Gert-Joachim Glaeßner Politik in Deutschland
Gert-Joachim Glaeßner
Politik in Deutschland 2., aktualisierte Auflage ...
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Gert-Joachim Glaeßner Politik in Deutschland
Gert-Joachim Glaeßner
Politik in Deutschland 2., aktualisierte Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1999 (erschienen unter dem Titel „Demokratie und Politik in Deutschland“) 2. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15213-4
Inhalt
Vorbemerkung .................................................................................................
11
I
Historische und politische Rahmenbedingungen
1
Politische Entwicklungslinien der Bundesrepublik Deutschland ..
15
2 2.1
Deutschland in Europa ...................................................................... Vom penetrierten zum integrierten System: Handlungsrahmen bundesdeutscher Außen- und Deutschlandpolitik................................ Die Anfänge: Alliierte Deutschlandpolitik .......................................... Wiedervereinigung oder Westbindung? Grundentscheidungen bundesdeutscher Außenpolitik ............................................................. Die wirtschaftliche und politische Einbindung der Westzonen und der Bundesrepublik........................................................................ Wiederbewaffnung und Souveränität der Bundesrepublik .................. Europäische Integration........................................................................ Zwischen atlantischer und europäischer Orientierung – außenpolitische Zielkonflikte ............................................................... Ostpolitik und die Entwicklung des innerdeutschen Verhältnisses ..... Ostverträge und deutsch-deutsche Beziehungen.................................. Der KSZE-Prozess................................................................................ Kontinuität in der Deutschlandpolitik .................................................. Widersprüche und Beschränkungen der Ost- und Deutschlandpolitik................................................................................ Von der Zweistaatlichkeit zum vereinten Deutschland: Die deutsche Frage als europäisches Problem ..................................... Neujustierung der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik ................. Die europäische politische Agenda nach Maastricht ........................... Die neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ...............................
27
2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5 2.6 2.6.1 2.6.2
Kontinuität und historischer Bruch: Politik in der Bundesrepublik Deutschland ............................................................ 3.1 Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer ............................................ 3.1.1 Die soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Leitbild an die Verfassungspolitik .....................................................................
29 31 35 35 37 43 45 48 52 57 59 63 66 77 78 80
3
83 84 85 5
3.1.2 Wirtschaftlicher Aufbau und politische Konsolidierung ..................... 3.1.3 Sozialpolitik als wirtschaftspolitische Notwendigkeit und politische Stabilisierungsstrategie ........................................................ 3.1.4 Antitotalitarismus, Antiliberalismus und „wehrhafte Demokratie“: Zum politisch-kulturellen Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik..................................................................................... 3.1.5 Der Herbst des Patriarchen: Kanzlerschaft auf Abruf.......................... 3.2 Das Interregnum ................................................................................... 3.2.1 Die Regierung Erhard........................................................................... 3.2.2 Die Große Koalition als Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise........................................................................... 3.2.3 Ein verkanntes Reformbündnis: Das politische Programm der Großen Koalition............................................................................ 3.2.4 Wirtschafts- und Finanzpolitik der Großen Koalition.......................... 3.2.5 Politisierung der Öffentlichkeit und politischer Protest....................... 3.3 Aufbruch zu neuen Ufern? – Die sozial-liberale Koalition 1969-1982 .............................................. 3.3.1 Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition ....................................... 3.3.2 Das gescheiterte Misstrauensvotum und Neuwahlen 1972.................. 3.3.3 Die zweite Regierung Brandt ............................................................... 3.3.4 Politische Bilanz der Kanzlerschaft Willy Brandts.............................. 3.3.5 Politik im Zeichen der Weltwirtschaftskrise ........................................ 3.3.6 Bedrohung der politischen Ordnung durch den Terrorismus............... 3.3.7 Helmut Schmidt: Kanzler in der Parteiendemokratie .......................... 3.4 Politik im Zeichen eines historischen Umbruchs................................. 3.4.1 Das Szenario der „Wende“................................................................... 3.4.2 Wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellungen.......................... 3.4.3 Politische Bilanz der 1980er-Jahre....................................................... 3.4.4 Zeitenwende: Politische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach der deutschen Einheit................................................................... 3.4.5 Umbau des Ostdeutschen Wirtschaftssystems ..................................... 3.4.6 Rechts- und Institutionentransfer ......................................................... 3.5 Das rot-grüne Bündnis: Machtwechsel oder Politikwechsel?.............. 3.5.1 Das Ende der Ära Kohl......................................................................... 3.5.2 Reformpolitik im Zeichen der Krise .................................................... 3.5.3 Sicherheit als vorrangiges Politikziel nach dem 11. September 2001 ...................................................................... 3.5.4 Was bleibt vom rot-grünen „Projekt“?................................................. 3.6 Bündnis wider Willen: Dir vorgezogene Bundestagswahl 2005 und die erneute Große Koalition ..........................................................
6
90 91 94 101 105 106 108 111 112 115 120 124 126 128 129 132 134 136 140 140 144 147 151 155 156 160 160 163 167 170 171
II
Krisen und gescheiterte Konsolidierung: Politik in der DDR
4 4.1 4.1.1 4.1.2
Das politische System der DDR......................................................... Grundlagen des politischen Systems der DDR .................................... Verfassungs- und Rechtsverständnis des Marxismus-Leninismus ...... Demokratischer Anspruch und politische Realität: Die Verfassung der DDR von 1949 ..................................................... Die Verfassung des „realen Sozialismus“ ............................................ Ideologische Grundlagen der Herrschaft der SED ............................... Struktur und Funktionsweise des politischen Systems ........................ Wahlen und die Rolle der „Volksvertretungen“ .................................. Struktur und Funktionsweise des Staatsapparates................................ Suprematie der SED und sozialistische Demokratie............................ Die SED und ihre „Bündnispartner“ .................................................... Von der Sowjetischen Besatzungszone zur Deutschen Demokratischen Republik: Aspekte der Gründungsgeschichte der DDR................................................................................................ Wirtschaftliche und politische Weichenstellungen .............................. Staatsgründung und Sowjetisierung ..................................................... Systemstrukturen und politische Reformen ......................................... Das Erbe des Stalinismus: Die fehlgeschlagene Liberalisierung der 1950er-Jahre ................................................................................... Das „Neue Ökonomische System“: Die Grenzen technokratischer Reformen in den 1960er-Jahren .......................................................... Sozialismus als „System“ und Ideologie der Gemeinschaft ................ Krisen und Krisenbewältigung............................................................. Der 17. Juni 1953 – Ein Lehrbeispiel................................................... Revision des Sozialismus? ................................................................... Der 13. August 1961 und die Folgen ................................................... Die Krise der 1960er-Jahre................................................................... Die gescheiterte Modernisierung: Politik in der Ära Honecker...........
4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6
Ursachen der Systemkrise von 1989 ................................................. Reformblockaden im politischen System der DDR ............................. Der Traum von einer demokratischen Bürgergesellschaft: Politische Opposition und Bürgerbewegungen .................................... 5.3 Die „Wende“ ........................................................................................ 5.3.1 Das Ende der SED als Staatspartei....................................................... 5.3.2 Die Regelung des Übergangs: Der Runde Tisch und die Regierung Modrow............................................................................... 5.4 Entwicklungen eines neuen Parteiensystems ....................................... 5.5 Die gescheiterte Verfassungsreform .................................................... 5.6 Demokratische Wahlen und das Ende der DDR .................................. 5 5.1 5.2
177 177 178 179 181 183 187 189 191 195 196 202 202 208 214 214 218 221 224 225 227 230 231 234 241 241 248 252 253 257 262 269 273
7
III
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
6
Ordnung und Wandel: Herausforderung an die Verfassungspolitik ........................................................................ Die Verfassung als Grundlage der politischen Ordnung...................... Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes ... Die Neukonstituierung der Länder ....................................................... Zentralismus versus Föderalismus: Zur Vorgeschichte des Grundgesetzes ................................................................................ Der Herrenchiemseer Konvent............................................................. Der Parlamentarische Rat ..................................................................... Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes.................................. Die Bundesrepublik Deutschland als republikanische politische Ordnung ............................................................................... Das Prinzip des Bundesstaates – Der Föderalismus............................. Das Rechtsstaatsprinzip........................................................................ Das Sozialstaatsprinzip......................................................................... Das Demokratieprinzip......................................................................... Souveränitätsverzicht und begrenzte Souveränität .............................. Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes.............................. Grundrechte als individuelle Freiheits- und Abwehrrechte ................. Menschen- und Bürgerrechte ............................................................... Gleichheitsgrundrechte......................................................................... Grundrechte als Antwort auf die Diktaturerfahrung ............................ Der Staat als Schutzinstanz .................................................................. Grundrechte als Elemente der politischen Ordnung ............................ Renaissance der Grundrechte ............................................................... Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes .. Die deutsche Vereinigung als verfassungspolitisches Problem ........... Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der Einigungsvertrag ..................................................................... Das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung und die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission......................................... Verfassungspolitik im Zeichen europäischer Einigung .......................
6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.2 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7 6.5 6.6 6.6.1 6.6.2 6.7 7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Strukturmerkmale des politischen Systems..................................... Die Idee der repräsentativen Demokratie............................................. Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung........................................... Gewaltenteilung als politisch-institutionelles Prinzip.......................... Die Trennung der Staatsfunktionen im Grundgesetz ........................... Föderale Gewaltenteilung..................................................................... Grundzüge des bundesdeutschen Föderalismus................................... Gescheiterte Verfassungsreform .......................................................... Der Föderalismus nach der deutschen Einheit ..................................... Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung als Aufgabe der Verfassungspolitik........................................................... 7.3.4 Europa der Regionen und der deutsche Föderalismus ......................... 8
279 279 282 282 288 292 294 299 303 303 306 308 310 311 313 318 318 319 320 321 324 327 328 334 339 342 347 359 359 363 364 367 368 368 372 374 376 380
7.4
Europäisierung nationalstaatlicher Politik ........................................... 382
8 8.1 8.2 8.2.1
Das Regierungssystem........................................................................ Wahlen, Regierungen, Koalitionen ...................................................... Das Parlament....................................................................................... Die Gesetzgebungsfunktion des Bundestages im föderalen System der Bundesrepublik.................................................................. Opposition ............................................................................................ Karrierewege und Elitenrekrutierung................................................... Parlament und Parteien......................................................................... Parlament und organisierte Interessen.................................................. Parlament und Regierung ..................................................................... Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament und Kontrolle der Regierung durch das Parlament .............................. Zusammenarbeit von Parlament und Regierung .................................. Kanzlerdemokratie: Institutionelle Rahmenbedingungen stabiler Regierungsmehrheiten ............................................................. Regieren und die öffentliche Verwaltung ............................................ Das Bundesverfassungsgericht: „Hüter der Verfassung“ oder politischer Akteur? ....................................................................... Organisation des Bundesverfassungsgerichts ...................................... Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit..............................................
8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.5 8.6 8.6.1 8.6.2 9 9.1 9.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3
Parteien und organisierte Interessen................................................ Parteien und Parteiensystem – einige begriffliche Klärungen ............. Parteienverständnis des Grundgesetzes................................................ Das Parteiensystem der Bundesrepublik .............................................. Traditionslinien und Neugründung des deutschen Parteiensystems .... Konzentration und Polarisierung.......................................................... Entwicklung der Parteien ..................................................................... CDU...................................................................................................... CSU ...................................................................................................... SPD....................................................................................................... FDP....................................................................................................... Die Grünen ........................................................................................... PDS-Die Linke ..................................................................................... Rechtsradikale und rechtsextreme Parteien.......................................... Organisierte Interessen ......................................................................... Organisierte Interessen und das Gemeinwohl ...................................... Neopluralismus oder liberaler Korporatismus ..................................... Verfassungsrechtliche Stellung der Verbände in der Bundesrepublik..................................................................................... 9.5.4 Typologie der Verbände ....................................................................... 9.5.5 Politische Einflussnahme der Verbände............................................... 10 10.1
391 391 398 398 403 404 404 405 407 408 410 410 414 420 423 424 431 431 437 440 440 445 447 447 450 452 457 460 464 466 470 471 474 477 480 486
Die demokratische Bürgergesellschaft ............................................. 491 Politische Willensbildung und politische Beteiligung ......................... 492
9
10.2
Repräsentation und Partizipation in der politischen Ordnung des Grundgesetzes ................................................................. Formen politischer Beteiligung ............................................................ Plebiszite als Ergänzung repräsentativ-demokratischer Verfahren...... Politischer Protest................................................................................. Politische Öffentlichkeit und die Rolle der Medien............................. Erneuerung des demokratischen Grundkonsenses ...............................
498 501 508 515 518 521
Bibliographie ................................................................................................... Abkürzungsverzeichnis.................................................................................... Abbildungsverzeichnis..................................................................................... Tabellenverzeichnis ......................................................................................... Sachregister ..................................................................................................... Personenregister...............................................................................................
527 559 561 562 563 569
10.3 10.4 10.5 10.6 10.7
10
Vorbemerkung
Mehr als sechzig Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges und fast zwei Jahrzehnte nach dem Kollaps des Kommunismus, dem plötzlichen und nicht erwarteten Ende der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist die Bundesrepublik Deutschland eine gefestigte Demokratie und ein anerkanntes Mitglied der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft. Nur wenige vermochten sich 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik vorzustellen, dass sich das neue staatliche Gebilde zu einer stabilen, von den Eliten und den Bürgern getragenen politischen Ordnung entwickeln werde, wurde es doch von vielen als von den westlichen Siegermächten oktroyierte Demokratie wahrgenommen. Im Titel eines einflussreichen Buches von Fritz René Allemann aus dem Jahre 1956 „Bonn ist nicht Weimar“ schwang Beruhigung darüber mit, dass die zweite deutsche Demokratie trotz schwierigster Startbedingungen und trotz der Teilung des Landes nicht den Weg der Weimarer Republik eingeschlagen hatte und eine solche Entwicklung billigerweise auch nicht zu erwarten war. Die Bundesrepublik Deutschland, die 1949 als Separatstaat mit gesamtdeutschem Anspruch gegründet worden war und sich in den vierzig Jahren ihrer Existenz zu einer stabilen Demokratie entwickelt hatte, bot 1990 das konstitutionelle Dach, unter dem die staatliche Trennung überwunden werden konnte. Ihre erprobte verfassungsmäßige Ordnung gilt seither, mit geringen Veränderungen, für Gesamtdeutschland. Diese Ordnung war keineswegs eine creatio ex nihilo. Sie bezog ihre normative und institutionelle Idee aus historischen Erfahrungen und den Einsichten moderner Demokratietheorien, deren Konzepte sie auf die deutschen Bedingungen anwandte und weiter entwickelte. Im Verlauf der Entwicklung und Entfaltung der Demokratie in Westdeutschland kamen neue Vorstellungen einer weiterreichenden Demokratisierung nicht nur des politischen Raums, sondern auch der Gesellschaft hinzu. Beides, sowohl der Grundbestand demokratischer Ordnungsvorstellungen als auch Erweiterungen und Ergänzungen bildete den Fundus, auf den 1990 zurückgegriffen werden konnte, als es darum ging, sich nach der demokratischen Revolution in der DDR der Grundlagen der neuen gesamtdeutschen staatlichen und politischen Ordnung zu vergewissern. Der Bogen spannt sich von den Überlegungen des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948/49 über die vielfältigen Anlässe und Ansätze einer Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, 11
den Verfassungsdiskussionen des „Runden Tisches“ in der DDR, bis hin zur faktischen Proklamation des „Modells Bundesrepublik“ als Blaupause für die neue gesamtdeutsche Republik. Dass die Bundesrepublik als Modell für das vereinte Deutschland dienen konnte, verdankte sich vor allem den Entscheidungen des Verfassungsgebers von 1949 für eine auf den allgemeinen Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten beruhende demokratische politische Ordnung, aber auch den – trotz des Kalten Krieges und der deutschen Spaltung – günstigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich entwickeln und entfalten konnte. Die Frage nach der Demokratie in Deutschland lenkt den Blick auf beide Aspekte: die verfassungspolitischen und institutionellen Grundlagen und die historischen Entwicklungslinien der Bundesrepublik Deutschland. Politik in Deutschland nach 1945 bedeutete aber bis 1990 Geltung der Grundrechte und politische Freiheit, rechtsstaatliche Entwicklung und soziale Wohlfahrt nur in einem Teil des Landes. Daher kommt man nicht umhin, den Auswirkungen des Ost-West-Konflikts der Zweistaatlichkeit und den Einflussfaktoren dieser Rahmenbedingungen auf die beiden deutschen Staaten und Gesellschaften Aufmerksamkeit zu schenken und ihre Nachwirkungen im vereinten Deutschland zu verfolgen. Mit diesem Buch verfolgt der Verfasser zwei Intentionen: Zum einen wird nach dem Vorbild angelsächsischer „textbooks“ eine problemorientierte Einführung in die Grundlagen der Verfassungsordnung und des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland – ergänzt durch eine Darstellung des politischen Systems der DDR – gegeben, zum anderen wird den politischen und politischkulturellen Entwicklungslinien der Bundesrepublik und der DDR als des Antipoden der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die folgende Darstellung der politischen Entwicklung und des politischen Systems der Bundesrepublik und der DDR beruht auf meinem 1999 veröffentlichten Buch „Demokratie und Politik in Deutschland“, das angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre einer grundlegenden Überarbeitung und Neufassung bedurfte. Für kritische Hinweise habe ich Sebastian Bukow und Astrid Lorenz zu danken. Benjamin Hertz, Evgueni Preine und Christian Wilhelm haben mich bei der Literaturrecherche unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Lilian Klein für die bewährte und produktive Zusammenarbeit bei der Korrektur der Texte und der Herstellung der Textvorlage. Nicht zuletzt möchte ich Frank Schindler vom Verlag für Sozialwissenschaften dafür danken, dass er so spontan die Idee aufgegriffen hat, dieses Studienbuch zu publizieren. Berlin, im Juni 2006 Gert-Joachim Glaeßner
12
I
Historische und politische Rahmenbedingungen
1
Politische Entwicklungslinien der Bundesrepublik Deutschland
Am 8. Mai 1945 hatte das Deutsche Reich bedingungslos kapituliert. Damit wurde die totale Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland besiegelt. Die oberste Regierungsgewalt in Deutschland wurde von den Alliierten übernommen. Eine staatlich verfasste deutsche politische Ordnung existierte nicht mehr, und es war mehr als fraglich, ob und wann dies einmal wieder der Fall sein würde. Der bedeutendste deutsche Historiker jener Jahre, Friedrich Meinecke, sah in seinem Buch „Die deutsche Katastrophe“ das Ende der politischen Geschichte Deutschlands gekommen. Nur als Kulturnation könne Deutschland auf voraussehbare Zeit weiter existieren. Nur vier Jahre später, im Mai 1949, verabschiedete der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, nicht als Verfassung im traditionellen Sinne, sondern als vorläufige verfassungsrechtliche Grundlage für ein „Transitorium“ (Theodor Heuss), einen „Notbau“ (Carlo Schmid). Niemand dachte damals daran, dass dieses Provisorium Bundesrepublik fast ein halbes Jahrhundert bestehen würde. Nur zögerlich hatten sich die deutschen Politiker überhaupt darauf eingelassen, die von den Alliierten gewollte und forcierte Staatsgründung mitzutragen und mitzugestalten. Sie fürchteten um die Einheit der Nation. Gleichwohl war die Bundesrepublik kein „Spalterstaat“, wie es ihr immer wieder von den Kommunisten vorgeworfen wurde. Vorbereitungen für eine Separatstaatsgründung gehen im Westen und im Osten Deutschlands auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik verdankten ihre vierzigjährige Existenz der andauernden Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West. Ihre unvorhergesehene Vereinigung war das Ergebnis einer internationalen Konstellation, in der die Sowjetunion nicht mehr bereit und in der Lage war, ihre Hegemonie über Ost- und Mitteleuropa und den Osten Deutschlands mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten und gegenüber den allenthalben aufbrechenden Volksrevolutionen zu verteidigen. Der Erfolg der Demokratie in der Bundesrepublik und das glückliche Ende der Entwicklung der deutschen Spaltung verführen dazu, die Entwicklung von ihrem Ende her zu in- Fragestellung terpretieren und die Zufälle und Kontingenzen der historischen Entwicklung zu vernachlässigen oder zu übersehen. Im Folgenden sollen daher die beiden Eckpunkte der Entwicklung, die Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 und der Umbruch in der DDR mit der anschließenden staatlichen Vereinigung von 1990 zum Ausgangspunkt genommen werden, um die Frage zu klären, wel-
15
Ausgangsbedingungen der zweiten deutschen Demokratie
che Bedeutung die jeweilige Verfassungsordnung und das institutionelle Gefüge für die innere Entwicklung der beiden politischen Systeme in Deutschland hatte. Zu fragen ist nach den Ursachen dafür, dass es in der Bundesrepublik gelang, eine stabile, von der Zustimmung der Bürger getragene demokratische Ordnung zu errichten, während das politische System in der DDR stets unter einem fundamentalen Legitimationsdefizit litt. Von zentraler Bedeutung für die Beantwortung dieser Fragen ist die Einschätzung der inneren und weltpolitischen Bedingungen, unter denen sich die beiden deutschen Staaten entwickeln konnten. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, währte nicht einmal fünfzehn Jahre, bevor sie sich dem Nationalsozialismus auslieferte. Sie war an ihrer inneren Schwäche, an ihren ökonomischen und sozialen Krisen und an der Unfähigkeit der politischen Eliten zerbrochen, sie gegen die konzentrierten Angriffe von Demokratiegegnern zu verteidigen. Verglichen mit der Ausgangssituation der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 waren die Startbedingungen der Weimarer Republik relativ günstig gewesen. Zwar war der Krieg im Herbst 1918 verloren und die Siegermächte hatten Deutschland nicht nur einen Siegfrieden oktroyiert, sondern es auch mit massiven Reparationszahlungen auf Jahre hin belastet, aber die Revolution vom 9. November 1918 hatte erfolgreich das alte autoritäre Regime gestürzt und war, nach bürgerkriegsähnlichen Unruhen, in einen parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat gemündet. Die innere Entwicklung in Deutschland lag – von einigen Einschränkungen im Militärischen abgesehen – in den Händen deutscher Politiker. Gleichwohl aber stand die neu errungene Demokratie unter dem, von der politischen Rechten vorgetragenen, Odium der „Verzichtpolitik“. Ganz anders war die Situation in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Der Sieg der Alliierten bedeutete einen fundamentalen Bruch in der Geschichte des deutschen Nationalstaates. Das Land war besetzt. Die Siegermächte des II. Weltkrieges hatten die oberste Gewalt inne. Es begann das „Kondominium der Alliierten“ (Eschenburg, 1983: 21ff.), das formal bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 währte und dessen Restbestände erst mit der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beseitigt worden sind. Die Alliierten bestimmten die Wege und Freiheitsgrade deutscher Politik. Ihre wachsenden Gegensätze waren ursächlich für die deutsche Spaltung und das Entstehen zweier deutscher Staaten. Die Bundesrepublik entstand unter den Bedingungen und nach den Vorstellungen der westlichen Besatzungsmächte als „verordnete Demokratie“ (Pirker, 1977), die DDR als „Volksdemokratie“ und deutscher Vorposten des neuen sowjetischen Imperiums. Die deutschen Eliten waren diskreditiert. Die Handlungsmöglichkeiten deutscher Politiker waren auch nach der Gründung der Bundesrepublik und dem gleichzeitigen Inkrafttreten des Besatzungsstatuts erheblich eingeschränkt. Umso mehr hätte man – zumal die wirtschaftliche und soziale Lage der Nachkriegszeit nur als katastrophal bezeichnet werden kann – erwarten können, dass auch dieser zweite Versuch einer deutschen Demokratie ständigen Gefährdungen ausgesetzt wäre. Diese Furcht war, wie viele deutsche und alliierte Äußerungen aus jenen Jahren zeigen, weit verbreitet und nicht unbegründet.
16
Dass die Entwicklung ganz anders verlief, war der Kombination von glücklichen Umständen zu verdanken: Anders als in der Weimarer Republik war eine rückwärtsgewandte Verklärung des früheren politischen Regimes nicht möglich. Der Nationalsozialismus war so gründlich diskreditiert, dass nur extreme Randgruppen sich mehr indirekt als offen zu ihm bekannten. Der Kalte Krieg führte zur unerwartet schnellen Re-Integration Deutschlands in die internationale Gemeinschaft – allerdings als jeweilige „Vorposten“ sich feindlich gegenüberstehender politischer und militärischer Blöcke. Es war der Kalte Krieg, der die „negative Kontrolle“ der Bundesrepublik in die „positive Kontrolle einer Einfügung in die westliche Staatengemeinschaft“ verwandelte (Bracher, 1987: 155). Für die Bundesrepublik schuf die relativ frühe Einbeziehung in die entstehenden westeuropäischen und transatlantischen Gemeinschaften ideale Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, der die Grundlage für die Beseitigung des schlimmsten materiellen Elends und für das „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre bildete. Die feste Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Staaten- und Wertegemeinschaft und der europäische Einigungsprozess – später ergänzt durch die unabdingbar notwendige Versöhnung mit den östlichen Nachbarn – erwies sich nicht nur als bedeutender Stabilitätsfaktor in der Ost-West-Auseinandersetzung, sondern als das wichtigste Element für ein neues politisches und kulturelles Selbstverständnis dieses Teils Deutschlands. Die „Verwestlichung“ der Bundesrepublik stellt neben ihrer soliden verfassungsrechtlichen Fundierung die stärkste Sicherung gegen autoritäre Versuchungen dar. Thomas Mann hatte diese europäische Öffnung Deutschlands und der deutschen Nachkriegsdemokratie in seiner berühmten und heftig umstrittenen Rede „Goethe und die Demokratie“ zum Goethe-Jahr 1949 in Frankfurt a.M. und Weimar als Hoffnung formuliert. Das „Europäische auf deutsch“ war für ihn die Sehnsucht nach einer Versöhnung von Geist und Macht in Deutschland. Dazu bedürfe es jenes „demokratischen Pragmatismus“, der den Deutschen bisher abgegangen sei, der allein aber die Rechte der Gesellschaft gegenüber der Macht behaupten helfe.
Westintegration als Stabilitätsfaktor
Thomas Mann 1949: Hoffnung auf einen „europäischen Demokratismus in Deutschland“
„Das Unglück wollte, daß dieser europäische Demokratismus es in Deutschland nie zu viel politischer Macht brachte, dass Macht sich niemals mit ihm verbinden wollte, sondern, anders als bei anderen Völkern, diese Idee historisch fast gleichbedeutend mit deutscher Ohnmacht wurde. ,Tatenarm und gedankenreich‘ nannte Hölderlin das alte, fromme, geistige und machtlose Deutschland, und das klingt liebevoll, klingt nach Einwilligung und Bejahung. Aber es ist an der deutschen Diskrepanz zwischen Geist und Macht, Gedanke und Tat, dem Widerspruch zwischen kulturellem Rang und politischer Misere auch gelitten worden“. (Mann, 1968: 214)
Ein zweiter, in seiner integrativen Bedeutung nicht zu unterschätzender Faktor Die Bedeutung des war die Frontstellung der neuen Demokratie gegenüber dem Kommunismus. Kalten Krieges Beide deutsche Staaten und insbesondere Berlin standen mehr als vierzig Jahre im Zentrum eines oft bis an die Grenze des Militärischen getriebenen Kampfes um den weltweiten Einfluss der beiden atomaren Supermächte, USA und Sowjetunion. Er ging einher mit einer das politische und gesellschaftliche Leben durchdringenden Auseinandersetzung zwischen der marxistisch-leninistischen Ideologie auf der einen und den Ideen der liberalen Demokratie auf der anderen
17
Antitotalitärer Grundkonsens in der Bundesrepublik
Separatstaatsbildung oder Einheit der Nation?
Seite. Die Frontlinie dieser politischen und ideologischen Auseinandersetzung ging mitten durch Deutschland und mitten durch Berlin. Mit der Bundesrepublik und der DDR entstanden zwei konträre politische und sozial-ökonomische Ordnungen und politische Kulturen. Beide waren Produkte der Siegermächte, nur dass der Bundesrepublik die Chance eröffnet wurde, eine freiheitlich-demokratische Ordnung zu errichten, die auf dem frei geäußerten Willen ihrer Bevölkerung beruhte, während die DDR bis zu ihrem Ende ein demokratischer Legitimität entbehrendes Produkt sowjetischer Interessen blieb. Die weltpolitischen Rahmenbedingungen und die Entstehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten brachten es mit sich, dass sie gezwungen waren, sich besonders deutlich voneinander abzugrenzen und sich gegenseitig die Legitimation streitig zu machen. Aus der westlichen Sicht war es dem „Bolschewismus“ darum zu tun, die demokratische Ordnung in Westdeutschland mit allen Mitteln zu unterhöhlen und schließlich zu beseitigen. In der allgemeinen Wahrnehmung war der Kommunismus – wie zuvor Nationalsozialismus und Faschismus – ein „Todfeind“ der Demokratie. Diese Einschätzung hatte sich in Deutschland angesichts der Bestrebungen der Kommunisten und Nationalsozialisten, der schwachen demokratischen Republik von Weimar das Lebenslicht auszublasen, herausgebildet und bestimmte wesentlich den antitotalitären Grundkonsens in der jungen Bundesrepublik – selbstverständlich mit Ausnahme der Mitglieder der KPD. Die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und des Stalinismus in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren und der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hatten ein übriges getan, um die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus als „Totalitarismus“ zu befördern. Nach dem Bruch zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion, der sich schon auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 abzeichnete und drei Jahre später mit der Debatte um den Marshallplan, der Währungsreform, dem Auszug der Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat und der Berliner Blockade besiegelt worden war, stellte sich die Frage, was mit den territorialen Wrackstücken des besiegten Deutschen Reiches geschehen solle, auf deren gemeinsame Verwaltung man sich 1945 in Potsdam geeinigt hatte. Die Antwort auf beiden Seiten lautete: Bildung eines Teilstaates unter der Aufsicht der jeweiligen Siegermächte. Die westlichen Alliierten betrieben die Etablierung einer Demokratie in ihren Besatzungszonen im Kontext ihrer Vorstellungen über die Gestalt Nachkriegseuropas und Nachkriegsdeutschlands. Der heraufziehende Kalte Krieg ließ sehr schnell die zwischen den Neuordnungskonzepten der Westalliierten bestehenden Differenzen, die sich aus den unterschiedlichen Verfassungstraditionen erklären lassen, an Bedeutung verlieren (Pfetsch, 1986). Der Sowjetunion und den Politikern der DDR gelang es in den ersten Jahren, den Eindruck zu erwecken, als sei ihr Staat nur eine Antwort auf die Spaltungspläne des westlichen Imperialismus. Nicht ganz ohne Erfolg reklamierten sie die Idee der einen, ungeteilten Nation für sich. Erst das Scheitern ihres sozialökonomischen Experiments, das sie dazu zwang, am 13. August 1961 ihre Gren-
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zen hermetisch und auf Dauer abzuriegeln, entzog dieser Rhetorik endgültig die Basis. Die zwei Gründerzeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte 1949 und 1989 waren Zeiten des Neuaufbaus einer neuen politischen Ordnung und einer neuen politischen Kultur. Weder die Bundesrepublik noch die DDR konnten 1949 einfach an die tradierten politisch-kulturellen Muster anknüpfen, seien es die des Bismarck-Reiches, des Wilhelminismus oder der Weimarer Republik. Auch wenn das vereinte Deutschland verfassungsrechtlich und politisch-institutionell nur eine territorial erweiterte Bundesrepublik ist, stellt sie doch eine veränderte politische Gemeinschaft mit neuen Elementen einer politischen Kultur dar. Die Bundesrepublik musste sich nach 1949 mit Traditionen in Deutschland auseinandersetzen, die wesentlich dazu beigetragen hatten, die erste deutsche Demokratie scheitern zu lassen. Demokratische Überzeugungen und Verhaltensweisen hatten in Deutschland keinen soliden Grund. Die Tradition antidemokratischen Denkens (Sontheimer, 1962) und die geistigen Nachwirkungen des Nationalsozialismus stellten für die junge Bundesrepublik eine Belastung dar, über deren Tragweite und Konsequenzen sich die Demokraten durchaus im Klaren waren. Von ihrer Gründung bis zu ihrem Ende am 2. Oktober 1990 war die alte Bundesrepublik durch den Widerstreit zweier Prinzipien gekennzeichnet. Sie war als politische und soziale Ordnung mit einem positiven Gestaltungsauftrag gegründet worden. Eine ethisch fundierte soziale Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie sollten Freiheit, Menschenwürde und individuelle Wohlfahrt gewährleisten. Zugleich definierte sie sich in Abgrenzung gegen den Totalitarismus und alle antidemokratischen Bestrebungen. Innere Liberalität und Abwehr gegen Feinde von Innen und Außen standen in einem konfliktreichen Verhältnis zueinander. Es waren die Hypothek der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Konfrontationssituation im Kalten Krieg, die das politische und kulturelle Klima in der Nachkriegszeit und den ersten Jahren der Bundesrepublik prägten. Die Entstehung eines tragfähigen demokratischen Grundkonsenses, ohne den eine Demokratie auf Dauer nicht existieren kann, war keineswegs gesichert. Es dauerte mehr als zwei Jahrzehnte, bevor man von den Westdeutschen als überzeugten Demokraten und nicht mehr, wie noch in den 1950er-Jahren, nur von „demokratischen Opportunisten“ sprechen konnte (Almond/Verba, 1963; 1980). In der DDR erschien der Bruch mit der Vergangenheit weit radikaler als in der Bundesrepublik, ging er doch nicht nur mit einem Wechsel des politischen Systems, sondern einer Revolutionierung der sozialökonomischen Ordnung einher (Dahrendorf, 1965: 448 ff.). Die neue „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ versprach nicht nur eine neue Form der Demokratie, sondern darüber hinaus auch einen völligen und endgültigen Bruch mit der kulturellen Hegemonie der Bourgeoisie und die Errichtung einer neuen Kultur der bisher unterdrückten Mehrheit des Volkes, der Arbeiter und Bauern. Kompromissloser Antifaschismus wurde zur Staatsdoktrin. Als 1948, bereits vor der Staatsgründung, die Formierung einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung nach dem Muster des sowjetischen Sozialismus begonnen wurde, schien der Bruch mit der Vergangenheit total. Dabei wird häufig übersehen, dass es vielfältige weiterbestehende Traditionslinien zur obrigkeitsstaatlichen politischen Kultur in Deutsch-
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Politische Kultur und demokratischer Grundkonsens
„Antifaschistischdemokratische Ordnung“ in der DDR
Bundesrepublik und DDR als politische und gesellschaftliche Antipoden
Antitotalitarismus in der Bundesrepublik
land gab, die nicht abgeschnitten, sondern marxistisch-leninistisch umgedeutet und umgenutzt wurden. Es entstanden zwei politische Systeme in Deutschland mit höchst unterschiedlichen normativen Grundlagen – eine in vieler Hinsicht gefährdete und sich über längere Zeiträume hinweg entwickelnde und konsolidierende demokratische politische Ordnung in der Bundesrepublik und ein politisches System „neuen Typs“, das vom Herrschaftsanspruch und der Ideologie der marxistischleninistischen Partei bestimmt war, aber auch so heterogene Traditionselemente wie die des deutschen Obrigkeitsstaates und der Arbeiterbewegung in sich aufnahm. Als Produkte des Kalten Krieges waren beide deutsche Staaten aufeinander bezogen. Beide waren von der politischen Entwicklung und den Stimmungen in den feindlichen Lagern unmittelbar abhängig. Beide definierten ihr Selbstverständnis in Abgrenzung zum jeweils anderen. Die Bundesrepublik wurde gegründet als antitotalitäre demokratische Ordnung und „wehrhafte Demokratie“. Die DDR sollte, nach einer Übergangsphase, in der die Zukunft des neuen semistaatlichen Gebildes „Sowjetische Besatzungszone“ in der Schwebe blieb, als Modell und als Eckpfeiler einer künftigen sozialistischen Ordnung in Westdeutschland fungieren. Die Bundesrepublik zog die Lehren aus dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, der Herrschaft des Nationalsozialismus und etablierte ihre demokratische Ordnung zugleich als „Bollwerk“ gegen den Herrschafts- und Machtanspruch des stalinistischen Systems in der Sowjetunion und ihres deutschen Derivats in der DDR. Diese Gegnerschaft erleichterte es, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, ohne sich allzu sehr mit den Lasten der Vergangenheit beschäftigen zu müssen. Erst eine Generation später wurde die Forderung nach einer „Vergangenheitsbewältigung“ so deutlich und unmissverständlich formuliert, dass sie in den 1960er-Jahren zu einer schweren politischen und kulturellen Krise führte. Die DDR verstand sich selbst als antifaschistische Antwort auf den „Irrweg einer Nation“ (Abusch, 1946), als gesellschaftliche Ordnung, die im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte dazu bestimmt war, das Erbe des Kapitalismus und der bürgerlichen (Pseudo)Demokratie anzutreten. Die SED charakterisierte die „BRD“ als Hort der Reaktion und des „Revanchismus“. Selbst die Ende der 1960er-Jahre eingeleitete neue Ostpolitik hat diese Muster nicht obsolet gemacht. Im Gegenteil, die DDR-Führung fürchtete die zunehmenden kulturellen Einflüsse des Westens und antwortete mit einer Politik der ideologischen und politischen „Abgrenzung“ und mit dem Ausbau eines gigantischen Bespitzelungsapparates in der DDR. In der Bundesrepublik wurde der Kommunismus nicht nur als Gefahr von außen, sondern auch als permanente innere Bedrohung der Demokratie empfunden. Der Totalitarismus wurde als das absolute Gegenbild zur freiheitlichen Demokratie, als (erneute) Abweichung vom Pfad humanen Fortschritts und ethisch begründeter Politik begriffen. Ungeachtet seiner sonstigen abweichenden Meinungen stand der Philosoph Karl Jaspers für viele, wenn er bemerkte: „zwischen den Prinzipien der totalen Herrschaft und der Freiheit gibt es keinen ehrlichen Kompromiss“ (Jaspers, 1958: 173). Für Grautöne war in diesem Bild wenig Platz.
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Diese Frontstellung gegen die Diktatur in der DDR hatte Konsequenzen. Sie führte in der frühen Bundesrepublik zu einem permanenten Konflikt zwischen liberal-demokratischen Prinzipien und einer als antitotalitär begriffenen, streitbaren, und das hieß in der Konsequenz häufig, eingeschränkt liberalen politischen Ordnung. In den ersten Jahrzehnten der Existenz der Bundesrepublik ist immer wieder kritisch angemerkt worden, dass es der neuen demokratischen Ordnung an innerer Liberalität mangele und überkommene autoritäre Strukturen und Denkweisen der Entwicklung einer „Verfassung der Freiheit“ (Dahrendorf) und einer demokratischen Bürgergesellschaft im Wege stünden. Der Kalte Krieg lieferte den Anhängern antiliberaler und autoritärer Vorstellungen immer wieder Argumente für einen eingeschränkten Pluralismus der Ideen und politischen Programme. Der Verleger der „Zeit“ und unkonventionelle spätere CDU-Bundestagsabgeordnete, Gerd Bucerius, warf den Westdeutschen 1961 vor, sie hätten eine „geistige Maginot-Linie“ errichtet (zit. in: Dönhoff, 1963: 96). Dies erklärt z.T., warum in der Bundesrepublik der Herausforderung durch die Jugend- und Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre und den Theorien der „neuen Linken“ mit überzogenen Abwehrmechanismen begegnet wurde (Braunthal, 1990). Es war nicht allein die militärische Konfrontation zwischen Ost und West, die die Welt mehrmals an den Rand eines Atomkrieges trieb, welche Bedrohungsängste schürte. Der Kalte Krieg wurde auch mit allen Mitteln der psychologischen und ideologischen Einflussnahme, politischen Unterwanderung, Subversion und Spionage geführt. Deutschland, an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts gelegen, war ein exponiertes Manövrierfeld der Gegner im Kalten Krieg. Beide deutsche Staaten waren in besonderer Weise in diese Auseinandersetzung eingebunden. Ihr jeweiliger innerer Zustand war direkt vom Stand der Beziehungen zwischen den Supermächten abhängig. Erst nach dem Bau der Mauer in Berlin 1961 und der Kuba-Krise von 1962 begann sich die Chance eines modus vivendi zwischen Ost und West abzuzeichnen, der schließlich 1975 in Helsinki auf der Abschlusskonferenz der KSZE akzeptiert und vertraglich besiegelt wurde. Der Ost-West-Gegensatz blieb gleichwohl die entscheidende Determinante deutscher und internationaler Politik bis 1989/90. Auch wenn kaum zu bestreiten ist, dass sich die Bundesrepublik erst allmählich zu einer liberalen Demokratie entwickelt hat, ist doch festzuhalten, dass es neben den erwähnten Faktoren eine frühe, grundlegende Weichenstellung gab, die den Prozess der Herausbildung einer demokratischen Bürgergesellschaft gefördert und voran getrieben hat: die von der Regierung Adenauer gegen starke Widerstände vorangetriebene und durchgesetzte Westbindung der Bundesrepublik. Sie war mehr als eine bloß wirtschaftliche und politische Einbindung der Bundesrepublik in West- Europa und die atlantische Partnerschaft. Sie beendete die überkommene Distanz zu den Ideen der liberalen Demokratie und vollzog einen Bruch mit Vorstellungen von einer besonderen Rolle Deutschlands in Europa. Dass die Politik der Westintegration aber häufig auch als Kampf des christlichen Abendlandes gegen den „Antichrist“ Bolschewismus verstanden wurde, verweist auf die Ambivalenzen, die dieser Politik in den 1950er-Jahren eigen waren.
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Einfluss der OstWest-Konfrontation
Westbindung der Bundesrepublik versus nationalstaatliche Orientierung
Die deutsche Frage als nationale und soziale Frage
Eine demokratische Bürgergesellschaft als Auftrag des Grundgesetzes
In ähnlicher Weise verknüpften sich politische Konzepte, die der nationalen Frage absolute Priorität einräumten, mit unterschiedlichen, häufig unvereinbaren Vorstellungen. Der radikale Nationalismus Kurt Schumachers, der sich mit einem Antikommunismus und Antikapitalismus verband, hatte nichts gemein mit dem Revanchismus der politischen Rechten, die auf eine Revision der Ergebnisse des II. Weltkrieges und eine Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands in den Vorkriegsgrenzen aus waren, die „Überfremdung“ der deutschen Kultur durch die amerikanische „Pseudokultur“ ablehnten und liberal-demokratischen Ideen mit Skepsis oder offener Feindschaft gegenüberstanden. In der Gemengelage der 1950er und frühen 1960er-Jahre war die deutsche Frage sowohl eine nationale, als auch eine soziale und politische – die nach der staatlichen Zukunft des geteilten Landes und die nach den Grundlagen der politischen und sozialen Ordnung. Unter dem Motto „dreigeteilt niemals“ (eine Mahntafel mit dieser Aufschrift stand bis zum Jahre 1990 an der bayerischen Grenzübergangsstelle Rudolphstein der Autobahn München-Berlin) dominierte die nationale Frage. Damit wurde die deutsche Frage „zu einer Frage der Deutschen an die anderen“ (Dahrendorf, 1965: 15) und überlagerte häufig die Debatte über die politische Gestalt im Inneren. Die Frage „Wie hältst du es mit der Nation?“ blieb die deutsche Gretchenfrage. Mit der Gründung der Bundesrepublik war die nationale Frage auf den fernen Zeitpunkt vertagt worden, an dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über sein eigenes Schicksal entscheiden könnte. Die politische und soziale Frage war – wie die leidenschaftlichen und kontroversen politischen Debatten der 1950er-Jahre zeigten – im Grundgesetz keineswegs definitiv beantwortet worden. Zwar waren normative Grundpositionen fixiert und institutionelle Regeln aufgestellt worden, die sich als tragfähig und zukunftsweisend herausstellen sollten, welchen sozialen, politischen und kulturellen Gehalt die zweite deutsche Demokratie haben würde, hing aber davon ab, ob es gelang, diesen formalen Rahmen mit Inhalt zu füllen. Der Auftrag des Grundgesetzes war die Errichtung einer demokratischen Bürgergesellschaft. Ihre Verwirklichung und dauerhafte Verankerung war mit erheblichen historischen Hypotheken belastet. Ob sie gelingen werde, war in den Anfangsjahren keineswegs erkennbar. Noch Anfang der 1960er-Jahre waren kritische Beobachter der Entwicklung in der Bundesrepublik der Auffassung, dass die Grundlagen einer liberalen Demokratie – die wirksame Durchsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte, die Anerkennung und Regelung sozialer Konflikte, die soziale Öffnung der Eliten und öffentliche Tugenden als vorherrschende Wertorientierung der Menschen – nur rudimentär verwirklicht und stets gefährdet seien. So hat Ralf Dahrendorf seinerzeit der Bundesrepublik bescheinigt, dass sie sich zu einer demokratischen politischen Ordnung entwickelt habe. Er hat ihr jedoch kein positives Zeugnis als demokratisches Gemeinwesen, als Bürgergesellschaft ausgestellt. „Nachhallende Verwerfungen und spezifisch moderne Tendenzen verbinden sich zur Begründung eines politischen Systems, das zwar nicht in seiner Absicht, aber doch in seiner Wirkung autoritär ist. Ein Kartell der Angst regiert wider Willen; die große Zahl der Menschen verzichtet wissentlich auf die Teilnahme am politischen Prozeß. Wesentlich Neues geschieht nicht; die Verwaltung des Alten erweckt aber nicht das
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Interesse der Betroffenen. Parlamentarische Institutionen bestehen fort, ohne noch mit Leben erfüllt zu sein, für das sie einmal ersonnen waren. Auch sonst wird das Ritual der demokratischen Prozedur durchaus beachtet. Aber es ist eben bloßes Ritual geworden, hinter dem weder eine soziale noch politische Wirklichkeit steht.“ (Dahrendorf, 1965: 477)
Aus dieser Analyse zog Dahrendorf den resignierenden Schluss, dass ein „moderner Autoritarismus“ wahrscheinlicher sei, „als die Etablierung der Verfassung der Freiheit in einer ihrer historischen Ausprägungen“ (Dahrendorf, 1965: 477). Mit dieser skeptischen Sicht stand er nicht allein. Gabriel A. Almond und Sidney Verba waren in ihrer wegweisenden Studie „The Civic Culture“ von 1963 zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. In ihrem empirischen Vergleich der Bürgerkultur in fünf Ländern (USA, Großbritannien, Italien, Westdeutschland und Mexiko) hatten sie den Westdeutschen bescheinigt, dass sie eine höchst pragmatische, wenn nicht „überpragmatische“ und distanzierte, beinahe zynische Haltung gegenüber der Politik hätten – eine Haltung, die angesichts der traumatischen politischen Geschichte der jüngsten Vergangenheit nicht weiter verwunderlich sei. Diese Einschätzung war allerdings mit der Beobachtung verknüpft, dass die Deutschen dazu tendierten, mit den Handlungen und Leistungen ihrer Regierung zufrieden zu sein (Almond/Verba, 1963: 429). Die Westdeutschen hatten die geforderte politische Beteiligung als Teil ihrer staatsbürgerlichen Pflichten akzeptiert, denen ebenso zu gehorchen war, wie dem Schutzmann oder dem Rot an Fußgängerampeln. Die Entwicklung gestaltete sich jedoch weit positiver, als Almond/Verba, Dahrendorf und andere Anfang der 1960er-Jahre vermuten konnten. In einer 1980 von Almond/Verba herausgegebenen rückblickenden Bilanz der Entwicklung seit Anfang der 1960er-Jahre kam David B. Conradt zu dem Ergebnis, dass die Wert- und Einstellungsveränderungen in den 1960er und 1970er-Jahren und die günstige ökonomische Lage die Institutionen einer liberalen Demokratie stabil verankert hätten. Die Bundesrepublik sei geradezu zu einem Modell stabiler Demokratie geworden (Conradt in: Almond/Verba, 1980). Woher kommt dieser bemerkenswerte Wandel der Einschätzung über die Standfestigkeit und Krisenresistenz der deutschen Nachkriegsdemokratie? Neben den institutionellen und verfahrensmäßigen Grundlagen der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik, wie sie das Grundgesetz und seine spätere Ausgestaltung und Präzisierung zur Verfügung stellten, sind vor allem politischkulturelle Faktoren zu nennen, die hier nur stichwortartig erwähnt werden können. 1. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und die unbeschreiblichen Gräuel der Nazi-Herrschaft ließen ein Anknüpfen an tradierte Politikmuster nicht zu. Anders als nach dem I. Weltkrieg verbanden die westlichen Alliierten ihren Sieg mit einem Konzept des moralischen und ökonomischen Wiederaufbaus (re-education und Marshall-Plan). 2. Nur wenige Jahre später führte der Kalte Krieg zur Gründung zweier separater deutscher Staaten, die beide in feindliche Lager eingebunden waren und zu „Frontstaaten“ der beiden politischen und militärischen Allianzen, NATO und Warschauer Pakt wurden.
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Gefahr eines neuen Autoritarismus
Wert- und Einstellungsveränderungen in den 1960er- und 1970erJahren
Stabilisierende Faktoren für die Entwicklung einer liberalen Demokratie in der Bundesrepublik
3. Antikommunismus und, wenngleich weniger eindeutig, Antitotalitarismus wurden zu bestimmenden politisch-normativen Grundlagen der jungen Bundesrepublik. Dafür steht das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ des Grundgesetzes. 4. In der Bundesrepublik vollzog sich eine weitgehend reibungslose Integration der früheren Parteigänger des Nazi-Systems in die neue politische Ordnung – häufig, wie die Fälle Globke und Oberländer oder die sträflich mangelhafte Säuberung der Justiz von Nazi-Richtern zeigte – mit erheblichen moralischen Kosten. Der weitgehende Verzicht auf Strafverfolgung und soziale Ausgrenzung half, eine Integration in die neue Gesellschaft zu Wege zu bringen und hatte den politischen Effekt, dass dem organisierten Rechtsradikalismus die Basis entzogen wurde. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Republik gelang etwas durchaus nicht Selbstverständliches: die Integration aller Schichten der Bevölkerung in die neue politische Ordnung. Hier ist ein generelles Problem post-diktatorischer politischer Ordnungen angesprochen. Parallelen zur Situation nach 1989 sind offenkundig. 5. Die 1960er-Jahre brachten eine „liberale Revolution“ in der westdeutschen Gesellschaft. Eine neue Generation mahnte eine Erweiterung bürgerlicher Freiheiten, politischer Partizipation und sozialer Chancen an. Neue ökonomische und soziale Eliten forderten einen größeren Einfluss im öffentlichen Leben. Das Jahr 1968 war nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Gipfel dieses fundamentalen Modernisierungsprozesses der Bundesrepublik, der mit der großen Koalition von 1966 zum politischen Programm geworden war. (Die Erläuterung der Gründe für die Wirkung revolutionärer Metaphorik, die den Jugendprotest der späten 1960er-Jahre in ideologische und politische Sackgassen lenkte, bedürfte einer gesonderten Betrachtung.) 6. Neben dem Antikommunismus und Antitotalitarismus stellte die „Verwestlichung“ und „Europäisierung“ der deutschen Politik die zweite Ratio der bundesdeutschen Demokratie dar. Verwestlichung und Europäisierung
Es ist vor allem der letzte Punkt, der die Bundesrepublik von dem mit so folgenreichen Konsequenzen gescheiterten Experiment der ersten deutschen Republik unterschied und unterscheidet. Die Formulierung der Präambel der Weimarer Reichsverfassung, dass das „Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt [sei], sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“, blieb weitgehend unerfülltes Programm. Große Teile der Bevölkerung und vor allem der Eliten waren antirepublikanisch und antidemokratisch eingestellt. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass nach 1945 die von außen verordnete Demokratie akzeptiert werden würde. Die vom Grundgesetzgeber in der Präambel des Grundgesetzes, in weiser Einsicht in die Gegebenheiten gewählte Formulierung, dass das deutsche Volk sich verpflichte, „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, beschrieb die Grundlagen für das Selbstverständnis der zweiten deutschen Demokratie, einer politischen Ordnung, die sich dank internationaler und ökonomischer Rahmenbedingungen erfolgreich entwickeln konnte. Dies gelang, weil die politischen, wirtschaftlichen 24
und kulturellen Eliten das Bekenntnis zu den Werten einer liberalen Demokratie und zur Integration des westlichen deutschen Teilstaates in ein demokratisches Europa teilten und die unverkennbaren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Erfolge in den ersten Jahren der Bundesrepublik auch die Bevölkerung davon überzeugten, dass der eingeschlagene Weg vorteilhaft war.
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Deutschland in Europa
Am 8. Mai 1945 unterzeichnete Deutschland die von den Alliierten geforderte bedingungslose Kapitulation. Ob es je wieder einen deutschen Staat, vergleichbar dem Deutschen Reich geben werde, war unklar. Die Alliierten hatten in ihren Kriegs- und Kriegsfolgekonferenzen eine neue Mächtekonstellation im internationalen System skizziert, in der für Deutschland kein Platz war. Auch wenn die Zerstückelungspläne der Konferenz von Teheran aufgegeben worden waren, die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, deren Verwaltung durch alliierte Militärbehörden und die Einrichtung des Alliierten Kontrollrates als des obersten politischen Entscheidungsgremiums ließen den Willen der Siegermächte erkennen, Deutschland auf lange Zeit ihrer direkten Herrschaft und Kontrolle zu unterwerfen. Das besiegte Deutschland, nach 1871 eine europäische Großmacht, hatte ein Viertel des alten Reichsgebietes verloren, lag in Trümmern und war in Besatzungszonen, später in zwei Staaten unter der Patronage der westlichen Mächte und der Sowjetunion geteilt. Diese Konstruktion geriet aber sehr schnell aus dem Gleichgewicht. Nach dem Ausbruch des Kalten Krieges blieb von den Gemeinsamkeiten der Die Ordnung von Vier Alliierten wenig übrig. Die in vielen Fragen uneinigen westlichen Alliierten Jalta auf der einen und die Sowjetunion auf der anderen Seite trugen das ihre dazu bei, dass aus den Vereinbarungen von Jalta und Potsdam eine bipolare Welt entstand, in der die beiden neuen Weltmächte USA und UdSSR sich unversöhnlich und feindlich gegenüber standen. Die alte Weltmacht Großbritannien, durch den Krieg erschöpft, fiel in die Rolle einer Mittelmacht zurück, zumal nachdem sie, ebenso wie die anderen europäischen Kolonialmächte Frankreich, Belgien, die Niederlande, ihre Kolonien verloren hatte. Die beiden 1949 gegründeten deutschen Teilstaaten wurden zu „Vorposten“ im Kalten Krieg – eine Position, die sie trotz aller Veränderungen und trotz der seit den 1960er-Jahren einsetzenden und periodisch immer wieder bedrohten „Entspannungspolitik“ bis zum Ende beibehalten sollten. Im Hinblick auf ihre Außenbeziehungen und die ausstehende Regelung der nationalen Frage lassen sich vor diesem grob skizzierten Hintergrund fünf Phasen der Außen- und Deutschlandpolitik ausmachen. Begrenzte
1. Nach der Gründung der Bundesrepublik bis zum Jahre 1955 lagen die au- Souveränität der ßenpolitischen Entscheidungskompetenzen bei den Hohen Kommissaren. Bundesrepublik Das 1952 revidierte Besatzungsstatut von 1949 erlaubte keine eigenständige deutsche Außenpolitik, ließ aber gleichwohl Raum genug für individuelles 27
2.
Politik der Détante
3.
Ablösung der Souveränitätsbeschränkungen
4.
Neue Außenpolitik
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Agieren einzelner deutscher Politiker, den insbesondere Bundeskanzler Adenauer zu nutzen verstand. Das Grundgesetz machte darüber hinaus jenseits der aktuellen Beschränkungen deutlich, dass ein dauerhafter, gewollter Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte Voraussetzung einer Neugestaltung der europäischen Staatenordnung sei. Die DDR blieb bis 1955 Verfügungsmasse sowjetischer Deutschlandpolitik. Ihre Existenz wurde mehrmals, insbesondere in der „Stalin-Note“ von 1952, offen zur Disposition gestellt. Einen eigenständigen außen- und deutschlandpolitischen Bewegungsspielraum hatte sie nicht. Von der Teil-Souveränität der Bundesrepublik und ihrer Aufnahme in die NATO bis zum Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 bewegte sich die bundesdeutsche Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik im Rahmen einer Konsolidierung der Westintegration, wobei die im „Deutschland-Vertrag“ formulierten alliierten Vorbehaltsrechte Deutschland als Ganzes und Berlin betreffend nicht als unzulässige Einschränkung der eigenen Souveränität, sondern ganz im Gegenteil als Garantie für die Lebensfähigkeit (West) Berlins und eine spätere Regelung der deutschen Frage auf der Grundlage von Freiheit und Selbstbestimmung verstanden wurden. Die nach wie vor bestehenden begrenzten Souveränitätsrechte förderten eigene Abstinenz und mangelnde Ausnutzung des politischen Handlungsspielraums, insbesondere bei der ausstehenden Regelung der deutschen Frage (Haftendorn, 1993: 79). Der DDR-Außenpolitik gelang es vor allem in den 1960er-Jahren in den aus Kolonien und abhängigen Territorien hervorgegangenen neuen unabhängigen Staaten diplomatisch Fuß zu fassen. Dadurch wurde die als Schutzwall gegen eine internationale Anerkennung der DDR aufgerichtete „HallsteinDoktrin“, die den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik mit der Drohung eines Abbruchs der Beziehungen untermauerte, so aufgeweicht, dass die Bundesrepublik unter erheblichen Handlungsdruck geriet. Die Furcht vor einem Verlust an Einfluss in bestimmten Teilen der Welt war ein wichtiges Motiv für eine Neudefinition bundesdeutscher Außen- und Deutschlandpolitik. Die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Organisation der Vereinten Nationen 1973 bedeutete das faktische Ende des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs, auch wenn – wegen der Verfassungslage und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die völkerrechtliche Anerkennung der DDR nie vollzogen worden ist, sondern auf der Rechtsfigur besonderer staatsrechtlicher Beziehungen beharrt wurde. Erst nach der Revolution in der DDR und im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Einheit wurden zwischen Spätherbst 1989 und dem 3. Oktober 1990 alle noch bestehenden Restriktionen deutscher Außenpolitik beseitigt und die noch aus der occupatio bellica verbliebenen Vorbehaltsrechte der Vier Mächte beseitigt. Zeitlich nur wenig versetzt wurde mit dem neuen Art. 23 GG ein erheblich über die bisherigen Regelungen hinausgehender Souveränitätsverzicht formuliert, der den Wechsel von einer ursprünglich oktroyierten begrenzten Souveränität zu einer Selbstbegrenzung nationaler Souveränitätsrechte unterstreicht. Die neuen politischen und militärischen Konflikte nach dem Zerfall der bipolaren Staatenwelt, insbesondere die kriegerische Auflösung Jugoslawiens,
der Kosovo-Konflikt, der Afghanistan-Krieg und schließlich die USIntervention im Irak, zerstörten die lange gehegte Illusion deutscher außenpolitischer Selbstgenügsamkeit und führten zu einem tief greifenden Wandel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, der durch die Aktivitäten des internationalen Terrorismus noch verstärkt wurde. Die vom seinerzeitigen Verteidigungsminister, Peter Struck, geprägte Formel, dass die deutschen Interessen auch am Hindukusch verteidigt würden, bringt diesen Paradigmenwechsel auf eine griffige Formel.
2.1
Vom penetrierten zum integrierten System: Handlungsrahmen bundesdeutscher Außen- und Deutschlandpolitik
Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands lag alle politische Gewalt Die Bundesrepublik bei den Siegermächten des II. Weltkrieges. Auch nach der Gründung zweier als „penetrated system“? deutscher Staaten 1949 verblieben ihnen entscheidende und weit reichende Eingriffsrechte. Kompetenzübertragungen auf deutsche Behörden unterlagen einem generellen Revisionsvorbehalt. Die Bundesrepublik war in ihren Anfangsjahren ein „penetrated political system“. Darunter versteht James Rosenau (Rosenau, 1971: 127) eine politische Ordnung, in der Entscheidungen direkt und autoritativ von Akteuren getroffen werden, die nicht Mitglieder der nationalen Gemeinschaft sind, wobei sie sich der Unterstützung einheimischer Politiker bedienen. Der amerikanische Deutschlandexperte Wolfram Hanrieder (Hanrieder, 1969: 230) hat diesen Begriff auf die deutsche Nachkriegsentwicklung gemünzt und damit eine Gegenposition zu Autoren formuliert, die dem Handeln deutscher Akteure, insbesondere Konrad Adenauers, die entscheidende Bedeutung für die Außenpolitik der Bundesrepublik zumessen (Hacke, 1997; Schwarz, 1981). Zur Beschreibung der Rahmenbedingungen bundesdeutscher Außenpolitik über einen längeren Zeitraum hinweg erscheint der Terminus „penetrated system“ jedoch zu statisch und eindimensional (Haftendorn, 1993: 43). Die spezifischen Wechselbeziehungen zwischen den westlichen Siegermächten und den deutschen Politikern, insbesondere auch dem Bundeskanzler, werden damit nur unzureichend erfasst. Zwar stand am Beginn der Nachkriegsentwicklung Deutschlands eine völlige Abhängigkeit deutscher Politik von den Siegermächten, aber bereits vor der Gründung der Bundesrepublik, spätestens jedoch seit 1949, entwickelten sich allmählich eigene politische Handlungsmöglichkeiten deutscher Institutionen und Politiker, die auch Einfluss auf außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen hatten. Trotz eindeutiger Dominanz ausländischer Akteure – der alliierten Militärbehörden und später der Hohen Kommissare – und nahezu völliger Abhängigkeit, war deutsche Politik nicht nur auf pure Anpassung verwiesen, sondern hatte einen anfangs äußerst begrenzten, aber nutzbaren eigenen Spielraum.
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Die beiden deutschen Staaten als „Vorposten“ im Kalten Krieg
Frühe Integration der Bundesrepublik in die westlichen Gemeinschaften
Die Bundesrepublik bleibt bis 1990 ein teilsouveräner Staat
In den Kriegskonferenzen der drei Alliierten in Teheran Ende 1943 und Jalta im Februar 1945 und auf der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945, an der erstmals auch Frankreich teilnahm, war noch von einer dauerhaften Schwächung Deutschlands die Rede, die auf absehbare Zeit keinerlei eigene außenpolitische Aktivitäten zulassen würde. Das bereits auf der Potsdamer Konferenz erkennbare Misstrauen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion und vollends der beginnende Kalte Krieg, der mit dem Umsturz in der Tschechoslowakei im Februar 1948 und der Blockade der Westsektoren Berlins ab Juni 1948 einen ersten Höhepunkt erreichte, veränderte die Situation dramatisch. Für die Vier Alliierten wurden ihre Besatzungszonen und ab 1949 die Bundesrepublik und die DDR zum Vorposten an der Frontlinie des Ost-West-Konflikts. Die Erfordernisse des Kalten Krieges brachten aber keinen der Beteiligten dazu, dem jeweiligen „Frontstaat“ volle Eigenständigkeit und Souveränität zu verleihen. Vielmehr blieben Beschränkungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten in Kraft, die aus den alliierten Übereinkünften und dem Besatzungsstatut überkommen waren und den Alliierten die letztendliche Kompetenz über alle Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen vorbehielten. Das Besondere an der Entwicklung der Bundesrepublik war, dass sie sich von einem „penetrated system“ zu einem „integrated system“ entwickelt hat. Mit dem Abbau der alliierten Rechte ging die zunehmende Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft einher. Während die DDR den Status eines sowjetischen Protektorats nie völlig abstreifen konnte, wurde die Bundesrepublik sehr schnell zu einem unverzichtbaren Bundesgenossen des Westens. Unverzichtbar, weil die politische und potentiell militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ohne eine feste Einbindung Westdeutschlands in die westliche Gemeinschaft gefährdet erscheinen musste. Trotzdem war die Bundesrepublik nur ein teilsouveräner Staat, der in seinen innen- und außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten zuerst durch Besatzungsrecht, seit 1949 durch das Besatzungsstatut eingeschränkt war. Hinzu kam jedoch auch die Bereitschaft, auf nationale Souveränität zu verzichten, wie dies der deutsche Verfassungsgeber 1949 zu Gunsten der erhofften Einbindung der Bundesrepublik in noch zu schaffende überstaatliche Gemeinschaften formuliert hatte. Teil-Souveränität bedeutete anfangs von außen auferlegte Beschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die von der deutschen Politik, den Siegermächten und den europäischen Nachbarn gewollte Einbindung der Bundesrepublik in supranationale Organisationen schrieb diese Souveränitätsbeschränkung auf andere Weise freiwillig fort. Dies war das historisch Neue. Aus der von außen oktroyierten, wurde im Verlauf der Entwicklung eine innengeleitete Beschränkung der Souveränität, welche die durch das internationale System vorgegebenen Handlungsrestriktionen als Strukturmerkmal der Verfassungsordnung akzeptierte. Gleichwohl blieben wichtige Souveränitätsrechte suspendiert. Auch nach der Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik 1955 bestanden die Drei Westalliierten auf der Aufrechterhaltung wesentlicher Rechte und Verpflichtungen. In einem Teil des Territoriums, in Berlin, verblieb die oberste Gewalt formal und in vielerlei Hinsicht auch praktisch bei den Alliierten. Wichtige Entscheidungen konnten ohne deren Einschaltung nicht getroffen werden, die Übernahme gesetz-
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licher Regelungen bedurfte ihrer Zustimmung. Alle Deutschland als Ganzes, eine künftige Vereinigung und eine friedensvertragliche Regelung betreffenden Fragen unterlagen einem alliierten Vorbehalt.
2.2
Die Anfänge: Alliierte Deutschlandpolitik
Seit dem 8. Mai 1945, dem Ende des II. Weltkrieges, herrschte in Europa nach mehr als fünf Jahren Krieg ein Friede, über dessen zukünftige Gestalt nur scheinbar Einigkeit zwischen den Siegermächten bestand. Bereits während des Krieges hatte es auf den wichtigen Kriegskonferenzen der „Großen Drei“ (Teheran 28. November bis 1. Dezember 1943 und Jalta 4.-11. Februar 1945) zwischen dem amerikanischen Präsidenten, Franklin D. Roosevelt, dem britischen Premierminister, Winston Churchill und dem Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Europas und die zukünftige Verwaltung Deutschlands gegeben. Als sich die vier Siegermächte vom 17. Juli bis 2. August zur in Potsdam abgehaltenen „Berliner Konferenz“ trafen, waren die noch verbliebenen Gemeinsamkeiten aus den Jahren der Zusammenarbeit während des Krieges bereits aufgebraucht. Ergebnisse der So kam es in Potsdam zu einer Reihe von folgenreichen Kompromissen:
Potsdamer Konferenz
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das Offenhalten der Grenzfrage bis zu einer zukünftigen Friedenskonferenz; 17. Juli bis 2. August 1945 das Vertagen der Entscheidungen über die Neuordnung Europas; die de facto Akzeptanz polnischer Verwaltung ehemals deutscher Gebiete und damit der Westverschiebung Polens; die weitgehende Beschränkung der Reparationsforderungen auf die jeweiligen Besatzungszonen; Vertagung des Konflikts über die Frage der künftigen Gestalt Deutschlands und die Art der Verwaltung – hier ging es darum, ob der Kontrollrat oder die militärischen Verwaltungen in den Besatzungszonen als oberste Verwaltungsbehörden fungieren sollten (Loth, 1980: 110f.; Graml, 1985: 92ff.; Erdmann, 1990: 58ff.).
Trotz aller Differenzen hatte die Potsdamer Konferenz doch den Willen unterstrichen, Deutschland als Einheit zu erhalten. Der beginnende Kalte Krieg machte ein solches Vorhaben gegenstandslos. Spätestens die Berlinkrise 1948/49, in deren Verlauf auch militärische Optionen erwogen wurden, stellte die Weichen für eine Verfestigung der Spaltung Deutschlands auf lange Zeit. Die auf der Potsdamer Konferenz vom August 1945 vereinbarte Behandlung Deutschlands als Einheit war Vergangenheit. Eine Sonderrolle nahm Berlin ein, das entsprechend den alliierten Beschlüs- Sonderstatus Berlins sen einer „joint occupation“ aller vier Siegermächte unterstellt worden war. und Berliner Blockade 1948/49 Oberste Verwaltungsbehörde war die „Alliierte Kommandantur“. Für die Verwaltung ihrer Zonen in Berlin waren die jeweiligen Mächte zuständig (Befehl Nr. 1 der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin vom 11. Juli 1945). Am 5. Juli 1945 hatten die Westmächte, bei gleichzeitiger Räumung der von ihnen er-
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Die sowjetische Position gegenüber Deutschland
Die Interessenlage der USA
oberten Gebiete in Thüringen, Anhalt und Mecklenburg ihre Sektoren in Berlin übernommen. Bereits kurz nach Aufnahme der gemeinsamen Verwaltung kam es zu Konflikten zwischen den Westalliierten und den Sowjets, die bis 1948 immer weiter eskalierten und am 20. März 1948, in Reaktion auf das Zwischenkommuniqué der Londoner Sechsmächte-Konferenz, zum Auszug der sowjetischen Vertreter aus dem Alliierten Kontrollrat und zur Blockade der Westsektoren von Berlin führten. Der offen aufbrechende Ost-West-Konflikt verführte dazu, die Tatsache zu verdecken, dass es auch zwischen den westlichen Alliierten erhebliche Meinungsunterschiede und verschiedene politische Konzepte für den Neuaufbau Deutschlands gab und dass es andererseits in der Anfangszeit durchaus auch Berührungspunkte, vor allem zwischen der französischen und der sowjetischen Haltung gab. Die sowjetische Position war bei weitem nicht so eindeutig, wie dies in der Retrospektive oft erscheint und sie unterlag erheblichen Wandlungen. Ursprünglich war die sowjetische Führung wohl der Auffassung, dass Deutschland nach dem Krieg außerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereichs liegen werde. Die UdSSR war sich nicht sicher, ob es am Ende wirklich zu einer Zerstückelung Deutschlands kommen werde. Dies erklärt u.a. ihre Forderung, die Produktion der deutschen Schwerindustrie auf 20% der Vorkriegskapazität zu reduzieren und nach einer Festlegung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße, d. h. die faktische Preisgabe erheblicher Teile der in Teheran vereinbarten sowjetischen Besatzungszone, die ursprünglich auch die später von Polen verwalteten deutschen Ostgebiete mit Ausnahme des unter sowjetisches Protektorat fallenden nördlichen Teils von Ostpreußen umfasste. Ihr Interesse während des Krieges war vielmehr auf die Sicherung ihres Einflusses in Polen und Südosteuropa, vor allem in Bulgarien und Rumänien gerichtet. Die dauerhafte Schwächung Deutschlands sollte durch erhebliche Reparationsleistungen erreicht werden, die der zerstörten Wirtschaft der UdSSR zugute kämen. Dazu war es für sie von Vorteil, auch einen Zugriff auf Industriekapazitäten im Westen Deutschlands, vor allem des Ruhrgebiets zu erhalten. Wann sich diese Position gewandelt hat, ist bisher nicht eindeutig belegbar. Dass die sowjetische Erwartung, von den Westmächten an den Rand gedrängt zu werden, nicht völlig absurd war, zeigt die Diskussion Mitte 1945 in der britischen Administration über die Frage, ob man eine Politik der „Faustpfänder“ – Freigabe der von den Westalliierten eroberten Teile der künftigen sowjetischen Besatzungszone gegen sowjetische Konzessionen – betreiben solle. Diesen naheliegenden Überlegungen war allerdings sowjetischerseits eine Politik des fait à complie in Polen und Südosteuropa vorausgegangen. In den USA war es Ende 1944 zu einer tiefgreifenden Kontroverse über die künftige Politik zwischen Außen-, Kriegs- und Finanzministerium gekommen. So verfolgte das State Department das Konzept einer Einheitsverwaltung Deutschlands durch den Kontrollrat, während das Kriegsministerium (War Department) eine zonenorientierte Option verfolgte. Weitere Kontroversen zwischen Kriegsund Finanzministerium gab es über die Frage der künftigen Wirtschaftsstruktur und die Reparationen (Tyrell, 1985: 28ff.). Sie wurden im Frühjahr 1945 mit ei-
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ner Direktive zur Behandlung Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit an den „European Advisary Council“ (EAC) formal beendet (FRUS 1945, Vol. III: 471ff.). Die wichtigsten Grundlinien amerikanischer Politik und des Kompromisses der drei beteiligten Ministerien lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Kontrollrat sollte alle Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten regeln und seine Beschlüsse in den Zonen durchgeführt werden. Die deutsche Wirtschaft sollte auf dezentraler Grundlage aufgebaut werden, womit keine regionale Neuverteilung gemeint war, sondern eine Auflösung von Monopolen und Kartellen und eine Beseitigung der Konzentration wirtschaftlicher Macht. Uns schließlich sollte die politische Struktur Deutschlands dezentralisiert und die Entwicklung lokaler Selbstverantwortlichkeit gefördert werden. Die sowjetische Politik am Ende des Krieges hatte bei den westlichen Alli- Die Haltung ierten, vor allem in Großbritannien, Zweifel aufkommen lassen, ob Deutschland, Großbritanniens nachdem es besiegt wäre, weiterhin die einzige Gefährdung für die europäische Nachkriegsordnung sein werde oder ob die potentielle Hauptgefahr nicht von der Sowjetunion ausgehen werde. Eine expansionistische Sowjetunion, die möglicherweise die Kontrolle über Deutschland gewinnen könnte, würde eine völlig andere Art von Friedensregelung erfordern, als die, welche während der Kriegskonferenzen ins Auge gefasst worden war. Großbritannien war traditionell darum besorgt, ein Machtgleichgewicht in Europa herzustellen. Jetzt wurde immer deutlicher, dass an die Stelle traditioneller Bündnispolitik Bemühungen treten müssten, eine Koalition von Staaten zu bilden, die in der Lage wäre, den Expansionsdrang der Sowjetunion einzudämmen. Nach Lage der Dinge war aber eine Politik des „containment“ ohne eine führende Rolle der USA nicht durchzuführen und mittelfristig war WestDeutschland davon nicht auszuschließen. Für Großbritannien stand also mehr als ein bloßer Politik-Wechsel auf der Tagesordnung – es ging um den Abschied von ihrer Rolle als Großmacht (Deighton, 1990: 5). Ein solcher Perspektivwechsel britischer Politik war aber ohne weiteres weder den amerikanischen Alliierten noch der britischen Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Auch in Whitehall gingen die Meinungen auseinander. Zwischen 1945 und 1947 beantwortete Großbritannien die sowjetische Herausforderung mit einer doppelgleisigen Politik: Öffentlich wurde an der Zusammenarbeit der Großmächte festgehalten, jedoch wurde der Fokus auf die Sicherung einer effektiven westlichen Allianz verschoben, die das Ziel hatte, den sowjetischen Einfluss in Deutschland, in Europa und weltweit einzuschränken. Neben der öffentlichen und offiziellen Politik der Zusammenarbeit im „Council of Foreign Ministers“ (CFM) trat eine parallele Politik, die auf dem Willen beruhte, „not to lose control of the British zone or to allow Germany to slip into economic chaos and dispair, which might incline the Germans to communism“ (Deighton, 1990: 7). Die britische Regierung betrieb also eine „dual policy“ in Bezug auf Europa und Deutschland, wobei sie ihre Rolle als Juniorpartner der USA in Europa akzeptieren musste. Die Französische Provisorische Regierung unter Charles de Gaulle, die sich Die Deutschlandim August 1944 im befreiten Paris etabliert hatte und am 23. Oktober 1944 von politik Frankreichs
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den drei Alliierten anerkannt wurde, verfolgte eine Deutschlandpolitik in der Tradition französischer Außenpolitik. Ihr Ziel bestand zuvörderst in der Wiederherstellung der französischen Republik und ihrer Großmachtstellung. Angesichts seiner Schwäche war Frankreich aber auf unmittelbare militärische, wirtschaftliche und politische Hilfe durch die USA angewiesen, denen es wesentlich seine Befreiung verdankte. Angesichts der Erfahrungen nach dem I. Weltkrieg war Frankreich an dauerhaften und wirksamen Maßnahmen zur Niederhaltung Deutschlands interessiert. Es versuchte, ähnlich wie zwischen 1918 und 1924, seinen Einfluss in die Rheinlande auszuweiten und einen Zugriff auf die industriellen Kapazitäten des Ruhrgebietes zu erlangen, um diese Ressourcen für den Wiederaufbau zu nutzen. Die Mehrzahl der französischen Politiker dachte in den Kategorien der Zwischenkriegszeit – und die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland schienen ihnen dabei Recht zu geben (Graml, 1985: 108). In Bezug auf die Zukunft Deutschlands widersprach Frankreich allen Vorstellungen, die auf eine neue deutsche Staatlichkeit hinausliefen. Eine Vielzahl von Einzelstaaten, allenfalls konföderative Konzepte nach dem Modell des Deutschen Bundes erschienen akzeptabel. In einem Memorandum der französischen Regierung an den Rat der Außenminister hieß es im September 1945: „Eine Teilung Deutschlands in mehrere Staaten, wenn sie die Folge einer natürlichen Entwicklung und nicht einer auferlegten Lösung sein würde, wäre für die Aufrechterhaltung der Sicherheit in Europa günstig.“ (zit. nach: Birke, 1994: 64)
Es ist wohl dem französischen Widerstand im Kontrollrat zuzuschreiben, dass im Herbst 1945 Überlegungen zur Schaffung deutscher Zentralverwaltungen nicht verwirklicht werden konnten (Graml, 1985: 113). Andererseits lag dem französischen Argument, deutsche Zentralverwaltungen und eine mögliche spätere deutsche Regierung könnten immer mehr unter sowjetischen Einfluss geraten, eine gewisse Logik zu Grunde. Die Aktivitäten der UdSSR in ihrem Einflussbereich unterstützten diese Skepsis. Alliierte Differenzen Diese unterschiedlichen Positionen der Alliierten machten ein gemeinsames Einverständnis über die künftige Politik in Deutschland äußerst unwahrscheinlich. In Potsdam hatte man sich auf ein Interregnum und Kompromissformeln geeinigt, die jeder Beteiligte nach eigenen Vorstellungen auslegte. Eine deutsche Zentralverwaltung wurde bis auf weiteres abgelehnt, blieb aber eine zukünftige Möglichkeit. Der Alliierte Kontrollrat sollte oberste Verwaltungsbehörde sein, zugleich aber wurde die Verwaltung der Besatzungszonen den jeweiligen Militärbefehlshabern übertragen. Das Ziel, die wirtschaftliche Einheit zu bewahren, wurde erwähnt, die Zerteilung des Wirtschaftsgebietes durch die Trennung der Besatzungszonen aber vorangetrieben. Die sowjetische Politik der vollendeten Tatsachen und die Obstruktionspolitik der später hinzutretenden Franzosen machten eine gemeinsame Politik unmöglich. Beides unterstützte Positionen in den angelsächsischen Ländern, die auf eine aktive Gestaltung in der Zukunft der eigenen Besatzungszonen drängten. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die Gründung eines westdeutschen Teilstaates, seine scharfe Frontstellung gegenüber der Sowjetunion und der SBZ/DDR.
