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und sortenrein auszubauen. So heißt es dann nach wie vor allzu schnell: Bacchus riecht nach puffigem Aftershave, ist billig und aufdringlich. Dieses hartnäckige Vorurteil wird dem guten, leichten, frischen und supersaftigen Sommercocktail aus den Händen krea tiver Weinmacher schon lange nicht mehr gerecht. Hinzu kommen noch die anderen Ty pen aus kühleren Ecken, die früh gelesen und modern vinifiziert werden – leckere kleine Brüder vom Sauvignon Blanc, die ihre Fruchtigkeit noch weiter in den Himmel wachsen lassen und einen echten Schuss Lebensfreude mitten ins Herz spendieren! André Landgraf etwa keltert einen strahlenden trockenen Wein mit Aromareflexen wie die vollreifer Birne, Mandarine und Ananas. Unbedingt jung schlucken, denn Bac chus ist ein Wein für den Sommer! „Le mystère doux“ heißt das edelsüße Pendant von Christian Peth aus Bermersheim/Rheinhessen: reduzierter Anschnitt, durch Botrytis qua si am Stock konzentriert, exotisch duftend, ungewöhnlich lebhaft, erquickende Kraft. Der Name voller Ironie und treffsicherer Seitenhiebe. Denn Bacchus kann edelsüß durchaus brillant sein! In Franken erlebt die Sorte sogar eine kleine Renaissance. Die damit bepflanzte Fläche macht rund ein Drittel der insgesamt etwa 2.000 Hektar aus, die Nachfrage steigt, und renommierte Betriebe wie das Juliusspital und der Staatliche Hofkeller machen et was aus dieser Rebsorte, die auch ein idealer Cuvee-Partner ist. Und auf den Muschelkalk böden des Taubertals, wie beim Winzerhof Stahl im fränkischen Auernhofen, bekommt Bacchus sogar einen gewissen mineralischen Pfiff. Genau das ist der Punkt: Wir Konsumenten möchten, dass die rundum entspannten, delikaten Weine die richtigen Fruchtaromen haben, dass sie nach den kleinen, leicht kan dierten, feinen Früchten schmecken. Köstlich als Aperitif, zur Vorspeise, zur Terrine oder auch solo auf der Terrasse. Und das ist es, was astreiner Bacchus letztlich ist: ein fröhlicher Landwein voller Quitten-, Birnen- und Zitrusfruchtaroma, der würzig, animierend und schlank ist und dem ein kühler Hauch Sommerfrische und federleichte Fruchtigkeit an haftet. Der daherkommt mit einem traubigen Geschmack, so als wenn man gerade in eine frische, supersaftige Weintraube beißt. Aber göttlich ist der Bacchus nun wirklich nicht!
Und das ist es, was astreiner Bacchus letztlich ist: ein fröhlicher Landwein voller Quitten-, Birnen- und Zitrusfruchtaroma.
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Trollinger Von wegen drollig Vor Jahren war der Trollinger eigentlich schon verscharrt, jetzt fährt er quasi wieder aus der Gruft. Früher wirkten die Weine farbschwach, müde, sauer, ihr Körper dünn, fade, ausgezehrt. Statt saftiger Frucht schmeckte man meist nur einen Bittermandelton, der aus den Kernen herrührt. Zudem blockierten die Reben dieser Sorte manche der allerbesten Lagen und verhinderten somit indirekt die Gewinnung hochklassiger Wein aus edleren Sorten. Nur die Schwaben schlotzten tagaus, tagein brav und tapfer ihr Nationalgetränk. Selbst wenn es von schlechten Eltern war. Heute ist der Markt für leichte, delikate Rote gewachsen, und schlanke, elegante Weine liegen voll im Trend. Genau das ist die Chance des lange falsch behandelten Trol lingers: geschmackliche Fülle bei moderatem Alkoholgehalt und lebendiger, säuerlicher Frische. Als spannender Steillagenwein vom Weingut Jürgen Zipf in Löwenstein konter kariert er die fadenscheinigen „Sicherheitslösungen“ aus dem Massenweinanbau und er weckt damit den (zum Glück nur) vermeintlich aussichtslos kränkelnden Trollinger zu neuem Leben. Heiterer Blütenduft, köstliche Kräuterwürze, ein Anflug von Bergfrische, leichtfüßige Frucht von Sauerkirschen und Schlehen – wo bitte sind die hausgemachten Schupfnudeln, Maultaschen und Käsespätzle? Wer die Wiederbelebung des Trollingers verstehen möchte, sollte einen Blick über den Alpenrand riskieren. In Südtirol heißt die Rebe Vernatsch, und auch dort starten die Win zer durch. Sie setzen auf Ertragsbeschränkung, hochwertige Spielarten wie Tschaggeleund Kleinvernatsch und keltern wie Elena Walch eigenständige, saubere Weine mit sanf tem Kirscharoma, die in den Jausenstationen immer beliebter werden. Aus Vernatsch entstehen auch so berühmte Weine wie der „Sankt Magdalener“. Die Tropfen vom Ansitz Waldgries etwa animieren durch eine feine Note von Erdbeerkonfitüre, frisch gepflück ten Himbeeren, Mandeln und Veilchen.
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Diese Heiterkeit steckt an, und vom Trollinger als Namenspate zum „Tirolinger“ war es nicht weit. Indes leitet sich das italienische Synonym Schiava wohl vom lateinischen sla va ab und weist vermutlich auf einen slawischen Ursprung der Rebe hin. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts jedenfalls ist die Sorte, die im Mittelalter unter der Bezeichnung „Ge schlafene“ (Mittelhochdeutsch Slava) im deutschsprachigen Weinraum bekannt war, in Württemberg heimisch. Trotz des Erfolgs verabschieden sich noch immer viele Winzer von dieser Sorte, weil nur eine drastische Ertragsreduzierung zu mehr Farbe und Gerb stoffen führt. Genau das aber macht die ehrgeizige neue Winzergeneration in Württem berg, was großen Anklang findet. Gelingt dies, macht sich ein entspanntes, fröhliches, völlig entschleunigtes Gaumen gefühl von Schlehe, Sauerkirsche, Kräutern, Wiesenblumen oder Veilchen bemerkbar. Ein wenig kühler genossen, zeigt sich so die heitere Seite von Württemberg, wo sich sanfte Bodenständigkeit im Hightech-Ländle ausbreitet. Und der Trollinger schafft den Spagat zwischen hiesiger Gourmetküche und urigen Weinstuben, wo seit scheinbar ewigen Zei ten das Viertele geschlotzt wird. Kein Wunder, widmet sich doch inzwischen das Who is Who der württembergischen Winzerszene der Erneuerung des Nationalgetränks als Ba sis des Weinsortiments. Das ist eine kleine Revolution! Jochen Beurer keltert durchgegorenen, konzentrierten Trollinger ohne Maischeer hitzung, die oft zu einer marmeladigen Note führt. Der nach orientalischer Tausendund einer Nacht duftende Muskat-Trollinger von Rotweinpionier Michael Graf Adelmann ist ein echtes Unikat: Gewürzbasar pur, mit Wacholder, Kardamom und Pfeffer. Tausendsassa Gerhard Aldinger hingegen verschneidet erfolgreich Trollinger mit Lemberger, der Ers terem Fülle und Kraft gibt. Nur wenige Straßen davon entfernt in der Pendlerstadt Fell bach erzeugt Rainer Schnaitmann ungewöhnlich kräftige Trollinger, die vom Eichenfass wach geküsst wurden. Wer diese Weine probiert, mag dann doch glauben, dass Trollinger ein waschechter Rotwein ist. Sogar mehr als das: schwäbische Heimatliebe in flüssiger Form.
Wer die Wiederbelebung des Trollingers verstehen möchte, sollte einen Blick über den Alpenrand riskieren.
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Gutedel Sexy statt neutral Eigentlich ist viel mehr beim Gutedel möglich, als allgemein angenommen wird. Vom einfachen, süffigen Zechwein bis zum komplexeren Tropfen von Top-Lagen. Ihr Ruf, ein flüssiger Bestandteil eines kitschigen Lokalkolorits des Markgräflerlands in Baden zu sein, steht dieser Urtraube im Weg. Und doch heißt es meistens: Der besondere Reiz liegt in seinem geschmacksneutralen Charakter! Daran erkennt man, wie wenig die Weine die ser Traubensorte von der Winzerschaft und den Konsumenten ernst genommen wurden. Anonymität wird ihnen seit Langem zugeschrieben. Wo alle Welt und vor allem junge Weintrinker Duft, Aroma und durchaus auch Kom plexität zu einem erschwinglichen Preis suchen, hat eine der ältesten Kulturreben bei uns ganz schlechte Karten. Über ihre Ursprünge ist man sich nicht im Klaren. Viele vermuten, dass sie bereits vor rund 5.000 Jahren in Ägypten angebaut wurde, andere vermuten ihre Herkunft im Tal des Jordans innerhalb der Region des heutigen Palästinas. Erstmalig in Westeuropa soll die Sorte im 16. Jahrhundert im Ort Chasselas, südwestlich von Mâcon/ Frankreich, angebaut worden sein – was eine Erklärung für das bis heute vor allem im Elsass und in der französischsprachigen Schweiz gängige Synonym Chasselas (im Wallis spricht man hingegen vom Fendant) sein könnte. Fakt ist jedenfalls: Chasselas ist die am meisten angebaute Traubensorte in der Schweiz. Dort wird seit ein paar Jahrzehnten im mer häufiger bewiesen, dass sie bei Ertragsreduktion und sorgfältiger Kellerarbeit sehr wohl zu Größerem fähig ist. Ein von Kalk- und Granitböden gewonnener mineralischer Ausdruck und eine feinnervige, fruchtige Aromatik, auch Noten von frischen Mandeln, weißen Blüten und Blütenhonig heben die Weine aus ihrer Anonymität. Aber auch dann behalten sie ihre charakteristisch milde Art und ihren mäßigen Alkoholgehalt. Klingt das nicht wunderbar? In Deutschland heißt der Chasselas hingegen Gutedel und wird fast ausschließlich im Markgräfler Land, im südlichen Zipfel von Baden, angebaut. Hier hat er, vor allem in der
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älteren Generation, treue Anhänger, die tagein, tagaus ihren Gutedel genießen. Warum auch nicht? Andere bezeichnen sie eher abfällig als Flachweintrinker, nur weil sie das ver meintlich Belanglose dieses Schoppens grundsätzlich ablehnen. Nun stellt sich die Gret chenfrage: Ist diese Traubensorte auch in Deutschland zu mehr fähig? Hat sie nicht in der Vergangenheit auch ganz andere Weine als die noch üblichen Zechweine hergegeben? Um 1780 brachte Markgraf Karl-Friedrich von Baden die Gutedelrebe vom schwei zerischen Vevey am Genfer See ins badische Markgräfler Land. Dort glänzte er vor rund hundert Jahren durch seine besondere Eigenart und war als vorzüglicher Tischwein ge schätzt, der seine besondere Qualität – die Verfeinerung von Geschmack und Bouquet – während der mehrjährigen Reife entwickeln konnte. Dies steht in krassem Kontrast zum heutigen Ruf des Gutedels. Wer das nicht glauben mag, sollte mal die besten Gutedel von Hanspeter Ziereisen aus Efringen-Kirchen probieren. Er stellt den Gutedel gar in das Zentrum seines „Weiß weinschaffens“ und interpretiert ironischerweise eine fast vergessene Tradition neu: An bau in den besten Anlagen mit starker Ertragsreduktion, „altmodischer“ Ausbau im Holz fass ohne Zusatz von gezüchteten Hefen. Das Ergebnis fasziniert und überrascht: Der „Steingrüble“ von alten Anlagen transzendiert die Möglichkeiten dieser Sorte – bei abso lut bekömmlichem Alkoholgehalt. Hat hier das Markgräfler Land auch einiges in puncto Rebmaterial verschlafen? Denn wenn die Oma – Glückwunsch, sie ist 101 Jahre alt gewor den(!) – am Mittagstisch mit leuchtenden Augen davon erzählt, wie die kleineren, dick schaligeren Beeren früher schmeckten, dann glaubt man ihr aufs Wort, dass Gutedel auch hierzulande gut und edel sein kann – und vielleicht noch immer völlig unterschätzt ist. Dabei ist gegen einen leckeren Zechwein absolut nichts einzuwenden. Vor allem dann nicht, wenn er erfrischend und leicht bleibt dank Erhalt des sowieso moderaten natürli chen Säuregehalts. Zum Glück besinnen sich immer mehr Erzeuger auf fruchtige Frische und Leichtigkeit bei einem Alkoholgehalt von nur rund 10 Volumenprozent. GutedelGuru Hermann Dörflinger setzt auf lagenreine, lupenrein durchgegorene Flitzer. Unter der Marke „Grüner Markgräfler“ entstehen nach Vorbild des portugiesischen Vinho Verde knackig-federleichte Gutedel. Winzer wie Dirk Brenneisen beleben die Vielfalt und bauen Spielarten wie den Muskat-Gutedel reinsortig aus: ein vermeintlicher „Zwergenwein“ mit verblüffend feinem Duft, strotzendem Saft und heiterer Bergbach-Frische, einfach riesig. Also tatsächlich gut und edel? Ja, wenn der Gutedel zugleich charaktervoll und trendy sein darf, ist er das. Wie der „Viviser“ von Ziereisen (abgeleitet vom schweizerischen Vevey): nussig, mineralisch, intensiv. Ein herrlicher Seitenhieb gegen das vermeintlich Geschmacksneutrale!
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Lemberger Einst garstig, jetzt genial Lemberger hat eine Erdverbundenheit, die himmelwärts strebt. Sein typischer Duft nach Holunder und Pfeffer sowie seine sanft-herbe und frische Art wirken besonders animie rend, wenn er in einer kühlen Ecke wächst. Ist die Lage hingegen heißer, changiert seine Fruchtigkeit zu Cassis und Brombeere, und der Wein hat mehr Volumen und Kraft, aber stets eine ganz besondere Würze. Die darf partout nicht überlagert werden von einer zu satten Dosis Eichenholz. Vertraut der Winzer hingegen der Finesse und Eleganz, können die Aromen einen wundervollen Bogen spannen, und die herbe Schönheit duftet ver führerisch nach Kaffee, Vanille, Toast oder Rauch. Doch ohne die nervige, rassige Säure ist dieser Rote jedoch nichts, er wäre dann ein „schlaffer Sack“, von seiner Raffiniertheit, dem Belebenden und Subtilen keine Spur. Lemberger-Weine haben ziemlich viel Farbe und stabile, aber meist nicht zu har te Gerbstoffe. Wenn sie jedoch zu säurebetont ausfallen – wie es oft in der Vergangen heit der Fall war –, wirken sie garstig oder gar widerborstig. Die Lemberger-Traube, die in ihrer ungarischen Heimat Kékfrankos genannt wird und in Österreich Blaufränkisch heißt, ist recht groß und länglich. Meist wird die Spitze der Traube deutlich säurereicher und weniger aromatisch als der Rest, weshalb alle guten Winzer sie frühzeitig abschnei den (Fachbegriff: die Traube halbieren), was sehr arbeitsintensiv ist. Wichtig ist, die star ke Wuchskraft der Lemberger-Rebe zu bremsen, sonst schmeckt der Wein ziemlich rusti kal. Niedrige Erträge heißt also das Zauberwort. Hierzulande befindet sich die Lemberger-Hochburg in Württemberg, aber auch in Baden und Franken wird der Wärme liebende, windgeschützte Standorte bevorzugende und lagerfähige Wein mittlerweile kultiviert. Lemberger schmecken heißt, MainstreamErzeugnisse ignorieren und eine ganz individuelle Prägung genießen: Saftig-frische Bee renfrüchte umhüllen sanft-herbe Gerbstoffe. Diese Liaison von südländisch anmutender Wärme, pikanter Würze und nördlicher Kühle ist es, die fasziniert. Lemberger ist ein ganz
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köstlicher Roter für unter 10,- Euro die Flasche, der ungemeinen Charme hat und Trink spaß bietet. Unkompliziert im besten Sinn also. Überhaut scheint es eine Stärke dieser Sorte zu sein, in den Händen guter Erzeuger wie denen von Karl-Eugen Erbgraf zu Neipperg regelrecht zu vibrieren. Da es leider kei nen hiesigen Qualitätsklon gibt, griff dieser auf burgenländisches Material zurück und leitete mit seinem Großen Gewächs aus dem Schlossberg eine Lemberger-Revolution ein. Noch mehr Aroma dunkler Beerenfrüchte, noch mehr samtiger Druck, ellenlanger Nach hall, unglaubliche Frische, superseidige Sanftheit. Die flüssige Antwort auf diejenigen, die noch immer meinen, aus dieser Sorte könne kein großer Wein entstehen. Jürgen Zipf keltert einen strahlenden Lemberger mit drei Sternen aus der Steillage zum günstigen Kurs: ein nachhaltiges, eng geschnürtes Fruchtpaket. Wahres Wohlgefühl verbreiten bereits die Basis-Lemberger vom Schloss Lehrensteinsfeld: vollmundig, intensiv. Das alles steigern die ausgereizten Top-Weine dieses aufstrebenden Betriebs noch: Brom beer- und Tabakaromen, dezente rauchige-mineralische Tiefe im „R“. Der Lemberger mit drei Sternen aus dem Fellbacher Lämmler von Gerhard Aldin ger aus Fellbach im Remstal zeigt elegante Balance trotz einer ausgeprägten Vanillenote vom Barriquefass. Hier hat die Sorte sogar eine kosmopolitische Finesse. Die garstigen Zeiten scheinen ein für alle Mal passé.
Lemberger hat eine Erdverbundenheit, die himmelwärts strebt. Sein typischer Duft nach Holunder und Pfeffer sowie seine sanft-herbe und frische Art wirken besonders animierend, wenn er in einer kühlen Ecke wächst.
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Cabernet Sauvignon, Merlot & co. Ikarus und ein Traum Man kennt dieses Geschmackserlebnis von jungen Rotweinen aus Bordeaux. Packende Frucht trifft auf mächtig herbe Gerbstoffe, und zusammen entwickeln sie eine riesige Kraft, ohne dröhnend zu wirken. Man schmeckt hochreife Schwarze Johannisbeeren, frisch ge pflückte Kräuter, Bitterschokolade, und, und, und … aber wie soll solch ein Wein aus der Pfalz stammen? Einer der spannendsten Roten aus dem neuen Wein-Deutschland sorgt für reichlich Staunen: der „Ikarus“ vom Weingut Hensel in Bad Dürkheim. Thomas Hensel ist ab dem Jahrgang 2000 dort eine kleine Revolution gelungen. Früher war es die Rebveredelung, die die Haupteinnahmequelle des Betriebs darstellte, und so setzte der Pfälzer bereits An fang der 1990er-Jahre die ersten Reben der neuen Weinsberger Kreuzung Cabernet Cubin. Das Flaggschiff ist der meist nach Cassis schmeckende fruchtige Cabernet Sauvig non, ein Global Player. Hierbei handelt sich um eine Sorte der Superlative, deren Ruf untrennbar mit Bordeaux und Kalifornien verbunden ist und die mittlerweile weltweit reüssiert. So gibt es Cabernets inzwischen wie Sand am Meer – mal oaked, mit Eichen holzchips aromatisiert, mal als wichtigster Verschnittpartner für überteuerte Super-Tos kaner. Und auch in Rheinhessen, wo der Jungwinzer Justus Ruppert vom Weingut Rup pert-Deginther aus Dittelsheim-Heßloch im Jahrgang 2007 eine neue Weinrakete in den Himmel schoss, ist er inzwischen angekommen. Sein Cabernet Sauvignon Liebfrauenberg duftet nach feinster Bitterschokolade, nach hochreifen, aber nicht plumpen Pflaumen, und die Holznoten stützen die warme, intensive, erfrischende Fruchtigkeit, während die saftigen Gerbstoffe dezent, aber lange nachhallen. Die rheinhessische Antwort auf über bewertete Kult-Cabernets aus Übersee! Dieser Volltreffer zeigt auch, dass deutsche Winzer die beiden größten Herausfor derungen – die angestammten harten Tannine der Cabernets zu bändigen und auch die oft dominante grüne Paprikanote zu vermeiden – insbesondere durch weinbauliche
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Maßnahmen wie das vorsichtige Entblättern für optimale Sonnenexposition der Trau ben, das Senken der Erträge und eine schonendere Verarbeitung der Trauben im Keller mittlerweile bestehen. Bei Cabernet-Sauvignon und Cabernet Franc, seinem vermeintlich kleinen Bruder, der etwa beim Weingut Knipser seine herausragende Würze und Kirsch frucht entwickeln kann, ist diese Stoffgruppe wesentlicher Bestandteil des Sortenaromas. Hält sich ihre Konzentration, die im Zuge später Reife wieder abnimmt, in Grenzen und steht sie im Gleichgewicht mit anderen, fruchtigen Komponenten, so können die „Cabs“ provozierend herbe Schönheiten sein. Etwa wie der monumentale „Traum“, einer Cuvee aus verschiedenen Cabernet-Neuzüchtungen des Staatsweinguts Weinsberg: tiefschwarz im Glas, Noten von reifen Johannisbeeren, fein, fordernd, dicht, etwas rauchig, mit safti gen Gerbstoffen und differenziertem Nachklang. Die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau Weinsberg war es auch, die in den 1970er-Jahren Neuzüchtungen wie Cabernet Cubin, Cabernet Dorio, Cabernet Dorsa und Cabernet Mitos vorstellte. Oft wird auch Acolon dazugezählt, eine Kreuzung aus Lemberger und Dornfelder, der füllig, fruchtig und harmonisch schmeckt. Während beim Cabernet Dorio das Rustikale des Dornfelders etwas durchkommt, ist der Cabernet Cubin der eigentliche Star und scheint am besten in unsere Klimazonen zu pas sen. Die feinen Gerbstoffe sind hier das Salz in der Suppe und lassen trotz aller Glut auch den „Ikarus“ bei seinem Höhenflug um die neue Weinwelt nicht abstürzen! Mit dem weichherzigen Merlot, einer früher als der Cabernet reifenden, fruchtigen, körperreichen Sorte, die wohl aus Bordeaux stammt, wird Deutschland ebenfalls inter nationaler. Der Merlot hat den Ruf des Softies, der weder Fisch noch Fleisch ist, aber et liche ambitionierte Erzeuger insbesondere in der Pfalz, Baden und Württemberg möch ten zeigen, aus welchem Holz diese Bordelaiser Edelsorte wirklich geschnitzt ist. Vor allem württembergische Betriebe wie Aldinger, Drautz-Able und Graf Neippberg keltern Weine mit Vitalität, die Trinkspaß garantieren, die, pardon, auch sexy sind. Es sind Merlots, die umschmeicheln wie ein zartes Seidenhemd. Die Entwicklung von diesen neuen Rotwein typen in Deutschland hat gerade erst angefangen, und die Kombination aus ehrgeizigen Jungwinzern und Klimaerwärmung wird viele weitere Überraschungen bringen.
Packende Frucht trifft auf mächtig herbe Gerbstoffe, und zusammen entwickeln sie eine riesige Kraft, ohne dröhnend zu wirken.
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Gewürztraminer und Muskateller Weine à la Winslet Der Duft des Gewürztraminers betört wie der der Rosen im letzten silbernen Herbstlicht. Dieser Wein ist von üppiger, teils wuchtiger Kraft und er scheint Unmengen an Gewürzund Fruchtaromen im Gepäck zu tragen: Muskat, Nelken, Zimt, Orangen, Litschi. Ohne Säure schmeckt er allerdings nicht. Auf zu hohe Hitze reagiert der Gewürztraminer mit bombastischem Alkoholgehalt und dem Verlust seiner sehr knappen Säure. In kühlem Klima hingegen können bei relativ früher Lese bezaubernd duftige Trinkweine gekeltert werden, während aus in der Reife ausgereizten Trauben überschwängliche und betören de Weinschönheiten werden. Weine, die an Kate Winslet erinnern. Richtig guter Muskateller hat ganz andere Stärken: Charme und Lebendigkeit. Ge lingt dies, darf er sogar etwas zackiger sein: geradeaus, aufrecht, mit mineralischer Frische und pikantem Spiel. Wer nicht nur den belebenden Duft von Trauben, rosa Grapefruit und Maracuja, sondern auch eine unverkennbare mineralische Würze liebt, der ist für un widerstehliche, trockene Muskateller wie die vom Pfälzer Weingut Müller-Catoir oder Reb holz verloren. Ihre Weine sind ein Traum, und das zu einem unverschämt günstigen Kurs. Beide klassischen Aromasorten gelten als kompliziert im Anbau und sind eine Her ausforderung im Keller: Den Muskateller prägt die bereits angesprochene duftige Finesse, während beim Gewürztraminer quasi ein Turbolader-Effekt hinzukommt. Zudem stellen sie höchste Ansprüche an die Lage. Der später reifende Gewürztraminer bringt grund sätzlich weniger Ertrag, während dieser beim Muskateller wegen seiner zahlreichen Anfäl ligkeiten stark schwankt. Keine Sorten für jede Stunde also! Aber bei Winzern wie Bern hard Huber (Baden) und Hansjörg Rebholz (Pfalz) ist Muskateller der Sprung in den Gletscherbach, und Gewürztaminer brilliert bei Pix, Höfflin (beide Baden) oder Rainer Sauer (Franken) als eine Art Free Jazz! Der Traminer-Urahn wurde schon vor über 2.000 Jahren von den Römern kulti viert, vermutlich an den Hängen von Tramin in Südtirol. Als Stamm- bzw. Urrebe war die
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orte exorbitant wichtig für die Entwicklung des Weinbaus in ganz Europa: Aus ihr sind S neben dem Riesling die Familie der Burgunder sowie Chenin Blanc und der Grüne Sil vaner hervorgegangen. Frühere Unterscheidungen zwischen Gewürztraminer und Rotem Traminer sind nach neuesten Erkenntnissen wohl nicht mehr lange haltbar, da es sich vermutlich um lo kale Spielarten ein und derselben Stammsorte handelt. Der Traminer war für den Grafen Neipperg in Württemberg der erste Exportwein im 18. und 19. Jahrhundert. Und auch in Sachsen hat die Sorte eine lange Tradition: etwa als eleganter „Schloss-Traminer“ aus einem alten Klon aus Radebeul. Die Chance, einen prächtigen Gewürztraminer zu finden, ist in Franken und der Pfalz oder in der badischen Ortenau, wo er auch Clevner genannt wird, am höchsten. Der Durbacher Andreas Laible ist ein absoluter Spezialist für Bouquettrebsorten, auch im edelsüßen Bereich. Ein Teil unvergorener Traubensüße bändigt dabei oft den hohen Alkoholanteil. Muskateller hingegen muss mineralisch und frisch sein, damit er Klasse hat und ge schmacklich einen Himmel voller Litschis wachsen lassen kann. In solcher Höchstform ist er die Verführung schlechthin, die durch pure Sinnlichkeit betört!
Der Traminer-Urahn wurde schon vor über 2.000 Jahren von den Römern kultiviert, vermutlich an den Hängen von Tramin in Südtirol.