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2.3
Wiedervereinigung oder Westbindung? Grundentscheidungen bundesdeutscher Außenpolitik
Die Entscheidung für die Gründung der Bundesrepublik war de facto eine Entscheidung für die Einbindung eines Teils des erst vor wenigen Jahren besiegten Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft. Als Kind des Kalten Krieges erhielt die Bundesrepublik die Chance, innerhalb weniger Jahre zu einem anerkannten Mitglied dieser Gemeinschaft zu werden. Dass eine solche Entwicklung angesichts der jüngsten Geschichte sowohl in Deutschland als auch außerhalb nicht widerspruchslos hingenommen wurde, liegt auf der Hand. Westintegration bedeutete in der Hochphase des Kalten Krieges Eingliederung der Westzonen und später der Bundesrepublik – und auf der Gegenseite der SBZ/ DDR – in ein bipolares Machtsystem und Staatengefüge. Die Kehrseite dieser Entwicklung war die faktische Preisgabe einer auf die baldige Verwirklichung der deutschen Einheit zielenden Politik. Dieser Widerspruch war bereits bei der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 erkennbar, seine Tragweite wurde aber nicht von allen Zeitgenossen voll erkannt. Politische, ökonomische und – untrennbar damit verbunden – schließlich auch militärische Einbindung in den Westen und scharfe Abgrenzung gegen den Osten (und seine „fünfte Kolonne“ im Inneren) wurden zur Staatsräson der Bundesrepublik. Diese Entscheidung musste in den Anfangsjahren gegen starke antiwestliche, neutralistische, nationalistische und antimilitärische Widerstände durchgesetzt werden. Erst Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre wurden die Ergebnisse dieser Politik allgemein akzeptiert.
2.3.1 Die wirtschaftliche und politische Einbindung der Westzonen und der Bundesrepublik Als die erste Bundesregierung ihr Amt antrat, konnte sie von den Weichenstellungen profitieren, die schon vor der Gründung des Westdeutschen Teilstaates für eine wirtschaftliche und politische Einbindung der drei westlichen Besatzungszonen in den Westen gesorgt hatten – allen voran die Marshallplanhilfe. Der faktische Zusammenbruch des Gefüges nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Volkswirtschaften in der Krise des Winters 1946/47 barg nach Einschätzung der amerikanischen Behörden ernsthafte Gefahren für die gesamte Weltwirtschaft. Hinzu kam die wachsende Konfrontation mit dem früheren Alliierten Sowjetunion. Sie bewog die amerikanische Administration zu einer grundlegenden Revision ihrer Haltung gegenüber der Sowjetunion und ihrer Deutschland- und Europapolitik. Am 12. März 1947 erläuterte der amerikanische Präsident, Harry S. Truman, „Truman-Doktrin“ diese neue Politik, die als „Truman-Doktrin“ in die Geschichte einging. Die Welt und Zwei-LagerTheorie bestehe aus zwei Lagern, den freien Völkern des Westens und dem Totalitarismus. Die Sowjetunion gefährde den Weltfrieden und die innere Ordnung der westlichen Demokratien. Aufgabe der USA sei es, die schwächeren Länder, insbesondere in Europa wirtschaftlich und finanziell so zu unterstützen, dass sie nicht zur Beute der expansiven Bestrebungen der UdSSR würden.
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Das „European Recovery Program“ (ERP)/„MarshallPlan“
Gründung des „Commitee of European Economic Cooperation“ (OEEC), der späteren OECD
Die Sowjetunion antwortete ebenfalls mit einer Zwei-Lager-Theorie: Der Imperialismus unter Führung der USA bereite einen weltweiten Eroberungskrieg vor, dem das friedliebende, antiimperialistische Lager unter der Führung der Sowjetunion, vereint im Kommunistischen Informationsbüro, Kominform, der 1947 gegründeten Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Internationale, Komintern, entschlossen entgegentrete. Beide Protagonisten lieferten damit die Begründung für eine längst vollzogene Blockbildung und die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Konsolidierung ihres „Lagers“. Während die Sowjetunion ihre Bemühungen verschärfte, die Staaten ihres Einflussbereiches endgültig gleichzuschalten, was ihr insbesondere im Februar 1948 in der Tschechoslowakei gelang, setzten die USA auf Integration durch wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit. Das entscheidende strategische Instrumentarium waren der Marshallplan und die Gründung der OEEC. In einer Rundfunkrede am 29. April 1947 erklärte der amerikanische Außenminister George C. Marshall den Willen der USA, dazu beizutragen, „Deutschland wieder bis zu einem solchen Stand aufzubauen, dass es sich ohne fremde Unterstützung selbst erhalten kann“ (zit. nach: Birke, 1994: 130). Der Vorschlag, der auf eine Erhaltung der Wirtschaftseinheit Deutschlands zielte, gab vor, an alle Alliierten, also auch an die Sowjetunion, gerichtet zu sein. Formal war dies auch der Fall, de facto aber war er angesichts wachsender Spannungen zwischen den Westmächten und der UdSSR darauf aus, den eigenen Einflussbereich in Europa und Deutschland wirtschaftlich und damit auch politisch zu stärken. (Bereits Ende 1946 hatten sich die amerikanische und britische Besatzungsmacht darauf verständigt, ihre beiden Zonen zum „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“, der sogenannten „Bi-Zone“, zusammenzulegen.) In einer Rede an der Harvard Universität am 5. Juni 1947 schlug Marshall dann ein Hilfsprogramm zur Wiederaufrichtung Europas, das „European Recovery Program“ (ERP) vor, das als „Marshall-Plan“ bekannt wurde. Auf Anregung des britischen Außenministers Ernest Bevin wurde die Sowjetunion zu einem Dreiertreffen Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion in Paris im Juli 1947 zur Beratung des amerikanischen Vorschlags eingeladen, das jedoch scheiterte. Daraufhin wurden alle europäischen Staaten außer der UdSSR, Spanien und Deutschland, das ohne eigene Regierung war, aber in den Plan einbezogen werden sollte, zu einer Konferenz eingeladen. Die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn waren zunächst zur Teilnahme bereit, lehnten dann aber unter dem Druck Moskaus ab. Geplant war die Einbeziehung aller Besatzungszonen Deutschlands – aufgrund der Ablehnung der UdSSR blieb die SBZ ausgeschlossen. Nach Gründung der Bundesrepublik nahm diese anstelle der Bi-Zone und der französischen Besatzungszone am ERP teil. Es sind mehrere Faktoren gewesen, die für die Entwicklung des ERP bestimmend waren: das Ziel einer Stabilisierungspolitik für (West) Europa und die Sicherung amerikanischer Wirtschafts-, Handels- und Sicherheitsinteressen in Europa (Gimbel, 1976), die Abwehr sozialistischer Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte, wie sie von der UdSSR, ihren „Satelliten“ und den kommunistischen Parteien in Westeuropa vertreten wurden und ein Stabilisierungsprogramm für Westdeutschland, dessen Wiederaufbau und gleichzeitige wirtschaftliche und
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politische Einbindung in den Westen als notwendig erachtet wurde (Knapp, 1986). Die spezifisch deutschlandpolitische Komponente war u.a. eine Konsequenz des durch die Sowjetunion verhinderten Beitritts der mitteleuropäischen Länder und der beschleunigten sozialistischen Umgestaltung im sowjetischen Einflussbereich. Dass die dem Programm zu Grunde liegenden rationalen Überlegungen in der öffentlichen Diskussion von propagandistischen Elementen überlagert wurden, hatte zum einen mit der heftigen Polemik der UdSSR gegen das ERP, zum anderen mit der innenpolitischen Situation in den westlichen Ländern, vor allem aber in den USA zu tun. Dadurch und durch den kommunistischen Putsch in der Tschechoslowakei zur gleichen Zeit wurde der Marshall-Plan zu einem strategischen Element im Kalten Krieg. Der lückenlose Übergang des ERP in das „Mutual Security“ Programm 1952 demonstriert diesen Zusammenhang. Mit der Aufnahme der neu gegründeten Bundesrepublik in die „Organization for European Economic Development“ (OEEC) am 30. Oktober 1949 begann die sukzessive Integration der semisouveränen Bundesrepublik in das sich entwickelnde europäische Institutionengefüge der Nachkriegszeit. Zwar blieb die OEEC in ihren Möglichkeiten weit hinter den Erwartungen zurück – sie verfügte nur über ein schwaches Generalsekretariat und ihre auf Einstimmigkeit beruhenden Beschlüsse waren von den nationalen Regierungen abhängig – sie bildete aber gleichwohl den Nukleus einer europäischen und transatlantischen Kooperation, in die der Westen Deutschlands von Beginn an eingebunden war. Diese Politik der sukzessiven Einbindung der neu gegründeten Bundesrepublik in die „westliche Welt“ war innenpolitisch höchst umstritten. Die Fronten verliefen nicht nur zwischen Regierung und Opposition, sondern zogen sich quer durch die Parteien. Völlig ungeklärt war zudem, welches Verfassungsorgan in einer Situation, in der die Bundesrepublik aufgrund alliierter Vorbehalte keine eigene Außenpolitik betreiben konnte, die Interessen des neuen Staatsgebildes nach außen, insbesondere gegenüber den Alliierten vertreten solle. Das Grundgesetz gab diesbezüglich keine Auskunft.
2.3.2 Wiederbewaffnung und Souveränität der Bundesrepublik Nur wenige politische Auseinandersetzungen waren in der Bundesrepublik zu kontrovers, wie die Debatte über die Wiederbewaffnung und einen deutschen Verteidigungsbeitrag im Rahmen des westlichen Bündnisses. Für die Bundesregierung war diese Diskussion ein wichtiges Mittel, ihr Ziel, eine Integration der Bundesrepublik in eine politische Allianz mit den Demokratien des Westens, zu erreichen. Für die Opposition, die sich in dieser Frage auf eine verbreitete Stimmung in der Bevölkerung stützen konnte, war wenige Jahre nach dem Krieg jeder Gedanke an deutsche Soldaten ein Sakrileg und Verrat am Ziel der Einheit der Nation. Die Kontroverse verdeckte, dass es in der Praxis bereits eine, wenngleich indirekte Beteiligung der Bundesrepublik an der westlichen Verteidigung gab:
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Aufnahme der Bundesrepublik in die OEEC im Oktober 1949
Beginn europäischer und transatlantischer militärischer Kooperation
Gründung der NATO
Die politischen und militärischen Konsequenzen des Korea-Krieges
durch die Finanzierung alliierter Truppen in Deutschland, die seit dem Aufbrechen des Ost-West-Konflikts keine reinen Besatzungstruppen mehr waren. Jetzt aber ging es um deutsche Soldaten. Die militärische Zusammenarbeit Westeuropas hatte nach dem Krieg ohne die Deutschen und noch in der Furcht vor ihnen begonnen. Am 4. März 1947 schlossen Frankreich und Großbritannien den „Vertrag von Dünkirchen“ – symbolträchtig an dem Ort, wo es im Sommer 1940 unter großen Opfern gelungen war, das britische Expeditionskorps vor den deutschen Truppen nach England zu evakuieren. Diese Allianz sollte Deutschland daran hindern, „wieder zu einer Kriegsgefahr zu werden“. Es war ein „Präventiv- und Überwachungsabkommen“ (Herbst, 1996: 51). Mit dem beginnenden Kalten Krieg wuchs bei den westeuropäischen Nachbarn die Sorge, die Deutschen könnten versucht sein, diesen Konflikt für sich auszunutzen, um mit der Sowjetunion ihr nationales Problem zu lösen. Die Unsicherheit über die deutschen Angelegenheiten, die Verschärfung des Kalten Krieges und die eigene wirtschaftliche und militärische Schwäche veranlassten die Westeuropäer, auf ein dauerhaftes Engagement der USA auf dem europäischen Kontinent zu dringen. Um dem als bedrohlich empfundenen Expansionsdrang der Sowjetunion etwas entgegensetzen zu können, reichten die vorwiegend wirtschaftlich motivierten Unterstützungsmaßnahmen des Marshall-Plans und der Militärhilfe nicht aus. Nach dem Scheitern der zweiten mit Deutschland befassten Außenministerkonferenz im November/Dezember 1947 in London wurden nicht nur die Weichen für die separate Staatsgründung der drei Westzonen, sondern auch für eine Allianz mit den USA gestellt, wobei es nicht unerhebliche Meinungsunterschiede zwischen Frankreich und Großbritannien auf der einen und den USA auf der anderen Seite über Dauer und Intensität des amerikanischen Engagements gab. Im Brüsseler Fünf-Mächte-Vertrag vom 17. März 1948 hatten Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Länder noch einen Militärpakt vereinbart, der die Möglichkeit eines „Wiederauflebens der deutschen Aggressionspolitik“ als eines der Motive für die Notwendigkeit kollektiver Selbstverteidigung erwähnte. Aber spätestens die Ereignisse des Jahres 1948 wendeten das Blatt: An die Stelle der fiktiven deutschen Bedrohung trat die reale sowjetische. Die Antwort waren Verhandlungen der USA mit den Staaten des Brüsseler-Paktes und Kanada, zu denen im Frühjahr 1949 Italien, Portugal, Dänemark, Norwegen und Island hinzustießen und die am 4. April 1949 im Vertrag über die „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO) ihr Ergebnis fanden. Der Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950 stellte für die Bundesrepublik in doppelter Weise einen Wendepunkt dar: Er gab die Initialzündung für den wirtschaftlichen Aufstieg in den 1950er-Jahren, und er fachte Bedrohungsängste an, die seit der Berlin-Blockade latent vorhanden waren. Wie Deutschland war Korea ein geteiltes Land. Truppen des kommunistischen Nordens versuchten mit logistischer Unterstützung der Sowjetunion und Chinas den kapitalistischen Süden militärisch zu erobern. Parallelen drängten sich auf. Eine enge Anlehnung an den Westen erschien die einzig erfolgversprechende Strategie gegenüber einem vergleichbaren Bedrohungsszenario in Europa und Deutschland. Die westli-
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chen Regierungen sahen im Koreakrieg kein isoliertes Ereignis, sondern den Beginn einer kommunistischen Generaloffensive. Diese Ereignisse veränderten die deutsche Situation grundsätzlich: Die Bundesrepublik wurde jetzt als aktiver Partner im Kalten Krieg benötigt, sie avancierte zum Vorposten der „westlichen Welt“. Im April 1950, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Korea-Krieges, hatte der amerikanische Außenminister, Dean Acheson, dem nationalen Sicherheitsrat ein vertrauliches Memorandum (NSC 68) vorgelegt, in dem ein beschleunigter Aufbau politischer, wirtschaftlicher und militärischer Stärke und eine erhebliche Ausweitung der Militärausgaben gefordert wurden. Dieser streng geheimen Analyse zufolge strebte die Sowjetunion zur Weltherrschaft und hatte ein gewaltiges Militärpotential entwickelt, um dieses Ziel zu erreichen. Sie verfüge über weit mehr Streitkräfte als nötig seien, ihr eigenes Territorium zu verteidigen. Da die Sowjetunion inzwischen Atomwaffen besitze, gebe ihr beides ein Druckmittel in die Hand, das sie in Friedenszeiten nutzen könne, um ihre Ziele durch Drohung zu erreichen, da die potentiellen Opfer eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden trachteten. Als Antwort auf dieses Bedrohungsszenario wurde ein kombiniertes Programm von politischer und wirtschaftlicher Unterstützung und militärischer Aufrüstung empfohlen. Die Stabschefs der Armee drängten darauf, der Frage eines deutschen militärischen Beitrages näher zu treten, Frankreich zu einer moderateren Politik gegenüber Deutschland, insbesondere in der Saarfrage zu bewegen, und klarzustellen, dass die Sowjetunion eine stärkere Bedrohung für die französischen Sicherheitsinteressen darstelle, als Deutschland. Zu einer vergleichbaren Lageeinschätzung war auch die britische Regierung gekommen. Ein Paradigmenwechsel in der französischen Deutschland- und Europapolitik wurde mit dem Vorschlag des Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950 sichtbar, eine gemeinsame supranationale europäische Behörde für Kohle und Stahl zu gründen. Daraus entstand die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) oder Montanunion. Bereits wenige Monate nach der Veröffentlichung des „Schuman-Plans“, der neben der am 5. Mai 1949 erfolgten Gründung des Europarates den Beginn des europäischen Einigungsprozesses markiert, entwickelte der französische Ministerpräsident René Pleven in einer Rede am 24. Oktober 1950 die Idee einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG), die die Schaffung einer europäischen Armee unter der Beteiligung der Bundesrepublik vorsah. Dieser „Pleven-Plan“ stellte als Struktur eine nach dem Modell der Montanunion gebildete oberste militärische Behörde vor. Ein europäischer Verteidigungsminister sollte einem Ministerrat unterstellt und einer europäischen parlamentarischen Versammlung gegenüber verantwortlich sein. Als militärische Kommandostruktur war an einen integrierten Generalstab mit einem französischen General an der Spitze gedacht. Der anfängliche Plan enthielt eindeutige Diskriminierungen eines deutschen Beitrages, die im Laufe der Verhandlungen beiseite geräumt werden konnten. Indem die Bundesregierung versuchte, die politische Gleichberechtigung auf dem Umweg über eine deutsche Einbeziehung in supranationale militärische Strukturen zu erreichen, war es ihr möglich, ein Junktim zwischen der Beteiligung an
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Westliches Bedrohungsszenario und sicherheitspolitische Konsequenzen
Paradigmenwechsel der französischen Politik
Debatte über eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG)
Kontroversen um die „Wiederaufrüstung der Bundesrepublik“
Deutscher Verteidigungsbeitrag und Aufhebung des Besatzungsstatuts
den EVG-Plänen und den Verhandlungen über einen Generalvertrag mit den Drei Mächten herzustellen. Die SPD lehnte ein solches Junktim strikt ab. Demgegenüber war Konrad Adenauer der festen Überzeugung, dass „wir die Wiedervereinigung Deutschlands nur erreichen werden mit Hilfe der drei Westalliierten, niemals mit Hilfe der Sowjetunion“ (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sten. Ber. 1. Wahlperiode vom 7.2.1952: 8095). Seit dem Beginn der Debatte über einen deutschen Wehrbeitrag hatte die SPD unter ihrem Vorsitzenden, Kurt Schumacher, einen Kurs strikter Ablehnung vertreten. So hatte Schumacher in der ersten großen Wehrdebatte des Deutschen Bundestages am 8. November 1950 vor dem Hineinschlittern in „eine voraussetzungslose Militarisierung“ gewarnt, welche „die Gefahren deutscher Vernichtung oder Beeinträchtigung bis ins Gigantische hinein“ vergrößere, da eine militärische Auseinandersetzung auf deutschem Boden ausgetragen werde (Schumacher, 1972: 74). Hier standen sich zwei konträre Positionen gegenüber, die im Bundeskanzler und im Vorsitzenden der SPD ihre wortgewaltigen und charismatischen Protagonisten hatten. Beiden Positionen gemeinsam war ein dezidierter Antikommunismus und eine scharfe Frontstellung gegen die Sowjetunion und deren Herrschaftsansprüche. Während Adenauer jedoch in der Tradition antipreußischer Ressentiments und „rheinbündischer“ Ideen stehend, bereit war, die Bundesrepublik für längere Zeit als geschlossenen Teilstaat zu akzeptieren und das Prinzip der Nationalstaatlichkeit nicht als oberste Leitlinie ansah, war Schumacher ein überzeugter Nationalist, der nie bereit war, von einer gesamtdeutschen Perspektive abzurücken, sondern sie zur Ratio jeder westdeutschen Außenpolitik machte. Beide Positionen waren in den jeweiligen Parteien nicht unumstritten: Der erste Vorsitzende der CDU in der sowjetischen Zone, Jakob Kaiser, propagierte eine Politik, die Deutschland die Funktion einer Brücke zwischen Ost und West zuwies. Der damalige Innenminister der CDU, Gustav Heinemann, vertrat die Idee einer Äquidistanz zum Westen und zum Osten. Der führende sozialdemokratische Politiker, Carlo Schmid, war ein Anhänger der deutsch-französischen Aussöhnung. Der Berliner Bürgermeister, Ernst Reuter, war ein Anhänger der Westintegration. Oberstes Ziel der Politik der Bundesregierung gegenüber den Drei Mächten war es, möglichst schnell und möglichst umfassend die Beschränkungen zu beseitigen, die der Bundesrepublik durch das Besatzungsstatut auferlegt waren. Das Besatzungsstatut war ein massives Handikap für die Bundesregierung, konnte sie doch den Wählern mit guten Gründen kaum klar machen, welche Vorteile eine Integrationspolitik, zumal wenn sie mit einer Wiederaufrüstung verbunden war, haben solle, wenn sie nicht zugleich dazu führte, diese Beschränkungen zu beenden. Die Überprüfung des Besatzungsstatuts war zwar bei Inkrafttreten 1949 in Aussicht gestellt worden, aber die Drei Mächte, insbesondere Frankreich, sträubten sich gegen eine Reduktion oder Aufweichung ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten. Sie waren nicht bereit, die von der Bundesregierung gewünschte Ersetzung des Besatzungsstatuts durch einen „Sicherheitsvertrag“ zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten in Erwägung zu ziehen. Nur kleinere Änderungen des Besatzungsstatuts fanden ihre Zustimmung.
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Erst die Überlegungen zu einer neuen Sicherheitspolitik und über einen deutschen Militärbeitrag veränderten die Lage und ebneten den Weg für eine Neugestaltung der deutsch-alliierten Beziehungen, die nach mühsamen und komplizierten Verhandlungen im Generalvertrag vom Mai 1952 und schließlich in den Pariser Verträgen von 1955 mündete. Die Vorstellung, dass an die Stelle der aus der Kapitulation und Besetzung resultierenden Rechte ein vertraglich geregeltes Verhältnis zwischen gleichen Partnern werden sollte, wie dies die Bundesregierung und ihre Berater anstrebten, war für die Drei Mächte völlig unannehmbar. Ein Verzicht auf ihre Siegerrechte kam für sie anfangs nicht in Frage. Im Verlauf der Gespräche und Verhandlungen des Bundeskanzlers mit den Hohen Kommissaren und auf Expertenebene standen drei Problemkomplexe im Mittelpunkt: Das Recht der Alliierten zur Stationierung von Truppen in Deutschland und deren Schutz und Versorgung, die Rechte und Verantwortlichkeiten der Alliierten für Deutschland als Ganzes und für Fragen der Wiedervereinigung und die alliierten Rechte in Berlin. Der Generalvertrag vom 26. Mai 1952 zwischen den Drei Mächten und der Bundesrepublik bestätigte diese Verantwortlichkeiten. Im Rahmen der Bestimmungen des Vertrages erhielt die Bundesrepublik „volle Macht über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ (Art. 1 Abs. 1). Der Generalvertrag, der im deutschen Sprachgebrauch als DeutschlandVertrag bezeichnet wurde, um deutlich zu machen, dass er als zentraler Beitrag zur Lösung der deutschen Frage angesehen wurde, und der am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichnete EVG-Vertrag versprachen der Bundesrepublik keineswegs die erhoffte volle Selbständigkeit und Souveränität. Der entscheidende Schritt aber war getan: Die Ablösung des Besatzungsrechts und seine Ersetzung durch vertragliche Vereinbarungen mit den Drei Mächten war in Aussicht gestellt. Beide Verträge verursachten in der Bundesrepublik und Frankreich im Ratifizierungsverfahren erbitterte innenpolitische Kontroversen. Das Vertragswerk scheiterte letztlich am ablehnenden Votum der französischen Nationalversammlung zum EVG-Vertrag am 30. August 1954. Damit hingen auch die Vereinbarungen des Generalvertrages mit der Bundesrepublik „in der Luft“. Als Alternative zur gescheiterten EVG wurde die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO betrieben. Auf der Londoner Neunmächtekonferenz vom 28. September bis 3. Oktober 1954, an der Belgien, die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Großbritannien und die USA teilnahmen, wurde die Souveränität der Bundesrepublik, ihr Beitritt zum Brüsseler Pakt und zur NATO beschlossen. Auf vier Konferenzen in Paris im Verlauf des Oktobers wurden diese Beschlüsse präzisiert, durch ein französisch-deutsches Abkommen über ein europäisches Statut für das Saarland ergänzt und unterzeichnet. Die Debatte über die „Pariser Verträge“ führte erneut zu heftigen politischen Auseinandersetzungen, die aber eine Ratifizierung der Verträge im Deutschen Bundestag am 27. Februar 1955 mit 324 gegen 151 Stimmen nicht verhindern konnten. Der 1955 in Kraft getretene „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten“ i.d.F. vom 23. Oktober 1954 (BGBl II 1995, S. 305) sah in Art. 1 die Beendigung des Besatzungsregimes, die Aufhebung des Besatzungsstatuts, die Auflösung der Alliierten Hohen
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Der Generalvertrag vom 26. Mai 1952
Scheitern des EVGVertrages und Beitritt der Bundesrepublik zur NATO
Souveränität der Bundesrepublik und fortbestehende alliierte Vorbehaltsrechte
Innenpolitische Dimensionen außenpolitischer Weichenstellungen
Westbindung als Ratio der Außenpolitik Konrad Adenauers
Kommission und der Landeskommissionen vor. Art. 1 Abs. 2 formulierte, dass die Bundesrepublik „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über die inneren und äußeren Angelegenheiten“ erhält. Die Alliierten behielten sich Rechte in Bezug auf Berlin, Deutschland als Ganzes, einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung vor. Was Berlin anging, besagte Art. 6 des Vertrages: „Die Drei Mächte werden die Bundesrepublik hinsichtlich der Ausübung ihrer Rechte in Bezug auf Berlin konsultieren.“ Art. 4 und 5 regelten die Stationierung von Streitkräften, Art. 3 den außenpolitischen Status der Bundesrepublik. Darin verpflichtete sich die Bundesrepublik, „ihre Politik im Einklang mit den Prinzipien der Satzung der Vereinten Nationen und mit den im Statut des Europarates aufgestellten Zielen“ zu gestalten. Die Bundesrepublik bekräftigte ihre Absicht, in internationalen Organisationen mitzuarbeiten, die Alliierten stellten in Aussicht „zu gegebener Zeit“ Anträge der Bundesrepublik auf Aufnahme in internationale Organisationen – das bezog sich in erster Linie auf die UNO – zu unterstützen. Die Drei Mächte erklärten sich bereit, die Interessen der Bundesrepublik „in gewissen internationalen Organisationen oder Konferenzen zu vertreten, soweit die Bundesrepublik dazu nicht selbst in der Lage ist“ (Generalvertrag, Art. 3 Abs. 4). Mit dem Generalvertrag war der entscheidende Schritt zur Souveränität der Bundesrepublik gemacht. Der Preis war die Wiederbewaffnung und der NATOEintritt. Die Schubkraft kam von der Verschärfung des Kalten Krieges Anfang der 1950er-Jahre, vor allem nach Beginn des Korea-Krieges und der militärischen Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR. Die Debatte um die Aushandlung der Verträge hatte aber auch eine eminent wichtige innenpolitische Dimension. Es hatte sich gezeigt, dass eine tiefe Kluft durch die öffentliche politische Meinung und die politischen Gruppen ging. Es war nicht nur die scharfe Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung und der SPD-Opposition, die das Bild bestimmte. Innerhalb der CDU/CSU gab es ebenfalls massive Meinungsverschiedenheiten zwischen den Unterstützern des Westkurses von Adenauer und der gesamtdeutschen Option von Jakob Kaiser und seinen Anhängern. Aber auch der konfrontative Kurs Kurt Schumachers war in der SPD nicht unumstritten. Diese Differenzen wurden auch durch die „Stalin-Note“ vom 10. März 1952 noch verschärft – was wohl durchaus im Kalkül der sowjetischen Führung lag. Der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der spätere Außenminister, Heinrich von Brentano, und der spätere Bundeskanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, kritisierten den Kurs Adenauers. Die SPD forderte, das Ziel der Wiedervereinigung zur absoluten Priorität zu machen und rückte vorsichtig von der massiven Ablehnung jedes Gedankens an eine Neutralisierung Deutschlands ab. Adenauer verband geschickt unrealistische gesamtdeutsche Bekenntnisse mit der Ablehnung des sowjetischen Vorschlages, indem er die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und seine Eingliederung in das westliche Bündnis forderte. Dies geschah in der Absicht, durch gesamtdeutsche Maximalforderungen seine „patriotische“ Gesinnung nicht in Frage stellen zu lassen. Die in dieser Auseinandersetzung kreierte Formel hat sich als außeror-
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dentlich zählebig erwiesen und in den 1960er-Jahren die Umorientierung der deutschen Ostpolitik erschwert. Sie tat 1952 und in den Folgejahren ihre Wirkung. In der Praxis betrieb Adenauer keine im traditionellen Sinne „nationale“ Politik. Seine Politik war supranational angelegt. Die Westbindung war mehr als eine taktische Anpassung an unvermeidliche politische Gegebenheiten. Westbindung bedeutete Sicherung der Grundlagen einer demokratischen Ordnung im Westen Deutschlands. Diesem Ziel war – trotz andersgelagerter politischer Rhetorik – das Ziel der nationalstaatlichen Wiedervereinigung untergeordnet. Nur eine „Vereinigung in Frieden und Freiheit“, ein angesichts der Weltlage utopisches Ziel, kam als Alternative zum deutschlandpolitischen status quo in Frage. Allen Beteiligten war aber spätestens nach dem 17. Juni 1953, der kurzzeitige Hoffnungen auf einen neuen deutschlandpolitischen Kurs der Nachfolger Stalins zunichte machte, klar, dass die Teilung Deutschlands und Europas lange dauern werde. Dieser enge Zusammenhang von deutscher Spaltung und europäischer Teilung hatte für die deutsche Politik einen doppelten Effekt. Wenn die Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit erreicht werden sollte, konnte sich eine auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zielende Politik nicht ausschließlich national definieren, sie musste in einen europäischen Kontext eingebettet sein. Europäische Einigungspolitik stand also nicht im Gegensatz zum Ziel der Wiedervereinigung. Zum zweiten war die Integration der Bundesrepublik in europäische supranationale Institutionen der vielversprechendste Weg, die aus der Teilung Deutschlands und dem Fehlen eines Friedensvertrags resultierenden Souveränitätsbeschränkungen in ihrer Wirkung zu minimieren – völlig beseitigen ließen sie sich nicht.
2.3.3 Europäische Integration Am 9. Mai 1950 verlas der französische Außenminister, Robert Schuman, vor der Nationalversammlung eine Erklärung, in der die Regierung Frankreichs den Plan vorstellte, die französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion zusammenzulegen und durch diese Zusammenarbeit die „erste Etappe“ einer europäischen Föderation zu erreichen. Diese Botschaft stand im deutlichem Gegensatz zur französischen Obstruktionspolitik der späten 1940er-Jahre. Der Schuman-Plan, dessen intellektuelle Väter Robert Schuman und der Leiter der französischen Planungsbehörde, Jean Monnet, waren, stellte einen Paradigmenwechsel der französischen Politik dar. An die Stelle des Versuchs, das deutsche Problem durch Schwächung deutscher Institutionen und Kompetenzen zu lösen, trat eine Politik der Kontrolle durch Integration. Nur wenige Monate zuvor hatte die französische Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die auf eine faktische wirtschaftliche Annexion des unter ihrer Verwaltung stehenden Saarlandes und die Verpachtung der saarländischen Bergwerke an Frankreich für die nächsten fünfzig Jahre hinausliefen. Die Saarkonvention vom 3. März 1950 verlieh dem Saarland innerhalb der mit Frankreich abgeschlossenen Verträge Autonomie auf den Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Auch koppelte Frankreich die Zustimmung für einen Beitritt der Bundesrepublik zum 1949
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Der „Schuman-Plan“: Beginn der europäischen Integration
Die Montanunion: Der Gedanke der Supranationalität und nationalstaatliche Politik
Gründung der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“
gegründeten Europarat an die gleichzeitige Aufnahme der Saar, um deren staatsrechtlichen Sonderstatus zu untermauern. Obwohl der Schuman-Plan aus der Distanz betrachtet nicht so originell war, wie er den Zeitgenossen erschien – er knüpfte an Denkmuster und Organisationsvorstellungen der Zwischenkriegszeit an (Herbst, 1996: 76) – bedeutete sein zentraler Gedanke, den Aspekt der Supranationalität als Element zur Neuordnung Europas einzuführen, nur fünf Jahre nach dem Krieg einen radikalen Neubeginn. Der unmittelbare Effekt dieses Plans war die faktische Etablierung einer neuen Ebene bundesdeutscher Außenpolitik – neben der Hohen Kommission und an ihr vorbei. Auch wenn der ursprüngliche Gedanke einer supranationalen Organisation, der in Großbritannien und den Benelux-Ländern auf äußerste Skepsis gestoßen war, nicht verwirklicht wurde und einer Kompromisslösung Platz machen musste, die den beteiligten Nationen im Ministerrat unmittelbaren Einfluss auf die Politik und eine direkte Kontrolle der Montanunion zuwies, stellte der „Vertrag über die Gründung der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ vom 18. April 1952 doch den ersten entscheidenden und zukunftsweisenden Schritt auf dem Wege der europäischen Einigung dar. Das zwischen der Hohen Behörde der Montanunion und dem Ministerrat entwickelte System von checks and balances erwies sich als institutionenpolitisches Novum, das zur Kooperation zwischen supranationaler Hoher Behörde und nationalen Interessen im Ministerrat zwang und so das Grundmuster europäischer Integrationspolitik vorgab. Dies war um so erstaunlicher, als die Motive aller wichtigen Akteure primär von den jeweiligen nationalen Interessen bestimmt waren (Herbst, 1996: 78). Das Hauptmotiv des französisches Vorstoßes war, einer zunehmenden Isolierung Frankreichs Einhalt zu gebieten. Sie war das Ergebnis der starren Haltung zur deutschen Frage und vergeblicher Versuche, Einfluss auf die deutsche Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet und im Saarland zu erhalten. Zudem verstärkte sich der Druck der USA, eine konziliantere Rolle gegenüber einer auf die Integration Deutschlands in den Westen zielenden Politik an den Tag zu legen (Herbst, 1996: 79 ff.). Die zurückhaltende Reaktion der Briten war vor allem darauf zurückzuführen, dass sie ihre Rechte als Besatzungsmacht tangiert sahen. Sie nahmen damit bereits zu Beginn des europäischen Einigungsprozesses eine dilatorische Haltung ein, die britische Regierungen, nicht unbedingt zum eigenen Nutzen, bis heute beibehielten. Auf deutscher Seite war mit dem Beitritt zur Montanunion und zum Europarat die Hoffnung auf eine Revision des Besatzungsstatus und eine Lösung der Saarfrage verbunden. Nach dem Scheitern der EVG, die auf einen Kernbereich nationaler Souveränität, nämlich die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zielte, verlagerte sich die Zusammenarbeit der westeuropäischen Länder hauptsächlich auf den Bereich der Wirtschaft. Die mit den Römischen Verträgen vom März 1957 erfolgte Gründung der nach dem Vorbild der Montanunion – wenngleich mit schwächeren supranationalen Kompetenzen ausgestatteten – „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) blieb intentional weit hinter den oft hochfliegenden Plänen für einen europäischen Bundesstaat zurück, wie sie bei der Gründung des Europarats 1949 und zu Beginn der 1950er-Jahre im Schwange gewesen waren.
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Aber gerade auf Grund ihres pragmatischen und interessengeleiteten Zuschnitts erwies sie sich als außerordentlich erfolgreich und zukunftsträchtig. Dieses „Europa der Sechs“ bildete den Kern der späteren Europäischen Union mit nunmehr 25 Mitgliedern. Der Erfolg der EWG zeigte sich bereits Anfang der 1960er-Jahre, als die bisher in einer losen Freihandelszone (EFTA) zusammengeschlossenen Länder Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen Anträge auf Mitgliedschaft in der EWG stellten. Das französische Veto gegen diese Beitrittspläne zeigte zum einen, wie stark die europäische Einigung, die auf Einstimmigkeit in den Gremien angewiesen war, von nationalen Interessen und Erwägungen bestimmt war. Zum anderen drückte sich darin auch die von manchen anderen Teilnehmern geteilte Furcht aus, die Idee einer europäischen Zusammenarbeit, deren Kern der deutsch-französische Akkord darstellte, könnte verwässert werden.
2.3.4 Zwischen atlantischer und europäischer Orientierung – außenpolitische Zielkonflikte Ähnlich wie im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik spielte auch die Frage einer Erweiterung der EWG und ihre mögliche Lockerung zu einer europäischen Freihandelszone in die innenpolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik hinein. Dort hatten sich mit dem verteidigungs- und sicherheitspolitischen Seitenwechsel der SPD 1959/60 die Gegensätze zwischen Regierung und Opposition abgeschliffen. Die Sozialdemokratie hatte ihre Opposition gegen die Westorientierung aufgegeben und den in ihren Reihen virulenten Neutralitätsvorstellungen eine Absage erteilt. In einer Grundsatzrede vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960 hatte Herbert Wehner die Abkehr der SPD von ihrer bisherigen Politik erläutert. Damit war jedoch kein allgemeiner Konsens der Parteien über ihre Außen-, Sicherheits- und Europapolitik erreicht. Vielmehr entwickelte sich im Lager der Regierung ein erbitterter Streit darüber, ob man eher auf eine europäische oder atlantische Orientierung setzen solle. Konrad Adenauer, der den Zenit seiner Macht in der Präsidentenkrise des Jahres 1959 überschritten hatte, versuchte durch eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit, die ihre vertragliche Grundlage im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 1963 fand, und durch die Stärkung Kerneuropas die, aus seiner Sicht unsicher gewordene, amerikanische Sicherheitsgarantie zu kompensieren und die deutsch-französische Zusammenarbeit zum Motor einer engeren europäischen Integration zu machen. Seit dem Tod des langjährigen amerikanischen Außenministers, John Foster Dulles, 1959 und spätestens seit dem Beginn der Kennedy-Administration war das Verhältnis des Kanzlers zu den USA von Misstrauen bestimmt. Stärkster Unterstützer seiner Position und führender Kopf der „Gaullisten“ im Regierungslager waren die CSU-Politiker Franz Josef Strauß, seinerzeit Verteidigungsminister, Baron von und zu Guttenberg und Graf Huyn. Sie bildeten den Kern des Widerstandes gegen eine, sich nach dem Mauerbau von 1961 und der Kuba-Krise von 1962 abzeichnenden Politik des Interessenausgleichs zwischen den beiden
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Kontroversen über eine europäische oder atlantische Orientierung in der CDU/CSU
Supermächten, wie sie im „Atomtest-Abkommen“ von 1963 und später im „Atomwaffensperrvertrag“ von 1968 ihren Ausdruck fand. Auf der anderen Seite standen die „Atlantiker“, denen der Vizekanzler und Nachfolger Adenauers, Ludwig Erhard, zuneigte. Prominentester Vertreter dieser Gruppe war der Außenminister Gerhard Schröder. Sie vertraten weiterhin die Grundüberzeugungen, die für Adenauers Westpolitik in den 1950er-Jahren konstitutiv gewesen waren, dass für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik die engsten Verbindungen zu den USA unverzichtbar und existentiell seien. Dies bedeutete keine anti-französische Haltung, auch hier wurde die deutschfranzösische Aussöhnung als Garant einer friedlichen europäischen Entwicklung angesehen. Die „Atlantiker“ widersetzten sich nur vehement der gaullistischen Doktrin einer von den USA weitgehend unabhängigen europäischen Politik. Der rationale Kern dieses von großen Emotionen begleiteten Streits lässt sich auf zwei Fragen zuspitzen: War aus deutscher Sicht eine amerikanischsowjetische Entspannung der Konfrontation vorzuziehen und welche Konsequenzen mussten daraus für die Außenpolitik der Bundesrepublik gezogen werden? Die Skeptiker in den Reihen der „Gaullisten“ fürchteten, dass die deutschen Interessen unter die Räder der sich abzeichnenden Entspannungspolitik geraten würden und plädierten für eine Abkehr von der bisherigen atlantischen zu Gunsten einer europäischen Orientierung. Die „Atlantiker“ sahen in einer möglichen sowjetisch-amerikanischen Annäherung sowohl Chancen für eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen als auch für eine Verbesserung der Lage in Deutschland. Beides schien aber nur dann möglich, wenn kein Zweifel an den amerikanischen Sicherheitsgarantien und der engen deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit aufkämen. Sicherheitspolitische Mit dem Ende der Ära Adenauer 1963 und der kurzen Kanzlerschaft Ludwig Neuorientierung der Erhards gewann diese außenpolitische Orientierung die Oberhand. Dies bedeuteNATO te eine Rückkehr zu den Einsichten, welche die Adenauersche Politik der 1950er-Jahre bestimmt hatten, dass das Sicherheitsdefizit der an der Nahtstelle zwischen Ost und West gelegenen Bundesrepublik nur dann zu kompensieren sei, wenn es gelinge, die nukleare Abschreckung der USA glaubhaft zu machen. Frankreich konnte ein ernsthaftes Abschreckungspotential nicht aufbauen. Verunsicherungen, hervorgerufen durch amerikanische strategische Planungen, die Ersetzung der Doktrin einer „massive retaliation“ durch die auf der NATORatstagung im Dezember 1967 nach langen Kontroversen beschlossenen Strategie der „flexible response“ und die gescheiterten Pläne eines europäischen atomaren Mitspracherechts im Rahmen einer „Multilateral Force“ (MLF) von 25 mit Atom-Raketen bestückten U-Booten hatten den Aspekt der sicherheitspolitischen Abhängigkeit der Bundesrepublik in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre noch einmal deutlich werden lassen. Mit der „exzentrischen, visionären und anachronistischen“ Politik de Gaulles (Hacke, 1997: 130) bot sich nur scheinbar eine Alternative. Andererseits ließen die ersten Versuche einer Détente zwischen den beiden Supermächten befürchten, die Bundesrepublik könne bei der Vertretung ihrer Interessen ins Hintertreffen geraten. Im Streit über die Prioritäten bei der Zusammenarbeit mit den westlichen Verbündeten war erstmals seit den frühen 1950er-Jahren wieder ein Grundsatzstreit über die Ziele bundesdeutscher Außenpolitik erkennbar geworden – dies-
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mal nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern innerhalb des Regierungslagers. Die außen- und verteidigungspolitischen Experten der SPD, allen voran Fritz Erler und Helmut Schmidt, vertraten eine „atlantische“ Position. Hinter dem erbitterten Streit stand mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit über Bündnis- und Verteidigungsfragen, sondern ein grundlegender Dissens über die Interessen der Bundesrepublik. In de Gaulles Vision eines „Europas der Vaterländer“ erblickten die „Gaullisten“ einen Weg, eine „nationale Politik“ zu verfolgen, ohne einen deutschen Alleingang wagen zu müssen. Ein dezidierter Antikommunismus erschien ihnen als sicheres Bollwerk gegenüber gefährlichen Entspannungshoffnungen. Ihre Wahrnehmung der Politik de Gaulles beruhte jedoch auf einem Missverständnis. Der französische Staatspräsident entwickelte in den 1960er-Jahren eine eigene Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und Osteuropa (vor allem Polen, die) wie es sich in der politischen Anerkennung der polnischen Westgrenzen dokumentierte, nicht die geringste Rücksicht auf deutsche Interessen nahm (Hacke, 1997: 107). Die Intensivierung der sowjetisch-französischen Beziehungen seit 1965 und das Veto Frankreichs gegen einen Beitritt Großbritanniens zur EWG bedeuteten das Ende der Illusion, eine eigene nationale Politik unter den Bedingungen der Teilung betreiben zu können. Die Vertreter einer atlantischen Orientierung hatten mit dem Problem zu kämpfen, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen erheblichen Belastungen ausgesetzt waren. Der Wille zur Détente in Europa und der Krieg in Vietnam verlagerte das außen- und sicherheitspolitische Interesse der USA. Auf der anderen Seite machten die Vereinigten Staaten immer wieder deutlich, dass sie nicht gewillt waren, sich in der Verfolgung ihrer Politik allzu sehr von den Ängsten und Befürchtungen der Deutschen vor einem sowjetisch-amerikanischen Akkord beeinflussen zu lassen. Dass die Abschwächung des Kalten Krieges und die beginnende Entspannung zwischen Ost und West die außenpolitische Stellung und die Interessen der Bundesrepublik in besonderer Weise berühren musste, war angesichts der andauernden Teilung des Landes, die durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 in unerträglicher Weise verschärft worden war, unvermeidlich. Bisherige Bundesregierungen hatten – mit Verweis auf die im Generalvertrag noch einmal fixierten Rechte der Alliierten – die Verantwortung für die deutsche Frage an diese „delegiert“. Der Alleinvertretungsanspruch und die „Hallstein-Doktrin“ schützten die Bundesrepublik vor Ansprüchen der DDR, als gleichberechtigter deutscher Staat aufzutreten. Dieses Prinzip war auf internationaler Ebene erstmals auf der Genfer Außenministerkonferenz von 1959 durchbrochen worden, an der beide deutsche Staaten als Beobachter an „Katzentischen“ Platz nahmen. Die wachsende Bereitschaft insbesondere junger Nationalstaaten, die DDR diplomatisch anzuerkennen, machte die Hallstein-Doktrin zunehmend zur leeren Drohung. Die Position der Bundesrepublik war zu schwach, sich dem Trend der DétentePolitik entgegenzustemmen, zumal wenn diese von der westlichen Führungsmacht ausging. Die unvermeidbar gewordene Neubestimmung bundesdeutscher Außenpolitik musste diese veränderten Rahmenbedingungen ins Kalkül ziehen.
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Einfluss des „Gaullismus“ auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Belastung der deutschamerikanischen Beziehungen
Die „HallsteinDoktrin“, der Beginn der Entspannungspolitik und die Notwendigkeit einer Neubestimmung deutscher Außenpolitik
Die Erwartung, eine Politik der Stärke gegenüber dem Osten, die letztlich von den USA vertreten und durchgesetzt werden musste, würde die deutsche Frage lösen helfen, hatte sich als unrealistisch erwiesen. Die Interessen der beiden Weltmächte hatten sich nach den großen Krisen um Berlin von 1958, der Zeit des „Chruschtschow-Ultimatums“, und dem Mauerbau vom 13. August 1961 bis hin zur Kuba-Krise von 1962 verändert. Beiden Großmächten war nach diesen Erfahrungen daran gelegen, ihre Konflikte berechenbarer zu machen. Dabei konnte die Bundesrepublik mit ihrer Politik des Bestehens auf Rechtspositionen und dem Alleinvertretungsanspruch leicht zwischen die Räder eines partiellen Interessenausgleichs zwischen den USA und der Sowjetunion geraten. Eine Neudefinition ihrer außen- und deutschlandpolitischen Ziele und Strategien wurde unausweichlich. Das Ergebnis war die Ergänzung der bisherigen Politik der Westbindung durch eine aktive, eigenständige Ost- und Deutschlandpolitik.
2.4
Ostpolitik und die Entwicklung des innerdeutschen Verhältnisses
In keinem Bereich zwischenstaatlicher Politik war über Jahrzehnte die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit so tief, wie auf dem Feld der deutsch-deutschen Beziehungen – für beide Beteiligten. Die DDR war peinlich darauf bedacht, ihre Souveränität und Unabhängigkeit von der Bundesrepublik immer erneut unter Beweis zu stellen. In der Bundesrepublik betonten alle Bundesregierungen den Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu erstreben, sahen sich aber angesichts der Weltlage gezwungen, mit denen Realpolitik zu betreiben, die diesem Ziel im Wege standen, der Führung der Sowjetunion und ihren – wie es in den 1950er-Jahren hieß – „Statthaltern“ in der DDR. Während am 17. Juni jeden Jahres kluge Reden zur Frage der Einheit der Nation gehalten wurden, entwickelte sich in der Bundesrepublik ein Alltagsbewusstsein, das gut ohne die DDR auskam. Die Bundesrepublik war in der allgemeinen Wahrnehmung Deutschland, die DDR ein weitgehend unbekanntes und auch uninteressantes Land (Dönhoff/Leonhardt/Sommer, 1964; Glaeßner, 1988: 30 ff.). DeutschlandMit der Dauer der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und Gesellschaften politische erschien es immer unwahrscheinlicher, dem in der Präambel des Grundgesetzes Grundpositionen formulierten Ziel der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung näher zu kommen. Die populäre Formel „Einheit in Freiheit“ schloss alle Optionen aus, die mit der Aufgabe der eigenen normativ begründeten Staats- und Gesellschaftsvorstellungen verbunden gewesen wären. Es war auf den Einfluss der Bundesregierung zurückzuführen, dass im Generalvertrag von 1955 die deutsche Wiedervereinigung nur als Akt des faktischen „Anschlusses“ der DDR an die Bundesrepublik erwähnt worden ist. „Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische
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Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.“ (Art. 7 Abs. 2 Generalvertrag)
Bis in die 1960er-Jahre hinein dominierten Rechtspositionen und der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik die Debatte. Später konzentrierten alle politischen Kräfte ihre Phantasie darauf, die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen, um die Zweistaatlichkeit so erträglich wie möglich zu gestalten und nach Kräften dazu beizutragen, die Lage der Menschen in der DDR zu verbessern. Seit der Regierung Erhard vermochten es die folgenden Bundesregierungen nicht, die einer solchen Politik innewohnende Zweideutigkeit zu überwinden. Das Festhalten an Rechtspositionen und der eigenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf der einen und das Ziel der Vereinigung auf der anderen Seite, schlossen sich unter den Bedingungen der Entspannungspolitik, die keine wirkliche Überwindung des Kalten Krieges darstellte, aus. Entspannungspolitik beruhte auf einer übereinstimmenden Analyse der weltpolitischen Konstellation. Eine Überwindung der Blöcke war allenfalls als Fernziel vorstellbar. Die Überwindung der Spaltung Deutschlands, die friedlich nur durch Übereinkunft der beiden Supermächte und die Aufhebung der Trennung Europas in zwei Blöcke zu regeln war, wurde damit zu einem Fernziel. Nach dem 13. August 1961 war ein ost- und deutschlandpolitischer Kurswechsel auf Dauer unvermeidlich. Erste vorsichtige Versuche in dieser Richtung waren bereits in den letzten Regierungsjahren Adenauers erkennbar. Sie waren geboren aus der Furcht, das Pochen auf Wiedervereinigung könne zu Konflikten mit der Führungsmacht USA unter dem Präsidenten Kennedy führen, die nach den Krisen von 1961 und 1962 Versuche unternahm, mit der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow ins Reine zu kommen. Es gibt Anzeichen dafür, dass der greise Bundeskanzler Adenauer die Gefahr erkannt hatte, die der Bundesrepublik drohte, wenn ihr einstmals als legitim angesehener Wunsch nach Wiedervereinigung die neue US-Außenpolitik einengte. Angesichts der sich hinschleppenden Krise um Berlin, sie wurde am 27. November 1958 vom sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow mit der Forderung nach Umwandlung Berlins in eine neutralisierte „Freie Stadt“ ausgelöst, bedeutete dies eine erhebliche Hypothek für die Außen- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik (Schwarz, 1983: 80ff.). Die nicht nur aus der Sicht Adenauers unzulängliche Reaktion der Westalliierten, vor allem der USA, auf den Bau der Mauer in Berlin tat ein übriges, Zweifel an bisherigen Gewissheiten aufkommen zu lassen. Die Konzessionsbereitschaft der neuen amerikanischen Administration nach der mit Härte und diplomatischem Geschick bestandenen Krise um sowjetische Raketen in Kuba 1962, verunsicherte die bundesdeutsche Politik (Schwarz, 1983: 239ff.). „Von der Mauer an hat sich die ganze Situation zwischen Ost und West grundlegend geändert“, bemerkte Konrad Adenauer resignierend im Jahre 1963 (Dokumente zur Deutschlandpolitik IV/9, 1978: 899). Der Zwang, die deutsche Außen- und Deutschlandpolitik auf die neuen Gegebenheiten einzustellen, war unverkennbar, zumal die eigenen Versuche, an der Sowjetunion und der DDR vorbei eine Ostpolitik mit einzelnen südosteuropäischen Staaten (Rumänien und vor allem Jugoslawien) zu betreiben, sich in den Netzen der „Hallstein-Doktrin“ verfangen hatten. 49
Erste Ansätze eines ost- und deutschlandpolitischen Kurswechsels
Nach der triumphalen Deutschlandreise Präsident Kennedys im Sommer 1963, die nach Aussagen seines Sicherheitsberaters McGeorge Bundy erfolgt war, „not to adopt Adenauer's policy but to make it easier for Germany to accept ours“ (zit. nach Enquête-Kommission, Bd. V, 2, 1995: 1680), war offenkundig geworden, dass kein Weg daran vorbeiging, die Außen- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik neu zu justieren. Der Rücktritt Adenauers 1963 und Sturz Chruschtschows 1964 beendeten erste vorsichtige, vor der Öffentlichkeit verborgene und in vielfacher Hinsicht widersprüchliche Versuche einer neuen Bonner Ostpolitik und einer neuen sowjetischen Deutschlandpolitik. Sie beendeten jedoch nicht das Nachdenken über das Ost-West-Verhältnis und die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Der damalige Außenminister Gerhard Schröder plädierte 1965 für eine Verständigung mit dem Osten und für eine Politik, die der Bundesrepublik im Osten das Vertrauen und Verständnis gewinnen sollte, das sie im Westen bereits erworben hatte (Bender, 1972: 19 ff; Bender 1986). Ost- und Bundeskanzler Erhard formulierte am 25. März 1966 eine Friedensnote an Deutschlandpolitik die östlichen Nachbarn Deutschlands, in der Gewaltverzichtserklärungen vorgeder Regierung Erhard schlagen wurden und die Entspannungspolitik von gleichzeitigen Fortschritten in der deutschen Frage abgekoppelt wurde. Innenpolitisch von Bedeutung war, dass die SPD-Opposition an der Vorbereitung der Note beteiligt war (EnquêteKommission, Bd. V, 2, 1995: 1676ff.; Hacke, 1997: 115ff.). Aber erneut wurde die DDR ausgespart – sie blieb aus der Sicht der Bundesregierung ein Paria. Auf der Ebene praktischer Politik gab es erkennbare Fortschritte. In Warschau, Budapest, Bukarest und Sofia wurden 1963/64 Handelsmissionen errichtet, eine erste staatliche Repräsentation in Osteuropa nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion 1955. Aber diese Politik war nicht konsequent und in sich widersprüchlich, da der alte Grundsatz der Hallstein-Doktrin, die diplomatischen Beziehungen zu den Staaten abzubrechen, die die DDR anerkennen, verwässert und faktisch zugleich ausgeweitet wurde. Man wollte auch eine „Aufwertung“ der DDR verhindern. Der DDR war es nämlich in den Jahren seit 1961 gelungen, zu Ländern der „Dritten Welt“ Beziehungen unterhalb der Ebene voller diplomatischer Beziehungen aufzunehmen. Die Bundesregierung wertete dies als „Aufwertung“ der DDR und drohte mit Konsequenzen. Vor allem aber nahm sie eine intransigente Haltung in der Grenzfrage ein. Die Weigerung der Bundesregierungen bis 1969, die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anzuerkennen, blieb das entscheidende Hindernis für eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn. Auch in den Beziehungen zur DDR zeigten sich ähnliche Unklarheiten. Der kurz nach dem Bau der Mauer von Gräfin Dönhoff erwogene Gedanke einer de facto Anerkennung der DDR wurde nicht realisiert (Dönhoff, 1963). Gleichwohl gab es eine bemerkenswerte Wandlung der Grundpositionen, die aber als solche nie offen diskutiert und politisch-programmatisch umgesetzt wurde. Adenauer selbst war es, der in seiner Regierungserklärung vom 9. Oktober 1962 (und erneut am 7. Februar 1963) erklärte, dass menschliche Überlegungen im Verhältnis der Bundesrepublik zur „Sowjetzone“ eine noch größere Rolle spielten als nationale. Anstöße für eine neue Politik kamen nicht aus Bonn, sondern aus Berlin. Dort war 1963 mit dem ersten Passierscheinabkommen erstmals seit etwa 15
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Jahren eine Verbesserung der Lage erreicht worden – durch Verhandlungen mit Beauftragten der DDR-Regierung. Die Bundesregierung duldete stillschweigend diese Politik und verbrachte im Übrigen viel Zeit damit, zu erklären, dass diese Vereinbarungen und andere, zum Teil geheime Verabredungen wie die über den Freikauf politischer Häftlinge oder den Bau der Saalebrücke bei Hof keine irgendwie geartete Anerkennung des kommunistischen Zwangsstaates bedeuteten. 1966/67 setzte die Große Koalition von CDU/CSU und SPD andere Akzente. Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger erwähnte in seiner Regierungserklärung die Verbesserung der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens als ein wesentliches Ziel seiner Regierung. Das Ziel der Wiedervereinigung wurde in einen gesamteuropäischen Zusammenhang eingebettet und dadurch in weite Ferne geschoben. Das neue Selbstverständnis der Aufgaben und Ziele der Außen- und Deutschlandpolitik kam in einer Rede von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 17. Juni 1967 zu Ausdruck, in der er die Rolle der Bundesrepublik folgendermaßen beschrieb:
Akzentverschiebungen während der Großen Koalition 1966-1969
„Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich selbst herum im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, dass sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte. Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-WestKonflikts in Europa.“ (zit. nach Hacke, 1997: 142)
In den beiden entscheidenden Punkten, die einer Zusammenarbeit mit Osteuropa entgegenstanden, der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und der Nichtigkeit des Münchener Abkommens von 1938, blieben die Äußerungen Kiesingers unklar. In der Deutschlandpolitik trat die Große Koalition für eine Ausweitung der Kontakte mit der DDR ein, hielt aber am Alleinvertretungsanspruch und der Nichtanerkennung der DDR fest. Handfeste substantielle Veränderungen der Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition gegenüber ihren Vorgängern sind nicht festzustellen, wohl aber ein konzilianterer Ton und einige verbale Zugeständnisse – zu wenig, um eine wirkliche Verbesserung der Beziehungen zu den sozialistischen Staaten zu erreichen. Erst der 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition gelang der entscheidende Durchbruch in der Ost- und Deutschlandpolitik. Die Schlüsselsätze in der Regierungserklärung von Willy Brandt 1969 lauteten, dass es Aufgabe praktischer Politik in den kommenden Jahren sei, „die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.“ Zwanzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müsse ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindert und alles versucht werden, um „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 132/169: 33f.). Anders als ihre Vorgänger war die Regierung Brandt-Scheel der Meinung, dass die Bundesrepublik nicht nur eine aktive Rolle in den Ost-West-Bezie51
Grundlagen der „neuen Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition
hungen spielen könne, sondern dass dies auch aus „nationalem“ Interesse geboten sei. Von der Konfrontation zur Kooperation in Deutschland zu kommen, bedeutete aus dieser Sicht, einen Beitrag zu einer zukünftigen Friedensordnung zu leisten, die allein eine gemeinsame deutsche Zukunft garantiere – freilich um den Preis einer de facto Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat. Innenpolitische Dieses Grundmuster der neuen Ost- und Deutschlandpolitik wurde von der Polarisierung über die großen Mehrheit der CDU/CSU nicht nur aus partei- und wahltaktischen ÜberleZiele der Ostpolitik gungen, sondern aus tiefster Überzeugung erbittert bekämpft. Innenpolitisch wirkten die im Zuge dieser Politik vereinbarten Ostverträge als Katalysator für eine seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht mehr gekannte Polarisierung zwischen den Parteien und in der öffentlichen Meinung. Die Leidenschaft, mit der sie debattiert wurden, deutet darauf hin, dass es um mehr ging, als um eine außenpolitische Entscheidung. Ähnlich wie Mitte der 1950er-Jahre und nach dem November 1989 ging es vielmehr um das Selbstverständnis der Bundesrepublik als integraler Bestandteil der westlichen Gemeinschaft. Die Ostverträge wurden von den Konservativen als strategischer Erfolg der sowjetischen Expansionsstrategie gesehen. So meinte Franz Josef Strauß in der ersten Beratung der Ostverträge vor dem deutschen Bundestag, sie bedeuteten eine Festigung des sowjetischen Besitzstandes und „eine Ermutigung für die Linksradikalen, die diese Politik seit zwanzig Jahren in unserem Lande gefordert haben.“ Kurzum, die Verträge waren für Strauß „Bausteine einer sowjetischen Weststrategie“, die das Ziel habe, die Bundesrepublik „stärker in ihr Machtsystem und dessen Zielsetzungen einzubinden“ (Erste Beratung der Ostverträge, 1972: 128). Von dieser Position zur Politik des pacta sunt servanda, zum von Strauß vermittelten Milliardenkredit an die DDR und zu der folgenden Aussage war es ein weiter Weg: „Weil die Teilung Deutschlands untrennbar mit der Teilung Europas verbunden ist, kann die bloße Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates nicht das vorrangige Ziel unserer Deutschlandpolitik sein. Die Zukunft auch der deutschen Nation liegt allein in einer europäischen Ordnung der Freiheit, des Rechts und des Friedens, in der die Frage nach den staatlichen Grenzen zweitrangig geworden ist. Bis wir und alle Europäer das verwirklicht haben, müssen wir noch einen langen geschichtlichen Weg zurücklegen.“ (Strauß, Vorwort zu: Lange, 1986: 10f.)
2.4.1 Ostverträge und deutsch-deutsche Beziehungen Die DDR-Führung hatte zuerst unsicher auf die neue Bundesregierung reagiert. Ein Vertragsentwurf der DDR vom 17. Dezember 1969 „über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen“ zeigt dies deutlich. Die Bundesregierung verzichtete darauf, einen Gegenentwurf vorzulegen, sondern schlug einen breiten Meinungsaustausch zwischen beiden Regierungen vor. Dazu sollten ein Gewaltverzicht, Probleme der gleichberechtigten Beziehungen und die Regelung praktischer Fragen gehören, die das Leben der Menschen erleichtern könnten. In zwei denkwürdigen Treffen der beiden Regierungschefs Willy Brandt und Willi Stoph am 17. März 1970 in Erfurt und am 29. April 1970 in Kassel wurden die jeweiligen Grundsatzpositionen dargelegt. Danach trat eine „Denkpause“ ein. Erst am 27.
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November 1970 wurde der Gesprächsfaden zwischen den beiden Unterhändlern Egon Bahr und Michael Kohl wieder aufgenommen. Im Verlauf von zwei Jahren wurden das Transitabkommen, der Verkehrsvertrag und der Grundlagenvertrag verhandelt. Voraussetzung dafür war die vorherige Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR sowie der Volksrepublik Polen. Dabei ging es um zwei zentrale Fragen:
Politische Rahmenbedingungen für eine neue Ost- und Deutschlandpolitik
1. Anerkennung der in Europa nach dem II. Weltkrieg entstandenen Lage. Das bedeutete, die Zweistaatlichkeit Deutschlands, die Grenzen, inklusive der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, und die Tatsache zweier unterschiedlicher politischer und sozialökonomischer Systeme als gegeben hinzunehmen, ohne auf die beiderseitigen grundsätzlichen Positionen und Rechtsauffassungen zu verzichten. Dabei entstanden für die Bundesregierung erhebliche politische und rechtliche Probleme. Es galt, den Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes zu beachten, ohne ihn wie bisher dogmatisch zu interpretieren. Es galt ferner, die Vorbehaltsrechte der Alliierten aus dem Deutschlandvertrag von 1955 zu beachten, in dem sie sich das Recht vorbehalten hatten, alle Fragen, die Deutschland als Ganzes und den Status Berlin betreffen, in eigener Verantwortlichkeit zu regeln. Und es galt schließlich, die massiven innenpolitischen Vorbehalte gegenüber einer Öffnung der Bundesrepublik nach Osten einzukalkulieren. 2. Die Bereitschaft, die „bestehende wirkliche Lage“ zu akzeptieren, und zwar in Gewaltverzicht aller Form und nicht nur in mehr oder weniger verbindlichen Erklärungen, schloss Verhandlungen über einen „Gewaltverzicht“ ein, der als Voraussetzung für jede weitere Politik erschien. Willy Brandt hat dies in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation am 14. Januar 1970 folgendermaßen formuliert: „Der Kern unserer Politik ist der Gewaltverzicht. Dieser Gewaltverzicht soll Grundlage für eine Verbesserung der Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten sein. Da das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in absehbarer Zeit nicht auf einen Friedensvertrag hoffen kann, wird der Gewaltverzicht – er kann es zumindest werden – die Basis für die Regelung der einzelnen heute lösbaren politischen Fragen mit den verschiedenen Staaten Osteuropas. Wir sehen insoweit im Gewaltverzicht etwas Dauerhaftes, weil es für das deutsche Volk – und hier denke ich auch an unseren Sicherheitsbeitrag im atlantischen Bündnis – nur noch Friedenspolitik geben kann.“ (Texte zur Deutschlandpolitik, Bd. IV, 1970: 213)
Prüfstein dieser Politik waren die Verhandlungen über einen Vertrag mit der Sowjetunion. Sie waren von der Einschätzung bestimmt, dass die Kriegsfolgeprobleme gelöst werden müssten, dass dies aber auf dem „normalen“ Weg eines Friedensvertrages nicht möglich sein werde. Gewaltverzichtsabkommen erschienen ein geeignetes Mittel, die wichtigsten Aufgaben eines Friedensvertrages zu erfüllen, ohne ein Friedensvertrag zu sein. Gerade um die Frage der Endgültigkeit des Gewaltverzichts und der damit verbundenen Anerkennung der Grenzen entbrannte in der Bundesrepublik eine leidenschaftliche Debatte. Bezogen auf die „deutsche Frage“ nahm die Ostpolitik Abschied von der Vorstellung einer isolierten nationalstaatlichen Wiedervereinigung. Die Erklärung, die Einheit Deutschlands im Rahmen einer europäischen Friedensordnung errei-
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Der deutschsowjetische Vertrag
Der Brief zur deutschen Einheit
Die Verträge mit Polen und der Tschechoslowakei
chen zu wollen, war weder bloßes Wortgeklingel noch Täuschung über die wahren Ziele, wie die Opposition unterstellte. Sie entsprang vielmehr der Einsicht, dass sich in Europa und Deutschland ohne eine Überwindung der Ost-WestKonfrontation nichts bewegen werde. Die Einheit Deutschlands, das war die feste Überzeugung Willy Brandts, sei im traditionellen nationalstaatlichen Sinne nicht zu lösen, sondern nur in schrittweisem Bemühen um eine europäische Friedensordnung. Die entscheidende Rolle kam dabei der Sowjetunion zu. So verwundert es nicht, dass die vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR ganz oben auf der Agenda der neuen Ostpolitik stand. Nur wenn es gelang, mit der Sowjetunion ins Reine zu kommen, waren Fortschritte auf anderen Gebieten inklusive der Deutschlandpolitik denkbar. Der am 12. August 1970 unterzeichnete „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ betonte in Art. 1 das Ziel der Politik beider Regierungen, „den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung zu erreichen“, wobei beide von der in Europa „bestehenden wirklichen Lage“ ausgingen. Art. 2 unterstrich das Prinzip des Gewaltverzichts. Art. 3 betonte, „dass der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet“. Beide Vertragspartner verpflichteten sich, „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten; sie erklären, dass sie keine Gebietsansprüche gegen irgendjemanden haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden“ (Die Verträge, 1970: 64). Innenpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem Moskauer Vertrag versuchte die Bundesregierung durch den „Brief zur deutschen Einheit“ zu zerstreuen, der der sowjetischen Regierung bei der Vertragsunterzeichnung überreicht wurde und in dem erklärt wurde, dass „dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. In einer Note der Bundesregierung an die drei Westmächte wurde betont, dass der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeit der Vier Mächte nicht berühre und dass der sowjetische Außenminister dies in den Verhandlungen erklärt habe. Die drei Westmächte haben in gleichlautenden Noten diese Erklärung zur Kenntnis genommen. Der Brief zur deutschen Einheit wurde in der Sowjetunion in das Ratifikationsverfahren des obersten Sowjet einbezogen. Der am 7. Dezember 1970 unterzeichnete Warschauer Vertrag war das bedeutungsvollste Abkommen mit einem osteuropäischen Land. 25 Jahre nach Ende des II. Weltkrieges, der mit dem Überfall auf Polen begann, unterzeichnete die Regierung der Bundesrepublik einen Vertrag, in dem die Westgrenze Polens anerkannt, auf Gebietsansprüche (hinsichtlich der ehemaligen deutschen Ostgebiete) „auch in Zukunft“ verzichtet und ein Ausbau der Beziehungen in Anlehnung an den Moskauer Vertrag vereinbart wurde. Als letztes großes Vertragswerk wurde am 11. Dezember 1973 der Vertrag mit der ýSSR unterzeichnet. Hier galt es vor allem, das schwierige Problem der Folgen des der Tschechoslowakei aufgezwungenen Münchener Abkommens vom 29. Februar 1938 zu regeln.
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Die DDR schien von all dem nicht berührt, handelte es sich doch um Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR, Polen und der ýSSR. Sie selbst hatte schon kurz nach ihrer Gründung die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannt und musste im Übrigen ihr Verhältnis zu diesen Ländern nicht „normalisieren“. Es gibt aber eine besondere, kaum beachtete, aber nicht unproblematische Dimension des Moskauer Vertrages: Er enthielt Festlegungen über die Grenzen der Volksrepublik Polen mit der DDR (die „OderNeiße-Linie“), ohne dass diese in die Verhandlungen einbezogen waren. Die Bundesrepublik akzeptierte damit indirekt eine begrenzte Souveränität dieser beiden Staaten, auch wenn die im Moskauer Vertrag enthaltenen Formulierungen im wohlverstandenen Eigeninteresse dieser Staaten lagen. Normalisierung in den deutsch-deutschen Beziehungen war, das zeigt dieser Zusammenhang ganz deutlich, nur mit der Sowjetunion als östlicher Führungsmacht möglich; ihre Interessen mussten gewahrt werden, sollte es Fortschritte geben. Dies galt besonders und vor allem für die Lösung eines neuralgischen Problems des Ost-WestVerhältnisses für Berlin. Berlin war Prüfstein jeder Entspannungspolitik. Das am 3. September 1971 unterzeichnete Vier-Mächte-Abkommen über Ber- Das Vier-Mächtelin wurde möglich durch ein entscheidendes Zugeständnis der Sowjetunion: Sie Abkommen über Berlin erkannte erstmals seit der Berlin-Krise von 1958 explizit die Rechte und Verantwortlichkeiten der drei Mächte in Berlin (West) an, und zwar in einem unbefristeten Abkommen. Die grundsätzlichen Fragen des Status von Berlin und der Rolle der vier Siegermächte des II. Weltkrieges klammerte das Abkommen aus. Es enthielt auch keine ausdrückliche Festlegung über den Geltungsbereich. Es war von dem „betreffenden Gebiet“ die Rede, worunter die Sowjetunion die Westsektoren, die Westmächte alle vier Sektoren von Groß-Berlin verstanden. Durch die Festlegung, dass die vier Mächte „unbeschadet ihrer Rechtspositionen“ und „unter Berücksichtigung der bestehenden Lage in dem betreffenden Gebiet“ und „auf der Grundlage ihrer Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten“ handelten, waren Berlin-Krisen wie 1948, 1958 und 1961 ausgeschlossen. Von großer Bedeutung war die Festlegung, dass die Sowjetunion – nicht die DDR – für den ungehinderten Transitverkehr nach Berlin zuständig war und die beiden deutschen Regierungen lediglich die „Regelungen zur Durchführung und der Ergänzung“ des Abkommens zu vereinbaren hatten. Im Transitabkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 17. Dezember 1971 wurden die Details vertraglich geregelt. Mit der vertraglichen Absicherung der Lebensfähigkeit West-Berlins schuf das Abkommen die Grundlage für die Ratifizierung der Ostverträge und vor allem des Grundlagenvertrages mit der DDR. Es eröffnete auch den Weg zu einer europäischen Sicherheitskonferenz, wie sie von der Sowjetunion und ihren Verbündeten gewünscht wurde. Die Souveränität der DDR war jedoch durch das Berlin-Abkommen noch stärker tangiert als durch die im Moskauer Vertrag enthaltenen Klauseln über die deutsch-deutsche Grenze. Ihre Forderungen nach einer „selbständigen politischen Einheit Westberlin“ wurden ebenso auf dem Altar der Entspannungsinteressen der Sowjetunion geopfert wie ihr Anspruch auf volle Souveränität und Verhandlungskompetenz in allen Fragen des Transitverkehrs.
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Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR
Fortbestehende Differenzen
Praktische Ergebnisse des Grundlagenvertrages
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag
Der am 21. Dezember 1972 unterzeichnete und am 7. Juni 1973 in Kraft getretene „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ betonte in seiner Präambel die Prinzipien des Gewaltverzichts, der „Unverletzbarkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen“ als eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Die unterschiedlichen Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, „darunter zur nationalen Frage“, wurden festgestellt; gleichwohl wurde der Wunsch hervorgehoben, zum Wohle der Menschen die Voraussetzungen für eine engere Zusammenarbeit beider deutscher Staaten zu schaffen. In einem ergänzenden Brief zur deutschen Einheit stellte die Bundesregierung wie schon bei der Verabschiedung des Moskauer Vertrages fest, dass der Grundlagenvertrag mit dem politischen Ziel der Wiedervereinigung in freier Selbstbestimmung nicht im Widerspruch stehe. Bereits anlässlich der Paraphierung war in einem Briefwechsel mit der DDR die Aufnahme von Verhandlungen über ein Post- und Fernmeldeabkommen, die Regelung der Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten und der gleichzeitige Antrag auf Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen vereinbart worden – der Beitritt erfolgte am 18. September 1973. Durch eine Reihe von Briefen, ein Zusatzprotokoll und Protokollvermerke wurden ein Ausbau der Beziehungen (Rechtsverkehr, Wissenschaft und Technik, kulturelle Zusammenarbeit, Umweltschutz, nichtkommerzieller Warenverkehr etc.), die Öffnung neuer Grenzübergänge und Tagesaufenthalte im grenznahen Bereich in Aussicht gestellt. Das entscheidende juristische und politische Problem zwischen den beiden deutschen Staaten wurde in zwei Protokollerklärungen angesprochen. Die Bundesrepublik erklärte: „Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden.“ Die DDR erklärte: „Die Deutsche Demokratische Republik geht davon aus, dass der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen erleichtern wird“ (Zehn Jahre Deutschlandpolitik, 1980: 207). Auch über Vermögensfragen konnte keine Einigung erzielt werden. Die wichtigsten praktischen Ergebnisse des Grundlagenvertrages waren die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen und die Errichtung der Ständigen Vertretungen. Die Ständigen Vertretungen waren keine Botschaften, aber grundsätzlich in ähnlicher Weise tätig. Damit wurde auch die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Besonderheit der deutschdeutschen Beziehungen unterstrichen. Die DDR konnte sich mit ihrer Forderung von 1981 nach der Errichtung von Botschaften nicht durchsetzen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie ihren Ständigen Vertreter in Bonn „Botschafter“ nannte. Während die Ständige Vertretung der DDR in Bonn dem DDRAußenministerium unterstand, unterstrich die Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes für die bundesdeutsche Vertretung in der DDR deren besonderen Charakter. Neben den üblichen Aufgaben einer Botschaft hat sich die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR vor allem als Institution bewährt, die die vielfältigen menschlichen Probleme zwischen beiden Staaten regeln half. Der Grundlagenvertrag beschäftigte auf Antrag der bayerischen Staatsregierung das Bundesverfassungsgericht. Der Vertrag sollte vom Verfassungsgericht als „mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig“ erklärt werden. Die-
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ser Auffassung hat sich das Verfassungsgericht nicht angeschlossen, jedoch in einer ausführlichen Begründung verbindliche Auslegungen des Vertrages formuliert (BVerfGE 36, 1). Nach Meinung des Gerichts verbiete das Grundgesetz, dass die Bundesrepublik „auf einen Rechtstitel des Grundgesetzes verzichtet, mittels dessen sie in Richtung auf Verwirklichung der Wiedervereinigung und der Selbstbestimmung wirken kann. Vielmehr erfordere das Grundgesetz, „den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wach zu halten und nach außen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.“ (BVerfGE 36, 1:1). In der Frage der völkerrechtlichen Qualität des Vertrages, der Geltung des Art. 23 GG und der Bedeutung des Staatsbürgerschaftsrechtes zog das Verfassungsgericht enge Grenzen. Die mit dem Grundlagenvertrag vereinbarte Anerkennung der DDR sei eine „faktische Anerkennung besonderer Art“. „Das Besondere dieses Vertrages ist, daß er zwar ein bilateraler Vertrag zwischen zwei Staaten ist, für den die Regeln des Völkerrechts gelten und der die Gestaltungskraft wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag besitzt, aber zwischen zwei Staaten, die Teile eines noch immer existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, weil noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk sind, dessen Grenzen zu bestimmen hier nicht nötig ist.“ (BVerfGE 36, 1: 23)
Wenn man die deutsch-deutschen Beziehungen nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages Revue passieren lässt, ist das Resultat zwiespältig. Auf der einen Seite steht als unverkennbarer Gewinn eine deutliche Entspannung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Dies hat zu einer ganzen Reihe von praktischen Vereinbarungen geführt, welche die Folgen der Teilung erträglicher gemacht und dazu beigetragen haben, dass die familiären und freundschaftlichen Beziehungen über die Grenze hinweg aufrechterhalten und eine Vielzahl kultureller, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Kontakte entwickelt werden konnten. Erhebliche Belastungen erfuhr das deutsch-deutsche Verhältnis durch die erneute Verschärfung des Ost-West-Konflikts in Folge der Afghanistan-Invasion der Sowjetunion 1979. Die SED-Führung versuchte jedoch (übrigens bis zum Ende ihrer Herrschaft 1989), vorsichtig eine Verschlechterung der Beziehungen zur Bundesrepublik zu vermeiden. Diese Haltung blieb auch durch den Regierungswechsel in Bonn 1982 weitgehend unbeeinflusst. Die „Politik der kleinen Schritte“ wurde weitergeführt, die „Koalition der Vernunft“ nicht aufgekündigt.
Deutsch-deutsche Beziehungen nach dem Grundlagenvertrag
2.4.2 Der KSZE-Prozess Ostverträge und Grundlagenvertrag hatten eine wesentliche Grundlage geschaf- Schwächen der fen, um die Zusammenarbeit in Europa über den „eisernen Vorhang“ hinweg zu Vertragspolitik verbessern und die permanenten Spannungen in Deutschland und vor allem um Berlin abzubauen. Das vierseitige Abkommen über Berlin dokumentierte den Willen der vier Siegermächte des II. Weltkrieges, zu einem modus vivendi zu kommen. Dies bedeutete nicht, dass es keine Konflikte mehr gab. Die Situation stellte sich ambivalent dar: Auf der einen Seite waren die wesentlichen und vordringlichen Ziele der neuen Ostpolitik mit den Verträgen mit 57
Von der bilateralen zur multilateralen Politik gegenüber dem Osten
Die Schlussakte der KSZE
der Sowjetunion und Polen 1970, dem Berlin-Abkommen von 1971, dem Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972, dem deutsch-tschechischen Vertrag von 1973 und der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO im gleichen Jahr erreicht. Auf der anderen Seite zeigten sich auch die Schwächen und Beschränkungen der Vertragspolitik. Insbesondere bei der Auslegung der oft kryptischen Bestimmungen des Berlin-Abkommens kam es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten mit der UdSSR und DDR. Die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition war in der Anfangsphase im Wesentlichen – mit den westlichen Verbündeten abgestimmte – bilaterale Politik. Mitte der 1970er-Jahre verlagerte sich die Regelung des Ost-WestVerhältnisses mit dem KSZE-Prozess auf eine multilaterale Ebene, die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft durch eine beginnende engere Zusammenarbeit in der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) abgestützt wurde. Am deutlichsten wurde der Wechsel von einer bilateralen zur multilateralen Regelung des Ost-West-Verhältnisses im Verlauf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Hierbei handelte es sich ursprünglich um eine alte Idee der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Mit ihr verband die UdSSR die Hoffnung, den status quo in Europa vertraglich festschreiben zu können und im Interesse der Modernisierung ihrer Volkswirtschaft die dringend notwendige wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem westlichen Europa auszuweiten. Die westlichen Länder betonten in den Vorgesprächen ihr Interesse an einer Verbesserung der Kontakte, dem Austausch von Informationen und Meinungen, der Freizügigkeit und der Einbeziehung militärischer Probleme in den Entspannungsprozess. Die schließliche Ausklammerung des militärischen Aspektes aus den Verhandlungen über Sicherheit und Zusammenarbeit stellte sich später als der entscheidende Defekt des KSZE-Prozesses dar. Nach mehrjährigen Verhandlungen fand im Jahre 1975 die Schlusskonferenz der KSZE in Helsinki statt, auf der ein umfangreiches Dokument verabschiedet wurde. Diese Schlussakte von Helsinki war eine Absichtserklärung der beteiligten Staaten, die ihre Beziehungen auf der Grundlage folgender Prinzipien regeln wollten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Souveräne Gleichheit, Achtung aller der Souveränität innewohnenden Rechte; Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt; Unverletzlichkeit der Grenzen; Territoriale Integrität der Staaten; Friedliche Regelung von Streitfragen; Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit; 8. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker; 9. Zusammenarbeit zwischen den Staaten; 10. Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben.