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Sauvignon Blanc Shooting Star Er ist die Modesorte schlechthin. Der Designertropfen, der lauthalsige Schicki-Micki-Wein unserer sensationshungrigen Zeit. In Südtirol ist er ebenso hip und angesagt wie in Chile. Wer etwas auf sich hält, schmort Seeteufelbäckchen und serviert dazu einen der angesag testen Sauvignon Blancs aus Übersee oder gar einen (leider zu seltenen) hochwertigen Sancerre oder Pouilly-Fumé aus der Heimat der Sorte, dem französischen Loiretal. Das zeugt von wahrer Kennerschaft, von echtem Bonvivant und von einer Gourmandise, die wohl so manchen Genussnovizen ehrfürchtig staunen lassen würde! Mit seinen eigenwilligen Johannis- und Stachelbeeraromen, den Noten von frisch gemähtem Gras, Heu und einer ausgeprägten Mineralität, besitzt Sauvignon Blanc ein ein maliges Geschmacksprofil. Das kommt besonders stark bei auf den kalkreichen Böden der Loire gewachsenen Weinen zur Geltung, wo die grandiosen Sauvignon Blancs des inzwischen verstorbenen Didier Dagueneau wachsen, die aufregend nach Feuerstein duften. In Neuseeland oder Südafrika zeigt die angebaute Rebe die ganze Palette an tropischen Früchten, mitunter aber auch „grüne“ Noten von Katzenpipi auf Brennnesselblatt. Im mens kalibrierte Weine bieten die Winzer der Steiermark: hohe Reife, mächtiger Kör per, faszinierender Duft nach Holunderblüten und Cassis. Und nun haben sich auch die deutschen Winzer aufgemacht, ihren Beitrag zur „Sauvignonisierung“ sprich Globalisie rung dieser Sorte zu leisten, die wie kaum eine andere eine derart vielfältige Bandbreite an Stilen und Möglichkeiten bietet. Geniestreich oder Wahnsinn? Frevel oder Feinsinn? Es war 2009, als sich Gesine und Markus Roll vom rheinhessischen Weedenborn hof in Monzernheim aufmachten, einen völlig neuen Typus von Sauvignon Blanc zu kel tern. Sie nannten ihn „Terra Rossa“, nach dem (Kalksteinrotlehm-)Boden von leuchtend roter Farbe, auf dem er wächst. Besonders markant, glasklar, mit einer ungewöhnlichen Mineralität, die einen scheinbar in eine Steinmetzwerkstatt versetzt. Oder der Sauvig non Blanc von Rainer Schnaitmann aus Fellbach in Württemberg, ein rarer Kultwein.
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Fordernde Frische, Üppigkeit und Eleganz, die sich zwischen sehniger Kühle und voll reifer Fleischigkeit bewegt. Fast schon ein Klassiker ist der Sauvignon Blanc vom Pfälzer Weingut Knipser, das diese Sorte bereits seit 1993 kultiviert: Stachelbeeren, Gräser, knack frisch und auffällig leicht im Alkohol. Richtig Druck macht Daniel Wagner mit seinem Siefersheimer Sauvignon Blanc: mineralische Würze, Salz des rheinhessischen Urmeers, Würze, Staub. All diese Weine haben wie die messerscharfen Sauvignon Blancs von Mar kus Schneider aus Ellerstadt (Pfalz) nur einen Nachteil: Sie sind zu schnell ausverkauft und zu schnell ausgetrunken! Kein Zweifel, die deutsche Sauvignon-Blanc-Welle rollt. Und zwar unaufhaltsam. Inner halb von zehn Jahren ist die Gesamtfläche von wenigen Hektar auf über 500 gewachsen. Dabei hatten deutsche Pioniere wie etwa die Weingüter Sander (Rheinhessen), Johner (Baden) oder Aldinger (Württemberg) und Knipser vor rund 20 Jahren keine geringen Anforderungen zu bewältigen. Trotz des kühlen Klimas in Deutschland können Sauvig non-Blanc-Weine hier ziemlich mächtig ausfallen. Der Jahrhundertsommer 2003 führ te zu lauter Weinen mit 15 Prozent und mehr Alkohol! So lesen viele Winzer eher einen Tick früher, um den erfrischenden Sortencharakter zu bewahren. Hier gilt es jedoch, eine zu scharfe Säure zu vermeiden bzw. nicht zu früh zu lesen. Das ist ein kompliziertes Spiel für den deutschen Winzer. Vor allem aber ist der Sauvignon Blanc wie keine andere Sorte so sehr durch einen einzelnen Aromastoff, Methoxypyrazin (siehe auch die Cabernet-Sorten) geprägt. Die ser dominiert Geruchs- und Geschmacksbild dieser Moderebe: Die typischen Noten von Stachel- und Johannisbeere können sich schon bei geringer Methoxypyrazin-Konzentra tion entwickeln, ist diese jedoch zu hoch, fördert das grün-grasige Noten wie bei Spargel. Hinzu kommt, dass ein anderer, meist als ansprechend empfundener Teil des Dufts, etwa nach Maracuja, sehr labil ist und daher ein Ausbau im Stahltank bei strenger Vermeidung von Kontakt mit Sauerstoff hilfreich ist. Der Sauvignon Blanc ist bei uns auch deshalb so ungemein spannend, weil er wie der Riesling frisch, aromatisch und heiter ist. Mode hin, Moder her: Die Sorte kam be reits während der Reblaus-Plage gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Württemberg und war sogar bis zur frühen NS-Zeit unter dem Namen Muskat-Sylvaner die wichtigste Weißweinrebe im Remstal. Erst während der NS-Diktatur wurde sie wegen ihrer französi schen Herkunft verdrängt. So gesehen sind die neuen, strahlenden Weine von Schnait mann und Aldinger keine Revolution, sondern ein Anknüpfen an eine fast verschüttge gangene Vergangenheit.
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Mittlerweile erzielen die besten Erzeuger auch Preise um die 15 Euro die Flasche für Premiumweine. Deutsche Sauvignon Blancs stehen auf Karten hochdekorierter Ster nerestaurants, sie schlagen in Blindproben deutlich teurere ausländische Gewächse und sind absolut konkurrenzfähig. Die kühle Witterung scheint dieser Sorte durchaus zu be hagen, die trotz erheblicher Kraft schlank, rassig und elegant ausfallen kann. Derzeit ist Sauvignon Blanc aber völlig zu Recht ein echter Renner. Er spiegelt die deutsche Sommer frische, die oft verdrängte pure Heiterkeit im Glas wider. Die Zeichen stehen auf „Run“!
Scheurebe Tropen und Terroir Warum nur übersieht man oft eine Sorte, die wie bei den fast schon überirdisch schönen Scheureben – von trocken bis edelsüß – vom Weingut Pfeffingen in Bad Dürkheim/Pfalz einen gefühlten ganzen Garten köstlicher Litschis wachsen lässt, die großzügig Minera lien spendiert, Finesse hat und Säure-Sterne funkeln lässt? Die uns Weintrinker glauben macht, durch den Raum zu gleiten, als wäre diese Welt voller Exotik und tanzender Fri sche, die am Gaumen vorbeischwebt, vollkommen schwerelos. Immer mehr Winzer erheben die Scheurebe gar zum besseren Sauvignon Blanc. Besser heißt hier: mehr Eleganz und Duftigkeit, weniger Fett und Fülle. So ist der Wandel, zu mindest in Hochburgen wie Baden, Franken, Pfalz, Rheinhessen und Teilen der Nahe, eingeläutet. Immer mehr Konsumenten entdeckten die vollblütige Rasse der sogenann ten Scheu. Die anspruchsvollsten Lagen sind ihr gerade gut genug, doch vollreif geern tet und mit ihrem köstlichen Säurekick zündet sie ein prächtiges Feuerwerk an Aromen:
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frische Trauben, Schwarze Johannisbeere, Pampelmuse, Stachelbeere, Heu und eine gan ze Wagenladung tropischer Früchte. So setzen immer mehr Erzeuger Zeichen. Niedrige Erträge und tüchtige Weinbergs pflege sorgen für reife, gesunde Trauben, und modernes Winemaking lässt der einst be rüchtigten Katzenpipi-Note null Chance mehr! Sicherlich ist die Phalanx der Scheureben vom Weingut Pfeffingen einzigartig und zeigt auch, dass sie – bei langlebigen Edelsüßen angefangen bis hin zur grandiosen Trockenbeerenauslese – zu den Höhepunkten deutscher Winzerkunst zählt. Die neue Generation, darunter Daniel Wagner (Wagner-Stempel, Rheinhessen), Sebastian Schä fer (Joh. Baptist Schäfer, Nahe) und Christian Stahl (Winzerhof Stahl, Franken) hat be schlossen, die Finesse dieser Sorte über alles andere zu stellen. Die trockene Spätlese aus dem Hesslocher Liebfrauenberg von Stephan Wernersbach aus Dittelsheim-Hessloch (Rheinhessen) beispielsweise ist würzig, kräuterig und straff und schmeckt nach Stachel beeren und Heu. Verführung pur sind auch die restsüßen Scheureben von Weegmüller (Pfalz), Florian Fauth (Seehof-Ernst Fauth, Rheinhessen) und Andreas Laible (Baden). Und die trocke nen Weine von Philipp Wittmann und Klaus-Peter Keller aus Rheinhessen haben gerade zu kaleidoskopartige Aromen, förmlich gebündelt durch ihre laserscharfe Finesse. Solche bekömmlichen Weine, gegen die so mancher Sauvignon geradezu überbordend krachle dern wirkt, werden mittlerweile selbst in hochklassigen Sternerestaurants als Aperitif an geboten oder etwa zu asiatischen Speisen ausgeschenkt – und sorgen bei ausländischen Gästen regelmäßig für Verblüffung. Diese wird sogar noch gesteigert durch einen regel rechten Klassiker: der überraschend mächtigen trockenen Scheurebe „S“ vom Weingut Wirsching in Franken. Hier hat man das Gefühl, exotische Früchte würden entlang eines Gebirgsbachs auf einem mineralischen Bett unter einem großzügigen, weiten Himmel ruhen, an dem die Sonne Herzenswärme spendiert. Das alles ermöglicht die Scheurebe, benannt nach Georg Scheu und erstmals 1916 gezüch tete Neuzüchtung, die eine Kreuzung ist aus Riesling und einer wohl verloren gegange nen Wildrebe. Sie balanciert ihre tropisch anmutende Üppigkeit durch herbe Kraft und mineralische Frische bestens aus – und kann sogar den Charakter ihrer Herkunft exem plarisch ausdrücken. Wenn all das zusammenkommt, ist die Scheurebe so spannend und vielfältig an Aromen, dass man immer noch über sie nachdenkt, selbst nachdem der letz te Schluck schon lange her ist!
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von manfred lüer
Rheinhessen Weine vom wogenden Grund Rheinhessen war einst ein Meer und ist es immer noch. Wer in der Dünung der Weinber ge anlandet, spürt Offenheit und eine archaische Kraft. Die Gedanken sind nicht mehr der Welt der Reize ausgeliefert, dem hämmernden Lärm, den Blitzen künstlichen Lichts – meditative Ruhe. Das Gefühl, sich in der Weite einer der schönsten Landschaften Deutsch lands zu verlieren, hat man im Rheingau oder an der Nahe nicht. Im Rheinhessischen hingegen verlassen die Gedanken die Enge des Egos, und jeder Schluck guten Rieslings einer neuen Winzergeneration verleiht ein frisches Gefühl von Befreiung! Wellenförmig wiegen sich die Reben im Weinberg auf sanft gewellten Hügeln, die einst Inseln bzw. Halbinseln eines subtropischen Meers waren. Noch heute „spucken“ man che Weinbergsböden Haifischzähne aus. Kalkige Schalen oder Stützgerüste verschiedens ter Meereslebewesen sind ebenso zu finden wie das Skelett einer Seekuh. Über Rheinhessen jagten also einst Tintenfische, Seekühe, Meeresechsen und Haie, die mit rasierklingenscharfen Zähnen Angst und Schrecken verbreiteten. Zahllose Fische schwammen im warmen Wasser umher, Korallenriffe wogten in der Strömung. Einige der besten Weine einer jungen Winzergeneration spielen genau mit diesem Gedanken von Heimat im Sinne von Herkunft und Ursprung – und mit dem schönen Gedanken, dass sich Land wie ein Organismus vollends regenerieren kann und gar die Fähigkeit besitzt, sich wie Phönix aus der Asche zu erheben. Manchmal muss etwas fast zugrunde gehen, da mit es neu erstrahlen kann! Neue, aufregende Rieslinge etwa von Weinbergen mit Quarz-, Kalkstein- und Porphyrboden tragen nicht nur den pikanten, salzigen und mineralischen Geschmack von Ablagerungen aus dem einstigen subtropischen Meer in sich, sondern strahlen unverblümt, ja frech – wie der direkte Charakter der neuen Winzergeneration, die sagt: „Austausch geht vor Missgunst!“ Das ist nicht nur eine Frage des Lebensgefühls, sondern hat auch eine ästhetische Dimension. Und das ist vielleicht die größte Revolution: Wenn man schöne Landschaften
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braucht, verweist selbst der „Rhoihesse“ inzwischen stolz auf die eigene Region! Etwa auf den Norden, wo sich einst am Fuß des 270 Meter hohen Wißbergs, dem „weißen Berg“, das Meer mit Süßwasser aus den Flüssen mischte. Hier finden sich zahlreiche versteiner te Zeugen für das Brackwassermilieu: Muschelschalen und Gehäuse von spitzkegeligen Turmschnecken. Oder in Siefersheim, im Heerkretz an der einstigen Brandungsküste: Die Großzügigkeit eines glücklichen Sommertags, ein endlos weit strahlend blauer Himmel, gemeißelt aus einem schieren azurnen Block. Am Roten Hang liegen in einem mächti gen Steillagenbogen berühmte Weinorte wie Nierstein und Nackenheim wie Perlen an einer Kette aufgereiht, während im südlichen Wonnegau fast schon Tropenfeeling auf kommt: sonnenverwöhnte Hänge, leuchtend weiße Trulli (Schutzhütten im Weinberg, die von apulischen Arbeitern angefertigt wurden), ein Pilgerpfad gen Süden, verwunschene Winzerhöfe, eine tief gestaffelte Wein- und Kulturlandschaft. Keine Frage, Rheinhessen ist ganz Himmel, ganz Meer und ganz Licht – und das alles auf einen Schlag! Und so funkelt die Region so facettenreich wie ein Solitär. Kein Wunder also, hat diese offene, weite Region doch den Jungwinzer quasi „erfunden“. Und das gleich in doppelter Hinsicht. Vor gut zehn Jahren begannen die Vorreiter Philipp Wittmann und Klaus-Peter Keller vor allem den trockenen Riesling zu revolutionieren. Sie setzten im Jahrgang 2001 echte Benchmarks wie den Dalsheimer Hubacker (Keller) und Westhofe ner Morstein (Wittmann) und gaben der Region damit genau den Kick, der ihr bis dato am meisten fehlte: Selbstbewusstsein! Denn die geologische Vielfalt der Region und das Potenzial vor allem für überragende Rieslinge, Silvaner, Weißburgunder, aber auch für großkalibrige Spätburgunder sind immens. Damit entfachten Keller und Wittmann aber auch ein Feuer unter den jungen Winzern, das die Eiszeit der Liebfrauenmilch endgül tig zum Schmelzen brachte. Frei nach dem Motto Gustav Mahlers: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Dieses Feuer ist die Leidenschaft eines Next-Generation-Netzwerks, das Weinmachen als kreative, ja künstlerische Tätigkeit begreift. Es hat inzwischen auch den verschlafenen Norden ergriffen, der, begünstigt durch die Klimaerwärmung, entscheidend Boden gut gemacht hat. Neue Talente sprießen hier wie da wie Pilze aus dem Boden. Die RunkelBrüder vom Weingut Bischel lassen den Scharlachberg wieder auferstehen, die ThörleBrothers bringen in Saulheim saftstrotzende Rieslinge voll auf den Punkt, während bei der jungen Christine Huff aus Schwabsburg alte Reben wie Wollmammuts mit ihrem Rüs sel die Mineralien des Roten Hangs aufgesogen haben. Jürgen Hofmann wagt mit seinen Rieslingen vom Hundertgulden und den Silvanern Charakterstärke im Zeitalter des Weich ei-Weins, und die unverblümt strahlenden Leckerberg-Rieslinge von Stefan Winzer sind
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geniale Innovationen. Die ganze Landschaft im Glas? Der Chardonnay „Blauarsch“ von Karl-Hermann Milch findet eine neue Liaison von Frucht und Mineral, und der cremige Weißburgunder „Einzigacker“ von Jochen Dreissigacker ist die pure Verführung, die ei nen förmlich aus den Schuhen haut. Man muss nun also wirklich kein Einstein des Weins sein, um zu begreifen, dass die stilistische Vielfalt des Gebiets immens ist – und immer weiter wächst. Auch beim Spätbur gunder ist eine Neuorientierung weg vom Bombastalkohol und zu viel Toastaroma ange sagt. Talente wie Michael Gutzler zeigen, dass puristischere, präzisere Formensprache à la Bauhaus – form follows function – mit weniger Neuholzschminke durch Lagerung im Barriquefass ungemein spannend ist. Zum Glück besinnen sich zudem blutjunge Aufstei ger wie Tobias Knewitz auch auf noch immer unterschätzte Sorten wie Silvaner, wo mi neralische Frische Ausweis von echtem Charakter ist. Wann bekommt diese spannende Sorte im größten Silvaner-Gebiet der Welt endlich die nötige Anerkennung als Großes Gewächs? Und wann werden die Möglichkeiten bei den weißen Burgundersorten noch besser ausgereizt? Dabei zeigen Philipp Wittmann und Jochen Dreissigacker charakter starke, prototypische Weißburgunder von riskanter Sogwirkung. Neue Wege beschreitet mutig und selbstbewusst auch Michael Teschke, der inten siv wie kaum ein Zweiter im Gebiet an einem Zukunftsmodell arbeitet: den Stiefkindern Rheinhessens, dem unterschätzten, teils aber brillanten Portugieser und dem „Sylvaner“ endlich die nötige Anerkennung zu geben. Provokativ benutzt Teschke die alte Schreib weise und reizt den Lagencharakter geradezu waghalsig aus. Das Ergebnis sind große, in dividuelle, handwerklich gemachte Weine, die so etwas wie die Seele Rheinhessens ein fangen und noch auf der Nadelspitze tanzen. Genau das ist die Quintessenz: Unter dem weiten Himmel von Rheinhessen wirken Kleingeister eben besonders winzig. Der neue Geschmack Rheinhessens sind eine offene, schollenverbundene Geisteshaltung, ein locker-entspanntes Lebensgefühl, die Faszinati on einer der schönsten, oft noch immer unbekannten Landschaft Deutschlands. Es ist die Quersumme von persönlichen Lebensgeschichten, von Leuten wie du und ich, mit ganz normalen Ansichten und offener Schollenverbundenheit – lockere, herzliche Leute also, die lange Jahre mit dem Rücken zur Wand standen und sich nun endlich aufgemacht ha ben und im Begriff sind, die deutsche Weinlandschaft völlig umzukrempeln.
Nein, Rheinhessen ist kein Meer, es ist ein ganzer Ozean von Möglichkeiten!
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Pfalz Alla hopp, Ärmel hoch ! „Broschd“ heißt es allenthalben im „Mignon-Land“, wo die Zitronenbäume blühen, wo Orangen, Feigen und Zypressen gedeihen, wo aus den Winzerhöfen bis spät in die Nacht das Klingen der Gläser zu hören ist – und wo die Reben in solch paradiesisch-verheißungs vollen Lagen wie Kirschgarten, Im Großen Garten, Hohenmorgen, Siebeldinger im Son nenschein oder Mandelberg wachsen. 1.800 Sonnenstunden im Jahr verwöhnen die Gegend, wo „Schoppe-Gläser“ mitun ter gar einen halben Liter fassen. „Die Zeit vergeht, wie schnell is nix getrunke …“, lau tet ein Pfälzer Sprichwort. Das milde, fast mediterrane Klima und der gute Wein wirken eben positiv auf das Gemüt. Und ein sonniges Gemüt braucht man auch, wenn man sich als Winzer abseits der berühmten Weinorte der Mittelhaardt wie Forst, Deidesheim oder Wachenheim profilieren will und aufregende Visionen vom neuen Pfälzer Wein hat. Denn seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genossen gerade diese drei Weinbaugemein den – sie reihten sich traditionell ein in die Phalanx des Rheinweins – das wohl höchs te Ansehen in der Region, wozu insbesondere die außergewöhnlichen Rieslinge der drei großen „Bs“ – die Weingüter Geheimer Rat Dr. von Bassermann-Jordan, Dr. Bürklin-Wolf und Reichsrat von Buhl – beigetragen haben. Winzer im Norden blickten von der Ebene hinauf, und die im Süden orientierten sich vor allem an sich selbst. Sie krempelten einfach die Ärmel hoch! Sie waren es auch, die als Erste die Mittelhaardt so richtig in die Zange nahmen: mit begeisternden Weinen, die das ganze Spektrum umfassen, das in Deutschland möglich ist. Denn gerade als die be rühmten Güter bis zum Ende des letzten Jahrhunderts eine Schwächephase durchliefen, starteten Hansjörg Rebholz und Hans Günter Schwarz so richtig durch. Schwarz, der bei nahe legendäre Ex-Kellermeister von Müller Catoir und die Pfälzer Winzer-Ikone schlecht hin, avancierte zum Vorbild und als Inspirationsquelle für zahllose Winzer – etwa für die
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Südpfalz Connexion, die auf Schwarz’ Hinweis den einst berühmten Gräfenhausener Spät burgunder wieder aktivierte. Doch nicht nur durch die Südpfälzer ist in die Region viel Bewegung gekommen. Auch in der nördlichen Pfalz gab es Vorreiter, Pioniere und Idole zugleich. Die Brüder Werner und Volker Knipser begannen vor nunmehr über 30 Jahren, das Gebiet aufzu möbeln und brillante Rotweine quasi aus dem Nichts zu zaubern. Heute steht eine neue Kelterhalle hinter dem Gut, in dem 1.040 Barriques lagern – eine richtige Weinkathedra le. Vinologische Intelligenz heißt hier auch Offenheit, und so haben nicht nur die Roten aus internationalen Sorten und Spätburgunder echte Identität und Würde, sondern auch Riesling und Sauvignon Blanc! Dabei ist nämlich Kalk das Zauberwort im nördlichen Teil der Pfalz. An der Abbruchkante zum Rheingraben, einst ein riesiges Meer, kommt Kalk stein zum Vorschein, auf den während den Eiszeiten Löss geweht ist. An alten Hohlwegen in und um Laumersheim entdeckt man beim Wandern mitun ter Lösswände von bis zu 12 Metern – ein eindrucksvolles Profil. Unter der lehmigen Erd oberfläche verbergen sich tiefgründige, facettenreiche geologische Formationen, die so manchem unscheinbaren Weinberg Spitzenstatus verleihen. So bekommen die Weine mi neralische Frische und knackige, klare Aromen, aber auch tiefgründigen Charakter. Sie reichen aber nicht an die zuweilen überbordende Fruchtigkeit oder exotische Opulenz der Weine aus Mittelhaardt und Südpfalz heran, wo sich die Klimaerwärmung in den letz ten Jahren in Form von Trockenstress und übermäßigem Alkoholgehalt teilweise nega tiv ausgewirkt hat. Flüssig gewordene Albträume für Hersteller von Designer-Weinchen und Tutti-Frut ti-Tröpfchen im Zeitalter der Weichei-Weine keltert Bernd Philippi von Koehler-Ruprecht. Er hat den Holzfassausbau zu einer Zeit verfeinert, als einige Direktoren von MittelhaardtGütern befürchten mussten, auf der Strecke zu bleiben. Philippis trockene Auslesen Ries linge „R“ aus dem Kallstadter Saumagen sind grandiose Meisterwerke. Vor allem lassen sie sich nicht in ein x-beliebiges Schema pressen und verkörpern so etwas wie flüssige Zeit. Ihr Reifehorizont ist atemberaubend weit. Neue Namen sind inzwischen an die Stelle derer von Ikonen wie Knipser und Philippi getreten: Philipp Kuhn mit seinen extraterrestrischen Roten und mineralisch-würzigen Weißen, Axel Neiss mit kühleren, filigranen Rieslingen und herrlich samtigen Frühbur gundern oder Karl-Heinz Gaul, der mit seinen Töchtern Karoline und Dorothee genau die Art von Rieslingen für unter 10,- Euro die Flasche keltert, die wir alle mögen. Denn aseptische Fruchtzwerge werden hier gnadenlos abgelehnt, stattdessen leistet eine kulti vierte Reife der Infantilisierung des Geschmacks hartnäckig Widerstand.
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So haben die Erfolge einer neuen Winzergeneration die großen Renommierbetriebe nicht nur wachgerüttelt, sondern diese in den letzten Jahren veranlasst, drastische Schritte zu unternehmen, um die Qualität ihrer Weine zu verbessern. Der Konter sitzt! So führte Bettina Bürklin-von Guradze mit Christian Guradze, dem früheren Geschäftsführer, das Weingut Dr. Bürklin-Wolf in eine neue Ära. Die besten Rieslinge aus dem Forster Kirchen stück und dem Deidesheimer Hohenmorgen etwa zeigen neben ihrer hochfeinen, druck vollen, präzisen Art großzügige, beinahe opulente Pfälzer Fülle. Auch die Weine von Kel lermeister Ulrich Mell von Bassermann-Jordan sind bereits stilbildend: kristallklar zeigen sie auf wunderbar entspannte Art und Weise, dass Fruchtigkeit etwas ganz Köstliches ist – zumindest dann, wenn sie hochfein, delikat und auf den Punkt gereift ist! Während man also noch in den 1980er-Jahren von der Mittelhaardt sprach, wenn es um den Pfälzer Wein ging, so hatte der Süden des Gebiets längst jenen roten Faden ge sponnen, der sich bis in die heutige Generation fortsetzt. Bereits in den 1960er-Jahren feilte Hans-Günther Schwarz als langjähriger Kellermeister bei Müller-Catoir an einem völlig neuen Weinstil, der unzählige Pfälzer Winzer inspirierte: Im Zentrum seines krea tiven Schaffens stand eine neue, frische, subtile Traubigkeit aus vollreifen, gesunden, un ter hohem Risiko spät gelesenen Beeren. Jeder Schluck ist wie ein Biss in saftiges Frucht fleisch. Das ist glasklare Intensität mit reifer, wacher Säure und präziser Mineralität, die den Geschmack des Bodens ausdrückt. Heute stehen Philipp David Catoir und Martin Franzen mit neuer Mannschaft nach wie vor für einen brillanten, glasklaren Stil bei den Edelsüßen mit wahrlich fantastischen Rieslanern – und für druckvolle Große Gewächse wie dem „Breumel in den Mauern“ vom Riesling, der noble Fülle und fein eingewobene Mineralik grandios ausbalanciert. Auch wenn man also lange geglaubt hat, die Südpfalz hätte keine Spitzenlagen, so hatte der Schwarz-Stil so viel Zündstoff, dass die Region peu à peu begonnen hat, die Be sonderheit der Lagen herauszuarbeiten. Die Trägerrakete hatte bis zum um Lichtjahre entfernten Terroir-Wein eine lange Reise vor sich. Doch die neue Weingalaxie war weni ger weit entfernt als zunächst angenommen. Als Pionier griff Hansjörg Rebholz zu den Sternen und bildete mit einer markante ren, puristischen Weiterentwicklung des Schwarz-Stils sogar ganz eigene Energiefelder: herausragende Chardonnays, mineralische Weißburgunder aus dem Siebeldinger Son nenschein, duftige Spezialitäten wie Gewürztraminer und Muskateller, grandiose, kräu terwürzige, filigrane Kastanienbusch-Rieslinge und Spätburgunder von regionaler Identi tät und internationalem Kaliber. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Moden kelterte auch das Weingut Dr. Wehrheim Weine aus klassischen Sorten: durchgegoren, eigenständig,
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erfrischend, belebend, mit Zug und Nerv. Die besten Weißburgunder aus dem Birkwei ler Mandelberg elektrisieren wie Lenôtres Patisseriekunst: Frische, Frische, Frische und ein zartcremig eingehülltes Säurespiel, das bleibt und bleibt. Erlaubt ist also, was gefällt – an dieses selbstbewusste Credo, das den Charakter der großzügigen Gartenlandschaft widerspiegelt, mussten sich andere Südpfälzer Betriebe hal ten, um ihre eigenen Traditionen erst zu schaffen. Als „weinkommunikative“ Gruppe bil den die Fünf Freunde bereits seit Ende der 1980er-Jahre eine verschworene Interessen gemeinschaft. Die Güter Rebholz, Wehrheim, Siegrist, Münzberg und Becker bringen die Pfälzer Vision auf den Punkt: „Was uns verbindet, ist die Überzeugung, dass große Wei ne nur im Zusammenspiel von Tradition und Kreativität entstehen.“ Und wahrhaft gro ße Weine keltert Friedrich Becker, der in Schweigen eine fast ausgestorbene Rotweintra dition belebte sowie Weine von fleischiger Fülle bei filigraner Finesse. Und auch wenn der großkalibrige Tafelwein Pinot Noir als Weltklassewein meist im Fokus steht: Der ver meintlich „einfache“ Spätburgunder Qualitätswein bietet bereits einen tollen Gegenwert für kleines Geld! Fünf Freunde sind auch Sven Liener, Boris Kranz, Peter Siener, Volker Gies und Klaus Scheu. Hier haben sich Konkurrenten zu Kollegen gewandelt. Nur gemeinsam ist man stark. Dieser neue Geist belebte nicht nur den Gräfenhausener Spätburgunder und trotz te 2002 der Natur die verloren gegangene Rebfläche wieder ab. Viel höher wiegt noch ihre Nähe zum Konsumenten, denn bei ihnen findet man genau die guten Weine, die wir alle wollen: mineralische Weißburgunder mit Schmelz und Charme (Kranz, Scheu), ve ritable Grauburgunder mit Schmatzfaktor (Siener), rassige Rieslinge mit rasantem Dreh moment (Kranz, Siener, Gies). Diese boomende Entwicklung in der Pfalz verspricht für die kommenden Jahren noch reichere Früchte. Die Stärke und Geschlossenheit des Südens ist auffällig, und an den Weinen etwa von Steffen Christmann merkt man, wie starkes Selbstbewusstsein, Blick über den Tellerrand und harte Arbeit zu großem Erfolg führen können. Die feingewobe nen trockenen Rieslinge aus dem Gimmeldinger Mandelgarten, dem Deidesheimer Lan genmorgen und dem Königsbacher Idig sind immer subtiler, filigraner, verflochtener ge worden. Wisse die Wege auf dem schmalen Grat zwischen Absturz und Balance! Auch der Norden hat immer mehr zu bieten. Indes fehlt es dieser lange vernachläs sigten Region noch am richtigen Profil. Dabei ist die Phalanx sensationeller Scheureben vom Weingut Pfeffingen-Fuhrmann-Eymael vielleicht weltweit einzigartig, der Spätbur gunder „Garten RR“ aus dem Herxheimer Himmelreich von Schumacher hingegen ein
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stilles Monument. Thomas Hensel, ein Schwarz-Schüler aus Bad Dürkheim, bezeichnet sich selbst als Überflieger mit Bedacht. Er kann von seinem Weingut aus den Segelflug zeugen vom nahe gelegenen Sportflugplatz zusehen – und nennt seine Weine „Höhen flug“ und „Ikarus“. Letzterer ist ein Cabernet Cubin – Hensel setzte bereits Anfang der 1990er-Jahre die ersten Reben der neuen Weinsberger Kreuzung –, der in der Tat zum Abheben ist: ein Wein mit Kraft und Drüsenantrieb für freie Menschen, die bereit sind, die gewohnten Grenzen für deutschen Cabernet zu überschreiten. Aus zu engen Normen und Vorstellungen brach auch Markus Schneider aus Eller stadt, lange ein Inkognito-Weiler, aus. Heute scheint es, dass dort ein Wein-Ufo gelandet ist: ein 100 Meter langer, 9 Meter hoher und 18 Meter tiefer anthrazitfarbener Kubus. Ob nun die Menschen der Mittelhaardt ungläubig auf die flache Ebene herunterstaunen und befürchten, von neuen Wein-Aliens überrannt zu werden? Die Befürchtung liegt schon nahe, denn einige von Schneiders Weinen, etwa der Portugieser „Einzelstück“, haben so viel Geschwindigkeit und Kraft, dass einige Konsumenten – und auch Kritiker – davon re gelrecht geschockt sind. Diesen tollen Weinen muss man wie Hensels „Ikarus“ gewachsen sein! „Es hat sich alles geändert“, sagt Schneider und verweist auf die neuen Verhältnis se in der Pfalz: Das Paradies im Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten wurde neu vermessen. Von selbstbewussten Typen, die sich mit ihren Weinen durchsetzen und auch das Terroir nicht zum Goldenen Kalb machen. Und im Zellertal, mehr als eine Appendix-Landschaft mit Olivenhainen zwischen Mannheim, Kaiserslautern und Mainz, zieht Ökowinzerin Christine Bernhard die Fäden. Spätestens beim Olivenfest ist alles klar: eine typisch Pfälzer Melange aus starken, selbst bewussten Menschen, Blumen, Wein, Oliven und einem Erlebnis, das berauscht. Vielleicht hat das die Pfalz von allen deutschen Weinregionen am besten verstanden: Heutzutage geht es nicht nur um den bloßen Verkauf von Wein, sondern darum, den Konsumenten neben der Landschaft vor allem die Menschen hinter dem Wein, ihren Lebensstil und ihr Lebensgefühl näher zu bringen. Das alles ist die Wurzel der Weinkultur! „Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh’n/im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n/ ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht/die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?/ Kennst Du es wohl?“ So lässt Goethe nach seiner Italienreise in Wilhelm Meisters Lehr jahre das Mädchen Mignon singen. Doch warum unbedingt den Granatapfel der Juno oder die goldenen Zitrusfrüchte von Sorrent und aus Sizilien bestaunen? Und ist die Pfalz wirklich die deutsche Toskana? „Alla hopp“ heißt es, auf geht’s: Heute ist die Toskana die Pfalz von Italien!
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Baden Die Wundertüte Baden ist ein Schmelztiegel, eine „Weinwunderwelt“, ein großer Gemischtwarenladen, ja regelrecht eine Zaubertüte. Oft ist es gefährlich kurz davor, mit banalen Burgundern mit schierer Alkoholwucht und Eichenholzüberschwang dem Klischee zu entsprechen – immer öfter liefert es Weine von wirklich sensationellem Gehalt, immer freier von mo dischen Ressentiments. Wer heutzutage die badische Wundertüte öffnet, kommt mitun ter aus dem Staunen nicht mehr heraus: geschliffene Spätburgunder, weg von Bombast, Überreife und Toastaromen; weiße Burgunder von substanzieller Frische, die viel leich ter und lebendiger schmecken, als sie eigentlich sind; Rieslinge, die Heiterkeit ausstrah len, wahrhaft köstliche Muskateller und hochfeine Traminer; und endlich auch Gutedel, die den Nachweis einer individuellen Herkunft erbringen. Das alles ist wirklich sensationell. Doch hält das fast 16.000 Hektar große Anbauge biet noch eine weitere, tiefgründige Pointe parat. So wie andere Wundertüten auch, die von außen betrachtet oft recht unscheinbar wirken und keinesfalls auf die Güte ihrer In halte schließen lassen, so werden badische Landschaften, Orte und Regionen noch im mer unterschätzt und sind dem „normalen“ Weintrinker etwa aus Norddeutschland nach wie vor weniger bekannt, obwohl einige der neuen, aufregenden, revolutionären Weine in ihnen entstanden. Die Badische Bergstraße etwa, wo südlich von Heidelberg Thomas Seeger mit durch gegorenen, in Holzfässern ausgebauten Weinen an einem Qualitätskonzept feilt, das der Region eine ganz einzigartige Ausstrahlung gibt. Oder der nördliche Breisgau, wo Mar kus Wöhrle vom Weingut der Stadt Lahr an der Revolution des badischen Weißweins feilt. Bombastalkohol, Turbohefen, mit Kälte im Keller gefolterten Weinen und auf Leistung ge trimmten Weinbergen erteilt er eine klare Absage und beeindruckt mit Tropfen von subtiler Spannung und Reife sowie Kühle, mit Weinen von subtiler Traubigkeit und nachhaltiger Mineralität. Und das in einer völlig unterschätzten Region wie dem Breisgau, dem noch
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immer der Ruf des Heckenlands vorauseilt. Dabei sind es gerade das Undomestizierte, das Pure, Ursprüngliche und Weite dieser Landschaft, wo der Schwarzwald saftigen Hügeln und prächtigen Streuobstwiesen großzügig den Vortritt lässt, die die Entwicklung von be sonderen Talenten begünstigen. Eins davon ist der „Garagenwinzer“ Hans-Bert Espe, der in seiner Shelter-Winery teilweise auf aufwendige Lyra-Erziehung setzt, wobei die geteilte Laubwand wie zwei Sonnenkollektoren fungiert. Seine Spätburgunder haben nichts vor dergründig Wuchtiges wie so mancher Badenwein, sondern scheinen fast schwerelos über den Gaumen zu gleiten. Seine Lebendigkeit und das Raumgleiter-Gefühl gehen zurück auf die geschliffenen Gerbstoffe, Säurereflexe bilden die Energiefelder. Espe belebt damit im Windschatten des berühmteren Kaiserstuhls eine fast verschüttgegangene Tradition. In überregionale Vergessenheit gerieten auch die Weine aus dem Glottertal, wo die Reben in einem für badische Verhältnisse recht kühlen Klima ausreifen können. Martin Frey findet dort eine neue Formensprache, die die Rasse, Kühle und Finesse des Weins betont. Ein anderer blinder Fleck auf der „Weinlandkarte“ war auch Efringen-Kirchen im Markgräfler Land, bis Hanspeter Ziereisen Filetstücke wie Jaspis, Rhini, Schulen oder Gestad aus der Großlage des Orts, dem Efringer-Oelberg, aktivierte. Die Reben stehen dort auf tiefgründigem Muschelkalk und lugen bis in die Basler Bucht. Ziereisen entfachte vor allem mit Spätburgunder, aber auch mit Syrah nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution in dieser heil erscheinenden Welt von Baden mit seinen gemütlichen Gast häusern, dunklen Tannen, reichen Obstgärten und idyllischen Postkarten-Dörfern. Das ungefähre Ausmaß dieser beeindruckenden Entwicklung ist noch nicht absehbar, aber schon heute ist klar, dass sie das bisherige Bild des Rotweins aus dem „Mustergärtlein des Gutedels“ sprengen wird. Ein klares Statement gibt Ziereisen auch beim Gutedel ab, der vor hundert Jahren oft erst nach Jahren getrunken wurde: spontan vergoren, ausdrucks stark, muskulös und reifefähig. Seeger, Wöhrle, Frey und Ziereisen sind nur vier Beispiele von vielen, die in unterschätzten Regionen dem neuen badischen Wein mehr Profil verleihen und für interessierte Wein freunde Weine machen, die saftiger und lebendiger schmecken, als man gemeinhin an nimmt. Und auch wenn den lieblichen, saftigen, eleganten Weinen aus dem Kraichgau noch ein klares Profil fehlt, so zeigen die Weingüter Burg Ravensburg und Klumpp mit feinen, ausgewogenen und delikaten Tropfen ohne übertriebenes Muskelspiel das wahre Potenzial dieses so erfrischendem Landstrichs. Die Heiterkeit der Menschen im sanften Hügelland zwischen Schwarz- und Odenwald scheint auf die Weine geradezu abzufärben! Auch hier gilt: Die „Holzexzesse“ früherer Jahre scheinen, zumindest in der Spitze, passé,
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ja sogar verpönt. So halten auch die bekannteren Gebiete Badens für den Weinliebhaber große Überraschungen bereit, teils zu moderaten Preisen. Am Kaiserstuhl, der Sonnenbank Badens, verfügt Joachim Heger über regelrech te Sahnestückchen in der „Gluthauchwelt“ des Ihringer Winklerbergs, wo wilde Kakte en wachsen. Die Weine von dort werden immer puristischer und charakterstärker: Ver schwunden ist der vordergründige Neuholzgeschmack, dafür schimmert die Salzigkeit immer stärker durch. Einen rasanten Aufstieg verzeichnet das Weingut Freiherr von Glei chenstein, dem einstigen Protagonisten in dieser ehemaligen Arme-Leute-Gegend: Die besten Spätburgunder vom Oberrotweiler Eichberg zeichnet geschliffene Festigkeit statt weiche Wucht aus. Die Liste der eindrucksvollen Erzeuger ließe sich am Ursprungsort des deutschen Grauburgunders fast schon beliebig fortsetzen. So keltert Konrad Salwey überwältigend schöne Weine von durchdachter Intensität und die wohl schönsten Weiß herbste Deutschlands – zu einem sehr günstigen Kurs. Vor allem die Weißburgunder von Reinhold und Cornelia Schneider sollte man einmal probiert haben: Ihre gebündelte Kraft erinnert an eng geschnürte Pakete, doch Vorsicht beim Öffnen: Geschmacksexplo sionsgefahr! Auch Klassikern wie den Weingütern Bercher, Franz Keller-Schwarzer Adler (Dort kelterte der Pionier Franz Keller II. 1978 zum ersten Mal modernen Grauburgun der.) und Karl H. Johner geht es um die heitere, helle, frische, lebendige Seite des Kaiser stuhls, wo es auch herrlich leichte, knackige, taufrische Silvaner gibt. Ganz entschieden legt auch Holger Koch, der tolle Burgunder für unter 10,- Euro die Flasche keltert, den Fin ger in die Wunde früherer Sünden, sprich gesichtsloser Monsterterrassen sowie „Kaputt klonen“ mit den Merkmalen „hohe Mostgewichte und Fruchtintensität um jeden Preis“. Doch für Koch wie für die besten badischen Erzeuger geht es um Nachhaltigkeit. Sie alle setzen daher insbesondere auf Massenselektion aus uralten Anlagen aus dem Elsass. Das Ergebnis sind Weinpersönlichkeiten, die durch ihren straffen, präzisen und ausgewoge nen Geschmack brillieren. Auch das kann, ja sollte der moderne Kaiserstuhl sein: „Heim lich fett sein“, so Koch – Ursprung wunderbar kraftvoller, raffinierter und leichter Weine. So werden also in der Tat Wünsche geweckt – Wünsche nach weiteren Überraschun gen. Und die hält auch der Bodensee mit der blumentrunkenen Insel Mainau und dem zauberhaften Meersburg bereit. Hier kann sich der Konsument von filigranen, elegan ten Seeweinen beseelen lassen kann, die unter ganz speziellen mikroklimatischen Bedin gungen wachsen – und doch häufig so viel mehr sind als banaler, süffiger Zechwein. Auf fruchtbaren Basaltböden schnuppern die Reben im Hohentwieler Olgaberg, dem felsigen Kegel eines erloschenen Vulkans bei Singen, in über 500 Meter Höhe richtig Höhenluft – und das im doppelten Sinn: Kühle Herbstnächste sorgen für Frische und eine langsame,
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aber subtile Reife der Aromen. Es mag überraschend klingen, aber in diesem südlichen Teil Deutschlands gedeiht nicht nur Weißburgunder, sondern auch spät reifender Ries ling, der nicht nur frisch, filigran und fruchtig, sondern auch schlank und mineralisch schmeckt. Diese Leichtigkeit ist typisch für den Wein vom Bodensee. Insbesondere darin unterscheiden sich die noch immer unterschätzten Seeweine von den üblichen fülligen, geschmeidigen Weinen Südbadens. Lichtjahre entfernt von diesen banalen „Himbeer früchtchen“ ist auch der Spätburgunder Weißherbst trocken „Bengel“ – mit solch einzig artigen Weinen zieht das Staatsweingut Meersburg quasi die wunderschöne Landschaft auf die Flasche: die ruhige Schönheit der verwunschenen Bodenseegärten, das zart me diterrane Licht und die untergründige Glut des Vulkans zum Trinken. Angesichts der rei chen Weinkultur von Betrieben wie dem Seegut Kress in Hagnau (Spätburgunder Rosé), Aufricht in Meersburg-Stetten (Spätburgunder aus der Sängerhalde) und der Spitalkelte rei in Konstanz (Müller-Thurgau) erscheint es rätselhaft, warum die Bodenseeweine noch immer regelrecht in der Schubladen sogenannter Touristenweine versauern. Wahren Langmut scheinen hingegen die besten Genossen in Baden zu haben, wobei die weniger erfolgreichen eher zu kurzfristig denken. Kein Zweifel, Baden ist Genossen schaftsland, und am Kaiserstuhl gaben nach dem Zweiten Weltkrieg etwa die Winzerge nossenschaften Königschaffhausen und Achkarren wichtige Impulse und brachten Geld in die Region. Allerdings wechseln bei ihnen Licht und Schatten: So haben sich die Direk toren selbst der besseren Genossenschaften lange Jahre zu stark von modischen Trends beeinflussen lassen und mit neuen Ausbaumethoden und Marketingrezepten experimen tiert – was den Anschein erweckt, dass man sich von etablierten Weinstilen entfernt. Doch auch hier finden immer mehr Betriebe den goldenen Mittelweg zwischen dem Hinter fragen von tradierten Weinstilen und der modernen Weinbereitung. Das Gegenteil von „Stilmischmasch“ bieten etwa die Winzergenossenschaften Durbach, Achkarren, Britzin gen und Oberkirchen, die Hex vom Dasenstein, der Weinkeller Ehrenkirchen und das Pfaffenweiler Weinhaus. Hier setzt man kompromisslos auf Qualität, und die Kurve geht so insgesamt steil nach oben! So scheint Baden die Talsohle durchschritten zu haben, weil eben immer mehr über raschende, ja große Weine entstehen, die einzigartig sind. Bernhard Huber ist wegen sei ner Spätburgunder eine Ikone, und seine Großen Gewächse aus den Lagen Malterdin ger Bienenberg, Bombacher Sommerhalde und Hecklinger Schlossberg sind geradezu Archetypen für den neuen badischen, sprich deutschen Rotwein. Ein noch größeres Kali ber ist der „Wildenstein“: Reife Kirschen begegnen Feuerstein, mineralische Kühle poin tiert die Frucht. Dabei arbeitet Huber nicht im Reben-Outback, sondern rekurriert in
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seiner Arbeit auf eine fast verschüttgegangene Kultur der Zisterzienser und erweckte so den Malterdinger zu neuem Leben. Unter diesem Namen war der dortige Spätburgun der im Mittelalter bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Dabei handelt es sich um das Paradebeispiel schlechthin für zeitgemäßen badischen Wein. Es besagt, dass das Gebiet zu sensationellen Erzeugnissen in der Lage ist. Und das nicht nur beim klassischen Spätburgunder, der im badischen Vinodrom seit jeher gerade zu frenetisch – wenn nicht sogar „überfrenetisch“ – bejubelt wird. In der Tat hat der Pinot Noir etwa von Duijn eine echte, überaus reizvolle Metamorphose hinter sich: Die Frucht ist nicht mehr länger der Sklave des Holzes. Durch pure Materie schimmert die Trans parenz der Rebsorte und der Lagen hindurch! Den Beweis, dass selbst das Markgräfler Land das gelobte Land für innovative Rote aus Syrah und Cabernet Franc sein kann, lie fert Fritz Waßmer: rebsortentypisch, muskulös, dicht, würzig und rassig sind seine Weine. Überhaupt avancieren die Brüder Fritz und Martin Waßmer zu Vorreitern eines neuen Baden und bieten auch tolle Spätburgunder für kleines Geld. Da Vorbilder direkt vor der Haustür fehlten, suchten sie sie sich an Orten wie Burgund, was sie als Freiheit empfanden. Doch Baden wäre nicht Baden, wenn der Spannungsbogen nicht viel weiter reichen würde: von überraschend energiegeladenen Rieslingen (Schloss Neuweier, Holger Dütsch, Andreas Laible, Achim Jähnisch, Burg Ravensburg) über köstlich duftende Muskateller (Huber, Dr. Heger, Martin Waßmer) und Gewürztraminer (Andreas Laible) bis hin zu ab solut originären Grauburgundern. Die Weine vom Kaiserstuhl zeigen ein ganz eigenes, ausdrucksstarkes Profil von geschmolzener Butter, gelben Früchten und gerösteten Nüs sen. Das Große Gewächs aus dem Oberrotweiler Eichberg von Salwey, die preiswerten trockenen Kabinette von Bercher oder den Grauburgunder Selection A von Franz Kel ler-Schwarzer Adler sollte man einfach einmal probiert haben, um zu verstehen, dass in Baden echte Weinunikate heranreifen. Diese dann aus der Wundertüte zu fischen macht einfach Riesenlaune!
Baden ist ein Schmelztiegel, eine „Weinwunderwelt“, ein großen Gemischtwarenladen, ja regelrecht eine Zaubertüte.
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Württemberg Megastimmung im Ländle Die Lage in der Trollinger-Republik ist weitaus drolliger, als es zunächst den Anschein haben mag. „’Sisch besser, mr därf nemme hoim komma, als mr därf nemme fort“ – es ist besser, nicht mehr heimkommen als nicht mehr fortgehen zu dürfen –, weiß der Volks mund. Kein Zweifel, im Land vieler berühmter Dichter und Denker wie Hölderlin, Schil ler, Möricke und Hegel war das Fortgehen lange Jahre mit süßem, dünnem KopfschmerzTrollinger von Reben, die in den besten Lagen des Gebiets wuchsen, quasi untrennbar verbunden. Doch scheinbar urplötzlich beamte sich das reizende Ländle in eine neue Wein-Umlaufbahn. Es pflanzte internationale Rotweinsorten, zündete den Alkohol-Tur bo, machte ein neues Eichenholzfass nach dem anderen auf und brachte Blockbuster ins Spiel, bei denen es um Superlative wie Mega, Dick, XXL und Monster geht. Das Potenzial für württembergischen Rotwein ist offensichtlich gewaltig. Und viele Weine schmecken sogar nach Aufschwung – etwa im Remstal, östlich von Stuttgart, reißt eine neue Konsumentenschicht die Weine Aufsteigern wie Rainer Schnaitmann gerade zu aus der Hand. Der Spätburgunder Simonroth „R“ hat einen betörenden Duft, trau bige Fruchtsüße und saftiges, herbes, ellenlanges Tannin. Da ist Schmackes drin! Men ge in dem Sinne produzieren immer weniger, auch Albrecht Schwegler nicht. In seiner sehr edlen Boutique-Winery reduziert er den klassischen schwäbischen Bauchladen auf das maximal Minimale: drei Rotwein-Cuvees, „Beryll“, „Saphir“ und „Granat“, die müs sen reichen. Der funkelnde „Granat“ hat die Rotweinlandschaft Württembergs nachhal tig verändert: Kein Gedanke an Holz, Tannin oder Säure, die Schönheit liegt hier in der Tiefe. Es ist aber kein ebenmäßiges Hinabgleiten, sondern ein schwereloses Gleiten – ein Abtauchen in das Reifeparadies Remstal mit seinen bewaldeten Kuppen, saftigen Streu obstwiesen und steilen Hängen. Und auch der Trollinger hat peu à peu sein schlechtes Image abgelegt. Und sie werden immer zahlreicher: die kleinen, flotten Flitzer mit Highspeed-Drehmoment. Württemberg
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entdeckt seinen Klassiker Trollinger neu. Mit fruchtigem Charme, delikater Süffigkeit und jener charaktervollen Bittermandelnote lässt sich das „Grundnahrungsmittel“ als gut ge kühlter Zechwein ungemein delikat „schlotza“ – ganz, ganz hervorragend passt er auch zur lokalen Küche, etwa den Schupfnudeln. Ein Gedicht sind die Trollinger von Gerhard Aldinger, und am Markt für leichte, beschwingte, harmonisch-süffige Weine etablieren sich auch immer mehr junge ehrgeizige Erzeuger wie Jürgen Zipf, Hans Hengerer oder Sven Ellwanger, der den seltenen, nach Rosen duftenden Muskat-Trollinger, eine rare rote Mutation des Muskatellers, schmetterlingsgleich flattern lässt. Diese drei Winzer und Originale haben sich mit Jochen Beurer und Reiner Wachtstetter zur Gruppe Junges Schwaben zusammengeschlossen. Der Kick, den sie dem Daimlerland geben, hat etwas mit Feinmechanik zu tun, mit Stil, Finesse und feinem Fahrgefühl. Denn Württemberg bietet gerade für uns Konsumenten gleich mehrere geniale, windschnittige Weine zum überaus günstigen Kurs. Dabei reicht der Spannungsbogen von markanten, würzi gen Roten mit süßen Beerenaromen von Reiner Wachtstetter bis zu rasant-rassigen Rieslingen von Jochen Beurer, die undomestiziert auf des Messers Schneide noch zu tanzen wagen. Und echte Löwensteiner Bergfrische besitzt der trockene Riesling mit zwei Sternen von Jürgen und Tanja Zipf. Absolut originäre, eng geschnürte Weiße, die mit ihrer Energie elektrisieren! In der Spitze verabschieden sich die besten Winzer peu à peu von übertrieben kon zentrierten und kraftvollen Weinen. Immer mehr delikate Rote gelingen, erhältlich zu einem vernünftigen Preis; ein Segment, wo sich „Weindeutschland“ noch immer schwer tut. Klar setzt ein Winzer wie Gerhard Aldinger mit seinem Lemberger Großes Gewächs aus dem Fellbacher Lämmler Standards für das Gebiet. Und auch seine besten Rieslinge, Sauvignon Blancs und Spätburgunder sind Referenzweine für die Schubkraft des neuen Württembergs. Die eigentliche Sensation aber sind Rote wie die Cuvee Bentz für deutlich unter 10,- Euro die Flasche. Ein echter Leckersaft, fest, geradeaus und samtig. Oder die souveränen Lemberger von Karl-Eugen Erbgraf zu Neipperg, die eine besondere Ruhe ausstrahlen und tief in ihrem Innern leuchten. Der Zweigelt öffnet bei Hans Kusterer rauchig-beerig sein weiches Herz. Durchgängiges Qualitätsbewusstsein zeigen auch Ge nossenschaften wie Cleebronn-Güglingen, das ungemein stilsicher agierende Collegium Wirtemberg-Weingärtner Rotenberg und Uhlbach und die Weinmanufaktur Untertürk heim, vielleicht sogar die beste Genossenschaft Deutschlands. Doch leider herrscht gera de auch bei vielen Kooperativen, aber auch bei vielen kleineren Weingütern Stagnation, weil noch immer ein blasser, süßlicher Stil gepflegt wird. So ist Württemberg eine Region der krassen Gegensätze, die am Scheideweg steht. Einerseits gilt es, das Potenzial des Trollingers und anderer regionaler Sorten als
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traditionelle Stütze noch stärker auszunutzen, andererseits gibt es ein enormes Potenzial für moderne, internationale Sorten wie etwa Sauvignon Blanc, Merlot und Lemberger, für rote Cuvees und auch für Riesling. Erzeugnisse von Betrieben wie Drautz-Able, Karl Haidle, Graf Adelmann, Fürst zu Hohenlohe-Oehringen und Dautel sind Lichtjahre ent fernt von Württemberger Wischi-Waschi-Flüssigkeit, während das Staatsweingut Weins berg – Pionier für neue Rebsorten wie Cabernet Cubin, Cabernet Mitos, Cabernet Dorio, Cabernet Dorsa und Acolon – konsequent Benchmarks für innovative Kreationen wie der roten Cuvée Traum setzt. Eine dramatische Erneuerung hat auch beim Riesling des Staatsweinguts Weinsberg stattgefunden, wo der Önologe Dr. Dieter Blankenhorn bei den Weinen auf mineralische Nachhaltigkeit und glasklares Spiel am Gaumen setzt. Die eigentliche Sensation aber war ein vermeintlich klitzekleiner Wein vom Weingut Wöhrwag. Mit der Heirat von Hans-Pe ter Wöhrwag und Christin Eser vom Weingut Johannishof im Rheingau änderten sich die Koordinaten im Württemberger Weißwein-Universum: Der trockene Kabinett Goldkap sel aus der Monopollage Herzogenberg avancierte mit dem Jungfernjahrgang 1994 zum Renner. Bis dato hielt man solch einen schlanken, knackigen Schmackofatz in diesem Teil von „Weindeutschland“ eigentlich für unmöglich. Die Fruchtsäure war im scheinbar beschaulichen Ländle ein Aha-Effekt und gibt so richtig Zunder, aber sie ist geschliffen, fein ziseliert und so kultiviert wie die Rieslinge von Christins Eltern. Das fein differenzier te Sortiment ist insgesamt erstaunlich: trockene Rieslinge von hochfeiner Rasse, explosi ve Edelsüße und Spätburgunder bzw. Pinot Noir (mit dem französischen Namen der Sor te auf dem Etikett), die bei aller Samtigkeit erfrischend herb sind. Aus Weinen wie diesen bezieht das neue Württemberg seine Strahlkraft. Ja, die Re gion kann auch Free Jazz weitab vom Mainstream mit seinen neumodischen Sorten. Der Gymnasiallehrer und Weinbau-Autodidakt Helmut Dolder erzeugt etwa auf Juraböden der Neuffener Weinberge, die bis zu gut 550 Meter über dem Meeresspiegel liegen, seine Weine. Sie beziehen ihre Spannung aus dem kreativen Gebrauch einer vernachlässigten Sorte wie dem Silvaner. Beim „Vulkan“ sind es überraschende Schichtungen von Frucht und Mineral und beim „Alte Reben“ sind die Regeln frei gewählt wie neu erschaffen: Der pikante Riesling „Weiße Jura“ ist ebenso Avantgarde wie der kräuterwürzige Spätburgun der Barrique – scheinbar völlig losgelöste Bergweine. Aber gerade die natürliche Fruch tigkeit und Säure geben den Weinen Bodenhaftung. So hat Dolders Stil den Klang einer heimlichen Revolution. Württemberg erfindet sich aber nicht nur im südlichen Teil immer wieder neu. Christoph Ruck etwa gelingen auf Schloss Lehrensteinsfeld mit einem intelligenten Gespür für Feinheit bahnbrechende
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Rieslinge und Spätburgunder, die purer Power eine klare Absage erteilen. Strahlende Fri sche und Harmonie mit Ecken und Kanten schmecken einfach sehr viel besser als modi scher Glattschliff. Und braucht wahre Schönheit nicht auch den einen oder anderen Pi ckel im Gesicht? Nein, wir brauchen diese ganzen durchgestylten „Schreinerweine“ nicht. Wie span nend und eigenständig ein einfach nur toller Württemberger Rotwein schmecken kann, zeigt der Schwarzriesling mit zwei Sternen von Ulrich und Nanna Eißler vom Steinbach hof. Mit feinem Schmelz, prononcierter Feinheit und saftigen Nuancen schlägt gerade solch ein vermeintlich „kleiner“ Wein aus einer unterschätzten Rebsorte ganz neue Töne an – und öffnet mit seiner Einzigartigkeit und Delikatheit ganz neue Perspektiven. Vor ausgesetzt, der Winzer überhört geflissentlich die Warnungen eines alten Weingärtners, der erst kürzlich lamentierte: „Die halbe Ernt’ liegt auf’m Boda, en a paar Johr ischt da a Häusle beim Teufl !“ (Die halbe Ernte liegt auf dem Boden, in ein paar Jahren ist das Häuschen zum Teufel !). So verzwickt ist noch immer die Lage in der Trollinger-Republik!