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In dem Dokument heißt es: „Alle vorstehend aufgeführten Prinzipien sind von grundlegender Bedeutung und werden folglich gleichermaßen und vorbehaltlos angewendet, wobei ein jedes von ihnen unter Beachtung der anderen ausgelegt wird“ (Sicherheit und friedliche Zusammenarbeit, 1976: 519). Die Absicht dieser Formulierung war es, eine einseitige und selektive Interpretation zu verhindern. Dies hinderte die beteiligten Mächte in der Folge aber nicht daran, die Akte in ihrem Sinne auszulegen: Der Westen unterstrich die Frage der Menschenrechte, der Osten betonte die Festlegung auf den status quo. Die DDR verwies besonders auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Prinzip der Nichteinmischung, die Bundesrepublik hob das Prinzip der Selbstbestimmung hervor, das aus ihrer Sicht eine einvernehmliche Veränderung der Situation in Europa und damit eine künftige Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht ausschloss. Mit der Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses Ende der 1970erJahre und dem Wiederaufbrechen des Kalten Krieges nach der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979 und dem Beginn der Reagan-Administration in den USA 1981 kam auch der KSZE-Prozess weitgehend zum Stillstand. Die Bewertungen über Erfolge und Misserfolge des 1975 begonnenen „HelsinkiProzesses“ gehen auseinander (Hacke, 1997; Korey 1993). Das Folgetreffen in Belgrad 1977 und die Konferenzen von Madrid 1980 bis 1982 und Wien 1986 waren von den Schwankungen in den Beziehungen zwischen den beiden Supermächten unmittelbar beeinflusst, hatten aber zugleich die positive Funktion, dass der Gesprächsfaden nicht abriss. Die in Madrid vereinbarten Expertentreffen über friedliche Streitschlichtung in Athen 1984, Menschenrechte in Ottawa 1985, das Kulturforum in Budapest im gleichen Jahr und das Treffen über menschliche Kontakte in Bern 1986 endeten mit Misserfolgen. Einzig die Konferenz über Sicherheit und Abrüstung in Europa (KVAE), die über vertrauensbildende Maßnahmen beriet, die „militärisch bedeutsam, politisch verbindlich und von angemessenen Formen der Verifikation begleitet“ sein sollten, kam zu einem Kompromiss, in dem beide Seiten einen Teil ihrer Interessen gewahrt sahen (Hacke, 1997: 323ff.). Ähnlich wie die Ostpolitik war auch die Haltung zur KSZE in der Bundesrepublik politisch kontrovers. Die CDU/CSU brachte am 25. Juli 1975 einen Entschließungsantrag ein, in dem der Bundestag aufgefordert wurde, die KSZESchlussakte abzulehnen. Allerdings waren auch zurückhaltendere Positionen erkennbar, die es nach dem Regierungswechsel 1982 erleichterten, die bisherige Politik des FDP-Außenministers Genscher, der ein erklärter Befürworter des KSZE-Prozesses war, nahtlos fortzusetzen.
Gleichwertigkeit der Prinzipien
Bewertung der Ergebnisse der KSZE
2.4.3 Kontinuität in der Deutschlandpolitik Die in der ersten Regierungserklärung Helmut Kohls behauptete „Politik der Erneuerung“ fand im Bereich der Ost- und Deutschlandpolitik nicht statt. Entgegen verbreiteten Befürchtungen und der Erwartung vieler Skeptiker unterstrich die Regierung Kohl-Genscher von Anfang an die Kontinuität in der Ost- und Deutschlandpolitik. In seiner Regierungserklärung hob Bundeskanzler Helmut Kohl zwar deutlicher als seine sozialdemokratischen Vorgänger den Vorrang des
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Die erste Regierungserklärung Helmut Kohls zur Frage der Ost- und Deutschlandpolitik
Außen- und sicherheitspolitische Prioritäten der Regierung KohlGenscher
Der ausgebliebene Kurswechsel in der Ost- und Deutschlandpolitik
westlichen Bündnisses als Kernpunkt deutscher Staatsräson hervor und bemühte sich, die Kontinuitätslinie zur Adenauerschen Westpolitik herauszustreichen, im Übrigen aber betonte er, dass die neue Regierung sich auf der Grundlage der geschlossenen Verträge und der Schlussakte von Helsinki um „echte Entspannung“ bemühen werde. Angesichts der massiven Opposition der CDU/CSU gegen die Politik der sozial-liberalen Koalition und der starken Stellung der Kritiker in der CDU-Fraktion und insbesondere in der CSU, war dies eine schwierige Gratwanderung (Korte, 1998: 116ff.). In seiner Regierungserklärung machte der neue Kanzler zwei Aussagen, die eine erkennbare Abkehr von der bisherigen politischen Rhetorik der CDU/CSU darstellten: Er bezeichnete erstens die Überwindung der deutschen Spaltung als ein „nur in historischen Zeiträumen“ lösbares Problem und erklärte zweitens, dass die neue Regierung zu den abgeschlossenen Verträgen stehe (Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, 121. Sitzung vom 13.10.1982: 7227). Zuvor hatte Kohl in sieben Punkten die außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten der neuen Regierung dargelegt und darauf geachtet, die Ostpolitik als einen Teilaspekt in einen größeren Rahmen einzubeziehen. Er erneuerte das Bekenntnis zum Atlantischen Bündnis und versprach, „die deutsch-amerikanischen Beziehungen aus dem Zwielicht befreien“, in das sie durch die Politik der Vorgängerregierung geraten seien. Vordringliches Ziel sei es, „das notwendige militärische Gleichgewicht durch konkrete, ausgewogene und nachprüfbare Verhandlungsergebnisse auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen herzustellen und zu stabilisieren“ und schließlich werde sich die neue Regierung um eine „echte Entspannung“ mit den östlichen Nachbarn bemühen (Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, 121. Sitzung vom 13.10.1982: 7220ff.). Soweit es die Haltung zum westlichen Bündnis und zum umstrittenen „NATO-Doppelbeschluss“, der geplanten Aufstellung von Mittelstreckenraketen der NATO als Antwort auf die sowjetische Aufrüstung in diesem Bereich, verbunden mit einem Verhandlungsangebot über den Abbau solcher Raketen, betraf, setzte die Regierung Kohl nur die bisherige Politik konsequenter fort. Der von vielen Beobachtern erwartete Kurswechsel in der Ost- und Deutschlandpolitik war aber angesichts der in dieser Hinsicht eindeutigen Positionen der FDP außerhalb des für die Union Erreichbaren. Die „Wende“ war ausdrücklich innenund wirtschaftspolitisch motiviert und die FDP wollte die außenpolitische Kontinuität durch den Regierungswechsel auf gar keinen Fall gefährdet sehen. Diese sowohl durch die Koalitionsräson als auch durch die Einsicht führender Unionspolitiker motivierte pragmatische Haltung war innerhalb der CDU/CSU nicht unumstritten. Insbesondere Vertreter der Vertriebenenverbände versuchten, ihre Interessen zur Geltung zu bringen (Korte, 1998: 92). Pacta sunt servanda lautete die deutschlandpolitische Devise. Damit nahm die konservativ-liberale Regierung der Sozialdemokratie den Wind aus den Segeln. Dieser lautlos vollzogene Übergang auf Positionen, die zuvor heftig bekämpft worden waren, bei gleichzeitiger demonstrativer Betonung der Bündnistreue, stellte wohl die entscheidende politisch-strategische Leistung der neuen Regierung dar. Trotz der Nachrüstung, die, nach Meinung vieler, die Tür zu einer weiteren Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses zugeschlagen hatte, gediehen die zwischen-
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staatlichen Beziehungen. Voraussetzung dafür war der Verzicht auf die Revision der Ergebnisse der sozial-liberalen Ost- und Deutschlandpolitik. Allerdings verschärfte sich die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik: Die Rede von der NATO als Staatsräson der Bundesrepublik schien auf eine Ausgrenzung derer hinzudeuten, die der Politik der ReaganAdministration in den USA kritisch oder ablehnend gegenüberstanden. Die Entschlossenheit der Regierung Kohl-Genscher, die Stationierung der Mittelstreckenraketen durchzusetzen, führte zum Erstarken der Friedensbewegung – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern, indirekt, auch in der DDR. Die Stationierung erscheint im Nachhinein als Voraussetzung dafür, sich in einer verschärfenden Weltsituation gleichsam im Windschatten zu bewegen und an der Entspannungs-, Ost- und Deutschlandpolitik festzuhalten, ohne sich dem Verdacht mangelnder Bündnistreue und geheimer Neutralitätsneigungen auszusetzen. Der sicherheitspolitische Konservatismus war zudem in der Spätphase der Breschnew-Ära der Situation allemal angemessener als das Spielen mit Überlegungen über einseitige Abrüstungsschritte, mit denen die westdeutsche Linke bis weit in die Reihen der SPD hinein liebäugelte. Die SED hatte schon frühzeitig signalisiert, dass sie bereit und interessiert war, auch mit der neuen Bundesregierung die innerdeutschen Gespräche und Verhandlungen fortzuführen. Seit 1982 intensivierten sich die Regierungskontakte, die innerdeutschen Beziehungen wurden ausgebaut. Ein wesentlicher Schritt in der Vertragspolitik war 1986 der Abschluss des Kulturabkommens. Es eröffnete die Chance engerer Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur, Kunst, Bildung und Wissenschaft. Es sollte kulturelle und wissenschaftliche Begegnungen fördern und den Austausch von Publikationen, Informationen, kulturellen und künstlerischen Leistungen und Veranstaltungen ermöglichen (vgl. Beziehungen, 1990: 134ff.). Ohne Zweifel war der Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987 ein wichtiger Meilenstein in den deutsch-deutschen Beziehungen. Die Einladung zu diesem Besuch war bereits durch Bundeskanzler Helmut Schmidt erfolgt. Frühere Versuche, sie zu realisieren, waren von der sowjetischen Führung vereitelt worden. Noch 1986 hatte der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, erneut einen deutsch-deutschen Gipfel verhindert. Nicht nur aus der Sicht der DDR-Führung stellte dieser Besuch die definitive Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik dar. Auch wenn die Bundesregierung an ihrer, durch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag festgeschriebenen Rechtsposition keine Abstriche machte – der Bundeskanzler sprach dies während des Treffens in aller Öffentlichkeit an – sie musste, wollte sie weitere Fortschritte in den deutsch-deutschen Beziehungen erreichen, die faktische Anerkennung der DDR nunmehr auch symbolisch akzeptieren. Die äußeren Zeichen, Abschreiten einer Ehrenformation der Bundeswehr vor dem Kanzleramt, Abspielen der Nationalhymnen und Hissen der DDRFlagge, waren dem Protokoll eines Staatsbesuches sehr ähnlich. Die DDR-Führung unterstrich den offiziellen Charakter des Besuchs. Die Bundesregierung sprach demgegenüber von einem Arbeitsbesuch und versuchte, diesen Charakter
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Die NATO„Nachrüstung“ und ihre innenpolitischen Folgen
Die definitive Anerkennung der DDR
Zwiespältige Folgen des HoneckerBesuchs
Furcht vor einer Destabilisierung
auch protokollarisch so weit als möglich zum Ausdruck kommen zu lassen (Korte, 1998: 332ff.). Erst in der Rückschau wird deutlich, dass der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik eine Wegscheide in den deutsch-deutschen Beziehungen markierte. Als „Investition in die Zukunft“ (Carl-Christian Kaiser, in: Die Zeit vom 18.9.1987) dauerhaft gefestigter deutsch-deutscher Beziehungen geplant, erwiesen sich seine Folgewirkungen als zwiespältig. Unverkennbar waren positive Effekte. Die politischen Kontakte bis hin zu Städtepartnerschaften verstärkten sich. 1988 setzte ein bis dahin unbekannter „Polittourismus“ bundesdeutscher Politiker in die DDR ein. Gespräche mit Erich Honecker wurden zu einer Art deutschlandpolitischem Gütesiegel für Landesund Bundespolitiker aller Parteien (Potthoff, 1995: 677ff.). Der beiderseitige Reiseverkehr nahm sprunghaft zu und immer mehr Menschen unterhalb des Rentenalters konnten zu – meist großzügig ausgelegten – „besonderen Familienangelegenheiten“ Verwandte im Westen besuchen. Die psychologischen Folgewirkungen dieser Entwicklung waren erheblich. Der Besuch im Westen war für die meisten jüngeren Reisenden ein Schock. Er führte ihnen vor Augen, wie weit die DDR vom ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand der Bundesrepublik entfernt war – ganz zu schweigen von den persönlichen Freiheiten und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht zuletzt diese massenhafte Erfahrung trug mit dazu bei, dass die von der Sowjetunion ausgehende Reformbewegung in der DDR eine breite Anhängerschaft fand. Die SED-Führung unterschätzte die Dynamik der von der Sowjetunion ausgehenden Prozesse. Sie glaubte, das erworbene internationale Prestige, das später noch durch einen Staatsbesuch Erich Honeckers in Frankreich gefestigt wurde, werde ihr Rückhalt bei ihrem Versuch verschaffen, einen „Sozialismus in den Farben der DDR“ in deutlicher Abgrenzung gegen die Sirenenklänge der Reformer in Moskau zu kreieren. Ähnlich wie Anfang der 1980er-Jahre, als sie mit den Regierungen in Bonn eine informelle „Koalition der Vernunft“ gegen die Auswirkungen des erneut ausgebrochenen Kalten Krieges zu schmieden versuchte, glaubte sie jetzt gegenüber den Veränderungen in der Sowjetunion auf Distanz gehen zu müssen. Nur verkannte sie, dass sie diesmal nicht auf eine stillschweigende Sympathie der bundesdeutschen Politik für ihre Position rechnen konnte. Die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik hatte sich von den Reformanstrengungen faszinieren lassen, die in der Sowjetunion auf den Weg gebracht worden waren und stand der reformfeindlichen Haltung der SED-Führung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Zwar befleißigte sich die Bundesregierung öffentlich einer sehr zurückhaltenden Einstellung gegenüber der SED-Führung, ließ aber bei verschiedenen Gelegenheiten erkennen, dass sie die Verschärfung der innenpolitischen Situation in der DDR und die Verfolgung der Opposition nicht billigen könne. Gleichwohl setzte sie in der Praxis auf stille Diplomatie (Korte, 1998: 381ff.; Potthoff, 1995: 753ff.). Die Bundesregierung betrachtete, wie es Helmut Kohl in seinem Bericht zur Lage der Nation 1988 ausdrückte, die „inneren Schwierigkeiten des politischen Systems der DDR mit Sorge“. Sie könne aber kein Interesse daran haben, dass diese Schwierigkeiten „weiter zunehmen“ (Texte zur Deutschlandpolitik III/6, 1988: 472f.).
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Hinter dieser Zurückhaltung stand die generelle politische Einschätzung, dass eine Destabilisierung der DDR ungeahnte Risiken in sich berge. Wolfgang Schäuble hat diese Auffassung Anfang 1989 dahingehend zusammengefasst, dass dies „gerade an einer besonders neuralgischen Stelle, wie es Deutschland ist“, Reaktionen auslösen würde, „an denen niemandem gelegen sein kann“ (Texte zur Deutschlandpolitik III/7, 1989: 43ff.). Trotz der insgesamt positiven Bilanz der Deutschlandpolitik wurde nach dem Besuch von Erich Honecker in Bonn und der anschließenden Verhärtung der Positionen der SED-Führung deutlich, dass die Bundesregierung, ebenso wenig wie die SPD-Opposition, über eine zukunftsweisende Konzeption verfügte. Widersprüche und Unklarheiten wurden offenkundig, als die weltpolitischen und deutschlandpolitischen Rahmenbedingungen sich mit zunehmender Dynamik zu verändern begannen. Ähnlich wie die Sozialdemokraten – wenn auch aus anderen Gründen – geriet die Bundesregierung mit ihrer Politik, die sich darauf konzentrierte, menschliche Probleme zu regeln, in Schwierigkeiten, weil das innergesellschaftliche Gefüge in der DDR und den sozialistischen Ländern sich zu verändern begann. Weder Regierung noch Opposition hatten ein Konzept, wie man dem Prozess der Emanzipation der Gesellschaft vom Parteistaat in der DDR und Mittel-Osteuropa begegnen könne, ohne den Pakt der Vernunft mit den Machthabern aufzukündigen. Für die Grünen mit ihrer eindeutigen Parteinahme für die Opposition und die sich entwickelnde Bürgerbewegung stellte sich dieses Problem nicht – sie hatten freilich auch nicht die Aufgabe, Realpolitik betreiben zu müssen.
Fortbestehende Differenzen in der CDU/CSU über die Ost- und Deutschlandpolitik
2.4.4 Widersprüche und Beschränkungen der Ost- und Deutschlandpolitik Die Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen changierte in je unterschiedlicher Weise zwischen dem normativen Auftrag des Grundgesetzes, dem Festhalten an Rechtspositionen und politischer Alltagspragmatik. Mit der Dauer der Teilung Deutschlands in zwei Staaten und Gesellschaften erschien es immer unwahrscheinlicher, dass es gelingen werde, die Forderung der Präambel des Grundgesetzes, die Einheit in Freiheit, zu verwirklichen, zumal diese Zielformulierung niemals mit der Option verbunden war, die eigenen normativ begründeten Staats- und Gesellschaftsvorstellungen aufzugeben. Kein führender Politiker hätte es, zumal nach dem einschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag, je gewagt, offen einen Verzicht auf die Wiedervereinigung zu fordern, auch wenn sie längst als Ziel der Tagespolitik ad acta gelegt worden war. Die Bundesrepublik forderte die Achtung der Menschenrechte ein, auf die sich die Vertragsstaaten der KSZE verpflichtet hatten. Alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik konzentrierten ihre Phantasie darauf, die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen, um die Zweistaatlichkeit so erträglich wie möglich zu machen und nach Kräften dazu beizutragen, die Lage der Menschen in der DDR zu verbessern. Sowohl die sozial-liberale Koalitionals auch ihre Nachfolgerin
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Widersprüche der Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik
Wandel der politischen Rahmenbedingungen der Ostund Deutschlandpolitik durch die Reformen in der Sowjetunion
Zurückhaltende und vorsichtige Reaktion von Bundesregierung und Opposition auf die sich abzeichnende „Wende“ in der DDR
vermochten jedoch die einer solchen Politik innewohnende Zweideutigkeit nicht zu überwinden: Das Festhalten an Rechtspositionen und der eigenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung und das Ziel der Vereinigung schlossen sich unter den Bedingungen der Entspannungspolitik, die keine wirkliche Überwindung des Kalten Krieges darstellte, aus. Regierungsparteien und SPD-Oppositon verkannten, dass es einen merkwürdigen Widerspruch in ihrer Politik gab, einen Widerspruch, der sich in den folgenden Jahren noch verschärfen sollte. Die Ausgangsüberlegung der Ost- und Deutschlandpolitik, wie sie Egon Bahr in seiner berühmten Rede von 1963 in Tutzing vorgedacht hatte: Wandel durch Annäherung, galt nicht mehr. Die Politik des Interessenausgleichs führte zwar noch immer zu einem Wandel, sprich zu Verbesserungen für die Menschen, zugleich aber in wachsendem Maße auch zu einer ungewollten Festigung der orthodoxen Regime in Mittel-Osteuropa und der DDR. Ost und Deutschlandpolitik blieb auch nach Helsinki ausschließlich Regierungspolitik. Der „Korb 3“ der Schlussakte der KSZE-Konferenz, Menschenrechte, Freizügigkeit und Informationsfreiheit, wurde zwar immer wieder eingefordert, das bedeutete aber keineswegs, dass man sich erkennbar mit denen solidarisiert hätte, die in der DDR die Ergebnisse von Helsinki einklagten. Anders verhielt es sich in den mittel-osteuropäischen Ländern. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Opposition in der DDR äußerst klein und marginal war und zudem noch Themen aufwarf, mit denen man in der eigenen Gesellschaft seine Schwierigkeiten hatte, wie radikale Abrüstung, Umweltschutz, Basisdemokratie, Solidarität mit der „Dritten Welt“. Die Honecker-Führung wusste diesen Widerspruch wohl zu nutzen. Er wurde allerdings erst offenkundig, als die Sowjetunion unter Gorbatschow das politische Ruder herumwarf und die SED-Führung begann, sich gegen die Einflüsse von Glasnost und Perestroika durch wachsende Repression zu schützen. Der Wandel in der Sowjetunion brachte nicht nur die alten politischen und Bündnisstrukturen in Unordnung, er hatte vor allem einen tief greifenden Einfluss auf die innere Befindlichkeit der „realsozialistischen“ Gesellschaften. Bislang marginalisierte Dissidenz- und Oppositionsgruppen gewannen mit ihrem Denken Einfluss bis weit in die Reihen der regierenden kommunistischen Parteien und bereiteten den Boden für neues Denken, neue Formen politischer und sozialer Interessenvertretung und wachsende nationale Eigenständigkeit. All dies bedeutete eine ernste Gefahr für das Machtmonopol der Parteiführungen. Auch wenn in den Jahren 1987/88 niemand den Kollaps dieser Systeme vorhersehen konnte, hatten sich die Rahmenbedingungen für die Ost- und Deutschlandpolitik dramatisch gewandelt, ohne dass sich dies in Bemühungen niedergeschlagen hätte, ähnlich wie am Beginn der 1960er-Jahre, neue Politikkonzepte zu erarbeiten, die der veränderten Situation gerecht geworden wären. Auf die Umwälzung in der DDR reagierten Regierung und Opposition mit gewohnten Mustern: Man mahnte mehr Liberalität an, war im Übrigen aber bereit, sich „im Interesse der Menschen“ mit den jeweiligen Partei- und Staatsführungen zusammenzusetzen. Die Bundesregierung begrüßte im November 1989 die angekündigte neue Reiseregelung der SED-Führung unter Egon Krenz – jene Regelung, die zum unmittelbaren Anlass für die Implosion des politischen Systems werden sollte. In der Tat: im Frühjahr oder auch Sommer des Jahres 1989
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hätte sie weitgehende Zustimmung gefunden, im November brachte sie die Unzufriedenheit auf den Siedepunkt, sodass der Parteiführung aus ihrer Sicht nur noch die Kapitulation, die Öffnung der Mauer, blieb. Politiker aller Parteien taten sich anfangs schwer, auf die neue Situation zu reagieren. Die im westlichen Ausland wachsenden Zweifel an der Bündnistreue der Deutschen mussten zerstreut werden. Die Reaktionen auf die Versuche der Bundesrepublik, Anfang 1989 sicherheitspolitische Eigenständigkeit in der Frage der Stationierung neuer Kurzstreckenraketen zu erlangen, erst recht aber die Reaktion der Bundesregierung auf den Zusammenbruch der SED-Herrschaft Ende des Jahres 1989, ließen erkennen, dass, trotz aller Anpassungsfähigkeit und oft auch vorauseilendem Gehorsam, in den zurückliegenden Jahrzehnten ein latentes Misstrauen gegenüber den Deutschen erhalten geblieben war. Die bundesdeutsche Sozialdemokratie, genauer einige ihrer maßgeblichen Sicherheitspolitiker, hatten das Ziel des Wandels durch Annäherung aus den Augen verloren. Sie begriffen nicht, dass sich – nicht zuletzt als Folge der von ihnen selbst eingeleiteten Politik – in der DDR ein sozialer und kultureller Wandel vollzogen hatte, dass die Gesellschaft, sehr zögerlich vorerst, begann, sich in ihren eigenen Bahnen zu bewegen und ihre Rechte gegenüber dem Parteistaat einzufordern. Das Denken war über weite Strecken in sicherheitspolitischen Kategorien befangen. Dazu brauchte man die Zusammenarbeit mit der SED-Führung. Als der SED die Macht entglitt, stand man diesem Phänomen weitgehend hilflos gegenüber. Keine der politischen Kräfte der Bundesrepublik war auf eine Situation vorbereitet, in der innerhalb weniger Monate nicht nur das gesamte Gefüge bisheriger Deutschlandpolitik zusammenbrach, sondern auch das politische System des „realen Sozialismus“ selbst, in der plötzlich die realpolitisch schon abgeschriebene Frage der Wiedervereinigung auf der Tagesordnung stand, die man, wenn überhaupt, ins nächste Jahrhundert verlegt hatte und in der die Hegemonialmacht Sowjetunion es zuließ, dass ihr Imperium zerfiel. Das nur noch als deklaratorisches ceterum censeo empfundene Beharren auf dem Ziel der Einheit wurde zur Leitlinie von Realpolitik. Die Ost- und Deutschlandpolitik beruhte bis Ende des Jahres 1989 auf einer Fazit der Ost- und übereinstimmenden Analyse der weltpolitischen Konstellation. Die deutsche Deutschlandpolitik Einheit schien nur im Gefolge einer Überwindung der Blöcke und somit allenfalls als Fernziel realistisch. Für die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik bedeutete dies: 1. Das primäre Ziel war nicht die Wiedervereinigung, sondern das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen. Dass die DDR-Bürger, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten, sich für gleiche Verhältnisse wie in der Bundesrepublik einsetzen würden, stand für die meisten Beobachter nicht ernsthaft in Frage. 2. Die Deutschlandpolitik rangierte hinter der Ostpolitik. Das primäre Ziel war die Schaffung eines modus vivendi und die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn. Nur wenn dies dauerhaft gelang, gab es überhaupt Chancen, die Verhältnisse in Deutschland zu verbessern.
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3. Die Deutschlandpolitik rangierte hinter der Westpolitik. Nur in einer europäischen Friedensordnung, über deren Gestalt nur sehr vage Vorstellungen existierten, erschien die deutsche Frage lösbar. Ein deutscher Alleingang erschien weder aussichtsreich noch wünschenswert. Keine Bundesregierung hat die Westbindung je ernsthaft in Frage gestellt. 4. Ostpolitik und Deutschlandpolitik waren nur möglich, wenn man die politischen Verhältnisse in den sozialistischen Ländern akzeptierte, wie sie waren. Nach der Konferenz von Helsinki, die der Opposition in Mittel-Osteuropa das Recht auf Dissens verbriefte (Charta 77), musste diese Politik in einen Zielkonflikt geraten, standen doch die neuen Oppositionsgruppen für eben jene demokratischen Verhältnisse, die man mit der Ostpolitik zu erreichen suchte. Nicht zu Unrecht haben Dissidenten in diesen Ländern den westlichen Politikern und Intellektuellen vorgeworfen, dass sie zu einseitig auf die herrschende politische Klasse gesetzt hätten. Für die DDR stellte sich das insofern anders dar, als es eine erkennbar strukturierte politische Opposition vor dem Jahre 1989 kaum gab. 5. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung und der Opposition hat in den Jahren nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow die Dramatik der Entwicklung verkannt. Die Sprengkraft, die die Idee eines „Europäischen Hauses“ für eine geteilte Nation enthielt, wurde allen Zeitgenossen erst 1989 deutlich. 6. Die Chance, den Auftrag der Präambel des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, in weniger als einem Jahr zu realisieren, bedeutete jedoch nicht das Ende der Deutschlandpolitik. Der 3. Oktober 1990, der Tag der staatlichen Vereinigung, war erst der Beginn eines langen Prozesses des Zusammenwachsens zweier Gesellschaften, die 45 Jahre unter völlig verschiedenen ökonomischen, politischen, sozialen und psychologischen Bedingungen gewachsen sind. In diesem Sinne gibt es weiterhin eine Deutschlandpolitik, nur ist sie jetzt Teil der Innenpolitik, die dafür zu sorgen hat, dass nach der politischen auch die gesellschaftliche Spaltung überwunden wird.
2.5
Furcht vor einer Destabilisierung der Lage in Deutschland und Europa
Von der Zweistaatlichkeit zum vereinten Deutschland: Die deutsche Frage als europäisches Problem
Die Ereignisse des Jahres 1989 veränderten alle sicher geglaubten Rahmenbedingungen deutscher und europäischer Politik innerhalb weniger Monate. Alle bisherigen, in Jahrzehnten entstandenen Sicherheiten gerieten in den Strudel der revolutionären Ereignisse in den sozialistischen Ländern und der DDR. Das Denken aller Beteiligten wurde von der Furcht bestimmt, die Ereignisse könnten aus dem Ruder laufen. Bereits vor 1989 war erkennbar, dass sich die Entwicklung in Europa in eine neue Richtung bewegen werde. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow hatte seit 1987 die Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ in die Debatte gebracht. Auch wenn seine diesbezüglichen Aussagen recht blumig waren, lie66
ßen sie doch einen fundamentalen Wandel der sowjetischen Europapolitik erkennen(Gorbatschow, 1987: 255). Auch wenn die Interessen der Sowjetunion an einer westlichen Unterstützung ihres inneren Modernisierungsprozesses und einer Entlastung von den exorbitanten Rüstungslasten Pate gestanden haben dürften, war doch damit eine neue Richtung für die Entwicklung des Ost-WestVerhältnisses signalisiert, wie sich auch in sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffen zeigte. Wenn über ein europäisches Haus mit verschiedenen Wohnungen und Eingängen, aber einer vereinbarten Hausgemeinschaft philosophiert wurde (Gorbatschow, 1987: 253), dann konnte die deutsche Frage nicht ausgelassen werden. Hier verteidigte Gorbatschow den status quo, trat für eine weitere Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen ein und verwies im Übrigen die deutsche Frage an die Geschichte. Allerdings war deutlich erkennbar, dass Gorbatschow, anders als die SED, die seit 1974 die Frage der Nation für endgültig zu Gunsten der Klassennation DDR gelöst hielt, das Problem einer zukünftigen staatlichen Form der deutschen Nation offen hielt. Die Politik von Glasnost und Perestroika und die Rede vom europäischen Haus ließen im sowjetischen Imperium die Hoffnung auf innenpolitische Veränderungen und größte nationale Unabhängigkeit wachsen. Besonders für die DDR, die sich an der Konfliktlinie von Ost und West in einer prekären Lage befand und einen erheblichen Teil ihrer inneren Stabilität lange Zeit aus dieser Konfrontationssituation bezogen hatte, bedeuteten beide Aspekte der sowjetischen Politik eine potentielle Gefährdung. Insofern hatte die ablehnende Haltung der SED-Führung eine gewisse Logik: Was würde von der DDR bleiben, wenn diese Ideen Gorbatschows Wirklichkeit würden. Beides, die Reformpolitik in der Sowjetunion und die ablehnende Haltung der SED-Führung, stärkten die latente Unzufriedenheit in der DDR. Drei entscheidende äußere Faktoren für die wachsende Unruhe und die anschließende, schnell anschwellende Fluchtbewegung, die zum Auslöser des Umbruchs werden sollte, waren der Wahlsieg von Solidarnosc in Polen im Frühjahr, der zu einer nichtkommunistischen Regierung führte, das Massaker der chinesischen Volksbefreiungsarmee auf dem Tienanmen-Platz in Peking im April und die Ankündigung der ungarischen Regierung im Mai 1989, die Grenzbefestigungen zu Österreich schrittweise abzubauen. Innere Faktoren, wie eine erkennbare Verschlechterung der Versorgungslage und die gefälschten Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 kamen hinzu. Wachsende Unruhe in der DDR und steigende Flüchtlingszahlen ließen nicht nur bei der Bundesregierung die Alarmglocken schrillen. Die Bundesregierung versuchte mit ihren Kräften eine Destabilisierung in der DDR zu verhindern und ihre östlichen Partner von der Ehrlichkeit dieser Absicht zu überzeugen. So äußerte Helmut Kohl gegenüber Michail Gorbatschow während dessen Besuchs in Bonn am 12. Juni 1989, dass die Bundesrepublik nicht an einer Destabilisierung der DDR interessiert sei. Gegenwärtig trage aber Generalsekretär Honecker selbst zur Destabilisierung der DDR bei, weil er nicht bereit sei, Veränderungen durchzuführen“ (Deutsche Einheit, 1998: 283). Auch nach dem dramatischen Anstieg der Flüchtlingsbewegung und der wachsenden Unruhe in der DDR, versicherte die Bundesregierung ihren Ge-
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Die Idee des „europäischen Hauses“
Wachsende Unruhe in der DDR
Kontakte der Bundesregierung zur DDR-Führung
Bericht zur Lage der Nation am 8. November 1989
Das „Zehn-PunkteProgramm“ Helmut Kohls vom 28. November 1989
sprächspartnern immer wieder, dass sie nichts dazu beitragen wolle und dass es nicht im Interesse der Bundesrepublik liege, „dass die Entwicklung in der DDR außer Kontrolle gerate.“ Interesse der Bundesrepublik sei es vielmehr, wie Bundeskanzler Kohl den sowjetischen Staatschef in einem Telefongespräch am 13. Oktober, wenige Tage vor dem Sturz Honeckers, wissen ließ, „dass die DDR sich dem Kurs Gorbatschows anschließe und dass die Menschen dort blieben“ (Deutsche Frage, 1998: 450). Dies war u.a. der Tenor eines ersten Telefongesprächs zwischen Bundeskanzler Kohl und dem neuen SED-Generalsekretär, Egon Krenz, am 26. Oktober 1989, in dem Kohl sein Interesse bekundete, alles zu verhindern, was eine „ruhige und vernünftige Entwicklung“ in der DDR unmöglich mache (Potthoff, 1995: 975; Deutsche Einheit, 1998: 468f.). Noch am 8. November 1989 anlässlich seines jährlichen Berichts zur Lage der Nation sprach der Bundeskanzler nur in sehr allgemeinen Floskeln von der sich abzeichnenden Chance einer europäischen Friedensordnung. Er sicherte die Unterstützung der Bundesregierung bei den demokratischen Veränderungen in der DDR zu, entwickelte dafür eine Reihe konkreter Überlegungen, die von einem Ausbau der Jugendbegegnungen, der Wissenschaftskontakte oder der Städtepartnerschaften, alles bewährte Instrumente innerdeutscher Politik seit fast zwanzig Jahren, reichten. Nach der routinemäßigen Feststellung, dass das Ziel der Präambel des Grundgesetzes, die „Wiedervereinigung in Freiheit und die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch alle Deutschen“ die oberste Leitlinie der Politik der Bundesregierung bleibe, folgte die Zusage umfassender Hilfe bei der Umgestaltung der DDR und die Erklärung, mit allen politischen Kräften dort zusammenarbeiten zu wollen. Erst am Ende des Jahres 1989 hatten die Ereignisse in der DDR eine solche Dynamik angenommen, dass eine Überwindung der Zweistaatlichkeit Deutschlands nach Jahrzehnten der Trennung eine ernsthafte Option darstellte. Die drei westlichen Mächte mussten sich darüber klar werden, ob ihre stets öffentlich bekundete Bereitschaft Bestand hatte, ein wiedervereinigtes Deutschland nicht nur zu akzeptieren, sondern eine Wiedervereinigungspolitik aktiv zu unterstützen. Die Regierungen der drei Westalliierten einte im Herbst 1989 die Furcht vor Instabilität in Europa. Durch den Aufruhr in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern veränderte sich das Koordinatensystem der europäischen Politik. Die Folgen und mögliche destabilisierenden Wirkungen dieser Entwicklung lagen im Dunkel. So verwundert es nicht, dass der Bewahrung der Stabilität – und damit auch der weiteren Existenz der DDR – größte Bedeutung zugemessen wurde. Als die Straßendemonstrationen in Leipzig und Dresden aber eine wachsende Unterstützung innerhalb der Bevölkerung der DDR für eine rasche Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands anzeigten, war eine Neubestimmung westlicher Positionen unvermeidlich. Sie wurde durch das Verhalten der Bundesregierung nicht gerade erleichtert. Das Agieren der Bundesregierung wurde sowohl in London als auch in Paris mit Distanz und verhaltendem Misstrauen verfolgt. Insbesondere das „Zehn-PunkteProgramm“ Bundeskanzler Kohls vom 28. November 1989 (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 134/1989), das weder mit dem ei-
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genen Außenminister noch mit den Verbündeten, vor allem nicht mit Frankreich abgestimmt worden war, schien anzuzeigen, dass es mit der bislang geübten Zurückhaltung deutscher Außenpolitik ein Ende haben könne. Auch die Tatsache, dass der Plan eine klare Aussage zur endgültigen Anerkennung der Nachkriegsgrenzen vermissen ließ, trug nicht zur Akzeptanz bei. (Noch bis in den Sommer 1990 hinein vermied die Bundesregierung mit Rücksicht auf die Vertriebenenverbände jede eindeutige Stellungnahme.) Nach dem welthistorischen Umbruch der Jahre 1989 bis 1991 erscheint das Zehn-Punkte-Programm aus der Rückschau eher zurückhaltend und zögerlich. In der konkreten Situation des November 1989 war es für viele Partner der Bundesrepublik provokativ (Dinan, 1994: 162) und sorgte für Unruhe und Unsicherheit. Der Plan trug entscheidend dazu bei, den Weg in Richtung einer Verschiebung der politischen Bewegung von einer Freiheits- und Demokratie- zu einer Wiedervereinigungsbewegung zu beschleunigen und zu unterstützen, war also insoweit ein entscheidender Beitrag zur Destabilisierung der DDR, die die Bundesregierung bisher zu vermeiden getrachtet hatte. Aus heutiger Sicht erscheint das Programm merkwürdig zurückhaltend: Der DDR, die sich nur wenige Monate später selbst auflösen würde, bot der Kanzler eine enge Zusammenarbeit in allen Bereichen an. Dies gelte insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Kooperation und den Umweltschutz. Die Hilfe und Zusammenarbeit könne umfassend ausgeweitet werden, „wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird.“ Das Machtmonopol der SED müsse aufgehoben werden. Der entscheidende Satz lautete: Die Bundesregierung ist „bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesdeutsche Ordnung in Deutschland zu schaffen.“ Dies setze aber „eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus“. Dann könnten stufenweise neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen. Das Ziel einer Wiedervereinigung wurde bewusst vage formuliert: „Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“ Schließlich wurde mit Blick auf die europäischen Nachbarn deutlich formuliert, dass die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen in den gesamteuropäischen Prozess eingebettet bleibe. „Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung“ (Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 177. Stzg. vom 28.11.1989, Sten. Ber.: 13509ff.). In einem Memorandum für Bundeskanzler Kohl, verfasst von Horst Teltschik, einem wichtigen außenpolitischen Berater im Kanzleramt, wurde die Reaktion der wichtigsten Verbündeten folgendermaßen zusammengefasst: USA „durchgehend positiv“; Großbritannien „kritischer“, wobei vor einem überstürzten Prozess in Richtung deutscher Einheit gewarnt werde; die offizielle französische Reaktion sei „konstruktiv“; die sowjetischen Äußerungen weniger negativ, als es zunächst den Anschein gehabt hätte. Verwiesen wird darauf, dass auch in
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Trübung des deutschfranzösischen Verhältnisses
Widerstand der britischen Regierung gegen die Politik der Bundesregierung
den westlichen Hauptstädten die „Grenzfrage“ mit der weiteren Entwicklung in Verbindung gebracht werde (Deutsche Einheit, 1998: 577). Die Ereignisse führten zu einer ernsthaften Trübung des deutschfranzösischen Verhältnisses. Der französische Staatspräsidenten Mitterand war insbesondere besorgt, dass die Bundesrepublik ihr Bekenntnis zu Europa modifizieren könnte. Der EG-Sondergipfel in Paris am 18. November und auf dem Gipfeltreffen in Straßburg konnte diese Besorgnis nur zum Teil ausräumen. Mitterand versuchte bei einem Besuch in Moskau Anfang Dezember 1989 einer allzu dynamischen Entwicklung der Dinge in Deutschland vorzubeugen. Sogar die Idee eines demonstrativen gemeinsamen Besuchs des französischen und sowjetischen Staatspräsidenten in der DDR wurde ventiliert (Zelikow/Rice, 1997: 201). Von einem, in seinen Begleiterscheinungen makabren Besuch in der DDR am 20./21. Dezember 1989 ließ sich François Mitterand nicht abbringen. Es sollte bis März 1990 dauern, bis sich die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Regierungen entspannten. Eine der konkreten Folgen dieses anfänglichen Widerstandes war eine Intensivierung des europäischen Vereinigungsprozesses in der Absicht, Deutschland, wenn seine Einheit schon nicht zu verhindern sei, so fest als möglich dauerhaft einzubinden. Auf den zwei EG-Sondergipfeln in Paris und in Straßburg wurden die Weichen in diese Richtung gestellt. Das Ergebnis waren die Beschlüsse des Gipfeltreffens von Maastricht, die dem europäischen Einigungsprozess eine unerwartete neue Dynamik verliehen. Die Motive dieser Politik waren durchaus mit denen zu vergleichen, die am Anfang des europäischen Integrationsprozesses gestanden hatten: Eindämmung durch Integration. Auch in Großbritannien stießen die eher auf eine lange Zeitperiode zielenden Vorstellungen des Bundeskanzlers zuerst auf wenig Gegenliebe. Während die USA sehr früh eine positive Haltung zur deutschen Einheit bezogen und das Hauptinteresse Frankreichs auf eine Begrenzung und Kanalisierung der deutschen Dynamik und die Garantie der polnischen Westgrenze gerichtet war, verhielt sich Großbritannien zunächst in Hinsicht auf eine bevorstehende Vereinigung ablehnend. Die britische Premierministerin, Margaret Thatcher, fürchtete, ein neutrales Deutschland könne eine „loose cannon“ in Europa werden, die ein Loch in gegenwärtige NATO-Strukturen schießen könnte (The Economist vom 27.1.1990: 65). Sie machte aus ihrer Abneigung gegen eine, aus ihrer Sicht, überstürzte Vereinigungspolitik keinen Hehl. Die Diskussion darüber sei verfrüht und verfehlt (Thatcher, 1993: 1097ff.). Ihr ging es vorerst nur um die Durchführung freier, demokratischer Wahlen in der DDR. Premierministerin Thatcher sah in einem vereinten Deutschland eine potentielle Bedrohung der Stabilität und des Gleichgewichts in Europa (Thatcher, 1993: 790f.; 813ff.) – eine Auffassung, mit der sie nicht alleine stand. Die britische Politik war, ähnlich wie die amerikanische und französische, vordringlich von Sicherheitsinteressen bestimmt – freilich kam man zu anderen Ergebnissen. Die britische Regierung plädierte während des gesamten Prozesses für eine Stärkung der transatlantischen Komponente und legte sich, als die deutsche Einheit unabweisbar war und die Länder Osteuropas ihre politische Souveränität wiedererlangten, auf den Verbleib der Bundesrepublik in der NATO und auf eine Erweiterung der EG anstatt ihrer Vertiefung fest. Premierministerin
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Thatcher hielt sich dabei an die bewährten Strukturen und sah keinen Anlass, im sicherheitspolitischen Bereich gesamteuropäischen Institutionen wie der KSZE eine Rolle bei der zukünftigen Neuordnung in Europa zu überantworten. Entgegen den Vorschlägen der französischen Regierung von Mitte November 1989, die europäische Integration zu vertiefen, um das vereinigte Deutschland fest in multinationale Verträge und Institutionen einzubetten, war Thatcher der Ansicht, die EG sollte „statt mehr Integration engere Beziehungen zu den in Osteuropa hervortretenden Demokratien anstreben“ (FAZ vom 15.11.1989). Im Zusammenhang mit diesen Vorbehalten stand auch die Ablehnung des von Bundeskanzler Kohl vorgeschlagenen Beitritts der DDR zur Europäischen Gemeinschaft als 13. Mitgliedsland. Zwar begann ab Februar 1990 eine diplomatische Offensive Großbritanniens, um auch die britischen Sympathien für die deutsche Einheit zu unterstreichen und um in der Deutschland-Frage noch mitbestimmen zu können. Doch waren zu diesem Zeitpunkt die Weichen für die Entwicklung neuer politischer Schwerpunkte bereits gestellt: Durch Präsident Mitterand auf dem DezemberGipfel in Straßburg bezüglich der Europäischen Wirtschafts-, Währungs- und auch politischen Union sowie durch das Programm des US-Außenministers James Baker bezüglich des Wandels der NATO von einem rein militärischen in ein mehr politisches Bündnis und hinsichtlich einer engeren Kooperation zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft. Lediglich die USA vertraten eine prinzipiell positive Haltung zur Frage der deutschen Einheit. Sie waren aber gleichzeitig sorgsam darauf bedacht, das labile kooperative Verhältnis zur Sowjetunion nicht zu gefährden. So einigten sich der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der amerikanische Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen auf Malta Anfang Dezember 1989 darauf, keine übereilten Maßnahmen zu treffen, die die Nachkriegsordnung in Europa zerstören könnten. Dabei spielten Rücksichtnahmen auf den Reformkurs in der Sowjetunion ebenso eine Rolle, wie die Furcht vor einer Akzeleration der Ereignisse, die dann möglicherweise nicht mehr steuerbar seien. Auch wenn die Stabilisierung der Position Gorbatschows ein wichtiges Ziel der amerikanischen Diplomatie gewesen ist, hat dies die amerikanische Regierung nicht bewogen, die Entwicklung zu verlangsamen. Vielmehr war die BushAdministration eine treibende Kraft im deutschen Vereinigungsprozess. Aber auch in Washington machte sich gelegentlich die Furcht breit, die Entwicklung könne aus dem Ruder geraten und die deutsche Politik zu unbesonnenem Verhalten verführen. Außenminister Baker äußerte am 20. Dezember 1989 in einer Aktennotiz an den Präsidenten die Furcht, die Aktivitäten des Bundeskanzlers „könnten bei manchen allerdings erneut die Frage aufkommen lassen, ob der Kanzler durch seine innenpolitischen Interessen hinsichtlich der Vereinigung zu weit und zu schnell vorangetrieben wird; er entfacht Emotionen, die schwer zu kontrollieren sein werden“ (zit. nach: Zelikow/Rice, 1997: 215). Auf einem eigens einberufenen NATO-Gipfel in Brüssel am 4. Dezember 1989 betonte der amerikanische Präsident den Vorrang der Stabilität und stellte hinsichtlich der deutschen Einheit vier Prinzipien heraus. Wenige Tage später, am 12. Dezember, wiederholte der amerikanische Außenminister Baker bei seinem Deutschlandbesuch diese Positionsbestimmung:
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Unterstützung der Vereinigungspolitik durch die amerikanische Administration bei gleichzeitiger Sorge um politische Stabilität
NATO-Gipfel in Brüssel
1. Das Recht auf Selbstbestimmung müsse gewahrt werden, d.h. es sei letztlich an den Deutschen darüber zu bestimmen, ob und wie sie ihre Zukunft gestalten wollten. Die USA sollten zu diesem Zeitpunkt weder eine bestimmte Form der künftigen Einheit unterstützen noch ausschließen. 2. Die Vereinigung beider deutscher Staaten müsse sich im Kontext einer fortgesetzten Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber der NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft sowie mit gebührender Rücksicht auf die rechtliche Rolle und Verantwortung der alliierten Mächte vollziehen. 3. Im Interesse der politischen Stabilität und des Friedens in Europa könne die deutsche Einheit nur schrittweise erreicht werden. 4. Bezüglich der endgültigen Grenzen Deutschlands wurden die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki erneut hervorgehoben, die eine Veränderung der Grenzen in Europa nur im Einvernehmen aller Beteiligten vorsahen.
Haltung der Sowjetunion
Gemeinsame Positionen der drei Westmächte
Verfahrensfragen bei der abschließenden Regelung der deutschen Frage
Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die Beschwörung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen unter einem Vorbehalt stand: Ein Abschied der Bundesrepublik aus den westlichen Gemeinschaften war mit den Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten (und der westlichen Verbündeten) nicht vereinbar (Weston, 1990: 33). Die Reaktion der Sowjetunion war ebenfalls äußerst zurückhaltend. Vor dem Zentralkomitee der KPdSU am 9. Dezember erklärte Michail Gorbatschow, dass die UdSSR die DDR „mit aller Entschiedenheit“ unterstützen werde. Sie sei ein strategischer Verbündeter im Warschauer Pakt. Er wies alle Versuche des Westens zurück, die innere Entwicklung in der DDR von außen zu beeinflussen. Dem werde man entgegentreten (ND vom 11.12.1989: 1). Auch wenn diese Position wesentlich nach innen gewandt war, verwies sie doch auf eine unverkennbare Verunsicherung und Verärgerung über den Gang der Ereignisse. Insgesamt lassen sich während der ersten drei Monate nach dem Fall der Mauer einige gemeinsame Positionen der drei Westmächte feststellen. Einig war man sich in der Kritik am Tempo der sich anbahnenden Vereinigung. Nachdem die Versuche, für einen gewissen Zeitraum die Eigenstaatlichkeit der DDR zu wahren, durch den Druck der Ereignisse zum Scheitern verurteilt waren, folgte bei den europäischen Verbündeten das Bestreben, den Prozess unter Berufung auf die Bedeutung der ungeklärten Grenzfragen und auf die alliierten Rechte mitzubestimmen. Für alle drei Westmächte gab es keinen Zweifel daran, dass ein vereinigtes Deutschland Mitglied in der NATO sein müsse und eine Neutralität nicht in Frage käme. Die alte Funktion der NATO, die Bundesrepublik durch Integration in das Bündnis zu kontrollieren, sollte auch für das vereinte Deutschland wirksam werden. Nachdem sich Anfang Januar 1990 abzeichnete, dass eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht mehr hinauszuzögern war, musste ein Weg gefunden werden, um die Vier-Mächte-Rechte in einem ordentlichen Verfahren abzulösen. London, Paris und Moskau waren anfänglich versucht, die Verhandlungen als Gespräch der Vier Mächte über Deutschland zu organisieren. Vor allem die britische Regierung stand einer Beteiligung der Deutschen zunächst ablehnend gegenüber und wollte später höchstens die Formel „4+2“ akzeptieren.
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In der amerikanischen Administration war der Plan erarbeitet worden, die abschließenden Regelungen für Deutschland nicht in einer Friedenskonferenz, sondern in Verhandlungen der vier Siegermächte des II. Weltkrieges mit der Bundesregierung und einer demokratisch legitimierten DDR-Regierung zu klären. Damit antwortete sie auf den sich beschleunigenden Prozess, der durch den politischen Druck der DDR-Bevölkerung und die anhaltende massenhafte Übersiedlung außer Kontrolle zu geraten drohte, sich formierende Ansprüche kleinerer Staaten auf Mitsprache und auf die Vorbehalte der Bundesregierung gegen exklusive Entscheidungen der vier Mächte. Die Bundesregierung fürchtete vor allem, dass Moskau solche Gespräche zum Vorwand nehmen werde, um den Gang der Dinge zu verzögern. Anders als im Dezember 1989, als die Vertreter der vier ehemaligen Alliierten in Berlin zusammengekommen waren, was in Bonn auf leisen Missmut gestoßen war, wurde nun über eine gleichberechtigte Teilnahme der beiden deutschen Staaten an der Regelung ihrer Zukunft gesprochen. Nach der persönlichen Intervention Präsident Bushs in bilateralen Treffen mit Präsident Mitterand und Premierministerin Thatcher sowie intensiven Beratungen zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Außenminister gelang es schließlich, am Rande der „Open-Skies“-Konferenz der KSZE in Ottawa am 12. und 13. Februar 1990, eine Einigung über das Verfahren zu erzielen. Die beiden deutschen Staaten und die vier alliierten Mächte sollten die Bedingungen aushandeln, unter denen ein vereinigtes Deutschland seine volle Souveränität wiedererlangen könne. Die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA sowie der Bundesrepublik und der DDR hatten am Rande der KSZEKonferenz ein Treffen vereinbart, „um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten zu besprechen“. Diese sogenannte Ottawa-Formel bedeutete eine enge Begrenzung des Kreises der Staaten, die an der Regelung teilhaben sollten. Unter Berufung auf ihre Sicherheitsinteressen, die durch die Regelung der deutschen Frage berührt würden, forderte eine Reihe von Staaten vergeblich eine Beteiligung an den Gesprächen. Ein entscheidendes Problem war die Klärung der Frage der Mitgliedschaft des vereinten Deutschland im westlichen Bündnis. Während die NATO-Vertreter den Plan von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher unterstützten, der einen Verbleib Deutschlands in der militärischen Struktur der nordatlantischen Allianz, aber keine Ausweitung der NATO auf das Gebiet der DDR vorsah, wurden aus dem Kreis der Warschauer-Pakt-Staaten Stimmen laut, die ein nicht näher gekennzeichnetes neutrales Gesamtdeutschland ins Gespräch brachten. Die Zwei-plus-Vier-Gespräche begannen am 5. Mai 1990 in Bonn, wurden am 22. Juni 1990 in Ost-Berlin und am 17. Juli 1990 in Paris fortgesetzt und fanden schließlich am 12. September 1990 ihren Abschluss in Moskau, wo der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ unterzeichnet wurde. Nach anfänglichem Streit darüber, ob die äußeren und inneren Aspekte der Einheit getrennt zu behandeln seien, wogegen sich die Bundesregierung vehement wehrte, weil sie befürchtete, dass in diesem Falle auch nach der staatlichen
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KSZE-Konferenz in Ottawa
Das Problem der NATOMitgliedschaft
Die Zwei-plus-VierVerhandlungen zur Regelung der Einheit Deutschlands
Außenministertreffen der vier Siegermächte
Amerikanischsowjetisches Gipfeltreffen
Vereinigung de facto Vorbehaltsrechte anderer Staaten – unter Einschluss der Sowjetunion – verblieben, setzte sich die Bundesregierung mit ihrer Agenda durch. Sie enthielt vier Punkte: Grenzfragen, neue Sicherheitsstrukturen in Europa, das Berlin-Problem und die abschließende völkerrechtliche Regelung und Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und Verantwortlichkeiten (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 54 vom 8.5.1990). In Ost-Berlin fand am 22. Juni 1990 das zweite Treffen der Außenminister der beiden deutschen Staaten und der vier ehemaligen Siegermächte statt. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse präsentierte auf der Tagung einen Entwurf für die abschließende völkerrechtliche Regelung über Deutschland. Sie sah eine Begrenzung deutscher Streitkräfte auf maximal 250.000 Soldaten vor. In Bezug auf den militärpolitischen Status Deutschlands schlug der sowjetische Entwurf die Bestätigung einer Übergangsperiode von fünf Jahren vor, in der „alle internationalen Verträge und Abkommen gültig sind, die bis dahin von der DDR und der BRD abgeschlossen wurden“ (zit. nach: Kaiser, 1991: 237). Die Außenminister der Vereinigten Staaten und Großbritanniens widersprachen diesen Vorstellungen heftig. Sie bestanden darauf, dass die Einheit mit der vollen Souveränität Deutschlands einhergehen müsse. Den Vorschlag der Sowjetunion, nach der Vereinigung Deutschlands innerhalb von sechs Monaten die alliierten Truppen aus Berlin abzuziehen, lehnten die westlichen Außenminister entschieden ab. Die USA, Großbritannien und Frankreich waren allenfalls bereit, die Zahl ihrer Soldaten in West-Berlin zu reduzieren. Sie wollten ihre Truppen jedoch erst vollständig abziehen, nachdem die sowjetischen Soldaten das Territorium der DDR verlassen hatten. Die Frage der Bündniszugehörigkeit Gesamtdeutschlands blieb vorerst unbeantwortet, da die NATO erst über Anpassungen an die europäischen Veränderungen beraten wollte und eine Entscheidung des Parteikongresses der KPdSU noch ausstand. Ein weiterer kritischer Punkt hatte sich durch die Tags zuvor gefassten Beschlüsse des Deutschen Bundestages und die Volkskammer erledigt: die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Auch bei einem Gipfelgespräch der Präsidenten Gorbatschow und Bush am 31. Mai und 1. Juni in Washington konnte in Bezug auf die Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschlands keine Einigung erzielt werden, Gorbatschow hatte aber – nachdem er zuvor die abstruse Idee einer gleichzeitigen Mitgliedschaft Deutschlands in beiden Militärbündnissen verfolgt hatte – in den Verhandlungen angedeutet, dass die sowjetische Führung die Entscheidung einer gesamtdeutschen Regierung über eine Bündnismitgliedschaft tolerieren könnte – und das bedeutete unausgesprochen eine Mitgliedschaft in der NATO (Zelikow/Rice, 1997: 384). Die Amerikaner hatten ein ausgefeiltes Konzept vorgelegt, das die Lösung der Bündnisfrage mit den sowjetischen Sicherheitsinteressen zu verbinden suchte. In Präsident Bushs „Neun Punkten“ vom 4. Juni 1990 (Zelikow/Rice, 1997: 365) waren bereits die wesentlichen Zusicherungen deutscher und westlicher Selbstbeschränkung enthalten, die dann den Weg zur NATO-Lösung freimachten: Festlegung nationaler Obergrenzen für Truppen in der zentralen Region Europas, darunter in Deutschland, bei den Wiener Verhandlungen über Streitkräfteabbau; keine Stationierung von NATO-Truppen und Waffen auf dem Gebiet der DDR; Übergangslösung für einen weiteren Aufent-
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halt sowjetischer Truppen in der DDR; wirtschaftliche Vereinbarungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion; Übernahme von Kosten für die sowjetische Truppenpräsenz und Hilfe bei der Umsiedlung; eine Überprüfung der NATOStrategie, die den veränderten Verhältnissen in Europa gerecht werde und KSZEFolgekonferenzen über die Begrenzung von Streitkräften in Europa. Um die deutsche NATO-Mitgliedschaft für die Sowjetunion akzeptabel zu machen, musste sie mit einer Neudefinition der Rolle der NATO in der internationalen Ordnung einhergehen. Auf dem Treffen des Nordatlantikrats am 7. und 8. Juni unterstrich die „Botschaft von Turnberry“ die Entschlossenheit der NATO, die durch die grundlegenden Veränderungen gebotene Chance zu nutzen. In der Botschaft reichten die NATO-Mitglieder der Sowjetunion und allen anderen europäischen Staaten die „Hand zu Freundschaft und Zusammenarbeit“. Diese Formel fand Eingang in die „Londoner Erklärung“ des NATO-Gipfels vom 6. Juli 1990 zusammen mit anderen Vorschlägen zur Neuorientierung des Bündnisses (Europa Archiv Nr. 17, 1990: 456). Bei einer Begegnung zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Regierungschef wurde dann der letzte und entscheidende Schritt zur Einheit getan. Am 16. Juli 1990 trafen sich Bundeskanzler Kohl und der sowjetische Staatschef Gorbatschow in Stawropol im Kaukasus (Das Gesprächsprotokoll in: Deutsche Einheit, 1998: 1355-1367) zu Gesprächen über die militärische Stärke der Bundeswehr und die Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschland. Das Pariser Zwei-plus-Vier-Gespräch am 17. Juli 1990 war durch das Treffen zwischen Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl am Tag zuvor schon fast zur reinen Formsache geworden. Es gelang, sich auf die Festlegung der polnischen Westgrenze zu verständigen. Hans-Dietrich Genscher kündigte zum Abschluss der Gespräche an, dass innerhalb kürzestmöglicher Zeit nach Herstellung der Souveränität des vereinigten Deutschland der deutschpolnische Grenzvertrag unterzeichnet und dem gesamtdeutschen Parlament zugeleitet werden solle. In einer Fünf-Punkte-Erklärung wurden die Prinzipien einer vertraglichen Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze fixiert. Zu ihrer vierten und letzten Runde versammelten sich die Außenminister am 12. September in Moskau. Hier wurde in Anwesenheit von Michail Gorbatschow der Souveränitätsvertrag unterzeichnet. Der Vertrag enthält zehn Artikel, dazu einen Brief der beiden deutschen Außenminister mit der Versicherung an die UdSSR, dass das zukünftige Deutschland Vertrauensschutz für Lieferungen aus der DDR in die Sowjetunion leisten, sowjetische Kreditgeber schützen und Enteignungen aus der Zeit zwischen 1945 und 1949 nicht rückgängig machen werde, sowie eine Protokollnotiz über eine westliche Manöverbeteiligung auf dem Territorium der ehemaligen DDR (Die Verträge zu Einheit Deutschlands, 1990: 29ff.). In der Präambel wurde noch einmal auf die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin und auf die Beschlüsse der Kriegs- und Nachkriegskonferenzen bezug genommen und die „jüngsten historischen Veränderungen in Europa“ erwähnt, die es ermöglicht hätten, „die Spaltung des Kontinents zu überwinden“. Mit Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen, die Schlussakte der KSZE-Konferenz von Helsinki und die jeweiligen Sicherheitsinteressen wurde die Notwendigkeit betont, die Gegensätze
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NATO-Gipfeltreffen
Abschluss der Zweiplus-Vier-Gespräche
Regelungen des Zwei-plus-VierVertrages
endgültig zu überwinden und die Zusammenarbeit in Europa fortzuentwickeln. Gewürdigt wurde der Wille der Deutschen, „in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ... die staatliche Einheit herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ und als Staat „mit endgültigen Grenzen einen bedeutsamen Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa“ zu leisten. Die wichtigsten Elemente des sicherheitspolitischen Status Deutschlands sind die Anerkennung der Grenzen (Art. 1), der Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen (Art. 3), die Reduzierung der Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann und Regelungen für den sukzessiven Abzug der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen (Art. 4 und 5). Bezüglich des umstrittensten Aspekts der Einheit, der Mitgliedschaft in der NATO formuliert Art. 6 des Vertrages: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“
Damit war die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO gesichert. Die Souveränitätsformel, welche die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes ablöst, lautet (Art. 7): „(1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. (2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“
Da die Sowjetunion auf einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bestand, war die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente der beteiligte Staaten erforderlich. Auf Drängen des deutschen Außenministers wurde aber förmlich vereinbart, dass die vier ehemaligen Siegermächte ihre Vorbehaltsrechte bereits vor dem Abschluss des Ratifizierungsverfahrens mit dem Tag des Beitritts der DDR – also vom 3. Oktober 1990 an – suspendieren würden. Flankierend zum Souveränitätsvertrag vereinbarten die Bundesrepublik und die Sowjetunion einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“, mit dem die beiden Staaten an die „guten Traditionen ihrer Jahrhunderte langen Geschichte“ anzuknüpfen versprachen; ferner einen Stationierungs- und Abzugsvertrag, der die Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen bis zum Jahr 1994 festlegte. Schließlich regelte ein „Überleitungsab1 kommen“ die finanziellen Leistungen der Bundesregierung an die Sowjetunion. Was hier in wenigen Monaten gelang, war nicht weniger, als die Verabschiedung von der europäischen Nachkriegsordnung, die auf Konfrontation und 1
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Ein „Schönheitsfehler“ ist die Fortexistenz der u. a. gegen Deutschland gerichteten Feindstaatenklauseln (Art.53 und 107 der UNO-Charta). Die vier ehemaligen Siegermächte, auf deren Verlangen sie seinerzeit in die UNO-Charta aufgenommen worden waren, haben nicht ihre Bereitschaft erklärt, sich für die ersatzlose Streichung dieser beiden Feindstaatenklauseln einzusetzen.
der Spaltung des Kontinents und Deutschlands basierte. Dies bedeutete aber zugleich auch einen Abschied von den „cosy certainties on which the previous decades of foreign and security policy concertation had been based“ (Howorth, 1995: 321).
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Neujustierung der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik
Die Vereinigung Deutschlands ging einher mit einer Wiedervereinigung Europas. Die unausweichliche Neuordnung Europas hatte zwei zentrale Probleme zu bewältigen: Erstens musste das mit etwa 8o Millionen Einwohnern größte Land Europas, Deutschland, politisch, wirtschaftlich und militärisch in neuer Weise in die Gemeinschaft europäischer Staaten eingebunden werden, und zweitens galt es, nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, Wege zu eröffnen, aus der westeuropäischen eine gesamteuropäische Gemeinschaft zu formen. Dies bedeutete, die europäischen Institutionen, Europarat und Europäische Gemeinschaft für die sich herausbildenden neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa zu öffnen, ohne einen neuen Gegensatz mit der sich in einem rapiden Verfallsprozess befindlichen Sowjetunion und später Russland heraufzubeschwören. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hatte sich bis zum Jahre 1989 im festen Gefüge von „Jalta-Europa“ vollzogen, das Ost und West trennte. Trotz der in den Jahren seit der Schlusskonferenz der KSZE in Helsinki 1975 gewachsenen vielfältigen Verbindungen und der Entstehung internationaler Institutionen und Regime, die den „Eisernen Vorhang“ überbrückten, war die bipolare Struktur Europas das bestimmende Element. Die Bipolarität zwischen Ost und West hatte die nationalen, kulturellen und Alte und neue religiösen, historischen, ökonomischen und sozialen Bruchlinien im Europa der Bruchlinien Zwischenkriegszeit zugedeckt, nicht aber beseitigen können. Sie wurden, wie vor allem das jugoslawische Beispiel drastisch gezeigt hat, nach dem Zerfall des Kommunismus wieder freigelegt. Es war nicht zuletzt der, in den Einzelheiten durchaus problematischen Erweiterungspolitik der Europäischen Union zu verdanken, dass sie in Europa weit gehend befriedet werden konnten. Der Konflikt über die zukünftige politische, ökonomische und militärische Struktur Europas, die unterschwellige Verunsicherung angesichts der neuen Rolle des vereinigten Deutschland in Europa, die Haltung zu den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Systemzusammenbruchs im Osten, insbesondere die Furcht vor unvorhersehbaren Migrationsprozessen, die Hilflosigkeit und Uneinigkeit den Konflikten auf dem Balkan gegenüber, die Unsicherheit angesichts des geopolitischen Vakuums, das durch den Zerfall der Sowjetunion entstanden ist – dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, dass die (west)europäische Politik durch die Veränderungen in der Mitte und im Osten des Kontinents vor neue Herausforderungen gestellt wurde, die sie nur zum Teil lösen konnte.
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2.6.1 Die europäische politische Agenda seit Maastricht Neuer Verregelungsschub
Grundsätze der Europäischen Union
Dynamisierung durch die Wirtschafts- und Währungsunion
Die sichtbarste Konsequenz der Überwindung der Spaltung Europas war ein neuer Verregelungsschub, der mit der Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht (in Kraft getreten 1993) begann und über die Verträge von Amsterdam und Nizza, die Erweiterung der Europäischen Union auf zuerst fünfzehn und dann im Jahre 2004 fünfundzwanzig Mitglieder fortgesetzt wurde. Er sollte in der Verabschiedung eines Europäischen Verfassungsvertrages münden, der jedoch durch ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 vorerst gestoppt worden ist. Diese Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses nach dem Gipfel von Maastricht 1991, schuf 1993 einen einheitlichen Binnenmarkt, eine Wirtschafts- und Währungsunion ab 1999, kreierte eine, wenngleich nur mühsam funktionierende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und führte seit dem Ende der 1990er-Jahre zu einer bemerkenswerten Ausweitung der Agenda europäischer Politik in Bereiche, die seit dem Beginn moderner Staatlichkeit als Kernbereich souveränen staatlichen Handelns galten, wie der Innenund Justizpolitik: Die Voraussetzungen schuf der Vertrag von Amsterdam, der in Artikel 61 die Schaffung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ proklamierte. Trotz dieser neuen Dynamik kann aber nicht übersehen werden, dass die auf dem EG-Gipfel in Maastricht im Dezember 1991 beschlossenen Grundsätze einer Europäischen Union mit den ursprünglichen Vorstellungen eines supranationalen europäischen Staates kaum noch etwas gemein haben. Von Supranationalität ist keine Rede mehr. Die im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) praktizierte Kooperation hat nur eher lockere und fragile Formen gemeinsamer europäischer Politik, insbesondere auf dem Felde der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), zu Wege gebracht. Die in Maastricht und später in Amsterdam und Nizza beschlossenen Ergänzungen der Gemeinschaftsverträge bleiben Flickwerk: Die Schaffung eines UnionsBürgerrechts, die Ausweitung der bisherigen Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Felde der Kultur, Bildung und Berufsbildung (mit erheblichen Folgewirkungen für das föderative System der Bundesrepublik), der Gesundheit und transeuropäischer Netze (Verkehr, Telekommunikation, Gas- und Ölleitungen), die Schaffung eines „Ausschusses der Regionen“ und eines „Bürgerbeauftragten“, die auch nach dem Vertrag von Amsterdam noch immer bescheidene Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments u.a.m. blieben halbherzig, da sie in kein Gesamtkonzept eingebettet sind. Selbst der Begriff „föderativ“, der eine Richtung für die weitere Entwicklung weisen sollte, wurde auf Drängen Großbritanniens aus den Dokumenten verbannt. Der Versuch, einen entscheidenden qualitativen Schritt nach vorne zu wagen, ist mit dem (vorläufigen) Scheitern des europäischen Verfassungsprojekts storniert. Im „Vertrag über die Europäische Union“ ist wolkig von „einer immer engeren Union zwischen den Völkern Europas“ die Rede, „wo Entscheidungen so bürgernah wie möglich getroffen werden“. Wenn Maastricht gleichwohl eine erneute Dynamisierung der europäischen Integration zur Folge hatte, so liegt dies, wie am Beginn des europäischen Einigungsprozesses, vor allem in der Logik der 78
Beschlüsse zur Vertiefung der Wirtschaftsunion: Die Einrichtung eines Europäischen Währungsinstituts ab 1994, aus der die Europäische Zentralbank hervorgegangen ist, und die Wirtschafts- und Währungsunion 1999. Der entscheidende Schritt zu einer Reform der Entscheidungsstrukturen, der angesichts der „Osterweiterung“ der EU unausweichlich war, wurde auf dem Gipfel von Amsterdam im Juni 1997 und erneut auf dem fast gescheiterten Gipfel von Nizza im Dezember 2000 vertagt (Schlussfolgerungen des Vorsitzes SN 400/1/00 REV). Damit blieben zwei zentrale Punkte auf der europäischen Agenda: die Reform der Entscheidungsstrukturen und die Beseitigung des demokratischen Defizits europäischer Institutionen und Entscheidungsprozesse. Im neuen Europa der 25 Mitgliedstaaten stellt sich erneut die Frage nach der institutionellen Struktur der Europäischen Union. Das neue Europa kann, nach den Erfahrungen in West und Ost, nur dauerhaft erfolgreich sein, wenn die politischen Strukturen und Institutionen demokratisch legitimiert sind und als solche auch von den Menschen wahrgenommen werden. Das Institutionensystem der Europäischen Union in seiner gegenwärtigen Verfassung kann hier kein Vorbild sein. Die europäischen Institutionen leiden unter einem Mangel an demokratischer Legitimität. Die Frage, ob das neue Europa ein demokratisches oder technokratisches Europa sein soll, ist noch nicht beantwortet (Wallace/Smith, 1995). Der Vertrag über eine Europäische Verfassung wäre auf dem Weg zu einem demokratischen Europa ein entscheidender Schritt gewesen. Das politische Erdbeben, das die Ablehnung der Verfassung in den beiden Kernländern der EU, Frankreich und den Niederlanden, ausgelöst hat, aber auch das wachsende Ressentiment in anderen Ländern gegenüber allem, was aus „Brüssel“ kommt, verweist auf ein grundlegendes Problem: Die Weichen über Breite, Tiefe und Tempo des Integrationsprozesses sind neu gestellt. Welche Rolle soll den Nationalstaaten zukommen und welches sind ihre spezifischen Aufgaben in einem Europa, das immer mehr Bereiche der Politik vergemeinschaftet? Wie gestaltet sich das Verhältnis europäischer und nationaler Institutionen, seien es Parlamente, Regierungen oder Verfassungsgerichte? Wie kann das nach wie vor bestehende demokratische Defizit europäischer Politik beseitigt werden? Der europäische Einigungsprozess ist durch widersprüchliche Trends gekennzeichnet. Nach Maastricht hat es auf der einen Seite mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, der Wirtschafts- und Währungsunion, der gemeinsamen Außenpolitik und der wachsenden Zusammenarbeit auf dem Bereich der inneren Sicherheit einen neuen massiven Schub in Richtung einer „immer engeren Union der Völker Europas“ gegeben. Auf der anderen Seite haben diese weit reichenden Ziele, wie bereits Anfang der 1990er-Jahre einzelne nationale Referenda zum Maastricht-Vertrag und im Jahre 2005 die Verfassungsreferenda gezeigt haben, nicht nur viele Bürger in den Mitgliedsländern überfordert, sondern auch unter den politischen Eliten die Frage aufgeworfen, was dies langfristig für die Zukunft der Nationalstaaten bedeutet, die Europa bilden. Seit der Erweiterung der EU ist endgültig deutlich geworden, dass das Jahrzehnte lang praktizierte Muster europäischer Politik, das M. Rainer Lepsius treffend als „segmentäre Vergemeinschaftung von ausgewählten Politikfeldern“ bezeichnet hat (Lepsius, 1991:
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Mangel demokratischer Legitimität europäischer Institutionen
Europäische Integration und Zukunft der Nationalstaaten
35), den heutigen Notwendigkeiten nicht mehr gerecht wird. Der Versuch, diesem Dilemma durch die Vereinbarung eines Verfassungsvertrages auf eine neue Grundlage zu stellen ist vorerst gescheitert. Der Vertrag war sowohl die konstitutionelle Antwort auf demokratische Defizite der EU als auch auf wachsende Probleme im Bereich staatlicher Steuerungsmöglichkeiten sowohl in klassischen als auch neuen öffentlichen Aufgaben: seien es die äußere und innere Sicherheit, der Schutz der Menschenrechte, wirtschaftlicher und sozialer Wohlstand oder der Schutz der Umwelt.
2.6.2 Die neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Veränderung der Sicherheitsphilosophie
Intervention im Kosovo
Während die Logik des europäischen Vereinigungsprozesses sich zwar nach der Überwindung der Spaltung Europas erheblich gewandelt, aber nicht grundlegend verändert hat, kann im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nur von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden – der allerdings mit erheblicher Zeitverzögerung eintrat. Standen bei den 2+4-Verhandlungen noch Fragen der Zukunft der beiden Bündnissysteme und der zukünftigen Neutralität oder Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der NATO auf der Tagesordnung, so sind heute deutsche Soldaten im Kosovo, am Horn von Afrika, in Afghanistan und anderswo stationiert. Aus einer reinen Verteidigungsarmee ist eine Einsatzarmee geworden, die in verschiedenen Teilen der Welt agiert und sich dabei, sieht man von der völkerrechtlich problematischen Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 ab, auf der Grundlage von Beschlüssen der UNO und der Europäischen Union bewegt. Für diese Veränderung der Sicherheitsphilosophie sind zwei Gründe maßgebend: Zum einen die Bereitschaft zur „humanitären Intervention“, zum anderen die Lehren aus dem 11. September 2001. Die äußere Sicherheit von Staaten ist heute nicht mehr ausschließlich durch andere Staaten gefährdet. Neben die, in einigen Regionen der Welt fortbestehende militärische Bedrohung sind neue Sicherheitsrisiken getreten, die sich zumeist als asymmetrisch darstellen: „Neue Kriege“ (Kaldor 2000; Münkler 2002), nicht-staatliche Akteure wie terroristische Netzwerke, international agierende kriminelle Organisationen oder die Folgewirkungen von Bürgerkriegen und zerfallenden staatlichen Ordnungen können sowohl eine Gefährdung des Lebens und der Sicherheit der Bürgerals auch der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung zur Folge haben. Das Bemerkenswerte ist, dass es der rot-grünen Bundesregierung oblag, die endgültige Abkehr von der Sicherheitsdoktrin der alten Bundesrepublik zu vollziehen und sich zu einem, wenngleich begrenzten, militärischen Interventionismus zu bekennen, ja, im Falle der Beteiligung am Kosovo-Krieg im Jahre 1999 sogar auf ein Mandat der UNO zu verzichten. Auch wenn vor dem Hintergrund der Balkan-Kriege der 1990er-Jahre, insbesondere des Massakers von Srebrenica, eine solche Intervention moralisch zu rechtfertigen war, stellte sie doch nicht nur einen Bruch des bislang geltenden Völkerrechts, sondern auch einen Bruch mit den Grundüberzeugungen der beiden Koalitionsparteien, SPD und Bündnis 90/Die Grünen dar, die seit den frühen 1980er-Jahren durch die seinerzeitige Friedensbewegung geprägt oder, wie die 80
Grünen, aus ihr entstanden waren. Die Entscheidung, sich am militärischen Eingreifen im Kosovo zu beteiligen, war in den letzten Wochen der Regierung Kohl vorbereitet worden und musste, nach den Bundestagswahlen von 1998, noch vom alten Bundestag beschlossen werden. Allerdings erfolgte diese Ermächtigung mit Zustimmung der alten und der neuen Koalitionsparteien, also auch der Grünen, die noch wenige Jahre zuvor die völlige Abschaffung der Bundeswehr gefordert hatten. Als wichtiger verfassungsrechtlicher und innenpolitischer politischer Faktor ist festzuhalten, dass militärische Einsätze der Bundeswehr eines Parlamentsbeschlusses bedürfen, was die Bundeswehr zu einer „Parlamentsarmee“ macht. Nach dem 11. September 2001 hat sich weltweit die Sicherheitslage grundlegend verändert. Insbesondere ist die alte Trennung zwischen innerer und äußerer Bedrohung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Zwar hat es auch in den Jahrzehnten durchaus Verquickungen zwischen inneren und äußeren Bedrohungen gegeben, man denke an die von beiden Weltmächten während der Zeit des Kalten Krieges praktizierten Unterstützung innerer Gegner in Ländern mit als feindlich erachteten Regimen. Gleichwohl war eine Trennung zwischen Außen und Innen möglich. Dass die NATO unmittelbar nach dem 11. September 2001 erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall feststellte und die Operation „Active Endeavour“ zur Überwachung des östlichen Mittelmeers (und kurzzeitig auch Awacs-Überwachungsflüge über den USA) startete, gab einen ersten Hinweis auf einen Wandel in der Sicherheitspolitik. Deutlicher wurde er in der Operation „Enduring Freedom“, die der Bekämpfung der Taliban in Afghanistan und des islamischen Terrorismus anderswo diente, an der sich die Bundeswehr mit etwa 100 Soldaten beteiligte. Seit 2001 sind mehr als 2000 deutsche Soldaten Teil der internationalen Schutztruppe ISAF in Afghanistan, mehr als 300 MarineSoldaten sind für Überwachungsaufgaben am Horn von Afrika stationiert. Nach dem Ende des Ost-West Gegensatzes war bereits deutlich erkennbar, dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik einer grundlegenden Revision unterzogen werden musste und dass in diesem Kontext auch die Frage nach der Zukunft und den veränderten Aufgaben der Bundeswehr auf die Tagesordnung der Politik kommen würde. Obwohl eine Reform seit den frühen 1990er-Jahren schrittweise eingeleitet worden war, sind es primär die äußeren Ereignisse, die dazu beigetragen haben, einen grundlegenden Umbau der Bundeswehr von einer Territorialverteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee voranzutreiben, die auch in der Lage sein soll, bei NATO-Einsätzen außerhalb des Gebiets der Mitglieder des Verteidigungsbündnisses Eingreifkräfte zur Verfügung zu stellen und Kampftruppen für die Europäische Union aufzustellen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Bundesrepublik in jedem Falle bereit wäre, sich an Militäraktionen zu beteiligen. So ging die Bundesregierung im Jahre 2002 auf deutliche Distanz zu Plänen der USA, im Zusammenhang mit dem „Krieg gegen den Terrorismus“ das Regime von Saddam Hussein im Irak durch eine militärische Intervention zu beseitigen, was dann im Frühjahr 2003 geschah. In welchem Maße rein innen-, genauer, wahlpolitische Überlegungen oder grundsätzliche Erwägungen eine Rolle für diese Konfrontationspolitik gegenüber den USA gespielt haben, ist ebenso strittig wie das Maß und der Umfang, in dem sich die Bundesrepublik indirekt an diesem Krieg beteiligt hat –zur Klärung die-
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Sicherheitspolitische Folgen des 11. September 2001
Umbau der Bundeswehr
Ablehnung der Beteiligung am IrakKrieg
ser Fragen wurde im Frühjahr 2006 ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt. Weniger die Nichtteilnahme der Bundesrepublik am IrakKrieg, als die Art und Weise, in der sie zum Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzung und des Wahlkampfes in der Bundesrepublik gemacht wurde, hat zu einer ernsten Beschädigung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses geführt, das erst allmählich wieder normalisiert werden konnte. Auf europäischer Ebene hat die Veränderung der Sicherheitslage ihren Niederschlage in der Entscheidung gefunden, die GASP durch die allmähliche Entwicklung einer gemeinsamen „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu ergänzen und der EU damit Instrumente in die Hand zu geben, die sie in die Lage versetzen, ihren Vorstellungen auch Nachdruck zu verleihen. Die Bundesrepublik war und ist an diesen sowohl militärischenals auch polizeilichen und zivilen Einsätzen aktiv beteiligt. Die Weiterentwicklung und Stärkung der Instrumentarien der ESVP ist allerdings vorerst wegen des Scheitern des Verfassungsvertrages ins Stocken geraten. Europäische Ihre erste Bewährungsprobe hat die ESVP mit der militärischen Operation Sicherheits- und CONCORDIA in Mazedonien vom April bis Dezember 2003 bestanden. Dort ist Verteidigungspolitik erfolgreich der Ausbruch eines Bürgerkrieges verhindert worden. Seither sind dort Polizeikräfte in der Mission PROXIMA stationiert um die fragile Sicherheitslage zu stabilisieren. Gleiches gilt für die europäische Polizeimission EUPM in Bosnien-Herzegowina seit dem Januar 2003. In diesen Einsätzen wird ein neues Muster europäischer Friedenssicherung erkennbar: Militärische Mittel erweisen sich als notwendig, wenn es gilt, einen unmittelbar drohenden Konflikt zu verhindern oder bereits ausgebrochene Kampfhandlungen zu beenden. Dies reicht aber nicht aus. Um die Sicherheit und Ordnung langfristig zu gewährleisten, bedarf es polizeilicher (und ziviler) Unterstützung. Die tradierte Trennung zwischen militärischen, polizeilichen und zivilen Mitteln ist nicht mehr eindeutig aufrecht zu erhalten. Zusammenfassend bleibt zu konstatieren, dass sich die außen- und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen für das vereinte Deutschland fundamental von denen unterscheiden, innerhalb derer die alte Bundesrepublik über Jahrzehnte agieren konnte. Mit dem in Maastricht eingeleiteten neuen Schub der Integration Europas und der seit dem 11. September 2001 radikal veränderten Sicherheitslage ist die Bundesrepublik zu einem Akteur auf der europäischen und internationalen Bühne geworden, der, im Gegenzug zur Aufhebung früherer Beschränkungen seiner Souveränität, neue und weit reichende Aufgaben übernehmen musste.