Strahlende Frische und Harmonie mit Ecken und Kanten schmecken einfach sehr viel besser als modischer Glattschliff.
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Mosel Bergrettung und Himmelreich Die Mosel ist eine Landschaft der Superlative, ein Reben-Theater par excellence, das „O-wie-schön-Panorama“ für Touristen, von denen viele das Gebiet noch immer mit Wein, Weib und Gesang verbinden. Zudem haben viele berühmte Lagen einfach wunderbar klin gende Namen: Himmelreich, Goldtröpfchen, Sonnenuhr. Und tatsächlich scheint eine fast 30 Jahre alte Riesling-Auslese auf fast wundersame Weise den Glanz des Sonnenlichts und den Zauber der Landschaft eingefangen zu haben. Kategorien wie Süße, Säure, Frucht oder Mineral verflüchtigen sich, Konzepte lösen sich auf – zugunsten einer tieferen Ein heit, die nur schwer beschreibbar ist und für die das Wort Wohlklang unzureichend ist. Dem am nächsten kommt vielleicht das Wort Spiel, das auf die tänzerische Leichtigkeit dieser vom Gehalt her keineswegs leichten Weine hinweist – diese Finesse ist so originär, dass es im Englischen keine Übersetzung für diesen Begriff gibt. Vor allem steht Spiel auch für eine unnachahmliche Zartheit, die im dennoch dich ten Gehalt wurzelt. Es ist diese springlebendige Heiterkeit, eine in Deutschland oft über sehene und verdrängte Seite, die Moselrieslinge so einzigartig macht. Ihre Stärke liegt in einer gewissen natürlichen Restsüße aus den Trauben. Das heißt, die Gärung hat aufge hört oder wurde vom Winzer gestoppt, bevor die Hefen den gesamten Traubenmost in Alkohol umwandeln konnten. Diese „natürliche“ Süße balanciert die angestammte pikan te Säure aus, die in den Spitzenlagen absolut harmonisch und keineswegs spitz schmeckt. Der Schiefer als typisches Ausgangsgestein bringt die köstlichsten Früchte hervor und lässt die Weine oft mit einer mineralischen Note ausklingen, die an den Geruch von nas sem Stein nach einem Sommergewitter erinnert. So bildet die gut 30 Jahre gereifte Aus lese fein ineinander verwobene Stränge aus ziselierter Säure und fast schon verwunsche nem Parfum. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit! Denn auch wenn sich der Genießer an der Mosel im siebten Himmel wähnt, so hat dieser Risse bekommen. Das Überleben am Steil- oder Steilsthang wie dem Aldegunder
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Himmelreich ist für viele Winzer ein ständiger Kampf. So manch grüner Teppich aus ge pflegten Rebstöcken hat in diesen steilen, zerklüfteten Bergen gelbe Flecken bekommen. Familienbetriebe geben auf, der Nachwuchs will oft nicht mehr Winzer werden. Denn trotz der Glorie des Gebiets akzeptiert der Markt nur selten die erforderlichen Preise, die für Steillagenweine mit niedrigen Erträgen, aus mühsamer Handarbeit hervorgegangen, erforderlich wären – zumal die Kosten hier deutlich höher sind als in anderen deutschen Regionen. Oft ist die Betriebsfläche auch zu klein, während ein Strukturwandel hin zu stärkerer Konzentration bereits eingeläutet ist. Andererseits hat das ungenutzte Potenzial einer ganzen Reihe von Mittelmosel-Spit zenlagen Jungwinzern wie Daniel Vollenweider zu Erfolg verholfen. Der Quereinsteiger entdeckte einen vergessenen Steilhang mit uralten Reben und erweckte die nicht flur bereinigte Lage Goldgrube im Weiler Wolf wieder zum Leben. Die elegante Verspielt heit der Weine ist frappierend, ebenso der ganz eigene Stil mit zartcremig eingehüllter Minerlität. „Elf Winzer müsst ihr sein“, lautet das Motto der Winzergruppe namens der klitzekleine ring aus Traben-Trarbach, in dem Vollenweider Mitglied ist. Aufsteiger wie Konstantin Weiser und Alexandra Künstler, die 2005 das Weingut Weiser-Künstler grün deten, etablieren sich gerade mit mineralischen Gewächsen aus alten wurzelechten Re ben. Enorme Aufbauarbeit leistet Martin Müllen, seine originellen trockenen Rieslinge aus dem fast vergessenen Trarbacher Hühnerberg zeigen ausgesprochen köstlichen Blü tenduft. Elf engagierte Winzer changieren zwischen Kult und Kultur für nachfolgende Generationen und haben sich das Projekt Bergrettung auf die Fahne geschrieben. Zu dem kämpfen sie gegen ein „Monster“, den geplanten Hochmosel-Übergang, der wie ein Lineal durch die Landschaft und über die Köpfe der Bürger hinweg gezogen werden soll, quer durch die Spitzenlagen des deutschen Rieslings – ein Relikt aus der Wirtschaftswun dersteinzeit. Selbst weltweit bekannten Weinkritikern wie Hugh Johnson steht das Entset zen ins Gesicht geschrieben! Zudem leidet das Gebiet unter einer gewissen Engstirnigkeit, sei es die seiner Be wohner oder der Menschen von außerhalb. Ein sehr spezieller Zug von Hartnäckigkeit im Charakter vieler Winzer gehört aber einfach dazu, und vielleicht ist genau diese Dick köpfigkeit auch ein Garant für die immense stilistische Vielfalt, die sich eben nicht nur auf die viel beschworene Leichtigkeit des Weins zurückführen lässt. Zweifellos hat insbesondere die Mittelmosel dieses Bild geprägt. Mit den Granden Joh. Jos. Prüm und Fritz Haag bringt dieser Abschnitt in der Tat seit Jahren grandiose Rieslinge hervor, deren Anmut und Zartheit in der Tat unübertroffen sind, ja weltweit Maßstäbe setzen. Die Langlebigkeit der fruchtsüßen Rieslinge von Dr. Manfred Prüm ist
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legendär und beträgt selbst bei den Spätlesen mehrere Jahrzehnte. Reduktion, das Ge genteil von Oxidation, heißt hier das Zauberwort für die Erzeugung zeitloser Juwelen. In der Jugend haben diese zarten und pointierten Schönheiten eine von manchen als eigen willig empfundene hefige Note, die aber spätestens nach mehreren Jahren der Reife ver schwindet. Die Essenz ist das dank einer späten Lese harmonische, nie spitze Säurespiel. Noch vor einer Generation, als das Gebiet in einer Agonie versunken lag, lachten einige Kollegen über Dr. Manfred Prüm, wenn er seine Trauben bis weit in den November hän gen ließ. Heute verfolgen im Grunde alle Spitzenerzeuger diese Strategie. Keine Frage, besser kann leichter Moselwein nicht schmecken! Für Jahre definierte „J. J.“ Prüm dieses Bild des Moselrieslings. Die Edelsüßen sind Monumente, die Rieslinge aus dem Graacher Himmelreich fester, kräftiger, ja kernig-kühler als die aus der Wehlener Sonnenuhr mit ihren köstlichen Blütenaromen und reiferen Fruchtnoten etwa von Pfirsich und exoti schem Obst. Der Donnerhall-Ruf von Wilhelm und Oliver Haag hingegen ruht ganz und gar auf den Brauneberger Weinen, von denen die Juffer und die Juffer-Sonnenuhr eine lange und ruhmreiche Geschichte haben. Die besten Weine der Haags sind regelrechte 3D-Schieferanimationen für den Gaumen und haben bei aller Transparenz eine fast dia mantenscharfe Brillanz. Es ist fast so, als würden Edelsteine im Glas funkeln! Allerdings haben schon Weine von der Terrassenmosel am Unterlauf des Tals ei nen wesentlich kräftigeren, würzigeren Stil als andere. Extrem steile Weinberge, karge Terrassen und hohe Risikobereitschaft prägen etwa die immens kalibrierten Weine von Clemens Busch und Reinhard Löwenstein, in denen sich durch faszinierende Minera lik ein Gefühl von Echtheit und Geborgenheit verdichtet. Buschs Edelsüße aus der Pün dericher Marienburg sind ungezügelt sinnlich, seine besten trockenen bzw. feinherben Rieslinge können gigantische Ausmaße von raumfüllender Dichte haben. Löwenstein ist ein unumstößlicher Verfechter des Terroir-Gedankens, lässt seine Rieslinge extrem lange gären und hat einige der ungewöhnlichsten trockenen und edelsüßen Moselweine gekel tert. Die gesammelte Energie des Winninger Uhlen mit seinen Schwalbennester-Terrassen scheint sich in den nach alten Parzellennamen abgefüllten Weinen zu entladen: Die Weine vom Roth Lay mit seinem roten, eisenoxidhaltigen Emsquarzit duften nach Steinmetzarbeiten und Süßholz, die vom Laubach sind üppiger, nussiger, die typische salzige Mineralität ist cremig eingehüllt. Um Frucht geht es hier weniger, sondern um edle Adstringenz, den atemberaubenden Nachhall. Würde man bei einer Blindprobe die Weine von Busch und Löwenstein in eine Reihe mit denen von Haag und Prüm stel len, so würde kaum jemand auf den Gedanken kommen, dass sie alle aus ein und dem selben Gebiet kommen!
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So verstellt ist manchmal der Blick, wer ihn aber weitet und offen ist, der betritt plötz lich eine zauberhafte Weinwelt von einer immensen Schönheit. Ernst F. Loosen etwa rüt telte die vor Jahren fast stereotype Mosel-Weinwelt mit spontan vergorenen, in der Reife ausgereizten Terroir-Rieslingen aus Spitzenlagen wie Ürziger Würzgarten, Erdener Prä lat und Wehlener Sonnenuhr ganz gehörig wach. Ende der 1980er-Jahre zeigte er ganz neue Dimensionen von Tiefe und Finesse, quasi der erste wilde Jungwinzer Deutschlands, während er heute die Klarheit der Weine stärker herausstellt. Oder Nik Weis vom Urbans Hof, der mit begeisternden „Goldtröpfchen“ aus der gleichnamigen Piesporter Lage fei ne Säuresterne funkeln lässt. Wahre Klassiker aus dem Graacher Domprobst mit an Cas sis erinnerndem Aroma und fester Säure schuf Willi Schaefer, und Johannes Selbach setzt ebenso auf klassische Moselrieslinge und die Phalanx der berühmten Steillagen, die teils noch mit uralten, wurzelechten Rieslingreben bestockt sind. Thomas Haag von Schloss Lieser rekultivierte die fast vergessene Spitzenlage Lieser Niederberg-Helden mit festen, kernigen, mineralischen Weinen und schickt den Schieferkoffer auf große Fahrt. Auch Eva Clüsserath-Wittmann vom Weingut Ansgar Clüsserath in Trittenheim ist eine Aufstei gerin im wahrsten Sinn: Sie rackert sich in fast schon brutal extremen Steillagen wie der Trittenheimer Apotheke ab. Man spürt förmlich den beherzten Einsatz der Hände. Wah re Medizin – garantiert rezeptfrei! Mehr Tiefgang statt Leichtsinn, mehr rauchiger Apri kosenduft statt fröhlich zwitschernder Schieferballade. Selten war also die stilistische Bandbreite so groß. Ganz klar auf dem Vormarsch sind die trockenen Rieslinge mit beeindruckenden Großen Gewächsen etwa von Kesselstatt und Molitor. Da die Nachfrage auf den Auslandsmärkten gesunken ist, wird deutlich mehr trockener Wein für das Inland produziert. Überhaupt steigern nur international renom mierte Betriebe den Anteil der fruchtsüßen Weine, die übrigen setzen seit jeher vornehm lich auf die trockenen bzw. feinherben Weine. So unterschiedlich sind die Verhältnisse! Zudem gibt es eine ganze Reihe anerkannter Spitzenwinzer wie Roman Niewodniczanski (Van Volxem), Claudia und Manfred Loch (Weinhof Herrenberg) und Markus Molitor, die nicht auf die pikante Säure, sondern auf hohe Reife und seidige Mineralität setzen. Ein Modernist ersten Ranges ist auch der Klüsserather Winzer Bernhard Kirsten, der auf selbstbewusste Ausdrucksstärke und scheinbar überraschende Fülle sowie Schmelz setzt. Mit Molitors besten Spätburgundern von geradezu üppiger Dichte und geschliffener Kon zentration erübrigt sich auch das Fragezeichen in puncto Rotwein. Es ist also nicht alles nur Riesling, was glänzt. Der Charakter der anderen beiden Flusstäler unterscheidet sich ganz erheblich von dem der Mosel. Die Landschaft entlang der Saar ist offen, waldreich, mit Wiesen zwischen
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den Weinbergen, die Ruwer hingegen idyllischer, sie verleiht das Gefühl einer gewissen Geborgenheit. Das Klima an der Saar ist am kühlsten, daher können die Weine auch stah lig sein, ihre rasierklingenscharfe Brillanz ist hingegen unübertroffen! Hans-Joachim Zil liken keltert die Quintessenz der Lage Saarburger Rausch: strahlend der Säureschweif selbst nach Jahren (Überhaupt werden zu viele Weine von Mosel-Saar-Ruwer ganz ein deutig zu jung getrunken!), mineralisch-tiefgründig und schmetterlingszart zugleich, eine Spannung wie die vor einer Vulkaneruption. Die Edelsüßen und die Eisweine spren gen sämtliche Rahmen mit verblüffender Lässigkeit. Überhaupt sind rassige Saar-Rieslin ge der Güter Dr. Heinz Wagner, Schloss Saarstein, von Hövel und von Othegraven wahr haft hinreißend. Und der Jungwinzerin Carolin Hofmann von Willems-Willems gelingen wunderbar geschmeidige Spätburgunder mit reicher Frucht und diskreten Gerbstoffen. Ihre Rieslinge aus dem Herrenberg (fest, satt, mit saftiger Ananasnote) und dem Alten berg (Kirschen auf mineralischem Bett) sind echte Schiefer-Boliden. Und dann gibt es nur wenige Kilometer von Konz-Oberemmel in Wiltingen ein Weingut, dessen weltbe rühmte Rieslinge den Gipfel des absolut Möglichen erreichen. Egon Müller-Scharzhofberg ist Klassik pur. In den zeitlos anmutenden Rieslingen scheinen alle nur erdenklichen köstlichen Früchte und Mineralien in einen höheren Ener giezustand versetzt zu sein. Mehr geht eigentlich nicht, mag man bei den triumphal aus drucksfähigen Rieslingen meinen. Und in der Tat sind die berühmten Scharzhofberger zu Recht Legende. Edelste Auslesen, atemberaubende Edelsüße, das sind flüssige Zeitreisen – und selbst Kabinettweine schweben federleicht noch nach Jahrzehnten. Als Egon Müller IV die Führung des Betriebs von seinem Vater übernahm, behielt er auch dessen traditi onelle Vorstellungen bei. Und wie „J. J.“ Prüm an der Mittelmosel ist auch die stilistische Konsistenz von Weltklasse-Rieslingen, die mit natürlichen Kellerhefen im Fuderfass vergo ren werden, so atemberaubend wie die Spannung zwischen Geschmacksintensität und Sub tilität. Diese Weine sind rare Geschenke der Natur, die an der Saar die Grenzen ausloten. Noch kleiner und feiner ist die Weinwelt an der Ruwer, die wie die Saar für sich in Anspruch nehmen kann, die eigentliche Heimat des Eisweins zu sein. Klar und klassisch, ausnehmend feinduftig und rassig schmecken die Spezialitäten etwa vom Karthäuser hof, wo Christoph Tyrell aus der Lage Eitelsbacher Karthäuserhof von eisenhaltigem Rot liegenden-Boden – wieder eine Abweichung vom reinen Schiefer-Klischee – ungemein langlebige trockene und fruchtsüße Rieslinge keltert, die überschwänglich in der Frucht, aber gleichsam pikant in der Säure sind. Gegen die Mosel ist die Ruwer eher ein Bäch lein, die meisten Reben stehen auf Bergen etwas abseits. Das Gut Maximin Grünhaus ist da eine Welt für sich: Herrenhaus im gotischen Stil, alter Baumbestand, Kunst im Park,
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steiler rebbedeckter Hang, hochoriginelle Weine, deren Stärke und Finesse in der Jugend oft unterschätzt werden. Die Weine aus dem Herrenberg sind am aromatischsten, kräute rig, elegant, anregend, die Rieslinge aus dem Abtsberg sind reichhaltig und fein. Die Tro ckenbeerenauslesen etwa aus dem Jahr 1959 überdauern ein Menschenleben und sind für Dr. Carl-Ferdinand von Schubert „nach 50 Jahren immer noch zu jung“. Auch hier: trockene Rieslinge mit ausgeprägten Köstlichkeiten und Eisweine mit quicklebendiger, pointierter Fruchtsäure. Der dritte führende Erzeuger im Ruwertal ist das Weingut Reichsgraf von Kesselstatt, wo dank weitreichendem Besitz die unterschiedlichen Persönlichkeiten von verschiede nen Ruwertälern zum Ausdruck kommen. Die Rieslinge aus dem Kaseler Nies’chen sind rassig, mitunter gar explosiv-aromatisch, der von Scharzhofberg hingegen ist distinguier ter, diskreter, bei aller Kraft reserviert. Auch hier stehen trockene Weine im Fokus, die Großen Gewächse zählen zur Gebietsspitze. Und vielleicht sind die Rieslinge aus dem Ka seler Nies’chen und den Lorenzhöfer Lagen von Peter Geiben von der Karlsmühle noch einen Tick extremer: beerig, nachhaltig, konzentriert und dicht. Hier lässt die Ruwer fast schon ihre Muskeln spielen! Noch deutlicher treten die Besonderheiten der Weine von Mosel, Saar und Ruwer an der Obermosel zutage, wo es im Dreiländereck flussaufwärts von Trier zwischen Deutsch land, Frankreich und Luxemburg locker, lässig, ja bacchantisch zugeht. Ob nun Mosella, la Moselle, de Musel – Kalk ist hier das Zauberwort, und genau auf diesem Boden wollen die Burgunder mit ihren Füßen stehen. Neben dem „Elbling“ vom Weingut M. Hild in Wincheringen, der etwa das souveräne Säurespiel von alten Reben mit knackiger Frucht verbindet, versprühen vor allem die Burgundersorten heiteren, gelassenen Charme, den die ganze Landschaft ausstrahlt – eigentlich ein über alle Grenzen hinaus überragender, homogener natürlicher „Weinraum“, der aber im Laufe einer vertrackten Geschichte im mer wieder aufgesplittet wurde. Hier haben viele Erzeuger vielleicht zu lange am Elbling festgehalten und erkennen erst peu à peu, welches Burgunder-Potenzial die hochwer tigen Muschelkalklagen bieten. Gernot Kollmann, der Ex-Kellermeister des Saar-Wein guts Van Volxem, rekultivierte etwa den Langsurer Bruederberg und pflanzte dort 25 ver schiedene Chardonnay-Klone. Eine sichere Bank für animierende, cremig-saftige weiße und rote Burgunder sind die Güter Befort und Hubertus M. Apel in Nittel, dem eigentli chen Zentrum, wo beim Weingut M. Dostert die rassigen Elbling-Sekte im ChampagnerStil begeistern. Auf die Spitze treibt Stephan Steinmetz aus Wehr die „Enttarnung“ des Mosel-Klischees: „Kann es ein Weingut an der Mosel ohne Riesling geben?“, fragt er süffi sant auf seiner Internetseite und nennt als Antwort Weine, die Marketingkonzepten nicht
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entsprechen, sondern nur eines wollen: schmecken. Und das zu konsumentenfreund lichen Preisen, die die Kreditkarte nicht ächzen lassen. Die Mosel also ein für alle Mal eine Region für Entdecker ? Zweifellos, aber nur dann, wenn man bereit ist, die gängigen Dogmen über Bord zu werfen, seinen Blick weitet und seinen Geist öffnet. So schmeckt eben eine Weinwelt voller Archetypen, Außenkurven und Amphitheater, die zwischen Bergrettung und Him melreich changiert!
Franken Neuer Flaschengeist im alten Bocksbeutel Ob nun fränkische Bratwürste im Weißweinsud oder Schaufele mit Klöß’ und dazu ein Schoppen Randersackerer „Ewig Leben“ oder „Würzburger Stein“: Franken wäre nicht Franken, wenn es nicht bacchantisch und bodenständig zuginge. Schließlich haben Land und Leute ein sonniges Gemüt. Hier muss der zweisömmrige Karpfen im Wurzelsud fast ersaufen und der Waller einen Blick über den Tellerrand riskieren. Essen und Trinken halten schließlich Leib und Magen zusammen, und ein waschechter Franke ist kein Kost verächter! Das neue Spektrum der Weine und die kulturelle Vielfalt der reizvollen Regi on sind ganz erstaunlich: Das geschichtsträchtige Franken klingt dabei dunkel tönend wie die Glocken des Steigerwald-Doms in Gerolzhofen oder melodisch wie das Geläut der Hofheimer Stadtpfarrkirche. So unterschiedlich sind auch die Franken – mal hintergrün dig, witzig, fantasievoll, dann verschlossen, wortkarg oder gar eigenbrötlerisch. Die einen trinken Bier, die anderen Wein, manche angeblich sogar beides. Zum Glück hat die Region ihre Identitätskrise der 1980er- und 1990er-Jahre zweifellos
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durch- und überlebt und ist gehörig in Bewegung geraten. Und das in allen wesentlichen Bereichen: Im unterfränkischen Kurfranken mit den Rotweininseln rund um Bürgstadt und Miltenberg, wo auf den Buntsandsteinböden etwa im Centgrafenberg überragende Früh- und Spätburgunder wachsen. Im Großraum Würzburg gedeihen auf teils steilen Hängen mit Muschelkalkböden prächtige mineralische Silvaner, die sogar den Riesling übertreffen können. Weinorte wie Würzburg, Randersacker, Sommerhausen und Sulzfeld am Main lassen die Herzen vieler Weinfreunde wieder höher schlagen. Und im Steiger wald bei Iphofen mildert kein Flusslauf mehr das Klima. Dafür schützt aber eine Bergket te nach Norden und Osten vor Kälte, die Steigen eines Walds mit seinen Abbruchkanten und malerischen Hängen rücken ins Bild. Hier kommt die Kraft des Keupers ins Spiel, der für wuchtige Weine sorgt, deren Kraft die besten Erzeuger aber immer präziser definieren. Wie ein Schiffsrumpf schiebt sich im Steigerwald der steile Julius-Echter-Berg in die Ebene. In seinem Innern lagern versteinerte Relikte aus der Triaszeit vor 240 Millionen Jahren: massenhaft Muscheln und kleine Krebse, aber auch Farne und Schachtelhalm bäume. Abwechselnd war das Gebiet von Steigerwald und Hassbergen mal der Grund ei nes tiefen Meers, mal war er von flachen Lagunengewässern und dann wieder von Sümp fen bedeckt. Eine Ahnung dieser Millionen Jahre alten Geheimnisse schmeckt man in den Wei nen: pflanzliche Düfte und eine jodige Würze wie von einer Muschelbank oder einer fri schen Meeresbrise, so als spritze die Brandung in Großmutters Kräutergarten. Diese ehr lichen, eleganten und klaren Weine sind wahre Langstreckenläufer, die mindestens ein Jahr auf der Flasche brauchen, bis sie ihre kompakte Frucht zeigen. Überhaupt die Silvaner: Wo in den großen Weingegenden der Welt viel Bohei um das Terroir und autochthone Rebsorten gemacht wird, schöpft der Steigerwald aus dem Vollen – dies aber eher heimlich, still und leise. Auf den tiefgründigen Keuperböden ge deihen hervorragende Silvaner: mächtige, ausdrucksstarke Weinunikate, die auch neben großen Chardonnays und Rieslingen bestehen können. Dennoch nutzen nur wenige eta blierte Erzeuger – das Quartett Castell, Wirsching, Roth und Ruck bleibt unangefochten – und vereinzelte Newcomer wie Weltner, Dr. Heigel oder Brügel das Potenzial. Eine Sonderstellung hat dabei der steile Schlossberg im Weiler Castell. Dieser über ragende Wingert ist seit 1258 auf Schloss Castell mit seinem Fürstlich Castell'schen Domä nenamt dokumentiert. Am 5. April 1659 wurde der aus Österreich importierte Silvaner, der damals Österreicher hieß, erstmals in Franken und damit in Deutschland erwähnt. Seit 1996 leitet Ferdinand Graf zu Castell-Castell in der 26. Generation das Gut und hat es in die Spitzengruppe des Gebiets geführt: Nobel im Sortenausdruck zeigt das Große
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Gewächs aus dem steilen Casteller Schlossberg, dass ein Spitzen-Silvaner majestätische Fülle mit rieslinghaftem Spiel verbinden kann. Weiter westlich in Kurfranken wachsen 70 Prozent des fränkischen Weins – selbst in weltberühmten Lagen wie dem Würzburger Stein findet sich ein Sortenmischmasch. Dabei steht der Stein für fränkische Weinkultur pur: Die Würzburger Traditionsbetriebe Staatlicher Hofkeller, Bürgerspital zum Heiligen Geist und Juliusspital haben mit fein nervigen, eleganten Weinen dafür gesorgt, dass Frankenwein sogar als „Steinwein“ be zeichnet wurde – und gleich nach der Phalanx des Rheinweins als vornehmste deutsche Spielart galt. Heute schreibt man jedoch das 21. Jahrhundert, und die Spannung beginnt erst in den letzten Jahren im Stein zu knistern. Das Juliusspital bringt auch mit stattli chen Auflagen Qualität in die Flasche und keltert saftige, ellenlange und voll ausgereifte Silvaner und Rieslinge aus dem Stein, während der Staatliche Hofkeller nervig-minera lische Weine ohne überbordende Wucht erzeugt. Einen Paradigmenwechsel hat Robert Haller, der das Weingut Fürst Löwenstein mit kräuterwürzigen, absolut originären Silva nern und Rieslingen aus dem Homburger Kallmuth an die Gebietsspitze führte, im Bür gerspital eingeläutet: Die Großen Gewächse aus dem Stein haben eine Vielschichtigkeit und Tiefe, die staunen macht. Das moderne Franken bietet also sehr viel mehr als bloßen „Bratwurst-Barock“! Das beweist auch die Gruppe Frank & Frei: 17 Betriebe machen Volldampf und setzen mit „Vertrauen, Offenheit und Zuverlässigkeit“ ihre Vision um: ein neues Geschmacksbild für den Müller-Thurgau. Nicht mehr dieses leicht dropsige Erdbeerfrüchtchen, sondern ein strahlender, lebendiger, feinstrahliger Wein. Die Qualität beginnt bereits im Weinberg beim Rebschnitt, setzt sich im Keller fort. Ein Riesenerfolg, der auch das Image des Fran kenweins aufmöbelt und massenkompatibel ist. Eine tiefgründige Pointe, denn Frank & Frei-Pionier Artur Steinmann setzte gerade auf die Sorte, die vor 15 Jahren noch als In begriff für fränkische Verfehlungen galt … Gibt es etwas wie den Müller-Thurgau mit der Goldkante? Wer die ultimative Stei gerung des eigentlichen fränkischen Nationalgetränks erleben möchte, muss den High way verlassen und nach Auernhofen abbiegen, wo man sich eigentlich schon südlich des Weißwurstäquators wähnt und eher Bierbrauereien vermutet. Doch weit gefehlt: Simone und Christian Stahl spielen am Steilhang der Lage Hasennest, etwa 12 Kilometer nord westlich von Rothenburg ob der Tauber, mit der fast vergessenen Rebsorte Müller-Thur gau eine mineralische Dichte und salzige Kühle an der Tauber aus, die Lichtjahre entfernt ist vom pappsüßen Müller-Allerlei. Hier hat Franken etwas Prickelndes, im „Stahlwerk“ (dem neuen Keller) rauscht förmlich der gletscherkühle Bergbach. Stahls Weine sind
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Erfrischungswunder! Diese neue Stimmung zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Mainschleifen flussaufwärts von Würzburg. Escherndorfer Lump, Volkacher Karthäu ser, Sommeracher Katzenkopf – in dem für fränkische Verhältnisse durch ein besonde res Mikroklima fast schon tropisch anmutenden Reifeparadies erreichen die Weine eine fast schon verschwenderische, üppige Sinnlichkeit. Auch hier feilen Senkrechtstarter wie Rudolf May am super-saftigen Silvaner-Stil, während Sandra und Ludwig Knoll sich un ermüdlich für das Renommee der Lage Stettener Stein einsetzen. Ihre puristische Prä sentationsstätte WeinWerk im Stein ist von allem Überflüssigen befreit. Vielleicht noch kompromissloser gehen die Brüder Wolfgang und Ulrich Luckert vom Weingut Zehnt hof Luckert in Sulzfeld zur Sache. Fränkisch trocken steht hier für herrlichen Extrakt aus einem längst vergessenen Zeitalter, der nahtlos in den Zeitgeist überführt wurde: Mül ler-Thurgau aus dem Sulzfelder Cyriakusberg, der flüssig gewordene Albtraum für Eti kettentrinker. Der „Weißburgunder drei Sterne“ aus der gleichen Lage ist ein HighspeedFlitzer mit enormem Drehmoment, die Riesling-Silvaner-Cuvee „Unter der Mauer“ zieht einen förmlich in sich hinein. Ein neuer Flaschengeist, der sich endlich aus zu engen Ver hältnissen befreien kann! Dies gilt auch für „Bickel-Stumpf“, dem Carmen Bickel und Reimund Stumpf ihren Namen gaben. Als sie 1976 heirateten, legten sie kurzerhand die elterlichen Betriebe zu sammen. Die Silvaner aus den Frickenhäuser Muschelkalklagen sind kraftvolle Weine mit Schmelz und Energie. Seit 2003 arbeitet der Junior Matthias mit und baut mit seinem spontan vergorenen Silvaner „crossover“ aus dem Barrique frech und unbekümmert ein gefahrene Vorurteile ab! Auch Horst Sauer musste anfangs zu enge Grenzen sprengen – und machte den Escherndorfer Lump salonfähig, indem er souverän aus dem üblichen Gebietskontext heraustrat, um im Gegenzug neue regionaltypische Weine zu schaffen: nicht nur eine ty pisch fränkische Pointe. Der große Erfolg kam zuerst mit edelsüßen Weinen, insbeson dere mit hocheleganten, konzentrierten Beeren- und Trockenbeerenauslesen vom Silva ner. Hier lässt das ziselierte Säurespiel die Farben der Frucht und der gesunden Botrytis noch mehr schillern. Doch auch bei trockenen Weinen wie dem leuchtturmartigen Gro ßen Gewächs vom Riesling aus dem Lump gibt Horst Sauer mit seiner im Keller mitverant wortlichen Tochter Sandra jedem Weinfreund das triumphale Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Die Erfolgsformel Sauer plus Escherndorfer Lump ist allerdings kein Einzelfall: Rainer und Daniel Sauer setzen auf Freiraum und Leidenschaft. „L“ aus dem Escherndorfer Lump steht auf dem Etikett von Riesling und Silvaner für die Leidenschaft von Vater Rainer, „Freiraum“ auf dem der Weine des talentierten Jungwinzers Daniel für
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Freiheit und Toleranz – und für einen hochaktuellen Schwung beim Silvaner: saftig, ele gant, voll gelber Früchte und zart exotischer Nuancen. Viel Neues gibt es auch im Westen. Und ein weiteres fränkisches Urgestein, gar einen Einstein des Frankenweins: Paul Fürst. Er trotzt dem Bürgstadter Centgrafenberg, dem Reich des Buntsandsteins, alljährlich Ungeheueres ab. Sein Ringen zielt nur auf eins: die pure präzise Frucht mit Mineral und Tiefgang. Lieber verzichtet er auf ein paar Oechsle und erhält dafür die Frische. Fürst hat gut lachen, denn im Centgrafenberg reifen seine Früh- und Spätburgunder genau auf den Punkt: Es gibt nur ganz wenige Lagen in Deutsch land, wo die Balance von Reife und Säurefrische so punktgenau gelingen kann. Und so fasziniert diese einzigartige Sensibilität, pure Materie und Transparenz, die sich von vorn bis zum langen Ende zieht. Heiter-sinnlich schmecken aber auch die Weißen, schon in der Basislinie „pur mineral“ von Riesling und Silvaner. Und die kalibrierten Großen Gewäch se von Weißburgunder und Riesling aus dem Centgrafenberg scheinen das letzte golde ne Herbstlicht eingefangen zu haben: So sehr schillern und funkeln sie in ihrem Innern! So schnell dreht sich heutzutage also die Weinwelt. Galt Franken noch vor 15 Jahren selbst bei eingefleischten Kennern als Fossil oder gar als Synonym für belanglose Plörre – meist jenseits von trocken –, hat sich das Gebiet am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezo gen. Selbst Silvaner aus dem pummeligen Bocksbeutel scheint wieder ein Blickfang sein! Sein Geschmack ist so originär und unverwechselbar, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, wann auch die internationale Weinwelt wieder ihren Blick auf das Land des Pummelchens richtet. Denn ein Manko bleibt: Gemessen an den Bewertungen in Wein-Guides und bei in ternationalen Wettbewerben ist Franken pro tausend Hektar das wahrscheinlich dyna mischste deutsche Anbaugebiet. Doch dieser Erfolg ist bisher verborgen geblieben, weil es Franken noch nicht gelungen ist, diesen auch nachhaltig genug nach außen darzustel len. So klebt das moderne Frankenbild noch immer am Bratwurst-Barock-Image. Dabei hat die Heimat des Silvaners nicht nur bei dieser Sorte, sondern auch beim Bocksbeutel eine frappierende Wende geschafft: von derb und „erdig“ zu saftig und überaus lebendig.
Franken ist pro Tausend Hektar das wahrscheinlich dynamischste deutsche Anbaugebiet.
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Nahe Jurassic Park des Rieslings Willkommen in der urzeitlich anmutenden Welt des Weins! Willkommen in den RieslingBergen! Am massiven, 202 Meter hohen Rotenfels bei Bad Münster am Stein krallen sich die Reben regelrecht in den Porphyrverwitterungsboden. Das ist Dolomiten-Feeling pur, und man möchte meinen, dass dazwischen, am Sockel des urweltlichen Naturmonuments, noch Dinosaurier grasen. Wanderfalken, Uhus und Eidechsen nisten in den Vorsprüngen, Einkerbungen und Spalten, und die Rieslinge mit ihren Aromen von Kräutern, Rauch und Würze strahlen durchaus etwas von dem geheimnisvollen, in seiner Tiefe schier un ergründlichem mineralischen Zauber dieser Jurassic-Park-Lage aus. In scharfen Kurven windet sich die Nahe durch die vulkanische zerklüftete Land schaft. Riesige rötlich schimmernde Felswände steigen in der Talenge beinahe senkrecht empor. Vis-à-vis des malerischen Kurparks von Bad Kreuznach erhebt sich etwa der Por phyrfelsen Rheingrafenstein mit einer Burgruine auf der Spitze, und weiter flussaufwärts öffnet sich bei Schlossböckelheim ein Reben-Amphitheater, das seinesgleichen sucht. Bei jeder Biegung bietet sich ein neuer Blick, ändert sich die Ausrichtung der Weinberge, die teils so steil und steinig sind, dass man sich unwillkürlich fragt, wie Reben unter solchen Bedingungen überhaupt noch gedeihen können. Doch auch das ist noch nicht der Höhepunkt. Das eindrucksvollste Panorama bie tet der 422 Meter hohe Lemberg zwischen Niederhausen, Oberhausen und Feilbingert, von dessen nördlicher Kante man ein sagenhaftes Panorama über die Nahelandschaft, den Flussverlauf und die Weinberge hat. Weltberühmte Lagen wie die Niederhauser Her mannshöhle sowie die Schlossböckelheimer Kupfergrube scheinen ebenso zum Greifen nah wie die in einen lieblichen Talkessel eingebettete Ortschaft Oberhausen, von wo aus der berühmteste Nahewinzer und Riesling-Pionier Helmuth Dönnhoff die Weinwelt im Sturm erobert hat – seine Weine zählen zur absoluten Spitzenklasse, wobei ihr Erzeuger vielleicht sogar noch bekannter ist als das Anbaugebiet.
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Willkommen auch im Polarkreis des Rieslings, wo die Beeren etwa in den Seitentä lern bei Bockenau noch bis weit in den November ausreifen können, ohne Schaden zu nehmen! Atemberaubende Tropfen von Felsenklippen, Steilwänden und der Nadelspitze helfen uns, die bekannten Normen zu überwinden. Die bewegte Entstehungsgeschichte der Erde mit Vulkanausbrüchen und dem Einbruch des Nahegrabens ist der Grund für die Gesteinsvielfalt etwa von Grünschiefer, Rotliegendem, Quarzit, Phyllit, Sandstein, Löss, Gneis und Basalt. Dabei muss man den Mut einiger Spitzenwinzer wie Dr. Peter Crusius und seinem Vater Hans, der ebenfalls Pionierarbeit geleistet hat, bewundern, die ohne krachledernes Getöse und mehr oder minder auf sich allein gestellt unbeirrbar an ihrer Vision vom neuen, mineralischen, differenzierten Nahewein fernab von eitlen Moden feilen. Die leisen Töne und mineralischer Reichtum nebst feinen Würz- und Kräuterno ten machen ihre Weine so hinreißend markant. Viel mehr mineralische Substanz geht kaum! Keine Frage, wer von dem vielbeschworenem Modewort Terroir redet, kommt an der Nahe nicht vorbei. Wo, wenn nicht dort, hat dieser oft völlig überzogene Begriff sei ne Berechtigung! Dabei zeigen die besten Weine neben dem rassigen Säurespiel eine markante mine ralische Würze und Pikantheit, die für den einen nur der „Stinker des Bodens“, für den anderen der berühmte gôut de terroir ist, wie die Franzosen sagen. Nirgendwo anders sind die Weißweine durch den Geschmack des Bodens stärker geprägt als an der Nahe. Eine besondere Spezialität sind die teils atemberaubend perfekten Eisweine, die sich mit ihrer aromatischen Intensität am Gaumen gleichzeitig wolkenkratzerartig auftürmen und durch ihre gletscherspaltenkühle Mineralität in schier unergründliche geologische Tie fen zu graben scheinen. Trotz fragwürdiger Exportschlager des deutschen Nachkriegsweinbaus wie Liebfrau enmilch haben an der Nahe einige Spitzenerzeuger gleichsam im Windschatten der im posanten Steillagen seit Jahren an ihrer Qualitätsvision festgehalten. Helmut Dönnhoff ist Vorbild, Vorreiter und integraler Teil einer nachhaltigen Weinkultur an der Nahe, und es ist faszinierend, seinen Erzählungen zu lauschen, wenn er etwa davon berichtet, welch kostbares Gut früher die Nahe-Rieslinge waren, die in solch einem nördlich gelegenen Terroir nur in wenigen Jahren ausreiften und bei den Dönnhoffs nur an Festtagen auf den Tisch kamen. Respekt ist für ihn das Schlüsselwort, und dementsprechend behandelt er auch seine Weine und Lagen. „Hier oben liegen Weltklasse und Schrott direkt nebeneinan der“, sagt Helmut Dönnhoff, „je weiter man nach Norden kommt, desto wichtiger wer den die Lagenunterschiede und die Kontraste.“ Und kaum jemand arbeitet diese feinen
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Differenzierungen von Lagen wie der Niederhäuser Hermannshöhle, dem Norheimer Dellchen, der Schlossböckelheimer Kupfergrube und der Oberhäuser Brücke so exakt heraus wie er. Riesling ist für ihn das Heitere, Frühlingshafte, Frische, und genau das, die sen besonderen Zug, diese sehnige Spannkraft verkörpern seine besten Naheweine. Und Dönnhoffs Eisweine sind geradezu Ikonen der Riesling-Kultur! Der obere Flussabschnitt zwischen Schlossböckelheim und Martinstein hingegen ist weniger felsig, dafür offener und lichter, bringt aber ebenfalls prachtvolle Spitzenweine hervor, die – etwa bei Monzingen – neben einem eleganten Säurespiel auch eine pikante mineralische Note entwickeln. Werner und Frank Schönleber vom Weingut Emrich-Schön leber sind hier die Stars, die vor allem mit ausdrucksstarken Rieslingen vom Frühlings plätzchen und insbesondere aus dem abschüssigen Schieferhang Halenberg für Furore sorgen. Die wunderbar sensiblen Weine von tiefgründiger Substanz sind fest, rassig und haben eine natürliche Verschlossenheit im Blut. Sie brauchen einfach Zeit zur Reife, wer den dann noch weiniger – und entfalten dann aus dem Halenberg mit seinem blauem Schiefer, Quarzit und Kiesel ganz wunderbare Aromen von Kräutern, Mineralien, Zitrus früchten, insbesondere Grapefruit. In Bockenau, nur weniger Kilometer weiter, zeigen Tim Fröhlichs Erzeugnisse das Potenzial der Steillagen der noch immer unterschätzten Seitentäler, wo dank eines beson deren Kleinklimas beachtliche Weine reifen können. Die trockenen Rieslinge sind wie der Sprung in eine Gletscherspalte, und die Edelsüßen zeigen eine geradezu explosive Finesse. Tim Fröhlich setzt auf kompromisslos gradlinige, mineralische Brillanz, spontan vergorene Weine mit Aromen von Minze, Kräutern, Würze und Mineralien – klar und schnörkellos. Wie die „neue Nahe“ weitab jeglicher Klischees schmeckt, zeigen auch die beiden Weinenthusiasten Luise Freifrau von Racknitz-Adams und Matthias Adams, die auf ihrem Weingut, dem ehemaligen Gutshof des Klosters Disibodenberg an der Mündung der Glan, ihren Traum leben. Die reife, ausgewogene Fruchtigkeit ihrer Tropfen balancieren die für die Naheweine typische mineralische Würze und pikante Säure bestens aus. Bei den Lagenweinen gibt die cremig eingehüllte Mineralität ein besonderes Gaumengefühl, das zwischen Schmelzigkeit und belebender Frische changiert. Wie die Steilstlage Odernheimer Kloster Disibodenberg mit ihren uralten Sandstein mauern ist auch das malerische Alsenztal ein wenig in Vergessenheit geraten. Bei Bad Münster-Ebernburg mündet die Alsenz in die Nahe, und sein Anbaugebiet, das früher zur Pfalz gehörte, erstreckt sich in südlicher Richtung bis nach Mannweiler-Cölln. Hier sind die meisten der früher noch unter Ertrag stehenden Steillagen inzwischen verbuscht, und das sympathische Ehepaar Linxweiler hat es mit seinem Ökoweingut Hahnmühle noch
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schwerer als seine Kollegen an der Nahe. Ihre Weine wirken sehr energiegeladen, voller vibrierender innerer Spannung und geschmeidiger, traubiger Frucht. In puncto Silvaner und Traminer – Letzterer wird auch im traditionellen Gemischten Satz mit dem Riesling angebaut – haben die Linxweilers die Meinungsführerschaft an der Nahe inne. „Die Zeit ist reif für trockenen Riesling“, meint hingegen Dr. Martin Tesch aus Lan genlonsheim. Fünf trockene Riesling Spätlesen bilden den Kern seines Sortiments. Die Trauben werden zum gleichen Zeitpunkt geerntet und getrennt nach Lagen auf diesel be Weise zu Wein verarbeitet. Sie unterscheiden sich nur aufgrund ihres jeweiligen Ter roirs bzw. ihrer Herkunft. Um dieses auch optisch stärker zu kennzeichnen, prangen auf den Flaschen bunte Etiketten und Kapseln nach dem Motto von Walter Gropius: „Bunt ist meine Lieblingsfarbe.“ Mit fossilen Muscheln etwa ist der blaue Königsschild durch setzt, „ein homogener Boden, Südhang“. Dr. Martin Tesch weiß, dass seine konsequent trockenen Rieslinge polarisieren, doch ist Nahe-Riesling für ihn immer auch ein Nischenprodukt, das sich nur mit eigenem Pro fil und Charakter im globalisierten Zeitalter behaupten kann. Dabei möchte er sich mit Terroir-Weinen gegenüber den oft nach Standardrezepten vinifizierten Winemaker-Wei nen deutlich abgrenzen. Am klarsten kommt seine Philosophie bei seinem Riesling „Un plugged“ zum Ausdruck: „Das Prinzip Unplugged steht im Zeitalter der Massenprodukte für die Besinnung auf handwerkliche Fähigkeiten.“ Dieses Back to the Roots hat an der unteren Nahe eine besondere Bedeutung: Die Angebotspalette dieses Gebiets hatte lange den Charakter eines Bauchladens. Hier fin den sich sowohl Ex-Rübenäcker, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in Weinanbauflä chen umgewandelt wurden, ebenso wie die steilen, beeindruckend felsigen Hänge in ge schützten Seitentälern – wie etwa im Trollbachtal, wo neben den Prachtlagen Goldloch, Burgberg und Pittermännchen auch ein imposantes buntes Schild im Wingert steht, auf dem in gotischen Lettern der Name Schlossgut Diel prangt. Die dortigen Weine schlagen nun wesentlich leisere, subtile, nuancierte Zwischen töne an. Bei den Rieslingen fasziniert der Goldloch auf Urgesteinsboden gewachsen, ein aristokratischer Wein mit filigranem, elegantem Säurespiel, während der „Burgberg“ kris tallklar, mit Noten weißer Blüten und Aromen von Flieder durchwirkt ist. Gleichzeitig ist er das kraftvollste, zupackendste und nachhaltigste der drei Großen Gewächse, während die Weine aus dem Pittermännchen mit seinem Schieferboden geradezu moselanisch-hei ter anmuten: leicht rauchig, pikant, ureigen, verspielt. Die Kabinettweine sind schmet terlingsgleich. Und insbesondere die Spätburgunder zeigen eine dermaßen spannende Spielart des Naheweins, die vor Jahren noch kaum jemand für möglich gehalten hätte.
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Seit dem Jahrgang 2006 teilt sich der VDP-Vorsitzende Armin Diel, der maßgebli chen Anteil bei der Etablierung des Projekts Großes Gewächs hat, die Arbeit mit seiner Tochter Carolin, was den ungeschminkteren Weinen nochmals einen Kick nach vorn ge geben hat. Dieser Generationswechsel ist inzwischen auch in anderen Spitzenbetrieben wie Dönnhoff (mit dem Einstieg von Cornelius Dönnhoff) und Emrich-Schönleber (dort ist es Frank Schönleber, der aktiver Teil des Ganzen ist) eingeläutet. So arbeitet auch an der Nahe ein junges Winzernetzwerk wie die Nahetalente an einer unumkehrbaren Re volution des deutschen Weins. Die neue Nahe profiliert sich so zunehmend mit frischen Gesichtern wie Heiko Bam berger (Wein- und Sektgut Karl-Kurt Bamberger & Sohn, Meddersheim – tolle Sekte!), Christoph Kauer (Gebrüder Kauer, Windesheim – starke Weißburgunder) oder Sebasti an Schäfer (Joh. Bapt. Schäfer, Burg Layen – rassige Scheureben, Riesling von enormer Spannkraft). Diese neue Generation ist offen, engagiert, kritisch und wiederum auf den Partys und Winzerstammtischen der befreundeten Rheinhessen-Güter präsent – zudem garantiert der generationenübergreifende Austausch, dass insbesondere der Nahe-Ries ling auch künftig im Jurassic Park des Rieslings ganz nahe am Terroir bleibt!
So arbeitet auch an der Nahe ein junges Winzernetzwerk wie die Nahetalente an einer unumkehrbaren Revolution des deutschen Weins.
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Rheingau Nur wer sich neu erfindet, überlebt In einer globalen Weinwelt, die sich immer schneller um sich selbst zu drehen scheint, ist der Rheingau offensichtlich ein Relikt, das sich schon vor über 150 Jahren auf den Ries ling als seine Leitrebsorte festgelegt hat. Beinahe täglich werden heute jedoch neue Mar kenweine mit flauschig-weichen Fruchtaromen in den unendlichen Orbit der Supermärk te, Weinhandlungen und Onlineshops geschickt – in den neuen paradiesischen Garten des Weins, wo es irgendwie tutti-frutti-fruchtig schmeckt und beim Einkaufen pseudo-eth nische Musik aus den Lautsprechern tönt … Im Gegensatz dazu scheint im Rheingau alles beim Alten geblieben zu sein. Sogar manche Weinetiketten haben sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert – ein Zei chen des robusten, beinahe unerschütterlichen Selbstvertrauens dieser Region. Und ob wohl zwischen dem modernen Discounter und dem altehrwürdigen Rheingau mit sei nen gut 200 Gutsschänken und Straußwirtschaften mehr als eine Welt klafft, so finden sich hier wie da dieselben eingängigen Aromen von Dosenpfirsich und Aprikosenkonfi türe, die einem breiteren Publikum gefallen, aber keinesfalls irgendwie stören oder gar provozieren sollen. Ein Sicherheitsdenken hatte sich also in das traditionsreichste deutsche Anbauge biet eingeschlichen, wo man auf historische Meriten pocht wie auf eine äußerst fragile Porzellanvase, die bei dem geringsten Druck in tausend Scherben brechen kann. Denn ganz zweifellos findet sich auf dem kompakten, schmalen Band von Weinbergslagen west lich von Wiesbaden, wo der Rhein Richtung Westen fließt, der Ursprung der deutschen Riesling-Kultur. Ohne die Entdeckung und Optimierung der späten Lese edelfauler Trauben sowie die Einführung der Riesling-Monokultur im 18. Jahrhundert durch die Mönche von Kloster Eberbach und Johannisberg hätte der Weinbau in Deutschland wohl kaum seine Bedeutung und weltweit anerkannte Reputation erlangt. Doch zwei fellos litt diese traumhaft schöne, etwa 3.200 Hektar große Region in den 1980er- und
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1990er-Jahren unter der lang anhaltenden Schwächeperiode vor allem von besonders berühmten Gütern. Deren Abstieg in die Mittelmäßigkeit begann, als man sich den „Segnungen“ moder ner Weinbereitung anvertraute, bei den Lohnkosten sparte und die Weine durch eine übertriebene Technologiegläubigkeit ihres unnachahmlichen Charakters beraubte. So lebten bis Mitte der 1990er-Jahre viele höchst mittelmäßige und überteuerte Weine von nichts anderem als dem Ruhm längst vergangener Tage. Viele Weine gerade aus den be rühmtesten, oft Rhein-nahen Lagen wie dem Erbacher Marcobrunn oder Hattenheimer Wissel- sowie Nussbrunnen, einst das Triumvirat der historischen „Brunnenlagen“, ent täuschten Kenner und ein breiteres Publikum derart, dass diese sich gar ganz vom Rhein gau abwendeten. Statt eines oft hart und säuerlich schmeckenden „Steinbergs“ tranken sie die neuen, aufregenden Weine aus den aufstrebenden Weinanbauregionen wie Pfalz, Mosel, Nahe und Rheinhessen. Der Rheingau stand diesen neu ausbalancierten Kräfteverhältnissen und dem ra santen Aufstieg eines Weinguts wie dem von Klaus Keller aus dem rheinhessischen Flörs heim-Dalsheim zunächst ratlos gegenüber. Für viele Rheingauer waren das die Rieslinge von Rübenäckern, von der „ebsch“, also der „falschen“ Seite des Rheins. Plötzlich waren Weine wie der „Leckerberg“ von Winter oder der „Morstein“ von Wittmann in aller Mun de, und eine junge Generation in Rheinhessen revolutionierte in einer historischen Brei te den Riesling. Zudem wurde das eigentliche Kernland zwischen Walluf und Rüdesheim auch vom sogenannten Maingau, dem Abschnitt um Hochheim und Flörsheim-Wicker westlich von Wiesbaden, in die Zange genommen. Früher galt dieses Gebiet am Mündungsgebiet des Mains in den Rhein lediglich als „adoptiert“, doch ein Pionier wie Gunter Künstler schafft seit Ende der 1980er-Jahre vor allem trockene Rieslinge von ungeahnten Dimensionen. Ihr fruchtbetontes und mineralisches Säurespiel schmeckt gar nachhaltiger, feiner und lebendiger als das der Weine aus der Riesling-Ursprungsregion. Goldkapsel-Versionen der Hochheimer Hölle etwa sind Gesamtkunstwerke, in denen das fast schon moselanisch-hei tere Spiel die monumentale, mineralische Kraft fast schon konterkariert – die unerhör te Paradoxie eines M.-C.-Escher-Bildes! „Wir haben uns immer hinterfragt“, sagt Gunter Künstler und gibt damit die Geisteshaltung wider. Im Gegenzug brachte Rainer Flick die Straßenmühle in Wicker auf Vordermann und rekultivierte die Wickerer Lagen Nonn berg und Mönchsgewann: pure Riesling-Energie – der Nonnberg mit aufregenden Kräu teraromen, stahlig, mineralisch-würzig, urig, der Mönchsgewann mit herrlich reintöniger Frucht von kandierten Zitrusfrüchten, Limettenschale, rosa Grapefruit und Baby-Ananas.