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Kontinuität und historischer Bruch: Politik in der Bundesrepublik Deutschland
In den nunmehr fast sechs Jahrzehnten ihrer Existenz hat sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer konsolidierten Demokratie entwickelt. Trotz aller, immer wieder kehrenden Kritik an bestimmten Erscheinungen des gesellschaftlichen und politischen Lebens besteht ein breiter demokratischer Grundkonsens, der sich auch in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Krisen als stabil und tragfähig erwiesen hat. Die Grundlage dieses Konsenses konnte, angesichts der Teilung des Landes, Grundlagen der bis 1989 nicht der Verweis auf die Staatsnation und eine gemeinsame nationale demokratischen Ordnung Identität sein, sondern die Verständigung über gemeinsame, von allen akzeptierte Grundwerte und Normen. Ein solcher gemeinsamer Wertekanon hatte es aber schwer, sich auf erfolgreiche Vorbilder in der deutschen Geschichte zu berufen, war doch der Versuch einer deutschen Demokratie zweimal, 1848 und 1933, gescheitert. Das deutsche Volk konnte sich nach dem Krieg auch nicht als pouvoir constituante etablieren, da die oberste Gewalt bei den Siegermächten des II. Weltkrieges lag. Die Normen und Regeln, die sich als tragfähig für die Herausbildung eines solchen Grundkonsenses erwiesen haben, waren von außen und von oben oktroyiert: durch die Besatzungsmächte und demokratische deutsche Politiker der älteren Generation, die noch die Republik von Weimar erlebt hatten. An die Stelle überlieferter und im Wertehaushalt der Bevölkerung verankerter demokratischen Normen und Werte trat das Grundgesetz, das mit seiner starken Betonung der Grundrechte und Bürgerfreiheiten und einer klugen Komposition des politischen Institutionensystems die Requisiten für eine erfolgreiche demokratische Entwicklung der Bundesrepublik zur Verfügung stellte. Es ermöglichte, dass sich etwas herausbildete, das später als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet werden sollte. Diese Entwicklung vollzog sich nicht ohne Widersprüche und Brüche. Immer wieder hat es zum Teil erregte Debatten darüber gegeben, ob die Demokratie in der Bundesrepublik wirklich so solide verankert sei, wie allgemein angenommen. In seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ von 1965 äußerte zum Beispiel Ralf Dahrendorf die Befürchtung, die Bundesrepublik werde sich eher in Richtung eines neuen Autoritarismus als zu einer „Verfassung der Freiheit“ bewegen (Dahrendorf, 1965: 477). Der Philosoph Karl Jaspers be-
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schwor sogar die Gefahr einer Entwicklung von der Parteienoligarchie hin zur Diktatur (Jaspers, 1966: 141). Die Kritik an den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Mitte der 1960er-Jahre entsprach ganz und gar nicht dem positiven Befund, den der Schweizer Journalist Fritz René Allemann ein Jahrzehnt zuvor in seinem einflussreichen Buch „Bonn ist nicht Weimar“ formuliert hatte. Er hatte der Bundesrepublik große Stabilität bescheinigt, weil sie nicht nur stabile Regierungen und starke politische Führungspersönlichkeiten, sondern auch eine demokratische Alternative aufzuweisen habe, die auch in Krisenzeiten bereitstehe (Allemann, 1956). Wie die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte zeigen sollte, erwies sich die negative Prognose Ralf Dahrendorfs als falsch. Neben den konstitutionellen und institutionellen Rahmenbedingungen, die durch das Grundgesetz vorgegeben waren, sind es wirtschaftliche, soziale und auch personelle Faktoren, die zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beigetragen haben.
3.1 Der Aufstieg Konrad Adenauers zur Führungsfigur der CDU
Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer
Dabei schien der Start in die neue Bundesrepublik alles andere als geglückt: Bei den ersten Bundestagswahlen 1949 zogen 11 Parteien in den Deutschen Bundestag ein. Die Zersplitterung des Parteiensystems, die wesentlich zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen hatte, schien sich zu wiederholen. Hinzu kam die tiefe ideologische Kluft, die bürgerliche Parteien und politische Linke von einander trennte. Mit CDU/CSU und SPD standen sich zwei etwa gleich starke Parteien in feindlich gegenüber – ein Faktor, der die Entwicklung der jungen Bundesrepublik entscheidend prägen sollte. Der äußerst knappe Sieg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1949 war ein erstaunliches Ergebnis, handelte es sich doch um eine neue Partei ohne reichsweite Organisation, die zumal mit dem Zentrum eine historisch bedeutsame und etablierte Konkurrentin hatte. Sie verfügte auch nicht, wie die SPD, über einen zumindest in den Westzonen unumstrittenen Parteiführer. Konrad Adenauer war als Präsident des Parlamentarischen Rates bekannt geworden, aber als nationale Führungsfigur war eher Jakob Kaiser, der von den Sowjets abgesetzte Vorsitzende der CDU in der sowjetischen Besatzungszone, präsent. Konrad Adenauer nutzte das Fehlen einer funktionierenden Parteiorganisation für sich aus, um unmittelbar nach den Wahlen in informellen Gesprächen (u.a. mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten und anderen CSU-Politikern) die Weichen für eine kleine bürgerliche Koalition und seine eigene Kanzlerschaft zu stellen (Niclauß, 2004: 26ff.). Damit waren nicht nur andere Prätendenten ausgeschaltet, sondern auch die in vielen Ländern präferierte Lösung einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, die sich angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage aus der Sicht vieler nachgerade aufdrängte. Adenauers erste In seiner, jeden Pathos ledigen Regierungserklärung vom 20. September Regierungserklärung 1949 begründete Adenauer seine Entscheidung für eine bürgerliche Koalition und stellte sie als Erfüllung des Wählerauftrages und – Vorbild für spätere Re-
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gierungsbildungen – als politische Richtungsentscheidung zum Wohle des Landes dar: „Die Frage: ,Planwirtschaft‘ oder ,Soziale Marktwirtschaft‘ hat im Wahlkampf eine überragende Rolle gespielt. Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen. (Unruhe links.) Eine Koalition zwischen den Parteien, die die Planwirtschaft verworfen, und denjenigen, die sie bejaht haben, würde dem Willen der Mehrheit der Wähler geradezu entgegengerichtet sein. (Sehr richtig! in der Mitte)... Ich bin der Auffassung, daß die Opposition eine Staatsnotwendigkeit ist, daß sie eine staatspolitische Aufgabe zu erfüllen hat, daß nur dadurch, daß Regierung und Opposition einander gegenüberstehen, ein wirklicher Fortschritt und eine Gewöhnung an demokratisches Denken zu erzielen ist. Ich bin weiter der Auffassung: bei den labilen Verhältnissen, wie sie in Deutschland herrschen, ist es viel richtiger, wenn die immer vorhandene Opposition sich klar im Parlament selbst zeigt, als wenn sie, da infolge einer großen Koalition im Parlament keine wesentliche Opposition hätte ausgeübt werden können, außerhalb des Parlaments in nicht kontrollierbarer Weise um sich greift.“ (Deutscher Bundestag, Stenogr. Ber. vom 20.9.1949: 22)
Die Entscheidung für eine bürgerliche Koalition erwies sich später als strategi- Politische sche Weichenstellung. Sie schuf die Voraussetzung dafür, dass sich die Weichenstellungen CDU/CSU als langjährige Regierungspartei etablieren konnte. Maßgebend für diesen dauerhaften Erfolg waren die politischen Grundsatzentscheidungen, die die Regierung Adenauer in den ersten Jahren der Bundesrepublik gegen heftigen Widerstand der Opposition durchsetzte: Die „soziale Marktwirtschaft“ und die Einbindung der noch nicht souveränen Bundesrepublik in die sich entwickelnden westlichen Gemeinschaften.
3.1.1 Die soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Leitbild „Der erzwungene Kapitalismus“ (Schmidt/Fichter, 1971), „Die verordnete De- Restauration oder mokratie“ (Pirker, 1977), „Die verhinderte Neuordnung“ (E. Schmidt, 1970), Neuanfang in der Bundesrepublik oder „Determinanten der westdeutschen ,Restauration‘“ (Huster u.a., 1970) lauten die Titel einiger Bücher, die sich Anfang der 1970er-Jahre mit der Entwicklung des politischen Systems und der wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik beschäftigten. Nach Jahren einer eher apologetischen Sicht auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung in den 1940er- und 1950er-Jahren war jetzt eine Fundamentalkritik verbreitet, deren zentrale These lautete, nach dem Krieg sei kein wirklicher Neuanfang versucht worden, es habe sich vielmehr im Wesentlichen um eine Restaurierung des Kapitalismus gehandelt. Unter der „Diktatur der Besatzungsmächte“ und den Bedingungen der Kollaboration mit ihrer „Militärdiktatur“, zu der sich die Politiker der ersten Stunde bereit gefunden hätten, sei nur eine Rekonstruktion der kapitalistischen Wirtschaft und bürgerlicher Demokratie möglich gewesen (Pirker, 1977: 14). Der Begriff Restauration bezog sich in erster Linie auf wirtschaftliche Aspekte – die erfolgreiche Abwehr gegen Sozialisierungsvorstellungen und Gemeinwirtschaftskonzepte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Restaurationsthese ist entgegengehalten worden, sie verkenne, dass das Grundgesetz nicht einfach restaurativ war, vielmehr habe es einen neuen Ausgangspunkt bezeichnet, ja es sei sogar – in Grenzen – mit bisher unerprobten 85
Gegensätzliche Vorstellungen über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung
Ordnungspolitische Konzepte der Parteien
Die Währungsreform vom 20. Juni 1948
staatlichen Formen und Institutionen experimentiert worden“ (Allemann, 1956: 111). War es eine erzwungene Restauration des Kapitalismus oder eine „ordnungspolitische Epochenwende“ (Abelshauser, 1986: 99), die sich in Westdeutschland nach 1945 vollzog? Dies stellt die Frage nach den ordnungspolitischen Grundentscheidungen in den Jahren nach 1945 und den Aussagen des Grundgesetzes zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung. In den ersten Jahren nach dem Krieg hatte es gegensätzliche ordnungspolitische Vorstellungen gegeben. Die klassisch liberale Idee einer von staatlicher Regulierung weitgehend unabhängigen Marktwirtschaft („laissez faire Liberalismus“) hatte angesichts der Kriegszerstörungen und der zu bewältigenden Aufgaben nur wenige Anhänger. Eine Alternative boten neoliberale Ansätze einer sozialverantwortlichen marktwirtschaftlichen Ordnung, wie sie im Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ ihren Niederschlag fanden. Es beruhte auf einer privatwirtschaftlichen Ordnung, dezentraler Steuerung und der Korrektur sozial unerwünschter Auswirkungen des freien Marktwettbewerbs mit Hilfe der Sozialpolitik. Populär waren auch wirtschaftsdemokratische Vorstellungen in der Tradition der Gemeinwirtschaftsdiskussion und Vorstellungen einer umfassenden Wirtschaftsdemokratie aus der Weimarer Republik. Das gleiche galt für Sozialisierungskonzepte, die eine demokratische politische Ordnung mit einer zentralen Steuerung der Wirtschaft und umfassenden Sozialisierungen von Großbanken und Schlüsselindustrien verbinden wollten. Und schließlich gab es die Vorstellungen einer sozialistischen Planwirtschaft nach sowjetischem Muster. Wirtschaftsdemokratische Vorstellungen und Sozialisierungskonzepte waren in den ersten Jahren nach dem Krieg zweifellos vorherrschend, nicht nur bei den „klassischen“ Protagonisten dieser Ideen, der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Sie reichten bis weit in die CDU hinein, die 1947 in ihrem „Ahlener Programm“ den Aufbau eines Systems geplanter und gelenkter Wirtschaft gefordert, allerdings gleichzeitig einem Staatskapitalismus eine Absage erteilt hatte. In diese Vorstellungen waren Ideen der katholischen Soziallehre und der christlichen Gewerkschaftsbewegung eingegangen. Von den relevanten Parteien vertrat lediglich die FDP einen strengen, rein wirtschaftsliberalen Kurs. Das Leitmotiv für die ordnungspolitischen Debatten der nächsten Jahrzehnte lieferte das von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard entwickelte Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“. Es stellte die praktische Umsetzung der Lehrmeinungen der neoliberalen Schule der Volkswirtschaftslehre um Walter Eucken (Freiburg), Alexander Rüstow (Istanbul, ab 1949 Heidelberg) und Wilhelm Röpke (Genf) dar. Die wichtigste wirtschafts- und ordnungspolitische Grundentscheidung in den Jahren zwischen 1945 und 1948 war die Währungsreform vom 20. Juni 1948, die im Gefühlshaushalt der Westdeutschen eine ähnliche Bedeutung hat wie die Währungsumstellung in der DDR am 1. Juli 1990. Viele unausrottbare Mythen ranken sich um dieses Ereignis. Die Währungsreform hatte bedeutsame politische Konsequenzen. Sie schuf die monetären Voraussetzungen für eine starke und leistungsfähige Wirtschaft in Westdeutschland und das „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre. Die Geltung der Währungsreform auch in der französischen Besatzungszone stellte den ent-
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scheidenden Schritt von der Bi-Zone zur Tri-Zone dar, die zum wirtschaftlichen und politischen Nukleus der Bundesrepublik wurde. Die D-Mark wurde in der sowjetischen Besatzungszone nicht zugelassen. Die SMAD verfügte am 23. Juni 1948 eine eigene Währungsreform, der jedoch keine entscheidende wirtschaftliche Bedeutung zukam, da eine synchrone Einführung von Marktbedingungen nicht erfolgte und das System der Bewirtschaftung und Planung erhalten blieb. Die Anordnung der SMAD galt für Gesamtberlin. Damit wurde ein Anspruch unterstrichen, der bereits mit dem Auszug aus dem Kontrollrat erkennbar wurde und am 24. Juni mit dem Beginn der Blockade durchgesetzt werden sollte, nämlich Berlin insgesamt in den sowjetischen Herrschaftsbereich zu integrieren. Die Westmächte führten in Berlin (West) die DM mit einem speziellen Aufdruck „B“ ein. Die Währungsreform trennte endgültig das Wirtschaftsgebiet der Westzonen von der SBZ und brachte die entscheidende wirtschaftspolitische Weichenstellung für die Separatstaatsbildung. Mit der Währungsreform waren bereits vor der Gründung der Bundesrepublik und vor den Beratungen über das Grundgesetz die wesentlichen Weichenstellungen für eine neue Wirtschaftsordnung erfolgt und ökonomische Fakten geschaffen worden, die auch bei einer anderen parteipolitischen Konstellation im Parlamentarischen Rat und im ersten Deutschen Bundestag nicht zu ignorieren gewesen wären. Die faktische Gestaltungsfreiheit der gesetzgebenden Körperschaften in diesem Bereich war eng begrenzt. Nicht zuletzt dieser Umstand hat neben grundsätzlichen Überlegungen dazu geführt, dass der Verfassungsgeber mit programmatischen Aussagen über die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik äußerst zurückhaltend war. Diese Zurückhaltung hat in den 1950er- und 1960er-Jahren zu heftigen Kontroversen darüber geführt, ob in der Verfassung eine bestimmte Ordnung, nämlich die Marktwirtschaft, präferiert und andere, wie sozialistische oder gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen ausgeschlossen seien. Der Verweis des Art. 20 Abs. 1 GG, dass die Bundesrepublik ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ sei, der Art. 14 GG, der das Eigentums- und Erbrecht gewährleistet, die für die Gestaltung des Wirtschafts- und Arbeitslebens wesentlichen Freiheitsrechte wie die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG, die freie Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte in Art. 12 Abs. 1 GG und der „Sozialisierungsartikel“ des Art. 15 GG lassen nach herrschender Meinung keine Festlegung auf ein bestimmtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu. So hat es auch das Bundesverfassungsgericht gesehen. In einem Richtung weisenden Urteil aus dem Jahre 1954, dem „Investitionshilfeurteil“ hat es dazu grundsätzlich Stellung genommen: „Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ,soziale Marktwirtschaft‘. Die ,wirtschaftspolitische Neutralität‘ des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat ... Die gegenwärtige Wirtschaftsund Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.“ (BVerfGE 4, 17: 17f.)
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Zurückhaltung des Grundgesetzes zu den ordnungspolitischen Grundlagen der Wirtschaftsordnung
Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Wirtschaftsordnung
Diese Grundposition hat das Verfassungsgericht in seinem „Mitbestimmungsurteil“ von 1979 noch einmal bestätigt, als es feststellte, dass das Grundgesetz „keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung“ enthalte. Es sei vielmehr „wirtschaftspolitisch neutral“. Anders als die Weimarer Reichsverfassung in den Artikeln 151ff. normiere es auch keine konkreten verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens. Das Grundgesetz „überläßt dessen Ordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen.“ (BVerfGE 50, 290: 337) Politikwissenschaftliche und historische Einordnung der ordnungspolitischen Gestaltungsspielräume
Alfred MüllerArmacks Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“
Dies ist die rechtliche Bewertung der Aussagen des Grundgesetzes zur Wirtschaftsordnung. Ihre politikwissenschaftliche und historische Einordnung verlangt aber, eine Beurteilung der Gestaltungsspielräume des Grundgesetzgebers in die Analyse einzubeziehen. Sie muss vor allem in Rechnung stellen, dass wesentliche ordnungspolitische Grundentscheidungen bereits getroffen waren, als die Diskussion um das Grundgesetz in seine entscheidende Phase kam: Die Entscheidung über den „Marshall-Plan“ und die Aufnahme Westdeutschlands in OEEC, die Gründung der Bi-Zone, die Währungsreform und die Verabschiedung des „Leitsätzegesetzes“ durch den Wirtschaftsrat der Bi-Zone, das Regeln für die Freigabe der Preise und die Entflechtung von Monopolen enthielt.. Diese Grundentscheidungen waren anfangs ebenso wenig deutsche Entscheidungen wie die über die Errichtung planwirtschaftlicher Strukturen in der SBZ, sondern gründeten auf Beschlüssen der Alliierten. Das Zusammenspiel alliierter und deutscher Entscheidungen zur Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik führte im Jahre 1948 zu einer ordnungspolitischen Wende mit weitreichenden Auswirkungen. Sie war wesentlich durch drei Faktoren bestimmt: 1. Die Entscheidung für ein „European Recovery Program“ (ERP), das unter dem Namen Marshall-Plan bekannt wurde, 2. die ordnungspolitische Grundentscheidung zu Gunsten einer „sozialen Marktwirtschaft“ und 3. die sich bereits andeutende spätere Integration der Wirtschaft der Bundesrepublik in supranationale europäische Institutionen. Wie der Staat, so war auch die Wirtschaft zwischen 1933 und 1945 den Zielen des Nationalsozialismus und den Zwängen der Kriegswirtschaft untergeordnet worden. Ihre ordnungspolitische Neugestaltung war eine ebenso wichtige Aufgabe wie der Neubau des politischen Institutionensystems. Das theoretische Konzept für diesen Neuaufbau lieferte Alfred Müller-Armack (Münster) mit der Vorstellung einer „sozialen Marktwirtschaft“. Derjenige, der das von MüllerArmack entwickelte Konzept praktisch umzusetzen verstand, war Ludwig Erhard, Direktor der Verwaltung für Wirtschaft beim Wirtschaftsrat in Frankfurt, von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister und von 1963 bis 1966 glückloser Bundeskanzler. Müller-Armack unterschied drei wirtschaftspolitische Ordnungen: Die liberale Marktwirtschaft, das System der Wirtschaftslenkung und eine soziale Marktwirtschaft, d.h. eine sozial gesteuerte oder sozial gestaltete Marktwirtschaft. Müller-Armack ging es um die Erhaltung der wirtschaftlichen Kultur, in der die
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marktwirtschaftliche Form ihrer hohen Leistungsfähigkeit wegen erhalten bleibt, zugleich aber in eine bewusst gestaltete Gesamtordnung eingefügt wird (MüllerArmack, 1947: 94). Sein Konzept sah eine aktive Wirtschaftspolitik vor, die dem Primat der Geldwertstabilität und der Sicherung der Vollbeschäftigung verschrieben war, der Geldpolitik als Mittel der Konjunkturpolitik als marktwirtschaftliche Sünde galt und die eine weit gehende Begrenzung des Staatsinterventionismus erstrebte. Diese Vorstellungen versuchten ordnungspolitische Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise der 20er- und 1930er-Jahre und den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Zwangs- und Kriegswirtschaft und der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zu ziehen, die beide als freiheitsbedrohend und demokratiefeindlich betrachtet wurden. Wirtschaftsordnung und politische Ordnung waren nicht zu trennen. Ungebremste Marktwirtschaft führe, nach Auffassung des Hauptvertreters der nach dem Kriege einflussreichen ordo-liberalen „Freiburger Schule“, Walter Eucken, zu sozialem Elend und politischem Chaos, Zwangswirtschaft zu Unfreiheit. Die Verhinderung von Machtkonzentrationen und die Ordnungsfunktion, stellten für Eucken Grundsätze für den Aufbau einer „zureichenden Staatsordnung“ dar und gehörten notwendig zusammen. Mit dem Sieg der CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1949 setzten sich diese Vorstellungen, die zuvor durchaus nicht unumstritten waren und noch länger umstritten blieben, als wirtschaftspolitisches Leitbild in der Bundesrepublik durch. Die angestrebte Synthese von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit bedeutete die Garantie des Privateigentums, freie unternehmerische Betätigung, Gewerbefreiheit, Freiheit der Eigentumsnutzung, Produktions- und Handelsfreiheit, aber auch volle Haftung, freie Konsumwahl, Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl und Garantie der Wettbewerbsfreiheit. Soziale Gerechtigkeit sollte durch eine wirtschaftlich leistungsfähige Marktwirtschaft erreicht werden. Ende der 1940er, Anfang der 1950er-Jahre war es in erster Linie um Ordnungspolitik, d.h. um die Errichtung eines neuen institutionellen und normativen Rahmens wirtschaftlicher Tätigkeit gegangen. Der ungeahnte Wirtschaftsaufschwung der 1950er-Jahre schien die Grundthese des Konzepts sozialer Marktwirtschaft zu bestätigen, dass sich wirtschaftliche Freiheit und Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbinden lasse. Es waren vor allem die außerordentlich günstigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, die dazu beitrugen, dass sich die ordnungspolitischen Entscheidungen der Jahre 1948/49 als tragfähige Grundlage für den zweiten Versuch erwiesen, in einem Teil Deutschlands eine funktionierende demokratische Ordnung zu etablieren. Das Adjektiv „sozial“ zur Kennzeichnung der marktwirtschaftlichen Ordnung spielte in der ersten Regierungserklärung Konrad Adenauers eine entscheidende Rolle. Adenauer warnte aber zugleich davor, das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, wie später geschehen, zu einem „starren Doktrinarismus“ werden zu lassen. Die Koalition werde ihre gesamte Arbeit von dem Bestreben leiten lassen, „so sozial im wahrsten Sinne des Wortes zu handeln wie irgend möglich. (Bravo! in der Mitte und rechts) Das Streben nach Linderung der Not, nach sozialer Gerechtig-
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Einfluss der „Freiburger Schule“
Angestrebte Synthese von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit
keit, wird der oberste Leitstern bei unserer gesamten Arbeit sein.“ (Deutscher Bundestag, Stenogr. Ber. vom 20.9.1949: 23; Hervorh. im Original)
Die marktwirtschaftliche Orientierung, die gegen alle sozialistischen und staatswirtschaftlichen Vorstellungen durchgesetzt wurde, war von Anfang an mit einer starken sozialen Komponente vermischt. Sie erwies sich, dank günstiger politischer und weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, als Erfolg. Die soziale Komponente der Marktwirtschaft konnte sich auf der Grundlage beachtlicher Wachstumsraten und steigenden Wohlstandes breit entfalten. Es kam ein entscheidender persönlicher Faktor hinzu. Mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard standen zwei charismatische Führungsfiguren zur Verfügung, die beide Elemente des bemerkenswerten Erfolgs einer aus bedingungsloser Kapitulation und Ruinen erwachsenen Demokratie verkörperten, das „Wirtschaftswunder“ und die Wiedereingliederung (West)Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft.
3.1.2 Wirtschaftlicher Aufbau und politische Konsolidierung
Politische Rahmenbedingungen des „Wirtschaftswunders“
Die Wirkung dieser ordnungspolitischen Grundentscheidungen auf die Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft ist umstritten. So unmittelbar jedenfalls, wie ein Zusammenhang von Ordnungspolitik und „Wirtschaftswunder“ in der Literatur, zumal in zusammenfassenden Überblicken über die Wirtschaftsentwicklung der Westzonen und der neugegründeten Bundesrepublik hergestellt wird, war er nicht. Zum einen ist in der jungen Bundesrepublik alles andere als eine liberale Marktwirtschaft errichtet worden, der Wirtschaftsaufschwung der beiden ersten Jahrzehnte war vielmehr an entscheidenden Wendepunkten politisch induziert und gelenkt. Zum anderen macht auch ein Vergleich mit der Entwicklung anderer Länder eine ordnungspolitische Erklärung für den wirtschaftlichen Erfolg problematisch (Abelshauser, 1986: 101). Die Auffassung, dass die neue Wirtschaftsordnung das deutsche Wirtschaftswunder hervorgebracht hat, verkürzt komplexe Zusammenhänge. Dass die ordnungspolitischen Entscheidungen der Jahre 1948/49 aber eine entscheidende, stabilisierende und zugleich innovative Rolle spielten, ist weitgehend unbestritten. Doch blieb bis zum Ausbruch des Korea-Krieges 1950 unklar, ob sie Früchte tragen würden. Der Ausbruch des Korea-Krieges änderte alle politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen und führte zum ersten Wirtschaftsboom der Bundesrepublik. Er überschattete später die zwiespältigen Erfahrungen der ersten Jahre und trug dazu bei, die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung eindeutiger erscheinen zu lassen, als sie real war. Die Ordnungspolitik der frühen Jahre hatte notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Es bedurfte besonders günstiger binnen- und weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, um das langanhaltende „Wirtschaftswunder“ zu Stande zu bringen. So ist es ironischerweise der Verschärfung des Kalten Krieges zu verdanken, dass die junge Bundesrepublik in eine zuvor unvorstellbar gehaltene Aufschwungs- und Prosperitätsentwicklung eintreten konnte, die sie in weniger als zwei Jahrzehnten zu einer der führenden Industriemächte der Welt aufsteigen ließ. 90
3.1.3 Sozialpolitik als wirtschaftspolitische Notwendigkeit und politische Stabilisierungsstrategie Nach dem Massenelend Ende der 1920er-Jahre, der gewaltsamen Gleichschaltung der politischen, sozialen, gemeinschaftsbildenden und stabilisierenden Organisationen und Vereinigungen und dem Zwangskorporatismus der Nazizeit, nach der radikalen Umwälzung der Sozialstruktur während der Kriegszeit und in den Jahren nach 1945 und damit der einher gehenden wirtschaftlichen, sozialen, regionalen und kulturellen Entwurzelung großer Bevölkerungsgruppen war neben dem Wiederaufbau demokratischer Institutionen die Neugestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen und die Integration der entwurzelten Bevölkerung die zweite fundamentale Herausforderung der Nachkriegszeit und des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik. Die Vorstellungen darüber, wie dieses Ziel zu erreichen sei, gingen weit auseinander. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen machten es erforderlich, neue Wege zu gehen. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft mit seiner Trias wirtschaftliche Freiheit, soziale Gerechtigkeit, staatlicher Steuerung und Lenkung sah den Staat als gestaltenden Akteur der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialbeziehungen vor. Mit der Entscheidung für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft war aber nicht nur eine ordnungspolitische Entscheidung zu Gunsten eines bestimmten Wirtschaftssystems, sondern auch zu Gunsten eines Sozialstaates gefallen, der seine Vorläufer in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung und Sozialstaatskonzepten des politischen Katholizismus hatte. Für die Zeit der Rekonstruktion der westdeutschen Wirtschaft wurde eine breite Palette von staatlichen Steuerungsinstrumenten zur Verfügung gestellt und es wurden bewusst staatliche Steuerungsmechanismen zur Wirtschaftsförderung und Flankierung des sozial-ökonomischen Modernisierungsprozesses eingesetzt. Primäres Ziel der Wirtschaftspolitik Ende der 1940er, Anfang der 1950erJahre war die Sicherung der Produktion und des Übergangs von einer Mangelwirtschaft zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. Die Verwirklichung der sozialen Komponente der Marktwirtschaft hatte es dabei mit einer Vielzahl von Problemen zu tun, die dringend gelöst werden mussten, wenn man größere soziale Konflikte vermeiden wollte. Dies waren vor allem und in erster Linie die Wohnungsfrage, die Arbeitslosigkeit und die Integration der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Die wirtschaftliche und soziale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen erforderte einen Beitrag auch jener, die durch den Krieg in geringerem Maße in ihren Lebenschancen und an ihrem Eigentum geschädigt worden waren. Den besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen wurden Hilfen verschiedener Art zuteil. Dazu zählten die Kriegsopferversorgung, die Heimkehrerentschädigung, der „Lastenausgleich“, die Wiedergutmachung und der soziale Wohnungsbau. Im „Lastenausgleichsgesetz“ vom 16. Mai 1952 (das gegen die Stimmen von SPD und KPD verabschiedet wurde) ging es um die Entschädigung von Personengruppen, vor allem Vertriebene und Flüchtlinge, aber auch Einheimische, die durch den Krieg ihr Vermögen verloren hatten
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Die Idee des Sozialstaates
Der „Lastenausgleich“ und andere Instrumente der Sozialpolitik
Arbeitslosigkeit und Flüchtlingsproblem
Soziale Konflikte
Auseinandersetzungen um die soziale Ausgestaltung des Grundgesetzes
Eine zweite sozialpolitische Aufgabe größeren Ausmaßes war die Förderung des Wohnungsbaus. Der Anteil öffentlicher Mittel im Wohnungsbau (Bund, Länder, Gemeinden, Soforthilfe, Lastenausgleich, ERP) lag 1950 bei 43,9% und betrug 1955 noch 27,7%. Das dritte Problem mit erheblicher sozialer Sprengkraft stellte die Arbeitslosigkeit dar, die nach der Währungsreform dramatisch angestiegen war – von 3,2% am 30. Juni 1948 auf 10,3% am 31. Dezember 1949. Durch sie drohten soziale Konflikte, die die innovative Schubkraft der Geldreform ernsthaft gefährdet hätten. Hinzu kam, dass die Arbeitslosigkeit regional und sektoral extrem ungleich verteilt war. Die höchsten Arbeitslosenraten verzeichneten die sogenannten „Hauptflüchtlingsländer“, weil die Arbeitslosenquote bei Vertriebenen und Flüchtlingen extrem hoch war. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre näherte sich – bei Arbeitslosenquoten unter 5% – der Prozentsatz der arbeitslosen Flüchtlinge ihrem Anteil an der Population an. Die weitgehende Einbeziehung der Flüchtlingsbevölkerung in das Arbeitsleben war als direkte Folge des Rückgangs der Arbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Aufstiegs eine der wichtigsten Integrationsleistungen der jungen Bundesrepublik. Von großer Bedeutung für die politische und soziale Stabilität war schließlich die Integration der Arbeiterschaft in die neue Ordnung. Dass dies gelingen werde, war anfangs alles andere als voraussehbar. Die Jahre zwischen 1945 und 1949 und die ersten Jahre der Bundesrepublik waren von massiven wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen begleitet. Die frühe Entscheidung zu Gunsten einer kompensatorischen Sozialpolitik hat einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration der Arbeiterschaft geleistet, vermittelte sie doch in Zeiten andauernder Ungewissheit und permanenten Anpassungsdrucks an sich schnell ändernde Bedingungen das Gefühl, sich auf ein Mindestmaß sozialer Wohlfahrt verlassen zu können. Damit konnten aber nur zum Teil die faktischen Niederlagen kompensiert werden, die die Arbeitnehmer bei wichtigen ordnungspolitischen Grundentscheidungen hatten hinnehmen müssen: Im Grundgesetz waren weder soziale Grundrechte noch die seit den 20er-Jahren verfochtenen Prinzipien einer Wirtschaftsdemokratie verankert worden. Regelungen, wie die Sozialisierungsgebote der hessischen Verfassung oder bereits beschlossene Sozialisierungsmaßnahmen in Nordrhein-Westfalen waren von den Alliierten suspendiert worden. Beim Kampf um die soziale Ausgestaltung des Grundgesetzes hatten SPD und Gewerkschaften eine Niederlage erlitten und sich mit der allgemeinen Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 GG zufrieden geben müssen. Ihre Erwartung, eigene Forderungen nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und den ersten Bundestagswahlen doch noch realisieren zu können, erwiesen sich angesichts des Wahlerfolges der CDU als Illusion. Mit einer CDU geführten Bundesregierung war an eine Weiterentwicklung wirtschaftsdemokratischer Vorstellungen (z.B. Umwandlung der Industrie- und Handelskammern in paritätisch besetzte öffentlich-rechtliche Körperschaften der Wirtschaftslenkung und -kontrolle) und anderer Formen überbetrieblicher Mitbestimmung nicht zu denken.
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Es ergäbe allerdings ein schiefes Bild, wenn man die Politik der Bundesregierung als ausschließlich „unternehmerfreundlich“ charakterisierte. In der CDU/CSU traten wichtige Gruppen für wirtschaftsdemokratische und sozialstaatliche Ziele ein. Christlich-sozialistische Traditionen und Ideen der „katholischen Soziallehre“ beeinflussten die frühe Programmatik der CDU und schlugen sich unter anderem im berühmt gewordenen „Ahlener Programm“ von 1947 nieder. Auch nachdem sich Ludwig Erhards Konzept der sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt hatte, blieben diese, vor allem aus dem Zentrum kommenden Traditionen virulent. So waren es Forderungen der Opposition und Gewerkschaften, aber auch Stimmen aus den eigenen Reihen, die eine Beteiligung der Arbeiterschaft an den Entscheidungen in der Wirtschaft und eine betriebliche Mitbestimmung forderten und die Regierung zum Handeln zwangen. Die Diskussion über das Mitbestimmungsgesetz beschwor Anfang der 1950er-Jahre den schwersten sozialen und politischen Konflikt in der Frühzeit der Bundesrepublik herauf. Nur mit massiven Streikdrohungen und Urabstimmungen in der Eisen- und Stahlindustrie und im Bergbau konnten die von der britischen Besatzungsmacht in der Montanindustrie 1947 eingeführten Mitbestimmungsregelungen gerettet werden. Trotz Streiks und Massenprotesten gelang es den Gewerkschaften jedoch nicht, die paritätische Mitbestimmung über den Bereich der Montanindustrie hinaus auszuweiten: Die FDP drohte mit dem Bruch der Koalition, falls dies geschehe. Der Kampf um die Mitbestimmung Anfang der 1950er-Jahre kann als die zweite Entscheidungsphase über die sozial-ökonomische Ordnung nach der Währungsreform und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft betrachtet werden. In dieser Auseinandersetzung wurde zum einen der status quo behauptet, es fand kein ordnungspolitischer Richtungswechsel statt. Zum anderen aber wurden die rechtlichen Grundlagen für eine korporative Einbindung der Gewerkschaften verstärkt und auf Dauer gestellt. Das „Mitbestimmungsgesetz“ von 1951 stellte eine wichtige institutionenpolitische Grundentscheidung dar. Der organisierten Arbeiterschaft wurden gesetzlich Mitwirkungsmöglichkeiten im Bereich der Wirtschaft eingeräumt und damit die Voraussetzung für die politische Integration der Gewerkschaften in das institutionelle Gefüge der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Zugleich aber wurde in der Auseinandersetzung deutlich, dass an eine Umgestaltung der Wirtschaftsordnung nicht mehr zu denken war. Die ordnungspolitische Entscheidung zu Gunsten der sozialen Marktwirtschaft war ergänzt worden durch ein Partnerschaftsmodell, das die Gewerkschaften zu zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Akteuren erhob, sie zugleich aber in das Gefüge der marktwirtschaftlichen Ordnung einband und ihrer auf Umgestaltung des Wirtschaftssystems gerichteten Programmatik das Fundament entzog.
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Diskussion über die Mitbestimmung
Schaffung der Grundlagen für das korporative Modell der Bundesrepublik
3.1.4 Antitotalitarismus, Antiliberalismus und „wehrhafte Demokratie“: Zum politisch-kulturellen Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik Die identitäts- und einheitsstiftende Funktion des Feindbildes „Kommunismus“
Die Gegnerschaft zum „Bolschewismus“ war einer der konstitutiven Faktoren des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Angesichts der Entstehungsgeschichte der deutschen Zweistaatlichkeit, der realen Bedrohung durch die Sowjetunion und der Rolle Westdeutschlands (und West-Berlins als „Vorposten der Freiheit“) kann dies nicht weiter verwundern. Ein solches „Feindbild“ hatte für eine politische Ordnung, die aus den Trümmern des gescheiterten deutschen Nationalstaates und den Verbrechen des Nationalsozialismus entstanden war, eine integrative und einheitsstiftende Wirkung. Das Problem war allerdings, dass das neue Feindbild zugleich das alte war. Der „jüdische Bolschewismus“ war – von der kurzen Zeit des „Hitler-Stalin-Pakts“ abgesehen – der ideologisch, politisch und militärisch bekämpfte Feind im Inneren und nach außen. Die Kontinuität der Gegnerschaft zum Kommunismus machte es vielen ehemaligen Nationalsozialisten und „Mitläufern“ in den Anfangsjahren leicht, sich mit der neuen politischen Ordnung zu arrangieren, ohne wichtige Elemente ihres politischen Weltbildes aufgeben zu müssen. Es gab also durchaus Möglichkeiten, sich mit der neuen politischen Ordnung zu identifizieren, ohne autoritäre Orientierungen und Werthaltungen über Bord zu werfen. Ergebnisse früher Verstreute Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien aus der unmittelbaMeinungsumfagen ren Nachkriegszeit stützen diese These. Wichtige Quellen sind Umfragen des „Office of Military Government, United States“ (OMGUS) und später der Hohen Kommission für Deutschland. Allgemein verbreitet war ein Unvermögen, kritisch mit der Vergangenheit umzugehen. Umfragen zeigen, dass sich die Vorstellungen über den Nationalsozialismus weitgehend unbelastet vom Niedergang des Dritten Reiches und der Kenntnis über dessen Verbrechen erhalten hatten (Hurwitz I, 1983: 153). Wurden die Bürger nach der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg gefragt, war nur eine Minderheit bereit, eine kollektive Verantwortlichkeit der Deutschen zu akzeptieren (Merritt/Merritt, 1970: 36). Verbreitet war das Fortwirken chauvinistischer und – nicht überraschend – revisionistischer Positionen. Die überwältigende Mehrheit der Befragten waren nicht bereit, den Verlust der Ostgebiete zu akzeptieren (Hurwitz I, 1983: 157). Von 1945 bis 1949 haben amerikanische Demoskopen immer wieder folgende, methodisch nicht unproblematische Frage gestellt1: „Glauben Sie, dass der Nationalsozialismus eine schlechte Idee war oder eine gute Idee, nur schlecht ausgeführt?“ Zwischen November 1945 und Dezember 1946 erklärten etwa 47% der Befragten sich mit der Aussage einverstanden, dass der Nationalsozialismus eigentlich eine gute Idee war. Bis zum August war diese Ziffer sogar auf 55% gestiegen und blieb während der Besatzungsherrschaft etwa auf dieser Höhe. In der gleichen Zeit sank der Anteil derjenigen, die den Nationalsozialismus für eine „schlechte Idee“ hielten von 41% auf 30% (Merritt/Merritt, 1970: 32f.). 1
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Diese Frage wurde vom Institut für Demoskopie nach 1990 in Ostdeutschland mit vergleichbaren Ergebnissen repliziert.
Diese Einstellungen machten es schwer, die deutsche Bevölkerung für einen „demokratischen Antitotalitarismus“ zu mobilisieren, wie er in der Wertorientierung der frühen Länderverfassungen und später im Grundgesetz angelegt war. Sehr wohl aber boten alte Einstellungen und politische Orientierungen einen nahezu nahtlosen Übergang zu antikommunistischen Positionen an. Der Antitotalitarismus war also gleichsam halbiert, während der Antikommunismus tief im kollektiven Wertehaushalt Nachkriegsdeutschlands verankert war. Anders aber als in den westlichen Demokratien, vor allem in den USA, stand der Antitotalitarismus der jungen Bundesrepublik nicht in einer demokratischen Tradition, die als Korrektiv gegen überzogene Reaktionen und Intoleranz hätten wirken können. Zudem war die junge und noch nicht gefestigte Demokratie in der Bundesrepublik von außen gefährdet. Wie konkret die reale Gefahr war, die von der Sowjetunion ausging, wird wohl immer umstritten bleiben. Aber selbst wenn man die verbreitete These vom sowjetischen Expansionismus nicht teilt, waren die Erfahrungen, die in Osteuropa und der Sowjetischen Besatzungszone, vor allem aber in der Tschechoslowakei 1948 gemacht worden waren, alles andere als beruhigend. Die Berliner Blockade 1948/49 und der Koreakrieg 1950 bis 1953 waren von der Sowjetunion provoziert und beschworen die Gefahr eines III. Weltkriegs. Die Bundesrepublik war aber noch einer zusätzlichen Verunsicherung ausgesetzt. Als Ergebnis der Niederlage des Nationalsozialismus und des Kalten Krieges war sie (wie die DDR auch) ein deutscher Teilstaat, ein Provisorium unter mehr oder weniger gefestigten Nationalstaaten, dessen Existenz untrennbar mit der Dauer und Intensität des Ost-West-Konfliktes verbunden war. Ihre Existenz legitimierte sich ausschließlich politisch. Die Bundesrepublik war die Antwort auf die Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Versuch, wenigstens im westlichen Teil Deutschlands die Grundlagen einer demokratischen Ordnung zu legen. Dieser Versuch war erkauft mit einer Zementierung der Spaltung Deutschlands und stand in einem permanenten Spannungsverhältnis zur „nationalen Frage“. Gefährdet war die junge Bundesrepublik auch von innen: weniger von der politisch eine Randexistenz führenden KPD und linksradikalen Splittergruppen als von rechten Gruppierungen, die alles daran setzten, die soziale Notlage und die Sorgen der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen auszunutzen. In einer politischen Ordnung ohne gefestigte demokratische Traditionen war die Gefahr nicht zu unterschätzen, dass politisch extreme Parteien und Gruppierungen an Boden gewinnen könnten. Hinzu kam das weitgehende Desinteresse an Politik. Man hatte „die Nase voll von der Politik“. All dies lässt den Schluss zu, dass die Bundesrepublik bei ihrer Gründung eine Demokratie ohne eine Mehrheit von Demokraten war. Anders aber als in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg waren die politischen und wirtschaftlichen Eliten überzeugt, dass nur ein erfolgreicher demokratischer Neubeginn dem deutschen Volk eine politische Zukunft eröffnen könne. Selbst da, wo diese Einsicht von taktischen Erwägungen bestimmt gewesen sein mag, war sie von der pragmatischen Einsicht getragen, dass die Alliierten eine Alternative nicht zuließen.
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Antitotalitarismus und demokratische Werthaltungen
Gefährdungen der neuen demokratischen Ordnung
Verfassungsschutz und Schutz der Demokratie
Die „wehrhafte Demokratie“ des Grundgesetzes
„Wehrhafte Demokratie“ und Parteienverbot
Zivilisierende Wirkung des Parteienverbots
Angesichts der historischen Erfahrungen, mangelnder demokratischer Tradition und des Fortbestehens autoritärer, antidemokratischer Orientierungen bedurfte die neu begründete Demokratie eines besonderen Schutzes. Dazu schufen die Landesverfassungen und vor allem das Grundgesetz wichtige institutionelle und prozedurale Voraussetzungen, deren Wirksamkeit sich aber erst noch erweisen musste. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich die westlichen Alliierten auch noch nach der Gründung der Bundesrepublik Rechte im Falle einer Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit vorbehielten. Das Grundgesetz in seiner Fassung vom 23. Mai 1949 sah in Art. 143 bis zu einer bundesgesetzlichen Regelung bei schweren Störungen der verfassungsmäßigen Ordnung, Angriffen auf Verfassungsorgane und Versuche, „ein zum Bund oder einem Lande gehöriges Gebiet“ loszureißen, lebenslange Zuchthausstrafen vor. Mit dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.8.1951 (BGBl. I: 739) wurde Art. 143 GG außer Kraft gesetzt. Erst die Notstandsgesetzgebung von 1968 beseitigte weitere Vorbehaltsrechte für den Fall innerer Unruhen, bürgerkriegsähnlicher Zustände oder der äußeren militärischen Bedrohung. Starke Sicherungen wurden gegen verfassungsfeindliche politische Gruppierungen und formal legale Versuche einer Aushöhlung der Demokratie eingebaut. Dies geschah mit den Artikeln 18, 19 und 21 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Grundgesetzgebers für das Konzept einer „wehrhaften“ oder „streitbaren“ Demokratie hatte mehrere Gründe: die Erfahrung von Weimar und des Nationalsozialismus, aber auch die des Stalinismus und des sich verschärfenden Kalten Krieges unmittelbar nach Ende des II. Weltkrieges. Sie hatte ihre Ursachen aber auch in einer durchaus berechtigten Skepsis gegenüber der demokratischen Gesinnung der Deutschen. Daher rühren sowohl die Betonung des repräsentativen Charakters der politischen Ordnung und die starke institutionelle Verankerung der politischen Parteien in Art. 21 des Grundgesetzes als auch die Ausgestaltung der Instrumentarien für eine Verfolgung von Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) und Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2 GG), die sich nicht auf dem Boden der verfassungsmäßigen Ordnung bewegen. Der Verfassungsgesetzgeber hatte bewusst kein Legalitätsgebot in den Art. 21 Abs. 2 GG eingebaut. Es sollte der Entscheidung der zuständigen Verfassungsorgane vorbehalten bleiben, ob ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt würde oder nicht. Von dieser Möglichkeit machte die Bundesregierung Anfang der 1950er-Jahre zweimal Gebrauch, mit dem Antrag beim Bundesverfassungsgericht, die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) zu verbieten, was 1952 geschah, und mit dem Verbotsantrag gegen die KPD, dem das Gericht 1956 stattgab. Ein Verbotsverfahren gegen diese beiden Parteien galt „als Testfall für die Wehrhaftigkeit der Bonner Demokratie“ (Birke, 1994: 368). Beide Verbotsanträge hatten eine Signalwirkung: Sie sollten demonstrieren, dass die zweite deutsche Demokratie nicht bereit war, sich wie die Weimarer Republik von rechts und links in die Zange nehmen zu lassen, sondern dass sie in der Lage und bereit war, sich zu wehren, bevor es zu spät war. Dieser „Demonstrationseffekt“ war sicher heilsam. Zwar entstanden immer wieder rechtsradikale Parteien wie die NPD, die „Republikaner“ und die DVU oder auf dem linken Spektrum Pseudoparteien und kommunistische Splitterpar-
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teien wie die KPD (AO) oder der „Kommunistische Bund Westdeutschlands“ (KBW), aber zum Parteiverbot musste nicht mehr geschritten werden und allen Beteiligten war klar, dass sie – zumindest verbal – bestimmte Regeln einzuhalten hatten. Insoweit haben die beiden Urteile „zivilisierend“ gewirkt. Der Verbotsantrag der Bundesregierung gegen die KPD war 1951 auf dem Höhepunkt des Koreakrieges erfolgt. Mochte aus der damaligen Sicht auch eine Bedrohung der Bundesrepublik seitens der Sowjetunion und ihrer politischen Anhänger bestehen, die KPD, die sich 1949 zur „Partei neuen Typs“ nach dem Vorbild der KPdSU erklärt hatte, stellte eine solche Gefahr im Inneren ganz sicher nicht dar. Das Bundesverfassungsgericht konnte 1956, anders als die Bundesregierung bei ihrem Antrag von 1951, nicht nach Opportunitätsgesichtspunkten entscheiden. Das rechtlich völlig eindeutige und unausweichliche Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht 1956 hatte allerdings eine Reihe von problematischen Konsequenzen. Hier ist vor allem der Umgang der Justiz mit wirklichen oder vermeintlichen Nachfolge- oder „Tarnorganisationen“ der KPD zu nennen. Nach dem KPD-Verbot wurden einige Bestimmungen des StGB äußerst „großzügig“ ausgelegt. Gestützt auf die Rechtsprechung des für Staatsschutzdelikte zuständigen Bundesgerichtshofes (BGH) konnten mit dem Verweis, es handele sich um „Ersatzorganisationen“ der KPD, Organisationen verboten, ihr Vermögen eingezogen und ihre Mitglieder strafrechtlich belangt werden (Schäfer/Nedelmann, 1969: Bd. 1, 174ff.). Ohne Zweifel war die Gründung solcher Organisationen ein oft benutztes Mittel, das Verbot der KPD zu unterlaufen, die Kritik richtete sich jedoch wesentlich gegen die Nutzung rechtsstaatlich anfechtbarer Mittel zur Unterbindung dieses Tatbestandes. Kontakte zu DDROrganisationen standen im Geruch staatsgefährdender und verfassungsfeindlicher Absichten. Diese Erscheinungen konnten von der verbotenen KPD und der DDR propagandistisch genutzt werden. Diese Propaganda, verkoppelt mit der Agitation gegen die Wiederbewaffnung und die angeblichen Pläne für eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr, waren nicht ohne Wirkung. Die historisch begründete und normativ vertretbare Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie drohte, durch überzogene und rechtlich angreifbare Methoden der Abwehr von „Verfassungsfeinden“, das andere Ziel der politischen Ordnung des Grundgesetzes zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu gefährden: Die liberale Demokratie, eine „offene Gesellschaft“ mit weiten Freiheitsspielräumen. Die Parteienverbote waren als präventive Abwehr gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen gedacht und praktiziert worden. Sie hatten aber zugleich eine positive Selbstverständigung darüber zur Folge, welches denn die wesentlichen Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes seien. Da die Verfassung selbst keine Legaldefinition vorgibt, musste sich das Bundesverfassungsgericht in den Parteienverbotsprozessen dieser Aufgabe stellen (BVerfGE 2, 1: 14; 5, 85: 140). Im KPD-Urteil heißt es, dass eine freiheitliche Demokratie mindestens folgende Prinzipien umfasse: „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und
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Problematische Folgewirkungen des KPD-Verbots von 1956
Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“
die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ (BVerfGE 5, 85: 140; KPDProzeß, 1956, Bd. 3: 612)
Verkürzter Antitotalitarismus
Antiliberalismus der frühen Jahre
Dieser normative Maßstab trifft sowohl neo-faschistische und rechtsradikale Parteien und Gruppierungen als auch solche, die sich die Errichtung der Diktatur des Proletariats auf die Fahnen geschrieben haben. Antitotalitarismus bedeutet Ablehnung beider Bestrebungen. Der normative Maßstab, den das Bundesverfassungsgericht in seinem KPD-Urteil zur Bekämpfung verfassungswidriger politischer Bestrebungen vorgab, war nicht die Ablehnung einzelner Bestimmungen oder auch ganzer Institutionen, sondern der Tatbestand, dass „die obersten Ziele der Verfassungsordnung“ verworfen werden und dass „eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung“ hinzukommt, die „dauernd tendenziell auf die Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet ist“ (BVerfGE 5, 85: 141). Bei den bürgerlichen Kräften war dieser „Antitotalitarismus“ traditionell gegen „links“ gerichtet und verlor sehr bald seine antifaschistischen Elemente, die er in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus hatte. Der Kommunismus und die von ihm in Ostdeutschland errichtete Gesellschaftsordnung wurden als das absolute Gegenbild zur freiheitlichen, auf den Werten des Christentums und den kulturellen und sittlichen Prinzipien des Abendlandes beruhenden Demokratien verstanden. Der Kommunismus erschien vielen als die „Herrschaft der vollendeten Gottlosigkeit“ (Röpke, 1957: 3). Die bedrückenden Erfahrungen mit dem Sozialismus Stalinscher Prägung hatten auch in der Sozialdemokratie diejenigen Kräfte bestärkt, die, ähnlich wie bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit Kurt Schumacher, einen dezidiert antikommunistischen Kurs befürworteten. Je länger der Kalte Krieg dauerte und je stärker er die innergesellschaftliche Situation in der Bundesrepublik beeinflusste, umso mehr verblassten die programmatischen Unterschiede vor der gemeinsamen Ablehnung der „totalitären Gefahr“ aus dem Osten. Die gesellschaftskritischen Ansätze der ersten Jahre nach 1945 traten in den Hintergrund und wurden als weltfremde Gedanken kleiner Intellektuellenkreise abgetan, wenn nicht für politisch gefährlich erklärt. Dies bot die Möglichkeit, mit der Kontinuität des Kampfes gegen den Totalitarismus die eigene Vergangenheit zu „bewältigen“. Für lange Zeit hat die innergesellschaftliche Feinderklärung als direkte Folge des äußeren Konflikts eine liberale Entwicklung in der Bundesrepublik behindert. Sie brachte zudem die kulturelle und geistige Elite des Landes in eine Gegnerschaft zur Regierungspolitik, deren problematische Auswirkungen sowohl in unzutreffenden Verdächtigungen gegenüber der Politik als auch verbalen Ausfällen seitens der Politiker führten und die noch in späteren Jahren den Bundeskanzler Ludwig Erhard Schriftsteller als „Pinscher“ und, mit bayerischer Deftigkeit, Franz Josef Strauß die Intellektuellen als „Ratten und Schmeißfliegen“ titulieren ließ. Diese Äußerungen stehen eher in einer Tradition konservativer Formierungstendenzen, als dass sie dem Leitbild einer liberalen Demokratie entsprächen. Der Antiliberalismus der frühen Jahre war durchaus erfolgreich. Unter der Parole „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ (sie wurde 1969 von 98
der NPD wieder aufgelegt) gewann die CDU/CSU 1953 die Bundestagswahlen. Das Wahlplakat zeigte einen finster blickenden Sowjetsoldaten und suggerierte, dass jede Form des Sozialismus, also auch der von der Sozialdemokratie vertretene „demokratische Sozialismus“, in der Diktatur enden werde. Der nicht weniger erfolgreiche Slogan von 1957 „Keine Experimente“ lässt eine gewisse Verschiebung der Sichtachse erkennen. Die Bedrohung war nicht vorbei, aber die Westintegration gelungen und der schnelle wirtschaftliche Aufschwung unübersehbar. Dies galt es zu sichern. Warum da Experimente wagen? Warum eine Partei wählen, die noch immer an alten Vorstellungen festhielt, auch wenn die Wege, die sie wies, offenkundig nicht nach Moskau, sondern nach Godesberg führten? „Keine Experimente“ drückte ebenso knapp wie treffend das Lebensgefühl einer Mehrheit aus: Nach mehr als zwei Jahrzehnten permanenter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unruhe, nach Krieg und Nachkriegszeit war man in der neuen Republik angekommen und wollte seine Ruhe haben. Ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch. Aber dieses Verhalten verweist auch auf tieferliegende Bewusstseinsschichten. Der Wahlslogan appellierte auch an autoritäre Einstellungen und Politikvorstellungen, die noch immer virulent waren. Auch wenn der Antitotalitarismus das geistig-politische Klima in der Bundesrepublik in den 1940er- und 1950er-Jahren bestimmte, war dies nicht die einzige Konfliktlinie, die für die Ausprägung der politischen Kultur entscheidend war. Auch innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ gab es massive Konflikte, die zeitweilig an den Kulturkampf Bismarcks mit der katholischen Kirche und dem Zentrum erinnerten, nur dass jetzt die Vertreter des politischen Katholizismus in der führenden Regierungspartei dominierten und der Gegner in diesem „Kulturkampf“ die Liberalen waren. Nach dem Wahlerfolg der CDU/CSU von 1953 versuchten der katholische Flügel der CDU unter Führung des Familienministers Franz-Josef Wuermeling und der klerikale Flügel in der CSU unter dem bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer den Wahlerfolg auszunutzen und, ähnlich wie dies das Zentrum in der Weimarer Republik getan hatte, eine dezidiert konfessionelle Kulturpolitik durchzusetzen. Versuche, die Entwicklung in diese Richtung zu lenken, waren schon im Vorfeld nicht ohne Erfolg gewesen, dies zeigt die starke Stellung der Religionsgemeinschaften und ihres Einflusses auf das Schulwesen in Art. 7 GG der, anders als im Herrenchiemseer Entwurf, in Absatz 3 den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einführte, der „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Versuche der CDU, die Konfessionalisierung des Schulwesens noch weiter zu treiben (so bestanden in einigen Bundesländern nahezu ausschließlich konfessionelle „Bekenntnisschulen“) und der Beginn einer Kampagne gegen „Schmutz und Schund“, worunter z.B. auch Comics fielen, die Eindämmung „unsittlicher“ Einflüsse im Kino oder Theater und Pläne zur Verschärfung der Bestimmungen gegen „Gotteslästerung“ und des Scheidungsrechts brachten die Liberalen auf den Plan. Sie waren, bei allen, z.T. erheblichen Differenzen zwischen städtischen Liberalen und eher ländlichkonservativen Nationalliberalen, einig in ihrem Laizismus und „Antiklerikalis-
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Kulturpolitischer Grundsatzstreit im bürgerlichen Lager
Konfessionalisierungstendenzen versus Säkularisierung
Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Widersprüchliches Bild der 1950er-Jahre
mus“. Dieser wurde sogar bewusst gepflegt, weil er als Integrationsideologie innerhalb der Partei nützlich war. Der bereits in der Weimarer Republik heftig geführte Streit um die Konfessionsschule entbrannte erneut. Die FDP, unterstützt von den Sozialdemokraten, die in den frühen 1960er-Jahren die entscheidenden Schritte in der Schulreform unternahmen (Hessen hatte seinerzeit eine Art Pilotfunktion), plädierten für die gemischt-konfessionelle Gemeinschaftsschule als Regelschule und die Aufhebung der konfessionellen Trennung der Lehrerbildungsanstalten, die es in einigen Bundesländern noch immer gab. Dass es sich bei diesem neuen Kulturkampf nicht um einen „Nebenkriegsschauplatz“ der Parteipolitik handelte, zeigte das bayerische Exempel, wo 1954 die SPD, die Bayernpartei, die FDP und der BHE eine Koalition gegen die CSU schlossen, deren klerikale Kulturpolitik erhebliche Widerstände produziert hatte. Diese Versuche der CDU/CSU schlugen fehl. Zum einen war eine solche rückwärtsgewandte Politik nicht geeignet, sich dem allgemeinen Modernisierungs- und Säkularisierungstrend entgegenzustemmen, wie dies ihre Protagonisten erhofft hatten. Dieser Prozess drang allmählich auch in die konservativagrarischen Hochburgen des politischen Katholizismus vor. Zum anderen stellte diese Politik mittelfristig eher ein Handikap für den Versuch der CDU (und damals noch in geringerem Maße der CSU) dar, sich gegenüber den städtischen Mittelschichten zu öffnen. Und schließlich war die Bevölkerung in Deutschland erstmals seit dem Westfälischen Frieden von 1648 nur in Ausnahmefällen konfessionell homogen. Die Millionen Flüchtlinge waren ungeachtet ihrer konfessionellen Zugehörigkeit über die Länder verteilt. Der mühsame und langwierige Prozess des sich Aneinander-Gewöhnens und -Akzeptierens zwischen Protestanten und Katholiken trug erste Früchte und stand einer Reklerikalisierung der Politik entgegen. Für lange Zeit haben diese Versuche einer konservativ-klerikalen Formierung der Bundesrepublik die CDU/CSU in Gegnerschaft zu Liberalen und Intellektuellen und zu den aufstrebenden urbanen Mittelschichten gebracht. Der Versuch, kulturelle Hegemonie zu erlangen, endete mit einer Niederlage. Diese Feststellung bedeutet aber nicht, dass dies auch eine politische Niederlage bei den nächsten Wahlen nach sich zog. 1957 erlangte die CDU/CSU die absolute Mehrheit der Stimmen in der Bundestagswahl. Die Kulturpolitik war ein Indikator für den langsamen, aber stetigen Fortschritt der Bürgergesellschaft in Westdeutschland, wahlentscheidend waren andere Faktoren: die erfolgreiche Außenpolitik Adenauers, das „Wirtschaftswunder“, die Heimkehr der Kriegsgefangenen. Antikommunismus und konservative Formierungstendenzen schufen ein geistig-politisches Klima, in dem vieles von dem, was als Angebot des Grundgesetzes bezeichnet werden kann, auf der Strecke zu bleiben drohte. Die vom Grundgesetz offerierten Instrumente einer Staatsbürgergesellschaft mussten freilich stumpf bleiben, wenn nicht soziale und politisch-kulturelle Veränderung in der Gesellschaft die Voraussetzungen dafür schufen, dass sie auch genutzt werden konnten. Das Bild der 1950er-Jahre ist widersprüchlich: Auf der einen Seite wurde eine Reihe nachgerade revolutionärer Schritte in Richtung einer offenen Gesellschaft gemacht, auf der anderen Seite gab es Tendenzen der Regression und Res-
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tauration tradierter obrigkeitsstaatlicher Muster. Dieser Widerspruch lässt sich mit dem kurzen Hinweis auf Entwicklungen wie die Einführung der Mitbestimmung und der korporativen Regelung von Arbeitskonflikten belegen, noch deutlicher vielleicht mit der Einführung des dem Bundestag verantwortlichen „Wehrbeauftragten“ und des Prinzips der „Inneren Führung“ in der Bundeswehr mit ihrem Leitbild des Bürgers in Uniform. Beides waren vorwärtsweisende Versuche, in Bereichen, die der Demokratisierung am wenigsten zugänglich schienen, staatsbürgerschaftliche Ideen und moderne Vorstellungen von rationaler Konfliktaustragung zu verankern. Auf der anderen Seite steht ein Freund-Feind-Denken, das sich im Kalten Krieg herausgebildet hat, ein oft psychotischer Antikommunismus und Versuche kultureller Restauration. Sie verzögerten den Eintritt der Bundesrepublik in die soziale und kulturelle Moderne.
3.1.5 Der Herbst des Patriarchen: Kanzlerschaft auf Abruf Die wirtschaftliche und politische Leistungsbilanz und die klare Profilierung eines innenpolitischen Feindbildes verhalfen der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1957 zur absoluten Mehrheit. Dieses Wahlergebnis war die Anerkennung für eine erfolgreiche Politik der wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung und der unerwartet schnellen Einbindung der Bundesrepublik in die „freie Welt“ der westlichen Demokratien. Damit hatten sich die politischen Visionen Konrad Adenauers erschöpft. Bereits in der Mitte der dritten Legislaturperiode begannen Diskussionen Nachfolgediskussion über einen Personenwechsel an der Spitze der Regierung. Konrad Adenauer und „Präsidentenkrise“ (geb. 1876) war 1957 81 Jahre alt. Es war nach menschlichem Ermessen nicht zu erwarten, dass er die ganze Legislaturperiode durchstehen könne. Da lag es nahe, über die Zeit nach Adenauer nachzudenken. Ein „geborener“ Nachfolger stand mit dem Wirtschaftsminister und „Vater des Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, bereit. Nur war der Amtsinhaber nicht bereit, seine Position zu räumen. Gleichwohl entbrannte der „Kampf ums Kanzleramt“ (Koerfer, 1987) zwischen Ludwig Erhard und dem Kanzler, der seinen Wirtschaftsminister für einen ungeeigneten Kanzlerkandidaten hielt. Als 1959 Theodor Heuss, der allseits geachtete liberale Bundespräsident, die ihm angetragene Kandidatur für eine dritte Amtsperiode ablehnte (die freilich eine Grundgesetzänderung erforderlich gemacht hätte) plante Adenauer eine Zeitlang selbst zu kandidieren, offenkundig in der fehlgeleiteten Erwartung, als Präsident weiter „regieren“ zu können und den unvermeidlichen Nachfolger, Ludwig Erhard, in Schach zu halten. In einer Rundfunkansprache vom 8. April 1959 bemerkte Adenauer in diesem Zusammenhang: „Die Stellung, die Aufgaben und die Arbeit des Präsidenten werden in der deutschen Öffentlichkeit zu gering eingeschätzt. Sie sind viel größer, als man schlechthin glaubt“ (zit. nach: Schindler, 1984: 396). Hier war der Kanzler nicht nur juristisch schlecht beraten, sondern leistete sich auch noch einen Affront gegen den amtierenden Präsidenten (Zum Ablauf der „Bewerbung“ Adenauers vgl.: H.-P. Schwarz, 1983: 180ff.; Pikart, 1976: 131ff.). Adenauers Bewerbung um das Präsidentenamt und sein späterer 101
Führungsschwäche angesichts der Krise vom 13. August 1961
Die Bundestagswahl von 1961
Problematische Rolle der FDP
Rückzug führten zwar zu keiner Staatskrise, schwächten aber seine Autorität erheblich (Dönhoff, 1963:21f.; Morsey, 1995: 75). Andere Fehlentscheidungen kamen hinzu und offenbarten nachlassende Führungskraft. Vor allem Adenauers vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterter Versuch, 1960 eine aus Bundesmitteln finanzierte „Deutschland-Fernsehen GmbH“ als „Regierungsfernsehen“ einzurichten, stellte eine schwere Niederlage der Regierung dar. (In der Folge wurde in einem Staatsvertrag zwischen dem Bund und den Ländern das ZDF als zweite Fernsehanstalt eingerichtet.) Im Herbst des Jahres 1961 schließlich, wenige Wochen vor der Bundestagswahl vom 17. September, wurde am 13. August in Berlin die Mauer errichtet. Kanzlerkandidat der SPD war der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, der, im Wahlkampf als Emigrant geschmäht, in der Krise das Format eines Staatsmanns zeigte. Konrad Adenauer, dem Berlin stets suspekt gewesen war, setzte seine Wahlkampfreise fort und diffamierte seinen Gegenkandidaten in einer öffentlichen Kundgebung als „Herrn Brandt alias Frahm“ (Brandts Geburtsname, den er in der Illegalität und Emigration abgelegt hatte). Der Schock des 13. Augusts und das Zögern und Unvermögen der westlichen Alliierten, irgendwelche Gegenmaßnahmen zu ergreifen und schließlich das unangemessene Verhalten der Bundesregierung und Adenauers führten zu einer tiefen Stimmungskrise. „Der Westen tut nichts... Präsident Kennedy schweigt... Macmillan geht auf die Jagd... und Adenauer schimpft auf Willy Brandt“ titelte die Bildzeitung am 16. August 1961. Vor diesem politischen Hintergrund verwundert es nicht, dass die politische Landschaft in Bonn bereits vor der Bundestagswahl in Veränderung begriffen war. Die FDP, seit 1955 in der Opposition, sah ihre Chance. Sie unterstützte aus Überzeugung den wirtschaftspolitischen Kurs Ludwig Erhards und gab für den Wahlkampf 1961 die Parole aus: „Für die CDU – gegen Adenauer.“ Die CDU war mit der – nach zwölfjähriger autokratischer Herrschaft des „Alten“ – bemerkenswerten Wahlparole „Adenauer, Erhard und die Mannschaft“ in den Wahlkampf gezogen. Nachdem die CDU/CSU in den Bundestagswahlen mit einem Stimmenverlust von 5% nur noch 45,3% der Stimmen erreicht hatte und die FDP, nicht zuletzt wegen dieser klaren Wahlaussage ihren Stimmenanteil von 7,7% im Jahre 1957 auf 12,8%, das beste Ergebnis ihrer Geschichte, erhöhen konnte, schien der Kanzlerwechsel unausweichlich. Er fand nicht statt. In der bis 1961 währenden Oppositionszeit hatte die FDP versucht, sich als eigenständige liberale Partei zu profilieren, was ihr, wie das Wahlergebnis zeigte, auch gelungen war. Die bürgerlichen Wähler honorierten ihre Absicht, in eine Koalition mit der CDU/CSU, ohne den greisen Bundeskanzler Adenauer, sondern unter der Kanzlerschaft Ludwig Erhards einzutreten. Das Wahlergebnis hätte zwar rechnerisch eine sozial-liberale Koalition möglich gemacht, die programmatischen Unterschiede waren aber zu groß, um ein solches Experiment zu wagen. So blieb die angestrebte Koalition mit der Union, die aber noch nicht bereit war, auf Adenauer als Kanzler zu verzichten. Zwei Tage nach der Wahl vom 17. September 1961 beschlossen die führenden FDP-Gremien, sich, ihrer Wahlaussage entsprechend, nicht an einer Bundesregierung unter Konrad Adenauer zu beteiligen, während auf einer Sitzung des Bundesvorstandes der CDU Adenauer aufgefordert wurde, erneut als Kanzler zu
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kandidieren. Nach komplizierten Verhandlungen trat die FDP doch in das vierte Kabinett Adenauer ein, nachdem dieser in einem Brief zugesagt hatte, im Laufe der Legislaturperiode zurückzutreten, um einem Nachfolger genügend Zeit zur Einarbeitung zu lassen. Ein konkretes Datum wurde nicht genannt. Vorausgegangen waren machtpolitische Ränkespiele, die Adenauer noch einmal auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten zeigten: Die FDP hatte ihre Wahlkampagne darauf angelegt, einen Keil in die CDU/CSU zu treiben, eine interne Revolte sollte den Kanzlerwechsel bewirken. Adenauer nutzte geschickt die Interessendifferenzen in der CDU. Den Sozialausschüssen und dem Arbeitnehmerflügel musste vor einer neoliberalen Koalition Ludwig Erhards mit der FDP bange sein, sie mussten deshalb ein Interesse am status quo haben. Deren Unterstützung sicher, lancierte Adenauer Gerüchte, er sei notfalls auch zu einer großen Koalition mit der SPD bereit. Dies bewog u.a. den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), Druck auf die FDP auszuüben, Adenauer nicht in die Arme der SPD treiben zu lassen. Ludwig Erhard zog schließlich seine Kandidatur zurück und die FDP gab klein bei. Als am 2./3. November 1961 ein Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP (unter ihrem Vorsitzenden Erich Mende) unterschrieben wurde, ist dies in der breiten Öffentlichkeit als „Umfallen“ der FDP gewertet worden, obwohl eine alternative SPD-FDP-Regierung angesichts großer politischer Differenzen und bei einer CDU-Opposition mit nur acht Sitzen unterhalb der absoluten Mehrheit kaum realistisch und wenig erstrebenswert war. Die FDP setzte in der Koalition mit der CDU/CSU auf die Politik des begrenzten Vetos und verstand sich als Kontrollinstanz in der Regierung, eine Konzeption, die bis 1998 zu ihrem „Markenzeichen“ wurde. Das Siegel der „Umfallerpartei“ konnte die FDP nie ganz loswerden. Im November 1962 schien endgültig das Ende der Ära Adenauer gekommen zu sein. Der zweite Nachfolgekampf entbrannte. Anlass war die „SpiegelAffäre“, zu der es vor allem wegen des Verhaltens des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß kam. Die Aktion gegen den Spiegel wegen dessen Veröffentlichungen über eine Rüstungsbeschaffungsaffäre („Fibag-Affäre“), die in der Durchsuchung der Redaktionsräume und Verhaftung des Chefredakteurs, Rudolf Augstein, und des Spiegel-Redakteurs und späteren Regierungssprechers, Conrad Ahlers, gipfelte, war an zwei zuständigen FDP-Ministern, dem Bundesjustizminister und dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen vorbei betrieben worden (Zum Verlauf der Affäre vgl.: Grosser/Seifert, Bd. 1, 1966: 196ff.). In der parlamentarischen Debatte wurde die Angelegenheit seitens der Regierung als der „ernsteste Verdacht eines Landesverrats, der in der Nachkriegsgeschichte überhaupt entstanden ist“ (Innenminister Hermann Höcherl) behandelt, und der Bundeskanzler sprach von einem „Abgrund von Landesverrat im Lande“ (Grosser/Seifert, 1966, Bd. 1: 307 und 333). Die Funktion der FDP als interner Kontrollinstanz war gefährdet. Am 19. November erklärten die FDP-Minister ihren Rücktritt, am 20. November reichten auch die CDU/CSU-Minister ihre Demission ein, um einem Missbilligungsantrag der SPD gegen den Hauptverantwortlichen der Affäre, Franz Josef
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Machtkampf in der CDU
Die Spiegel-Affäre von 1962
Vertrauliche Gespräche über eine Große Koalition
Das Ende der Ära Adenauer
Strauß, zuvorzukommen. Der FDP wurde die Schuld an der Auflösung der Koalition zugewiesen. Im Zuge dieser Regierungskrise hat es vertrauliche Gespräche zwischen SPD und CDU/CSU, geführt von Herbert Wehner und Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg von der CSU, über eine große Koalition gegeben, eine Möglichkeit, die Adenauer auch als Drohung gegenüber der FDP angedeutet hatte, als er davon sprach, dass er alle Schritte zu unternehmen gedächte, „um auf schnellstem Wege die volle Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herzustellen und wieder eine stabile Politik zu gewährleisten“ (zit. nach: Grosser/Seifert, 1966, Bd. 1: 202). Ein Gesprächstermin des Bundeskanzlers mit der SPD Anfang Dezember, in dem es um die Frage einer möglichen großen Koalition gehen sollte, kam dann aber nicht zu Stande, weil die SPD erkennen ließ, bei diesem Anlass auch über eine Ablösung Adenauers diskutieren zu wollen. Theoretisch gab es neben der Regierung von CDU/CSU und FDP zwei Optionen, eine sozial-liberale oder eine große Koalition. Die erste Option erschien der Sozialdemokratie wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse, der politischen Programmatik der FDP und ihrer Festlegung auf die Partnerschaft mit der CDU/ CSU weder sonderlich attraktiv noch belastungsfähig. Frühere Regierungskrisen hatten, wie 1955, zu Abspaltungen geführt, die seitens des nationalliberalen Flügels auch im Falle einer Koalition mit der SPD zu erwarten waren – und nach 1969 auch tatsächlich eintraten. Damit blieb der SPD nur die Option einer großen Koalition als Weg zur Regierungsbeteiligung. Wie ernst die vertraulichen Gespräche zwischen CDU/ CSU und SPD über die Große Koalition waren, ist unklar. Es spricht manches für die These, in diesen Verhandlungen einen geschickten Schachzug der Union zu sehen, um mit der Diskussion über das Mehrheitswahlrecht einen Keil zwischen SPD und FDP zu treiben. Ob damit, wie Jürgen Seifert meint, „Ansätze der Gemeinsamkeit“ zwischen beiden Parteien zerstört und die „1962 als Chance bestehende Möglichkeit einer vom Wähler honorierten Koalition“ von SPD und FDP zerschlagen wurde (Grosser/Seifert, 1966, Bd. 1: 207), darf füglich bezweifelt werden – zu groß waren zu dieser Zeit noch die programmatischen Unterschiede zwischen den beiden späteren Regierungspartnern. Das schließliche Ergebnis jedenfalls war eine Erneuerung der CDU/CSUFDP-Regierung am 11. Dezember 1962, erneut unter der Führung von Konrad Adenauer und erneut mit der Zusage einer zeitlichen Begrenzung seiner Kanzlerschaft, die Adenauer im März 1963 dahingehend präzisierte, dass er gedenke, sein Amt im Herbst aufzugeben. Als Adenauer am 15. Oktober 1963 im Alter von 87 Jahren nach 14 Jahren und einem Monat Amtszeit zurücktrat und der Bundestag einen Tag später Ludwig Erhard zum Kanzler wählte, ging eine Ära zu Ende. Man kann darüber streiten, wie lange sie dauerte. Arnulf Baring datiert sie sehr kurz, von 1953 bis 1959. Er hat recht, wenn er darauf verweist, dass Adenauer erst von 1953 an sicher im Sattel saß und schon 1959, zwei Jahre nach dem triumphalen Wahlsieg von 1957 „nicht nur außenpolitisch, sondern gerade auch innenpolitisch mit seinem Latein schon wieder am Ende“ war (Baring, 1984: 30).
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Diese Bewertung schätzt jedoch die entscheidende Rolle Adenauers in der Gründungsphase der Bundesrepublik zu gering ein. Da war der erste Satz eines früheren Buches von Baring schon zutreffender: „Am Anfang war Adenauer – so lässt sich der Beginn der Bundesrepublik kurz kennzeichnen“ (Baring, 1971: 17). Richtig ist aber auch, dass die letzten Jahre der Ära Adenauer, beginnend mit der Nachfolgekrise für das Amt des Bundespräsidenten, von wachsender Erosion der Autorität des Kanzlers und ungelösten internen Konflikten in wichtigen Politikbereichen gekennzeichnet waren. Zudem hatte es die CDU/CSU mit einer Gesellschaft zu tun, die allmählich aus der Lethargie der 1950er-Jahre erwachte. Dieser Entwicklung in der Gesellschaft stand – zumindest auf der Bundesebene ein allmählich erstarrendes Machtgefüge gegenüber, in dem ein Regierungs- oder Kanzlerwechsel als Gefahr für den Bestand der noch fragilen demokratischen Ordnung erschien. Die föderale Struktur der Bundesrepublik verhinderte allerdings, dass sich diese Erstarrungstendenzen über das gesamte politische System legen konnten. Der Föderalismus bot den Bürgern die Möglichkeit, auf Landesebene andere Parteienkoalitionen ins Amt zu wählen und gab damit der permanenten Opposition die Chance, sich in Regierungsämtern in den Ländern zu bewähren und politisches Profil zu entwickeln. Es war daher kein Zufall, dass sich der allmähliche Aufstieg der SPD zur Regierungspartei auf Bundesebene über die Länder vollzog. (Ein ähnliches Phänomen war während der sozial-liberalen Regierungszeit bei der CDU zu beobachten.)
3.2
Das Interregnum
In den letzten Jahren seiner Amtszeit erschien die Figur des greisen Kanzlers Adenauer wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Die Gesellschaft der Bundesrepublik begann sich aus der relativen Starre und Bewegungslosigkeit der Aufbauzeit zu lösen. Die „Spiegel-Affäre“ im Oktober 1962, in der sich unverkennbare Anzeichen einer Wendung zu obrigkeitsstaatlichem Verhalten verantwortlicher Politiker und Institutionen zeigten, hatte einerseits als Katalysator für eine liberale Öffnung im politischen Leben der Bundesrepublik gewirkt. Nach den Anstrengungen des Wiederaufbaus Mitte der 1950er-Jahre und den Jahren der Konfrontation im Zeichen des Kalten Krieges war es andererseits nur zu verständlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Konfrontation und Auseinandersetzungen müde war und ein „normales“ Leben in relativem Wohlstand genießen wollte. Diesen Erwartungen schien der Wirtschaftsminister und Kanzleranwärter, Ludwig Erhard, weit mehr zu entsprechen als Konrad Adenauer, auch wenn er immer davor warnte, sich ausschließlich dem Genuss des Erreichten hinzugeben. Er war, neben Adenauer, der populärste Politiker der Nachkriegszeit. Er schien aber eher als Adenauer ein Garant dafür zu sein, dass die sich abzeichnenden Folgen des Modernisierungsprozesses sich bewältigen ließen. Adenauers Politikverständnis und Wahrnehmungsmuster waren viel stärker durch die großen politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der Zwischen- und Nachkriegszeit geprägt worden. Erhard hingegen schien Wohlstand, soziale Si-
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cherheit und Beständigkeit und Bewältigung der Zukunft zugleich zu versprechen. Diesen Zusammenhang hat er in seiner Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 angesprochen: „Wir haben unseren Blick vorwärts zu richten. Nicht nur die Bundesrepublik, sondern die ganze Welt ist im Begriff, aus der Nachkriegszeit herauszutreten. Die Völker sind in Bewegung geraten. Den Strom der Zeit können wir zwar nicht lenken, aber wir werden unser Schiff sicher steuern. In dieser Zeit ist auch die deutsche Politik zum Handeln aufgerufen“. (Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 90. Sitzung vom 18.10.1963: 4192)
3.2.1 Die Regierung Erhard Ludwig Erhard als „Volkskanzler“ und „Vater des Wirtschaftswunders“
Das zentrale Problem Ludwig Erhards war, dass er in seiner Partei nur schwach verankert war. Er ist, wie es ein amerikanischer Politikwissenschaftler ausgedrückt hat (Conradt, 1982: 158), nur ein „Gast“ in der CDU gewesen. Zudem ging ihm das taktische Geschick und das Machtbewusstsein Adenauers ab. Er geriet in das Kreuzfeuer der Kritik seines Vorgängers, dem er den Parteivorsitz nicht streitig gemacht hatte, und des ebenso machtbewussten wie intriganten CSU-Vorsitzenden, Franz Josef Strauß, die beide versuchten, die Rolle eines „Nebenkanzlers“ zu spielen. Hinzu kam der Widerstand CDU-geführter Länder im Bundesrat. Erhard versuchte, seine mangelnde Unterstützung in der Partei dadurch wettzumachen, dass er, der populäre „Vater des Wirtschaftswunders“, sich als „Volkskanzler“ präsentierte, eine Taktik, die partiell erfolgreich war. In den Bundestagswahlen von 1965 konnte die CDU leichte Stimmengewinne von 2,3% verbuchen und erreichte 47,6% der Stimmen, ihr zweitbestes Ergebnis seit 1949. „Wirtschaftswunder“ und soziale Integration waren das Kennzeichen der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Der Repräsentant des Wirtschaftswunders war Ludwig Erhard. Eine bis Mitte der 1960er-Jahre krisenfreie Entwicklung schuf das Fundament für eine anfangs fragile und durch antidemokratische Traditionen gefährdete Demokratie. Die politische Identität der Bundesrepublik war wesentlich durch zwei Faktoren bestimmt, den wirtschaftlichen Erfolg und die Westintegration. Das Wirtschaftswunder, der Mythos der eigenen Tüchtigkeit und die weitgehend gleichberechtigte Rolle, die die Bundesrepublik auf der europäischen Bühne spielen konnte, lenkten erfolgreich von den individuellen und kollektiven Belastungen der jüngsten Vergangenheit ab. Als Mitte der 1960er-Jahre erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Stagnation einsetzte, wurde erkennbar, dass das „goldene Zeitalter“ (Hobsbawm, 1994) beendet war. Ludwig Erhards Idee Der vorerst kaum wahrnehmbaren Verunsicherung angesichts geringerer einer „formierten ökonomischer Wachstumsraten und aufgestauter und verzögerter ReformvorhaGesellschaft“ ben (z.B. im Bildungssektor – von einer „Bildungskatastrophe“ war die Rede) setzte Ludwig Erhard seine Vision einer von tief greifenden sozialen Konflikten und Klassenspaltungen freien „formierten Gesellschaft“ gegenüber. Als Gefahr für den Bestand der politischen und gesellschaftlichen Ordnung machte er das utilitaristische Verhalten und das „einseitige materielle Wohlstandsstreben“ aus,
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also Verhaltensweisen, die durch die marktwirtschaftliche Ordnung gefördert wurden und zu ihrem Erfolg beigetragen hatten. Die Gesellschaft könne und dürfe sich nicht in der Befriedigung egoistischer Gruppeninteressen erschöpfen, sie bedürfe vielmehr „eines höheren Bewusstseins ihrer Einheit und ihres Leistungswillens“. Die Vorstellung einer „formierten Gesellschaft“ war ein mixtum compositum von normativer Idee und gesellschaftlicher Strukturpolitik. Offenbar schwebte Erhard ein neuer Aufbruch vor, vergleichbar dem der unmittelbaren Nachkriegszeit. Erhard formulierte hier eine weit verbreitete Haltung, die mit der Idee einer bürgerschaftlichen Demokratie nur schwer vereinbar war: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Wohlfahrt verdankten sich einer handlungs- und entscheidungsfähigen Regierung, deren oberste Sorge das Wohl der Bürger sei. Dahinter stand eine Auffassung, die Ralf Dahrendorf als „Sehnsucht nach Synthese“, geboren aus einer Aversion gegen Konflikte bezeichnet hat (Dahrendorf, 1965: 223). Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des Jahrhunderts war ein verbreitetes Harmoniebedürfnis nur zu verständlich. Der parlamentarischen Demokratien eigene Streit um Macht und Einfluss und das Wesen des demokratischen Wettbewerbs – einschließlich der aus taktischen Kalkülen inszenierten Konflikte zwischen den Parteien und politischen Gruppierungen – überforderten dieses Harmoniebedürfnis. Die Abneigung vor sozialen und politischen Konflikten und die Suche nach Synthese ging mit der Umdeutung des wirtschaftlichen Erfolgs der Bundesrepublik als „Überwindung des Klassenkampfes“ und seiner Ersetzung durch das Prinzip der „Sozialpartnerschaft“ einher. Kaum ein Jahr später war dieses Urvertrauen tief erschüttert. Die Bundesrepublik durchlebte ihre erste Wirtschaftskrise – verglichen mit der Situation dreißig Jahre später ein kaum der Erwähnung werter Rückschlag, aber in der Wahrnehmung der Zeitgenossen der Verlust einer Illusion. Erste Anzeichen eines mehr als nur konjunkturellen wirtschaftlichen Ein- Die erste bruchs waren erkennbar. Ein leichter Rückgang des Wirtschaftswachstums führte Wirtschaftskrise der Bundesrepublik zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, die im Jahre 1967 2,1% erreichte. Dies wurde allgemein als Krisensignal wahrgenommen. Der Kanzler hatte auf dem Feld, das seinen überragenden Ruf begründete, der Wirtschaftspolitik, keine Antworten parat. Seine Autorität war einem rapiden Erosionsprozess ausgesetzt. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmendaten Mitte der 1960erJahre war begleitet von politischer Unsicherheit und dem Verlust des Selbstbewusstseins. Wahlerfolge der neonazistischen NPD taten ein übriges, um der bisherigen konzeptlosen Politik den Rücken zu kehren und einen politischen Neubeginn zu versuchen. Das Ende der kurzen Amtszeit Erhards kam mit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Juli 1966, die Erhard mit einem populistischen Appell als Referendum für seine „Volkskanzlerschaft“ deklariert hatte. Dieser Test erwies sich als fataler und folgenreicher Fehlschlag. Die erste wirtschaftliche Krise der Bundesrepublik hatte das nachgerade mythisch überhöhte Bild des „Vaters des Wirtschaftswunders“ beschädigt. Die SPD erhielt fast die absolute Mehrheit der Stimmen 49,5% (1962: 43,3%) und die CDU-Stimmen sanken von 46,4% 1962 auf 42,8%.
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Autoritätsverfall des Kanzlers und Aufkündigung der Koalition durch die FDP
Das Wahldebakel gab den Ausschlag für einzelne CDU-Abgeordnete, öffentlich die Ablösung Erhards als Kanzler zu fordern. Die Befürworter einer Großen Koalition mit der SPD gewannen an Boden. Eine Reihe innen- und außenpolitischer Misserfolge verstärkte Zweifel an Erhards Führung. Im August ging die FDP-Führung auf Distanz. Der FDP-Vorsitzende Mende erklärte in einem Interview, dass jede Partei mit jeder koalitionsfähig sei und spielte damit die SPD-Karte aus, während der CDU-CSU-Fraktionsvorstand nach weiteren Querelen eine Loyalitätserklärung abgab: „Ludwig Erhard ist und bleibt unser Bundeskanzler.“ In der Koalition verschärften sich die Konflikte. Es ging vor allem um die Verabschiedung des Bundeshaushalts und die Mittel eines notwendigen Ausgleichs von Haushaltsdefiziten. Die FDP-Minister wehrten sich vehement gegen Steuererhöhungen als Mittel der Haushaltssanierung. Diese Auseinandersetzungen, deren politische Weiterungen seitens der FDP möglicherweise unterschätzt wurden, führten schließlich am 27. Oktober 1966 zur Aufkündigung der Koalition durch die FDP und zum Rücktritt ihrer Minister. Damit konnte sich die amtierende CDU-Regierung nur noch auf eine Minderheit im Bundestag stützen. Die Position Erhards war unhaltbar geworden. Er machte am 1. November 1966 den Weg zur Nominierung eines neuen Kanzlerkandidaten frei und trat am 30. November von seinem Amt zurück. Bilanz der Die kurze Kanzlerschaft Erhards war durch Misserfolge und aufkommende Kanzlerschaft Krisen gekennzeichnet. Das Scheitern Erhards war aber auch der inneren SituatiLudwig Erhards on seiner Partei geschuldet, die nur zögerlich, wenn überhaupt bereit war, sich den neuen Gegebenheiten zu stellen. So wurde, nicht zuletzt wegen mangelnder Führungskraft unter Erhards Kanzlerschaft, so urteilt ein britischer Deutschlandexperte, die Kanzlerdemokratie zu einer „Kanzleranarchie“ transformiert. Die Erfahrung der Regierungszeit Erhards hatte gezeigt, dass die konstitutionellen Rechte und die Macht des Regierungsapparates nicht ausreichen, dem Kanzler Entscheidungskompetenz und Durchsetzungsmacht zu sichern. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass es ihm gelingt, seine konstitutionellen Möglichkeiten parteipolitisch abzusichern – und das heißt, zugleich Vorsitzender der Regierungspartei zu sein (Padgett, 1994: 54). Ludwig Erhard und später Helmut Schmidt haben ähnliche Erfahrungen gemacht. In entscheidenden Krisensituationen waren sie der Unterstützung ihrer eigenen Partei nicht sicher. In beiden Fällen führte dies zu einer Schwächung ihrer Position und trug nicht unerheblich zu ihrem Sturz bei.
3.2.2 Die Große Koalition als Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise Angesichts der unklaren Situation bildeten alle drei Parteien formal legitimierte Verhandlungskommissionen mit offenem Auftrag – auch dies ist eine Einmaligkeit in der Geschichte der Bundesrepublik. Theoretisch standen folgende Optionen zur Auswahl: Fortführung der CDU/CSU-FDP-Koalition, Bildung einer Großen Koalition, Bildung einer rechnerisch möglichen sozial-liberalen Koalition oder Tolerierung einer CDU/CSU-Minderheitsregierung. Ernsthaft in Frage
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kamen nur die beiden ersten Optionen, obwohl auch die anderen kurzfristig ventiliert wurden. Für eine Große Koalition ergab sich eine Reihe von Schwierigkeiten, die die SPD veranlassten, einen Forderungskatalog aufzustellen, den eine künftige Bundesregierung zu erfüllen habe. Dazu zählte die Klärung des Verhältnisses zu Washington und Paris, der Verzicht auf atomaren Mitbesitz, die Normalisierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarvölkern und zur DDR, Sanierung der Staatsfinanzen und die Neuordnung der finanziellen Verhältnisse zwischen Bund, Ländern und (Dokumente zur Deutschlandfrage, Bd. 4, Bonn 1966:417). Sowohl innerhalb der SPD (Willy Brandt, Heinz Kühn) als auch in der FDP (Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher) gab es Befürworter einer sozial-liberalen Koalition. Die knappen Mehrheitsverhältnisse und die notorische „Unberechenbarkeit“ der FDP ließen aber ein Misstrauensvotum gegen Erhard wenig erfolgversprechend erscheinen. Angesichts des politischen Problemdrucks, der auf jeder künftigen Regierung lasten würde, erschien das Experiment einer sozial-liberalen Koalition trotz einer rechnerischen Mehrheit von sechs Stimmen (sechs weniger als 1969) mit unabsehbaren Risiken behaftet. Hinzu kamen erhebliche Vorbehalte gegen ein solches Bündnis von Seiten des wirtschaftsliberalen Flügels der FDP. Nachdem die FDP bei den bayerischen Landtagswahlen eine Niederlage erlitten hatte, setzte sich in der SPD der Kurs Herbert Wehners durch, der eine Große Koalition als notwendiges, weil konsolidierendes Durchgangsstadium zu einer von der SPD geführten Bundesregierung ansah. Der Rücktritt Erhards erfolgte am 30. November, die Wahl Kurt Georg Kiesingers zum Bundeskanzler der neu gebildeten Großen Koalition einen Tag später am 1. Dezember 1966. Vorausgegangen war dem ein Antrag der SPD, der im Bundestag eine Mehrheit fand, der Kanzler solle die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG stellen, ein Ansinnen, das Erhard mit dem Argument ablehnte, er wolle „nicht gegen Geist und Sinn der Verfassung verstoßen“. An ihm werde eine regierungsfähige Mehrheit nicht scheitern, er klebe nicht an seinem Sessel, er lehne es aber ab, „an einem Schauprozess teilzunehmen“ (zit. nach: Schindler, 1975: 399). Anders als beim Wechsel von Adenauer zu Erhard oder später beim Wechsel von Brandt zu Schmidt stand diesmal kein unangefochtener Nachfolger zur Verfügung. Dies führte zu einer in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Konstellation. Es ist die einzige Kanzlerwahl, in der die Meinung der Parlamentsfraktion den Ausschlag gab, wobei es allerdings Vorentscheidungen im Bundesvorstand der CDU gegeben hatte (Greven, 1991: 212). Bei dieser Auswahl zeigte sich erneut, dass die Differenzen in Fragen der Außenpolitik innerhalb der CDU/CSU-Fraktion noch virulent waren: die „Gaullisten“ stützten den Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel, die „Atlantiker“ den Außenminister Gerhard Schröder. Nominiert wurde im dritten Wahlgang mit deutlicher Mehrheit der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger. Gegen seine Kandidatur gab es in der Öffentlichkeit heftige Proteste wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und Propagandatätigkeit im Dritten Reich – der „Ex-Nazi“ Kiesinger war eine der Symbolfiguren der sich in Folge der Großen Koalition entwickelnden Protestbewegung. Er stand für eine angebliche
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Politische Rahmenbedingungen der Regierungsbildung
Parlamentarisches Verfahren des Regierungswechsels
Politische und personelle Differenzen in der Union
Proteste gegen die Große Koalition
Rechtfertigung der Großen Koalition durch Willy Brandt
„Transformation der Demokratie“ in der Bundesrepublik hin zu einem autoritären Staat (Agnoli/Brückner, 1967). Die Bildung der Großen Koalition war von Protest und Demonstrationen begleitet. Wie sechs Jahre später beim gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und 1982 nach dem Sturz Helmut Schmidts gingen die Wogen der öffentlichen Debatte hoch. Der Philosoph Karl Jaspers stand mit seiner abwegigen Meinung nicht allein, der Weg über den autoritären Staat zur Diktatur führe über eine Allparteien-Regierung, von der die Große Koalition einen Vorgeschmack gebe (Jaspers, 1966: 154). Die Große Koalition markiert jedoch nicht den Weg in eine autoritäre Entwicklung, sondern sie war eine bedeutende Etappe in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Entscheidung der SPD-Führungsgremien musste nicht nur gegen die Kritik in der Öffentlichkeit, sondern auch gegen massiven Widerstand aus den Bezirks- und Unterbezirksverbänden getroffen und durchgesetzt werden, denen vor allem nicht akzeptabel erschien, dass die SPD einem Bundeskanzler mit Nazi-Vergangenheit ins Amt verhelfen und den „Skandal-Minister“ Franz-Josef Strauß im Kabinett dulden könne. In vielen Städten kam es zu Demonstrationen gegen die Große Koalition, an denen auch SPD-Mitglieder teilnahmen. In einer Antwort auf einen offenen Brief von Günter Grass verteidigte Willy Brandt diesen Schritt der SPD: „Die Große Koalition enthält Risiken. Gefühl und Willen zur Führung wiesen vielen von uns einen anderen Weg. Nach sehr ernster Prüfung und vor dem Hintergrund der dürren Ziffern im Bundestag und angesichts der Aufgaben im Inneren und nach außen habe ich zu dem Ergebnis kommen müssen, dass der andere Weg nicht gangbar war... Die Große Koalition wird zu einem Fehlschlag führen, wenn sie sich nicht deutlich von dem abhebt, was in die Regierungskrise geführt hat. Dies ist die begrenzte, heute mögliche Alternative zum bisherigen Trott... Niemand sollte den Stab brechen, solange wir nicht die Chance gehabt haben zu beweisen, was jetzt möglich ist. Für uns ist dies ein neuer Beginn. Wir werden in das neue Kapitel der deutschen Geschichte wesentliche neue Elemente einführen. Dafür werden wir Verantwortung tragen und gerade das geistige Deutschland nicht enttäuschen.“ (Archiv der Gegenwart vom 1. 12. 1966, S. 12841)
Die Große Koalition bedeutete das zeitweilige Ende der „Kanzlerdemokratie“
Die Bildung der Großen Koalition ist als „Ablösung der Kanzlerdemokratie durch einen anderen Regierungstyp“ bezeichnet worden (Niclauß, 2004: 121). Nicht mehr der Gegensatz von Regierung und Opposition, sondern das Aushandeln von Kompromissen innerhalb der Regierung bestimmten den Regierungsstil der Großen Koalition, ein Muster, das später angesichts unterschiedlicher Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, bei wichtigen Entscheidungen (Zustimmungsgesetzen oder Verfassungsänderungen) auch praktiziert werden musste und den Regierungsstil in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt hat. Informelles Regieren Bundeskanzler Kiesinger konnte nicht, wie zuvor Adenauer, souverän von als Kennzeichen der der ihm durch das Grundgesetz gegebenen Richtlinienkompetenz Gebrauch maGroßen Koalition chen. Alle Entscheidungen mussten zuvor mit dem Koalitionspartner debattiert werden. Die Aufgabe des Kanzlers bestand darin, Kompromissmöglichkeiten zu erkunden und Kompromisse vorzubereiten. Das Kabinett verlor weitgehend seine Entscheidungskompetenz an eine Art Koalitionsausschuss, dem nach seinem ersten Treffen sogenannten „Kreßbronner Kreis“. Ihm gehörten neben dem
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Kanzler und Vizekanzler einige wenige Minister, vor allem der Wirtschaftsminister Karl Schiller und der Finanzminister Franz Josef Strauß, zwei parlamentarische Staatssekretäre und die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien an. Aus dem Kanzler mit nahezu unumschränkter Richtlinienkompetenz war nach einem Bonmot des stellvertretenden Regierungssprechers Conrad Ahlers ein „wandelnder Vermittlungsausschuss“ geworden. Dies bedeutete aber keineswegs, dass dies dem Ansehen des Kanzlers in der Öffentlichkeit abträglich gewesen wäre. Vielmehr konnte Kurt Georg Kiesinger mit seinem vermittelnden Politikstil, der die noch immer bestehende Abneigung gegen das „Parteiengezänk“ bediente, hohe Sympathiewerte erreichen.
3.2.3 Ein verkanntes Reformbündnis: Das politische Programm der Großen Koalition Die Große Koalition als Bündnis auf Zeit hatte sich drei große Reformziele ge- Reformziele der stellt: die Modernisierung der Wirtschafts- und Finanzverfassung, die Verab- Großen Koalition schiedung der Notstandsgesetze und eine Wahlrechtsreform. Betrachtet man die Gesetzgebungstätigkeit, so zeigt sich, dass in den drei Jahren zwischen 1966 und 1969 wichtige Weichenstellungen für eine Weiterentwicklung der politischen Ordnung der Bundesrepublik vorgenommen worden sind. Die Große Koalition konnte in einem bemerkenswerten Tempo ihre Ziele realisieren. Wie keine Bundesregierung vor und nach ihr hat sie strukturelle Eingriffe in das Verfassungsgefüge vorgenommen, sei es die Notstandsgesetzgebung, sei es die Finanzverfassung. Diese Koalition kann, gemessen an ihrem, wie auch immer im Einzelnen zu bewertenden Gestaltungswillen als eines der erfolgreichsten Regierungsbündnisse in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet werden. Dies schlug sich vor allem in den wirtschafts- und finanzpolitischen Grundgesetzänderungen und in der Verabschiedung der seit Anfang der 1960er-Jahre kontrovers diskutierten „Notstandsgesetze“ nieder. Die Große Koalition war als Not- und Zweckbündnis mit begrenzter Lebensdauer angelegt. Nur so konnten beide Partner die Zustimmung ihrer Mitglieder und Klientel für diese Koalition sichern. Entscheidend war, dass die Koalition mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Bundestag (CDU/CSU 245 (251), SPD 202 (217), FDP 49 (50) Abgeordnete) die anstehenden innenpolitischen Probleme, die einer verfassungsändernden Mehrheit bedurften, lösen konnte. Das drängendste Problem war zweifelsohne die Modernisierung der wirtschaftspolitischen Mittel des Staates und der Finanzverfassung. Hinzu kam die Aufgabe einer Sanierung des Bundeshaushalts. Das innenpolitisch umstrittenste Problem war die Notstandsverfassung, deren Verabschiedung notwendig war, um noch bestehende alliierte Vorbehaltsrechte im Bereich der inneren Sicherheit abzulösen, die aber in der Öffentlichkeit als Schritt zur Ausschaltung des Parlaments und in den autoritären Notverordnungsstaat kritisiert wurde. Die Gewerkschaften, insbesondere die IG-Metall, und die SPD-Linke hatten seit Jahren eine Kampagne gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze unterstützt.
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Handlungsbedarf bestand schließlich im Bereich der Außenpolitik, insbesondere in der Ostpolitik, wo durch die „Hallstein-Doktrin“ die politischen Bewegungsmöglichkeiten der Bundesrepublik massiv eingeschränkt wurden. Hier waren, wie die späteren Kontroversen über die neue Ostpolitik Willy Brandts zeigten, die Gemeinsamkeiten zwischen der Union und der SPD relativ gering. Gescheiterte Ein Ziel allerdings erreichte sie nicht. Seit Anfang der 1960er-Jahre hatte es Wahlrechtsform immer wieder Debatten über eine Einführung des Mehrheitswahlrechts nach britischem Muster gegeben. Die Motive der beiden großen Parteien waren nicht uneigennützig – ähnlich wie die Tories und die Labour Party in Großbritannien – erhofften CDU/CSU und SPD sich davon Vorteile, insbesondere eindeutige Mehrheiten im Bundestag ohne auf lästige kleine Koalitionspartner angewiesen zu sein. Im Koalitionsabkommen wurde daher 1966 die Einführung des Mehrheitswahlrechts für die Bundestagswahlen 1973, also für die übernächsten Bundestagswahlen vereinbart. Ein entsprechender Gesetzentwurf des Innenministers Paul Lücke (CDU), der von Anbeginn einer der Protagonisten einer Wahlrechtsreform gewesen war, scheiterte am Widerstand der SPD, die zu der wahrscheinlich richtigen Einsicht gekommen war, dass eine auf ein Zweiparteiensystem zielende Wahlrechtsreform strukturell der Union zugute kommen würde. Auf dem Nürnberger Parteitag der SPD 1968 wurde die Wahlrechtsfrage, die 1966 als entscheidende Legitimationsgrundlage der Koalition herhalten musste, zwar formal nur für zwei Jahre vertagt, faktisch aber zu den Akten gelegt – der Rücktritt des Innenministers war eine der Konsequenzen dieser Entscheidung.
3.2.4 Wirtschafts- und Finanzpolitik der Großen Koalition Die Politik der Großen Koalition war von der Vorstellung bestimmt, technischrationales Handeln und eine Verwissenschaftlichung der Politik seien in der Lage, die aufgetretene Krise zu meistern. Anders als in Erhards Entwurf einer formierten Gesellschaft stand nicht der Appell an den Gemeinsinn im Mittelpunkt, sondern der Glaube an die Vernunft und an die dauerhafte Wirksamkeit moderner staatlicher Steuerungsinstrumente. Hier schwang der Glaube an eine Politik mit, die den Kampf der Interessen durch „den Austausch von Informationen und die gemeinsame Erarbeitung von Orientierungsdaten“ eingegrenzt, „rational erkennbar und damit lösbar“ macht (Schiller, 1967 Bd. 1: 54). Auch wenn diese Politik als die eines „permanenten gesellschaftlichen Dialogs“ (Schiller, 1968 Bd. 4: 116) angepriesen wurde, in der Praxis stellte sie eine ebenso interessante wie problematische Verquickung von technokratischen und korporativen Politikmodellen dar – beide fragten, aus unterschiedlichen Gründen, weniger nach dem mündigen Bürger als nach Möglichkeiten effektiver Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung. Sie grenzte sich damit sowohl gegen sozialromantische Vorstellungen einer neuen, normativ begründeten Gemeinschaft ab, wie sie in Erhards „formierter Gesellschaft“ virulent waren als auch gegen Ideen einer technokratischen Politik, wie sie der einflussreiche Soziologe Helmut Schelsky verfocht, der eine zunehmende Konzentration der technischen Mittel in der Hand des Staates und die Verwandlung der Politik in den
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Vollzug von Sachgesetzlichkeiten prognostizierte. „Politik als normative Willensbildung fällt aus dem Raum prinzipiell aus“ (Schelsky, 1961: 25). Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Großen Koalition, die durch Prof. Karl Schiller (SPD) als Wirtschaftsminister und Franz-Josef Strauß (CSU) als Finanzminister repräsentiert wurde, war stark verband technokratischen Visionen über die Steuerbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft beeinflusst. Die Idee einer Globalsteuerung der Wirtschaft wurde aus dem Theorienarsenal des einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftlers der ersten Hälfte des Jahrhunderts, John Maynard Keynes, entnommen und mit den ordnungspolitischen Vorstellungen der „sozialen Marktwirtschaft“ und einer korporativen Einbeziehung der Sozialpartner in die Steuerung des Wirtschaftsprozesses verbunden. Neue Instrumente waren das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (Stabilitätsgesetz), das der Bundestag im Mai 1967 verabschiedete, und die „Konzertierte Aktion“. Mit Hilfe des Stabilitätsgesetzes wurden die Steuerungsmechanismen zur Das Stabilitätsgesetz Verfügung gestellt, die es ermöglichen sollten, im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung Preisstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu sichern. Staatliche Investitionsprogramme und eine „antizyklische Finanzpolitik“ bewiesen die Wirksamkeit Keynesianischer Steuerungspolitik und halfen, die Wirtschaftskrise in kurzer Zeit zu beenden. Grundlage des Gesetzes war der Glaube an die Steuerungs- und Planungsfähigkeit des Staates. Die Krisenerscheinungen, die zur Bildung der Großen Koalition geführt hatten, wurden nicht nur als das Ergebnis von Missmanagement und fehlender Regelungskompetenz, sondern auch einer überholten Auffassung von staatlicher Wirtschaftspolitik angesehen. Dem Stabilitätsgesetz wurde eine ähnliche ordnungspolitische Bedeutung beigemessen, wie seinerzeit dem Kartellgesetz. Die rechtliche Grundlage für das Stabilitätsgesetz schuf der veränderte Art. 109 GG, der in seiner ursprünglichen Fassung nur geregelt hatte, dass Bund und Länder in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig waren. Die Neufassung verpflichtete die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern darauf, „den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ Rechnung zu tragen und eröffnete die Möglichkeit, durch ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz Grundsätze für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und mehrjährige Finanzplanung aufzustellen (BGBl. I vom 8. Juni 1967: 582). Die Regelungen des Stabilitätsgesetzes sollten dazu dienen, dem Staat Instrumente an die Hand zu geben, in Zeiten konjunktureller Schwäche oder wirtschaftlicher Krise durch staatliche Intervention gegenzusteuern. §3 des Stabilitätsgesetzes sah für den Fall einer Gefährdung der gesamtwirt- Die „konzertierte schaftlichen Ziele vor, dass die Bundesregierung „Orientierungsdaten für ein Aktion“ gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmerverbände“ zur Verfügung stellt und, wenn nötig, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel zur Wahrung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts einsetzt.
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Finanzreform und „Gemeinschaftsaufgaben“
Bilanz der Politik der Großen Koalition
Mit der „Konzertierten Aktion“ wurde ein institutionalisierter korporatistischer Beratungsmechanismus etabliert, der auf Einladung des Bundeswirtschaftsministers die wichtigsten wirtschaftspolitischen Akteure zu einer regelmäßigen Gesprächsrunde zusammenbrachte, um aktuelle Fragen und Probleme zu besprechen. Die Hoffnung war, dass sich durch eine offene Informationspolitik, rationalen Diskurs und Einsicht in die wirtschaftlichen Notwendigkeiten alle Beteiligten auf ein abgestimmtes Verhalten zu Gunsten des Gemeinwohls verpflichten ließen. Vertreten waren auf staatlicher Seite das Bundeswirtschaftsministerium, weitere Bundesministerien und die Bundesbank, auf der Seite der Verbände u.a. die Spitzenverbände der Wirtschaft (BDA, BDI, DIHT), der DGB und wichtige Einzelgewerkschaften (z.B. IG-Metall), die DAG und der Sachverständigenrat (D. Grosser, 1985: 402). Für den „Erfinder“ der Konzertierten Aktion, Karl Schiller, stellte sie einen zentralen „Runden Tisch“ dar, an dem nicht nur Alltagsfragen der Wirtschaft, sondern auch soziale Konflikte, „die in einer mündigen Gesellschaft unvermeidlich sind“, beraten werden sollten. Durch den „Austausch von Informationen und die gemeinsame Erarbeitung von Orientierungsdaten“ sollten sie aber „eingegrenzt, rational erkennbar und damit lösbar werden“ (Schiller, 1967: 54). Dieses aufklärerische Modell scheiterte schließlich an unvereinbaren Auffassungen über ein kooperatives Verhalten in Zeiten wirtschaftlicher Krise Mitte der 1970erJahre. Das zweite große wirtschafts- und ordnungspolitische Vorhaben der Großen Koalition war die Verabschiedung der Finanzreform im Mai 1969. Sie regelte die finanziellen Beziehungen zwischen dem Bund, den Ländern und den übrigen Gebietskörperschaften neu. Neben der Neuverteilung der Anteile der Einkommens- und Körperschaftssteuer wurden als wichtiges neues Steuerungsmittel des Bundes die „Gemeinschaftsaufgaben“ nach Art. 91a GG und die Pflicht des Zusammenwirkens von Bund und Ländern in der Bildungsplanung und Forschung eingeführt. Gemeinschaftsaufgaben umfassen den Aus- und Neubau von Hochschulen, die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Art. 104a Abs. 4 GG erlaubt Finanzhilfen des Bundes an die Länder und Gemeinden bzw. Gemeindeverbände, „die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind“. Neu geregelt wurde die Aufteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern (Art. 106 GG) und der Finanzausgleich zwischen den Ländern (Art. 107 GG). Die Ergebnisse der Finanzreform des Jahres 1969 werden überwiegend kritisch kommentiert. Zwar war es gelungen, offensichtliche Mängel der bisherigen Finanzverfassung zu beseitigen, aber die Strukturprobleme des bundesdeutschen Föderalismus konnten nicht gelöst werden. Es waren vor allem Fehlsteuerungen, die mit der Finanzreform und den Gemeinschaftsaufgaben induziert worden sind, die im Jahre 2004 die Föderalismuskommission des Bundes und der Länder beschäftigte. Die Hoffnung, die Funktionsmechanismen des Föderalismus modernisieren zu können und effektivere Entscheidungen zu ermöglichen, haben sich nicht erfüllt. Der Verflechtungsgrad von Entscheidungsstrukturen und der hohe Koordi-
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nations- und Abstimmungsbedarf führten zu einer erheblichen Inflexibilität des Systems. Die Notwendigkeit permanenter Konsensbildung zwischen Bund und Ländern bei den Gemeinschaftsaufgaben und die oft notwendige Einbeziehung weiterer Gebietskörperschaften erschwerten und verlangsamten seither den Entscheidungsprozess und tendieren dazu, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Reformvorhaben und der Verabschiedung der Notstandsgesetze hatte die Große Koalition bewiesen, dass sie handlungsfähig war und, im ersten Falle, dringend notwendige Reformschritte einleiten konnte oder, im zweiten Falle, für richtig erachtete Vorhaben auch gegen Widerstand durchsetzen konnte. Wie auch immer die Beurteilung beider Großvorhaben ausfällt, die Koalition hatte Führungskraft an den Tag gelegt. Dies ließ sich in anderen Bereichen nicht sagen. In der Ost- und Deutschlandpolitik trat man mehr oder weniger auf der Stelle und überließ der FDPOpposition die Initiative, wichtige Vorhaben in der Innenpolitik kamen nicht von der Stelle und vor der ins Auge gefassten Einführung des Mehrheitswahlrechts schreckte die SPD in – wohl realistischer – Einschätzung der Lage zurück. Die Große Koalition hatte sich erschöpft. Trotz dieser berechtigten Einwände gegen zentrale Reformprojekte der Großen Koalition – viele der Fehlentwicklungen waren 1966/67 kaum prognostizierbar – kann diese Regierung als eine der erfolgreichsten in der Geschichte der Bundesrepublik gelten. Im Bereich Wirtschafts- und Finanzpolitik hat sie die entscheidenden Anstöße zur Modernisierung gegeben. Keine Regierung nach ihr war in der Lage oder willens, so weitreichende politische Entscheidungen wie die Reform der Finanzverfassung zu initiieren oder durchzusetzen. Mit der kontroversen Entscheidung über die Notstandsgesetze – sie war nur im Konsens der beiden großen Parteien zu treffen – wurde ein weiterer Schritt auf dem Wege zu weitgehender Souveränität der Bundesrepublik und der Ablösung von Rechten der Alliierten gegangen. Stellt man beides in Rechnung und bezieht die gescheiterte Wahlrechtsreform mit ein, so kann die Große Koalition als ein unterschätztes und verkanntes Reformbündnis bezeichnet werden, das, was ihre innenpolitische Erfolgsbilanz angeht, zu Unrecht im Schatten der 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition steht.
3.2.5 Politisierung der Öffentlichkeit und politischer Protest Dass es einer Großen Koalition bedurfte, um die verschleppte Modernisierung im Inneren in Angriff zu nehmen, hatte zwiespältige Folgen für die politische Kultur der Bundesrepublik. Der Einzug moderner, an Rationalitätserwägungen orientierter Politikstile wurde erkauft mit einer faktischen Ausschaltung von Fundamentalopposition im parlamentarischen Raum und dem Abschleifen politisch-programmatischer Unterschiede der beiden großen Volksparteien. Dagegen erhob sich der Protest einer jungen Generation, die nach dem Beschweigen der Vergangenheit nun auch noch ein „Kartell der Mitte“ heraufkommen sah, das jede Alternative verbaute. Obwohl diese Befürchtung durchaus einen rationalen Kern hatte, zeigte die massive Konfrontation um die Politik innerer Reformen
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Jugendprotest und Studentenbewegung von 1968
Protestbewegungen der 1950er-Jahre
und die neue Ostpolitik nach 1969, dass das Konfliktpotential in den etablierten politischen Strukturen der Bundesrepublik noch keineswegs aufgebraucht war. Jürgen Habermas hat im Frühsommer 1968 eine kritische Bilanz der Entstehung der Protestbewegung gezogen, die den langwährenden Einfluss dieser zeitlich relativ kurzen Begebenheit in der Geschichte der Bundesrepublik verdeutlicht. Er bescheinigte der Bewegung, dass sie mit dem Anspruch der „Politisierung der Öffentlichkeit“ und ihrer „phantasiereichen Erfindung neuer Demonstrationstechniken“ einen Schock und entsprechend heftige Abwehrreaktionen erzeugt habe, die „ein erstauntes Nachdenken über Routinen und über unsere routinierten Verdrängungen provoziert“ habe. Daneben konstatierte Habermas fehlgeleitete und unbrauchbare theoretische Erklärungen und praktische Handlungsanleitungen. Insbesondere müsse die „Taktik der Scheinrevolution ... einer langfristigen Strategie der massenhaften Aufklärung weichen“ (Frankfurter Rundschau vom 5.6.1968: 8). Der Jugend- und Studentenprotest der späten 1960er-Jahre, der Ostern 1968 in Berlin und im Mai des gleichen Jahres in Paris seinen Höhepunkt fand, begann mit einer Fundamentalkritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und den Regeln der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. In der Bundesrepublik hatte die Bildung der Großen Koalition so etwas wie eine Katalysatorwirkung für den aufkeimenden Protest: Nicht wenige meinten, die Entwicklung verlaufe „von der Parteienoligarchie zur Diktatur“ (Jaspers, 1966: 141) und es sei eine „Transformation der Demokratie“ (Agnoli/Brückner, 1967) zu einem autoritären Regime zu beobachten. Gegen diese Entwicklung sei Widerstand geboten, der allerdings nur außerhalb der bestehenden politischen Strukturen, insbesondere des Parlaments, und mit neuen politischen Formen erfolgversprechend sei. Das Jahr 1968 erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung und der politischen Publizistik als Schlüsseljahr in der Geschichte der Bundesrepublik. Einer ganzen Generation wurde das Signet „68er“ angeheftet. In der (partei)politischen Auseinandersetzung über die Entwicklung in Schulen und Universitäten, den Einfluss und die Macht der Medien oder die Rolle der Intellektuellen in der Bundesrepublik taucht immer wieder das Argument auf, die Revolutionäre von damals hätten den vom legendären Studentenführer Rudi Dutschke propagierten „Marsch durch die Institutionen“ erfolgreich beendet und säßen an den Schalthebeln jener Institutionen, die sie in den Tagen der Studentenbewegung als die ideologischen Apparate des bürgerlichen Staates bezeichnet hatten. Entgegen einem verbreiteten Urteil waren die Jahre zuvor keineswegs eine ausschließliche Zeit der Friedhofsruhe und freiwilliger Anpassung politisch uninteressierter Untertanen, auch wenn nach wie vor obrigkeitsstaatliches Denken und Distanz zu demokratischen Werten und Verfahren verbreitet waren. Eine solche Sichtweise unterschlägt die allmählich wachsende Bereitschaft der Bundesbürger, sich nicht nur anlässlich von Wahlen pflichtgemäß an der Politik zu beteiligen, sondern sich auch in den politischen Organisationen zu engagieren. Auch vernachlässigt sie die massiven Konflikte um die Ausgestaltung der sozialen und politischen Ordnung der Bundesrepublik sowie die Proteste und den Widerstand gegen wichtige politische Weichenstellungen, sei es die Wiederbewaffnung oder die geplante atomare Aufrüstung der Bundeswehr, die von einer Massenbewegung und von Intellektuellen, Schriftstellern und Wissenschaftlern, wie
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den „Göttinger Sieben“, getragen wurden. Die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ war zugleich ein frühes Exempel für die Verquickung, wenn nicht gar die Instrumentalisierung politischen Protestes für die Zwecke der Parteipolitik – die Protestbewegung bezog solange ideelle, organisatorische und indirekte finanzielle Unterstützung durch die oppositionelle Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, wie diese einen Kurs unbedingter Opposition gegen die Regierungspolitik verfolgten. Die Proteste der 1950er-Jahre standen in der Tradition wirtschaftlicher und sozialer Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital und pazifistischer Bewegungen. Sie stellten insofern klassische Protestformen dar. Mit der Jugendrevolte der späten 1960er-Jahre erblickte ein neuer Typus des Protestes das Licht, der sich nicht als Klassenkonflikt, sondern als kultureller und Generationskonflikt darstellte. Mit der Jugend- und Studentenbewegung kam ein neues Element ins Spiel. Sowohl Anlass als auch Formen des Protests waren nicht mehr ausschließlich „national“ oder sozial motiviert, sondern bezogen ihre Dynamik, Ausdrucksformen und Ideen aus der sich entwickelnden internationalen Kultur, die in entscheidendem Maße durch die Massenmedien befördert wurde. Ablehnung des Vietnam-Krieges der USA, Faszination für die nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Kampf gegen die Notstandsgesetze, Rückbesinnung auf verschüttete Protest- und Widerstandsbewegungen in der deutschen Geschichte, Wiederentdeckung lebensreformerischer Traditionen, die bis zur deutschen Jugendbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts zurück reichten, und gleichzeitige Begeisterung für die amerikanische Popkultur und den Geist von Woodstock standen unvermittelt nebeneinander. Hermann Glaser (1990) lässt in seiner Kulturgeschichte der Bundesrepublik die dritte Phase der politisch-kulturellen Entwicklung in Westdeutschland mit der Protestbewegung der späten 1960er-Jahre beginnen. Glaser argumentiert, das Jahr 1968 habe, „angekündigt durch ein ,Beben im Untergrund‘, die Selbstsicherheit und Selbstherrlichkeit der Wirtschaftswunderzeit“ beendet (Glaser, 1990, Bd. 3: 9). In einem Leitartikel nach den Osterunruhen des Jahres 1968, die dem Attentat auf Rudi Dutschke gefolgt waren, bezeichnete Theo Sommer die bisherige Entwicklung der Bundesrepublik als „Ära biederer Rationalität, in der sich die Kriegsgeneration der Deutschen eine neue Welt“ gezimmert hatte (Die Zeit vom 19.4.1968: 1). Ralf Dahrendorf sprach vom „Ende des Wunders“ der glücklichen „silent fifties“. In der „Sonntagsdemokratie“ der 1950er-Jahre sei es verabsäumt worden, die Voraussetzungen einer modernen Demokratie zu schaffen – sowohl was die Entwicklung einer aktiven Bürgergesellschaft als auch was die Modernisierung der Gesellschaft betreffe. Im gemeinsamen Widerstand gegen die Notstandsgesetze fanden die neuen Protestgruppen und „etablierte“ politische Organisationen punktuelle Übereinstimmung. Das zentrale Vorhaben der seit Jahren kontrovers diskutierten und von der Großen Koalition erfolgreich durchgesetzten Notstandsgesetzgebung erschien vielen politisch engagierten Bürgern, Intellektuellen, den Gewerkschaften und Teilen der Sozialdemokratie als ein weiterer, gefährlicher Schritt zur Aushöhlung der demokratisch-parlamentarischen Institutionen.
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Das Ende der „silent fifties“
Der Kampf um die Notstandsgesetze
Eine neue Protestkultur
Die Bildung der Großen Koalition fiel in eine Zeit, in der, durch äußere Einflüsse angestoßen und innere Ursachen verstärkt, sich eine neue Protestkultur der Jugend, insbesondere der Studentenschaft herauszubilden begann. Einen symbolischen Ausdruck fand der Protest gegen die Bildungskatastrophe am 9. November 1967, als Studenten die Hamburger Rektoratsfeier störten und mit dem berühmt gewordenen Plakat "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren" vor den Magnifizensen und Spectabilitäten in das Audi Max der Universität einzogen. Die zunehmend radikaler werdenden Forderungen nach einer Universitätsund Bildungsreform und die Furcht vor einer Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik vermischten sich und führten zu einem Bündnis alter, aus der Antiwiederbewaffnungs-, Antiatom- und Antinotstandsbewegung kommenden Protestkultur mit dem neuen Jugendprotest (Glaser, 1990: 27ff.). In Berlin und anderen Städten kam es zu Demonstrationen. Neue, aus den USA übernommene Protestformen wurden erprobt („sit ins“, „teach ins“). Die respektlose und aufmüpfige Sprache des Protests war dem Vorbild der holländischen „Provos“ nachempfunden (Larsson, 1967: 113). Die Reaktion der Öffentlichkeit und der Massenpresse war feindlich: „Wirrköpfe“ (Bild-Berlin), „Radikalinskis“ (Bild), „Schreihälse“ (Berliner Morgenpost), „Neurotische Besserwisser“ (BZ), „Akademische Kampftruppen“ und „FU-Chinesen“ (Berliner Morgenpost), „akademische Variante des Gammlertums“ und „akademischer Mob“ (Matthias Walden, SFB). Im April 1967 demonstrierten Tausende Studenten in Berlin gegen den Besuch des (liberalen) US-Vizepräsidenten, Hubert Humphrey, den sie als „VizeKiller“ bezeichneten, am 2. Juni 1967 gegen den Besuch des Schahs von Persien, der von bisher nicht gekannten Sicherheitsvorkehrungen begleitet war – ein „totaler Staatsbesuch“, wie der Spiegel anmerkte (Der Spiegel vom 5.6.1967: 41). Bei der Demonstration gegen den Besuch, bei der die Polizei mit großer Brutalität und Härte vorging, kam der Student Benno Ohnesorg ums Leben – erschossen von einem Polizeibeamten. Dieser 2. Juni 1967 ist zum Symbol des Jugendprotestes und einer ratlosen Staatsmacht geworden. Er hat die Radikalisierung und Ideologisierung der zunächst politisch amorphen Studentenbewegung beschleunigt. Radikalisierung der Die Pluralität, welche die Anfänge des Jugendprotests gekennzeichnet hatte, Studentenbewegung kam in der sich beschleunigenden Entwicklung „von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition“ (Rabehl, in: Bergmann u.a., 1968: 151ff.) unter die Räder. An die Stelle von Reformforderung im Innern trat die Beschwörung der proletarischen Revolution, der internationalen Solidarität mit den kämpfenden Völkern der Dritten Welt und den nationalen Befreiungsbewegungen (z.B. auf dem Vietnam-Kongress im Februar 1968 in Berlin). Viele Studenten „fühlten sich als Agenten der Befreiungskriege der Dritten Welt in der Metropole“ (Rabehl, in: Bergmann u.a., 1968: 165). Diese schwärmerische Identifikation mit den unterdrückten Völkern in den ehemaligen und noch bestehenden Kolonien wurde von den Ideologen der Studentenbewegung und führenden Vertreter des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) in die Forderung umgemünzt, den „antiimperialistischen Kampf“ in der Dritten Welt mit dem der „Metropolen“ zu verbinden, sich den
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Kämpfen des heimischen Proletariats anzuschließen und dort eine Führungsrolle zu übernehmen. Neben dieser Hinwendung zur Revolution und Abwendung von der Demokratie war die Frage nach der Legitimität nichtstaatlicher Gewalt das zweite zentrale Element der Protestbewegung. Gezielte Regelverletzungen und vor allem die Verselbstständigung der Gewaltdiskussion isolierten den Protest vom politisch-kulturellen mainstream. Die besondere Schärfe des Konfliktes in der Bundesrepublik erklärt sich aus der Verquickung von Generationenkonflikt und unversöhnlicher politischer Auseinandersetzung. „Wo warst du, Adam“, hatte Heinrich Böll in einer frühen Erzählung gefragt – wo waren die Väter gewesen und was hatten sie vor 1945 getan, dies war die Frage, die Teile der jungen Generation an eine Gesellschaft stellten, die versuchte, die Erbschaft des Nationalsozialismus weitgehend aus dem Alltagsdiskurs zu verbannen. Dass dabei die Generation der Väter pauschal als Generation der „Täter“ denunziert wurde, hat tiefe Narben hinterlassen. Der Faschismusvorwurf wurde pauschal gegen die Elterngeneration, Lehrer, Professoren und Politiker gerichtet. Die anfangs verweigerte und dann nur zögerliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde zum Fokus des Generationenkonflikts. Alexander Mitscherlichs Buch von 1963 „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ und sein Diktum von der deutschen „Unfähigkeit zu trauern“ benannten den Kern dieses Konflikts: Die Kriegsgeneration hatte nach den traumatischen Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges und vielfacher persönlicher Verstrickung die Chance eines Neubeginns nach 1945 ergriffen. Über Wiederaufbau und Wirtschaftswunder war eine ehrliche und selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit versäumt worden. Dieser Prozess wurde jetzt – unter Schmerzen – nachgeholt, wobei der moralische Rigorismus der jungen Generation angesichts ihrer Parteinahme für totalitäre Bewegungen erheblichen Zweifeln ausgesetzt war. Die unversöhnliche Härte der Auseinandersetzung erklärt sich aus drei Faktoren. Durch ihren politischen und ideologischen Radikalismus gefährdete die Protestgeneration in den Augen vieler nicht nur den nach 1945 mühsam erarbeiteten wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand, sondern auch den unter großen Mühen erlangten demokratischen Grundkonsens und damit die Stabilität politischen Ordnung. Die Dominanz marxistischer und kommunistischer Theoreme in der politischen Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Ordnung der Bundesrepublik schien die These zu bestätigen, dass die Protestbewegung „vom Osten gesteuert“ sei. Und schließlich und vor allem ließ die Verbindung von politischem Protest und angemaßter moralischer Richterrolle gegenüber der Elterngeneration einen Bruch zwischen den Generationen entstehen, dessen Folgen auch Jahrzehnte später noch nicht verheilt waren. Begonnen als Kritik des herrschenden antiliberalen und autoritären politischen Klimas in der Bundesrepublik, die die im Grundgesetz versprochene und garantierte zivile Bürgergesellschaft einforderte, zerfiel die Studentenbewegung in mikroskopisch kleine ideologisch „reine“ revolutionäre Splittergruppen, die teils verbal, teils aktiv den revolutionären Kampf propagierten. Die Mehrheit der Anhänger und Aktivisten der Studentenbewegung machte sich nicht auf den be-
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Jugendprotest als Generationenkonflikt
Zerfall der Protestbewegung
rechnenden „Weg durch die Institutionen“ mit dem Ziel, sie dann umzustürzen, sondern wurden mehr oder weniger kritischer Teil des zuvor heftig bekämpften „Systems“. Die Ablösung der alten bürgerlichen Regierungskonstellation und der Beginn der sozial-liberalen Ära mit ihrem Versprechen eines demokratischen Neuanfangs („Mehr Demokratie wagen“) beförderte diesen Integrationsprozess. Die Protestbewegung war politisch-ideologisch heterogen und angesichts ihrer diffusen sozialen Basis nicht dauerhaft organisationsfähig. Ihr Zerfall war eine Frage der Zeit. Er wurde in den frühen 1970er-Jahren durch die Radikalisierung eines Teils der Gruppen und ihre Umwidmung in marxistisch-leninistische Pseudoparteien beschleunigt. Als auch diese nach immer weiteren Spaltungen in die Krise gerieten und das erhoffte Bündnis mit dem „Proletariat“ nicht zu Stande kam, stellte sich die Frage nach den politischen Zielen und den Organisationsformen alternativer Politikentwürfe neu. In den 1970er-Jahren fanden die ehemaligen Protagonisten der „K-Gruppen“ in den „neuen sozialen Bewegungen“ und später in der Partei der Grünen ein neues politisches Betätigungsfeld. Ein anderer Teil der Protestbewegung setzte ihr politisches Engagement in den „etablierten“ Parteien und organisierten Interessengruppen fort. Mit dem Versprechen einer umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung bot insbesondere die Sozialdemokratie eine anfangs erfolgreiche Integrationsstrategie an, der jedoch Enttäuschung über den Verlust der Utopie und Frustration über die „Mühen der Ebene“ konkreter Politik folgten. Schließlich wirkte der Jugendprotest der späten 1960er-Jahre als Katalysator für die Entwicklung einer demokratischen Kultur politischer Partizipation. Das Interesse und die aktive Beteiligung an der Politik nahmen erkennbar zu. Die Parteien verzeichneten einen steilen Anstieg der Mitgliederzahlen, ähnliches gilt für die Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden.
3.3
Aufbruch zu neuen Ufern? – Die sozial-liberale Koalition 1969-1982
Die Bundestagswahl vom 28. September 1969 hat, so formulierte es Theo Sommer in einem Leitartikel in „Die Zeit“ vom 3. Oktober 1969, „eine Zeitenwende eingeläutet“. Sie führte nicht nur zur Ablösung der CDU/CSU als Regierungspartei, sondern auch zu Veränderungen des Kräfteverhältnisses der Parteien, die langfristige Auswirkungen haben sollten. Die SPD konnte erstmals die 40%Marke überschreiten. Die CDU/CSU blieb mit 46,1% stärkste Partei, bei leichten Verlusten von 1,5% gegenüber 1965. Der Verlust von fast einem Drittel der FDP-Wähler verschärfte den Entscheidungsdruck auf die Parteiführung insofern, als diese Wähler vor allem aus dem national-liberalen Wählerpotential gekommen und zur CDU/CSU bzw. NDP abgewandert waren. Der Anteil der nationalliberalen Abgeordneten in der Bundestagsfraktion war aber nach wie vor so groß, dass er ein Bündnis mit der SPD gefährden konnte – was dann auch geschah. Die FDP befand sich mitten in einem politisch-programmatischen Umbruchprozess. Erstmals hatte eine deutliche Mehrheit der FDP-Wähler, nämlich
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etwa zwei Drittel, ihre Stimme „gesplittet“ und mit der Erststimme SPD gewählt, was deren Erststimmenanteil von 44% gegenüber 42,7% Zweitstimmen erklärt. Trotz der erfolgreichen Bewältigung der Wirtschaftskrise gelang es der neonazistischen „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD), die in der Mitte der 1960er-Jahre erhebliche regionale Erfolge erzielt und in einige Landtage eingezogen war, bei den Bundestagswahlen noch immer 4,3% der Stimmen zu erreichen. Das Wahlergebnis ermöglichte drei Kombinationen der Regierungsbildung: Eine Neuauflage der Großen Koalition war nur eine theoretische Möglichkeit, es bestand kein konkreter Anlass mehr für ein solches Bündnis und die politischen Gemeinsamkeiten hatten sich aufgebraucht. Vieles sprach für eine Wiederaufnahme der bürgerlichen Koalition von CDU/CSU und FDP, zumal die Union erneut stärkste Partei war. Schließlich kam eine sozial-liberale Koalition in Frage, die gegenüber der Lage 1965 über eine größere Mehrheit verfügte und größere politische Gemeinsamkeiten der beiden Partner aufwies als noch vier Jahre zuvor. Die FDP, genauer, jüngere Vertreter des sozialliberalen Flügels hatten die Zeit der Opposition genutzt. Dies kam 1968 auf dem Freiburger Parteitag zum Ausdruck, auf dem der nationalliberale Vorsitzende Erich Mende (der später zur CDU wechselte) nicht mehr für den Vorsitz kandidierte und Walter Scheel zum Vorsitzenden gewählt wurde. Im Annäherungsprozess von Freien und Sozialdemokraten nahm die Bundespräsidentenwahl am 5. März 1969 in Berlin (die von massiven Einschränkungen des Transitverkehrs nach Berlin durch die DDR-Behörden begleitet war) einen wichtigen Platz ein, sie kann als ein erfolgreicher „Test für ein alternatives Bündnis“ (Baring, 1984: 51) angesehen werden. SPD und FDP wählten in der Bundesversammlung gemeinsam den Kandidaten der SPD, Gustav Heinemann, zum Bundespräsidenten. Der überzeugte Protestant Heinemann war erster Innenminister der Bundesrepublik und trat 1950 aus Protest gegen die Westorientierung und Wiederbewaffnungspläne Adenauers zurück. Als Vertreter einer gesamtdeutschen Politik hatte er 1952 die kurzlebige „Gesamtdeutsche Volkspartei“ gegründet (ihr gehörten u.a. auch Johannes Rau und Erhard Eppler an) und war später mit vielen seiner Gesinnungsfreunde zur SPD gegangen. Heinemann hat in einem nach dem Regierungswechsel häufig zitierten Interview in der Stuttgarter Zeitung am 8. März 1969 seine Wahl als „ein Stück Machtwechsel“ bezeichnet: Diese Aussage ist später so interpretiert worden, als sei die Bundespräsidentenwahl ein logischer Zwischenschritt auf dem Weg zur sozial-liberalen Koalition gewesen. Wie Arnulf Baring in seiner detaillierten Studie „Machtwechsel“ schildert, war dies ganz und gar nicht der Fall. Die SPD richtete sich vielmehr auf eine Fortsetzung der Großen Koalition ein. Die FDP hatte zuvor im Wahlkampf verkündet: „Sie können Deutschland verändern“ – aber wie und in welcher parteipolitischen Konstellation wurde verschwiegen (Baring, 1984: 123ff.). Die FDP befand sich zwar in einem Wandlungsprozess, aber zugleich auch in einer Zwickmühle: wollte sie neue Wählerschichten gewinnen, insbesondere diejenigen des aufstrebenden Mittelstands, musste sie eher in Richtung einer sozial-liberalen Koalition, statt einer Wiederauflage des Bündnisses mit der CDU/CSU plädieren. Dies brachte sie aber in die
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Die Bedeutung der Bundespräsidentenwahl vom März 1969
Politische Erneuerung der FDP
Strukturelle Rahmenbedingungen für eine Regierungsübernahme durch die SPD
Konsequenzen des Machtwechsels für die CDU/CSU
Gefahr, ihren noch immer starken nationalliberalen Flügel zu verprellen, den sie für eine Mehrheitsbildung brauchte. So ließ die Parteiführung das Problem möglicher Koalitionen offen, was vorerst das Abdriften des rechten Flügels verhinderte, der FDP aber das schlechteste Ergebnis ihrer bisherigen Geschichte einbrachte. Mit 5,8% überwand sie relativ knapp die Fünf-Prozent-Hürde, ein Verlust von 3,7% gegenüber 1965. Ein Teil der Verluste der FDP ging auch auf das Konto der neo-nazistischen NPD, die in einigen traditionell rechtskonservativen Gegenden, z.B. in Oberhessen oder Ostwestfalen, in denen die FDP nach dem Kriege ihre Hochburgen hatte, zwischen zehn und zwanzig Prozent der Stimmen in Landtags- und Kommunalwahlen errungen hatte. Dass die SPD mit 42,7% der Stimmen (gegenüber 39,3% im Jahre 1965) und nicht die CDU/CSU, die mit 46,1% deutlich stärkste Partei wurde, als „Sieger“ aus den Wahlen hervorging, verdankte sie dem Entschluss Willy Brandts, das Experiment einer sozial-liberalen Koalition zu wagen, obwohl sie nur über eine relativ knappe Mehrheit von 12 Mandaten verfügte (vgl. hierzu ausführlich: Baring, 1984: 148-183). Der Wechsel der FDP von der Bürgerkoalition der 1950er-Jahre zur sozialliberalen Koalition der 1970er-Jahre beseitigte die bisherige Asymmetrie des westdeutschen Parteiensystems. Solange dieses Bündnis der bürgerlichen Parteien existierte, war die SPD strukturell benachteiligt. Nachdem es der CDU/CSU gelungen war, eine Reihe kleinerer bürgerlicher und konservativer Parteien zu absorbieren, fanden Wählerwanderungen vor allem zwischen CDU/CSU und FDP statt. Die SPD war darauf verwiesen, ihre eigene Wählerbasis allmählich zu erweitern und neue Wählerschichten zu gewinnen. Dies gelang ihr zwar seit 1957, weswegen häufig vom „Genossen Trend“ die Rede war, sie verblieb aber gleichwohl bis einschließlich 1965 im „Dreißig-Prozent-Turm“. Nur ein Wechsel der Liberalen, d. h. der Abschied vom „Bürgerblock“, konnte der SPD die Rolle der führenden Regierungspartei verschaffen – eine Situation, die sich auch unter gewandelten parteipolitischen Konstellationen nicht geändert hat und erst 1998 überwunden werden konnte. Erst aus ihrer Position als Regierungspartei heraus gelang es der SPD in den Jahren nach 1969, Wahlergebnisse über 40% zu erzielen, die für eine Koalitionsbildung nötig waren. Insofern war der Kurswechsel der Liberalen von 1969 von fundamentaler Bedeutung für die Funktionsweise des Parteiensystems und die Machtkonstellationen in der Bundesrepublik (Mintzel/Oberreuter, 1992: 76). Nunmehr befand sich die CDU in einer vergleichbaren Situation wie die SPD vor 1966: Sie war nur noch mehrheitsfähig bei einem erneuten Seitenwechsel der FDP, den diese schließlich 1982 während der laufenden Legislaturperiode vornahm. Die CDU, weniger die CSU, die bereits zu dieser Zeit über eine schlagkräftige Organisation und überzeugende politische Programmatik als bundespolitisch bedeutsame Regionalpartei verfügte, nutzte die lange Oppositionszeit für eine Modernisierung der Parteiorganisation und eine politisch-programmatische Erneuerung. Dies allerdings erst, als ihre Versuche, die Regierung Brandt-Scheel zu stürzen 1972 gescheitert waren.
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Die Union hatte auf eine harte Konfrontationsstrategie gegenüber der Regierung gesetzt und insbesondere der FDP den Kampf angesagt. Der gescheiterte Kanzler und CDU-Vorsitzende Kiesinger wollte sie „aus den Landtagen herauskatapultieren“. Die CDU war jedoch intern uneins und in Gruppen, Flügel und regionale Interessengemeinschaften zersplittert. Hinzu kamen politisch-programmatische Differenzen sowohl in Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch über die alles dominierende Ost- und Deutschlandpolitik. Mit der Wahl von Rainer Barzel zum CDU-Vorsitzenden im Oktober 1971 sollte sowohl einer Modernisierungsstrategie als auch einer moderateren Haltung gegenüber dem einzigen potentiellen Bündnispartner, der FDP, der Weg geebnet werden. Dies gelang nur zum Teil. Die CDU war in der schwierigen Situation, sehr unterschiedliche Wählerschichten ansprechen zu müssen: Arbeitnehmer und neue städtische Mittelschichten mussten für die CDU gewonnen bzw. zurückgewonnen werden und ihre eher konservative ländliche Wählerschaft durfte nicht verschreckt werden. Zudem galt es, die Wähler der NPD abzuwerben. Gewinne bei Beamten, Angestellten und Selbständigen und die Rückgewinnung zu den Sozialliberalen abgewanderter Arbeitnehmer waren nur durch eine moderate, sachorientierte Oppositionspolitik zu erreichen. Das konservative Wählerpotential hoffte man durch eine Konfrontationsstrategie an die CDU zu binden. Das Ergebnis war ein widersprüchliches Verhalten in zentralen Feldern der Politik, insbesondere in der Ost- und Deutschlandpolitik, die das bestimmende Thema der Jahre 1969 bis 1972 war. Nur scheinbar war die SPD als führende Regierungspartei in einer komfortablen Situation. Sie hatte ihr bestes Wahlergebnis seit 1949 errungen, stellte den Kanzler und hatte zudem mit der Politik des Ausgleichs mit dem Osten ein Thema, das wesentlich die politische Agenda beherrschte. Zugleich versprach sie einschneidende Reformen in Bereichen, die für Wähler, die sich von den Normen und Wertvorstellungen der 1950er und frühen 1960er abzuwenden begannen, von Bedeutung waren: Reform des Ehe- und Familienrechts, des §218 des Strafgesetzbuches, Bildungsreform. Ihrer traditionellen Klientel bot sie eine Erweiterung der Mitbestimmung an. Die Erwartungen waren hoch gesteckt und mündeten in Enttäuschung, als sich herausstellte, dass vieles nicht oder nicht wie angekündigt verwirklicht werden konnte. Schwerer noch wog der Vertrauensverlust, den die Partei in den Jahren von 1966 bis 1969 bei der jungen Wählerschaft erlitten hatte. Zwar sammelte die APO, entgegen unausrottbaren politischen Mythen, nicht eine ganze Generation um sich, zwar zerfiel sie sehr schnell in obskure Gruppen und sich erbittert bekämpfende Avantgarde-Parteien, aber es gelang ihren Protagonisten doch, die Sozialdemokratie als Partei der Etablierten und Karrieremacher und des kleinsten gemeinsamen Nenners darzustellen, was seine Wirkung nicht verfehlte. Probleme hatte die Sozialdemokratie auch mit ihrer traditionellen Wählerschaft, den Arbeitern und „kleinen Leuten“, zumal, als nach 1973 die Verteilungsspielräume enger wurden und eine Reihe sozialpolitischer Vorhaben nicht verwirklicht werden konnte. Nach dem Regierungswechsel von 1969 fühlte sich die CDU/CSU von den Freien Demokraten, die man trotz vieler Auseinandersetzungen in der Vergangenheit als „natürlichen Verbündeten“ betrachtete, um die Früchte des Sieges
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Die SPD als Regierungspartei
Das Ende des CDUMonopols auf die Kanzlerschaft
gebracht. In der emotional geführten Debatte nach den Wahlen wurde – übrigens ähnlich wie nach dem Koalitionswechsel der FDP 1982 – mit einer angeblichen Verletzung der politischen Moral argumentiert, die es gebiete, dass die mit erkennbarem Abstand stärkste Partei die Regierung führe. Dass diese Argumentation von eigenen Fehlentscheidungen direkt nach der Wahl (Baring, 1984: 152ff.) ablenken und die eigenen Reihen schließen sollte, ansonsten aber wohl nicht wirklich ernstgenommen wurde, liegt auf der Hand. In einem ähnlichen Fall, mit entsprechenden Reaktionen seitens der SPD, hatte die CDU nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen 1966 eine kurzlebige Regierung mit der FDP gebildet, obwohl die SPD als stärkste Partei aus den Landtagswahlen hervorgegangen war. Hier wechselte die FDP nur wenige Monate später den Koalitionspartner und trat in eine sozial-liberale Koalition ein. Psychologisch schwerer wog wohl die Erkenntnis, dass mit den Wahlen des Jahres 1969 das Monopol der CDU auf die Kanzlerschaft der Bundesrepublik Deutschland gebrochen war. Das Ergebnis dieser Niederlage nur zu einem Betriebsunfall werden zu lassen, war das vereinte Anliegen der im Übrigen nach wie vor in Sachfragen zerstrittenen CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages.
3.3.1 Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition Rahmenbedingungen sozial-liberaler Reformpolitik
Die sozial-liberale Regierung trat als Reformregierung an. Kein Regierungswechsel war zuvor und danach mit solch hohen Erwartungen begleitet und belastet. Die angekündigte „Politik der inneren Reformen“ und die Absicht, „mehr Demokratie“ wagen zu wollen, beflügelte die politische Phantasie und schien einen Ausweg aus der innenpolitischen Konfrontation der vergangenen Jahre zu weisen. In der Regierungserklärung hieß es u.a.: „Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun ...Das Selbstbewußtsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben. (Lachen bei der CDU) Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen. Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. (Abg. Dr. Barzel: Aber Herr Brandt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen. (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. – Abg. Dr. Barzel: Das ist ein starkes Stück, Herr Bundeskanzler! Ein starkes Stück! Unglaublich! Unerhört!).“ (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 5. Sitzung vom 28.10.1969: 20;34)
Die Bedingungen für eine Politik innerer Reformen waren günstig, es gab in der Gesellschaft genügend Reformwillen. Auch wenn die Jahre 1967/68 einen Teil der jungen Generation der SPD entfremdet hatten, waren sie für eine Reformperspektive zu gewinnen. Es gab eine verbreitete Unterstützung in der Öffentlichkeit und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erlaubten es, viele der kostenintensiven Vorhaben auch zu finanzieren.
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Die Koalition stieß andererseits sehr schnell an die Grenzen ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber gut organisierten und selbstbewussten Interessengruppen, wozu nicht zuletzt die Gewerkschaften gehörten. Es zeigte sich auch, dass, anders als 1966/67, kein Reformkonzept aus einem Guss existierte und wohl auch nicht existieren konnte. Sehr schnell waren auch finanzielle Grenzen erkennbar. Und schließlich war auch der koalitionsinterne Interessenausgleichsund Entscheidungsprozess komplizierter als erwartet. Um diese inneren Reibungsverluste zu beseitigen, hätte es einer Konsolidierung der Mehrheitsverhältnisse bedurft. Genau das Gegenteil war der Fall. Das andere große, bald alle Kräfte in Anspruch nehmende Reformvorhaben war die neue Ost- und Deutschlandpolitik. Eine neue Ost- und Deutschlandpolitik bedeutete Regelung des Verhältnisses zur Sowjetunion, den osteuropäischen Ländern, vor allem aber zur DDR, die in der Bundesrepublik noch immer als „SBZ“ oder „Ostzone“ bezeichnet wurde. In der Großen Koalition war diese notwendige Ergänzung der Politik der Westintegration kaum vorangekommen. Die SPD verhielt sich – nicht zuletzt aus der Furcht vor politischen Verdächtigungen – äußerst vorsichtig, während die FDP in der Opposition begonnen hatte, öffentlich über eine neue Politik nachzudenken. Die Ost- und Deutschlandpolitik wurde zu dem Markenzeichen der neuen Regierung – der Begriff „Ostpolitik“ fand sogar Eingang in den angelsächsischen Sprachgebrauch, ähnlich wie „Realpolitik“, „Gemeinschaft“ oder „Angst“. Mehr noch als die einzelnen, oft schwer verständlichen, weil regelungstechnisch komplizierten innenpolitischen Reformschritte (wenn man von der emotional hoch aufgeladenen Diskussion um die Reform des § 218 StGB absieht), war es die Ost- und Deutschlandpolitik, die nicht nur die Gemüter der Politiker und der Öffentlichkeit erhitzte, sondern die Koalition an den Rand des Scheiterns brachte und die 1972, nach einem fast gelungenen Misstrauensvotum, zum triumphalen Wahlsieg der Koalition beitrug. Bei ihrem Amtsantritt hatte die Koalition ein ganzes Bündel von Reformprogrammen angekündigt: Eine umfassende Reform des Bildungswesens, des Ehe- und Familien- und Scheidungsrechts und des Straf- und Strafvollzugsrechts, den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, die Ausweitung der Mitbestimmung für Arbeitnehmer, ein Thema, das in der Großen Koalition ausgeklammert worden war, die Verschärfung der Monopolkontrolle und schließlich eine Herabsetzung des Mündigkeitsalters und des Wahlalters. In allen diesen Bereichen wurden umfangreiche Gesetzgebungsvorhaben in die Wege geleitet. Ein großer Teil dieser Gesetzesvorhaben war mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden. Vor allem der Ausbau des Bildungssystems, die Öffnung der Hochschulen und die weitreichenden sozialpolitischen Reformgesetze sind hier zu nennen. Im Bereich der Sozialgesetzgebung sind u.a. Maßnahmen einer präventiven Gesundheitspolitik, die Verbesserung der Krankenversicherung für Landwirte und ihre Angehörigen, das 2. Rentenreformgesetz, die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu nennen. Andere Vorhaben wie die Strafrechts- und Strafvollzugsreform, die Reform des § 218 StGB, des Sexualstrafrechts und des Demonstrationsrechts waren weitgehend kostenneutral, aber innenpolitisch höchst umstritten.
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Innenpolitische Konsequenzen der Ost- und Deutschlandpolitik
Probleme der Politik innerer Reformen
Die Politik aufgabenintensiver Reformvorhaben änderte sich schlagartig mit der Ölpreiskrise des Jahres 1973 und dem dadurch ausgelösten Zwang zur Neujustierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Weichenstellungen. In der Krise und den anschließenden Versuchen der Haushaltskonsolidierung und „Kostendämpfungspolitik“ zeigte sich, dass viele der Veränderungen in den Jahren zuvor von der stillschweigenden Annahme stetiger Wachstumsraten ausgegangen waren. Jetzt setzte, notgedrungen, eine Politik des Zurückschneidens von Sozialleistungen ein, die bis heute anhielt. Das Jahr 1973 markiert das Ende der ausgabenintensiven Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition und den Beginn eines „Umbaus“ des sozialen Wohlfahrtsstaates.
3.3.2 Das gescheiterte Misstrauensvotum und Neuwahlen 1972 Mehrheitsverlust der Regierung als Folge des Streits um die Ostpolitik
Die sozial-liberale Koalition stand von Anbeginn unter massivem Druck der parlamentarischen Opposition. Der Gegenstand, an dem die unversöhnliche Oppositionshaltung festgemacht wurde, war nicht primär die Politik der inneren Reformen, obwohl hier vor allem in den normativ relevanten Bereichen des Familienund Eherechts oder des §218 StGB genügend Zündstoff enthalten war, sondern die Ostpolitik. Von der Regierung stets als notwendige Ergänzung der Westpolitik Konrad Adenauers begriffen, wurde sie von der Opposition als Abkehr von dieser Politik dargestellt. Am Streit um die Ostpolitik enthüllte sich, wie sehr sich das Konfrontationsdenken im politischen Bewusstsein festgesetzt hatte. Andererseits waren allerdings auch die – wenngleich unbegründeten – Befürchtungen verständlich, die Orientierung in Richtung Osten könne die mit der politischen Westbindung unmittelbar verbundene Entscheidung für eine liberale Demokratie westlicher Prägung relativieren oder gar in Frage stellen. Die Wertschätzung, die marxistische Ideen und neutralistische Vorstellungen bis weit in die SPD hinein erfuhren, trugen zur Verunsicherung bei. Die Debatte um die Ostpolitik verlief ebenso leidenschaftlich und kontrovers, wie seinerzeit die Diskussion über die Westpolitik Adenauers. Die Kontroverse führte dazu, dass die Koalition vom Herbst 1970 bis zum April 1972 sieben Abgeordnete verlor, davon vier aus der FDP, unter ihnen Erich Mende, der ehemalige Parteivorsitzende und vier aus der SPD, darunter Herbert Hupka, der Vorsitzende der Schlesischen Landsmannschaft. Nach einem kurzen Zwischenspiel als fraktionslose Abgeordnete schlossen sie sich der CDU an. Zwei dieser Abgeordneten stammten aus Berlin, schlugen also für die „Kanzlermehrheit“ nicht zu Buche. Damit blieben der Koalition von ihrer ursprünglichen Mehrheit von zwölf Stimmen nur noch eine Stimme mehr als die CDU/CSU. Das konstruktive Als am Tag der Baden-Württembergischen Landtagswahl im April 1972 ein Misstrauensvotum Abgeordneter seinen Austritt aus der FDP-Fraktion bekannt gab, beschloss der von 1972 Fraktionsvorstand der CDU/CSU nach Rücksprache mit den jeweiligen Führungsgremien, ein „konstruktives Misstrauensvotum“ nach Art. 67 GG im Bundestag zu versuchen. Die Mehrheit für den Kandidaten der CDU/CSU, Rainer Barzel, schien gesichert, da bei einer nominellen Mehrheit der Koalition von ei-
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ner Stimme zwei weitere FDP-Abgeordnete angekündigt hatten, sie würden für Barzel stimmen. Das Ergebnis der Abstimmung war eine politische Sensation. Nur 247 JaStimmen, anstatt der notwendigen 249 entfielen auf Rainer Barzel; zehn NeinStimmen und drei Enthaltungen kamen zu Stande, weil die Mehrheit der Koalitionsabgeordneten an der Abstimmung nicht teilnahm. Die Gründe für dieses Ergebnis – Stimmenkauf und/oder Einfluss fremder Geheimdienste, vor allem des Staatssicherheitsdienstes der DDR – sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Der CDU-Abgeordnete Steiner beschuldigte sich später selbst, gegen Geld, das er vom SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand erhalten habe, gegen Barzel votiert zu haben. (Wienand wurde 1996 wegen Zusammenarbeit mit dem DDRStaatssicherheitsdienst verurteilt.) Nach dem Misstrauensvotum stand die Regierung gleichwohl ohne Mehrheit da. Dies zeigte sich bereits einen Tag später, als der Bundestag mit Mehrheit den Etat des Kanzleramts ablehnte. Neuwahlen waren unausweichlich, denn ein zweiter Versuch nach Art. 67 GG war politisch kaum zu begründen. Es ist, neben wahltaktischen Erwägungen, das noch anhängige Ratifizierungsverfahren der Ostverträge gewesen, das die Regierung daran hinderte, sofort die Auflösung des Parlaments über Art. 68 GG zu betreiben. Erst nach der Verabschiedung der Ostverträge wurde der Weg zu Neuwahlen beschritten (zum zeitlichen Verlauf: Schindler, 1984: 411ff.). Das Grundgesetz kennt nur einen Weg, der zu vorgezogenen Neuwahlen führt und der bisher in der Geschichte der Bundesrepublik zweimal gegangen worden ist: 1972 nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt und 1982 nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt, das Helmut Kohl zum Bundeskanzler machte. Art. 68 Abs. 1 GG sieht folgende Lösung vor: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.“
Diesen Antrag stellte Willy Brandt am 20. September 1972. Inzwischen hatte, die Koalition durch einen weiteren Parteiübertritt und das Ausscheiden Karl Schillers aus dem Kabinett und seine Weigerung, weiter an Sitzungen des Bundestages teilzunehmen, ihre Mehrheit verloren. Die Abstimmung am 22. September 1972 ergab, dass von 482 abgegebenen Stimmen 233 Abgeordnete mit Ja und 248 mit Nein votierten. Nach Rücksprache mit den Fraktionsvorsitzenden der Parteien löste Bundespräsident Heinemann noch am Abend des selben Tages den 6. Deutschen Bundestag auf (BGBl I 1972: 1834). Die Wahl zum 7. Deutschen Bundestag fand am 19. November 1972 statt.