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Die besten Weine von Künstler und Flick zeigen exemplarisch das Entwicklungspotenzial eines klassischen Rheingauers: festes Säurespiel, gerader Charakter und eine Persönlich keit von charakterstarker Statur! Eindrucksvolle Belege dafür, wie wichtig der Blick über den Tellerrand und das selbstkritische, offene Hinterfragen sind – was lange Zeit westlich von Wiesbaden durchaus keine Selbstverständlichkeit war! Dabei hatte der Rheingau mit der Charta-Bewegung und der gesetzlichen Veranke rung des Ersten Gewächses – das deutsche Pendant zum französischen Grand Cru – auf den ersten Blick wichtige Impulse für die Weiterentwicklung und die Steigerung des An sehens deutscher Weine gegeben. Doch leider ist die im Kern sinnvolle und verbrau cherfreundliche Charta-Bewegung inzwischen weitgehend verebbt, während die Ersten Gewächse immer besser werden. Die Talsohle scheint nun endlich durchschritten, der Aufschwung ist das Thema der Stunde! Ein Beispiel dafür ist die inoffizielle G7-Gruppe. Die Winzer der Weingüter Kühn (brillante Biorieslinge mit cremig eingehüllter Mineralität), Leitz, Künstler, Jung (der ras sige Gipfelpunkt der Erbacher Lagen), Lang, Spreitzer (fulminante Rieslinge mit herr lich pointiertem Spiel) und Prinz (Rieslinge scheinbar schwerelos wie ein Zitronenfalter und doch intensiv mineralisch) sitzen endlich an einem Tisch, diskutieren, probieren und kritisieren mit offenerem Geist. Mächtig Gas gibt auch der Lordsiegelbewahrer des Rheingauer Rieslings, Hans-Jo sef Becker in Walluf, dessen trockene Spät- und Auslesen fast schon zeitlose Schönheiten sind. Nach dem Tod von Bernhard Breuer, einem Pionier der Lagenklassifikation und des trockenen Rheingauer Rieslings, haben die Weine vom Weingut Georg Breuer ihre Spannkraft, Dichte und Ausdruck teils sogar noch weiter gesteigert, und das Weingut Wegeler-Gutshaus Oestrich landete nach dem Geheimrat „ J“ mit dem „Wegeler Pur“ ei nen Coup. Endlich legen auch die Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach, immer hin das größte Weingut Deutschlands, richtig zu: Die neue Kellerei am Steinberg wurde 2008 in Betrieb genommen, und gerade die federleichten, springlebendigen RieslingKabinett-Weine sind prächtige Ausweise für diese traditionsreiche Rheingauer Kultur: moderat im Alkohol, vital und erquickend in der Fruchtsäure, belebend im Nachhall. Das Schwungrad kommt langsam in Fahrt! Gespür für neue Wege zeigen auch Anthony Hammond und Simone Böhm mit ihrer „Garage Winery“. Weine wie „Wild Thing“ oder „Sugar Babe“ haben etwas Wildes und möbeln den scheinbar erzkonservativen Rheingau er auf! Und welches enorme Potenzial in den schiefrigen Lagen von Lorch und Lorch hausen steckt, beweist die junge, hochtalentierte Eva Fricke, die neben ihrer Tätigkeit bei Josef Leitz in Rüdesheim teils grandiose Weine von salziger Mineralität mit Nerv und
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Druck unter ihrem eigenen Namen keltert. Der „Lorchhausener Seligmacher“ hat seinen Namen bei Eva Fricke mehr als verdient! Auch bei den einstigen Flaggschiffen übernahm eine neue Generation von Gutsver waltern das Zepter und leitete mit dem Weingut Weil großflächig die Renaissance des mo dernen Rheingaus ein. Rowald Hepp (Schloss Vollrads), Christian Witte (Schloss Johan nisberg), Walter Bibo (Schloss Reinhartshausen) und Peter Barth (Schloss Schönborn) sind offen, weltgewandt, ambitioniert und kritisch. Sie feilen an neuen, zeitgemäßen Kon zepten und Veranstaltungen für ein jüngeres Publikum wie auch an der Weinbergsarbeit und geben den Rieslingen eine völlig neue, eindrucksvolle Statur. Sie verbreiten lässige Riesling-Lust durch das faszinierende Zusammenspiel von Schlankheit, Finesse und Kraft. Denn gerade das fruchtbetonte Säurespiel, und nicht mächtiger Alkohol, ist der Län gengeber, und hier zeigt sich trotz des Global Warming ein Paradigmenwechsel. Das un widerstehlich raffinierte, absolut originäre Spiel beim Riesling (wofür es keine englisch sprachige Übersetzung gibt) ist ohne diese ziselierte, ausgereifte und wache Säure, an die Mineralstoffe gebunden sind, undenkbar. Dafür steht der Rheingauer Riesling mehr denn je! Die Basis für solch großartige Terroir-Weine sind teils extrem niedrige Erträge und eine späte Lese. Nur dann können die Reben genügend Mineralstoffe aus dem Boden saugen – und Aromen von rauchigem Feuerstein zeigen wie beim Ersten Gewächs von Vollrads, die vom Quarzit als dem Ausgangsgestein des Rheingaus herrühren. Zudem hat der Rheingau im Zeitalter des Global Warming mit seinen Höhenlagen ein Pfund, mit dem er wuchern kann. „Ich bin ein Höhenmensch, ich sitze lieber auf dem Balkon statt im Garten“, sagt Johannes Leitz aus Rüdesheim, der eine Art Qualitäts-Raf ting im Rüdesheimer Berg betreibt und etwa im Kaisersteinfels schwindelerregend mes serscharfe Ikarus-Weine aus vollreifem Lesegut keltert. Früher schmeckten diese Rheingauer Weine hart, weiß, hell – für Trinker fruchtiger Tropfen eigentlich nach gar nichts! Doch dieses scheinbare Nichts ist der Geschmack des Minerals, wie man es auch von leicht salzigem Mineralwasser kennt, der Geschmack nach Stein, der fast schon säuerliche Touch. Daran erkennt man die Herkunft, schmeckt her aus, wo der Wein wächst. Es ist diese ausgeprägte mineralische Würze, dieses Freiheitsge fühl, dieses Ikarus-Gefühl, das die Leitz-Weine so aufregend macht. Seit jeher galten die Rheingauer Bergweine zwar als Inbegriff des Rheingauer Ries lings – allerdings reiften sie nur ein- oder zweimal im Jahrzehnt aus, was sich heutzutage je doch gravierend geändert hat. Früher war Riesling ab einer Höhengrenze von 240 Metern verpönt. Und heute werden plötzlich sogar Standorte in einer Höhe von 300 Metern spannend! Winzer wie Wilhelm Weil trumpfen inzwischen mit einer ganzen Phalanx an
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innovativen Bergweinen von inzwischen reaktivierten Lagen wie dem Turm- und Kloster berg auf. Seit Anfang der 1990er-Jahre konnte sich auch ein neuer Rieslingtyp etablie ren. Weine wie der „Kiedricher Gräfenberg“ sind vollmundiger und üppiger – ein echter Power-Riesling aus dem Holzfass! So liegt die Zukunft des Rheinweins in den Händen der Aufsteiger und der etab lierten Güter gleichermaßen. Ein „falsches“ oder „richtiges“ Ufer gibt es nicht, Klassiker und Aufsteiger liegen gleichauf. Der moderne Rheinwein ist zweifellos die Quersumme von Rheinhessen und Rheingau, aber auch von neuen Aufsteigern und traditionsreichen Gütern innerhalb des Gebiets – eine sich gegenseitig befruchtende, spannungsgelade ne Symbiose. Der dynamische und innovative Impuls ist quasi über den Rhein und von der Mainmündung in den alten Rheingau gewandert. Die alte Ursprungsregion Rhein gau musste sich quasi neu erfinden und hat dieses auch souverän getan. So gesehen ist es ein Erfolg für alle Seiten!
Die Zukunft des Rheinweins liegt in den Händen der Aufsteiger und der etablierten Güter gleichermaßen.
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Saale-Unstrut Comeback des coolen Nordens Manchmal muss man ein Klischee mit dem anderen erschlagen, damit die wahren Kontu ren zutage treten. Viele Konsumenten glauben nämlich noch immer, dass im nördlichs ten Weinanbaugebiet Deutschlands dünne, die Magenwand zwickende Säuerlinge gekel tert werden. Oder aber das Gegenteil tritt ein, und sie bewundern den fast märchenhaften Aufstieg des Rotkäppchen-Sekts aus Freyburg an der Unstrut. Und so ist es, der Erfolg der Sektkellerei ist tatsächlich ein Paradebeispiel für gelungenen Aufbau Ost. Dabei denken noch immer einige, der Schaumwein sei nach der Märchenfigur benannt. Tatsächlich bezog sich die Bezeichnung ursprünglich auf die roten Flaschenkapseln. Die bereits 1856 gegründete Kellerei blickt nicht nur in eine reiche Zukunft, sondern hat auch eine ebensolche Vergangenheit. Und genau das ist der Punkt: Die ganze Region mit dem märchenhaften Naumburger Dom hat zwar etwas märchenhaft „Ostalgisches“, ist und bleibt dennoch eine uralte Weinkulturlandschaft. Hier reicht die Geschichte des Weins fast genauso weit zurück wie im Rheingau, denn auch an Saale-Unstrut kamen bedeutende Impulse von den Zisterziensermönchen, die unter anderem das Kloster Pforta mit reichlich guten Weinbergen (heute trägt das Lan desweingut denselben Namen) ausgestattet haben. Die Gegend, wo die Saale in einem großen Bogen um die alte Bischofsstadt Naumburg fließt, ist eine grüne Idylle, eine der schönsten unbekannten Landschaften Deutschlands. Sie ist abwechselnd dramatisch und lieblich. Und mit seiner Einzigartigkeit ist der Dom für den zu Köln ein ernstzunehmen der Konkurrent. Die meisten Weinberge liegen im Süden von Sachsen-Anhalt. Angesichts der ural ten Steilterrassen, oberhalb derer etwa die mittelalterliche Neuenburg thront, der uri gen Weinbergshäuschen, der Streuobstwiesen und malerischen Auen verwundert es, dass diese Region so unbekannt ist – und dass das Bundesland noch immer eher mit Leuna und Bitterfeld assoziiert wird. Das Kerngebiet rund um die Unstrutmündung befindet sich südlich von Halle, wo im Burgendreieck nahe der Städtchen Freyburg, Naumburg
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und Bad Kösen die Mehrheit der Reben auf Muschelkalk steht. Rund 50 Kilometer wei ter nördlich liegt eine zweite Enklave am Süßen See bei Eisleben. Diese und weitere ver streute Weininseln, etwa bei Werder westlich von Potsdam, ergeben das nördlichste An baugebiet Deutschlands. Auch wenn im Mittelalter wohl mehr Weinberge bewirtschaftet wurden (darauf verweist etwa eine Traube im Stadtwappen von Jena), so schränken das raue Kontinentalklima und Frühjahrsfröste den Anbau ein, sodass die Fläche auf ausge suchte Lagen, vornehmlich an Südhängen von Flusstälern, begrenzt ist. Indes haben sich die Verhältnisse auf Planet-Wine deutlich verschoben, und das Ge biet zählt ganz eindeutig zu den Profiteuren der Klimaerwärmung. Wenn man die bes ten Weine verkostet, kann man nichts anderes als zustimmen, dass die einst eherne Regel, hochwertiger Weinbau sei auf der Nordhalbkugel ausschließlich in einem Gürtel zwischen dem 30. bis 50. Breitengrad möglich, passé ist. Denn an Saale und Unstrut befinden wir uns jenseits von 51 Grad Nord. Und: Der Weinbau breitet sich noch weiter gen Norden aus, wo er im Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg gang und gäbe war. Die modernen Weine des Gebiets schmecken nach reifen Früchten, sind angenehm erfrischend, feinduftig, rassig, geschmeidig und zeigen auch im trockenen Bereich uner wartete Stärken. Sie sind körperreich, aber nicht fett, delikat und nicht schwachbrüstig. Nach der Wende war das Bestreben, ehemalige Lagen und Anlagen wieder aufzu bauen, wesentlich größer als das in Sachsen. So wurde die Fläche im Vergleich zu der von etwa 1990 mehr als verdoppelt: von gut 300 Hektar auf rund 660 Hektar heute. Sachsenanhaltinischer Wein war vor einem Jahrzehnt gesucht und wurde auch teuer bezahlt. Aber wurde im Zuge dieses Trends auch auf Qualität gesetzt? Schon bröckeln manche Preise, was für uns Konsumenten gut ist. Besonders schön und vor allem lustig ist es, im Frühling oder Sommer zum alten Klos tergut Zscheiplitz, das zum herrlichen Weingut Pawis gehört, zu marschieren und dort den enorm duftigen und lebendigen Müller-Thurgau zu trinken – falls er noch nicht aus verkauft ist. Dieser früh reifende Wein nimmt rund 20 Prozent der Rebfläche von SaaleUnstrut ein, spielt jedoch trotz seiner tadellosen Qualität eine nicht ganz so wichtige Rolle für seine Erzeuger Bernard und Kerstin Pawis, da sie eine große Palette trockener Ries linge sowie Weiß- und Grauburgunder produzieren, die alle herrlich fruchtbetont und ani mierend sind. An der Spitze steht das recht üppige Große Gewächs vom Riesling aus dem Freyburger Edelacker. Es erinnert an Schneeglöckchen, die durch verharschten Schnee stoßen, wodurch so manches Vorurteil über die Anbaumöglichkeiten im nordöstlichen Gebiet widerlegt wird.
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Ganz anders wirken die Weine aus den gleichen Sorten vom Weingut Lützkendorf in Bad Kösen, dem anderen Spitzenerzeuger der Region. Sie sind markant, gelegentlich karg und kompromisslos, manchmal höchst eigenständig. Hier stellt sich die Frage, ob die üppigen Weißburgunder mit ihrer überraschenden Frische und enormem substan ziellen Kern oder die spannenden, extrem mineralischen Rieslinge die Spitze bilden. In jedem Fall aber ist die Karsdorfer Hohe Gräte eine besondere Lage: Die Rieslinge profi tieren vom seltenen Rütgestein, das eine eisenhaltige, quarzitische Schicht bildet, sodass sie eigentlich nie klassisch nach Pfirsich duften. Und auch die starken Silvaner passen so rein gar nicht ins runde Klischee-Bild, das viele von den Weinen der Region haben. Eine Besonderheit des Gebiets sind auch einige neue Weinberge von Lützkendorf, die im ehemaligen Tagebau-Trichter von Karsdorf angelegt wurden, wie etwa ein Teil von Lützkendorfs Spitzenlage Karsdorfer Hohe Gräte. Diese Mondlandschaft, die frappierend an Neuanpflanzungen im französischen Languedoc erinnert, muss man einfach erleben! Der Dritte im Führungsbund ist André Gussek, ehemaliger Kellermeister der Frey burger Winzergenossenschaft, der erstaunlich kräftige Rotweine (vor allem aus Spätbur gunder und Blauem Zweigelt) erzeugt, und das in zwei Varianten: mit Holzfass-Reife oder mit Barrique-Note. Beide Weine haben einen Hauch von südländischer Üppigkeit. Die starken trockenen und feinherben Weißweine brauchen indes einige Zeit auf der Flasche, um ihr Bestes zu geben. All diese Betriebe sind nach der Wende entstanden oder wurden wie im Fall von Lütz kendorf vollkommen neu wiederaufgebaut, darunter auch das 32 Hektar große Thürin ger Weingut Bad Sulza von Andreas Clauß. 1992 als erstes Weingut Thüringens gegründet, ist es das größte private Gut an Saale-Unstrut und setzt mit eigenständigen, erstaunlich geschliffenen Weinen die 800-jährige Weinbautradition in Bad Sulza fort. So ist die Reb fläche Thüringens inzwischen drauf und dran, sich zu vergrößern, und man darf sehr ge spannt sein auf das neue Projekt von Dr. Georg Prinz zur Lippe, der das Weingut Schloss Proschwitz in Meißen betreibt. Er erschließt momentan eine alte Weingegend nahe Wei mar neu und setzt auf den Anbau von hochwertigen Burgundersorten aus Lagen mit so schönen Namen wie Weimarer Poetenweg oder Prinzenschneise. Dank des Klimawandels wollen es veritable Spitzenwinzer nun auch in Thüringen wissen! Und eine dreiviertel Autostunde nördlich vom sachsen-anhaltinischen Kerngebiet entfernt gibt es rund 85 Hektar Weinberge bei den Marnsfelder Seen westlich von Halle, wo Günter Born in Höhnstedt immer bessere trockene Weißweine erzeugt. Auch dort ist der Weinbau so neu nicht. Vielmehr kann Höhnstedt auf eine 900-jährige Weinbautra dition zurückblicken. Aber auch dieser Ort ist nicht der nördlichste Punkt des hiesigen
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Weinbaus. Das Gebiet Saale-Unstrut ist zu einer Art Sammelbecken für Weinbauabenteu rer geworden, die noch weiter Richtung Norden und in völlig unerwartete Ecken stre ben. Hätten Sie etwa ein Weingut im Harz erwartet? Noch erstaunlicher ist die Qualität der Spätburgunder Rotweine vom Harzer Weingut Kirmann in Westerhausen. Bei fast 52° 23' Nord liegt das 6,5 Hektar große Gut Werderaner Wachtelberg von Dr. Manfred Lindi cke, und der erfrischende trockene Müller-Thurgau hat jetzt Konkurrenz bekommen von einem ausdruckstarken Regent-Rotwein und einem klassich-duftigen Sauvignon Blanc! Jenseits davon, auf etwa 53° 30', liegt Schloss Rattey in Mecklenburg. Inzwischen gibt es 3,5 Hektar Weinberge in Besitz des Vereins der Privatwinzer zur Rattey e.V.: Die leich ten, trockenen Weiß- und Rotwein-Cuvees machen so richtig Spaß und lassen sich am besten gleich in Schlosshotel und -restaurant genießen. Und mehr als ein „Zaubertrick“ sind die Reben vom Rheingauer Weingut Balthasar Ress, die auf Deutschlands nördlichs ten Weinbergen auf 55° Nord wachsen. Der Klimawandel ist es, der all das so interessant macht und für Überraschungen sorgt: schleswig-holsteinischen Landwein, der landesweit für Aufsehen gesorgt hat und der verkrustete Vorstellungen über gängige Weinbaugren zen souverän ad absurdum führt. Der coole Norden lässt inzwischen keinen mehr kalt.
Manchmal muss man ein Klischee mit dem anderen erschlagen, damit die wahren Konturen zutage treten.
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Sachsen Sachsen das Starke Bei Friedrich Aust in Radebeul ist Sachsen ganz schön stark. Auch wenn Austs Weine aus Bacchus, Kerner, Riesling und Weißburgunder Traminer – autochthone Schloss-Trami ner-Reben aus der Zeit vor 1945 (!) – auf sanften Hängen am Fuß der Steillage Golde ner Wagen wachsen, so sind sie alles andere als harmlose Charmeure. Der Traminer etwa schmeckt ausgesprochen traubig, vollblütig, mit Orangenblüten und Rosen, während der dezent nussige Kerner voller exotischer Früchte steckt. All diese Weine von Aust sind Voll treffer, auch die Spätburgunder können zur Gebietsspitze zählen. Weingut, Weinhaus und der 2008 überarbeitete Weinlehrpfad am Zechtstein bilden mittlerweile eine Art Ensem ble, wo es genussreich und vor allem herrlich unverkrampft zur Sache geht. Überhaupt hat wohl kein Ort das Bild der Weinanbauregion Sachsen so geprägt wie Radebeul. Vielen gilt es als das eigentliche Herzstück, und das üppige Grün, das genuss reiche Flair der Wein-, Villen- und Gartenstadt mit herrlichen Wohnquartieren fasziniert und überrascht – zumal das „sächsische Nizza“ mit seinem milden Klima und schön klin genden Namen von Lagen wie Goldener Wagen ein echtes Schmuckkästchen ist. Ein Muss ist der Besuch des Weinguts Hoflössnitz mit seinen kulturellen Angeboten, dem Weinbau museum und urigem Restaurant. Die alten Zeiten des Müller-Thurgaus sind auf dem zer tifizierten Ökobetrieb passé, stattdessen rücken klassische Sorten wie Riesling, Burgun der und Traminer in den Fokus. Insbesondere die herrlich saftigen Weißburgunder sind straff und voll köstlich-cremiger Fruchtigkeit. Welch kleiner, feiner Schmelztiegel Sachsen inzwischen ist, zeigt auch ein junges Weingut, das vor wenigen Jahren noch niemand auf der Rechnung hatte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war durch die Reblausplage das historische Gut Hermannsberg in Rade beul verweist. Heute erzeugen dort der Kunsthistoriker Prof. Dr. Rainer Beck, der Rade beuler Winzer Claus Höhne und Antje Wiedemann, sächsische Weinkönigin 2003, wie der exzellenten Wein. Tradition heißt für sie Weitergabe des Feuers durch Aufrebung der
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wertvollen Steillagen, die Hege und Pflege alter Terrassen und die Wiederherstellung des Landschaftsbilds. Und auch wenn der Name des Guts inzwischen eigentlich „zwei Herren und eine Dame“ lauten müsste (ursprünglich waren es tatsächlich drei Herren), so ist der runde, fruchtbetonte und reintönige Spätburgunder genauso etwas für Entdecker wie die ganze Region. Kräftig und würzig schmeckt der spontan vergorene Riesling aus dem Kern stück des alten Hermannsbergs, dem Ballberg, die weißen Elbburgunder sind schmelzend zart, und die duftigen Traminer verströmen die für Radebeul typische heitere Eleganz. Sachsen ist eben ein kleiner, feiner Gärkeller, mit starken Typen, markanten Wein persönlichkeiten und neuen Gesichtern, die es nicht immer ganz einfach haben. Im rau en Binnenklima mit kontinentalem Einschlag, sprich heißen Sommern und klirrend kal ten Wintern, gibt es eben nur ganz wenige ausgesuchte Standorte mit möglichst steiler, südlicher Hangneigung und günstigem Mikroklima, wo Weine mit echter Kontur wach sen. Allenthalben drohen Winter- bzw. Spätfrostschäden. Die Situation dort ist aufgrund des kontinentalen Klimas noch extremer als in Franken! Wie an Saale-Unstrut reicht die Tradition bis in das frühe Mittelalter zurück. Das Ge biet zählte einst zu den bedeutendsten in ganz Deutschland und gehört auch zu starken Mächten. Unter August dem Starken betrug die Rebfläche, die sich vom südlich von Dresden gelegenen Pirna bis Seußlitz, nördlich von Meißen, erstreckt, beinahe ein Fünf faches. Die Urgesteinsböden – bei Meißen etwa verwitterter Granit, zwischen Radebeul und Dresden meist verwitterter Gneis – sorgen für eine ganz eigene Würze und Mine ralik, die immer feiner herausgearbeitet wird. Diese Wiederentdeckung des Bodens im Zuge des Wiederaufbaus durch eine neue Winzeravantgarde steht in krassem Gegensatz zum Weinbau zu DDR-Zeiten, als Hunderte von Hobbywinzern die Flächen hegten und pflegten. Denn im Sinne der kommunistischen Überzeugung galt der Terroir-Gedanke von einem begrenzten, einmaligen Stück Erde eher als anrüchig, und eine Demokrati sierung des Weinbaus hätte bedeutet, dass ein guter Wein quasi überall wachsen kann. So gesehen nahm die Weinerzeugung nach dem Fall der Mauer bei den Betrieben eine völlig neue Wendung, und innovative Winzer wie Klaus Zimmerling brauchten genauso viel Pioniergeist wie Muckis, um das ganze Potenzial von Sachsen voll auszureizen und zu zeigen. Klaus Zimmerling beispielsweise musste erst verwilderte alte Weinbergsterrassen im Desdener Vorort Wachwitz neu bestellen und bestocken und nicht nur sprichwörtlich gan ze Bäume ausreißen, doch mittlerweile liefern fast 4 Hektar Ertrag, der sich sehen lassen kann. In der Rysselkuppe, die zur Lage Pillnitzer Königlicher Weinberg gehört, wachsen die Reben oberhalb des Hauses in immer steileren Terrassen quasi direkt in den Himmel.
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Ökologisch bewirtschaftete Weinberge, konsequente Reduzierung der Menge, Risikobe reitschaft und Geduld beim Ausbau sind die Antworten Zimmerlings auf die im sächsi schen Anbaugebiet herrschenden extremen Bedingungen. Die Kerner schmecken unver schämt saftig und mit dem Mundgefühl köstlicher Früchte von Meister-Pattisier Lenôtre. Weiß- und Grauburgunder sind ebenso konsistent, aber mit leichter Creme, während die Rieslinge eigenständige Tiefe zeigen. Ein Fundstück insbesondere für Wachau-Fans, wo die Bodensituation, Urgestein als Untergrund, ganz ähnlich ist. Und mit dem Trami ner erlebt man regelrecht die Versuchung der Rose. Der sogenannte Schloss-Traminer ist eine Rebselektion von Weinbaupionier Carl Pfeiffer aus der Zwischenkriegszeit. Nach der Reblausplage, die den sächsischen Weinbau sehr zurückgeworfen hatte, war er es, der als erster Leiter der 1928 gegründeten Versuchs- und Lehranstalt in Hof Lößnitz/Rade beul diesen modernisierte. Auch beim Sächsischen Staatsweingut Schloss Wackerbarth bezaubern die Trami ner, insbesondere die edelsüßen, vom ersten Schluck an. Okzident trifft Orient: Im Wackerbarth’schen Weinpalast duftet es wundersam nach Nelken, Rosen, Honig und Lit schi. Geschäftsführerin Sonja Schilg hat die Qualität immens gesteigert. Manchem mag das Ensemble aus Barockschloss samt Gärten und dem an Napa Valley erinnernden futu ristischen Neubau aus Stahl und Glas etwas zu dick aufgetragen sein, doch ist das Erleb nisweingut mit dem Belvedere am Fuße der pyramidengleich aufsteigenden Rebterrassen stimmig. Dies gilt auch für die Qualität der hochwertigen Sekte, die beachtliche Cremig keit und perlenden Charakter aufweisen. Auf den Syenit-, Porphyr- und Granitverwitte rungsböden wachsen salzig-mineralische Rieslinge und wunderbar entspannte, nussige Weißburgunder mit zarten Blütendüften und rauchigen Vanillenoten – Sachsen reizvoll und mal ganz anders. Das neben Schloss Wackerbarth zweite große Flaggschiff Sachsens ist Schloss Proschwitz. Nach der Wende unternahm Dr. Georg Prinz zur Lippe alle nur erdenkli chen Anstrengungen, um die Weinberge seiner enteigneten Familie peu à peu wieder zu rückzukaufen, und baut die Weine seit 1998 im neuen, hochmodernen Keller im Viersei tenhof in Zadel aus. Die mit einer Lössschicht bedeckten roten Granitfelsen bereiten den Boden für zupackende Weine. In den besten Spätburgundern spürt man die urtümliche Kraft, die sich an dem extremen Verhältnis gerieben, aber nicht zerrieben hat. Bei den Weißburgundern umhüllen Cremigkeit und Saft den festen Kern, die trockenen Scheu reben hingegen vibrieren fröhlich und, wie könnte es anders sein, brillieren die Trami ner: Da ist wieder dieses verzaubernde, mysteriöse Sachsen-Parfüm, diese Mittelmeer-Stim mung hoch oben auf dem kühl-heißen Kontinent.