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Auflösung des Bundestages und Neuwahlen nach Art. 68 Abs. 1 GG
3.3.3 Die zweite Regierung Brandt Fehlstart der zweiten Koalition von SPD und FDP
Die Bundestagswahl von 1972 wurden von der SPD zu einem Plebiszit für Willy Brandts Ostpolitik und gegen die Umstände seines geplanten Sturzes umfunktioniert. Die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik von 91,2% ist ein Indiz dafür, wie emotional aufgeladen die Stimmung war. Die SPD erzielte mit 45,8% das beste Ergebnis ihrer Geschichte und wurde zum ersten Mal stärkste Partei im Bundestag. Nach der Erneuerung des Bündnisses der erheblich gestärkt in den Bundestag zurückkehrenden Koalitionsparteien (SPD 230 anstelle von 224 Sitzen; FDP 41 statt 30 Mandaten) blieb der Reformeifer sehr schnell auf der Strecke, neue Vorhaben stießen an die Grenzen des finanziell Verantwortbaren. Bereits die Regierungsbildung stand wegen einer Erkrankung Willy Brandts unter einem ungünstigen Stern, er konnte die ihm in der Kanzlerdemokratie obliegende Aufgabe der Kabinettsbildung nicht angemessen wahrnehmen. Der große Erfolg für die SPD konnte nicht politisch umgesetzt werden und der Kanzler zeigte auch anderweitig erkennbare Führungsschwächen. Innerparteiliche Mit der Verabschiedung der Ostverträge war auch das sowohl spaltende, Auseinandersetzun- aber zugleich einigende Element aus der Koalition verschwunden. Es war aber gen in der SPD gerade die Ostpolitik, die den Sieg der Koalition bewirkt hatte. Aus einem Bündnis mit einem hohen, vielleicht auch überhöhten Gestaltungsanspruch war ein „normales“ politisches Zweckbündnis geworden, zudem ein Bündnis, dessen stärkster Partner, die SPD, es mit erheblichen innerparteilichen Problemen zu tun hatte. Während Willy Brandt in seiner zweiten Regierungserklärung über eine neue, sozial-liberale Mitte philosophierte, im Übrigen aber Enthaltsamkeit bei weiteren Forderungen anmahnte, interpretierte die an Gewicht zunehmende Parteilinke das Ergebnis der Wahlen als Aufforderung zu einer schärfer sozialdemokratisch profilierten und beschleunigten Reformpolitik, die auch vor „Systemreformen“ nicht zurückschrecken dürfe. Zwar hat nie die Gefahr einer „Machtübernahme“ der Linken in der SPD oder gar des „Stamokap“-Flügels2 der Jungsozialisten bestanden. Die Diskussion innerhalb der Partei, die nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch den als „Technokraten“ eingeschätzten Helmut Schmidt noch an Schärfe zunahm, schwächte aber die SPD dauerhaft und band erhebliche Energien. Die Ursache war wesentlich in sozialstrukturellen Verschiebungen der Mitgliedschaft und unteren Funktionärsschicht zu suchen – neue Mittelschichten und, nach dem Zerfall der APO, Anhänger einer politischen „counter-culture“ mit neuen Politikvorstellungen und Themen (Ökologie, Friedenspolitik) drängten in die Partei und nahmen das Motto „mehr Demokratie wagen“ aus Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 wörtlich. Angesichts der wirtschaftlichen Restriktionen nach dem „Ölschock“ des Jahres 1973 ergaben sich hieraus permanente Konflikte. Von innen geschwächt, mit einem durch die wirtschaftliche 2
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Die Abkürzung „Stamokap“ stand für „staatsmonopolitischer Kapitalismus“, eine Weiterentwicklung der Leninschen Kapitalismus- und Imperialismustheorie, mit der Gesellschaftswissenschaftler der DDR die Bundesrepublik als ein durch die Verschmelzung von staatlicher und ökonomischer Macht gekennzeichnetes spätkapitalistisches System beschrieben.
und finanzielle Situation deutlich eingeschränkten Handlungsspielraum verloren der Kanzler, die SPD und die Koalition insgesamt ihre Gestaltungsfähigkeit. Gemessen an den hohen Erwartungen, die 1972 erneut erweckt worden waren, war die Regierung Brandt schnell am Ende. Es hätte der Aufdeckung der Spionagefähigkeit eines der engsten Mitarbeiter Willy Brandts von Willy Brandt, Günter Guillaume, für die DDR und der unappetitlichen Be- Rücktritt gleitumstände dieser Affäre gar nicht bedurft (Baring, 1984: 722ff.), um über kürzere oder längere Frist über einen Kanzlerwechsel nachzudenken. Mit Helmut Schmidt stand auch ein kompetenter, und vor allem, was in dieser Situation wichtig war, in Fragen der Wirtschaftspolitik erfahrener Nachfolger zur Verfügung. Schon vor der Affäre Guillaume war wachsende Kritik an der mangelnden Führungskraft laut geworden, insbesondere Herbert Wehner, der Fraktionsvorsitzende der SPD übte heftige Kritik an Brandt, der Kanzler „badet gern lau“ soll er anlässlich eines Besuches in Moskau geäußert haben – was von vielen als eklatanter Stilbruch bewertet wurde. Brandt entschloss sich am 4./5. Mai 1974, am Rande einer Klausurtagung der SPD-Spitze mit leitenden Funktionären des DGB, zum Rücktritt, den er einen Tag später in einem Brief dem Bundespräsidenten mitteilte. Er habe diesen Schritt getan, um seine „politische und persönliche Integrität nicht zerstören zu lassen“, erklärte Brandt am 8. Mai in einer öffentlichen Erklärung im Deutschen Fernsehen.
3.3.4 Politische Bilanz der Kanzlerschaft Willy Brandts Die Bildung der sozial-liberalen Koalition 1969 stellt einen Wendepunkt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik dar. Sie wurde nicht nur als längst überfälliger demokratischer Machtwechsel wahrgenommen. Das Versprechen, mehr Demokratie zu wagen, innere Reformen zu verwirklichen und das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn und zur DDR auf eine solide Vertragsgrundlage zu stellen, erweckte große Hoffnungen. Die Bundesrepublik schien nach der wirtschaftlichen Krise des Jahres 1966 und den Unruhen des Jugendprotestes in ein ruhigeres politisches Fahrwasser zu steuern. Diese Erwartung erfüllte sich mitnichten. Die Reformvorhaben der neuen Regierung führten zu einer massiven politischen Konfrontation zwischen Regierung und Opposition, die in ihrer Schärfe nur mit den Auseinandersetzungen der frühen 1950er-Jahre um die Wiederbewaffnung und Westintegration verglichen werden können. Das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt 1972, die dubiosen Mittel zur An- und Abwerbung von Abgeordneten, öffentliche Polemik und offene Morddrohungen gegen den Kanzler („Willy Brandt – an die Wand“) vergifteten das politische Klima und erneuerten das durch die Große Koalition überwunden geglaubte Lagerdenken. Zugleich machte das Reformprogramm der Regierung Brandt/Scheel das Angebot an die protestierende junge Generation und politisch passive Bürger, sich in die Politik einzumischen. Es gelang, große Teile des Protestpotentials zu absorbieren und in die bestehenden Parteien und Institutionen zu integrieren. Üb-
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Entstehung der neuen sozialen Bewegungen
Ökologie als neues Thema
rig blieb ein diffuses Gefüge linkslibertärer, kommunistischer, trotzkistischer und maoistischer Splittergruppen und Pseudoparteien, die sich massiv bekämpften (Languth, 1983) und als unfähig erwiesen, Allianzen gegen das von allen bekämpfte „bürgerliche System“ zu knüpfen. Ihre Bedeutung für die Entwicklung des politisch-kulturellen Klimas in der Bundesrepublik ist gleichwohl nicht zu unterschätzen. Offenheit gegenüber neuen politischen Forderungen aus der Gesellschaft, Toleranz gegenüber Formen politischer Artikulation und politischen Protests, die als unkonventionell empfunden wurden und die eigene Reformagenda ließen die sozial-liberale Koalition als „natürlichen Verbündeten“ linker und libertärer Gruppierungen erscheinen. Die Reformpolitik nahm der Protestbewegung ihren Schwung und wirkte de-eskalierend. Sie verhinderte aber nicht ihr quantitatives Wachstum. Nachdem sich die Grenzen (und internen Widersprüche) des Reformprogramms zeigten, bildete dieses erweiterte Protestpotential die soziale und politische Basis für die „neuen sozialen Bewegungen“ der 1970er- und 1980er-Jahre und die Herausbildung der Grünen als Partei der neuen Bewegungen (Porta/Rucht, 1991: 22f.). Reformbestrebungen der sozial-liberalen Koalition, wie z.B. die Liberalisierung des Strafrechts, wurden begleitet von Forderungen sich neu formierender Gruppen, die sich die Vertretung bislang nicht organisierter oder nur schwer zu organisierender Interessen auf die Fahnen geschrieben hatten: Fraueninteressen (straffreie Abtreibung, Schutz gegen häusliche Gewalt, Gleichberechtigung in der Berufswelt), die Probleme marginalisierter Gruppen (Obdachlose, psychisch Kranke, Behinderte), die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Städten (preiswerter Wohnraum und Protest gegen Wohnungsleerstände und „Luxussanierungen“, öffentliche Verkehrsmittel, kulturelle Versorgung) und schließlich in immer größerem Umfang Umweltprobleme. Von prominenten Vertretern der „neuen Linken“ wurde der ökologische Diskurs anfangs als gut getarntes ideologisches Täuschungsmanöver des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Presse denunziert. Die ökologischen „Katastrophentheorien“ beruhten, so meinte z.B. Hans Magnus Enzensberger im „Kursbuch“, auf einer „linearen, monokausalen Argumentation“. Den „Club of Rome“, dessen Bericht als Initialzündung für das Entstehen der ökologischen Bewegung angesehen werden kann, zählte er zu den „Lakaien der jeweils herrschenden Klasse“. Zwar werde die ökologische Bewegung, die mächtige und durchaus legitime Bedürfnisse ausdrücke, wachsen, sie orientiere sich aber „meist an Nahzielen, die unpolitisch verstanden werden“, und neige „zu einem gesellschaftlichen Illusionismus, der sie zur idealen Beute von Demagogen und interessierten Dritten macht.“ Die „Borniertheit dieser Initiativen“ dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass „in ihnen der Keim einer möglichen Massenbewegung steckt“ (Enzensberger, 1973: 7). In der orthodox-marxistischen Argumentation dieser Zeit waren die neuen Bewegungen kleinbürgerlich und reformistisch. In der Zeit der Kanzlerschaft Willy Brandts (1969-1974) verband sich häufig außerparlamentarischer Protest mit dem Versuch, parlamentarische oder innerparteiliche Entscheidungen mitzubestimmen und zu beeinflussen. Diese „Doppelstrategie“ einer Reform innerhalb der Institutionen und extrainstitutioneller
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Politik war ein theoretisches Konstrukt, das der Wirklichkeit nicht standhielt. Unter den Bedingungen reduzierter Reformspielräume nach der ersten Ölkrise 1973 und der rationalistischen Wende der Politik der sozial-liberalen Koalition unter Helmut Schmidt, erwies sich die Erwartung vieler Aktivisten der neuen Bewegungen, innerhalb der Institutionen einen entscheidenden Impuls für eine neue Politik auslösen zu können, als illusorisch. Zunehmende Distanz bis hin zum Vorwurf des „strukturellen Staatsfaschismus“ (Clemenz, 1973: 23) in der Bundesrepublik war die Folge. Enttäuschung mündete entweder in Resignation oder aber im Engagement in den neuen sozialen Bewegungen, in jedem Falle aber in der Entfernung und Entfremdung von den Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Linksradikale Gruppierungen sahen sich in ihrer Warnung vor dem „Reformismus“ des bürgerlichen Staates bestätigt, der nur ein Deckmantel für seine repressive Politik sei (Kursbuch Nr. 31 und 32, 1973). Als fatale Fehlentscheidung bezüglich der Integrationsbereitschaft und -fähigkeit des politischen Systems erwies sich der Beschluss der Ministerpräsidenten von 1972 über die Fernhaltung von Gegnern der politischen Ordnung der Bundesrepublik aus dem öffentlichen Dienst, der sogenannte „Radikalenerlass“. Diese Abwehrmaßnahme gegenüber der maßlos überschätzten Gefahr, dass linke Ideologen die staatlichen Institutionen und insbesondere die Bildungseinrichtungen infiltrieren könnten, wurde weit über den Kreis der potentiell Betroffenen hinaus als Politik der „Berufsverbote“ wahrgenommen. Der Beschluss war wesentlich von der Furcht der Sozialdemokratie bestimmt, als zu weich und nachgiebig gegenüber der kommunistischen Bedrohung zu erscheinen. Angesichts der Tatsache, dass die neue Ostpolitik von Seiten der Opposition dem Vorwurf ausgesetzt war, die kommunistische Gefahr zu unterschätzen und den Interessen des Kommunismus in die Hände zu arbeiten (Erste Beratung der Ostverträge, 1972), kann der „Radikalenerlass“ als innenpolitisches Pendant zur neuen Ost- und Deutschlandpolitik angesehen werden. Fragt man resümierend nach der historischen Leistung Willy Brandts, so ist es in erster Linie die Ost- und Deutschlandpolitik. Für sie wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Über ihre Schattenseiten und geheimen Nebenkriegsschauplätze kam seine Kanzlerschaft zum Ende. Die Ost- und Deutschlandpolitik ergänzte die Westpolitik Konrad Adenauers um eine bis dahin vernachlässigte entscheidende Komponente und leistete, von keinem der Akteure erwartet, einen wesentlichen Beitrag zum schließlichen Ende des Kalten Krieges, der Blockkonfrontation und, über viele Umwege und Rückschläge und ohne dies als Ziel für realistisch gehalten zu haben, zum Ende des Kommunismus. Eine zusammenfassende Bewertung der sozial-liberalen Reformpolitik der Jahre 1969 bis 1974 fällt zwiespältig aus. Einerseits ist nicht zu leugnen, dass in der ersten, verkürzten Legislaturperiode eine Reihe dringend notwendiger Reformen eingeleitet oder realisiert wurde. Andererseits bleibt aber festzuhalten, dass vieles von dem quasi unter einem, von den Akteuren selbst nicht wahrgenommenen „Finanzierungsvorbehalt“ stand, was dazu führte, dass ab 1973/74 bereits schrittweise Reduktionen, vor allem im Bereich der Sozialpolitik erfolgten. Trotz dieser Einschränkungen haben sich die strukturellen Veränderungen als außerordentlich stabil und letztlich auch krisenresistent heraus gestellt. Die
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Auswirkungen des „Radikalenerlasses“ von 1972
Die historische Leistung Willy Brandts
vielfältigen sozialpolitischen Reformen erwiesen sich aber bereits am Ende der Kanzlerschaft Willy Brandts als eine teure Hypothek für die Anpassung der Bundesrepublik an radikal veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, ein Anpassungsprozess, der noch nicht zu Ende ist und sich seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts massiv verschärft hat. Ein Rückblick zeigt aber auch, dass sich der visionäre Reformeifer relativ schnell erschöpfte und einer pragmatischeren Politik Platz machte. Auch ohne die einsetzende weltweite Wirtschaftskrise hätte nach der Bundestagswahl von 1972 ein Wandel hin zu einer eher pragmatischen, wenn nicht gar „technokratischen“ Politik eingeleitet werden müssen, da viele Reformvorhaben in ihren Folgewirkungen nur unzureichend durchdacht waren – man denke z.B. an die Öffnung der Hochschulen und die erheblichen Diskrepanzen zwischen der Bereitstellung von Qualifikationen und der Absorptionsfähigkeit des Beschäftigungssystems. Insofern übernahm Helmut Schmidt als Nachfolger von Willy Brandt ein kompliziertes Erbe, zumal, wie sich sehr schnell zeigte, seine Kanzlerschaft unter dem Zeichen krisenhafter Entwicklungen im wirtschaftlichen, sozialen und innenpolitischen Bereich stand. Die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechterten sich dramatisch. Die 1969 mit hohen Erwartungen begonnenen und befrachteten innenpolitischen, bildungs- und sozialpolitischen Reformen kamen ins Stocken und das innere Gefüge der Bundesrepublik wurde erstmals seit Gründung von innen heraus mit Gewalt in Frage gestellt. Eines der beiden Angstszenarios der Planer der Notstandsgesetzgebung schien angesichts des Terrorismus der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) Wirklichkeit zu werden. Und schließlich war der zweite Teil seiner Amtszeit von einer Verschärfung des OstWest-Konflikts überschattet, deren Folgewirkungen wesentlich zu seinem Sturz im Jahre 1982 beitrugen.
3.3.5 Politik im Zeichen der Weltwirtschaftskrise Haushaltssanierung und Probleme der Finanzpolitik
In der Euphorie des Neuanfangs 1969 und der Erfolge in der Ostpolitik waren einige der problematischen Begleiterscheinungen der kostenintensiven Politik der inneren Reformen übersehen oder gering geachtet worden. Schon vor der Ölkrise im Gefolge des Yom-Kippur-Krieges vom Oktober 1973, die definitiv die Voraussetzungen für kostspielige Reformvorhaben beseitigte, war eine Reihe problematischer wirtschaft- und finanzpolitischer Begleiterscheinungen erkennbar geworden, die zwei Finanzminister, Alex Möller am 13. Mai 1971 und Karl Schiller (zugleich Wirtschaftsminister – „Superminister“) am 7. Juli 1972 zum Rücktritt bewegten. In beiden Fällen ging es um Haushaltssanierung und solide Finanzpolitik. Bereits im Boom-Jahr 1970 waren die Einnahmen des Bundes um 2,3 Mrd. unter dem geschätzten Soll geblieben. Schätzungen von Wirtschaftsinstituten ergaben, dass die Einnahmen von Bund und Ländern mittelfristig erheblich unter den 1970 geschätzten Angaben liegen würden. Wenn man nicht den Kreditrahmen der öffentlichen Hand erheblich ausweiten und damit die ohnehin schon problematische Preisentwicklung weiter befördern wollte, blieb zumindest für
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neue Reformvorhaben kein Geld übrig. Verschärft wurden diese inneren Probleme durch die Krise des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Diese, hier nur angedeuteten, Rahmenbedingungen führten Mitte der 1970er-Jahre zu einem massiven Konjunktureinbruch. Das Bruttosozialprodukt stieg 1973 noch um 5,1%, stagnierte 1974 bei 0,4% und fiel 1975 um 3,5%. Die Industrieproduktion sank, die Zahl der Arbeitslosen stieg 1975 erstmals auf über eine Million. Hinzu kamen 1973 erneute wilde Streiks und der große ÖTV-Streik in der Lohnrunde 1974. Alle diese Probleme belasteten nicht nur das soziale Klima. Ihnen war auch mit den seit 1966/67 erprobten und bewährten Mitteln des Keynesianismus nicht mehr zu begegnen. Das Jahr 1974 markiert einen Strukturumbruch in der deutschen und in der Weltwirtschaft, der zu einer Renaissance liberaler Wirtschafts- und konservativer Finanzpolitik führte, die die Bundesrepublik zwar relativ unbeschadet durch die weltweiten Wirtschaftskrisen der 1970er- und 1980er-Jahre hindurchsteuern ließ, für ausgabenträchtige Reformen aber keinen Spielraum ließ. Die Erdölkrise des Jahres 1973 hatte neue Rahmendaten gesetzt. Die als sensationell empfundene Studie des Club of Rome von 1972 ließ zugleich eine Ahnung von dem aufkommen, was den entwickelten Industriestaaten bevorstand: Grenzen des Wachstums. Helmut Schmidt reagierte am 17. Mai 1974 in seiner Regierungserklärung auf die veränderte Situation. Er wies auf die Notwendigkeit hin, günstige Voraussetzungen für Investitionen in der Bundesrepublik zu schaffen bzw. zu erhalten. Sie seien die Voraussetzung für ökonomisches Wachstum, auf das nicht verzichtet werden könne, da es die Bedingung für weitere Fortschritte im sozialen Bereich sei. Damit war das Leitmotiv für die Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre angeschlagen: Verbesserung der Investitionsanreize und investive Tätigkeit des Staates, v. a. im Bereich der Infrastruktur und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Trotz dieser und anderer Maßnahmen zeigte sich keine Verbesserung, sondern eher eine Verschlechterung der Situation, die durch Konjunkturprogramme nicht aufgefangen werden konnte. Zwar schnitt die Bundesrepublik im internationalen Vergleich noch relativ gut ab, gleichwohl war unverkennbar, dass grundsätzlich über eine neue wirtschaftspolitische Strategie nachgedacht werden musste, wobei der immer stärkeren internationalen Verflechtung, die nationale Programme in ihrer Wirkung deutlich einschränkte, verstärkte Beachtung geschenkt werden musste. Neben den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gab es eine Reihe von binnenökonomischen Rahmenbedingungen, die zur Verschlechterung der Situation beitrugen. Zu Buche schlug vor allem eine erhebliche Umstrukturierung des Arbeitsmarktes durch den Einsatz neuer Technologien, weitreichende Rationalisierungsmaßnahmen und Umstrukturierungen. Und schließlich wurde erkennbar, dass die demographische Entwicklung langfristig die Funktionsmechanismen der sozialen Sicherungssysteme in Frage stellte. All dies führte nicht nur in der Bundesrepublik zu heftigen, sich Ende der 1970er-Jahre eskalierenden Kontroversen über die zukünftige Strategie staatlicher Wirtschaftspolitik, die in Großbritannien und den USA im „Thatcherismus“ und in den „Reaganomics“ endete, in der Bundesrepublik aber zu relativ modera-
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Reaktionen auf veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen
Die „ökonomische Wende“ von 1981/82: Bruch der Koalition über die Finanz- und Haushaltspolitik
ten Anpassungen der Wirtschaftspolitik an die veränderten Bedingungen führte. Der Preis war eine Überlastung der öffentlichen Haushalte und eine steigende Verschuldung der Gebietskörperschaften. Dieser Entwicklung versuchte die Regierung schließlich Einhalt zu gebieten. Die letzten haushaltspolitischen Beschlüsse der sozialliberalen Koalition im Sommer 1981, Sommer 1982 und Herbst 1982 setzten einzig und allein auf Konsolidierung der Haushalte und ließen konjunkturelle und arbeitsmarktpolitische Überlegungen außer Acht. Kürzungen betrafen vor allem die sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitsmarktpolitik. Die ökonomische Wende ging der politischen Wende des Herbstes 1982 voraus. Angesichts dieser Entscheidungen verwundert es nicht, dass es die Finanzpolitik war, die den Bruch der sozial-liberalen Koalition herbeiführte. Die SPD und ihre politische – und vor allem gewerkschaftliche – Klientel konnten das Argument der Haushaltskonsolidierung solange akzeptieren, wie die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Einkommenssituation der abhängig Beschäftigten einigermaßen stabil war – vor allem im Vergleich zu anderen Industriestaaten. Sie musste dann in Schwierigkeiten geraten, als dies nicht mehr der Fall war. Diese Situation trat spätestens 1981 ein. Die Sozialdemokratie geriet aber auch aus einem anderen Grund in eine fatale Situation: Sie hatte – anders als 1966 – keine eigenständige Lösungsstrategie parat. Diese Schwäche konnten FDP und CDU/CSU erfolgreich ausnutzen. Ihr Argument, dass sie mit ihrem Kurs der Haushaltskonsolidierung den Schlüssel für eine Überwindung der Krise und künftige Prosperität in der Hand hätten, verfing beim Wähler, der nach dem Bruch der Koalition im März 1983 zu den Wahlurnen gerufen wurde.
3.3.6 Bedrohung der politischen Ordnung durch den Terrorismus Die Entstehung linksradikaler Gruppen und Parteien aus der Studentenbewegung
Aus der zerfallenden Studentenbewegung war Anfang der 1970er-Jahre eine Vielzahl von politischen Splittergruppen und marxistisch-leninistischen Pseudoparteien entstanden. Sie sahen im China der Kulturrevolution und im revolutionären Kampf Ernesto Che Guevaras ihre Vorbilder. Die Idee der „Stadtguerilla“, für die es Vorbilder in Lateinamerika gab, sollte den „revolutionären Kampf“ in die Metropolen tragen. Diese Pseudo-Parteien und so genannten „K-Gruppen“ beanspruchten jeweils die ideologische und politische Führerschaft im Klassenkampf. Ihre Ideologie bezogen sie aus der Geschichte der kommunistischen Bewegung der 1920er- und 1930er-Jahre und den „Mao-Tse-Tung-Ideen“ (vgl. Wir warn die stärkste der Partein..., 1977). Bereits im Sommer 1967, nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin am 2. Juni, hatten örtlich operierende „Tupamaros“ Brand- und Sprengstoffanschläge verübt. Das Aufsehen erregende Fanal war die Brandstiftung im Frankfurter Kaufhaus Schneider im April 1968, durchgeführt von den späteren „Gründungsmitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Sie wollten damit gegen den „Völkermord“ in Vietnam protestieren.
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Gewalt war seit den ersten Ansätzen der Studentenbewegung als unmittelbare staatliche Gewalt wahrgenommen worden, sei es bei den Demonstrationen gegen den kongolesischen Diktator Moise Tschombe 1964, den „Spaziergang-Demonstrationen“ Ende 1966, den Anti-Schah-Demonstrationen am 2. Juni 1967 oder den großen Osterdemonstrationen 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, den führenden intellektuellen Kopf der Studentenbewegung. Sie wurde zugleich als „strukturelle Gewalt“ der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, Normen und Regeln der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft begriffen. Der Schluss lag nicht fern, dass im Kampf gegen diese strukturelle Gewalt „Gegengewalt“ legitim sei. Der Weg in den Terrorismus war keine unausweichliche Konsequenz radikaler politischer Auffassungen. Aber er war auf der anderen Seite auch nicht ohne innere Logik. Wenn die Annahme lautet, dass das imperialistische System mit weltweiter Ausbeutung und Unterdrückung, wenn nötig auch mit Krieg versucht, das Aufbegehren ganzer Völker niederzuschlagen, dann liegt der Schluss nahe, dass es auch in den Metropolen nicht freiwillig seine Positionen aufgeben wird. Es werde auch dort nicht vor Gewaltanwendung zurückschrecken. In dieser Logik sind terroristische Aktivitäten legitime „Gegengewalt“. Den antiimperialistischen Kampf offen zu führen, erlaubt es dann auch, führende Vertreter dieses Systems zu „liquidieren. Für „solche Typen“ sollte es „kein Hinterland mehr“ geben (Verfassungsschutzbericht 1977: 112). Anschläge und Attentate wurden als „revolutionärer Terror“ gerechtfertigt, Lenin und Mao als geistige Ahnväter beschworen. Der revolutionäre Terror, so argumentierte die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) in einer programmatischen Schrift, richte sich nicht gegen das Volk und die Massen, sondern „ausschließlich gegen Exponenten des Ausbeutungssystems und gegen Funktionäre des Unterdrückungsapparates, gegen die zivilen und militärischen Führer und Hauptleute der Konterrevolution“ (Kollektiv RAF, o.J.: 39). Die Angriffe der „Stadtguerilla“ müssten den Krieg in die Wohnviertel der Herrschenden tragen und sich gegen alle Institutionen des Klassenfeindes richten, gegen die Polizei, Verwaltung, Konzerne, gegen leitende Beamte, Richter, Direktoren aus der Wirtschaft. Individueller Terror gegen Vertreter des Staates sollte Unsicherheit und Angst säen. In der Abwehr dieser Bedrohung bediente sich der Staat rechtlich problematischer Mittel, die, wie z.B. die „Rasterfahndung“, weit über den Bereich der Verdächtigen hinaus in das Privatleben von Bürgern eingriffen. Mit einer Vielzahl kaum miteinander koordinierter und abgestimmter Gesetzesveränderungen, die, wie der § 129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) z.T. neue Straftatbestände schufen, wurde versucht, dem politisch motivierten Terrorismus und seiner Unterstützung entgegenzuwirken. Entführungen, wie die des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz im März 1974, die Ermordung führender Vertreter des Staates und der Wirtschaft, wie des Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann im November 1974 in Berlin, des Bankiers Jürgen Ponto oder des Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 und Überfälle und Geiselnahmen wie in der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1977 forderten den Rechtsstaat heraus und schufen ein Kli-
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Der Weg in den Terrorismus
Ideologische Begründung des Terrorismus durch die „Rote Armee Fraktion“ (RAF)
Reaktion des Staates auf den Terrorismus
Höhepunkt des Terrorismus im Herbst 1977
Kontroversen über die Folgen des Terrorismus und die Reaktion des Staates
ma der Unsicherheit und Intoleranz, das die mühsam erworbene Liberalität und Offenheit der Gesellschaft der Bundesrepublik ernsthaft zu bedrohen schien. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im „deutschen Herbst“ 1977, als ein Terrorkommando der RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführte, seine Begleiter ermordete und versuchte, die in den Gefängnissen einsitzenden „politischen Gefangenen“ der RAF freizupressen. Als dies auch nach der Entführung der Lufthansa Maschine „Landshut“ durch parallel agierende palästinensische Terroristen nicht gelang (das Flugzeug wurde erfolgreich von der neugegründeten Anti-Terroreinheit des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, befreit), wurde Schleyer von seinen Entführern ermordet. Die in StuttgartStammheim inhaftierten Gründer der RAF begingen Selbstmord. Im Umfeld des Terrorismus und bei Unterstützergruppen für die „politischen Gefangenen“ war daraufhin, entgegen allen Belegen für die Selbsttötung, von Mord durch Agenten des Staates die Rede. Bemerkenswert ist, dass in dieser Zeit höchster Gefährdung Regierung und Opposition in Krisenstäben gemeinsam entschieden. Abzuwägen war zwischen dem grundgesetzlich verbürgten Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Räson des Staates, sich von Terroristen nicht erpressen zu lassen. Die Regierung Schmidt war nicht bereit, den Forderungen der Entführer nachzugeben, auch wenn dies das Leben von Schleyer aufs Spiel setzte. Sie blieb bei ihrer zu Beginn der Entführung formulierten Haltung, dass den Forderungen der Entführer „nicht entsprochen werden kann und soll“, und dass alles versucht werden müsse, Schleyer lebend zu befreien (Dokumentation, 1977: 18). Die Ereignisse des Herbstes 1977 stellten die wohl ernsteste Herausforderung der Demokratie und des Rechtsstaates dar, welche die Bundesrepublik erlebt hat. Neben den Folgen für das politische Klima in der Bundesrepublik sind vor allem die rechtlichen Konsequenzen zu erwähnen, die aus der Bedrohung durch den Terrorismus gezogen wurden. Mit einer wahren Flut an „Sondergesetzen“ war versucht worden, dieser neuen Bedrohungslage Herr zu werden. Sie reichten von Einschränkungen für die Strafverteidigung über die Legalisierung polizeilicher Maßnahmen wie der Rasterfahndung bis hin zu neuen strafrechtlichen Möglichkeiten, die Bildung und Unterstützung einer „kriminellen Vereinigung“ zu verfolgen. Alle diese Regelungen blieben auch dann in Kraft, als der Anlass für ihre Einführung nicht mehr gegeben war. Nach dem 11. September konnten sie nahtlos in neue Sicherheitsgesetze überführt und erweitert werden, die diesmal jedoch mit einer so genannten „sunset clause“ versehen wurden.
3.3.7 Helmut Schmidt: Kanzler in der Parteiendemokratie Kanzlerschaft im Zeichen wirtschaftlicher und politischer Krisen
Angesichts der erwähnten wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen ist es nicht verwunderlich, dass die Politik des 1974 ins Amt gekommenen Bundeskanzlers Helmut Schmidts wesentlich aus (erfolgreichem) Krisenmanagement bestand. Sie bot wenig emotionale Identifikationsmöglichkeiten, wie zuvor die Reformpolitik und Ostpolitik Willy Brandts. Zudem war Schmidt eine politische Führungspersönlichkeit, die sich dem kritischen Rationalismus Karl Poppers verbunden fühlte und in schwierigen Zeiten im Sinne Max Webers auf dem Vorrang
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der Verantwortungsethik gegenüber der Gesinnungsethik bestand. Dies führte zu permanenten Konflikten mit seiner eigenen Partei und Ende der 1970er-Jahre im Zusammenhang mit der „NATO-Nachrüstung“ auch mit seinem Vorgänger Willy Brandt, der Parteivorsitzender der SPD geblieben war. Helmut Schmidts Verhältnis zur SPD ist als „uneasy coexistence“ (Padgett, 1994: 62) bezeichnet worden. Für diese Einschätzung gibt es zwei Begründungen: Zum einen die permanenten Reibungskonflikte, die sich für einen sozialdemokratischen Regierungschef ergaben – und für jeden anderen in ähnlicher Weise ergeben hätten –, die aus dem Umstand herrührten, dass in der Partei diejenigen immer größeren Einfluss gewannen, die den Aufbruch von 1969 ernst genommen hatten, die durch ihn motiviert worden waren, sich politisch zu engagieren und die jetzt lernen mussten, was „Realpolitik“ ist. Zum anderen konnte der überzeugte Popperianer Helmut Schmidt mit den messianischen Vorstellungen und Erwartungen der neuen Mitglieder- und Funktionärsschicht wenig anfangen. Helmut Schmidts Verständnis von Politik war das eines auf rationaler Überlegung basierenden und möglichst effektiv funktionierenden Prozesses, der zwar der demokratischen Legitimation bedurfte, nicht aber basisdemokratischen Vorstellungen überantwortet werden durfte. Dies hat in der Gründungsphase der Partei der Grünen Verständnismöglichkeiten verbaut und eine frühzeitige Integration dieses kritischen Potentials in die SPD verhindert. Als drittes Element ist der persönliche Führungsstil zu erwähnen. Helmut Schmidt schöpfte die Kompetenzen des Amtes wesentlich zielbewusster aus als Brandt, der von vielen Beobachtern seiner Amtszeit als „Zögerer“ beschrieben wird. Während Adenauer jedoch die CDU souverän dirigieren konnte, was vor allem damit zu tun hatte, dass das Parteiensystem und die Parteien noch nicht voll organisatorisch ausgebildet und die Führungspersonen in gewisser Weise vor den Parteien da waren, hatte es Schmidt bei dem Versuch, in ähnlicher Weise zu verfahren, mit einer starken Gegenmacht zu tun, die zudem noch von seinem Vorgänger geleitet wurde, der in wichtigen Fragen andere Positionen als der Kanzler favorisierte, aber sorgsam auf die Balance zwischen Loyalität zur Regierung und Eigenständigkeit der Partei achtete. Der Ausweg war für eine geraume Zeit, in einer gewissen Autonomie von der Partei zu agieren und sich über kompetente Führung und erfolgreiches Krisenmanagement allgemeine Achtung zu verschaffen. Dies gelang auch – bei der Wählerschaft. Während der Vorsitzende der SPD darauf zu achten hatte, die verschiedenen Flügel der Partei beisammen zu halten, musste dem Kanzler, wie jedem anderen in seiner Position, daran gelegen sein, Unterstützung für seine Politik aus der Partei zu erhalten. Diese Aufgabenverteilung, noch verkompliziert durch die starke Stellung von Herbert Wehner als Vorsitzender der SPDBundestagsfraktion, war strukturell konfliktträchtig. Hinzu kam, dass einige Politikentwürfe der Regierung, z.B. die Beschleunigung und der Ausbau des Atomprogramms nach der ersten Ölkrise, den in der gleichen Zeit entstehenden und in der SPD an Einfluss gewinnenden „grünen Ideen“ diametral widersprachen. Die Schmidtsche Politik, alles zu tun, um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit soziale Wohlfahrt zu sichern, kontrastierte scharf einer seinerzeit vor allem normativ begründeten Abkehr von jeglicher friedlichen Nutzung der Kernenergie, die die SPD auf ihrem Münchener Parteitag
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Konflikte zwischen dem Kanzler und der SPD
Helmut Schmidts Führungsstil
Wachsende Konflikte zwischen den Koalitionsparteien nach der Bundestagswahl von 1980
Das Ende der Vollbeschäftigung
1957 noch als Lösungsmittel für alle Energieprobleme gepriesen hatte. Der Konflikt wurde mit Formelkompromissen zugedeckt. Er war nicht nur ein Konflikt zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“, als den ihn Schmidt selbst darstellte, sondern auch ein Konflikt der Generationen und der Beginn einer langandauernden Auseinandersetzung zwischen „alter“ und „neuer“ Politik. Der erzwungene Abschied von den Reformhoffnungen der 1960er-Jahre und neue weltpolitische Turbulenzen nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 führten zu erheblichen Spannungen in der Koalition und zwischen dem Kanzler und seiner eigenen Partei. Die Konflikte zwischen Schmidt und der SPD eskalierten nach den Wahlen von 1980, die für die SPD mit 42,9% der Wählerstimmen eine Stabilisierung und für den Koalitionspartner einen Zuwachs von 2,7% der Stimmen auf 10,6% brachten. Die FDP hatte sich in ihrem Wahlkampf als Garanten der Realpolitik des Kanzlers Helmut Schmidt dargestellt. Unter der Parole „Für die Regierung Schmidt-Genscher“ erzielte sie das beste Ergebnis seit 1961. Die CDU/CSU erlebte mit ihrem Kanzlerkandidaten, dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, ein Fiasko. Der unter der Parole „Freiheit statt Sozialismus“ geführte äußerst polemische Wahlkampf zahlte sich nicht aus. Die CDU/CSU blieb zwar stärkste Partei, erreichte aber mit 44,5% ihr schwächstes Ergebnis seit 1949. Der sozial-liberalen Koalition gelang es nach 1980 jedoch nicht, ihren Wahlsieg produktiv umzusetzen. Vielmehr nahmen die Differenzen in der Wirtschaftspolitik und bei sicherheitspolitischen Fragen zu. Mit der zweiten Ölkrise von 1978 hatten sich die ohnehin schmalen Margen für wirtschaftliches und sozialpolitisches Handeln weiter verringert und der latente Konflikt zwischen Krisenmanagement des Kanzlers und wertorientierten Politikvorstellungen in der Partei wurde schärfer. Der sprunghafte Anstieg der Ölpreise 1979/80 zog eine Krise der deutschen Wirtschaft und einen inflationären Schub nach sich, dem die Bundesbank mit einer restriktiven Geldpolitik entgegensteuerte. Die Arbeitslosigkeit stieg und belastete die Sozialhaushalte. In dieser Situation bildete sich ein Politikmuster heraus, das mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Ende der sozial-liberalen Koalition führen musste: Die SPD schwankte zwischen wohlfahrtsstaatlichen Idealen und einer Politik der Anpassung an die neuen weltwirtschaftlichen Gegebenheiten, die mit den Instrumenten des Keynesianismus nicht mehr zu bewältigen war. Die FDP profilierte sich als Partei, die gegen „Übersteigerungen“ des Sozialstaates zu Felde zog und grundlegende Veränderungen in der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik und eine Zurücknahme staatlicher Interventionen forderte. In der Präsentation des Haushalts 1981 musste der Finanzminister Hans Matthöfer einräumen, dass der Staat bei einer Arbeitslosenzahl von 1,25 Millionen im Sommer 1981 nicht länger in der Lage sei, Vollbeschäftigung zu gewährleisten, dass seine Interventionsmöglichkeiten skeptischer eingeschätzt werden müssten und dass nicht wachsende Staatstätigkeit, sondern unternehmerische Entscheidungen Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg seien. Alles dies waren ebenso richtige wie eigentlich nicht neue Einsichten, aber sie als sozialdemokratischer Finanzminister zu formulieren, war ein Sakrileg und stellte den
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Nachkriegskonsens der Sozialdemokratie in Frage. Auf dem Münchener Parteitag im April 1982 wurden diese Vorstellungen heftig attackiert. Das Signal für einen Bruch enthielt ein Memorandum des Bundeswirtschaftsministers, Otto Graf Lambsdorff (FDP), „Konzept für eine Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“. Dieses „Lambsdorff-Papier“ benannte als Ursache für die Krise den gravierenden Rückgang der Investitionen, das Ansteigen der Staatsquote (Anteil aller öffentlichen Ausgaben einschließlich der Sozialversicherung am Bruttosozialprodukt), den Anstieg der Abgabenquote, also die Belastung der Bürger und Unternehmen mit Steuern und Abgaben und die wachsende Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Ohne eine nachhaltige Belebung des Wirtschaftswachstums sei an eine Überwindung der Beschäftigungs- und Wachstumskrise nicht zu denken. Die zweite Bruchlinie war die Politik der inneren und äußeren Sicherheit. Die Reaktion der Regierung Schmidt-Genscher auf die terroristischen Herausforderungen, insbesondere die Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, die Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu und die Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977 hatten zu umfangreichen, im Einzelnen höchst problematischen staatlichen Reaktionen („Kontaktsperre“, „Rasterfahndung“) und zu Verschärfungen des Strafrechts geführt, die von vielen liberalen Beobachtern als zwar verständlich, aber in höchstem Maße bedenklich erachtet wurden. In der SPD wurden sie vehement als Attacke auf die bürgerlichen Freiheiten kritisiert. Noch folgenreicher war der Bruch zwischen Partei – und in diesem Falle auch dem Parteivorsitzenden – und dem Kanzler in der Frage der äußeren Sicherheit. Der Beschluss der NATO, nach der sowjetischen Intervention in Afghanistan im Dezember 1979 und der „Vorrüstung“ mit schweren Mittelstreckenraketen vom Typ SS20 in der NATO „nachzurüsten“ und ihrerseits in Europa Mittelstreckenraketen aufzustellen, eskalierte in einen neuen Kalten Krieg, der Großmächte. In der Tat stellte dieser Beschluss ein Novum dar, weil seit der Kuba-Krise die stillschweigende Übereinkunft bestand, keine atomaren Trägerraketen in verbündeten Ländern zu stationieren, die „vor der Haustür“ des Gegners lagen und diesen potentiell zerstören konnten. Die Sowjetunion musste 1962 ihre Systeme aus Kuba abziehen – insgeheim taten die USA das Gleiche in der Türkei. Die Ankündigung, neue weitreichende Mittelstreckenraketen in Europa stationieren zu wollen, wenn die SS20-Raketen nicht abgebaut würden, brach dieses Agreement. Für die Innenpolitik der Bundesrepublik hatte sie aber zwei weitreichende Konsequenzen: Sie machte den Konflikt des Kanzlers mit der SPD unlösbar und sie produzierte die größte Protestbewegung der Bundesrepublik, die in ihren Hochzeiten ca. 300.000 Menschen zu einer Protestkundgebung in Bonn versammeln konnte. Alle diese Ereignisse trugen zur Erosion der Autorität des Kanzlers in seiner Partei bei, ohne deren Unterstützung auch eine starke Führungspersönlichkeit wie Helmut Schmidt in einer Parteiendemokratie auf Dauer nicht auskommen kann. Der Münchener Parteitag der SPD im April 1982 machte dies der Öffentlichkeit und dem Regierungspartner, der zunehmend unruhig wurde, deutlich. Nach dem Parteitag begannen die Absetzbewegungen der Freien Demokraten und der Niedergang der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt.
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Kontroversen über die innere Sicherheit
Bruch des Kanzlers mit der SPD über Fragen der Außenund Sicherheitspolitik
3.4
Politik im Zeichen eines historischen Umbruchs
Differenzen zwischen SPD und FDP in der Haushalts- und Finanzpolitik, Schwierigkeiten des Kanzlers mit der eigenen Partei, unterschwellige Konflikte mit seinem Vorgänger im Amt und dem Parteivorsitzenden der SPD, vor allem in außen- und sicherheitspolitischen Fragen und schließlich eine deutliche Abwendung vieler traditioneller Unterstützer von der Sozialdemokratie zu den „neuen sozialen Bewegungen“ und den 1980 gegründeten Grünen, führten zu einem Autoritätsverlust Helmut Schmidts, der den zweiten Teil seiner Amtszeit auch ohne die sich im Sommer 1982 andeutende Absetzbewegung des Koalitionspartners FDP vor erhebliche Probleme gestellt hätte. Freilich war der Bruch der Koalition nicht zwangsläufig und unvermeidbar (Niclauß, 2004: 210). Seit Anfang des Jahres 1982 geriet die Regierung Schmidt-Genscher in immer größere Schwierigkeiten. Mit den Beratungen über den Bundeshaushalt 1982 erreichten die Auseinandersetzungen zwischen SPD und FDP über die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die in den Jahren zuvor immer wieder aufgetreten waren, ihren ersten Höhepunkt. Der Mitte 1981 mühsam gefundene Kompromiss führte zu Haushaltseinsparungen von fast 20 Mrd. DM, die wesentlich durch Kürzungen in den Sozialleistungen erbracht wurden. Dies sorgte in der SPD und bei den Gewerkschaften für erhebliche Unruhe. Von einer Verbindung sozialer und liberaler Ideen, wie sie nach 1969 beschworen worden war, konnte keine Rede mehr sein. Solange das wirtschaftliche Wachstum anhielt, ließen sich diese Unterschiede durch die Verteilung des Zuwachses am Bruttosozialprodukt auflösen. Mit dem erkennbaren Ende des „Wirtschaftswunders“ hatte sich diese Strategie verbraucht. Ein Ende des Regierungsbündnisses war unausweichlich, wenn beide Partner, was sie taten, auf ihren Grundsatzpositionen verharrten. Die Frage, ob und wann das Regierungsbündnis beendet werden sollte, war eine taktische Frage, bei der es darum ging, wer letztlich die Verantwortung für den Bruch zu übernehmen hatte. Das Szenario für den Regierungswechsel wurde bereits Anfang des Jahres 1982 geschrieben, bis zum letztendlichen Bruch der Koalition verging mehr als ein halbes Jahr.
3.4.1 Das Szenario der „Wende“ Helmut Schmidt stellt im Bundestag die Vertrauensfrage
Bei der Vorlage der „Gemeinschaftsinitiative für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht 1982“ kündigte Helmut Schmidt am 3.2.1982 überraschend an, dass er die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG stellen werde. In der Debatte über die Vertrauensfrage am 5. Februar im Deutschen Bundestag begründete Schmidt sein Vorgehen damit, dass es, anders als 1972, als wegen fehlender Mehrheit durch Fraktionswechsel die Regierung nicht mehr über eine Mehrheit verfügt habe, jetzt darum gehe, den Bürgern „ein Signal der Klarheit zu geben“. Dieses Ziel wurde nur scheinbar erreicht. Zwar stimmten alle 216 SPD-Abgeordneten und 53 FDP-Abgeordnete für Schmidt, die beabsichtigte Entspannung der Situation trat aber nicht ein. 140
Der Streit entfachte sich an einem so genannten „Beschäftigungspaket“. Der SPD-Parteitag in München vom 19.-23. April hatte Steuererhöhungen zur Finanzierung weiterer Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit und eine befristete Ergänzungsabgabe gefordert. Wie stets lehnte die FDP dies entschieden ab. In einem Kompromiss wurde auf die geplante Mehrwertsteuererhöhung verzichtet. Im Kern ging es um die Frage nach Einsparungen im Haushalt und die Höhe der Neuverschuldung des Bundes. Sie verhinderten eine Einigung über den Bundeshaushalt 1983, den Nachtragshaushalt 1982 und den mittelfristigen Finanzplan bis 1986. Diese grundsätzlichen, nicht temporären Interessengegensätze und erneute Existenzängste der FDP (sie scheiterte bei den Wahlen in Hamburg am 6. Juni mit 4,8% und in Hessen am 26. September mit 3,1% gegenüber 6,6% im Jahr 1978) sind der rationale Kern des „Wendemanövers“ der FDP. Der Rest, wie z.B. das seinerzeit heftig umstrittene „Lambsdorff-Papier“, war Requisit im Kampf um neue Mehrheiten. Die grundsätzlichen Differenzen zu den Sozialdemokraten im Schlüsselbereich der Wirtschaftspolitik, die Schwierigkeiten, die der Kanzler in seiner eigenen Partei mit der Durchsetzung der gemeinsam als notwendig akzeptierten Sicherheitspolitik, insbesondere der „Nachrüstungsmaßnahmen“ hatte, die eigenen Verluste, die nicht nur auf ein temporäres „Formtief“ zurückzuführen waren, überzeugten die Führungsspitze der FDP von der Notwendigkeit eines erneuten, höchst riskanten Seitenwechsels. Als sich die Auseinandersetzung Anfang September 1982 zuspitzte, weigerte sich der Kanzler zuerst, erneut die Vertrauensfrage zu stellen, ging dann aber am 15. September in die Offensive. Anlässlich des alljährlichen „Berichts zur Lage der Nation“ vor dem Deutschen Bundestag forderte er am 9. September 1982 die Opposition zu einem konstruktiven Misstrauensvotum auf. Als er im Kabinett die Minister Genscher und Lambsdorff ultimativ aufforderte, binnen kürzester Zeit von „24 bis 48 Stunden“ ihre Haltung zur Koalition zu klären, reichten die vier FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Gerhart Rudolf Baum und Josef Ertl am 17. September ihren Rücktritt ein. Helmut Schmidt erklärte im Bundestag das Ende der Koalition, kündigte das Stellen der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG an, mit dem Ziel vorgezogener Neuwahlen und schlug eine interfraktionelle Vereinbarung vor, auf ein zwischenzeitliches Misstrauensvotum zu verzichten. Demgegenüber forderte der Oppositionsführer, Helmut Kohl, zum wiederholten Male den Rücktritt Schmidts und kündigte an, dass die Union so rasch wie möglich eine handlungsfähige Regierung bilden und erst danach zu Neuwahlen schreiten werde – das war die verklausulierte aber eindeutige Ankündigung eines konstruktiven Misstrauensvotums, da mit einem Rücktritt des Kanzlers, der jetzt eine SPD-Minderheitsregierung führte, nicht zu rechnen war. Die Opposition konnte sich ihrer Sache, anders als 1972, sicher sein, da die FDP-Fraktion und der Bundesvorstand am 17. September mit deutlicher Mehrheit für Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU plädiert hatten, die am 20. September begannen und sehr schnell zu der Übereinkunft führten, am 1. Oktober mit einem Misstrauensvotum den Kanzler zu stürzen. Anders als beim Sturz der Regierung Erhard stand diesmal mit Helmut Kohl ein unangefochtener Kan-
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Wachsende Gegensätze zwischen den Koalitionspartnern
Der Rücktritt der FDP-Minister und das Ende der Koalition
Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt
Der Weg zu Neuwahlen
Politische Motive für die Durchführung von Neuwahlen
didat der CDU/CSU zur Verfügung. Mit 256: 235: 4 Stimmen endete die Abstimmung zu Gunsten Kohls. In seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 erneuerte Kohl die zuvor gemachte Zusage, dass am 6. März 1983 Neuwahlen zum Bundestag stattfinden würden. Der Weg zu Neuwahlen führte über Art. 68 GG, die Vertrauensfrage. Anders aber als Willy Brandt 1972 verfügte Helmut Kohl 1982 über eine Mehrheit im Bundestag. Kohl begründet diesen Schritt im Bundestag am 17. Dezember damit, dass die gegenwärtige Regierungskoalition nur einen zeitlich begrenzten Auftrag habe, der nunmehr erfüllt sei. Damit sei die parlamentarische Grundlage für eine Weiterarbeit nicht mehr gegeben. „Wir wollen nun die Wähler bitten, uns den Auftrag für eine langfristige Politik der neuen Koalition der Mitte zu geben“ (zit. nach: Schindler, 1984: 417). Das vorgesehene Verfahren war politisch riskant. Eine von der SPD gegen die FDP inszenierte „Verrats-Kampagne“ zeigte durchaus Wirkung in der Bevölkerung, die den verfassungsmäßig nicht zu beanstandenden Regierungswechsel nicht immer als legitim erachtete. Daher war ein Wahlsieg der neuen Koalition nicht sicher. Anders als das konstruktive Misstrauensvotum selbst, war der anschließend gewählte Weg über die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu Neuwahlen zu gelangen, verfassungsrechtlich höchst bedenklich, da die Regelungen des Art. 68 GG für den Fall eines Verlustes der Parlamentsmehrheit gedacht ist und das konstruktive Misstrauensvotum gerade gezeigt hatte, dass die neue Regierung über eine arbeitsfähige Mehrheit verfügte. In der Abstimmung enthielt sich die überwiegende Zahl der Koalitionsabgeordneten der Stimme, sodass folgendes Ergebnis zu Stande kam: Enthaltungen 248, Nein 218, Ja 8 Stimmen. Der Bundespräsident, Karl Carstens, der zuvor zum Verfahren konsultiert worden war, ordnete trotz Bedenken am 6. Januar die Auflösung des Bundestages an und setzte den Termin für Neuwahlen auf den 6. März 1983 fest. Die Strategie der CDU/CSU war darauf angelegt, den allfälligen Wahlkampf nicht aus der Opposition heraus zu führen. Verfassungsrechtlich geboten war die Neuwahl des Bundestages am 6. März 1993 keineswegs. Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit des Kanzlerwechsels, und das heißt in aller Regel des Koalitionswechsels, über Art. 67 GG ausdrücklich vor und eine so zu Stande gekommene Entscheidung unterliegt keinem Legitimitätszweifel. Es war allein die Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die diesem verfassungskonformen Regierungswechsel gegenüber Vorbehalte hegte. Dies hatte die Regierung zu ihrem Versprechen gebracht, Neuwahlen anzustreben. Die Folgen dieser öffentlichen Unzufriedenheit bekam insbesondere der Koalitionswechsler FDP zu spüren, sie scheiterte bei Landtagswahlen in Hessen und Bayern an der Fünf-Prozent-Hürde. Bei den Hessenwahlen am 26. September 1982, die die SPD unter der Parole „Verrat in Bonn“ führte, konnte die FDP nur 3,1%, in Bayern am 10. Dezember 1982 3,5% und in vorgezogenen Wahlen in Hamburg am 19 Dezember sogar nur 2,6% erreichen. Diese Verluste kamen aber kaum der SPD zugute. Einzige Gewinner der Wahlen waren die Grünen, die in Hessen 8% erreichten und ihre Stellung in Bayern um 2,8% verbessern konnten, gleichwohl aber an der 5%-Hürde scheiterten.
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Dem öffentlichen Druck nach dem Machtwechsel vermochte sich, wie erneut im Jahre 2005 nach dem manipulierten Misstrauensvotum gegen Gerhard Schröder, offenbar auch das Bundesverfassungsgericht nicht zu entziehen. Es wurde in dieser Sache von einigen Abgeordneten angerufen. Das Verfassungsgericht wies in seinem Urteil vom 16. Februar 1983 die Organklage von Abgeordneten zurück und machte damit endgültig den Weg zu Neuwahlen frei. In den Leitsätzen zum Urteil bezeichnete das Gericht die Anordnung der Auflösung des Bundestages oder ihre Ablehnung als eine „politische Leitentscheidung“, die der Bundespräsident in „pflichtgemäßem Ermessen“ zu treffen habe. Der Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG sei eine „offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist“. Dies sei nicht nur eine Aufgabe des Verfassungsgerichts, sondern auch der anderen obersten Verfassungsorgane (Bundespräsident, Bundeskanzler). In den Leitsätzen des Urteils heißt es weiter: „Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse müssen seine Handlungsfähigkeit im Bundestag so beeinträchtigen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG. Eine Auslegung dahin, dass Art 68 GG einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestatte, sich zum geeigneten Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des Art. 68 nicht gerecht.“ (BVerfGE 62, 1: 2)
Genau dies aber war im Dezember 1982 geschehen und geschah erneut im Sommer 2005. Die Koalition verfügte unzweifelhaft über eine ausreichende Mehrheit. In einer eher politischen Opportunitäten als stringenter Logik geschuldeten Begründung kam das Verfassungsgericht zu der Auffassung, dass die Vertrauensfrage und die Auflösung des Bundestages gleichwohl mit der Regelung des Art. 68 GG vereinbar gewesen sei, weil die drei Verfassungsorgane, Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundestag „bei ihrer Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im 9. Deutschen Bundestag zu dem Ergebnis gekommen sind, der Bundeskanzler könne eine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik zukünftig nicht mehr sinnvoll verfolgen“. Daher sei die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten nicht zu beanstanden (BVerfGE 62, 1: 52). Dem Argument, die neue Regierung verfüge ja über eine ausreichende Mehrheit, trat das Gericht mit einer gewundenen Begründung entgegen: Der Bundeskanzler habe in seinem Antrag nach Art. 68 GG festgestellt, dass er eine „zeitlich und sachlich weiterreichende parlamentarische Unterstützung nicht habe.“ Dies sei von den Koalitionsparteien bestätigt worden. Auch wenn an dieser Darstellung Zweifel geltend gemacht würden, könne dem „von Verfassungs wegen jedoch nicht entgegengetreten werden“ (BVerfGE 62, 1: 52). Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts kam in einem ausführlichen Minderheitenvotum zum gegenteiligen Ergebnis:
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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Neuwahlen
„Wenn der Mehrheitskanzler die Vertrauensfrage jedoch nach Absprache mit der ihn tragenden Parteienkoalition mit dem Ziel stellt, ihm das Vertrauen zu verweigern, dann mißbraucht er die ihm nach Art.68 GG zustehenden Befugnisse“ (BVerfGE 62, 1:110).
Szenario der „Wende“
Die Wahl als Plebiszit für die „Wende“
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts waren endgültig die Hindernisse für Neuwahlen beseitigt, die am 6. März 1983 mit einem Sieg der neuen Koalition endeten. Das Szenario des als „Wende“ bezeichneten Machtwechsels von 1982/83 war von vielfältigen Widersprüchen gekennzeichnet. Die sozial-liberale Koalition war an das Ende ihrer Handlungsfähigkeit gelangt. Es war der Kanzler Helmut Schmidt, der im September 1982 (mit Unterstützung des Parteivorsitzenden, Willy Brandt und des Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner) die Situation zuspitzte und auf eine Entscheidung drängte. Er stellte allerdings nicht die Vertrauensfrage, sondern machte seine Entscheidung von Verhandlungen mit der Opposition abhängig, womit er diese zum Handeln, d.h. zum konstruktiven Misstrauensvotum nötigte. Dies geschah offenkundig in der Hoffnung, dem mit den Verfassungsregeln nicht vertrauten Bürgern das Schauspiel von Verrat und Untreue der notorischen „Umfallerpartei“ FDP aufzuführen und damit die neue Koalition in einen Legitimationszwang zu bringen. Dieser Teil der Strategie ist voll aufgegangen. Bei den anstehenden Landtagswahlen hat sie wesentlich zur Niederlage der FDP beigetragen. Allerdings hat sie sich bis zum März 1983 nicht in ein Votum des Wählers zu Gunsten der SPD ummünzen lassen. Die Haltung der beiden großen Parteien, die politische Offensive der SPD ebenso wie die Beschwörung des Wählerwillens als letzter Instanz seitens der neuen Koalition, waren von taktischen, nicht grundsätzlichen Überlegungen bestimmt. Von einer „Legitimierung des Regierungswechsels“ (Berger/u.a., 1986) kann kaum die Rede sein. Zum zweiten Mal nach 1972 geriet eine Bundestagswahl zum Plebiszit. Die im Amt befindliche Regierung suchte eine plebiszitäre Bestätigung eines bereits vollzogenen Machtwechsels, die SPD, der nach ihrer Darstellung, vom politischen Gegner übel mitgespielt worden war, forderte vom Wähler Genugtuung, ohne ihm erklären zu können, wie sie in Zukunft eine parlamentarische Mehrheit zu Stande bringen könne.
3.4.2 Wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellungen Das Ergebnis der Bundestagswahl vom März 1983
Bei der vorgezogenen Bundestagswahl erzielte die CDU/CSU mit 48,8% das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte. Die FDP konnte 7% der Stimmen verbuchen, sodass die Regierung Kohl-Genscher mit 278 (plus 12 Berliner) Sitzen im Deutschen Bundestag eine klare Mehrheit erringen konnte. Die SPD fiel mit 38,2% der Stimmen unter ihr bei den Bundestagswahlen 1965 erreichtes Niveau zurück und erhielt 193 (plus neun Berliner) Mandate. In den folgenden Jahren musste sie weitere Verluste hinnehmen. Die Folgen des Von weit reichender Bedeutung für die weitere politische Entwicklung war Einzugs der Grünen der Erfolg der erst drei Jahre zuvor gegründeten Partei Die Grünen. Sie eroberten in den Bundestag 5,6% der Wählerstimmen und zogen mit 28 Abgeordneten in den Bundestag ein.
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Zum ersten Mal seit den frühen Jahren der Bundesrepublik war es damit einer vierten Partei gelungen, mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen zu erreichen. (1949 hatte die KPD 5,7%, 1953 der Gesamtdeutsche Block/BHE 5,9% der Wählerstimmen erhalten.) Mit der christlich-liberalen Koalition war 1982 das langjährige Bündnis der 1950er- und frühen 1960er-Jahre unter neuen Bedingungen wiedererstanden und behauptete sich, wenngleich mit abnehmender Tendenz, in den folgenden Bundestagswahlen. Auf der Seite der Opposition jedoch war der SPD mit den Grünen ein zuerst unterschätzter Rivale erwachsen, der als linke Alternative auftrat, jedoch mit seiner eigenen Konsolidierung immer mehr auf die gleichen neuen Wählerschichten in der linken Mitte des politischen Spektrums zielte, die die SPD in den 1960erund 1970er-Jahren für sich hatte gewinnen können. Das zwischen linkem und ökologischem Rigorismus und jugendbewegter neuer Mittelstandskultur changierende Erscheinungsbild der Grünen ließ eine ernsthafte politische Alternative zur Regierung nicht zu. Das 1985 in Hessen begonnene Experiment einer rotgrünen Koalition endete in einem Desaster und bestärkte die weitverbreitete Ablehnung eines Bündnisses von SPD und Grünen. Erst nach dem Scheitern der (West)Grünen bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990 und dem Wiedereinzug in den Bundestag 1994 veränderte sich das Bild. Die Wahlen 1983 hatten der neuen Koalition eine deutliche Mehrheit gebracht. Einer Umsetzung der von ihr formulierten weitgehenden Ziele schien nichts im Wege zu stehen. Seine Regierungserklärung mit der Überschrift: „Programm der Erneuerung: Freiheit, Mitmenschlichkeit, Verantwortung“ begann Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Feststellung, dass die neue „Koalition der Mitte“ ihre Arbeit in Zeiten „einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise“ begonnen habe, die „das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates“ erschüttert habe. Durch den Streit um die NATO-Nachrüstung sei die Bundesrepublik „bündnispolitisch ins Zwielicht geraten.“ Die neue Regierung habe damit begonnen, „den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, die Systeme der sozialen Sicherung zu festigen, der Wirtschaft wieder Mut und den Menschen wieder Vertrauen zu geben“ (Bulletin Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 43 vom 5. 5. 1983: 397ff.). Für die Legislaturperiode von 1983 bis 1987 formulierte die Regierungserklärung vier Schwerpunkte, die zur Lösung der wirtschaftlichen Krise führen sollten: Abbau der Massenarbeitslosigkeit, Wiedergewinnung eines angemessenen Wachstums, weitere Sanierung der öffentlichen Finanzen und die Sicherung der Renten. Die Regierungserklärung beschränkte sich aber nicht auf die Ankündigung einzelner politischer Vorhaben und der Beseitigung der Krise, sondern erhob den Anspruch, Leitorientierungen für eine „geistige Erneuerung“ zu formulieren. Sie beschwor „Geist und Leistungskraft der Sozialen Marktwirtschaft“, die als einzige Ordnung in der Lage sei, „die technologischen und ökologischen Aufgaben unserer Zeit in wahrhaft freiheitlichem Sinne zu lösen.“ Appelliert wurde an Arbeitsethos und Gemeinsinn und Verantwortung der Bürger. Versprochen wurde die Rückführung des Staates auf „den Kern seiner Aufgaben“. Als außenpolitische Leitlinien wurden die Westbindung und das Ziel der politischen Union Europas genannt, ohne der bisherigen Ostpolitik eine deutliche Absage zu erteilen.
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Die „Koalition der Mitte“ von CDU/CSU und FDP und die Regierungserklärung Helmut Kohls
Angebotsorientierung als wirtschaftspolitische Doktrin
Haushaltskonsolidierung
Hohe Arbeitslosigkeit und Abbau von Sozialleistungen
Schließlich betonte der Bundeskanzler wie alle seine Vorgänger bei ähnlichen Gelegenheiten das Ziel, „in Frieden und Freiheit die deutsche Einheit zu erstreben und zu vollenden“ (Bulletin Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 43 vom 5. 5. 1983: 398). Die Regierung Kohl-Genscher verzichtete, anders als ihr politisch verwandte Regierungen, wie die von Margaret Thatcher in Großbritannien oder die ReaganAdministration in den USA, bei der Durchsetzung ihrer Wirtschaftspolitik auf eine Schocktherapie. Dies war unter anderem auch der Tatsache geschuldet, dass die Vorstellungen innerhalb der Koalition durchaus nicht konform waren. Insbesondere der wichtige Arbeitnehmerflügel der CDU, der mit Norbert Blüm den Arbeits- und Sozialminister stellte und der Einfluss der aus den Wahlen 1983 gestärkt hervorgegangenen CSU ließen eine lupenreine neoliberale Politik à la Margaret Thatcher gar nicht zu. Die programmatischen Unterschiede zwischen den Regierungsparteien schlugen sich schon zu Beginn der Koalition in einer Verschiebung wichtiger finanz- und sozialpolitischer Entscheidungen auf den Haushalt 1984 nieder. Das Vertagen und „Aussitzen“ von kontroversen Entscheidungen und innenpolitischen Krisen wurde zum Markenzeichen der Regierung Kohl-Genscher. In den ersten Jahren nach 1982 waren in einigen Bereichen Erfolge erkennbar. Wichtige wirtschaftliche Indikatoren zeigten wenige Zeit nach dem Antritt der neuen Regierung positive Tendenzen. Das Bruttosozialprodukt erreichte in den folgenden Jahre Zuwächse, die allerdings nicht denen der 1970er-Jahre (mit Ausnahme der durch den ersten Ölpreisschock verursachten Krise der Jahre 1974/75) entsprachen. Zentrales Anliegen der Regierung war die Haushaltskonsolidierung, die allerdings im föderalen System der Bundesrepublik und durch das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung in entscheidendem Maße auch vom Haushaltsgebaren der Länder und Kommunen bestimmt ist. Wachsende Staatsausgaben waren, anders als es die neue Bundesregierung 1982/83 darstellte, keine Untugend einer Partei oder Parteienkonstellation. Bundes- und Landesregierungen verschiedenster politischer Couleur hatten in den vorangegangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, die Staatshaushalte aufzublähen (M. Schmidt, 1990). In den ersten Jahren nach 1983 gelang es der neuen Bundesregierung, durch eine sparsame Haushaltspolitik die Neuverschuldung des Bundes drastisch einzuschränken. Sie nahm bis 1987 kontinuierlich ab und stieg danach wieder an. Im Zuge der deutschen Einheit erfolgte ein dramatischer Anstieg der Nettoneuverschuldung auf 130 Mrd. DM im Jahre 1990. Dieser Anstieg setzte sich in den folgenden Jahren fort. Auch die geforderte Verringerung der Staatsquote, die 1982 mit 34,5% ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde in den folgenden Jahren schrittweise auf 30,1% im Jahre 1989 zurückgeführt; das entsprach dem Stand Anfang der 1970er-Jahre. Nach der deutschen Einheit war auch hier ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen (Datenreport, 1994: 234). Gescheitert ist der Versuch, die Steuer- und Abgabenbelastung der Wirtschaft zu verringern und damit neue Investitionsanreize zu schaffen. Kennzeichnend für die 1980er-Jahre war eine sich verschärfende Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Wachstum und der Entwicklung auf dem Arbeits-
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markt. Die Politik der Bundesregierung trug dazu bei, binnenwirtschaftliche Wachstumsimpulse zu fördern und den Aufschwung der Wirtschaft zu stützen. Die Verbesserung der Investitionsbedingungen führte aber zu einem zwiespältigen Ergebnis. So wurden auf der einen Seite die Chancen genutzt, um durch Investitionen die Effizienz und Produktivität der Wirtschaft, insbesondere der Exportindustrie zu steigern, dies wurde aber, trotz der Schaffung von über einer Million neuer Arbeitsplätze seit 1983 durch einen erheblichen Arbeitsplatzabbau begleitet, sodass der versprochene Abbau der Arbeitslosigkeit nicht erreicht wurde. Anfängliche Erfolge in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ließen den gleichzeitig erfolgten Abbau sozialstaatlicher Leistungen erträglich erscheinen. Der Konflikt mit den Gewerkschaften wurde zwar riskiert, aber nicht so weit getrieben, dass er zu einer innenpolitischen Krise eskalieren konnte. Über zwei Millionen Arbeitslose seit 1983 bis zur deutschen Einheit und eher zunehmende regionale Disparitäten auf dem Arbeitsmarkt waren Indikatoren dafür, dass die Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik sich von den im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz normierten Vorstellungen einer gleichmäßigen und abgewogenen Entwicklung der vier Faktoren Wachstum, Geldwertstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Vollbeschäftigung immer weiter entfernte. Der kurze Vereinigungsboom nach 1990 hatte lediglich zur Folge, dass die notwendige Bearbeitung der unterliegenden strukturellen Krisenursachen vertagt werden konnte, mit dem Effekt, dass dann Mitte der 1990er-Jahre ein politischer Kurswechsel umso dringlicher wurde.
Labilität des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als permanentes Problem
3.4.3 Politische Bilanz der 1980er-Jahre Im Bereich der Ost- und Deutschlandpolitik kam es nicht zu der erwarteten Wen- Kontinuität in der de. Vielmehr wurde, nachdem der kontroverse Beschluss über die NATO- Außen- und Deutschlandpolitik Nachrüstung gefallen war, die bisherige Politik der Regierung Schmidt-Genscher weitergeführt. Dies schloss innenpolitisch motivierte und zu erheblichen Irritationen führende Rücksichtnahmen auf die eigene Wählerklientel in den Vertriebenenverbänden nicht aus. Ähnliche Turbulenzen, die am außenpolitischen Geschick des Kanzlers ernsthaft zweifeln ließen, verursachte das Treffen Helmut Kohls mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg in der Eifel, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS begraben liegen. Nach einer allgemein positiv aufgenommenen Versöhnungsgeste mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand auf den Gräbern von Verdun, sollte eine ähnliche Zeremonie in Bitburg stattfinden. Erneut war das Festhalten an diesen Plänen vor allem innenpolitisch motiviert, der außenpolitische Schaden, den diese Veranstaltung anrichtete, wurde billigend in Kauf genommen. Diese Episoden beeinträchtigten zwar nicht grundsätzlich die Außenpolitik der Bundesregierung, erklären aber das geringe außenpolitische Profil des Kanzlers in der ersten Legislaturperiode. Der spätere „Kanzler der Einheit“ und europäische Staatsmann, Helmut Kohl, agierte in seinen ersten Regierungsjahren unsicher und widersprüchlich. Leitlinie des politischen Handelns war die Sicherung der Regie-
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Innenpolitische Skandale
Die Bundestagswahl von 1987
Mehrheit der Regierungsparteien im Bundesrat
rungsmehrheit. Diese innenpolitischen Motive ließen die außenpolitischen symbolischen Gesten aufgesetzt und inszeniert erscheinen. „Es ist mit den ethischen Defiziten der Regierung zu erklären, daß die vielfachen Versuche des Bundeskanzlers, symbolische Zeichen der Völkerverständigung zu setzen, weitgehend fehlschlugen, auf lebhafte Kritik stießen oder sogar kontraproduktiv waren“ (Thränhardt, 1996: 279). Die innenpolitische Bilanz der Regierung wurde auch durch Skandale unterschiedlicher Art getrübt. Sie beeinflussten das Bild der Politik nachhaltig negativ. Der Bundeswirtschaftsministers, Graf Lambsdorff musste nach seiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung im so genannten Flick-Skandal zurücktreten, der Verteidigungsminister entließ zu Unrecht einen hohen General wegen angeblicher homosexueller Verwicklungen, der Ministerpräsident von SchleswigHolstein, Uwe Barschel, hatte illegale Abhöraktionen und konstruierte Beschuldigungen gegen den seinerzeitigen Oppositionsführer im Kieler Landtag, Björn Engholm, initiiert und dies in einem öffentlichen „Ehrenwort“ geleugnet - Barschel kam später unter mysteriösen Umständen in einem Schweizer Hotel ums Leben. Diese und andere Skandale blieben nicht auf die Regierungsparteien begrenzt. Das Vertrauen gegenüber den Gewerkschaften und der Idee der „Gemeinwirtschaft“ wurde nachhaltig durch die Affäre um die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“ erschüttert. Zusammengenommen haben diese Ereignisse in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre erheblich zu dem beigetragen, was seither als „Politikverdrossenheit“ weiter Kreise der Bevölkerung und wachsende Skepsis gegenüber dem demokratischen Institutionensystem wahrgenommen wird. Von der versprochenen „geistig-moralischen Wende“ konnte in den letzten Jahren der alten Bundesrepublik jedenfalls keine Rede sein. Trotz einer zwiespältigen Bilanz der ersten Regierungsjahre der christlichliberalen Koalition vermochte es die Opposition in der Bundestagswahl von 1987 nicht, daraus Nutzen zu ziehen. Zwar verlor die CDU/CSU unter dem Slogan „Weiter so, Deutschland“ 4,5% der Stimmen und fiel auf den Stand von 1980 zurück, verblieb aber unangefochten in der Position als stärkste Partei. Zugleich setzte sich der Abstieg der SPD fort – sie erreichte nur noch 37% der Wählerstimmen. Ihr Appell an die Wähler: „Deutschland braucht wieder einen Kanzler, dem man vertrauen kann“, fruchtete nicht. Ursache dafür waren neben programmatischen Schwächen Konflikte in der SPD, die sich auch während des Wahlkampfes in Illoyalitäten gegenüber dem Kanzlerkandidaten, Johannes Rau, äußerten. Der FDP gelang es, gestärkt aus den Wahlen hervorzugehen: sie erhielt 9,1% der Stimmen. Die Grünen gewannen fast 3% hinzu und erreichten 8,3%. Anders als ihre Vorgängerregierungen der sozial-liberalen Ära waren die politischen Handlungsmöglichkeiten der Regierungskoalition und der Bundesregierung in den Jahren zwischen 1982 und 1990 nicht durch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat tangiert. Durch ihre Mehrheit in der Ländervertretung in den Jahren von 1972 bis 1982 hatte die CDU/CSU die Handlungsmöglichkeiten der sozial-liberalen Bundesregierung erheblich eingeschränkt, was ihr den Vorwurf der „Blockadepolitik“ eintrug, ein Vorwurf, den unter gewandelten Mehrheitsverhältnissen nach 1990 die Regierung Kohl gegenüber der SPD-Mehrheit und
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die Regierung Schröder nach 1999 gegen die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat erhob. Mehr als sieben Jahre verfügte die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP auch über die Mehrheit im Bundesrat. Erst mit den Wahlen in Niedersachsen am 5. Mai 1990 verschoben sich dort die Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten der SPD. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre schien sich eine Tendenz zu wiederholen, die etwa zwanzig Jahre zuvor schließlich zur Regierungsübernahme durch die SPD geführt hatte: Der Wiederaufstieg der Sozialdemokratie über die Länder. Im Saarland, das seit dem Kaiserreich katholisch-konservativ gewählt hatte, konnte mit Oskar Lafontaine ein Sozialdemokrat der „Enkelgeneration“ das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. In Hessen kam es 1984 zur Duldung einer SPD-Regierung durch die Grünen, die 1985 in eine Koalition mündete. Nach ihrem Scheitern wegen Differenzen in der Atompolitik wurde sie nach den Wahlen von 1987 durch eine CDU-FDP-Koalition abgelöst, um 1991 erneut unter stabileren Rahmenbedingungen zu Stande zu kommen. In Schleswig-Holstein erzielte die SPD nach der „Barschel-Affäre“ einen Erdrutschsieg und gewann nach fast vierzig Jahren CDU-Herrschaft die absolute Mehrheit der Sitze. In Berlin wurde im Januar 1989 mit knapper Mehrheit eine rot-grüne Koalition gebildet, die aber nur ein Jahr bis zu den ersten Gesamtberliner Wahlen hielt. Schließlich ermöglichten die Wahlen in Niedersachsen im Frühjahr 1990 eine rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder. Diese Erfolge ließen sich aber nicht in die Bundespolitik transferieren. Sie führten vielmehr vor allem zu einem Verschleiß erfolgreicher Ministerpräsidenten als erfolglose Kanzlerkandidaten: Johannes Rau (1987), Oskar Lafontaine (1990), Björn Engholm (1993 ausgeschieden), Rudolf Scharping (1994). Im Gegensatz zur SPD gelang es der CDU/CSU, der Öffentlichkeit gegenüber ein Bild der Geschlossenheit zu zeichnen. Trotz schlechter Umfrageergebnisse war der Kanzler in den ersten Jahren seiner Regierung nicht ernsthaft gefährdet. Kritiker, wie der ehemalige Generalsekretär, Kurt Biedenkopf, wurden aus ihren Ämtern gedrängt und politisch neutralisiert. Der erfolglose Versuch des CSU-Vorsitzenden, Franz Josef Strauß, im Jahre 1980 Bundeskanzler zu werden, hatte seine Position als bayerischer Ministerpräsident geschwächt. Der nicht vollzogene „Trennungsbeschluss“ der CSU von 1976 auf ihrer Tagung in Wildbad Kreuth, die latente Drohung einer Auflösung der Koalitionsgemeinschaft mit der CDU, blieb aber ein wirksames Mittel, direkten Einfluss auf die Regierungspolitik in Bonn zu nehmen. Nach dem plötzlichen Tod des bayerischen Ministerpräsidenten 1988 gelang es der CSU zwar, die Nachfolgefrage ohne eine allzu große öffentliche Auseinandersetzungen zu regeln, Theo Waigel wurde Parteivorsitzender, Ministerpräsident wurde Max Streibl, es zeigten sich aber auch Erscheinungen der Unsicherheit. Der abrupte Wechsel der ost- und deutschlandpolitischen Position von Franz Josef Strauß hatte bei traditionellen Anhängern der CSU Verunsicherung ausgelöst. Nach seinem Tod gelang es den „Republikanern“ unter ihrem Vorsitzenden, Franz Schönhuber, verunsicherte CSU-Wähler auf ihre Seite zu ziehen – sie erzielten in den Landtagswahlen 1990 4,9% der Stimmen. Die „Amigo-Affäre“, die schließlich zum Sturz des Ministerpräsidenten Max Streibl und seine Ersetzung durch den
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Wiederaufstieg der Sozialdemokratie in den Ländern
Veränderung der Kräfteverhältnisse in der CDU/CSU
Die gescheiterte Ablösung Helmut Kohls 1989
Bilanz der Kanzlerschaft Helmut Kohls 1982 bis 1989
langjährigen Vertrauten von Franz Josef Strauß, Edmund Stoiber, führte, schwächte auch die Wirkungsmöglichkeit der CSU in der Bundesregierung. In den Jahren der Regierung retardierte die CDU, die unter dem Vorsitz Helmut Kohls zu einer modernen Apparat-Partei entwickelt worden war, wieder zu einer Partei, deren ausschließliches Ziel es war, Wahlen zu gewinnen. Die vielfältigen politisch-programmatischen Anstöße der beiden Generalsekretäre Kurt Biedenkopf (bis 1979) und Heiner Geißler (1989 nicht wieder nominiert) versandeten. Abnehmende Wahlergebnisse, Misserfolge in den Ländern, zunehmende Profillosigkeit und dauerhaft geringe Popularitätswerte des Kanzlers, die deutlich unter denen der Partei lagen, führten schließlich 1989, aus Sorge vor einer Niederlage bei der 1991 anstehenden Bundestagswahl zum Versuch einer Ablösung des Kanzlers in der Mitte der Legislaturperiode. Bereits 1988 hatte es im Heimatland Helmut Kohls, Rheinland-Pfalz einen politischen „Putsch“ von Politikern der zweiten Reihe gegen den Landesvorsitzenden der CDU, Bernhard Vogel, gegeben, der daraufhin als Ministerpräsident zurücktrat. Im Frühjahr 1989 schien der Sturz Helmut Kohls als Bundeskanzler unausweichlich: Unter der Führung des langjährigen Vertrauten des Kanzlers und „Parteimanagers“ Heiner Geißler, bildete sich eine Fronde zur Ablösung Helmut Kohls, an der prominente CDU-Politker wie die Ministerpräsidenten Ernst Albrecht und Lothar Späth und die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, beteiligt waren. Der Versuch, sich des Kanzlers zu entledigen, scheiterte an den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Frondeuren und ihrer Unfähigkeit, für ihre Pläne eine breite Unterstützung in der Partei zu mobilisieren. Außer für Rita Süssmuth bedeutete es für die Beteiligten das Ende ihrer herausgehobenen politischen Karrieren. Mit einer Kabinettsumbildung im April 1989 gelang es Kohl, aus einer Situation der Schwäche heraus mit einem Rückgriff auf einen „präsidentiellen“ Regierungsstil seine Position zu festigen. Wichtige Ministerien wurden umbesetzt. Der umstrittene CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann wurde auf das Verkehrsministerium „abgeschoben“ und durch den Chef des Bundeskanzleramtes, Wolfgang Schäuble, ersetzt, Gerhard Stoltenberg, immer wieder als möglicher Nachfolger benannt, verlor das einflussreiche Finanzministerium und ersetzte den nur wenige Wochen amtierenden Verteidigungsminister Rupert Scholz. Blickt man auf die Jahre zwischen 1982 und 1989 zurück so erscheint es erstaunlich, dass dieser „Putschversuch“ erfolglos blieb. Helmut Kohl war es nicht gelungen, eine seinem Amt gemäße Zustimmung in der Bevölkerung zu erlangen. Vielfältige Pannen, Skandale und der Ruf, nicht zu handeln, sondern Probleme „auszusitzen“ hatten seinem Ansehen geschadet. Trotz anfänglich unverkennbarer Erfolge in der Wirtschaftspolitik und bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen in den ersten Jahren seiner Amtszeit, schlug sich dies weder in positiven Zustimmungswerten für den Kanzler noch in den Wahlergebnissen für die CDU nieder. Die Union verlor im Bund und in den Ländern an Unterstützung durch die Wähler. Gleichwohl blieb der Kanzler in allen kritischen Situationen machtpolitisch Herr der Lage. Die bemerkenswerte politische Überlebenskunst des Kanzlers führt ein englischer Deutschland-Experte auf glückliche äußere Umstände und die machtpolitischen Fähigkeiten Helmut Kohls zurück. Sein Überleben sei in erster Linie der
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günstigen wirtschaftlichen Situation und dem schlechten Abschneiden der SPD in den Wahlen 1983 und 1987 zu verdanken gewesen, das trotz Stimmenverlusten der CDU (bei Gewinnen der FDP) eine Fortsetzung der Koalition ermöglichte. Kohls Stärke wird in seiner Fähigkeit gesehen, der Partei seinen Willen aufzuzwingen und seine Kompetenzen als Bundeskanzler bei der Bestellung und Absetzung von Ministern als Instrument persönlicher Machtsicherung zu nutzen. In seinem politischen Überlebenskampf im Frühjahr 1989 habe er diese Vorzüge voll ausgespielt. Ob es dem Kanzler angesichts der Tatsache, dass sein „erstes“ politisches Leben als Kanzler von 1982 bis 1989 recht wenig bemerkenswert gewesen ist, gelungen wäre, seine Ablösung bis zu den anstehenden Wahlen 1991 zu verhindern und erneut erfolgreich zu kandidieren, kann bezweifelt werden (G. Smith, 1994: 187). Die Ereignisse des Jahres 1989 haben Spekulationen darüber zur Makulatur werden lassen.
3.4.4 Zeitenwende: Politische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach der deutschen Einheit Auch wenn der Bundeskanzler im Frühjahr 1989 den Versuch einiger führender CDU-Politiker abwehren konnte, ihn abzulösen um bei den 1991 anstehenden Bundestagswahlen mit einem neuen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten in die Wahlauseinandersetzung zu gehen, blieb er doch politisch geschwächt. Kaum jemand hätte im Frühsommer 1989 prognostiziert, dass er noch fast zehn Jahre regieren und die lange Amtszeit Adenauers übertreffen werde, ganz zu schweigen davon, dass er schließlich sein Amt als unbestritten historische Figur verlassen würde. Die Gründe für diesen bemerkenswerten Wandel liegen nicht in der Innenpolitik, sondern – wie bei Konrad Adenauer und Willy Brandt – im Bereich der Außenpolitik. Ein Bundeskanzler, dessen innenpolitische Bilanz als mäßig zu bezeichnen war und dessen Anerkennung und Popularität in der Bevölkerung stets deutlich hinter der seiner Partei rangierte, erwarb in einer politischen Krisensituation historischen Ausmaßes die Statur eines Staatsmanns. Es war nicht allein die Art und Weise, in der Helmut Kohl die Entwicklung in Deutschland seit dem Umbruch in der DDR im Herbst 1989 zuerst vorsichtig begleitete und dann mit sicherem politischen Gespür beeinflusste und in Richtung der Überwindung der staatlichen Spaltung lenkte, sondern es war auch die damit eng verbundene Bereitschaft und Fähigkeit, die anfänglichen Vorbehalte und partielle Gegnerschaft der Nachbarn und Verbündeten gegenüber einer Vereinigung Deutschlands abzubauen und sie für eine Politik zu gewinnen, an deren Ende sowohl die Einheit Deutschlands als auch eine Vertiefung der europäischen Einigung stand. In deutlichem Kontrast zu diesen außenpolitischen Erfolgen steht die innenpolitische Bilanz der Regierung Kohl nach der deutschen Einheit. Die wirtschaftliche und soziale Integration ist nur unvollkommen gelungen. Anfängliche Versprechungen konnten nicht gehalten werden und haben in Ostdeutschland zu einer anhaltenden Entfremdung gegenüber der Politik und dem Westen des Landes geführt. Es wuchsen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Insbesondere
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Vereinigungskrise und verschleppte Strukturkrise der alten Bundesrepublik
Die deutsche Einheit wurde nicht als Anlass für eine Strukturreform genutzt
die rasch steigende Arbeitslosigkeit, die im Jahre 1997 mit fünf Millionen ihren vorläufigen Höchststand erreichte und in einigen Regionen Ostdeutschland fast die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung betraf, wurde zu einer wachsenden Belastung für die konservativ-liberale Regierung. Diese Entwicklung ist häufig mit den unbestreitbar massiven finanziellen Belastungen nach der deutschen Einheit erklärt worden. Eine solche Begründung greift aber zu kurz. Die Vereinigungskrise ist nicht allein eine Umbau- und Anpassungskrise in Ostdeutschland und die Folge möglicherweise falscher politischer Entscheidungen nach 1990, sie ist zu einem Teil auch das Ergebnis einer verschleppten Strukturkrise im Westen Deutschlands, deren Ursachen vor dem Jahre 1989 zu suchen sind. Bereits in den 1980er-Jahren war die Entwicklung dort, trotz auf den ersten Blick positiver Wirtschaftsdaten, von ökonomischen und in ihrer Folge sozialen Krisensymptomen gekennzeichnet gewesen. Die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Modernisierung hatte Umstellungsprozesse mit erheblichen sozialen Kosten zur Folge. Krisen in angestammten Schlüsselindustrien, die Ineffizienz staatlicher Interventionspolitik und der Prozess der Globalisierung machten das keynesianische Instrumentarium, das erfolgreich aus der Krise Mitte der 1960er-Jahre und ansatzweise auch der „Ölkrise“ des Jahres 1973 herausgeführt hatte, stumpf. Auch das vermeintliche Allheilmittel einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik wirkte nicht, zumal es in Deutschland nicht mit demselben Rigorismus angewendet werden konnte, wie z.B. in Großbritannien. Die Folge waren massive wirtschaftliche Probleme und Verwerfungen in der Struktur der Gesellschaft mit erheblichen sozialen Kosten. Anders als in Großbritannien in den 1970er- und 1980er-Jahren setzte die CDU/CSU angesichts dieser Entwicklungen aber nicht auf ein radikales Programm staatlicher Deregulierung, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, des Abbaus von sozialen Grundleistungen und der Zerschlagung der Kampffähigkeit der Gewerkschaften. Das Modell der Sozialpartnerschaft wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wenngleich grundlegende Korrekturen, wie z.B. das Zurückschneiden der Flächentarifverträge angemahnt wurden. In der Debatte über den „Umbau“ des Sozialstaates spielte die SPD eine eher konservative, die bestehenden Strukturen verteidigende Rolle. Trotz zunehmender Internationalisierung wurden noch Elemente einer nationalstaatlich orientierten Wirtschaftspolitik in der Tradition keynesianischer Steuerung der 1960er-Jahre als Lösungskonzepte vorgeschlagen. Selbst die radikal marktwirtschaftliche Rhetorik der FDP entpuppt sich beim Vergleich mit der von ihr in der Regierungskoalition bis 1998 mitgetragenen Politik eher als Mittel programmatischer Profilierung, denn als Leitlinie praktischer Politik. Vier Legislaturperioden konservativ-liberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik haben weder die in der Regierungserklärung von 1982 als prioritär bezeichneten Probleme lösen noch auf die neuen Fragen der Internationalisierung und Globalisierung eine befriedigende Antwort geben können. Gleiches gilt für fehlende Alternativen der seinerzeitigen politischen Opposition. Bei allen Unterschieden in den politischen Auffassungen wurde in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre für alle erkennbar, dass „systemimmanente“ Korrekturen nicht mehr ausreichen, sondern dass eine Neustrukturierung der marktwirtschaftlichen Ordnung in der Bundesrepublik auf der Tagesordnung steht. Dies
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war keine neue Erkenntnis, aber sie wurde, zumal in den ersten Jahren nach der deutschen Einheit, erfolgreich in den Hintergrund gedrängt. Die Regierung tat vielmehr alles, um keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass das westdeutsche „Modell“, genauer, der westdeutsche status quo, als Blaupause für den Vereinigungsprozess zu dienen habe. Reformüberlegungen, die in vielen Bereichen der Gesellschaft und Politik der alten Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre entwickelt worden waren, wurden zurückgestellt, Forderungen, die deutsche Einheit als Chance für eine Strukturreform auch im Westen zu begreifen, wurden vehement zurückgewiesen. Das Verschieben der notwendigen „Reparaturmaßnahmen“ hat die politische Landschaft der Bundesrepublik bereits in den 1980er-Jahren geprägt. Nach der Einheit nahm die Bereitschaft, sich den Notwendigkeiten einer Reform zu stellen, weiter ab. Diese politische Strategie hat zwar nicht unerheblich zu den Wahlerfolgen der konservativ-liberalen Koalition beigetragen, die notwendige Anpassung an neue politische und wirtschaftliche Entwicklungen aber erheblich verzögert. Ansätze zu einer ernsthaften Bearbeitung der angedeuteten Krisenphänomene wurden vor 1989 allenfalls zögerlich ergriffen, im Zuge der deutschen Einheit aber vorerst zurückgestellt und damit um mehr als ein Jahrzehnt verschoben. Die deutsche Politik stand im Jahre 1990 vor einer historisch einmaligen Herausforderung: Es musste ihr gelingen, aus zwei Staaten, Wirtschaftsordnungen und gesellschaftlichen Systemen in relativ kurzer Zeit und unter Vermeidung allzu großer Konflikte ein einheitliches, wenngleich in sich differenziertes politisches und soziales Gemeinwesen zu schaffen. Deutschland befand sich nach dem 3. Oktober 1990 auch in einer weiteren Hinsicht in einer einzigartigen Situation. Es war als Nationalstaat wieder erstanden. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bedeutete, dass, sieht man von einer Vielzahl von Übergangsregelungen im Einigungsvertrag ab, von einem Tag auf den anderen die rechtlichen und institutionellen Regelungen der Bundesrepublik auch für den beigetretenen Teil gültig waren. Bereits im Vorfeld war es mit der Währungsunion vom 1. Juli 1990 zur Ablösung der bisherigen zentralen Planwirtschaft und zur währungspolitischen Ankopplung an die Marktwirtschaft der Bundesrepublik gekommen. Nur im Sinne einer staatlichen Ordnung war die Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 wiederhergestellt. Dem folgte ein langwieriger und widersprüchlicher Prozess des Umbaus der Eigentumsordnung und die noch immer nicht abgeschlossene Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Der Einigungsprozess war durch eine Vielzahl sich gegenseitig bedingender und Vereinigungskonflikte überlagernder Konfliktlinien gekennzeichnet: x x x
Die Wirtschaftsordnung der DDR war inkompatibel mit der Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. Der Umbau der zentralen Planwirtschaft wurde durch den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft verschärft. Die notwendige soziale Abfederung des krisenhaften wirtschaftlichen Umbauprozesses in Ostdeutschland führte zu erheblichen Belastungen der Steuerzahler und der öffentlichen Haushalte in Westdeutschland. Der durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unvermeidliche, wenngleich in seinen konkreten Ausformungen prinzipiell politisch gestaltbare, 153
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Wahrnehmung des Vereinigungsprozesses als Erweiterung der Bundesrepublik
und im Vergleich mit anderen post-kommunistischen Ländern vorteilhafte Transfer des politischen Institutionensystems der Bundesrepublik nach Ostdeutschland führte zu anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten, verhinderte aber vor allem eine dringend notwendige Reform der Institutionen (Länderreform, Verwaltungsreform u.a.m.), die aus der alten Bundesrepublik überfällig war. Die Politik des Transfers von Institutionen bestimmte auch die Situation im intermediären Sektor. Hier haben sich freilich auf Grund des „Eigensinns“ der gesellschaftlichen Akteure trotz der unverkennbaren Dominanz „westlicher“ Parteien und Verbände auch Elemente einer eigenständigen, aus der DDR überkommenen oder in der Zeit des Umbruchs entstandenen Parteienund Verbandsstruktur erhalten und in die neuen Verhältnisse transformiert. Insbesondere bei den Parteien hat dies – trotz der Dominanz der beiden großen Volksparteien – ein zwischen Ost und West gespaltenes Parteiensystem und damit völlig unterschiedliche politische Handlungsmöglichkeiten und -restriktionen produziert. In den politischen Verhaltensweisen, insbesondere im Wahlverhalten und der Organisations- und Beteiligungsbereitschaft und in den politisch-kulturellen Einstellungen zeigen sich ebenfalls deutliche Ost-West-Differenzen.
Innere Dynamik und äußere Rahmenbedingungen der Ereignisse 1989/90 führten dazu, dass mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik kein neues staatliches Gebilde aus der Taufe gehoben wurde, sondern sich die Bundesrepublik „nur“ territorial erweiterte und die staatliche Teilung Deutschlands aufgehoben wurde. Dies war die verbreitete Wahrnehmung in der „alten“ Bundesrepublik und in gewisser Weise war es auch die Wahrnehmung in Ostdeutschland. Selbst in der Rede vom „Anschluss der DDR an die BRD“ schwang die Vorstellung mit, es habe sich nicht mehr ereignet, als eine bloße Einvernahme Ostdeutschlands ohne Auswirkungen auf die alte Bundesrepublik. Eine solche Sichtweise greift aber zu kurz. Sie vernachlässigt zum einen, dass die alte Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Vereinigung in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess begriffen war, der durch die Handlungsimperative der deutschen Einheit in gewisser Weise künstlich angehalten wurde, dafür aber seit Mitte der 1990er-Jahre umso deutlicher das politische Leben bestimmte und politische Entscheidungen forderte - von der Neuordnung der Aufgabenverteilung im bundesdeutschen Föderalismus, der Reform des Steuersystems, der Frage nach den künftigen Aufgaben und Leistungen der sozialen Sicherungssysteme, des Bildungssektors und der Wissenschaft, der staatlichen Verwaltung u.a.m. Zum anderen war die Inkorporation der DDR in die Bundesrepublik nur auf den ersten Blick ein einmaliger Rechtsakt. Der Rechts- und Institutionentransfer reflektierte nur das „statische“ Element dieses Vorgangs. Das, was man angesichts der Dauer und Intensität der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen zwischen Ost und Westdeutschland nach 1990 nur als Vereinigungskrise bezeichnen kann, hat seine Ursache nicht primär in politischen Fehlentscheidungen der Jahre 1989/90 oder Anpassungsproblemen des „importierten“ Institutionensystems an die spezifischen Bedingungen in Ostdeutschland – auch wenn beides nicht ohne Einfluss war –,
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sondern in dem Umstand, dass zwei unterschiedliche Gesellschaften zusammengekoppelt worden sind, deren Funktionslogiken inkompatibel waren.
3.4.5 Umbau des ostdeutschen Wirtschaftssystems Als problematischster Aspekt des Einigungsprozesses erwies sich der erforderliche Umbau des ostdeutschen Wirtschaftssystems. Er fand unter besonderen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die der Einigungsvertrag und bereits vorher der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zur Verfügung gestellt haben. Diese Vertragswerke ebneten den Weg für eine Schocktherapie, in deren Verlauf die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der DDR binnen kurzer Zeit durch die der Bundesrepublik ersetzt worden sind. Finanziell und institutionell abgefedert wurde diese Therapie freilich durch massive Transferzahlungen, Aufbauhilfen und einen Institutionen- und Elitentransfer. Diese drei Elemente versetzten Ostdeutschland in eine privilegierte Lage gegenüber ehemaligen „Bruderländern“. Die ordnungspolitisch motivierte Weigerung, sich auf Zwischenlösungen oder einen oft beschworenen „Dritten Weg“ einzulassen, bedurfte nur solange einer Begründung, wie eine eigenständige Entwicklung der DDR vorausgesetzt wurde. Mit der deutschen Einheit und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurden diese gesonderten Bedingungen hinfällig, es galt die Rechts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik. Die ostdeutsche Variante einer wirtschaftlichen Schocktherapie war nicht, wie z.B. in Polen, das Ergebnis einer politischen Entscheidung, die unter verschiedenen Strategien und Szenarios auswählen konnte, sondern die zwangsläufige Folge des Beitritts. Ein zweites Spezifikum stellt die Tatsache dar, dass dieser Umbau der Wirtschaft nicht im nationalen Rahmen erfolgte, sondern als Anpassungsprozess einer ehemals geschlossenen Volkswirtschaft vollzogen wurde, die jetzt einen regionalen „Transitionsblock“ innerhalb einer marktwirtschaftlich verfassten Volkswirtschaft darstellte. Die Entscheidung für eine möglichst schnelle Umstellung der DDRWirtschaft auf marktwirtschaftliche Strukturen herbeizuführen, war nicht ohne Widersprüche. Auf der einen Seite entschied man sich mit der Weiterführung und Übernahme der von der Regierung Modrow gegründeten Treuhandanstalt, die den Umbau der Eigentumsordnung bestimmte, für eine systemfremde zentrale Steuerungsagentur, deren Aufgabe die Privatisierung der staatlichen Unternehmen und der genossenschaftlichen Landwirtschaft war. Dass ihre Tätigkeit von vielen als Ausverkauf jahrzehntelang mühsam erwirtschafteten Volksvermögens wahrgenommen wurde, hat vor allem damit zu tun, dass die erhofften Gewinne aus dem Verkauf der „volkseigenen“ Unternehmen ausblieben und der sukzessive Verkauf der Unternehmen den Verlust von Arbeitsplätzen nicht stoppen konnte. Auf der anderen Seite führte die unter dem Aspekt der Systemtransformation sinnwidrige politische Entscheidung zu Gunsten der Restitution von Besitzansprüchen der alten Eigentümer gegenüber den Rechten der gegenwärtigen Besitzer nicht nur zu erheblichen, durch Rechtsstreitigkeiten ausgelösten Investitions-
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Abgefederte „Schocktherapie“ für die ostdeutsche Wirtschaft
Hemmfaktoren für die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland nach dem Umbruch
Staatliche Programme und Interventionen
Verwendung der Transferleistungen
Die Einheit führte zu einem massiven Staatsinterventionismus
sperren, sondern auch zu einer weitreichenden Verunsicherung vieler Haus- und Grundstücksbesitzer, Pächter und Mieter. Nur schwer mit marktwirtschaftlichen Prinzipien vereinbar waren auch die vielfältigen staatlichen Programme und Interventionen, mit denen versucht wurde, den Umstellungsschock zu bewältigen und sozial abzufedern. Leistungen für die Finanzierung der deutschen Einheit sind vor allem durch die Sozialversicherungshaushalte und eine erhebliche Erhöhung der Staatsverschuldung erbracht worden. Die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme der Renten-, Krankenund Arbeitslosenversicherung wurden, bei teilweiser Kompensation aus dem Staatshaushalt, herangezogen, die Sozialleistungen in Ostdeutschland mitzufinanzieren. Die Bundesanstalt für Arbeit entwickelte sich wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der umfangreichen Arbeitsbeschaffungsprogramme nach dem Bund und der Treuhandgesellschaft zum größten Finanzier der Einheit. Auf Grund des erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen den alten und den neuen Bundesländern wuchsen sich die Ausgleichszahlungen der Sozialversicherungsträger unter der Hand zu einer Art „Ländersozialausgleich“ aus, in dem die Beitragszahler in den wirtschaftlich stärkeren westlichen Bundesländern die zusätzlichen Lasten im Osten mitfinanzierten. Ein Großteil der anfallenden Kosten für Wirtschaftsförderung, Umstrukturierung des Agrarsektors, Infrastrukturmaßnahmen, Wissenschaft, Forschung und Kultur wurden durch eine über Nebenhaushalte abgewickelte Erhöhung der Staatsverschuldung erbracht. Trotz erheblicher Transferleistungen von jährlich weit über 100 Mio. DM hat sich der anfängliche Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft aber bereits Mitte der 1990er-Jahre verlangsamt und die Arbeitslosigkeit erheblich zugenommen. Der 1990 erwartete schnelle Angleichungsprozess der ostdeutschen an die westdeutsche Wirtschaft ist also trotz massiver finanzieller Unterstützung gescheitert. Ein, wenngleich nicht der einzige Grund dafür ist in dem Tatbestand zu sehen, dass ein Großteil der in den neuen Bundesländern nicht in Investitionen flossen. Die erheblichen staatlichen und privaten Transferleistungen wurden zwangsläufig zu einem großen Teil im konsumtiven Bereich eingesetzt: zur Unterstützung der Bundesanstalt für Arbeit (v. a. für Arbeitsbeschaffungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen), in der Sozial- und Rentenversicherung, zur Stützung des Wohnungsmarktes, vor allem zur Existenzerhaltung der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften und der Gewährung von Wohngeld, für die teilweise Erhaltung landwirtschaftlicher Betriebe, den Aufbau der Landes- und Gemeindeverwaltungen, das Hochschulerneuerungsprogramm usw. In einer Zeit, in der wachsender Staatsinterventionismus selbst von den traditionellen Verfechtern des Sozialstaats als Problem erkannt wurde, musste der Staat massiv (direkt oder indirekt) intervenieren, um die Folgen einer DeIndustrialisierung und des Zusammenbruchs der Agrarwirtschaft in Ostdeutschland wenigstens einigermaßen aufzufangen – mit der Folge einer langfristigen Belastung der öffentlichen Haushalte. Der Effekt einer solchen Politik war eine Ausweitung der staatlichen Agenda, die angesichts der wirtschaftlichen Belas-
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tungen durch die deutsche Einheit, der Verschuldung der öffentlichen Haushalte und der Notwendigkeit zu interner Umverteilung auch auf die Bereiche des Sozialstaats negativ zurückwirkte, die bislang relativ leistungsfähig waren.
3.4.6 Rechts- und Institutionentransfer Von den Strukturen des politischen Systems der DDR konnte für eine demokratische politische Ordnung nichts übernommen werden. Auf der Tagesordnung stand vielmehr die Aufgabe, den Rechts- und Institutionentransfer möglichst schnell und reibungslos zu gestalten. Der Beitritt nach Art. 23 GG, der das Grundgesetz der Bundesrepublik zur gesamtdeutschen Verfassung machte, ließ in Ostdeutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 das DDR-Recht obsolet werden – mit Ausnahme der im Einigungsvertrag in den Anlagen I und II im Detail geregelten Rechtsbereichen und Einzelregelungen. Durch die Landtags- und Kommunalwahlen und die Wiedereinrichtung der Länder waren bereits in der Endphase der DDR Voraussetzungen für eine Anpassung an die politischen Strukturen der Bundesrepublik geschaffen worden. Die Länder und die kommunale Selbstverwaltung schwebten aber sozusagen im luftleeren Raum, da es vorerst keinen verwaltungsmäßigen Unterbau gab, der ihren neuen Aufgaben angemessen gewesen wäre. Der Umbau der öffentlichen Verwaltung stellte sich damit als dringlichste Aufgabe einer demokratischen Umgestaltung nach der freien Wahl von Landesparlamenten und Kommunalvertretungen dar. Die öffentliche Verwaltung musste von Grund auf neugestaltet werden, insbesondere mussten die zentralistischen Strukturen der „Kaderverwaltung“ durch eine demokratische und föderale Verwaltung ersetzt werden (Koenig, 1993: 80). Über diese Zielsetzung gab es keinen Grundsatzstreit, wohl aber über Wege und Tempo, mit dem sie erreicht werden sollte. Die Übertragung des gesamten Verwaltungssystems der Bundesrepublik auf Ostdeutschland von einem Tag zum anderen fand gegen den anfänglichen Willen des Bundesinnenministeriums statt. Die westdeutsche – dringend reformbedürftige – Verwaltung wurde, was angesichts des Zeit- und Problemdrucks verständlich war, als „Blaupause“ (Reichard/ Röber, 1993: 215) genutzt und übertragen. Die Diskussion über eine Verwaltungsreform trat für Jahre in den Hintergrund (Jann, 1995). Der Verwaltungsneubau betraf alle Ebenen der Gebietskörperschaften, die bundeseigene Verwaltung, die neuen Landesverwaltungen und die Kommunalverwaltungen. Die bisherigen Bezirksverwaltungen, die Bestandteil der zentralistischen Verwaltungsstruktur der DDR waren, mussten abgewickelt werden. Mit dem 3. Oktober 1990 gingen mehr als 200 Einrichtungen (nimmt man Bahn, Post und Verteidigung hinzu, mehr als 4.000 Einrichtungen) mit mehr als 560.000 Beschäftigten auf den Bund über. Einrichtungen der Bundesverwaltung wie die Zollbehörden, die Wehrersatzämter oder die Forstverwaltung mussten neu eingerichtet werden. Die Bundeswehr war vor die einzigartige Aufgabe gestellt, sich als Wehrpflichtarmee nach Osten auszudehnen und die Nationale Volksarmee der DDR
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Rechts- und Institutionentransfer
Neuaufbau einer demokratischen öffentlichen Verwaltung
Abwicklung der NVA
Neue Länderstruktur in Ostdeutschland
Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz
Die Treuhandanstalt
abzuwickeln. Sie integrierte etwa 11.000 ehemalige Soldaten der NVA bei gleichzeitiger Reduzierung der Mannschaftsstärke und der Standorte um etwa ein Drittel (Jahresbericht der Bundesregierung, 1997: 16ff.). Bereits mit dem „Ländereinrichtungsgesetz“ das die Volkskammer der DDR im Juli 1990 als Verfassungsgesetz verabschiedet hatte (GBl Nr. 51: 955) und später mit der Rechtsangleichung (Art. 8 bis 10 des Einigungsvertrages) waren die Grundentscheidungen für eine föderale Struktur der zukünftigen politischen Ordnung vorgezeichnet, die dann im Zuge der Einigung und durch das Verfahren nach Art. 23 GG zur Festschreibung der neuen Länderstruktur (inklusive Berlin als de facto sechstes neues Bundesland) in Ostdeutschland führte. Der Einigungsvertrag sah eine Reihe von Regelungen vor, die den Prozess der Rechtsangleichung und Institutionenbildung beschleunigen und sichern sollten. Für den Aufbau der öffentlichen Verwaltung erwiesen sich insbesondere die Gewährung westdeutscher Verwaltungshilfe und Partnerschaften der westlichen Bundesländer für die neu gegründeten ostdeutschen Länder als hilfreich. Es war vor allem diesen Regelungen zu verdanken, dass die ostdeutschen Landesverwaltungen in einer relativ kurzen Zeit funktionierten, wenngleich anfangs mit erheblichen Reibungsverlusten. Eines der schwierigsten Probleme stellte der Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz dar. Hier ging es zum einen um die Rechtsangleichung, zum anderen um die Einrichtung einer funktionsfähigen Gerichtsorganisation und der Landesjustizverwaltungen. Ferner bedeutete dies die Beendigung der freiwilligen Gerichtsbarkeit der DDR in den „Konfliktkommissionen“. Die Konsequenz war eine erhebliche Ausweitung des Personals, das nach Lage der Dinge aus Westdeutschland rekrutiert werden musste. Gerade im Bereich der Justiz griffen Übergangsregelungen – z.B. wurde anfänglich die Gerichtsorganisation der DDR in Kreis- und Bezirksgerichte, allerdings ohne das Oberste Gericht, beibehalten. Seit Ende 1993 entspricht der Gerichtsaufbau in den neuen Ländern dem der Bundesrepublik (Materialien zur Deutschen Einheit, BT-Drs. 13/2280: 51ff.). Die einzige, von den Strukturen der bundesdeutschen Verwaltung abweichende Institution war die „Treuhandanstalt“ (THA) und ihre Nachfolgeorganisation, die „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ (BvS). Die Treuhandanstalt war mit einer solchen Machtfülle ausgestattet, dass sie mit einem gewissen Recht als „Nebenregierung-Ost“ bezeichnet werden konnte (Czada, 1993). Sie hatte weder Vorbilder in der deutschen Verwaltungsgeschichte, noch Parallelen in anderen Transformationsländern Mittel-Osteuropas (Busch, 2005: 97). Streng genommen war sie keine Neugründung, sondern eine, wenngleich sehr junge „Altlast“ der Modrow-Regierung, geschaffen zur Privatisierung der DDR-Wirtschaft. Sie ist sowohl die interessanteste als auch in gewisser Weise problematischste Institution in Ostdeutschland. Gegründet im März 1990 (GBl I, 1990: 107) wurde ihr das gesamte „volkseigene“ Vermögen treuhänderisch übertragen. Das noch von der Volkskammer verabschiedete Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des Volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990 (GBl I, 1990: 300) sollte, wie es in der Präambel hieß, dafür sorgen, „die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen“. Nach dem 3. Oktober 1990 wurde sie als rechts-
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fähige bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts unter der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesfinanzministeriums Teil des Institutionensystems der Bundesrepublik (Art. 25 EVertr.; Materialien zur Deutschen Einheit, BT-Drs. 13/2280: 125). Die Treuhandanstalt übte einen dominanten Einfluss nicht nur auf die Privatisierungs-, Sanierungs- und Ansiedlungspolitik in Ostdeutschland aus, sondern griff darüber hinaus auch erheblich in die Kompetenzen der demokratisch legitimierten politischen Körperschaften in den Ländern und Kommunen ein. Regionale Strukturpolitik und Industrieansiedlung hingen von den Verkaufsentscheidungen und Auflagen der Treuhand an die neuen Eigentümer ab. Die Länder waren zwar im Verwaltungsrat der Treuhand vertreten, den entscheidenden Einfluss übten aber die nach Art. 25 Abs. 2 des Einigungsvertrages von der Bundesregierung berufenen Vertreter aus. Die Treuhandanstalt stellte das paradoxe Beispiel einer zentralistischen Organisation dar, die eigens geschaffen wurde, um eine zentrale Planwirtschaft zu zerschlagen und die Voraussetzungen für einen Übergang zu den funktional differenzierten Strukturen einer Marktwirtschaft zu schaffen. Mit Blick auf die neuen Verwaltungen in Ostdeutschland kann, mit Ausnahme der Treuhandanstalt bzw. ihrer Nachfolgerin BvS, von einem „globalen Institutionentransfer“ (Lehmbruch, 1993). gesprochen werden. Er erlaubte es Ostdeutschland, viele Umwege und Sackgassen zu vermeiden und in kürzester Zeit ein funktionierendes Institutionensystem aufzubauen, das freilich zu Beginn an erheblichen Mängeln bezüglich der Adaptionsfähigkeit an die speziellen Probleme Ostdeutschlands litt. Verglichen mit den entsprechenden Problemen in den anderen post-kommunistischen Staaten kann das Experiment aber als gelungen bezeichnet werden. Der Institutionentransfer von West nach Ost hat sehr früh den Eindruck entstehen lassen, dass er auch von einem entsprechenden Elitentransfer begleitet worden sei, also alle wichtigen Positionen mit Westdeutschen besetzt worden seien. Nicht nur in Ostdeutschland ist der Eindruck verbreitet, dass es einen nahezu völligen Austausch von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten und von Verwaltungspersonal und ihre Ersetzung durch „Westler“ gegeben habe, die zu einer Dominanz externer Akteure, zu „Subjektverlust“ und zu einer „Repräsentanzkrise“ geführt habe (Reißig, 1993; Wiesenthal, 1993). Diese Vermutungen sind selten nach unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft – Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur usw. – differenziert und noch seltener empirisch untermauert. Bei nüchterner Betrachtung der vorliegenden empirischen Daten (Bürklin/Rebenstorf 1997; Damskis/Möller 1997) ist festzuhalten, dass weder eine „counter-élite“ aus der alten DDR-Opposition zur Macht gekommen ist, noch eine vollständige Ersetzung der ostdeutschen Eliten durch Westdeutsche stattgefunden hat. Vielmehr ist von einem Elitenmix auszugehen, der sich in den einzelnen Sektoren der Gesellschaft unterschiedlich darstellt. Zugespitzt formuliert kann man sagen, dass die Gesetzgebung und die Regierung in den Händen von Ostdeutschen liegt, während bei der faktischen Vorbereitung und der Umsetzung der Gesetzgebung durch die Verwaltung – zumal in den klassischen Ressorts – westdeutsche höhere Verwaltungsbeamte einen er-
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Einfluss auf die Privatisierungs-, Sanierungs- und Ansiedlungspolitik in Ostdeutschland
Positives Fazit des Institutionentransfers
Probleme des Elitenwechsels
heblichen Einfluss haben. Am deutlichsten ist der westdeutsche Einfluss im Bereich der Justiz. Unterschiedliche Insgesamt ist westliche Dominanz nicht zu leugnen. Die Übernahme der Verwaltungsstile rechtlichen Regelungen, institutionellen Arrangements und Verfahrensweisen der Bundesrepublik hat zwangsläufig dazu geführt, dass sich Politik- und Verwaltungsstile in Ostdeutschland an diese Gegebenheiten anpassen mussten. Weder die Verhaltensmuster der alten zentralistischen „Kaderverwaltung“, noch die in der Umbruchzeit von den neuentstandenen politischen Gruppen gepflegte Vorstellung eines permanenten dialogischen Prozesses zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung und „unbürokratischen“, problembezogenen Handelns waren mit den neuen rechtlichen und institutionellen Strukturen vereinbar. Vorläufiges Fazit Der verbreitete Eindruck, es habe ein westlicher Eroberungsfeldzug in einstmals realsozialistischen Pfründen stattgefunden, entspricht nicht der Realität. Trotz der Übertragung des bundesrepublikanischen Rechts- und Institutionensystems und trotz eines erheblichen personellen Einflusses westdeutscher Führungskräfte und eines massiven „Elitentransfers“ stellt sich das Bild differenzierter dar. Öffentliche Wahrnehmung und Realität weichen nicht unerheblich voreinander ab. Kein anderes europäisches Land ist durch die Ereignisse der Jahre 1989/90 in vergleichbarer Weise herausgefordert worden, wie die Bundesrepublik Deutschland. Viele, wenngleich bei weitem nicht alle Probleme, mit denen sie noch heute zu tun hat, sind die direkte oder indirekte Folge des deutschen Einigungsprozesses. Viele, bei weitem nicht alle, sind auch die Folge politischer Fehlsteuerung. Mindestens ebenso entscheidend ist aber der Tatbestand, dass sich dieser in hohem Maße komplizierte und an Friktionen reiche Prozess in einer tief greifenden Umbruchsituation des europäischen und internationalen Staatensystems und der Weltwirtschaft vollzog. Zu den immensen Schwierigkeiten, die nahezu alle in der Größe und Wirtschaftskraft vergleichbaren Länder zu bewältigen hatten, kamen in Deutschland die einheitsbedingten Belastungen hinzu. Ihre Folgen werden die Bundesrepublik noch über Jahrzehnte begleiten.
3.5
Das rot-grüne Bündnis: Machtwechsel oder Politikwechsel?
3.5.1 Das Ende der Ära Kohl Als im September 1998 die Regierung Kohl mit einer unerwartet klaren Mehrheit abgewählt wurde, endete eine Ära der deutschen Politik, die wie kaum eine andere durch umstürzende historische Ereignisse geprägt worden war. Die politischen Umbrüche des Jahres 1989 hatten alle Rahmenbedingungen deutscher und europäischer Politik radikal verändert. Die Aufgabe, den Osten Deutschlands in das politische, wirtschaftliche und soziale Gefüge der Bundesrepublik einzugliedern stellte eine Herausforderung dar, die ihresgleichen nur in der unmittelbaren
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Nachkriegszeit hatte. Es ging um die zweite Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland. Erneut waren politische Grundsatzentscheidungen von großer Reichweite zu treffen. Der Bundesregierung war es in der Zeit des politischen Umbruchs und den ersten Jahren nach der Einheit gelungen, die Mehrheit der Bürger davon zu überzeugen, dass sie die besseren Konzepte für die Bewältigung der Aufgaben habe. Dies schlug sich in den Wahlsiegen von 1990 und 1994 nieder. Die beiden Regierungsparteien CDU/CSU und FDP verloren jedoch im Laufe der Zeit ihre seit Jahrzehnten unangefochten verteidigte Kompetenz in zentralen Bereichen der Politik. Seit Ende des Jahres 1995, nur ein Jahr nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl von 1994, registrierten die Meinungsforschungsinstitute eine stetig sinkende Zustimmung der Wähler zur führenden Regierungspartei CDU/CSU, schwache Ergebnisse der FDP und einen allmählichen und dann seit Ende 1997 sich beschleunigenden Anstieg der Zustimmung für die SPD. Diese Akzeptanz war nicht damit zu erklären, dass die Opposition über klare politische Alternativen verfügt hätte, die den Wählern attraktiver erschienen. Es war vor allem der Verdruss mit einer Politik, deren versprochene Erfolge in den als besonders wichtig erachteten Feldern ausblieben oder auf sich warten ließen und es war das wachsende Gefühl, dass es in der Gesellschaft einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit gebe. Entscheidend für das Wahlergebnis waren nicht durchaus relevante Einschätzungen darüber, welche der Parteien die besten politischen Rezepte habe. Entscheidend war ein von allen Demoskopen gemessenes verbreitetes Gefühl, dass es nach sechzehn Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl Zeit für einen personellen Wechsel sei. Mit ihrer Parole „Danke Helmut – es ist genug“ traf die SPD diese Stimmung. Auch der Hinweis der CDU auf die Verdienste und die internationale Anerkennung des Kanzlers („Weltklasse für Deutschland“) verfing nicht mehr. Diese Stimmungslage erklärt das bemerkenswert eindeutige Ergebnis der Bundestagswahl vom 27. September 1998. Die SPD wurde mit Abstand stärkste Partei (40,9%), die CDU/CSU erzielte mit 35,2% das bislang schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte seit 1949. Die eindeutige Dominanz der Union im Süden Deutschlands wurde deutlich relativiert und sie verlor ihre vorherrschende Stellung in Ostdeutschland, was dort sogar zu Überhangmandaten für die SPD führte. Bündnis 90/Grüne, deren Wiedereinzug in den Bundestag im Frühsommer nach einer Reihe von taktischen Fehlern im Vorwahlkampf gefährdet erschien, erreichten mit 6,7% einen Stimmenanteil, der trotz leichter Verluste gegenüber 1994 ausreichte, um ihre Stellung als drittstärkste Kraft im Deutschen Bundestag zu festigen. Die FDP schließlich verlor endgültig ihre Rolle als „Königsmacher“. Die Sitzverteilung im 14. Deutschen Bundestag stellte sich folgendermaßen dar: SPD 298 (davon 13 Überhangmandate), CDU/CSU 245, Bündnis 90/Grüne 47, FDP 43 und PDS 36. Theoretisch hätte dieses Wahlergebnis mehrere Koalitionen ermöglicht, die Erklärungen der Parteien vor der Wahl, die Stimmung an der jeweiligen Parteibasis und das gute Ergebnis für SPD und Bündnis 90/Grüne machten jedoch ein rot-grünes Bündnis unausweichlich. Dies bedeutete nicht, dass es auch eine erkennbare Mehrheit in der Bevölkerung zu Gunsten einer solchen Koalition gegeben hätte. Die Mehrheit bevorzugte eine Große Koalition, gleichsam die Verbin-
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Kompetenzen der Parteien aus der Sicht der Wähler
Veränderung der politischen Landschaft bei der Bundestagswahl 1998
dung der beiden Botschaften „Sicher ins 21. Jahrhundert“ (CDU) und „Modernität und soziale Gerechtigkeit“ (SPD). Der in der politischen Öffentlichkeit und in der Partei selbst kritisierte Versuch der SPD und ihres Kanzlerkandidaten, den Tenor der Wahlkampagne von „New Labour“ in Großbritannien „It’s time for a change“ mit der Parole der CDU aus den 1950er-Jahren „Keine Experimente“ zu verbinden, war erfolgreich, weil er die Ambivalenzen der Wähler, ihr Sicherheitsbedürfnis und ihren gleichzeitigen Überdruss mit der bisherigen Politik und dem Führungspersonal auf einen Nenner brachte und eine personelle und politische Alternative anbot. Machtwechsel durch Der entscheidende Aspekt dieses Wahlergebnisses war aber nicht die Veränden Wähler derung des Kräfteverhältnisses und der Austausch der Positionen der beiden Volksparteien, sondern die Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Wähler direkt einen Machtwechsel herbeigeführt hatten. Weder die Aufkündigung einer Koalition oder ein Koalitionswechsel, noch ein erfolgreiches Misstrauensvotum, sondern die eindeutige Mehrheit für die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Grüne war entscheidend für den politischen Wechsel und ließen andere Koalitionsüberlegungen zwar formal, aber politischpraktisch nicht zu. Gerhard Schröder, der eher mit einer großen Koalition liebäugelte, konnte und wollte sich dem Druck der eigenen Partei nicht widersetzen. Die SPD hatte ihren Wahlkampf mit dem Argument bestritten, dass es eines Politikwechsels bedürfe, um die Probleme zu lösen, die sich seit dem Amtsantritt Helmut Kohls, insbesondere aber seit der deutschen Einheit, im Bereich der Finanz-, Wirtschafts-, Innen- und Gesellschaftspolitik angehäuft hatten. Unter der Überschrift "Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" hatte das SPD-Wahlprogramm für den Fall der Regierungsübernahme ein Bündel von Maßnahmen angekündigt: Innovationen und eine "ökologische Modernisierung" in der Wirtschaft, im Staat und in der Gesellschaft, eine "Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft" und ein "Bündnis für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" das helfen sollte, die großen Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Mit dem der Kampagne der britischen Labour Party von 1997 entliehenen Schlagwort von der "aktivierenden Gesellschaft" wurde versucht, nicht die tradierte Vorstellung eines fürsorglichen Staates zu reaktivieren, sondern an die Eigenverantwortung der Bürger zu appellieren und das Verhältnis zwischen Solidarität und Individualität neu zu justieren. "Ziel des modernen Sozialstaates ist Ermutigung zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative, nicht Bevormundung" (Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD-Wahlprogramm für die Bundestagswahl 1998: 37). Die unerwartet komfortable Mehrheit der Koalition von SPD und Bündnis 90/Grüne und eine Mehrheit sozialdemokratisch geführter Landesregierungen im Bundesrat boten eine solide Grundlage für die Umsetzung einer in wichtigen Sektoren neuen Politik. Potentielle Konflikte zwischen den Koalitionspartnern waren von Beginn an eher im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, als im Felde der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erwarten.
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3.5.2 Reformpolitik im Zeichen der Krise In ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20.10.1998 unter dem programmatischen Titel „Aufbruch und Erneuerung“ hatte die neue Bundesregierung ein umfassendes Reformprogramm vorgestellt. SPD und Bündnis 90/Grüne formulieren als zentrale Ziele ihrer Regierungsarbeit, die „Chancen der Globalisierung für nachhaltiges Wachstum, Innovation und neue zukunftsfähige Arbeitsplätze“ zu nutzen, die „Wirtschaftskraft durch nachhaltiges Wachstum und Innovation“ zu stärken, zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates durch Sanierung der öffentlichen Finanzen zurückzugewinnen. Der Sozialstaat und eine solidarische Gesellschaft sollten gestärkt und erneuert und eine „Kultur der Toleranz in einer solidarischen Gesellschaft“ neu begründet werden. In der Europaund Außenpolitik wurde das Augenmerk auf die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union gerichtet und versprochen, „die Solidarität mit den Ländern des Südens“ zu stärken und weltweit eine nachhaltige Entwicklung zu fördern (Aufbruch und Erneuerung, 1998: 1 ff.). Ähnlich wie 1982, als die Regierung von CDU/CSU und FDP eine "geistigmoralische Wende" in Deutschland versprach, erweckten auch die ersten programmatischen Erklärungen der rot-grünen Bundesregierung die Illusion, eine neue Politik, ja, ein neues „politisches Projekt“ könne in einer Legislaturperiode eine grundlegende Veränderung der Politik bewirken. Aber allein die beiden prioritären Ziele der Bundesregierung, der Abbau der Arbeitslosigkeit und die Sanierung der Staatsfinanzen, waren weder kurzfristig noch mit einer singulären Kraftanstrengung zu lösen – im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit erreichte 2003 erstmals die Rekordhöhe von 5 Millionen und verblieb seither etwa in dieser Höhe. Ähnliches gilt für die "Vollendung der inneren Einheit" Deutschlands. Die neue Regierung sah sich außergewöhnlichen Herausforderungen in der Finanzund Haushaltspolitik, der Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik gegenüber. Die Haushaltslage des Bundes (und der Länder) war ernst, hatte die Regierung Kohl doch über Jahre hinweg die außerordentlichen finanziellen Belastungen der deutschen Einheit dadurch zu lösen versucht, dass sie die benötigten Mittel aus Nebenhaushalten finanzierte und viele der Kosten auf die Sozialversicherungsträger abwälzte; letzteres hat nicht unwesentlich zur Krise des Systems sozialer Sicherung beigetragen. Bereits vor dem In-Kraft-Treten des Solidarpakts im Jahre 1995 waren erhebliche Anteile der Transferzahlungen für Ostdeutschland statt für Investitionen und die Stärkung der Finanzkraft der Gemeinden für den Bereich sozialer Sicherung verwendet worden. Nach wie vor werden soziale Leistungen, Personalausgaben für eine häufig üppig ausgestattete Verwaltung und dadurch entstehende Defizite in den öffentlichen Haushalten aus diesen Mitteln beglichen. Daran hat sich nichts Wesentliches geändert seit der Solidarpakt II im Januar 2005 wirksam wurde. Er hat eine Laufzeit bis zum Jahre 2019 und ein Volumen von über 150 Mrd. €. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder markierte Verschiebungen der Problemwahrnehmung gegenüber der Vorgängerregierung 163
Ziele der Regierungsarbeit im Koalitionsvertrag
Außerordentliche Belastungen
Verschiebung politischer Prioritäten
Erste Bewährungsproben einer „neuen“ Politik
Der Rücktritt Oskar Lafontaines
Ökologische Modernisierung und Atomausstieg
und neue Schwerpunkte der Politik, verblieb aber im Detail ebenfalls im Allgemeinen (Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 3. Sitzung vom 10.11.1998, in: Das Parlament vom 20.11.1998: 2). Der Koalitionsvertrag formulierte bereits in der Präambel das Ziel einer „ökologischen Modernisierung“, ohne dies jedoch genauer zu beschreiben. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik erfolgte eine – allerdings sehr kurzlebige – Verschiebung der Prioritäten von einer vorwiegend angebotsorientierten zu einer eher nachfrageorientierten Politik. Deutlich neue Akzente setzte die rot-grüne Bundesregierung gleich zu Beginn ihrer Amtszeit im Bereich Energiepolitik (Ausstieg aus der Atomindustrie), im Umweltschutz und der Technologiepolitik, beim Staatsbürgerschaftsrecht und in der Ausländerpolitik, bei der Erweiterung von Minderheitenrechten und in der Familienpolitik. In anderen Politikbereichen, wie z. B. der inneren Sicherheit waren kaum Unterschiede zur Vorgängerregierung zu erkennen. Der Start der neuen Regierung wurde allgemein als „chaotisch“ wahrgenommen. Mangelnde Regierungserfahrung und das Fehlen eines Zentrums, das die Regierungsgeschäfte steuern konnte (das Bundeskanzleramt konnte erst nach einem Personalwechsel an der Spitze unter seinem Chef Walter Steinmeier diese wichtige Funktion wahrnehmen) spielten dabei ebenso eine Rolle, wie der sich sehr bald andeutende Dauerkonflikt zwischen dem Kanzler und dem SPDVorsitzenden (Egle/Ostheim/Zohlnhöfer, 2003: 17). Die Regierung, geriet schon bald nach ihrem Start in eine Krise, als die hessische CDU im Landtagswahlkampf, das geplante Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft heftig attackierte und eine (von ausländerfeindlichen Untertönen nicht freie) landesweite Unterschriftenaktion gegen dieses Gesetzesvorhaben initiierte. Sie gewann die Landtagswahlen am 7. Februar 1990 – was den Verlust der sozialdemokratisch geführten Mehrheit im Bundesrat zur Folge hatte. Die insbesondere vom grünen Koalitionspartner mit großer Verve vorangetriebene Reform des Staatsbürgerschaftsrechts konnte nun, das es der Zustimmung der FDP, die in Rheinland-Pfalz mit der SPD regierte, bedurfte, nur in einer reduzierten Form verabschiedet werden. Zu einer zweiten frühen Belastungsprobe führte der plötzliche und unangekündigte Rücktritt des Finanzministers und SPD-Vorsitzenden, Oskar Lafontaine, des „Architekten“ des Wahlsiegs von 1998, von beiden Ämtern. Der persönliche und politische Gegensatz zwischen dem Kanzler und dem SPDVorsitzenden und Finanzminister war sehr schnell zu einer ernsthaften Belastung für die Regierung geworden. Der Rücktritt stürzte insbesondere die SPD in eine Krise, bot aber auch die Chance, Führungsstruktur und politische Programmatik neu zu justieren. Der Kanzler geriet ohne sein direktes Zutun in die komfortable Lage, den Parteivorsitz ohne Kampf übernehmen und mit Franz Müntefering einen, mit größeren Machtbefugnissen als zuvor ausgestatteten Generalsekretär seines Vertrauens benennen zu können. Der Rücktritt des Finanzministers ermöglichte es, Abschied von einem antiquierten Neo-Keynesianismus zu nehmen und eine Politik der Haushaltkonsolidierung in Angriff zu nehmen, die in der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung auch Erfolge zeitigte. Das Ziel einer ökologischen Modernisierung nahm in der Koalitionsvereinbarung einen prominenten Platz ein. Von einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen
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wie dem Dosenpfand oder einem Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energien abgesehen, sind in diesem Kontext vorrangig der seit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 heftig umstrittene Atomausstieg und die „ökologische Steuerreform“ zu nennen, deren Erträge zur Absicherung der Rentenkassen verwendet wurden. Das mit der Energiewirtschaft vereinbarte Verfahren sah eine befristete Betriebsgenehmigung von Atomkraftwerken, das Verbot des Baus neuer Kraftwerke und ab 2005 auch der Wiederaufbereitung atomarer Brennstoffe vor. Damit hat erstmals ein großes Industrieland den Weg des Ausstiegs aus der Atomenergie beschritten. Erwartungsgemäß kam es in diesem in hohem Maße kontroversen Feld zu massiven Auseinandersetzungen mit der Opposition, die über den Bundesrat versuchte, die Vorhaben der Regierung zu verhindern. Diese entwickelte eine wahre Meisterschaft darin, Gesetzesvorhaben so zu gestalten oder in Einzelvorhaben aufzuspalten, dass wesentliche Ziele nicht zustimmungspflichtig waren und damit von der Opposition nicht blockiert werden konnten. Mit dem Abgang von Oskar Lafontaine und der Berufung des ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel zum Finanzminister wurde nach nur wenigen Monaten ein Wechsel in der Finanzpolitik eingeleitet, der das erklärte Ziel hatte, die im Zuge der deutschen Einheit dramatisch gestiegene Staatsverschuldung abzubauen und im Jahre 2006 erstmals seit 1970 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen. Mit massiven Einsparungen in den Einzelhaushalten, der Veräußerung von Staatsunternehmen und durch den lukrativen Verkauf der UMTS-Frequenzen gelang es, trotz verringerter Einnahmen durch eine Steuerreform bis zum Jahre 2001 diesem Ziel schrittweise näher zu kommen (Zohlnhöfer, 2003: 202 ff.). Die bevorstehende Bundestagswahl im Jahre 2002 verminderte allerdings die Bereitschaft zum Sparen. Dies hatte zwei problematische Effekte: Zum einen überstieg die Neuverschuldung des Bundes die Investitionsausgaben und entsprach damit nicht mehr den Vorgaben des Grundgesetzes. Dies führte auf Antrag der CDU/CSU und der FDP zu einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Für das internationale Ansehen der Bundesrepublik noch problematischer war die Tatsache, dass es im Jahre 2002 erstmals zu einer, bis zum Wahltag sorgsam kaschierten, Überschreitung der im Vertrag von Maastricht vorgesehenen und seinerzeit von Deutschland mit Nachdruck geforderten Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts kam. In den folgenden Jahren hat Deutschland diese Obergrenze stets deutlich überschritten und auf verschiedenen Wegen, im Bündnis mit anderen, versucht, diese Regel aufzuweichen. Die von der Regierung in mehreren Schritten eingeleitete Steuerreform gehört unzweifelhaft zu den Aktivposten der rot-grünen Bundesregierung. Freilich konnte das als „größtes Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ angekündigte Paket nur zum Teil verwirklicht werden, insbesondere gelang es nicht, das seit Jahrzehnten von allen Regierungen versprochene Ziel einer radikalen Steuervereinfachung zu erreichen. Die Steuertarife für natürliche Personen wurden erheblich gesenkt, Eingangs- und Spitzensteuersatz sind so niedrig wie nie zuvor. Personengesellschaften sind faktisch von der Gewerbesteuer befreit, was für die Gemeinden erhebliche negative Folgewirkungen hatte, zumal die Kommunalsteuerreform ausgeblieben ist. Ferner wurden die Steuern
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Haushaltskonsolidierung als zentrales Ziel der Finanzpolitik
Steuerreform
für Kapitalgesellschaften deutlich gesenkt, auch wenn sie im internationalen Vergleich noch in der Spitzengruppe liegen. Nach In-Kraft-Treten der ersten Stufe der Steuerreform wurde die zweite kurzerhand auf das Jahr 2004 verschoben um, wie die Begründung lautete, die Folgen des Elbe-Hochwassers im Jahre 2002 zu bewältigen. Hier zeigt sich ein Charakteristikum der Regierungspolitik Schröders, der, wie der unerwartete Wahlsieg im gleichen Jahr zeigte, durchaus mit Erfolg, auf aktuelle Probleme reagierte, auch gegen den Rat der Fachminister. Er vermittelte mit solchen Entscheidungen aber nicht nur den Eindruck, seine Politik sei kurzatmig, sondern er ließ es auch zu, dass Vertrauen in die Verlässlichkeit der Politik der Bundesregierung nicht entstehen konnte. Als nach dem Wahlsieg 2002 nicht mehr zu übersehen war, dass sich die Konjunktur auf absehbare Zeit nicht erholen werde, beschloss die Regierung am 1. Januar 2003 die für das Jahr 2005 vorgesehene dritte Stufe der Steuerreform auf den 1. Januar 2004 vorzuziehen. Zur Verwirklichung dieser Ziele brauchte die Regierung die Zustimmung der Union, die im Bundesrat über die Mehrheit verfügte. Hier, wie in anderen Politikbereichen, bildete sich de facto eine Art großer Koalition heraus, da die CDU/CSU über ihre Bundesratsmehrheit alle zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben blockieren konnte. Arbeitsmarkt- und Bei ihrer Amtsübernahme sah sich die Regierung mit einer Arbeitslosenrate Sozialpolitik von über neun Prozent konfrontiert. Wie ihre Vorgängerregierung versprach sie, die deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit zur Kernaufgabe ihrer Politik zu machen und wie ihre Vorgängerin ist sie daran gescheitert. Mit einem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ versuchte die Regierung in der Tradition des bundesdeutschen Korporatismus mit den Tarifpartnern und wichtigen Verbänden einen Ausweg – ohne Erfolg (Blancke/Schmid 2003; Czada, 2005: 176). Gleiches gilt für entsprechende Aktivitäten auf der Ebene der Bundesländer (Reutter, 2004:103). Nachdem die Regierung unmittelbar nach Amtsantritt einige ihrer auf die klassische sozialdemokratische Wählerklientel zielende Wahlversprechen realisiert hatte (u.a. die Rücknahme gelockerter Bestimmungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), bot der Rücktritt Lafontaines die Chance eines Kurswechsels. In einem mit großem publizistischen Aufwand lancierten gemeinsamen Papier des Kanzlers und des britischen Premierministers, Tony Blair (Autoren waren die jeweiligen Berater Bodo Hombach und Peter Mandelson), wurde eine Neuorientierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Richtung eines „aktivierenden Sozialstaats“ angekündigt. Allerdings ließ, nicht zuletzt bedingt durch relativ positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im Jahre 2001, der Reformeifer nach, bevor er recht begonnen hatte. Erst im Vorfeld der Wahlen des Jahres 2002 wurden dann die Maßnahmen auf den Weg gebracht, in deren Mittelpunkt der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit und die so genannten Hartz-Reformen standen, die im März 2003 mit der „Agenda 2010“ in einen abgestimmten und kohärenten Politikentwurf mündeten. Ähnliche Schwankungen wie die Arbeitsmarkpolitik erlebte auch die Sozialpolitik, wo, nach anfänglicher Umsetzung von Wahlversprechen neue Wege beschritten wurden – mit der Reform des Sozialgesetzbuches, in der Rentenpolitik („Riester-Rente“), der Gesundheitspolitik oder der Familienpolitik. Auch hier sind in der Endphase der 14. Legislaturperiode erste Weichenstellungen erfolgt
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und Entscheidungen getroffen worden, die nach dem Wahlsieg 2002 weitergeführt und umgesetzt werden konnten. Der Kanzler hatte seine „Agenda 2010“ unter dem Eindruck schwindender Zustimmung in der Öffentlichkeit und eines wachsenden Handlungsdrucks angesichts alarmierender Wirtschafts- und Sozialdaten unter Umgehung der eigenen Partei im Bundeskanzleramt vorbereitet, wohl wissend, dass eine solche weit reichende Korrektur klassischer sozialdemokratischer Politikkonzepte nicht nur innerparteilichen Widerstand hervorrufen, sondern auch die entschiedene Ablehnung der Gewerkschaften finden werde, die dann auch gegen die Agenda-Politik mobilisierten und sogar mit dem Bruch des strategischen Bündnisses mit der Sozialdemokratie drohten. Den SPD-Parteivorstand konnte der Kanzler nur mit der offenen Drohung eines Rücktritts zu einer Zustimmung bewegen. Die Partei folgte schließlich dem Kurs des Kanzlers, bewahrte sich aber stets eine mentale Reserve gegenüber einer Politik, die von Teilen der SPD und der Gewerkschaften, zumal jenen, die dann im Jahre 2005 zur WASG abwanderten, als im Kern „neoliberal“ abgelehnt wurde.
Massive Konflikte des Kanzlers mit seiner Partei wegen der Agenda-Politik
3.5.3 Sicherheit als vorrangiges Politikziel nach dem 11. September 2001 Der 11. September markiert einen fundamentalen Wandel im Leben moderner Gesellschaften. Die terroristischen Angriffe auf die Symbole der wirtschaftlichen und militärischen Macht der USA haben eine tiefe Verunsicherung, eine verbreitete Angst und Ratlosigkeit über den richtigen Umgang mit solchen Bedrohungen hervorgerufen. Spätere Anschläge in Touristenzentren wie der Insel Djerba und auf Bali, die Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater und in einer Schule in Beslan im Nord-Kaukasus, die Attentate in Madrid am 11. März 2004 und London am 7. Juli 2005 haben zwar eine geringere Symbolwirkung entfaltet als die Zerstörung des World Trade Center in New York und der Angriff auf das Pentagon, ihre Botschaft war gleichwohl eindeutig: Es gibt keinen öffentlichen Ort, an dem man wirklich „sicher“ sein kann. An die Stelle einer konkreten Bedrohung durch einen exakt benennbaren Feind ist eine diffuse, nicht lokalisierbare, nicht vorhersehbare Gefährdung getreten, vor der es keinen wirklichen Schutz und auf die es keine klare und eindeutige Antwort gibt. Die bisher gültigen Regeln des Umgangs mit äußeren und inneren Bedrohungen erscheinen unzureichend, die Grenzen zwischen äußerer und innerer Gefährdung werden verwischt. In der Bundesrepublik wurde mit einer Reihe von Gesetzesinitiativen, die in „Das zwei so genannte „Sicherheitspakete“ gebündelt wurde auf die neue Lage rea- Sicherheitspaket I“ giert. Ausgangspunkt war die Einschätzung, dass der internationale Terrorismus sich zu einer weltweiten Bedrohung entwickelt habe und das „Ausmaß der Gewalt, die logistische Vernetzung der Täter und ihre langfristig angelegte, grenzüberschreitende Strategie“ eine Fortentwicklung der gesetzlichen Instrumente erfordere (BT Drs. 14/7386 [neu]: 1). Zahlreiche Sicherheitsgesetze wurden der neuen Bedrohungslage angepasst, darunter das Bundesverfassungsschutzgesetz, das MAD-Gesetz, das BND- Gesetz, das Bundesgrenzschutzgesetz und das Bun-
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Änderungen des Vereinsgesetzes und Abschaffung des „Religionsprivilegs“
Das „Sicherheitspaket II“
deskriminalamtgesetz. Hinzu kamen Änderungen im Ausländergesetz und anderen ausländerrechtlichen Vorschriften. Begründet wurden diese zum Teil erheblichen Veränderungen und Erweiterungen von Befugnissen der Sicherheitsorgane mit der Notwendigkeit, einen besseren Datenaustausch zu ermöglichen und bereits die Einreise terroristischer Straftäter nach Deutschland zu verhindern (BT Drs. 14/7386 [neu]: 1). In einem ersten, unmittelbar nach den Anschlägen erarbeiteten Sicherheitspaket wurde als wichtigste Entscheidung eine Neuregelung des Vereinsgesetzes beschlossen, die es ermöglicht, Vereinigungen zu verbieten, die unter dem Schirm religiöser Organisationen extremistische und den Terror unterstützende Aktivitäten entfalten. Die Abschaffung des so genannten Religionsprivilegs des Vereinsgesetzes aus dem Jahre 1964 ist bereits am 8. Dezember 2001 in Kraft getreten. Zuvor fielen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen nicht unter das Vereinsgesetz. Jetzt können Vereinigungen verboten werden, wenn sie die Religionsausübung als Deckmantel für extremistische Ziele missbrauchen, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten oder den Gedanken der Völkerverständigung missachten. Der Gesetzgeber legte Wert auf die Feststellung, dass die Änderung des Vereinsgesetzes keinen Eingriff in die Religionsfreiheit oder das Staatskirchenrecht (Art. 4 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 f. Weimarer Reichsverfassung) darstelle. Die Änderung des Gesetzes zielt auf Einrichtungen, die für sich den Status einer religiösen beziehungsweise weltanschaulichen Vereinigung reklamieren und die zur Durchsetzung ihrer Glaubensüberzeugungen Gewalt befürworten oder gewalttätige Gruppen finanziell oder organisatorisch unterstützen. Nur wenige Tage nach In-Kraft-Treten des Gesetzes wurde die bekannteste dieser Gruppen, der Kölner „Kalif Staat“, durch das Bundesinnenministerium verboten. In das Strafgesetzbuch wurde ein neuer § 129b eingefügt, der es ermöglicht, die Mitgliedschaft oder Unterstützung terroristischer Gruppen und Bestrebungen auch dann zu verfolgen, wenn diese im Ausland agieren und über keine eigene Organisationsbasis in Deutschland verfügen. Damit wurden die Regelungen des 1977 eingeführten § 129a StGB fortgeschrieben und der neuen Bedrohungssituation angepasst. Damit reagierte der Gesetzgeber auch auf einen Beschluss der Europäischen Union vom Dezember 1998, in dem die Mitgliedstaaten aufgefordert worden waren, dafür zu sorgen, dass die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, die in einem Mitgliedstaat der EU ihre Operationsbasis hat oder ihre strafbare Tätigkeit ausübt, in jedem Staat der EU strafrechtlich verfolgt werden kann. Das zweite, weiter reichende „Sicherheitspaket“ umfasste vor allem die Erweiterung von Kompetenzen der Sicherheitsorgane und weitere Verschärfungen im Ausländerrecht. Am 1. Januar 2002 ist eine Reihe neuer Regelungen in Kraft getreten, die die Arbeit der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den internationalen Terrorismus verbessern und unterstützen sollen. Weitere Sicherheitsgesetze wurden der neuen Bedrohungslage angepasst. Das Bundesverfassungsschutzgesetz, das MAD-Gesetz, das BND-Gesetz, das Bundesgrenzschutzgesetz, das Bundeskriminalamtgesetz sowie das Ausländergesetz und andere ausländerrechtliche Vorschriften wurden novelliert. Mit
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diesen Änderungen wurden den Sicherheitsbehörden zusätzliche als notwendig erachtete gesetzlichen Kompetenzen übertragen und der Datenaustausch zwischen den Behörden verbessert. So wurde dem Bundesamt für Verfassungsschutz das Recht übertragen, auch Bestrebungen zu beobachten, die sich „gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ oder gegen das „friedliche Zusammenleben der Völker“ richten, beides sind eher allgemein gehaltene und weit auslegbare Formulierungen. Zur Erforschung der Geldströme und Kontobewegungen erhielt das Bundesamt für Verfassungsschutz die Befugnis, Informationen über Konten und Konteninhaber bei Banken und Finanzunternehmen, Luftverkehrsunternehmen, Telefongesellschaften und bei der Post einzuholen. Änderungen erfolgten auch beim Bundesgrenzschutzgesetz. Die neu geschaffene Polizei des Bundes, die bereits nach der deutschen Einheit die Aufgaben der Bahnpolizei übernommen hatte, erhielt neue und zusätzliche Kompetenzen. Die Ereignisse des 11. September wurden auch zum Anlass genommen, um Änderungen im weitere Änderungen im Ausländerrecht und im Asylverfahrensrecht zu verab- Ausländer- und Asylrecht schieden. Die Änderungen im Ausländergesetz sehen vor, dass Personen, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen oder einer Vereinigung angehören, die den internationalen Terrorismus unterstützt, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten und einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen den Terroranschlägen des 11. September 2001 und den Aktivitäten islamistischer Gruppen in der Bundesrepublik unverkennbar ist und die Anschläge in Madrid und London drastisch gezeigt haben, dass die Bedrohung durch den fundamentalistischen Terrorismus nicht von außen, sondern aus der Gesellschaft selbst kommt, drängt sich doch der Eindruck auf, dass die Gelegenheit genutzt wurde, diejenigen Änderungen in den Ausländergesetzen einzuführen, die entweder bereits geplant, aber bisher umstritten waren und den „Wunschkatalog“ der Ausländerbehörden so weit als möglich zu realisieren. Eine besondere Bedrohungslage bot die Chance dazu. Viele der Bestimmungen der beiden Sicherheitspakte waren nicht, wie die Regierung behauptete, als notwendige Antworten auf eine unmittelbar drohende neue Gefahr zu erkennen, sondern hatten allenfalls einen indirekten Bezug zum Terrorismus, wie zum Beispiel die neuen Methoden der Identifikation von Asylbewerbern und Bestimmungen, die einen Missbrauch der Sozialsysteme verhindern sollen. Einige Regelungen verletzen die anerkannten Standards des Datenschutzes und des 1983 vom Bundesverfassungsgericht kreierten Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“ (BVerfGE 65, 1). Insgesamt sind die Antworten des deutschen Gesetzgebers auf die neue terroristische Bedrohung weitaus zurückhaltender ausgefallen als in vielen anderen europäischen Ländern. Dahinter steht die (unausgesprochene) Einsicht, dass auch eine rigorose Ausweitung und partielle Verletzung rechtsstaatlicher Normen, wie sie in Großbritannien in Ansätzen, in den USA als direkt attackiertem Land in weit größerem Umfang, keinen größeren Schutz der Öffentlichkeit vor
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terroristischen Anschlägen und Attentaten gewährleisten kann. Demokratischen Gesellschaften stehen nur begrenzte Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus zur Verfügung, weil sie nicht selbst zu Mitteln uneingeschränkter Repression greifen können.
3.5.4 Was bleibt vom rot-grünen „Projekt“?
Der unerwartete Sieg bei der Bundestagswahl 2002
Der Führungsstil Schröders
„Rätedemokratie“
Die Regierungszeit der rot-grünen Bundesregierung kann, je nach Sichtweise als Erfolgsgeschichte oder als eine Zeit der wiederkehrenden Krisen beschrieben werden – beide Perspektiven haben einiges für sich. Die Krisenperspektive erklärt, warum im Jahre 2002 alles darauf hindeutete, dass die Regierung nach nur einer Legislaturperiode abgewählt werden würde. Sprunghaftigkeit, mangelnde Kontinuität und eine unverkennbare Inkonsistenz verschiedener politischer Vorhaben, verbunden mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten auf Grund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ließen die Zustimmung zur Regierungspolitik und die Unterstützung der sie tragenden Parteien erodieren. Es waren günstige Umstände, die dazu führten, dass SPD und Bündnis90/Grüne nach den Wahlen des Jahres 2002 erneut die Regierung stellen konnten. Der Sieg bei den Bundestagswahlen war wesentlich der Fähigkeit des Kanzlers zuzuschreiben, in aussichtslos erscheinenden Situationen Siegeszuversicht und Optimismus zu verbreiten. Es gehörte zum Führungsstil Gerhard Schröders, der gelegentlich als erratisch und unstet empfunden wurde, dass er, nicht zuletzt auf Grund eher unterentwickelter ideologisch motivierter Grundüberzeugungen, die Fähigkeit besaß, sich veränderten Situationen anzupassen und sich bietende Gelegenheiten zu nutzen, um die eigene Position zu festigen. Die Art und Weise, wie der Kanzler sich als „Retter in der Not“ bei drohenden Firmenpleiten oder im Wahlkampf 2002 in den ostdeutschen Flutgebieten präsentierte, belegen dies ebenso wie die von außenpolitischen Rationalitätserwägungen freie Form der Ablehnung eines drohenden Krieges im Irak. Eine zweite Konstante war das Verhältnis des Kanzlers zu seiner eigenen Partei, der SPD. Er hatte seinen politischen Aufstieg weit gehend gegen die eigene Partei, genauer gegen den Parteiapparat organisiert und so auch, mit Unterstützung der Medien, die Anwartschaft auf das Kanzleramt gewonnen. In seiner ersten Amtszeit versuchte er, zumal nach der Übernahme des Parteivorsitzes, einen modus vivendi mit der Partei, ohne ihr aber einen allzu starken Einfluss auf die Regierungspolitik zuzubilligen. Die Entscheidung für die Agenda 2010 ließ ihm keine andere Wahl, als alles auf eine Karte zu setzen - mit Erfolg, denn letztlich folgte ihm die Partei auf einem außerordentlichen Parteitag am 1. Juni 2003. Sowohl gegenüber seiner eigenen Partei als auch in Krisensituationen im Deutschen Bundestag setzte der Kanzler erfolgreich auf eine Politik des „brinkmanship“ (Niclauß, 2004: 356), weil ein Misserfolg zwangsläufig den Rücktritt provoziert hätte. Ein drittes Element ist ein Regierungsstil, der als „government by commission“ (Czada, 2005: 189) bezeichnet werden kann. Die Konzipierung und Vorbereitung weit reichender Entscheidungen fand, oft unter weit gehender Ausschal-
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tung des Parlaments als der von der Verfassung dafür vorgesehenen gestaltenden und Richtung weisenden Kraft, in enger Zusammenarbeit des Kanzleramts mit Kommissionen und Beiräten statt, sodass häufig von einer „Rätedemokratie“ oder „Räterepublik“ gesprochen wurde (Niclauß, 2004: 315). Beim Bündnis für Arbeit wurde auf etablierte korporatistische Verhandlungsmuster zurückgegriffen, die auch in der Regierungszeit Helmut Kohls existierten (das Bündnis war 1995 gescheitert). Kommissionen und Beratungsgremien wurden zu einer Vielzahl von Themen eingesetzt – eine Kommission zur Zukunft der Bundeswehr unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, deren Arbeit in der Aktenablage verschwand, eine Kommission zur Bekämpfung der Rinderseuche BSE, eine „Nationaler Ethikrat“, eine mit dem Blick auf die nahen Bundestagswahlen 2002 eingesetzte Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes unter Vorsitz des VW-Personalvorstands Peter Hartz oder die nach dem Wahlsieg eingesetzte Kommission unter Leitung des Finanzwissenschaftlers Bert Rürup, die ein Konzept für die grundlegende Reform des Renten- und Gesundheitssystems erarbeiten sollte. Während die Ergebnisse der „HartzKommission“, wenngleich mit mäßigem Erfolg, in mehreren Gesetzespaketen umgesetzt werden konnten, zeigte die „Rürup-Kommission“ die Grenzen einer solchen Politik auf. Der Versuch, alle Interessengruppen einzubinden, führte nicht zu einer sachbezogenen Arbeit, vielmehr wurden kommissionsinterne Debatten in die Öffentlichkeit getragen und führten zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen, bei denen, demokratietheoretisch in hohem Maße problematisch, das Parlament allenfalls eine Nebenrolle spielte. Die Regierung von SPD und Bündnis90/Grüne war 1998 angetreten ein neu- Was bleibt vom „rotes politisches „Projekt“ zu verwirklichen. Davon ist wenig übrig geblieben. We- grünen Projekt“? der die emphatisch angekündigte „ökologische“ Modernisierung“, noch eine radikal veränderte Umweltpolitik können als Markenzeichen dieser Regierung gelten. Die tiefsten Spuren hat sie beim Umbau des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme hinterlassen. Dieser war am Ende ihrer Amtszeit bei weitem nicht beendet. Es mag als eine Ironie des Schicksals erscheinen, dass zwei Koalitionspartner, die seit den 1980er-Jahren durch starke anti-etatistische und pazifistische Impulse geprägt waren, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Entscheidungen trafen, die dazu führten, dass in der Regierungszeit von RotGrün die Sicherheitsapparate ausgebaut und mit neuen Kompetenzen versehen und die Bundeswehr erstmals bei kriegerischen Konflikten außerhalb der Bündnisgrenzen der NATO eingesetzt wurden. Die Umwandlung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer international agierenden Streitmacht stellt einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik dar.
3.6
Bündnis wider Willen: Die vorgezogene Bundestagswahl 2005 und die erneute Große Koalition
Die vorgezogene Bundestagswahl vom 18. September 2005 zeigte ein unerwartetes Ergebnis. Hatten im Jahre 2002 glückliche Begleitumstände wie die Flutka171
Steter Vertrauensverlust der Regierung
Vertrauensfrage nach Art. 68 GG und Auflösung des Bundestages
Auslegung des Art. 68 GG durch das Bundesverfassungsgericht
tastrophe in Ostdeutschland und die populistisch aufgeladene Weigerung an einem möglicherweise bevorstehenden Krieg im Irak teilzunehmen, zu einem unerwarteten Sieg der Regierungskoalition von SPD und Bündnis 90/Grüne beigetragen, so schien bei diesen vorgezogenen Neuwahlen ein Sieg der Opposition sicher. In der ersten Amtsperiode der rot-grünen Regierung hatte unmittelbar nach dem Regierungsantritt eine Erosion des Ansehens eingesetzt. Der Anteil der Bürger, die mit der Arbeit der Regierung unzufrieden waren, schwankte zwischen etwa 60 und 70 Prozent, fiel nach den Wahlen vom 22. September kurzfristig auf 57 Prozent um dann rapide auf häufig deutlich über 80 Prozent anzusteigen. Im September 2005 waren 74 Prozent der Bundesbürger mit der Regierung unzufrieden, nur 25 äußerten Zufriedenheit. Diese verheerenden Daten hatten sich in mehreren Landtagswahlergebnissen, zuletzt in Schleswig-Holstein Anfang 2005 niedergeschlagen, wo die CDU überraschend nach fast zwei Jahrzehnten wieder stärkste Partei wurde und führten schließlich am 22. Mai 2005 zum Verlust des „Stammlands“ der SPD, Nordrhein-Westfalen, wo die Sozialdemokraten seit 1966 ohne Unterbrechung, z.T. mit absoluten Mehrheiten regiert hatten. Der Kanzler nahm das Wahlergebnis zum Anlass, in einem überraschenden Coup am Abend des Wahltags anzukündigen, dass er die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG stellen werde, umso zur Auflösung des Bundestages und vorgezogenen Neuwahlen zu kommen (zum Verlauf vgl.: ZParl 1/2006: 19 ff.). Am 1. Juli 2005 stimmte der Deutsche Bundestag über den Antrag des Bundeskanzlers ab, der, erwartungsgemäß, nicht die erforderliche Mehrheit der Mitglieder des Parlaments erhält. Am 21. Juli kündigte der Bundespräsident an, dass er dem Antrag des Kanzlers, den Bundestag vorzeitig aufzulösen, zustimmen werde, da aus seiner Sicht die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben seien. Auf Antrag zweier Abgeordneter wurde das Bundesverfassungsgericht mit der Angelegenheit befasst, dessen Zweiter Senat am 25. August die vorgebrachte Organklage abwies und den Weg zu vorgezogenen Wahlen frei machte. Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Gelegenheit, sein problematisches Urteil von 1983 partiell zu revidieren und weiter zu entwickeln. Das Kernargument lautet, dass letztendlich die Frage, ob der Kanzler, wie es im Urteil von 1983 formuliert worden war (und im Antrag von Gerhard Schröder explizit aufgegriffen wurde), „eine von der stetigen Zustimmung der Mehrheit getragene Politik“ weiter betreiben könne, mit juristischen Mitteln nicht zu beantworten sei. Der vom Kanzler vorgetragenen und vom Bundespräsidenten zustimmend zur Kenntnis genommenen Lagebeurteilung sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen. Das Bundesverfassungsgericht prüfe die zweckgerechte Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang. In den Leitsätzen heißt es: „a) Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Die Einschätzung der Handlungsfähigkeit hat Prognosecharakter und ist an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden. b) Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen.