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Verantwortlich für diese Köstlichkeiten ist Kellermeister Martin Schwarz, der neben her auch eigene Weinberge bewirtschaftet. Unterschätzt den Müller-Thurgau nicht! Der ist bei ihm nämlich schlank und mineralisch, und auch die weißen und roten Elbburgun der haben Festigkeit, Schliff und Entwicklungspotenzial. Faszinierend pikant schmeckt der Riesling aus dem Meißner Kapitelberg, der das Format eines inoffiziellen Großen Ge wächses hat. Terroir also hin oder her, neben der Lagengüte sind genauso Improvisationskunst, Bauch gefühl und Hingabe gefragt. Und in Sachsen gibt es gleich eine ganze Gruppe von hoch karätigen Winzern und Typen, die das Potenzial des Miniaturanbaugebiets entdecken. Dazu passt auch Frédéric Fourré, der einzige französische Winzer mit eigenem Weinberg in der Region, der im Weingut Karl Friedrich Aust fein eingeregelte Weine mit Charme und Pfiff aus dem Steilhang Radebeuler Goldener Wagen ausbaut. So schließt sich der Kreis. Es ist immer die Matrix aus Winzer und Lage, die den Nischenweinbau in Sachsen so stark und spannend macht.
Sachsen ist eben ein kleiner, feiner Gärkeller, mit starken Typen, markanten Weinpersönlichkeiten und neuen Gesichtern, die es nicht immer ganz einfach haben.
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Ahr Kein Rotweinspielzeugland! Eigentlich dürfte richtig guter Rotwein so weit nördlich gar nicht mehr wachsen! Denn schließlich befinden wir uns vor den Toren des Ruhrgebietes, wo nur wenige Kilometer weiter nördlich von den kleinen und kleinsten Weinbergen im originellen Mini-Canyon rauchende Schlote förmlich aus der Erde zu wachsen scheinen und Fabrikgebäude kra kengleich um sich greifen. Kein Zweifel, die Ahr ist kontrastreich, paradox und originell. Dies auch deshalb, weil die Region Deutschlands nördlichstes Anbaugebiet ist, in dem Rot wein dominiert. Und roter Burgunder, quasi so kurz vor Dänemark, geht das überhaupt? Traditionell gilt der 50. Breitengrad als die Grenze des Weinbaus, wo noch hochklassige trockene Weine wachsen. Aber genau diese Übergangssituation, dieses Erschmecken von Grenzen, macht eben neben der absolut originären Kombination von Pinot und Schiefer die Faszination für diesen malerischen Mini-Canyon aus, wo Weinberge wie Schwalbennes ter an teils abenteuerlich steilen Schieferhängen kleben und sich auf der Höhe von Bonn das kleine Flüsschen Ahr peu à peu in das linksrheinische Schiefergebirge gegraben hat. Und paradox scheint es auch, dass sich auf dem für Weinanbau genutzten, etwa 25 Kilo meter langen Abschnitt zwischen Bad Neuenahr und Altenahr die zunehmende Klimaer wärmung am deutlichsten zeigt – viel drastischer als anderswo in Deutschland, wie es etwa bei der weißen „Königssorte“ Riesling der Fall ist. Denn ab dem Jahrgang 1997 zeigen die Spätburgunder von der Ahr in guten Jahrgängen wie 1999, 2001, 2003, 2007 und 2009 Alkoholgradationen von 14 Volumenprozent oder gar noch einen Tick mehr. Das war bis dato unvorstellbar gewesen und führte die Ängste, die Winzer in solch nördlichen Gefilden eigentlich haben, schon ad absurdum. Nun bangt man nicht mehr darum, dass das Trau bengut auch ausreift und zumindest ein paar der raren und gefragten Auslesen möglich sind. Plötzlich ist der Reifeverlauf in einer nie da gewesenen Fülle so günstig gewesen, dass selbst Winzer, die sich nicht so rigoros um höchste Qualität bemüht hatten, ein ganzes Füll horn an üppigen, fast schon von südlicher Dichte strotzenden Rotweinen ernten können.
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Durch den fortschreitenden Klimawandel, aber auch durch einen generellen Quali tätsanstieg mitsamt penibler Selektion und gewissenhafter Weinbergsarbeit, die eine hohe physiologische Traubenreife noch fördert, fühlten sich die besten Erzeuger dieser nur rund 540 Hektar umfassenden Region quasi explosionsartig in eine völlig neue Situation hineinkatapultiert. Plötzlich war es nicht mehr so schwierig, 100 Grad Oechsle oder mehr zu erreichen. Darüber hinaus finessenreiche Burgunder mit frischer, präziser Frucht und von subtiler Eleganz hinzubekommen ist die Gretchenfrage der nächsten Jahre. Und so erteilen die besten Winzer einem weichen, uniformen Weinstil und teils überreifem Lesegut eine klare Absage. Denn ein Ahr-Spätburgunder hat eine ganz eige ne Charakteristik und mineralische Würze, die ihn herausheben aus den Einheitsweinen. Er wächst auf wirklich spannenden Böden! So salopp dies auch klingen mag, die Formu lierung enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit. Früh- und Spätburgunder-Reben sind nun einmal anspruchsvoll, und sie finden aufgrund der entsprechenden Bodenstruktu ren – tiefgründig im unteren und schiefrig-vulkanisch im mittleren und oberen Ahrtal – ein ideales Terrain. Das Mikroklima dort hat fast schon eine mediterrane Ausprägung: Böden und Ge stein speichern tagsüber die Sonnenwärme und geben sie in der Nacht wieder an die Reb stöcke ab, und die Berge der Eifel halten schlechtes Wetter ab. Das bizarre, stellenweise canyonartig-verengte Flusstal liegt trotz der nördlichen Lage zweifellos auf der Sonnen seite des Lebens. Die Ahr, das ist nicht nur der Süden im Norden, das ist Genuss vom Feinsten – wenngleich die Roten oft über 10.- Euro die Flasche kosten. Eine besondere Spezialität ist der Frühburgunder, den fast jeder Ahrwinzer mittlerweile im Programm hat. Die besten Weine dieser Sorte beeindrucken mit einer eher kühlen Fruchtausprä gung und zeigen Nuancen von Feige und Rosinen und haben einen lakritzartigen Ab gang, in den sich deutliche mineralische Noten mischen. Die besten Exemplare können sich über sechs, acht Jahre in der Flasche deutlich verfeinern. Eine wesentliche Rolle spielt Werner Näkel, der im Hinblick auf Qualitätssteige rung Pionierarbeit geleistet und als erster Winzer die Ahr-Burgunder ins Rampenlicht der Wein-Welt gerückt hat. Seine besten Tropfen können in großen Jahrgängen durch aus mit Grands Crus aus dem Burgund konkurrieren – insbesondere seitdem er Maische stand- und Reifezeit im kleinen Holzfass verlängert hat, um den Weinen mehr Intensität zu verleihen. Die fruchtbetonte, stilvolle Eleganz der Roten von Werner Näkel und sei nen Töchtern Meike und Dörte ist an der Ahr unerreicht! Auf seine Art ebenso unverwechselbar ist Wolfgang Hehle, wie Werner Näkel ein Quer einsteiger. Der Ex-Steuerberater vom Deutzerhof setzt auf fruchtdichte, üppige, mächtig
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ausladende Weine von teils barocker Dichte und einer guten Dosis Eichenholz, die aber bestens reifen. Hehle setzt auf alte Klone und hat akribisch und mit enormem Aufwand die einsturzgefährdeten oder bereits bröckelnden, verwitterten oder gar eingefallenen Weinbergsmauern aufwendig restauriert und alte Terrassen wiederhergestellt. In einigen steilen Lagen ist Spätburgunder-Anbau nur durch eine Zahnradbahn möglich – ein Uni kum, das Assoziationen an die beschwerliche Arbeit in einigen Mosel-Steilstlagen weckt und in Deutschland sonst fast nur beim Riesling-Anbau üblich ist. In die Phalanx der besten deutschen Erzeuger vorgestoßen ist auch Gerhard Stod den. Ihm und seinem Sohn Alexander gelingt mit ihren Spitzenerzeugnissen der Spagat zwischen Strenge und fruchtigem Charme, zwischen Reife und Frische, immer besser und mitunter nahezu perfekt. Beide schwören auf guten Gerbstoff und holen durch lange, teil weise mehrwöchige Maischegärung die enorme Substanz aus den entrappten Beeren, die zuvor mit Kämmen gelöst wurden. Auf dem Vormarsch sind auch Frank und Marc Ade neuer, vielleicht die Aufsteiger der letzten Jahre schlechthin, die auch ganz klasse Rote zum günstigen Kurs bieten. Es ist angesichts solcher Kaliber wie dem Spätburgunder Gro ßes Gewächs aus der Walporzheimer Gärkammer schon ganz erstaunlich, welch wahrhaft urwüchsige, gezügelte Kraft und Terroir-Würze in einem Ahr-Burgunder stecken können! Bestens reifen auch die roten Burgunder vom Weingut Kreuzberg in Dernau, dessen Guts schänke äußerst beliebt ist. Und das Weingut Nelles keltert an der unteren Ahr ganz er staunliche Burgunder von dichter und doch fein verwobener Art. Neben diesen Klassikern gibt es im malerischen Mini-Canyon gleich einige Winzer, die durchaus das Zeug dazu haben, in den nächsten Jahren auch überregional für Aufse hen zu sorgen. Die Weingüter Paul Schumacher, Sermann-Kreuzberg, Klosterhof-Fami lie Gilles, Jakob Sebastian, Maibachfarm und das Kloster Marienthal zeigen, dass saftige, frische, präzise Frucht nicht der Sklave von jungem Eichenholz ist – und dass so richtig gute Rote an der gewiss nicht günstigen Ahr auch für unter 10,- Euro die Flasche zu ha ben sind. Kein Zweifel, das Rotweinwunderland kurz vor den rauchenden Schloten des Ruhrgebietes ist endlich erwachsen geworden!
Ein Ahr-Spätburgunder hat eine ganz eigene Charakteristik und mineralische Würze.
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Mittelrhein Kabinettstückchen im tiefen Tal Früher wuchsen hier Kirschen, reife, pralle, saftige, quasi engelsgleiche Früchte. Schon kurz nach Sonnenaufgang kletterten die Obstbauern auf ihre Leitern. Ein einträglicher Quell im gewaltigen Amphitheater des Bopparder Hamm, der wie eine mächtige Do nauschleife im Rhein-Canyon seine scharfe Außenkurve zieht. Dort im Engelstein, wo einst die Obstbauern ihre Körbe füllten, stehen heute hässli che Baumstümpfe. Nicht nur in dieser Sub-Lage war das Geschäft längst unrentabel gewor den – auch für viele Winzer hatte das felsige Areal im tief eingeschnittenen Mittelrhein tal seine Tücken, sie wollten und konnten in den Steil- und Steilstlagen für das wenige Geld nicht mehr schuften. Und so gab einer nach dem anderen auf, die Terrassen fielen peu à peu an die Natur zurück und verwitterten. Immerhin wurden im weiten Rund des Hamm einige Hektar Gelände wieder freigelegt, denn im Engelstein lebt eine große Po pulation von Smaragdeidechsen. Ein besonderes Indiz für das exponierte Mikroklima in der vielleicht imposantesten Schleife am ganzen Rhein. Dies erkannte auch vor rund 25 Jahren der Spayer Winzer Heinrich Müller, der die Trockenmauern wiederaufbaute und Reben setzte. Er setzte damit bereits früh ein deutli ches Zeichen für den Erhalt einer herrlichen Weinkulturlandschaft, die als Oberes Mittel rheintal zwischen Bingen/Rüdesheim und Koblenz 2002 in die von der UNESCO geführ te Liste des Welterbes der Menschheit aufgenommen wurde. Und auch wenn Heinrich Müller längst das Ruder an seinen ebenso engagierten Sohn Matthias übergeben hat und sich Mitstreiter wie Florian Weingart leidenschaftlich für ihre Bewahrung einsetzen, so be findet sich die Region an einem Wendepunkt. Neue Ansätze sind gefordert, um die Zu kunft dieser uralten Kulturlandschaft zu sichern. Warum also ist es am Mittelrhein so schön? Eben auch deshalb, weil die sich mühsam abra ckernden Winzer genau diese Art von Weinen keltern, nach denen wir uns alle sehnen: echte
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Kabinettstücke vom Schiefer, die voller wundersamer Schätze und Geheimnisse stecken! Waren es anno 1900 noch rund 2.000 Hektar Rebfläche, so sind es heute nur noch knapp 500 Hektar, und bleiben die Rahmenbedingungen unverändert, ist gar ein Schwund auf etwa 400 Hektar Rebfläche zu befürchten. Der Hauptfaktor dafür ist der außerge wöhnlich hohe Anteil an aufwendig zu bewirtschaftenden Steil- und Steilstlagen. Und ob wohl mit William Hamilton, William Turner, Thomas Jefferson, Victor Hugo, Alexander von Humboldt, Johann Wolfgang von Goethe und Clemens Brentano die Liste der Be wunderer noch längst nicht vollständig ist, hängt heute das Schicksal dieser Region noch immer viel zu stark vom Billigtourismus ab. Dabei vereinen sich in der wildromantischen Canyon-Landschaft Charaktereigen schaften von Rhein und Mosel: Die pikante Säure eines Moselrieslings wird prächtig um hüllt von der Fülle des Rheinweins. Wenn eine deutsche Weinanbauregion sich also ver nachlässigt oder unterschätzt fühlen darf, dann ist es sicher der Mittelrhein! Was den Winzer ärgert, freut indes den Verbraucher: Das Fehlen eines größeren Be kanntheitsgrades – noch immer glauben viele Konsumenten, der Mittelrhein sei eigent lich Teil des Rheingaus – sorgt dafür, dass die Winzer nicht die Preise erzielen können, die sie eigentlich brauchen. Und so sind teilweise erstklassige Steillagenweine, meistens Ries linge mit dezenter Restsüße, selbst bei einigen Spitzenerzeugern bereits im Preisbereich zwischen 4,- bis 8,- Euro zu haben. Dafür bekommt man in anderen Prestigeregionen mit unter gerade einmal einfache Qualitätsweine aus flachen, maschinell bearbeiteten Lagen. Ob das extrem günstige Supermarktangebot von Mittelrheinrieslingen namhafter Erzeu ger indes der richtige Vertriebsweg für die Region ist, darf durchaus bezweifelt werden. Ein Großteil der Produktion wurde traditionell an Schaumweinhersteller abgegeben oder vor Ort in Gutsschänken oder an Touristen verkauft. Nur wenige Erzeuger konnten sich ein klares, überregional bekanntes Profil erarbeiten, dabei kann der Riesling – der als Leitsorte der Region am Mittelrhein einen Anteil von 70 Prozent hält – so hoch im Nor den bei entsprechender Ertragsreduzierung auf den steilen, steinigen Weinbergen all sei ne Trümpfe ausspielen und so für sehr stoffige Weine mit einem facettenreichen, mine ralischen Säurespiel sorgen. Vor allem ist ein typischer Mittelrhein-Riesling ein idealer Kabinett-Wein im besten deutschen Sinn! Er ist charaktervoll, herzhaft, kernig, süffig. Er hat eine teilweise beacht liche Substanz, vereint durchaus südliche Fülle und nördliche Eleganz: eine oft überaus reizvolle Liaison zwischen betörenden Pfirsich- und Aprikosenaromen und einem Hauch von knackigem, grünem Apfel. Oft ist die Bodenauflage im Weinberg nur sehr gering, und
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unter der dünnen Erdschicht lugt nach einem halben Meter bereits das nackte Gestein hervor, in das sich die Reben krallen müssen. Allerdings besitzen nur wenige Lagen wie der Bacharacher Hahn ein Alterungspotenzial, das an das der weiter südlich gelegenen Rheingebiete heranreicht – wenngleich der Spielraum für trockene Spitzenweine noch nicht ausgereizt zu sein scheint. Das nördliche Gebiet des Mittelrheintals bildet damit durchaus eine – auch histo risch berühmte – Phalanx des Rheinweins, die sich vom Siebengebirge bei Königswinter bis zur Mittelhaardt zieht. Dabei verbessert sich selbst hoch im Mittelrhein-Norden bei Hammerstein, Königswinter, Leutesdorf und rund um den Drachenfels bei Bad HonnefRhöndorf peu à peu die Qualität der Erzeugnisse von Weingütern wie Selt, Scheidgen, Philipps Mühle, Lelke-Müller – wenngleich echte Newcomer noch nicht darunter sind. Was fehlt, ist vielleicht ein selbstbewusster junger Wilder, der so frech ist, für seine besten trockenen Rieslinge auch mal einen angemessenen Preis von 15,- Euro zu verlangen. Ab solut erfreulich ist da etwa die Gründung der Jungwinzervereinigung Gipfelstürmer der Brüder Martin und Thomas Philipps, Christina Wagner, Sebastian Schneider und Felix Pieper. Die Mission dieser Winzerinitiative ist klar umrissen: „Steillagen retten. Verlorenes Terroir zurückholen. Rekultivieren alter Lagen. Höchste Qualität. Keine Kompromisse.“ Hier zeigt sich mit reintönigen, mineralischen Weinen ein neuer Schwung, der Schub kraft und Frische in das Burgenland bringt – quasi Mittelrhein offroad. Indes wurden und werden an einzelnen Spots Lagen von engagierten Winzern rekul tiviert. Die Rieslinge von Hofmann & Sturm und von Heinrich Weiler jedenfalls zeigen vitalen, rassigen Schiefercharakter und sind geradezu ein Affront gegen den Steillagen verfall. Der Aufwand im Kauber Roßstein mit bis zu 100-jährigen Reben ist gewaltig! Deut liche Zeichen setzt auch Jörg Lanius, der dem Oberweseler Oelsberg zu neuem Leben ver half. Er kaufte als Pionier verbuschte Parzellen, befreite sie von Gestrüpp, und der einst berühmte Weinberg dankte es ihm mit außergewöhnlichen Rieslingen, die würzige Opu lenz und feine Honignoten zeigen. Mittlerweile bündelte eine Reihe von Bewirtschaftern ihre Kräfte, Hecken und Tro ckenmauern wurden gesetzt. Einer dieser engagierten Winzer ist Dr. Randolf Kauer aus Bacharach, der zeigt, dass sich in Ökoweinen aus Mittelrhein-Steillagen beim Trinken ein Gefühl von Echtheit verdichten kann. Seine Kabinett-Weine etwa haben genau diese Rasse, die einem der klaren Prinzipien von Kauer entspricht: Ein Glas guten Weins leert man schnell, auch ohne hochkomplizierte Rieslingerfahrung! Überhaupt: Bacharach ist ein kleines Paradies für Weinfreunde und kommt bei den kritischen Weinkennern oft viel schlechter weg als Boppard. Vielleicht deshalb, weil die Weine in ihrer Jugend etwas
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verschlossener sind? Dabei macht sie ihre langlebige, mineralische, geradlinige Art zu Pro totypen des wildromantischen Tals. In der Wolfhöhle und im Posten wachsen die Weine von Jochen Ratzenberger, die spontane Trinkreflexe jenseits von überbordender Fruch tigkeit auslösen. Und einen Riesling aus dem Hahn von Peter Jost, einer selbstbewussten Leitfigur des Gebiets, sollte man einmal getrunken haben, um mitreden zu können: exo tische Fruchtnoten, Tropenfeeling am Mittelrhein, aber eine tiefgründige Substanz, die zu glitzern und zu funkeln scheint. All das sind im Tal der Loreley abgeklärte Stücke echter Weinpoesie! Was im deut schen Canyon alles möglich ist, wenn man nur akribisch, schonend und differenziert ar beitet, zeigt Florian Weingart aus Spay. Die Kraft des Alkohols ist seinen Weinen fremd. „Dicke Dinger“ gibt’s schließlich überall. Aber Weine wie Schmetterlinge oder wie ein far benprächtiges Bild von Monet? Seit 2002 hat die Familie Weingart einen Hektar im En gelstein rekultiviert und 1.000 wurzelechte Reben in Einzelpfahlerziehung gesetzt. Die besten Weine von Florian Weingart haben ein geradezu glasklares Spiel und eine Sensi bilität, die sich von vorn bis zum langen Ende ziehen. Was bei den trockenen Weinen bei Boppard alles möglich ist, beweist Matthias Müller, der 2007 das erste Große Gewächs aus der mächtigen Rheinschleife kelterte. Das geeignete Objekt zum Abbau eingefahrener Vorurteile. Und Jens Didingers Phalanx aus Kabinett-Weinen aus dem Bopparder Hamm ist so anregend, munter und erfrischend, als sprudele ein Gebirgsbach am Gaumen.
Am Mittelrhein vereinen sich die wildromantische Canyon-Landschaft mit den Charaktereigenschaften von Rhein und Mosel.
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Hessische BergstraSSe Das geteilte Land Wenn an einem schönen Sommerabend an der einstigen römischen Via Montana hoch über dem Rheintal die untergehende Abendsonne die liebliche Landschaft in pastellfar benes Licht taucht, trifft diese ganze Bellezza den Betrachter bis ins Mark. Tief unten rollt der Verkehr wie Spielzeugautos und Märklin-Eisenbahnen gen Süden. Die wenigsten Wein freunde ahnen, dass es um Heppenheim, Zwingenberg, Bensheim, aber teilweise auch um Groß-Umstadt herum einige der feinsten Weißweine Deutschlands zu konsumenten freundlichen Preisen gibt. Ein kleines Paradies ist die Hessische Bergstraße auch für Lieb haber edelsüßer Weine. Die leicht pikanten Eisweine, Beeren- und Trockenbeerenausle sen zeigen oft eine wunderbar ausgewogene feine Aprikosen- und Pfirsichfruchtigkeit. Und auch wenn die sonnenhungrigen Deutschen auf ihre ultramondänen Aufenthal te in südlichen Gefilden besonders stolz sind und von daher alle erdenklichen hiesigen Regionen als die „deutsche Toskana“ oder „deutsche Riviera“ bezeichnen, so findet man im schmalen Gürtel an der Ostflanke des Odenwalds tatsächlich ein Stück weit Norditali en en miniature vor. Alte, verwinkelte Ortskerne wie etwa der von Zwingenberg erinnern an nordpiemontesische Dörfer, und der Ausblick von hoch oben über die Rheinebene hat einen Hauch von Südtirol. Und bereits wenige Wochen bevor der Frühling anderswo Einzug hält, verwandeln sich die meist terrassierten Rebhänge in ein Meer von Mandel-, Aprikosen-, Pfirsich- und Kirschblüten. Doch Gesetzesblüten, die wie Weinträume in den Himmel wachsen, sind ebenfalls Teil der deutschen Weinkultur. Und so gibt es beispielsweise die Bergstraße gleich zweimal: zum einen die hessische Variante, eine Art Terra incognita mitten im Herzen Deutschlands, und zum anderen das badische Pendant. So ist das „Bergstraßen-Phänomen“ zwischen Rhein, Main und Neckar typisch einerseits für jene recht häufig anzutreffende Bürokra tie, die von Land zu Land unterschiedlich ist, sowie die hiesigen geologischen und klima tischen Gegebenheiten andererseits.
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Das macht nicht nur den Winzern das Leben schwer, sondern verwirrt auch noch im mer viele Verbraucher. Und so wissen lediglich verblüffend wenige Weinfreunde – und selbst auch sogenannte Wein-Experten – außerhalb von Heidelberg, Mannheim, Darm stadt und Frankfurt, welch günstige und gute, teils sogar exzellente Weine an der Hessi schen und Badischen Bergstraße sowie in deren natürlicher Verlängerung, dem Kraich gau, wachsen. Bei der Hessischen Bergstraße handelt es sich geografisch betrachtet um die Fort setzung der badischen Lagen rund um Heidelberg. Verwaltungstechnisch gehört das Ge biet jedoch zu Hessen, das heißt, die anerkannten Weine bekommen im Rheingau beim Weinbauamt in Eltville ihre amtliche Prüfnummer. Zudem unterhält der renommiertes te Erzeuger der Region, das Staatsweingut in Bensheim, Beziehungen zum Mutterbetrieb, ebenfalls in Eltville. Der Hintergrund ist, dass bis zum Inkrafttreten des Deutschen Wein gesetzes von 1971 die Hessische Bergstraße zur Bergstraße gehörte, die sich über badi sches sowie hessisches Gebiet erstreckte. Die badischen Landesbehörden bestanden auf ihrem Teil der Bergstraße, während die Verantwortlichen im Rheingau nicht wollten, dass die über 400 Hektar große Anbaufläche ihnen zugesprochen wird. Also blieb den Win zern Südhessens nichts anderes übrig, als ein eigenständiges Anbaugebiet ins Leben zu rufen, dem zwangsläufig ein übergreifendes Image fehlt. Rebe und Winzer leiden gleichermaßen darunter und müssen sich quälen, um im steilen „Cool Climate“ Trauben von höchster Qualität zu gewährleisten. Dabei kommt es noch mehr als anderswo auf den menschlichen Faktor als integralen Bestandteil des Ter roir-Konzepts sowie dessen zähen, unbeirrbaren Glauben an das Gute im Wein an. Der Winzer der Hessischen Bergstraße ist weniger Zen-Buddhist, der durch kontrolliertes Nichtstun glänzt, sondern vielmehr Landschaftsgärtner, Enthusiast und unverbesserli cher Idealist zugleich – aber auch ein kleines Stück weit überzeugter Masochist, denn die Preise, die er für seine lebendigen, feinfruchtigen, rassigen und mitunter auch knackigen Weine bekommt, stehen in keinerlei vernünftiger Relation zu dem immensen Aufwand, den er an den oft terrassierten Steillagen betreiben muss, um gute Resultate zu erzielen. Die meisten Weinberge der Hessischen Bergstraße liegen zwischen Heppenheim und Zwingenberg an den Hängen des Odenwaldes. Typisch für Zwingenberg, Auerbach und Bensheim sind Granitverwitterungsböden mit oft nur geringer Löss-Lehm-Auflage. In einigen Heppenheimer Lagen herrscht auch gelber Buntsandstein vor. Den meisten Verbrauchern recht unbekannt dürfte die nordöstlich gelegene, nur 50 Hektar umfas sende Odenwälder Weininsel rund um Groß-Umstadt und Rossdorf mit ihren Quarz porphyrböden sein. Die Weine von dort bestechen durch kraftvolle, würzige Frucht und
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aromatische, rassige Säure. All diesen Weinen ist eine gewisse Leichtfüßigkeit zu eigen, wie sie auch die Menschen dieser einzigartigen Landschaft auszeichnet, selbst bei 13,5 Volumenprozent Alkohol. Hanno Rothweiler ist so ein Bergstraße-Archetyp: Er macht klare, kantige, kompak te Weißweine und hat sich vor allem mit seinem Sankt Laurent einen Namen gemacht. Außerdem feilt er an einem Rotweinprogramm, das der Region noch fehlt. Verstärkt auf Rotweine setzt auch die hiesige Winzergenossenschaft, die den Erzeugnissen der Region einen nachhaltigen Qualitätsschub gegeben hat. Der mit Abstand größte Erzeuger setzt mit Eisweinen, der hiesigen Spezialität, Glanzpunkte, aber auch seine Sauvignon Blancs, Rieslinge und roten Cuvees schmecken erstaunlich gut. Ohne die in den 1970er-Jahren vorgenommene Terrassierung wären die meisten der Spitzen-Weinberge, die wertvolle Ökosysteme und einen nachhaltigen Schutz vor Bodenerosion darstellen, wohl aufgege ben worden. So sind die 500 Bergstraßen-Genossen, die knapp zwei Millionen Flaschen Wein erzeugen und sich in den unwirtlichen Weinbergen mühsam abrackern, für die Re gion ein wahrer Segen! Der nach wie vor renommierteste Betrieb ist die Domaine Bergstraße der Hessischen Staatsweingüter. Neben großkalibrigen Grauburgundern bis hin zum Großen Gewächs versteht es Volker Hörr, auch mit fruchtigen und edelsüßen Rieslingen der Region Pro fil zu geben. Die eindrucksvolle Weinliste des Hauses zeigt ein ganzes Füllhorn von Ries lingen der Extraklasse, die mit ihrer verspielten Eleganz und dem fruchtbetonten Säu respiel durchaus an große Rheingauer Rieslinge erinnern. Von seiner Schokoladenseite zeigt sich das Staatsweingut Domaine Bergstraße bei den Eisweinen, die komplexe Fülle, rassige Säure und saftige Eleganz zeigen – eine eindrucksvolle Spezialität, der Hessischen Bergstraße! Bei den trockenen Weinen hat inzwischen das Zwingenberger Weingut Simon-Bürkle das Sagen, das auch teils exzellente Rotweine – insbesondere aus Cabernet Sauvignon –, aber auch Edelsüße der Extraklasse keltert. Hier findet man auch feine, pikante und mi neralische Rieslinge für erfreulich wenig Geld wie den glasklaren „Granit“. Frische Frucht statt schierer Wucht: Die Weingüter der Stadt Bensheim, Edling, Volker Dingeldey und Brücke-Ohl keltern ebenfalls immer präzisere Weine, für die man in bekannteren Regio nen deutlich mehr bezahlen muss. Klein ist eben fein, sagt man. Und tatsächlich: „Hier fängt Deutschland an, Italien zu werden“, rief Kaiser Joseph II. aus, als er an der Bergstraße haltmachte. Kein Zweifel, die „strada montana“ blüht auf. Und mit ihr der Wein!
Das Glas in einer Welt
In diesem Buch ist es bislang neben Weinen und Regionen vor allem um die Winzer Deutschlands gegangen, die entweder neu auf der Bildfläche sind oder traditionsreichen Weinbaubetrieben neues Leben eingehaucht haben. Wein wird jedoch nicht nur erzeugt, sondern er muss auch getrunken werden. So verlangen neue Weine eine neue Art von Konsument bzw. solche, die ausgesprochen offen für Neuerungen sind. Und wie ich be reits eingangs erwähnt habe, waren sie es, die maßgeblich zum Weinwunder Deutschland beigetragen haben. Mein Freund und Kollege Manfred Lüer ist einer der wenigen Jour nalisten, dem dieses Phänomen nicht entgangen ist. Wie Sie selber gleich sehen werden, hat er mit ihnen gesprochen, um diese „Blackbox“ des deutschen Weinjournalismus mit Leben zu füllen. Sie alle erzählen von ihrem unbekümmerten Umgang mit Wein, der so ganz anders ist als die Norm von vor 20 Jahren. Das Ganze hat nichts mit dem K.-o.-Sau fen Halbstarker zu tun, denn es finden vielmehr Menschen sehr unterschiedlicher Grup pen und Altersstufen durch Genuss und Neugier zusammen.
Das Glas in einer Welt von manfred lüer Sie heißen Adrian Chrubasik, Sven Liefen, Oliver Hess, Ingrid Lorenz, Petra Wiegand und Paul Huppertz. Es sind gestandene Familienväter, Hausfrauen, Manager, Angestell te, PR-Berater oder Freiberufler. Sie haben eines gemeinsam: Offiziell gibt es sie nicht, denn sie sind der blinde Fleck auf der weißen Weste des Weinjournalismus. Oder anders ausgedrückt: Sie sind das schwarze Loch in einem Universum, das sich angeblich in nur einem Glas bündeln kann. So viel zum Kern des traditionellen Weinverständnisses, das vornehmlich auf die Scholle des Winzers, den Ort der „geborenen Herkunft“, abzielt und in dem vielbeschworenen Gedanken vom zum Klingen gebrachtem Terroir gipfelt. Doch gilt das Interesse der meisten Konsumenten wirklich nur dem einen Begriff, den kaum jemand erklären kann?
„Wein ist ein Botschafter der Landschaft, nicht im ganz so strengen Sinne des Terroirs, weil dies eventuell zu krampfhaft auf die Scholle des Winzers zielt. Dies führt zu manchen Pseudogeburten.“ (Oliver Hess) Und genau das ist der Punkt. Seit eh und je gilt Wein als das Getränk der Mächtigen, man hat ihn auf ein heiliges Podest gesetzt, auf einem Sockel thronend, der Welt entrückt
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wird er als ein berauschendes Elixier mystifiziert und überhöht – dionysisch, bacchan tisch, dem Elysium gleich. So nehmen wir beim Abendmahl praktisch Anteil an Jesus in Form von Brot und Wein, Letzterer wird während der Messe geweiht und als das Blut Christi getrunken. In der Menschheitsgeschichte war Wein immer schon etwas Besonderes – als Quelle des Trostes, Antiseptikum oder Lieblingsgetränk der Großen. Über Tausende und Abertausen de Jahre war er purer Luxus, ein scheinbar mysteriöses wie ewig neu fesselndes Getränk, dessen Funktion weit über das reine Durstlöschen hinausgeht. Glaubt man der zeitgenös sischen Weinlyrik und Altherrenprosa vom scharf eingerittenen Damensattel, so scheint sich da noch immer eine regelrechte Drohkulisse aufzubauen, die besagt: „Hände weg vom Wein, du dummer Konsument! Du verstehst es ja doch nicht. Erst wenn man einen Romanée-Conti, einen Lafite-Rothschild aus der Vorreblauszeit und eine Vertikale des Edelsüßen Château d’Yquem mitgemacht hat, kann man mitreden.“ Es spricht auch Bän de, dass der römisch-katholischen Kirche nur ein Papst als deren Oberhaupt vorsteht, es in der Weinwelt aber gleich mindestens eine Handvoll sogenannter Weinpäpste gibt, die in ihrem Wirkkreis durch die Vergabe von Noten, das Singen von Lobeshymnen oder das Äußern vernichtender Kritik fast schon gesetzgebende Kraft entfalten. Der erlebte Wein genuss hängt aber genauso wenig von Kritiker-Bewertungen als von Erfahrungen mit sel tenen Gewächsen und Weinantiquitäten ab. Und dann noch diese ganze „Obstsalatlyrik“ oder gar das Modewort Mineralität! Wie schmeckt eigentlich ein „scharf eingerittener Damensattel“? Oder eine „hohe innere Dich te“ oder eine „feste Struktur“? Und wie mundet eigentlich Pfirsich? Ist es ein weiß-, gelboder rotfleischiger, der Rote Ellerstädter, South Heaven oder der Rote Weinbergspfirsch? Wie schmecken die dunklen Waldbeeren, die aus der Tiefe des Kelchs strömen? Sind es Brombeeren, Walderdbeeren oder Heidelbeeren? Und was bedeutet es denn überhaupt, wenn ein Wein „möpselt“?
Mit dieser ganzen tuttifruttimäßigen Obstsalatlyrik kann der Konsument zu Recht wenig anfangen, weil sie sehr oft kryptisch, oberflächlich und nichtssagend ist.
Das Glas in einer Welt
„Wein ist nicht nur Getränk, sondern vor allem Landschaft. Die Auswahl eines Weins hängt für mich immer mit den Bildern der Gegend, aus der die Reben stammen, zusammen – und, falls sich die Beziehung zum Wein weiterentwickelt, auch mit einem Besuch der Lage.“ (Christoph Golla) Mit dieser ganzen tuttifruttimäßigen Obstsalatlyrik kann der Konsument zu Recht wenig anfangen, weil sie sehr oft kryptisch, oberflächlich und nichtssagend ist. Insgeheim be fällt ihn Schrecken und auch Angst davor, die ganzen ehrenwerten und subtil beglücken den Aromen von Wiesel, Hund, nassem Hasenfell, Feuerstein und alter Kochschokolade nicht herausschmecken zu können. Ebenso verunsichert ihn ein übermäßiges Sezieren in Form von unglaublich tiefschürfenden Analysen der einzelnen Komponenten wie Süße, Säure, Extrakt, freien Schwefelradikalen, PH-Werten und Veresterungen, die dann noch in einem Bewertungsschema gipfeln können. Der Genuss litt schon immer unter diesem schematischem Verständnis von Wein. Wie bei einer riesigen Uhr die Zahnräder greifen auch beim Wein unendlich viele Faktoren ineinander. Doch ein zu rationales Verständnis von Ursache und Wirkung, das wir spätestens seit Isaac Newton haben, schadet eigentlich dem Wein. Selbst ausgefuchste Weltklassewinzer können letztlich meist nicht erklären, woher deren originäre Qualität tatsächlich rührt. Und das ist auch gut so! Noch weniger ist dies vom Konsumenten zu erwarten, der oft vor einem Wust fast schon technisch anmutenden Angaben etwa zu Trinktemperatur und Alterungspotenzial eines Weins oder der zu verwendenden Glas form steht. Vielleicht geht es aber auch gerade um die Erzeugung von Unsicherheit aufseiten der Weintrinker, sodass das Rad der Ehrfrucht weiter in Schwung bleibt. Auch ich kann mich nicht ganz davon ausnehmen. Wer an dieser großen Schraube dreht, hat schließlich auch Anteil an etwas Wichtigem, Großem, Universellem. Man erhöht sich quasi selbst, indem man andere dazu anhält, eine Sache anzubeten. Es grenzt aber an eine wahre Revoluti on, dass viele Konsumenten diesen ganzen Zirkus nicht mehr mitmachen und mutig in die Speichen besagten Rads greifen.
„Die Weinkritik fokussiert sich zu stark auf Top-Weine und auf edelsüße Tropfen, also auf wenige, für mich zu teure Weine, die von viel zu wenigen Leuten getrunken werden – und gleichwohl absurderweise den größten Teil der Rankings ausmachen!“ (Adrian Chrubasik)
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Konsumenten mit manfred lüer
Genau das geht dem noch immer unterschätzten Wandel voraus. Es nimmt aber zu, das freie Denken in einem oft oberflächlich als Billig- oder Discounterland verschrienen Deutschland. „Das Wichtigste war für mich, die Schranken in meinem Kopf zu heben“, resümiert etwa Starwinzer Markus Schneider aus Ellerstadt in der Pfalz, und genau das ist auch in den Köpfen vieler aufgeklärter Weinfreunde geschehen. Die Suche nach dem besten Wein, dem Ranking edler Tropfen interessiert sie eher marginal, denn für sie liegt der heilige Gral ganz woanders.
„Was ist der beste Wein? Das ist die Frage der oft selbstverliebten Kritiker, die Frage, die sehr gute Winzer nur allzu gerne beantworten wollen. Aber nicht unbedingt meine. Sondern: Was sind die Top-Weine für ein bestimmtes Geld? Qualität ist nichts. Preis-Leistungs-Verhältnis alles. Wer macht den besten Riesling für, sagen wir mal, 8 Euro?“ (Adrian Chrubasik) „Für mich ist der Wein in erster Linie ein Konsumartikel, den ich im Kreis von netten Leuten, aber auch allein mit meiner Frau Marietta gerne trinke. Über das Terroir mache ich mir weniger Gedanken. Wein muss vor allem schmecken!“ (Wolfgang Stamm) Diese neue Haltung der Konsumenten hat die Situation unter Jungwinzern und Wein freuden gleichermaßen verändert. Sie ist es, die zu den heutigen Umwälzungen geführt hat. Wein rockt, Wein ist cool geworden. Der Winzer Martin Tesch von der Nahe geht mit seinen „Unplugged“-Rieslingen auf Tournee. Konsumenten freuen sich besonders über die neuen „Boygroups“, sprich Gruppen von Jungwinzern und deren regelrechte Seinsex trakte aus steilen Lagen, die wie Schwalbennester an den Hängen von Rhein, Mosel oder Ahr hängen. Sie mögen die Weine der Ungeduld von Schieferhalden und Vulkangeröll über die Wolken fliehen. Für viele Weinfreunde ist Wein nichts Abgehobenes mehr aus dem Mief von Verkostungsräumen, er hat nichts Elitäres oder gar Sonderbares.
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Ebenso durchschauen immer mehr Konsumenten, dass Punktwertungen und Rankings lediglich zur groben Orientierung taugen und halt beim Verkosten entstanden sind, was aber mit dem Trinken nichts zu tun hat! Wie oft sind nicht insbesondere die anfangs eher zurückhaltenden, leichteren und bekömmlichen Weine, die einen gewissen Wider stand beim Trinken leisten, die spannendsten. Es liegt daran, dass man dahinterkommen möchte, worin ihr eigentliches Geheimnis besteht. Faszination als Quersumme von Land schaft, Lebenslust und Leuten – und Wein als etwas ganz Lebendiges, das ständig in Be wegung ist.
„Wein ist für mich Kultur, Spaß, Faszination und Entertainment in einem. Man kann stundenlang darüber philosophieren, aber auch einfach schnell mal etwas Gutes schlucken. Er ist immer anders, selbst Wein aus derselben Flasche, getrunken an einem Abend. Er ist nie langweilig, häufig richtig lecker und bei meiner Auswahl selten übel. Weintrinken ist ab und zu ein Kampf: boah, weg damit oder na ja, doch noch ein Schluck (etwa beim Amphoren-Riesling von Jakob-Peter Kühn). Mit Wein eine Landschaft zu erleben, diese im Idealfall sogar zu schmecken, das ist für mich der eigentliche Kick!“ (Oliver Hess)
In einer globalen Weinwelt werden jedoch von findigen Marketingstrategen beinahe täglich neue Weine mit flauschig-weichen Fruchtaromen in den unendlichen Orbit der Supermärkte, Weinhandlungen und Internetshops geschickt – in den neuen paradiesi schen Garten des Weins, wo es sauber ist und die Tropfen angenehm rund, reintönig und irgendwie futtifrutti-fruchtig schmecken. Dabei ertönt pseudo-ethnische Musik aus den Lautsprechern …
„Ich habe ein Problem mit Winzern, die mehr Schein als Sein produzieren, und mit sinnlosen Marketinggags wie blauen, eckigen Flaschen usw. Also mit Weinen, die konstruiert daherkommen und nicht ehrlich sind, bei denen es zu Holzeinsatz kam nur um des Einsatzes willen.“ (Oliver Hess) „Der Genuss eines hochwertigen Weins ist eine herrliche Entdeckungsreise durch die Welt der Aromen, der Rebsorten, der individuellen Weinstile und vor allem – wirklich vor allem – der Böden. Wein ist ein Stück lebendiges Kulturgut, Botschafter einer Region und faszinierender Ausdruck der Passion und Dynamik, die ein Winzer hat (oder eben auch nicht).“ (Petra Wiegand)
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Die vinologische Fast-Food-Frucht ist nur eine weitere verkorkste Taste des Klaviers weltweit agierender Konzerne, sogenannter Flying Winemaker und Marketingtrategen. Sie mag ja auch so manchem schmecken. Doch man schmeckt nur das, was man weiß, und es gibt immer noch eine Menge Konsumenten, die fürchten, nichts über dem Wein zu wissen; ein Teufelskreis, der gebrochen werden muss, wenn wahrer Weingenuss statt finden soll. Diese Pointe ist weitereichender als gedacht. Denn in einer pappsüßen Welt mit ihren genmanipulierten und veränderten Lebensmitteln mit Pseudogeschmack sind wir Konsumenten dieses flauschig-weiche Gefühl derart gewöhnt, dass uns klassische, ra dikale Rieslinge mit Gerbstoff, Druck und Würze wie die von Biowinzer Peter Jakob Kühn in Oestrich/Rheingau verunsichern, abschrecken, provozieren. Aber dann, beim zweiten, dritten Hinschmecken stellt sich oft Faszination ein für das andere, das sich fern abseits der Norm, jenseits der Mittelspur und weit weg vom Mainstream befindet. Man kann den „normalen“ Konsumenten als harmlos und unwissend verunglimpfen und dessen Meinung als banal abtun. Nach meinen Erfahrungen ist er es, der die Basis der neuen Weinkultur bildet, eben genau jenes Wesen, das eigentlich niemand näher kennt – und das wider Erwarten die Weine trinkt und Artikel darüber liest. Das, was wir erleben, ist ein historischer Umbruch, eine völlig neue Basisdemokratie des Geschmacks. Somit sind die scheinbar ehernen Regeln passé, dabei wird Weißwein oft als noch aufregender empfunden als roter, und Frauen haben oft einen feineren Geschmack als Männer. Und über Erotizismen à la „voller Körper, geschmeidig im Abgang“ schmunzelt längst keiner mehr. Außer man ist vielleicht angeschickert und lacht über jeden noch so blöden Witz. Nein, der neue Konsument, jenes oft beschimpfte, heruntergemachte und im schlimms ten Fall meist übersehene „Epizentrum“ der eigentlichen Weinkultur, ist zwar noch im mer eine Art Terra incognita, aber seine Passion und Liebe zum Wein sind unermesslich. Und in seinem Urteil ist der neue Konsument wesentlich entschiedener, differenzierter, schlauer und rigoroser, als es viele wahrhaben wollen.
„Wein wurde bei mir erst im Alter von über 65 zu einem Kultgetränk. Mir wurde bewusst, dass über meiner vielen Arbeit der Genuss viel zu kurz gekommen war. Und seitdem Wein in den Supermärkten zu immer niedrigeren Preisen angeboten wird, wurde er praktisch zum Artikel des täglichen Bedarfs. Erst langsam setzte sich bei den dadurch auf den Geschmack gekommenen ,neuen‘ Weintrinkern mithilfe der Medien die Erkenntnis durch, dass es sich dabei überwiegend um Ramschweine von schlechter Qualität handelt. Es wird jedoch aller Kunst der Weinszene bedürfen, um zumindest einen Teil der Verbraucher, die sich dem Wein
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als Artikel des täglichen Bedarfs zugewendet haben, auf Weine von höherer Qualität und ihren Genuss einzustimmen. Hier sehe ich – auch aus jahrelanger eigener Erfahrung – großen Aufklärungsbedarf.“ (Horst Ploeger) Die Wende hin zu besserer Qualität begann bereits in den 1980er-Jahren, als Vorreiter wie Bernhard Breuer vom Weingut Georg Breuer in Rüdesheim/Rheingau, Bernd Phi lippi von Koehler-Ruprecht in Kallstadt/Pfalz oder Ernst Loosen vom Weingut Dr. Loo sen in Bernkastel/Mosel anfingen, die traditionelle Weinwelt gegen den Strich zu bürsten. Sie setzten neue Zeichen für authentischen, unverkrampften Weingenuss und begannen mit charakterstarken und langlebigen Terroir-Weinen, die auf Zeit setzen und helfen, das sich immer schneller drehende Rad der Vermarktung anzuhalten. Zudem versetzten sie sich auch in die Rolle des Konsumenten, aber in die eines mündigen, aufgeschlosse nen und offenen! Dieses neue vernetzte Denken kann nicht hoch genug bewertet wer den, denn es eint die Interessen von Konsument und Winzer, bei ihnen sitzen quasi bei de am selben Tisch. Selbst viele Winzer rücken ab vom überhöhten Spiritus Rector und verstehen sich als kreative Künstler, als Konsumenten, als Handwerker und als „Normalos“. Sie haben den hohen Sockel verlassen, thronen nicht mehr am Kopf des überlangen Tisches, auf dem etliche überteuerte Pullen stehen, sondern sie möchten Spaß haben, ihr Universum er klären und aller Welt zeigen, dass man auch an vielen einst unbekannten Orten wie Ef ringen-Kirchen/Baden (Ziereisen) oder Appenheim/Rheinhessen (Hofmann) große Weine machen kann. Und zwar auch deshalb, weil man große Weine machen will. Und diese Sprache ist es, die der Konsument versteht. Wenn ein Winzer wie Jürgen Hofmann aus Appenheim den Leuten erklären kann, was er alles gemacht hat, um das versteinerte Korallenriff Hundertgulden im Norden von Rheinhessen in voller Pracht auf die Flasche zu ziehen, wenn er seine Motive, sein Lebensgefühl, seine Wünsche, Irrtümer und seine Liebe zur Landschaft zum Ausdruck bringt, versteht man ihn und seine Weine – eben weil man dadurch die Möglichkeit hat nachzuempfinden. Und der Konsument spürt, dass je mand wie er authentisch ist! Weinbauern dieses Schlags sind das genaue Gegenteil vom „Schnitzelwinzer“, der nicht über den Tellerrand hinausblickt. Faszinierend sind auch die Worte der jungen Aufstei gerin Christine Huff von Weingut Fritz Ekkehard Huff in Nierstein-Schwabsburg/Rhein hessen, die eigentlich nie Winzerin werden wollte. Doch der Funke sprang auf sie über,
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als sie 16 war: „Mein Cousin, Jochen Dreissigacker aus Bechtheim, lernte vor neun Jahren beim Weingut Keller in Flörsheim-Dalsheim. Er schwärmte total von seiner Arbeit und sprach über den Wein ganz anders, als ich es von zu Hause her kannte. Wein zu machen kam mir urplötzlich als etwas Kreatives vor. Ich machte dann ein Praktikum bei den Kel lers, und diese zwei Wochen dort waren so ziemlich die beiden anstrengendsten meines Lebens. Doch eines habe ich dort gelernt: Wein ist kein landwirtschaftliches Produkt, son dern etwas, das begeistern kann. Diese Leidenschaft kannte ich so nicht.“ Auf dem Wein gut Keller werden jeden Mittag große und kleine, spannende und langweilige Weine aus aller Welt gemeinsam am Tisch probiert, getrunken und auch mal weggeschüttet. Es ist eine Keimzelle der neue Weinkultur Rheinhessens, genau wie Weingut Dreissigacker. Die Begeisterung für das Kreative seitens der Winzer konnte aber erst durch die neue Einstel lung der Konsumenten aufkommen. So lautet das Fazit Ersterer inzwischen: Wir möch ten genau die Weine machen, die uns schmecken! Und um den Geschmack zu bilden, muss man eben erst einmal all die tollen Sachen probieren, die die Weinwelt bereithält. Die neue Achse, auf der sich Weine, Winzer und Konsumenten gemeinsam bewegen, heißt: Offenheit. Einfachheit. Materie pur. Wahrer Genuss braucht also kein Glas mit Goldrand, keine Etepetete-Ästhetik, keine überflüssige Dekoration. Wahrer Genuss ist Genuss um des Genusses willen. Vielleicht spüren das viele Konsumenten auch deshalb so gut, weil sie unverkrampfter, unbelasteter und intuitiver an die Sache herangehen. Es geht vielen Winzern auch gar nicht mehr so sehr darum, alle Parameter in nur einem Glas zu bannen. Wichtiger ist ihnen, die Mauern in den Köpfen einzureißen, sprich einem Müller-Thurgau genauso zu begegnen wie einem hochdekorierten Riesling bzw. sich einem Spätburgunder aus dem Harz so zu nähern wie einem Pinot Noir zum dreistelligen Europreis die Flasche.
„Meine ganz persönlichen Vorlieben: Spätburgunder. Baden. Aber vielleicht auch unterschätzte Sorten. Was wird aus einem Müller-Thurgau, wenn jemand genauso viel Liebe und Sorgfalt reinsteckt wie in manches Große Gewächs vom Riesling?“ (Adrian Chrubasik) Und dann kommt es doch dazu, scheinbar urplötzlich, das Schwärmen für den Rebensaft.
Wie schmeckt eigentlich ein „scharf eingerittener Damensattel“? Oder eine „hohe innere Dichte“ oder eine „feste Struktur“?
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„Für mich ist Wein einfach die geilste Droge, die es gibt. Einfach ganz großes Kino, ganz große Gefühle.“ (Sven Liefen) „Wein ist pure Vielfalt, reine Dynamik. Oder besser: Er kann es sein, wenn er nicht zur Fabrikware reduziert wird, um eine bestimmte Nachfrage zu bedienen. Nicht dass es schlimm wäre, Bedürfnisse von Konsumenten zu bedienen – ganz im Gegenteil, davon leben viele Menschen ,und die Konsumenten sollen bekommen, was sie wollen. Aber Wein kann immer mehr, viel mehr, als nur die augenblickliche Nachfrage zu bedienen. Die Winzer verlieren, wenn sie nur auf Letzteres zielen.“ (Adrian Chrubasik) Wenn es also eine Wahrheit im Wein gibt, dann diese: Immer wenn wir Menschen vor etwas in seiner Gesamtheit Unbegreiflichem, Anrührendem, Unfassbarem stehen, nei gen wir dazu, Dinge zu dogmatisieren, in Schubladen zu stecken, zu deckeln, Konzepte zu entwickeln und unseren Verstand über die Gebühr einzusetzen. Viele interessierte Kon sumenten, die ich kenne, genießen Wein aber eher intuitiv. Sie sind zum einen sachlicher und zum anderen offener als so mancher gestandene Weinjournalist (mich eingeschlos sen). Sie begegnen dem Wein daher oft auf eine ganz andere, aber, wie ich finde, ange messenere Art: Sie möchten entdecken, begreifen und fühlen, was sie gerade schmecken. Dem entspricht der revolutionäre Ansatz des Gonzo-Journalismus, den Hunter S. Thomp son Anfang der 1970er-Jahre begründete und den Stuart Pigott bei seinen „Gonzo-Trips“ in die Zukunft des Weins befolgt. Somit entfällt die pseudo-objektive Beschreibung zu gunsten einer radikal subjektiven Sicht, wobei persönliche Erfahrungen und Gefühle zen tral sind, zum Ausdruck kommen und sich dadurch erst entfalten können. Und genau das ist auch die neue nicht minder revolutionäre Haltung gegenüber Wein der sogenannten Normalos – ob sie nun Thomas Till, Sven Liefen, Oliver Hess, Ingrid Lorenz, Petra Wie gand oder Paul Huppertz heißen.
„Ich mag Weine, die überraschen, deren Herkunft unverkennbar ist, die eine klare und unverwechselbare DNA haben und nicht dem Mainstream folgen. Gefälligkeit kann ja so langweilig sein!“ (Petra Wiegand) Der Nährboden für das neue Weinwunder ist die Verbindung aus Dynamik, Offenheit und Basisdemokratie sowie die Einsicht, dass Wein längst nicht so kompliziert ist, wie man meint. Nicht die Welt in einem Glas. Sondern das Glas in einer Welt!
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Über den Autor
Stuart Pigott Ohne die zufällige Begegnung mit Wein vor 30 Jahren wäre aus Stuart Pigott viel leicht „ein langweiliger Schuhverkäufer in einem langweiligen Londoner Vorort“ geworden. Stattdessen wanderte er nach Deutschland aus und wurde Weinkolumnist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und des Weinmagazins FINE. Dank seiner Fernsehsendung Weinwunder Deutschland im Bayerischen Rundfunk hat das Thema Wein einen bisher unbekannten Unterhaltungsgrad auf dem Bildschirm er reicht. Damit hat sich gewissermaßen auch ein Jugendtraum des Engländers erfüllt: Er wollte ursprünglich Schauspieler werden, aber: „Damals war ich zu feige.“ Heute traut sich Stuart Pigott das Tragen großkarierter Sakkos von Vivienne Westwood im Alltag zu. Berlin ist seit fast 20 Jahren seine Wahlheimat. Dort geht er gern ins Kino und in unterschied lichste Weinkneipen, manchmal trinkt er auch ein Helles. Mehr Informationen unter www.stuartpigott.de
manfred lÜer Seit 2003 lebt der Buchautor, Journalist und Weinkritiker Manfred Lüer im Rheingau, wo er „den Dosenpfirsich in der Dose lässt“. Denn zwischen diesem und dem edlen Wein bergspfirsich-Aroma eines tollen Rieslings liegt mehr als eine Welt! Lüers Meinung nach gibt es nur vier Arten von Wein: weiß, rot, schmeckt – und schmeckt nicht. Doch man schmeckt nur das, was man auch weiß. Und das hat nun wiederum etwas mit Kultur zu tun, wobei es auf das Lebensgefühl, die Landschaft sowie Leute und Lebensfreude ankommt: „Was das Terroir wirklich sein soll, habe ich bis heute nicht verstanden“, so Manfred Lüer. Kann ein Wein für 5,- Euro die Flasche genauso gut schmecken wie einer, der um ein Viel faches teurer ist? Davon ist der Autor überzeugt, solange die Voraussetzungen stimmen. Früher hockte der Kunsthistoriker und Journalist in tristen Redaktionsräumen, heute trinkt er lieber Wein.