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Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden. c) Drei Verfassungsorgane – der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident – haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren.“ (Leitsätze 2 BvE 4/05; 2 BvE 7/05)
Die Bundestagswahl vom 18. September 2005 brachte ein völlig unerwartetes und folgenreiches Ergebnis: Die CDU/CSU fiel mit 35,2% auf den Stand von 1998, dem schlechtesten Ergebnis seit 1949 zurück, die SPD verlor über 4% der Stimmen, erreichte aber mit 34,2% deutlich mehr Stimmen als alle Umfragen signalisiert hatten. Die FDP verbesserte ihr Ergebnis, ganz offensichtlich auf Kosten der CDU/CSU auf 9,8%, die neu formierte Linke (PDS und WASG) erreichte 8,7% und Bündnis 90/Grüne 8,1% der Wählerstimmen. Dieser Wahlausgang ließ theoretisch zwei Optionen zu: eine Große Koalition oder ein Bündnis von CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Grüne, dem Journalisten die Bezeichnung „Jamaika-Koalition“ gegeben hatten. Die letzte Variante erwies sich sehr schnell als unrealistisch und wurde nicht ernsthaft weiter verfolgt. Unter dem Zwang der Verhältnisse einigten CDU/CSU und SPD sich relativ zügig auf eine Koalition, der das Prädikat „Groß“ nur mit Einschränkungen zugewiesen werden kann. Die Koalition repräsentiert zwar 69,4% der Wähler, verglichen mit den 86,9%, die seinerzeit ihre Vorgängerin von 1966 in Anschlag bringen konnte, signalisiert sie zugleich den relativen Bedeutungsverlust der beiden großen Volksparteien. In gewisser Weise wurde mit dieser Koalition etwas formal vollzogen, was zuvor in der 15. Legislaturperiode, trotz aller nach außen zelebrierten politischen Gegnerschaft, informell in vielen entscheidenden Bereichen der Politik bereits bestanden hatte, war die Regierung Schröder doch bei allen bedeutenden Gesetzesvorhaben, sei es die Umsetzung der „Agenda 2010“, die Gesundheitspolitik oder das Zuwanderungsgesetz, auf die Unterstützung der Union im Bundesrat angewiesen. Gleichwohl waren die Verhandlungen der langjährigen politischen Kontrahenten kompliziert, zumal sie durch Turbulenzen beim präsumtiven Koalitionspartner SPD überschattet wurden. Der erst seit März 2004 als Nachfolger Gerhard Schröders amtierende Parteivorsitzende, Franz Müntefering, trat unversehens zurück, als er einen Personalvorschlag für den Generalsekretär der SPD nicht durchsetzen konnte. Auch die Vorsitzende der CDU, Angela Merkel, war angesichts des schlechten Wahlergebnisses angeschlagen – eine Fronde gegen sie kam primär deshalb nicht zu Stande, weil der amtierende Kanzler sie und die CDU/CSU in einer Diskussionsrunde nach der Wahl in einer als unflätig wahrgenommenen Weise angegriffen hatte, was zwangsläufig dazu führte, dass die Union ihre Reihen hinter der Kanzlerkandidatin schloss, die, nicht zum ersten Mal in ihrer politischen Laufbahn, die Krise zu nutzen wusste, um ihre Stellung in der Partei zu stärken. Am 11. November 2005 präsentierten die neuen politischen Partner einen über zweihundert Seiten umfassenden Koalitionsvertrag, der unter dem lyrischen 173
Unerwartetes Wahlergebnis
Die erneute Große Koalition
Ziele der Koalition
Titel „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“ als Aufgabe der neuen Regierung folgende Leitlinie formuliert: „Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demographischer Wandel und der Veränderungsdruck der Globalisierung verlangen große politische Anstrengungen, um heutigen und künftigen Generationen ein Leben in Wohlstand zu sichern... Wir werden unsere parlamentarische Mehrheit für strukturelle Reformen in Deutschland nutzen, Mut machen zur Anstrengung und das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit des Landes stärken.“ (http://www.bundesregierung.de/Anlage920135/Koalitionsvertrag.pdf).
Die vor der Regierung liegenden Aufgaben sind immens: Eine dramatische Staatsverschuldung muss drastisch zurückgefahren werden, im Bereich der Arbeitsmarktpolitik haben alle Reformversuche der letzten Jahre keine substanzielle Verbesserung erreichen können, die Sozialsysteme sind angesichts demographischer, wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen neu zu justieren, das föderale System der Bundesrepublik bedarf einer Reform, die es in die Lage versetzt, neuen Aufgaben und dem Prozess der Europäisierung gerecht zu werden, der zunehmenden Abkopplung ganzer Regionen im Osten Deutschlands von der wirtschaftlichen Entwicklung muss entgegen gewirkt werden, die Zukunftschancen des Landes müssen gestärkt werden und soziale Desintegrationsprozesse, neue Armut und Migrationsprobleme fordern politische Antworten und schließlich gilt es, das Vertrauen der Bürger in die „Politik“ wieder zu gewinnen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten politischer Konfrontation zwischen zwei La gern – Rot-Grün auf der einen, Schwarz-Gelb auf der anderen Seite – gelang des der Koalition bemerkenswert schnell, einen modus vivendi zu finden. Anders freilich als bei ihrer Vorgängerin von 1996 bis 1969 verrät die Art und Weise, in der die beiden Großprojekte Föderalismusreform und Gesundheitsreform angepackt wurden, welchen Schwierigkeiten und Problemen wichtige Strukturentscheidungen gegenüberstehen. Der Reform der Finanzverfassung im Jahre 1969 und der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben lag eine kohärente, wenngleich in ihren Auswirkungen heute heftig kritisierte Reformstrategie zu Grunde. Demgegenüber erweist sich die Föderalismusrefom des Jahres 2006 als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses mit vielen Vetospielern und zweifelhaften Kompromissen, die vor allem von den Machtinteressen der Bundesländer bestimmt waren. Hier wie bei der Gesundheitsreform zeigt sich, dass die Große Koalition anders als ihre Vorgängerin über keine großen Visionen verfügt. Es gibt auch keine Blaupause für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben, wie sie, wenn auch nur für kurze Zeit, das Theorienarsenal des Keynesianismus Mitte der 1960erJahre zur Verfügung stellte. Die Koalition hat sich darauf verständigt, eine Politik der kleinen Schritte zu verfolgen um die im Koalitionsvertrag markierten Aufgaben zu erledigen. Statt eines „großen Wurfs“ setzt sie auf „piecemeal politics“.
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II Krisen und gescheiterte Konsolidierung: Politik in der DDR
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4.1
Das politische System der DDR
Grundlagen des politischen Systems der DDR
Ähnlich wie die Bundesrepublik stand die DDR bei ihrer Gründung vor einem doppelten Dilemma. Als Produkt des Kalten Krieges und der Politik der Besatzungsmächte war sie ein Separatstaat, dem es an eigener Legitimität mangelte. Wie die Bundesrepublik versuchte auch sie, sich als die deutsche, demokratische Republik darzustellen und wie diese nahm sie für sich in Anspruch, die künftige staatliche Heimstatt für alle Deutschen zu sein. Im fundamentalen Unterschied zur Bundesrepublik aber war die Staatsgründung, der Aufbau und die Entwicklung der neuen politischen Ordnung nicht von der, wenngleich anfangs eher zögerlichen Zustimmung der Bevölkerung und einer demokratischen Entwicklung flankiert. Die delikate Verbindung von Oktroi der Alliierten und freier Entscheidung der Bürger in der Bundesrepublik fand keine Parallele in der DDR. Während in den Westzonen eine Gewöhnung an die Demokratie einsetzte, verbreiterten politische Repression und sozial-ökonomischer Umbau in der SBZ den Graben, der die Besatzungsmacht und die SED von der Bevölkerung trennte. Die SED – abhängig vom Willen der Besatzungsmacht, die lange nicht wusste, ob das sozialistische Experiment im einen Teil Deutschlands dauerhaft sein sollte – hätte sich unter günstigeren Umständen möglicherweise durchaus auf eine Zustimmung in der Bevölkerung stützen können, übte sie doch die Macht in dem Teil des alten Reiches aus, in dem die traditionellen Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung lagen. Da aber alle Wege eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus und einer eigenständigen demokratisch-sozialistischen Entwicklung angesichts der machtpolitischen Konstellationen im Nachkriegsdeutschland des beginnenden Kalten Krieges verstellt waren und die Besatzungsmacht vor allem daran interessiert war, eine ihr willfährige politische Führung zu etablieren und an der Macht zu halten, waren die Versuche der SED, politische Legitimation zu erlangen, zum Scheitern verurteilt. Angesichts des Fehlens einer breiten Zustimmung für ihre Politik verließ sie sich auf politischadministrative Zwangsmittel und die Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht. Was als Umgestaltungsprozess begonnen hatte, der – trotz aller Probleme im Einzelnen – eine gewisse Unterstützung in Teilen der Bevölkerung gefunden hatte, geriet zunehmend und immer schneller zur „Revolution von oben“.
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Die politische und sozialökonomische Umgestaltung in der SBZ als „Revolution von oben“
Angesichts einer in ihrer Mehrheit im günstigsten Falle gleichgültigen Bevölkerung kam es der SED vor allem darauf an, ihre Macht möglichst schnell auch auf die Bereiche der Gesellschaft auszudehnen, die sich bisher ihrem Einfluss entzogen hatten oder die in der Phase des Übergangs der „antifaschistischdemokratischen Ordnung“ eine gewisse Eigenständigkeit hatten bewahren können. Es galt dem Willen der kommunistischen Partei, der SED, umfassend Geltung zu verschaffen. Ein starker Staat und eine der Partei hörige Bürokratie sollten dieses Ziel umfassend verwirklichen helfen. Die neu geschaffenen bürokratischen Apparate und Organisationen waren vor allem Mobilisierungsinstrumente; ihre Arbeit zielte darauf ab, alle Mitglieder der Gesellschaft am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen. Dabei kam es nicht in erster Linie auf ökonomische Effektivität und organisatorische Rationalität an, sondern darauf, den Willen der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft umzusetzen. Politik in der DDR war bis zu ihrem Ende stets ideologisch begründete Politik. Ideologische Wahrnehmungsraster bestimmten die Vorstellungswelt der politischen Klasse, der Nomenklatura und ihrer Gefolgschaft.
4.1.1 Verfassungs- und Rechtsverständnis des MarxismusLeninismus Die Verfassung als Instrument im Klassenkampf
Dem Marxismus-Leninismus war das liberale Verfassungsverständnis immer fremd. Die SED hat liberal-bürgerliche Verfassungsvorstellungen stets abgelehnt, da sie Ausdruck des Klasseninteresses der Bourgeoisie seien. Die Abtretung bestimmter persönlicher Rechte der formell gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieder an die Gemeinschaft diene einzig und allein der Mehrung des Privateigentums und der Sicherung der alten Eigentumsverhältnisse (Wörterbuch zum sozialistischen Staat, 1974: 373f). Sozialistische Verfassungen beriefen sich auf die Verwirklichung der objektiven geschichtlichen Mission der Arbeiterklasse. Das marxistisch-leninistische Verfassungsverständnis kündigte also den Kompromisscharakter bürgerlicher Verfassungen auf und betonte demgegenüber die ökonomischen und sozialen Grundlagen der politischen Ordnung der sozialistischen Gesellschaft und berief sich dabei auf objektive historische Gesetzmäßigkeiten. Instrumentales Gleichwohl hat es erhebliche Veränderungen im Verfassungsverständnis und Verfassungs- in den Verfassungsnormen gegeben. Anders als in der Bundesrepublik, in der das verständnis der SED Grundgesetz – trotz einiger einschneidender Veränderungen – zur dauerhaften normativen Grundlage der politischen Ordnung geworden ist, die selbst den epochalen historischen Bruch von 1989/90 überdauert hat, war das Verfassungsverständnis der SED (und der sowjetischen Besatzungsmacht) instrumental. Die Verfassung diente zuvörderst der rechtlichen Fixierung eines ideologisch begründeten Herrschaftsanspruchs.
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4.1.2 Demokratischer Anspruch und politische Realität: Die Verfassung der DDR von 1949 Bereits im Jahre 1946 setzten in der Sowjetischen Besatzungszone erste Überlegungen über eine zukünftige deutsche Verfassung und die zu schaffenden Länderverfassungen ein. Anfangs war neben der SED, die im wesentlichen die Positionen der Besatzungsmacht vertrat, auch die CDU aktiv an der Diskussion beteiligt. Die Liberalen hielten sich programmatisch in jeder Weise zurück und konzentrierten sich vor allem auf Tagesprobleme. Am 14.11.1946 war auf einer außerordentlichen Parteivorstandssitzung der im April des gleichen Jahres aus SPD und KPD entstandenen SED der „Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik“ in der „Gewissheit“ veröffentlicht worden, „dass nur durch eine demokratische Volksrepublik die Einheit der Nation, der soziale Fortschritt, die Sicherung des Friedens und die Freundschaft mit den anderen Völkern gewährleistet“ werden könne (Dokumente der SED, 1951: 114). Vorausgegangen war die Proklamation der „Grundrechte des Deutschen Volkes“, ebenfalls durch den Parteivorstand der SED (Dokumente der SED, 1951: 91ff.). Der Verfassungsentwurf begann mit einem Bekenntnis zur nationalen Einheit. Deutschland sei eine „unteilbare, demokratische Republik, gegliedert in Länder“. Er enthielt einen ausgefächerten Grundrechtskatalog, der soziale Grundrechte einbezog, und detaillierte Aussagen über die Wirtschaftsordnung. Das Prinzip der Gewaltenteilung wurde abgelehnt. Die politischen Entscheidungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – Enteignungen, Bodenreform, die Reform des Schulwesens und die Einführung des Volksrichtersystems – wurden im Verfassungsentwurf festgeschrieben. Im Zusammenhang mit den Landtagswahlen in der SBZ vom Oktober 1946 wurden von der SED in enger Absprache mit der sowjetischen Militäradministration auch Überlegungen für die zukünftigen Länderverfassungen angestellt, die dann in einem Landesverfassungsentwurf ihren Niederschlag fanden (Der Text ist abgedruckt bei Braas, 1987: 436ff.). Die CDU entwickelte in den Jahren 1946/47 ebenfalls detaillierte Vorstellungen über eine zukünftige deutsche Verfassung und die Verfassungen der deutschen Länder. Bereits im April 1946 wurde von einem Verfassungsausschuss bei der Reichsgeschäftsstelle der CDU in Berlin erste Überlegungen für eine zukünftige deutsche Verfassung angestellt. Sie bildeten die Grundlage für „Thesen zu einer neuen Reichsverfassung“, die im Juni 1946 vom Verfassungsausschuss der Unionstagung der CDU in Berlin verabschiedet wurden. Die CDU forderte darin einen „Deutschen Staat auf der Grundlage einer Gliederung nach Ländern“. Für diese Länder wurden im Herbst des gleichen Jahres ein „Landesverfassungsentwurf“ der CDU erarbeitet, der als Rahmenentwurf für die neuen Landesverfassungen dienen sollte. Auch hier war in dem Abschnitt „Grundlagen“ ein deutliches Bekenntnis zu einem deutschen Gesamtstaat enthalten. Im Gegensatz zum SED-Entwurf waren in den verfassungspolitischen Erklärungen und Dokumenten der CDU alle zentralen Elemente einer liberal-demokratischen Verfassung enthalten: allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen, die Verantwortlichkeit der Regierung, verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Kontrolle und die Aufnahme von Grundrechten in die Landesverfas179
Verfassungsdiskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit
Verfassungsvorstellungen der CDU in der SBZ
Die Verfassungen der Länder
Die Gründungsverfassung der DDR von 1949 und Bezüge zur Weimarer Reichsverfassung
Verfassungsrechtliche Regelungen für eine sozialistische Entwicklung
sungen bis zu einer reichsrechtlichen Regelung. Enthalten war auch das Bekenntnis zum Berufsbeamtentum (Braas, 1987: 74). Damit stand den Vorstellungen des SED eine klare, rechtsstaatliche und demokratische Alternative gegenüber, die aber auf Grund der wachsenden Repressionen gegenüber den „bürgerlichen Parteien“ nicht zum Tragen gekommen ist. 1946/47 erhielten die fünf Länder der sowjetischen Besatzungszone (die bereits 1952 im Zuge der Übernahme stalinistischer Sozialismusvorstellungen wieder aufgelöst wurden) Verfassungen: Thüringen (20.12.1946), die Provinz Sachsen-Anhalt (10.1.1947), Mecklenburg (16.1.1947), die Mark Brandenburg (6.2.1947), Sachsen (28.2.1947). Die Länder bezeichneten sich in ihren Verfassungen als Glieder der Deutschen Demokratischen Republik. Die Landesverfassungen enthielten einige Grundentscheidungen, die die zukünftige Verfassungsentwicklung in der DDR vorzeichneten (Roggemann, 1989: 39). Die Gründungsverfassung der DDR von 1949 war keine „sozialistische“ Verfassung nach dem Vorbild der sowjetischen Verfassung von 1936, ließ jedoch den Weg zu einem sozialistischen System offen und ermöglichte im gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Bereich die sozial-ökonomische Umgestaltung der DDR. In vielen ihrer Formulierungen knüpfte sie an Vorstellungen des demokratischen Sozialismus und der Weimarer Reichsverfassung an. Dies betraf vor allem die Betonung der sozialen Grundrechte (Recht auf Arbeit, Art. 15; Recht auf Erholung, Urlaub und soziale Vorsorge, Art. 16; Recht auf ein der Leistung entsprechendes Arbeitsentgelt und gleichen Lohn für Mann, Frau und Jugendliche bei gleicher Leistung, Art. 18 Abs. 3 und 4; Recht auf eine bedürfnisgerechte Wohnung, Art. 26 Abs. 2; Recht auf soziale Fürsorge für die Mutterschaft, Art. 32; Recht auf Schul- und Lernmittelfreiheit, Art. 39). In Anlehnung an die Weimarer Verfassung sollte auch das Wirtschaftsleben nach den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit geregelt werden. Die Verfassung garantierte „die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen“ (Art. 19), sicherte den Bauern, dem Handel und den Gewerbetreibenden Unterstützung bei der „Entfaltung ihrer privaten Initiative“ zu und forderte den Ausbau der „genossenschaftlichen Selbsthilfe“ (Art. 20). Die bereits vor Gründung der DDR begonnene Wirtschaftsplanung in Art. 21, die Ermächtigung zur entschädigungslosen Enteignung in Art. 23 und 24 und zur Vergesellschaftung in Art. 27 sowie die Verpflichtung, die Montan- und Energieindustrie in Volkseigentum umzuwandeln (Art. 25), stellten die verfassungsrechtlichen Instrumentarien für eine sozialistische Umgestaltung der DDR zur Verfügung. Elemente einer marxistisch-leninistischen Entwicklung finden sich auch in der Aufkündigung des Prinzips der Gewaltenteilung. Es fehlte vor allem eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wurde dem Verfassungsausschuss der Volkskammer übertragen (Art. 66). Durch das Fehlen einer dem Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik entsprechenden allgemeinen Rechtsschutzklausel wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihren Möglichkeiten von vornherein erheblich eingeengt. Von besonderem Gewicht für die Gestaltung der politischen Ordnung war die Einführung des Blocksystems in Art. 92, nach dem die Fraktionen im Ver-
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hältnis ihrer Stärke an der Regierung zu beteiligen waren – eine Opposition im Parlament war also verfassungsrechtlich nicht vorgesehen.
4.1.3 Die Verfassung des „realen Sozialismus“ Schon unmittelbar nach Inkrafttreten der DDR-Verfassung am 7.10.1949 hatte ein Prozess des Verfassungswandels durch Gesetzgebung eingesetzt (Roggemann, 1989: 50ff.). Die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen in der DDR hatten den auf Gesamtdeutschland zielenden deklaratorischen Charakter der Verfassung erkennen lassen. An die Verwirklichung zentraler Verfassungsziele war ernsthaft nie gedacht. Die Verfassung wurde mehr und mehr zur Hülse. Das Auseinanderfallen von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit war bereits in den Anfangsjahren der DDR unübersehbar, wurde aber in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zu einer politischen Belastung für die SED, die sich erst im Zusammenhang mit der tiefen Krise des Sozialismus sowjetischen Typs in der ýSSR im Jahre 1968 entschloss, eine neue, „sozialistische“ Verfassung zu erarbeiten. Die Verfassung von 1968 bestätigte den seit den Anfangsjahren der DDR stattgefundenen gesellschaftlichen Umwälzungsprozess. Ihre Novellierung am 25. Jahrestag der DDR 1974 stellte eine erneute Anpassung an die veränderten innen- und außenpolitischen Gegebenheiten dar. Wie eng die jeweiligen Verfassungen die grundlegenden politischen Vorstellungen und damit das instrumentelle Verfassungs- und Staatsverständnis der SED widerspiegeln, zeigt ein Vergleich der Formulierungen, die den Charakter der DDR beschreiben. 1949 lautete Artikel 1 der Verfassung: „Deutschland ist eine unteilbare Demokratische Republik; sie baut auf den deutschen Ländern auf.“ Damals hatte sich die DDR noch, ähnlich wie die Bundesrepublik, als vorläufigen staatlichen Teil einer gespaltenen Nation gesehen, über deren Fortbestand es – trotz der Teilung Deutschlands – bis zum Beginn der 1970er-Jahre keinen Zweifel gab. In der Verfassung von 1968 hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“ 1974 wurde diese Formulierung fallen gelassen. Seither lautete diese Passage: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Die zitierten Veränderungen signalisieren ein gewandeltes Selbstverständnis. Sie kennzeichnen die zentralen Probleme eines Staates, der sich als Teil einer gespaltenen Nation in einer politisch-historischen Situation etablierte, in der in Bezug auf die nationale Frage noch keine endgültigen Optionen bestanden. Als Folge dieser Unklarheit stand auch die gesellschaftliche und politische Ordnung, die bereits vor Gründung der DDR geschaffen worden war, zumindest potentiell zur Disposition.
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Verfassungswandel durch Gesetzgebung
Verfassungsrechtliches Selbstverständnis der DDR
Eliminierung des Begriffs der deutschen Nation in der Verfassung von 1974
Beseitigung von Grundrechten
Bindung der Grundrechte an Grundpflichten
Die Verfassung von 1968 und die veränderte Fassung von 1974 formulierten demgegenüber die Grundelemente eines sozialistischen Staates nach sowjetischem Vorbild: die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei, die politischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung, die Einheit der Gewalten, Bündnispolitik, Struktur und Funktion des politischen Systems und das angebliche Fehlen antagonistischer Interessen. Indem die Verfassungsänderung von 1974 den Begriff der deutschen Nation eliminierte, vollzog sie einen Bruch mit dem tradierten Selbstverständnis der DDR, die bis dahin ihre Rolle als Wegbereiter einer sozialistischen Zukunft für Gesamtdeutschland betonte. Sie leitete ihre Legitimation aus der Tatsache her, dass in der DDR die alte Klassengesellschaft überwunden worden und so ein Vorbild für ein zukünftiges Gesamtdeutschland entstanden sei. Die „sozialistische“ Verfassung von 1968 beseitigte eine Reihe von Grundrechten der Verfassung von 1949. Dazu gehörten das Widerstandsrecht (Art. 4 Abs. 1), das Streikrecht (Art. 14 Abs. 2), die Wahl von Betriebsräten (Art. 17 Abs. 2), das Auswanderungsrecht (Art. 10 Abs. 2). Das gleiche galt für Bestimmungen über die Wirtschaftsordnung. Das bäuerliche Privateigentum an Grund und Boden (Art. 24 Abs. 5) und die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen (Art. 19 Abs. 3) der Verfassung von 1949 wurden ebenso den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepasst wie Regelungen über den Staatsaufbau, die Rechtsprechung, die Rechte der Volksvertretungen usw. Die DDR-Verfassung von 1974 formulierte in ihrem II. Abschnitt umfangreiche Grundrechte und Grundpflichten der Bürger: die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Recht der Jugend auf besondere Förderung (Art. 20), das Recht zur Mitgestaltung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens (Art. 21), die Meinungsfreiheit (Art. 27), die Versammlungsfreiheit (Art. 28), die Vereinigungsfreiheit (Art. 29), den Persönlichkeitsschutz (Art. 30), die Freizügigkeit „innerhalb des Staatsgebietes“ der DDR (Art. 32). Geschützt wurden auch soziale Rechte wie das Recht auf Bildung (Art. 25), auf Arbeit (Art. 24), auf Freizeit und Erholung (Art. 34), Gesundheit (Art. 35), soziale Fürsorge (Art. 36), Wohnraum (Art. 37) und der Schutz der Familie (Art. 38). Kennzeichnend für das Verfassungsverständnis der DDR war, dass den Grundrechten Grundpflichten entsprachen. Artikel 24 Abs. 1 lautete z.B.: „1. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit. Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung. 2. Gesellschaftlich nützliche Tätigkeit ist eine ehrenvolle Pflicht für jeden arbeitsfähigen Bürger. Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit.“
Grundrechte und Grundpflichten bestimmten nicht nur die Stellung des einzelnen Bürgers in der Gesellschaft, die DDR-Verfassung kannte auch „kollektive“ Grundrechte und Grundpflichten, die von Betrieben, Städten und Gemeinden oder gesellschaftlichen Organisationen wahrgenommen wurden.
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Nach Auffassung marxistisch-leninistischer Verfassungstheorie bildeten in- Schwächung dividuelle und kollektive, persönliche und soziale Grundrechte eine untrennbare individueller Grundrechte Einheit. Die Gleichrangigkeit dieser Grundrechte verbiete es, sie „willkürlich und subjektiv wechselseitig über- oder unterzuordnen, einander gegenüberzustellen oder auszuschließen“ (Politische und persönliche Grundrechte, 1984: 14). Das bedeutete aber nichts anderes, als dass die individuellen Grundrechte politisch gebunden waren, die individuellen Freiheiten blieben auf der Strecke. Ein solches Grundrechtsverständnis hatte zur Folge, dass individuelle Rechte nicht eingeklagt werden konnten, sei es auf dem Wege der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sei es mit Hilfe eines Verfassungsgerichts. Nicht die rechtliche Nachprüfung und Korrektur staatlichen Handelns sicherte nach Auffassung der Staatsrechtler der DDR die Einhaltung und Respektierung der Grundrechte; die „entscheidenden Garantien für die Grundrechte“ seien vielmehr die „ politischen und ökonomischen Machtverhältnisse“. Sie bestimmten „den realen Wesensgehalt der Grundrechte im Sozialismus“ (Politische und persönliche Grundrechte, 1984: 72). Die DDRRechtslehre verwies stets auf die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle, auf das Eingabenrecht, auf Beschwerdemöglichkeiten und auf das Prinzip der Staatshaftung. Alle diese Einspruchs- und Beschwerdemöglichkeiten der Bürger wurden jedoch in der Verwaltung, nicht aber von einer unabhängigen gerichtlichen Instanz abschließend entschieden. Es bleibt das Fazit, dass dem einzelnen Bürger kein zuverlässiger Schutz seiner Grundrechte garantiert wurde. Ursache dafür war die ideologisch begründete Auffassung, dass rechtliche Regelungen, seien es Verfassungen oder allgemeine Rechtsnormen, in allen Gesellschaften Ausdruck der Klassenverhältnisse und Machtmittel der herrschenden Klasse seien. Die Idee des Verfassungsstaates und des Rechtsstaates sei also nur eine Verschleierung dieser sozial-ökonomischen und politischen Determiniertheit des Rechts. Das Recht war Ausdruck der neuen politischen Verhältnisse und wurde ausschließlich politisch-instrumental betrachtet und gehandhabt. Verfassung und Recht dienten den politischen Zielen des Staates bzw. der SED.
4.1.4 Ideologische Grundlagen der Herrschaft der SED Die Etablierung des Sozialismus in den mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern nach 1945 war, von Jugoslawien abgesehen, nicht das Ergebnis einer innergesellschaftlichen Transformation kapitalistischer Produktionsverhältnisse, sondern Fernwirkung der in Jalta beschlossenen Aufteilung Europas in Einflusszonen der Großmächte, zu denen in der Folge des II. Weltkrieges auch die Sowjetunion gestoßen war. 1. Der Sozialismus etablierte sich in der Sowjetunion, China, Korea, Jugosla- Grundlagen des wien, Albanien, Rumänien, Bulgarien, später in Kuba und Vietnam als Mo- Sozialismus sowjetischen Typs dernisierungssystem. Er setzte sich das Ziel, die Industrialisierung eines zurückgebliebenen Landes durch eine gewaltige, von der kommunistischen Partei initiierte und gelenkte Anstrengung in kurzer Zeit nachzuholen. Dies forderte ungeheure menschliche und soziale Opfer. Die kommunistische Par-
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tei konnte dabei kaum auf die Unterstützung einer Bevölkerung rechnen, die durch diesen Prozess sozial und kulturell entwurzelt wurde. 2. In den Ländern Mittel- und Osteuropas (mit der Ausnahme Jugoslawiens) präsentierte sich der Sozialismus als Okkupationsregime. Das ökonomische und politische System der Sowjetunion wurde – mit geringfügigen Abwandlungen – sowohl auf „moderne“ Länder, wie die DDR oder die Tschechoslowakei als auch auf noch nicht voll entwickelte Gesellschaften, wie Bulgarien oder Rumänien, übertragen, ohne die völlig verschiedenen sozial-ökonomischen, kulturellen und historischen Voraussetzungen in Rechnung zu stellen. Die Sowjetunion war die politische, ökonomische, militärische und ideologische Führungsmacht. 3. Ob es sich um industriell entwickelte oder zurückgebliebene Länder handelte, die marxistisch-leninistische Transformationsvorstellung bot für die unterschiedlichen Gesellschaften nur eine Strategie an: die bürokratischzentralistische Regulierung aller politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen durch die marxistisch-leninistische Partei, die sich selbst als Avantgarde begriff.
„Demokratischer Zentralismus“ als grundlegendes politisches Organisationsprinzip
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der historischen Legitimation der Systeme des „realen Sozialismus“. Sie waren entstanden und übten ihre Herrschaft aus, weil sie ein politisches Ziel zu verwirklichen trachteten. Insoweit waren sie Zielkulturen („goal cultures“). Es ging ihnen um die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft, in der – so lautete der Anspruch – die Herrschaft von Menschen über Menschen abgeschafft und eine neue politische und gesellschaftliche Kultur verwirklicht werde. Die kommunistischen Parteien repräsentierten Bewegungen, welche die politische und gesellschaftliche Kultur transformieren wollten („culture transforming movements“). Die Verwirklichung des gesellschaftspolitischen Ziels, unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus und schließlich die kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen, bedurfte nach Auffassung der SED (wie der anderen regierenden kommunistischen Parteien) einer starken, einheitlichen Führung und einer nach einheitlichen Prinzipien gestalteten Politik. Dieser allumfassende Führungsanspruch der Partei fand seinen Niederschlag in einer hyperzentralisierten Struktur des politischen Systems (Bàlla, 1972: 267). Politik, Wirtschaft und Verwaltung waren ebenso wie alle anderen gesellschaftlichen Vollzüge einem einheitsstiftenden Prinzip unterworfen – dem „demokratischen Zentralismus“. Mit seiner Hilfe setzten die Parteiführungen ihren Willen innerhalb der kommunistischen Parteien selbst und gegenüber der Gesamtgesellschaft durch. Der demokratische Zentralismus, im zaristischen Russland von den in der Illegalität operierenden Bolschewiki entwickelt und von Lenin in seiner Schrift „Was tun?“ aus dem Jahre 1902 theoretisch begründet, war in der Zwischenkriegszeit zum herrschenden Organisationsprinzip der Parteien der Kommunistischen Internationale geworden und wurde nach dem II. Weltkrieg in den sozialistischen Ländern von einem innerparteilichen zu einem Strukturprinzip der gesamten Gesellschaft erhoben. Der demokratische Zentralismus schuf eine dichotome Struktur der Gesellschaft. Die Partei stand als führende Kraft den Bürgern gegenüber, von denen 184
erwartet wurde, dass sie die von der Partei formulierten Ziele zu ihren eigenen machten. Er stellte zudem ein hierarchisches Verhältnis zwischen der Partei (bzw. Parteiapparat) und den übrigen „gesellschaftlichen Organisationen“ her. Verbände und Vereinigungen, die das Alltagsleben der Menschen mitgestalteten, waren keine eigenständigen Organisationen, die, wie in einer pluralistischen Gesellschaft, dem Willen ihrer Mitglieder Gehör verschaffen und ihre Interessen gegenüber der Politik vertreten sollten, sondern hatten als „Transmissionsriemen“ den Willen der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft umzusetzen – sei es in der Arbeitswelt, im Bildungswesen, der Wissenschaft oder Kultur. Ein ebenso instrumentales Verständnis hatte die SED auch von den Aufgaben und Funktionen des Staates. Er sollte nicht mehr, aber auch nicht weniger sein, als das „Hauptinstrument“ der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei, mit dessen Hilfe sie ihre politischen und gesellschaftlichen Ziele zu verwirklichen gedachte. Politik war im Verständnis des SED Staatspolitik. Das war nicht selbstverständlich angesichts einer Theorie, die sich auf Marx und Engels berief, deren Vision es gewesen ist, den Staat als Unterdrückungsinstrument abzuschaffen, nicht aber einen neuen, mit allen Machtmitteln ausgestatteten und demokratisch nicht legitimierten und kontrollierten Staat zu errichten. Der Marxismus-Leninismus beschrieb diesen neuen Typus von Staat als „Diktatur des Proletariats“ – Vorbild war die Sowjetunion. Die Errichtung dieser Diktatur war alles andere als ein Schritt zur Abschaffung des Staates – im Gegenteil. Die kommunistischen Parteien bauten einen starken und mit allen Machtmitteln ausgestatteten zentralistischen Staat auf, mit dessen Hilfe sie ihre Transformationsziele umzusetzen suchten. Im politischen Verständnis der SED sollte der Staat die Gesellschaft organisatorisch, die Partei sie politisch-ideologisch zusammenhalten. Der Staat musste parteilicher Staat sein und sich in allen seinen Handlungen vom Willen und den Absichten der Partei leiten lassen. Dies bedeutete, dass die SED durch organisatorische Vorkehrungen dafür zu sorgen hatte, dass staatliche Institutionen kein „Eigenleben“ entwickeln konnten. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und die Prinzipien der Kaderpolitik garantierten, dass die „staatlichen Organe“ vollständig von der SED abhängig waren und die Weisungen der Partei ausführten (Glaeßner, 1977). Durch die Vereinigung von staatlichem Eigentum an den Produktionsmitteln und staatlicher Bürokratie entstand eine Herrschaftsstruktur, die grundsätzlich keine konkurrierenden Ziele kannte (Hegedüs, 1981: 77). Jahrzehntelang wurde der extreme Zentralismus und der Mangel an Demokratie damit gerechtfertigt, dass nur so eine ökonomisch leistungsfähige und sozial gerechte sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden könne. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde offenkundig, dass die realsozialistischen Systeme immer weniger in der Lage waren, diese Ziele zu verwirklichen und die notwendigen Modernisierungsprozesse voranzutreiben. Zwischen dem umfassenden Führungsanspruch der Partei auf der einen und den Anforderungen einer komplexen industriell entwickelten Gesellschaft auf der anderen Seite, die ohne eine strukturelle Differenzierung, die Berücksichtigung von Rationalitäts- und Effektivitätskriterien in der zentral gelenkten und geplanten
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Der Staat als Herrschaftsinstrument der marxistischleninistischen Partei
Der Staat der Diktatur des Proletariats
Staatlicher Zentralismus als Hemmnis für die Modernisierung
Der Stalinismus als totalitäres Modernisierungssystem
Übertragung des Stalinismus auf Mittel- und Osteuropa als Krisenfaktor
Wirtschaft und ohne eine minimale Beteiligung der Bürger an den gesellschaftlichen Prozessen nicht auskommen konnte, gab es eine unüberwindbare Kluft. Der sowjetische Sozialismus war ohne eine starke, zentralistische Bürokratie nicht denkbar. Versuche, sie zu reformieren, schlugen regelmäßig fehl. Die Revolution von oben und der Aufbau des Sozialismus ließen für die demokratische Willensbildung und Beteiligung der großen Mehrheit der Bevölkerung keinen Raum. Angesichts ihres allumfassenden Regelungsanspruches sah sich die Partei gezwungen, neben ihren politischen auch wirtschaftlich-organisatorische Funktionen zu übernehmen. Mit dem Staats- und Wirtschaftsapparat und den Planungsbehörden schuf sie sich Institutionen, die ihrem Kommando unterstanden. Um eine Verselbständigung dieser Institutionen zu vermeiden, sah sie sich jedoch zugleich genötigt, parallele Kontrollorgane im Parteiapparat einzurichten, also eine Verdopplung der Bürokratie zu kreieren. In der Phase des Aufbaus des Sozialismus, die nach der Vorstellung Stalins durch eine Verschärfung des Klassenkampfes gekennzeichnet war, war die Aufgabe dieser Apparaturen vor allem politisch bestimmt. Es ging um die reibungslose Durchsetzung der Ziele der Partei. Die alten politischen und sozialen Strukturen sollten zerschlagen und mit Hilfe eines zentralisierten und von der Partei angeleiteten Planungssystems in kurzer Zeit die Entwicklung nachgeholt werden, für die der Kapitalismus fast ein Jahrhundert gebraucht hatte. Die Erfahrung der Sowjetunion (und einiger „sozialistischer“ Entwicklungsländer) zeigte, dass die neuinstallierten Planungs- und Leitungsapparate in dieser Phase des Übergangs durchaus in der Lage waren, wesentliche Aufgaben der gesellschaftlichen Transformation zu bewältigen – mit ungeheuren Opfern und unter Verlust der demokratischen und emanzipatorischen Ziele des Marxismus. Nach 1945 wurde nicht nur die sozial-ökonomische, sondern auch die politische Struktur des Stalinismus auf Osteuropa und die DDR übertragen. Die SBZ/DDR hatte aber weder eine beschleunigte Industrialisierung zu bewältigen noch verfügte sie über vergleichbare politische und kulturelle Traditionen, aus denen der sowjetische Despotismus der Stalinzeit zu erklären ist. Der Kern und die eigentliche Ursache aller politischen und sozialen Krisen in den Ländern Osteuropas und der DDR ist die Tatsache, dass die Sowjetunion auf Grund der nach 1945 entstandenen militärischen und geopolitischen Konstellation die Chance erhielt, ihren neuen Satelliten (oder Verbündeten) ein politisches, soziales und wirtschaftliches System überzustülpen, das für ganz andere sozial-ökonomische Ziele (die der Modernisierung und Industrialisierung eines zurückgebliebenen Landes) und eine ganz andere politische Kultur gedacht war. Die industriell entwickelten Staaten, insbesondere die DDR und die Tschechoslowakei standen also von Beginn vor dem Problem, dass ihnen politische und ökonomische Strukturen oktroyiert worden waren, die für ein Land konzipiert waren, in dem es galt, die Industrialisierung unter „sozialistischen“ Vorzeichen nachzuholen. Es war das Modell eines Modernisierungssystems mit totalitärem Anspruch, das zum Vorbild der sozialistischen Umgestaltung in der SBZ/DDR wurde. Für ein industriell entwickeltes, wenngleich durch den Krieg zerstörtes Land, bedeutete dies einen historischen Rückschritt mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen.
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4.2
Struktur und Funktionsweise des politischen Systems
Die ideologischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus Stalinscher Prägung bildeten die Grundlage für die Ausgestaltung des politischen Systems der DDR. Die Dominanz der Sowjetunion und der KPdSU haben dazu geführt, dass in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren in allen „Volksdemokratien“ ein weitgehend uniformes politisches Strukturmuster adaptiert worden ist, das, mit geringen Abweichungen, das sowjetische Vorbild kopierte. Die Grundelemente blieben bis zum Jahre 1989 erhalten. In vier Bereichen hatten sich die regierenden kommunistischen Parteien ein Organisationsmonopol aufgebaut:
Der MarxismusLeninismus und das Organisationsmonopol der kommunistischen Partei
1. Der Staat fungierte als Hauptinstrument der marxistisch-leninistischen Par- Der Staat tei. Seine Aufgabe war es, deren Ziele nach innen und nach außen durchzusetzen. Die SED gab die politische Leitlinie für die Tätigkeit der staatlichen Institutionen vor und griff in die tägliche Arbeit des Staatsapparates ein, wo immer es ihr opportun erschien. Sie kontrollierte die Durchführung ihrer Direktiven durch den Staatsapparat und sorgte für die Auswahl, Ausbildung, Weiterbildung und politische Schulung aller Mitarbeiter staatlicher Institutionen. Durch die Anleitung und Kontrolle aller mit der Wirtschaftsplanung befassten Institutionen übte die Partei den entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Gesellschaftssystems aus. 2. Parlamente und Parteien stellten die Verbindung zu den „Werktätigen“ her Parlamente und und sollten die Herrschaft der Partei legitimieren. Sie fungierten aber nicht Parteien als intermediäre Institutionen, sondern waren in ein hierarchisches Entscheidungssystem eingebunden, an dessen Spitze das Politbüro und der zentrale Parteiapparat der SED standen. Die Volksvertretungen (Volkskammer, Bezirkstage, Kreistage, Stadtverordneten- und Stadtbezirksversammlungen bzw. Gemeindevertretungen) wurden als eine besondere staatliche Form des Bündnisses der Arbeiterklasse mit den anderen Klassen und Schichten der Bevölkerung (den Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und sonstigen Werktätigen) verstanden. Dieser Bündnischarakter kam auch in der Repräsentanz der „Blockparteien“, der Christlich-Demokratischen Union (CDU), der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) zum Ausdruck. Neben der SED und diesen Parteien sind bis zu den ersten demokratischen Wahlen vom März 1990 auch einige Massenorganisationen in den Volksvertretungen präsent gewesen: der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD), die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und der Kultur-Bund (KB) und seit 1986 die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). Bis Ende 1989 war bei allen diesen Parteien und Organisationen unumstritten, dass die SED als führende politische Kraft anzuerkennen sei und man sich ihrem Führungsanspruch bedingungslos unterordnen müsse. Das Bündnis mit des SED spiegelte das vermeintlich enge „Bündnis befreundeter
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Klassen und Schichten in der DDR wider“ (Handbuch Deutsche Demokratische Republik, 1979: 234). Massen- 3. Die SED bediente sich der „Massenorganisationen“ als „Transmissionen“, organisationen d.h. als Organisationen, die wie Treibriemen bei einer Maschine den Willen der SED in der Gesellschaft umsetzen sollten. Zu nennen sind hier vor allem die Gewerkschaften und der Jugendverband. Diese Massenorganisationen waren darüber hinaus als „Schulen des Sozialismus“ gedacht; hier sollten Nichtparteimitglieder und Jugendliche organisiert und aktiviert werden, aus ihren Reihen rekrutierte die SED ihren Nachwuchs. Anders als in der Stalinzeit hatten diese Massenorganisationen aber auch partiell die Aufgabe, die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Partei oder dem Staatsapparat zu vertreten. Ihrem Selbstverständnis entsprechend bewegte sich diese Interessenvertretung allerdings nur in dem von der Partei gesteckten Rahmen. Sie waren bürokratische Interessenorganisationen in einem parteizentralistischen System, keine Interessenverbände im demokratischen Sinne. Agitation und 4. Die Partei beherrschte die Kommunikationsmittel. Sie organisierte und konPropaganda trollierte alle Mittel der politischen und ideologischen Beeinflussung. Mit Hilfe der Massenkommunikationsmittel, der Agitation und Propaganda und der Massenschulung sollte bei den DDR-Bürgern ein „sozialistisches Bewusstsein“ geschaffen oder gefestigt werden. Presse, Rundfunk Fernsehen, nahezu das gesamte Verlagswesen und viele Bildungseinrichtungen waren Eigentum der SED oder unterstanden ihrer Kontrolle. Parteioffizielle Definition des Begriffs „politisches System“
Wenn die SED vom politischen System der DDR sprach, dann meinte sie diesen, von ihr gelenkten und kontrollierten Verbund, in dem „die marxistisch-leninistische Partei das politisch-organisatorische Zentrum der Gesellschaft“ war, von dem allein die Richtlinien der Politik ausgingen. „Unter ihrer Führung werden alle anderen Bestandteile des politischen Systems tätig, die sich jedoch in ihrem gesellschaftlichen Wirkungsbereich und in ihrem Einfluß auf die Massen voneinander unterscheiden. Den wichtigsten Platz in diesem System nimmt der sozialistische Staat ein. Er erfaßt über die gewählten Machtorgane alle Bürger der DDR und verkörpert insofern die Einheit der sozialistischen Gesellschaft. Durch ihren Staat verwirklichen die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten vorrangig ihre politische Macht, fördern sie die Initiative und Tatkraft aller Bevölkerungsschichten, d.h. aller ihrer Bündnispartner.“ (DDR, 1978: 26 f)
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Abbildung 1: Die Führungsrolle der SED im politischen System der DDR SED Hauptinstrument
Verbindung zu den Werktätigen
Transmissionen
Staatsapparat
Volksvertretungen
Massenorganisationen
Agitation und Propaganda
Staatsrat Ministerrat Rat des Bezirks Rat des Kreises Rat der Stadt/ des Stadtbezirks Rat der Gemeinde Sicherheitsorgane MfS Volksarmee Polizei Justiz Wirtschaftsapparat Staatliche Plankommission Industrieministerien Wirtschaftsräte der Bezirke und Kreise Kombinate Ba n k e n
Volkskammer Bezirkstage Kreistage Stadtverordnetenversammlungen Stadtbezirksversammlungen Gemeindevertretungen Nationale Front Demokratischer Block (Mitglieder: SED, DBD, NDPD, CDU, LDPD, FDGB, FDJ, DFD, Kulturbund, VdGB)
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) Freie Deutsche Jugend (FDJ) Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF) Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB) Gesellschaft für Sport u n d Te ch n i k (GST) Kulturbund der DDR u .a .
Massenkommunikation (Rundfunk, Fernsehen) Massenagitation (z.B. Parteitage, Jahrestage) politisch-ideologische Schulung (Parteischulung, Schulung der Massenorganisationen)
Kommunikationsmittel
4.2.1 Wahlen und die Rolle der „Volksvertretungen“ Wahlen bedeuteten in der DDR nicht Auswahl, sondern Bestätigung. Bereits bei den Wahlen zum „Deutschen Volkskongress“ 1948 wurde nach Einheitslisten gewählt, auf denen die Mandate der Parteien nach einem bestimmten Schlüssel vorgegeben waren. Mit diesem bis zu den ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 beibehaltenen Einheitslistensystem bedeuteten Wahlen nicht Auswahl von Mandatsträgern verschiedener Parteien und politischer Überzeugungen, es ging auch nicht um die zahlenmäßige Zusammensetzung der Volkskammer und der örtlichen Volksvertretungen. Wahlen waren ein politisches Mobilisierungsinstrument der SED. Die Wahlvorbereitung und die Wahl selbst sollten die DDR-Bürger für die Parteiziele aktivieren, sie zu Wettbewerben und Selbstverpflichtungen ermuntern und die Tragfähigkeit der Bündnispolitik der SED demonstrieren. Der letzte Aspekt kam vor allem in der präfixierten Zusammensetzung der Volkskammer und der örtlichen Volksvertretungen zum Ausdruck. Artikel 5 der DDR-Verfassung besagte, dass die Bürger der DDR „ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen“ ausüben. Die
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Wahlen als Mittel politischer Mobilisierung
Kandidatenauswahl und Wahlvorgang
Praxis sah ein wenig anders aus. Die Kandidaten für die Wahl zu den Volksvertretungen wurden von den hauptamtlichen Leitungen der Parteien und Massenorganisationen nominiert, die im „Demokratischen Block“ vereinigt waren, oder von den Arbeitskollektiven in den Betrieben, Verwaltungen und Genossenschaften vorgeschlagen. Dieser Auswahlprozess unterlag den Prinzipien des demokratischen Zentralismus und den Kriterien der Kaderpolitik, sodass bereits in dieser Vorphase die entscheidenden personellen Weichenstellungen vorgenommen werden konnten (Lapp, 1982: 40ff.). Am Wahltag hatte der Wähler drei Möglichkeiten. Er konnte die Liste bestätigen, indem er den Wahlvorschlag – ohne die bereitstehende Wahlkabine zu benutzen – unverändert in die Urne warf. Dies tat die übergroße Mehrheit der Wähler, da jedes andere Verhalten als Weigerung aufgefasst wurde, sich „offen zur sozialistischen Gesellschaft zu bekennen“. Dieses Verfahren wurde umgangssprachlich als „Falten“, anstatt als Wählen bezeichnet. Theoretisch blieb auch die Möglichkeit, den Wahlvorschlag durchzustreichen oder einzelne Kandidaten von der Liste zu streichen. Da die Liste mehr Bewerber enthielt als Mandate zu vergeben waren, war diese Möglichkeit formal gegeben, wurde aber kaum genutzt. Fraktionen der Die Stärke der jeweiligen Fraktionen wurde bereits vor den Wahlen auf den Volkskammer Listen der Nationalen Front festgelegt und ist über lange Jahre hinweg gleich geblieben. Erst bei den Volkskammerwahlen 1986 hat sich insofern eine Veränderung ergeben, als die „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe“ (VdgB), die bereits einmal in den 1950er-Jahren in der Volkskammer vertreten war, eine neue Fraktion stellte. Ihre 14 Sitze wurden nicht durch eine Vergrößerung der Volkskammer, sondern durch die Verkleinerung der Fraktionen der Massenorganisationen bereitgestellt. Zur Einschätzung des realen Kräfteverhältnisses ist es wichtig anzumerken, dass in den Fraktionen der Massenorganisationen viele Mitglieder der SED vertreten waren, sodass deren offizielle Fraktionsstärke von 127 Mitgliedern weit übertroffen wurde. Tabelle 1: Fraktionsstärke der Parteien in der Volkskammer der DDR Fraktionen SED DBD CDU LDPD NDPD FDGB FDJ DFD KB VdgB insgesamt
1981 127 52 52 52 52 68 40 35 22 – 500
1986 127 52 52 52 52 61 37 32 21 14 50 0
Die auf solche Weise zu Stande gekommenen Volksvertretungen wurden als „die umfassenden staatlichen Machtorgane“ bezeichnet, in denen „die Arbeiterklasse und die mit ihr verbündeten Werktätigen ihre politische Macht ausüben“. Sie bildeten „die Grundlage des einheitlichen Systems der Staatsmacht in der DDR“
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und waren im Selbstverständnis „zugleich die vollständigste Verkörperung ihres demokratischen Charakters“ (DDR – Gesellschaft, 1978: 104). Die Volksvertretungen waren keine Institutionen aus eigenem Recht und mit eigener Verantwortlichkeit. Nach den Prinzipien des „demokratischen Zentralismus“ fungierten sie als Vollzugsorgane der marxistisch-leninistischen Partei. Einheitsstaat und demokratischer Zentralismus standen einer föderalen Gliederung des politischen Systems und kommunaler Selbstverwaltung entgegen. Die Volksvertretungen in den Bezirken, Städten, Kreisen und Gemeinden waren keine Institutionen subsidiärer Willensbildung, sondern Funktionalorgane in einem hierarchischen System der Willensbildung und Kontrolle.
4.2.2 Struktur und Funktionsweise des Staatsapparates Der DDR-Staat bestand aus drei Säulen: den Volksvertretungen (Volkskammer, Bezirkstage, Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen, Gemeindevertretungen) als formal höchsten Entscheidungsinstanzen, dem Staatsapparat und seinen Räten (Ministerrat, Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Stadt, Rat des Stadtbezirks oder der Gemeinde) als kollektiven Führungsorganen und der Gerichtsbarkeit (Oberstes Gericht der DDR – Generalstaatsanwaltschaft, Bezirksgericht – Bezirksstaatsanwalt, Kreisgericht – Kreisstaatsanwalt, Schiedskommissionen und Konfliktkommissionen). Eine Teilung der Gewalten zwischen Legislative, Exekutive und Judikative existierte nicht. Bereits die Verfassung von 1949 hatte das Prinzip der Gewalteneinheit festgeschrieben. Zum Staatsapparat gehörten der Staatsrat, der Ministerrat mit seinen Ministerien, Staatssekretariaten, Ämtern, Kommissionen, Verwaltungen und anderen Einrichtungen, wie z.B. der Nationale Verteidigungsrat, die örtlichen Räte in den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken und Gemeinden, die Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltschaft, die Sicherheitsorgane (Armee, Polizei, Staatssicherheitsdienst) und die Leiter derjenigen Ministerien, staatlichen Behörden und Einrichtungen, die mit der Planung und Leitung der Volkswirtschaft beauftragt waren (Industrieminister, Generaldirektoren der Kombinate). Im Staatsverständnis der SED fungierten diese Institutionen als Beauftragte der Volksvertretungen. Das grundlegende Organisationsprinzip war der demokratische Zentralismus. Er sollte gewährleisten, dass die Grundfragen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung von den zentralen staatlichen Planungs- und Leitungsinstitutionen entschieden wurden und dass diese Entscheidungen für alle nachgeordneten Institutionen verbindlich waren. Die Struktur des Staatsapparates spiegelte den Willen zur zentralen Entscheidung und Lenkung der Gesellschaft unter Führung der SED wider. Sie sollte die einheitliche Durchführung der staatlichen Aufgaben in allen Bereichen der Gesellschaft sichern und basierte auf einheitlichen Strukturprinzipien. Die Verfassung der DDR sah zwei zentrale kollektive Entscheidungsorgane vor: den Staatsrat und den Ministerrat. Der Staatsrat war kollektives Staatsoberhaupt, das für die völkerrechtliche Vertretung der DDR, die Ausschreibung von Wahlen, die Kontrolle der Gerichte und Staatsanwaltschaften und der Volksver-
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Drei Säulen des Staates
Funktion des Staatsrats
tretungen zuständig war. Er wurde von der Volkskammer für die Dauer einer Wahlperiode aus ihrer Mitte gewählt. Die faktische Personalentscheidung lag aber beim Politbüro und Sekretariat der SED. Den Vorsitz hatte Erich Honecker inne. Stellvertretende Vorsitzende waren neben Willi Stoph, Horst Sindermann, Egon Krenz und Günter Mittag (alle Mitglieder der SED), die Vorsitzenden der „Blockparteien“, Manfred Gerlach (LDPD), Gerald Götting (CDU), Heinrich Homann (NDPD) und Ernst Mecklenburg (DBD). 15 Mitglieder des Staatsrates gehörten der SED, weitere 15 den Blockparteien und Massenorganisationen an. Die Blockparteien stellten jeweils noch ein Mitglied des Staatsrates, je zwei Mitglieder stellten FDGB und DFD, je ein Mitglied die FDJ, die VdgB und der Nationalrat der Nationalen Front. Der Staatsrat übte laut Artikel 74 der DDR-Verfassung die ständige Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts aus, er nahm das Amnestie- und Begnadigungsrecht wahr, er berief die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und er wäre im Kriegsfall formaler politischer Befehlshaber gewesen. Die Aufsicht über die Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltschaften entsprach dem Prinzip der Gewalteneinheit, „wonach alle Staatsgewalt bei der gewählten Volksvertretung konzentriert ist und neben ihr keine unabhängige Instanz geduldet werden kann, die sich über die gewählten Volksvertretungen zu stellen in der Lage wäre“ (Handbuch Deutsche Demokratische Republik, 1984: 228). Der Nationale Der Nationale Verteidigungsrat, kurz vor Bildung des Staatsrates 1960 geVerteidigungsrat gründet, stellte so etwas dar wie eine Notstandsregierung im Wartestand. Er beschloss über die „allgemeine oder teilweise Mobilmachung“, und zwar bereits dann, wenn eine „bedrohliche Lage“ dies erforderte. Für den Fall des inneren oder äußeren Notstandes verfügte er über alle legislativen und exekutiven Vollmachten. Im Kriegsfall wäre der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates Oberbefehlshaber aller bewaffneten Kräfte der DDR gewesen: der Nationalen Volksarmee (NVA) einschließlich der Grenztruppen der DDR (rund 215.000 Mann), der Betriebskampfgruppen („Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ rund 350.000), der Deutschen Volkspolizei (DVP), der VP-Bereitschaft, des Wachregiments des Ministeriums für Staatssicherheit und schließlich, im Falle der Mobilmachung, der fast 400.000 Reservisten der NVA. Der Ministerrat Der Ministerrat (Vorsitzender: Willi Stoph) war die Regierung der DDR. Er wurde ebenso wie der Staatsrat von der Volkskammer gewählt. Die Zuständigkeit des Ministerrates regelte Artikel 76 der DDR-Verfassung. Da die Regierung nicht nur „klassische“ Regierungsgeschäfte wie die Regelung der auswärtigen Beziehungen, die Sicherung der inneren Ordnung oder die Verwaltung der Staatsfinanzen zu erledigen hatte, sondern oberste Entscheidungsinstanz eines zentral gelenkten und geleiteten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems war, waren ihr eine Vielzahl von Ministerien, Ämtern und zentralen Planungsgremien zugeordnet, z.B. die staatliche Plankommission als oberste Planungsbehörde, eine Vielzahl von Industrieministerien (z.B. für Schwermaschinen- und Anlagenbau, für chemische Industrie, für Erzbergbau, Metallurgie und Kali), ein Ministerium, das den Außenhandel organisierte, eines, dem die bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie unterstand, und andere mehr. Die einzelnen Ministe-
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rien waren formal für die Planung und Lenkung ihres Verantwortungsbereichs zuständig, jedoch kam es immer wieder zu Eingriffen der Partei und ihres Apparates. Grundlage ihrer Tätigkeit waren Beschlüsse der SED, von der Volkskammer verabschiedete Gesetze, Beschlüsse des Ministerrates und Statuten der Ministerien, die als Beschlüsse des Ministerrates Gesetzescharakter hatten. Alle grundlegenden Entscheidungen über politische und wirtschaftliche Fragen wurden auf der zentralen Ebene gefällt und waren für die nachgeordneten staatlichen Instanzen, die Räte der Bezirke, Kreise, Städte, Stadtbezirke und Gemeinden verbindlich. Diese „örtlichen Räte“ wurden in bestimmten Fällen in die Entscheidungsfindung einbezogen und hatten in der Regel bei der Durchführung einen Ermessensspielraum, waren jedoch an die politischen Vorgaben der SED und die Weisungen der übergeordneten zentralen Behörden und Ministerien gebunden. Ihre Kompetenzen waren mit dem „Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen“ vom Juli 1985 (GBI. I, Nr. 18: 213) präzisiert und erweitert worden. Die Räte und ihre Fachabteilungen bildeten den Staatsapparat auf der Bezirks, Kreis-, Stadt- oder Gemeindeebene. Die Ratsmitglieder wurden von den „örtlichen Volksvertretungen“ gewählt. Da es sich um Kaderpositionen handelte, unterlagen die Besetzung dieser Stellen den Kriterien der Kaderpolitik, was bedeutete, dass hier die Kaderabteilungen der SED ein entscheidendes Wort mitzureden hatten. Um die einheitliche staatliche Leitung vom Ministerrat über die Bezirke, Kreise, Städte bis hin zu den Stadtbezirken und Gemeinden sicherzustellen, waren die Fachorgane der Räte „doppelt unterstellt“, d.h. sie unterstanden sowohl dem Rat, der sie als kollektives Entscheidungsgremium eingerichtet hatte als auch dem Leiter des Fachorgans auf der übergeordneten staatlichen Ebene. Zugleich hatten sie Anweisungsfunktionen gegenüber den Fachorganen der nachgeordneten Räte. Nach dem Vorbild der Sowjetunion hat die DDR einen umfangreichen Sicherheitsapparat aufgebaut. Dazu zählten als oberste politische Instanz das Sekretariat für Sicherheitsfragen beim ZK der SED (Sekretär: Egon Krenz) und die entsprechende Abteilung im zentralen Parteiapparat, der Nationale Verteidigungsrat der DDR, die Nationale Volksarmee (NVA), die Deutsche Volkspolizei (DVP), das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Hinzu kamen die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ und die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), beides paramilitärische Verbände, die, wie die Kampfgruppen am 13. August 1961, die innere und äußere Sicherheit schützen sollten, bzw. wie die GST wichtige Aufgaben bei der vormilitärischen Ausbildung erfüllten (Programm der SED, 1976: 89f.). Der Führungsanspruch der SED in den Sicherheitsapparaten wurde vor allem durch „leitende Parteiorgane“ (Politoffiziere), die Prinzipien der Kaderpolitik und die Parteiorganisationen in den Sicherheitsapparaten gewährleistet. Die Parteiorganisationen und Politabteilungen arbeiteten nach besonderen, vom Zentralkomitee bestätigten Instruktionen und waren verpflichtet, enge Verbindungen mit den örtlichen Parteileitungen zu pflegen (Statut der SED, Art. 68). Die politische Kontrolle und Anleitung aller Sicherheitskräfte erfolgte durch das Politbüro der SED, das sich eine „Kommission für nationale Sicherheit“ zu-
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Zentralistische Struktur des Staatsapparates
Der Staatsapparat auf der regionalen und lokalen Ebene
Sicherheitsapparate und Staatssicherheit
gelegt hatte und durch die „Abteilung Sicherheitsfragen“ beim ZK. Die Durchsetzung der Parteibeschlüsse in der Nationalen Volksarmee wurde durch die „Politische Hauptverwaltung“, deren Leiter Stellvertreter des Verteidigungsministers und Mitglied des ZK der SED war, abgesichert. Diese Politorgane der NVA hatten eine eigenständige, der militärischen Leitungshierarchie parallel gelagerte Struktur. Ihre Mitarbeiter waren Parteifunktionäre; als solche waren sie weisungsabhängig. Das Ministerium für Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nahm im politischen System der Staatssicherheit DDR, wie in allen anderen sozialistischen Ländern, eine besondere Stellung ein. Es verstand sich nach Aussage ihres langjährigen Ministers, Erich Mielke, als „spezielles Organ der Diktatur des Proletariats, das in der Lage ist, und über alle Mittel verfügt, unter der Führung der ... [Partei] gemeinsam mit den anderen staatlichen Organen und bewaffneten Kräften in enger Verbundenheit mit den Werktätigen die Arbeiter-und-Bauern-Macht und die revolutionäre Entwicklung zuverlässig gegen jede konterrevolutionäre Tätigkeit äußerer und innerer Feinde ... zu schützen sowie die innere Sicherheit und Ordnung allseitig zu gewährleisten“ (Einheit, 1/1975: 44). Entsprechend wurden die Hauptaufgaben des Staatssicherheitsdienstes definiert: „1. Aufklärung und Entlarvung der gegen den Frieden und die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft gerichteten Pläne und Maßnahmen der imperialistischen Kräfte, 2. Aufdeckung der verbrecherischen Aktionen (Spionage, Diversion, Sabotage usw.) der imperialistischen Geheimdienste und ihrer Helfer in den sozialistischen Ländern, 3. Unterbindung jeder staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die politischen, ökonomischen und militärischen Grundlagen des Staates und 4. Aufdeckung und Mitwirkung bei der Überwindung von feindlichen Einflüssen und allen Umständen, die Staatsverbrechen und andere, die sozialistische Entwicklung hemmende Faktoren begünstigen!“ (Wörterbuch zum sozialistischen Staat, 1974: 349)
Neben politischen und militärischen Sicherungsfunktionen, wie sie alle Geheimdienste der Welt wahrnehmen, standen systemspezifische Aufgaben im Mittelpunkt der Arbeit des MfS. Dazu gehörten ökonomische Funktionen wie die Überwachung und Kontrolle der Industriebetriebe und Industrieverwaltungen, der Plandurchführung, Polizeifunktionen und die Übernahme staatsanwaltschaftlicher Aufgaben und Aufgaben des Justizvollzugs oder die Unterrichtung der Staatspartei über Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung (Fricke, 1991: 61ff.). Aufbau und Funktionsweise des Ministeriums für Staatssicherheit glichen im Wesentlichen dem des sowjetischen „Komitees für Staatssicherheit“ (KGB). Die nachrichtendienstliche Tätigkeit im Ausland, vor allem in der Bundesrepublik, oblag der „Hauptverwaltung Aufklärung“. Die innergesellschaftlichen Aufgaben wurden von einer Vielzahl von Spezialabteilungen wahrgenommen. Die Gliederung der Einrichtungen des Staatssicherheitsdienstes bis auf die regionale und Betriebsebene und die Beschäftigung eines großen Heeres von Informanten stellte sicher, dass das MfS über Informationen aus allen Bereichen der Gesellschaft verfügte. Zugleich hatte das Ministerium für Staatssicherheit bei allen kaderpolitischen Beschlüssen ein entscheidendes Wort mitzureden.
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Der Staatssicherheitsdienst verstand sich als „Schild und Schwert der Partei“ – die Embleme des KGB und des MfS zeigten diese beiden Symbole. Die Gesetze der Konspiration förderten die weitgehende soziale Abschottung der Mitarbeiter des MfS von der Bevölkerung in eigenen Wohngebieten, Freizeiteinrichtungen, Sportklubs etc. Das dadurch entstehende Kastendenken wurde bewusst gefördert – als „Tschekist“ stellte man sozusagen die Avantgarde der Avantgarde dar. Die Staatssicherheit war eines der wichtigsten Herrschaftsmittel der SED und wirksames Repressionsinstrument nach innen. Die politischen Vorgaben der SED bestimmten Ziele und Aufgaben des Ministeriums. Verselbständigungstendenzen der Staatssicherheitsbehörden versuchte die SED durch die enge personelle Einbindung der Führungsspitzen in das Politbüro und ZK und durch eine effektive Anleitung und Kontrolle durch die Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED, durch die Formulierung allgemeiner Arbeitsrichtlinien, kaderpolitische Weisungen und die Arbeit der Parteiorganisation im Staatssicherheitsdienst entgegenzuwirken. Wie alle anderen staatlichen Einrichtungen war das Ministerium für Staatssicherheit ein Instrument der politischen Herrschaft der SED. Sie war politisch verantwortlich für die durch das MfS ausgeübte Repression (Suckut/Süß, 1997).
4.2.3 Suprematie der SED und sozialistische Demokratie Struktur und Funktion des politischen Systems der DDR zeigen deutlich, dass an eine eigenständige Vertretung gesellschaftlicher Interessen in organisierter Form nicht zu denken war. Die demokratisch-zentralistische Struktur aller Staatsorgane, die Einheit der Gewalten und das Anerkennen der Führungsrolle der SED durch alle staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen sicherten die Suprematie der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis Par- Anleitung des tei – Staat, das sich ebenfalls nach den Prinzipien des demokratischen Zentralis- Staatsapparates durch die SED mus regelte. Das bedeutete eine ständige Anleitung des Staatsapparates durch den Parteiapparat. Diese Einflussnahme betraf die Ausarbeitung der politischen Linie für die Staatstätigkeit, die Kaderarbeit, d.h. Beeinflussung der Personalpolitik, die Kontrolle der Durchführung der Parteibeschlüsse im Staatsapparat durch den Parteiapparat, die Bildung von Parteigruppen in den staatlichen Institutionen, die ideologische Bildung und die Erteilung spezieller „Parteiaufträge“ an Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung (Wissenschaftlicher Kommunismus, 1974: 426f.). Strukturell manifestierte sich das Anleitungsverhältnis der SED gegenüber dem Staatsapparat im parallelen Aufbau des Parteiapparates und der politischen Führung der staatlichen Entscheidungsinstanzen durch den SED-Apparat. Diese Führung konnte sowohl auf der gleichen Strukturebene (z.B. der SED-Bezirksleitung gegenüber dem Rat des Bezirks) als auch durch eine höhere Parteiinstanz wahrgenommen werden.
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Abbildung 2: Anleitung und Kontrolle des Staatsapparates durch die SED
4.2.4 Die SED und ihre „Bündnispartner“ „Sozialistisches Mehrparteiensystem“
Das „sozialistische Mehrparteiensystem“ der DDR war formal ein Bündnis „befreundeter“ Parteien, in der Realität Ergebnis eines taktischen Kalküls der Kommunisten: In einer politisch besonders zugespitzten, durch die Ost-West-Konfrontation und die Teilung des Landes bestimmten Situation erschien es ihr angemessen, kein Einparteiensystem wie in der Sowjetunion zu errichten, sondern ihr Herrschaftsmonopol durch eine hierarchische Einbindung „bürgerlicher“ Parteien auch in den Bereichen der Gesellschaft abzusichern, die sie mit ihrer Ideologie und Politik nicht erreichen konnte. Der institutionelle Ausdruck dieser Absicht war der 1945 auf Initiative der KPD gegründete „Demokratische Block der Parteien und Massenorganisationen“, ein wirksames Instrument der Bündnispolitik im Sinne der SED. Die in ihm zusammengeschlossenen Parteien und Organisationen waren mit eigenen Fraktionen in den Volksvertretungen repräsentiert und konnten einen erheblichen Anteil der erwachsenen Bevölkerung zu ihren
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Mitgliedern zählen. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gehörten dem Demokratischen Block folgende Parteien und „Massenorganisationen“ an: Tabelle 2:
Mitgliedszahlen der Parteien und Massenorganisationen in der DDR
Parteien und Massenorganisationen SED DBD CDU LDPD NDPD FDGB FDJ DFD Kulturbund VdgB
Mitg lied er 2 ,3 M i o . 1 0 6 .0 0 0 1 2 5 .0 0 0 8 3 .0 0 0 91 . 0 0 0 9 ,5 M i o . 2 ,3 M i o . 1 ,4 M i o . 2 4 4 .0 0 0 5 6 0 .0 0 0
Quelle: Eigene Zusammenstellung
Die DDR-Gesellschaft hatte, wie die Mitgliederzahlen der Parteien und Massen- Die Rolle der organisationen belegen, einen extrem hohen Organisationsgrad. Dies ist in einem Blockparteien politischen System, dessen Führung nicht nur ein Organisationsmonopol beanspruchte, sondern die Bevölkerung auch als jederzeit für ihre Ziele einsetzbare Masse betrachtete, nicht weiter verwunderlich. Dass keine der regierenden kommunistischen Parteien darauf verzichten wollte, neben der Partei eine Vielzahl anderer „gesellschaftlicher Organisationen“ zu unterhalten, hat mit diesem umfassenden, alle Fasern des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens durchdringenden Führungs- und Organisationsanspruch zu tun. Dies bedeutete jedoch nicht, dass ihnen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gewährt wurden. So haben auch in der DDR die Parteien und Organisationen des „Demokratischen Blocks“ keine politische Eigenständigkeit gegenüber der SED entfalten können. Sie waren aber auch mehr als pure „Zweigstellen“ der SED – dies hätte ihre Existenz ad absurdum geführt. Bewusst wurde in der SBZ/DDR kein Einparteiensystem nach dem Muster der Sowjetunion und einiger anderer sozialistischer Länder errichtet, sondern auf der Fiktion bestanden, verschiedene politische und gesellschaftliche Kräfte seien ein (freiwilliges) Bündnis eingegangen und verfolgten, mit erkennbar eigenen Akzenten, ein gemeinsames Ziel: den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Anders als die 1948 aus taktischen Erwägungen gegründeten, von ehemaligen Kommunisten gelenkten Blockparteien (Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NDPD und Demokratische Bauernpartei Deutschlands – DBD) waren die Christdemokraten und die Liberalen originäre Parteigründungen, die andere Gesellschaftsschichten als die SED ansprachen. Anders als die SED hatten sie zudem in den Westzonen „Schwesterparteien“, in denen häufig ehemalige Parteimitglieder und Funktionsträger aus der Sowjetischen Besatzungszone eine wichtige Rolle spielten, mit denen es gelegentlich von der SED kritisch beobachtete Kontakte gab und zu denen sie nach dem Zusammenbruch der DDR Zuflucht nehmen konnten. CDU und LDPD sind zu Recht als „sperriges Erbe“ sowjetischer Besatzungspolitik bezeichnet worden (Suckut, 1994: 102). 197
Die CDU der DDR
Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) hatte sich bereits am 26. Juni 1945 mit einem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit gewandt und wurde im Juli 1945 von der SMAD als Partei zugelassen. Die ersten Jahre ihrer Existenz waren von massiven Konflikten um ihre politische Linie und ihr Verhältnis zur SED gekennzeichnet. Seit Ende der 1940er-Jahre, nach der Verdrängung ihres ersten Vorsitzenden, Andreas Hermes, und später Jakob Kaisers, akzeptierte die CDU uneingeschränkt die bündnispolitischen Vorstellungen der SED. Als eine Partei des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus, wie es die Entschließung des 14. Parteitages von 1977 formulierte, leistete die CDU einen Beitrag zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, der folgendermaßen beschrieben wurde: „Sie nimmt wesentlichen Anteil an der politisch-geistigen Neuorientierung christlicher Bürger und geht dabei von den gesellschaftlichen Konsequenzen aus dem christlichen Ethos der Friedens- und Nächstenliebe, den Lehren der Geschichte und den objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung aus.“ (Handbuch Deutsche Demokratische Republik, 1984: 261f.)
Die CDU bot den DDR-Bürgern eine politische Organisation an, die christlichen Glauben und aktiven Einsatz für den „realen Sozialismus“ miteinander verbinden wollte. Sie konzentrierte sich auf die Pflege enger Beziehungen zu christlichen Friedensorganisationen wie der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) und der Berliner Konferenz europäischer Katholiken (BK). Bemerkenswerterweise hat die CDU bei der Verbesserung des Verhältnisses Kirche – Staat seit dem Ende der 1970er-Jahre keine erkennbare Rolle gespielt. Die CDU hatte etwa 125.000 Mitglieder. In der Volkskammer stellte sie 52 Abgeordnete. Der Vorsitzende, Gerald Götting, war Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates und stellvertretender Präsident der Volkskammer. Im Ministerrat der DDR war die CDU ebenfalls durch einen stellvertretenden Vorsitzenden repräsentiert. Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) war ebenfalls eine der originären Parteigründungen des Jahres 1945. In ihrem Gründungsaufruf vom 5. Juli 1945 bekannte sie sich zur liberalen Weltanschauung, demokratischen Staatsgesinnung, zu Freiheitsrechten, Privateigentum, freier Wirtschaft und Berufsbeamtentum. Unter der Verantwortung ihres ersten Vorsitzenden Wilhelm Külz (er starb 1948) konnte sie noch eine relativ unabhängige Rolle in der SBZ spielen. Die LDPD Für die Formulierung einer eigenständigen politischen Position der Liberalen und eine Abwehr politischer Repression seitens der SMAD wirkte sich negativ aus, dass sie sich – hierin durchaus den Liberalen in den Westzonen vergleichbar – erst 1949 auf ein Programm einigen konnte (Sommer, 1996). Ende der 1940er-Jahre, nach der Verhaftung oder Flucht vieler ihrer führenden Mitglieder, band sie sich schrittweise an die bündnispolitische Konzeption der SED. Sie war seit den 1960er-Jahren eine Partei, die sich vor allem an Handwerker und kleine Gewerbetreibende, an Angestellte und Angehörige der „Intelligenz“ wandte. Wie alle anderen Parteien erkannte sie die führende Rolle der SED und das Prinzip des demokratischen Zentralismus als innerparteiliches Organisationsund gesamtgesellschaftliches Strukturprinzip an.
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Die LDPD zählte über 83.000 Mitglieder und war in der Volkskammer mit 52 Abgeordneten vertreten. Der Vorsitzende der LDPD, Manfred Gerlach, war stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates; die Partei war im Präsidium des Ministerrates und der Volkskammer vertreten. Die Gründung der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) im April 1948, unter maßgeblichem Einfluss der SED, diente vor allem dem Ziel, ehemalige NSDAP-Mitglieder und Offiziere, vor allem aus dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (NKFD), in die neue politische und soziale Ordnung einzugliedern. Dabei ging es auch darum, der CDU und der LDPD, die sich damals noch nicht dem Führungsanspruch der SED untergeordnet hatten, potentielle Parteimitglieder zu entziehen. Die NDPD hatte mehr als 90.000 Mitglieder. In ihrer Arbeit erkannte sie die Prinzipien des demokratischen Zentralismus an. In der Volkskammer war sie mit 52 Abgeordneten vertreten; ihr Vorsitzender, Heinrich Homann, war stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates. Darüber hinaus war die NDPD im Präsidium des Ministerrates und der Volkskammer vertreten. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) wurde am 29. April 1948, wie es in der DDR hieß, „auf Initiative werktätiger Bauern“, gegründet. Da bei ihrer Gründung ehemalige KPD- bzw. SED-Funktionäre eine maßgebliche Rolle spielten, verwundert es nicht, dass sie „von Anfang an vorbehaltlos die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ anerkannte (Handbuch Deutsche Demokratische Republik, 1984: 260). Die DBD sah ihre Aufgaben darin, die Bauern für den Aufbau des Sozialismus zu gewinnen. Sie war in den 1950er- und 1960er-Jahren aktiv an den Kollektivierungskampagnen in der Landwirtschaft beteiligt. Als ihre zentrale Aufgabe bezeichnete sie, die Interessen der Genossenschaftsbauern zu vertreten und sich der Probleme des ländlichen Raumes anzunehmen. Die DBD hatte rund 106.000 Mitglieder und entsandte ebenfalls 52 Mitglieder in die Volkskammer. Sie war ferner im Präsidium des Ministerrates und der Volkskammer vertreten. Ihr Vorsitzender, Ernst Mecklenburg, war einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsrates. Die Zusammenarbeit der SED mit den anderen Parteien und mit dem Massenorganisationen wurde vor dem Oktober 1989 als ein partnerschaftliches, „von den gemeinsamen sozialistischen Idealen“ geprägtes Verhältnis dargestellt. Die Prinzipien der „kameradschaftlichen Zusammenarbeit“ seien von dem gemeinsamen Bemühen getragen gewesen, „die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben im Interesse und zum Wohle des ganzen Volkes zu lösen“ (Marxistischleninistische Partei, 1978: 115). Obwohl es in verschiedenen Phasen der DDR-Entwicklung Überlegungen gegeben hat, die Blockparteien aufzulösen – die angestrebte „Volksdemokratie“ nach 1948 oder die vor allem in den 1960er-Jahren verfolgte Idee einer immer stärkeren Annäherung der Klassen und Schichten in der sozialistischen Gesellschaft ließ eine „eigenständige“ Vertretung überflüssig erscheinen – blieben sie bis zum Ende der DDR als formal eigenständige Organisationen erhalten. In der sich anbahnenden Krise der späten 1980er-Jahre wurde ihre Rolle sogar noch – wenn auch nur verbal – aufgewertet, als vom „sozialistischen Mehrparteiensystem“ die Rede war.
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Die NDPD
Die DBD
SED und Blockparteien
Auch wenn damit seitens der SED an keine Relativierung ihrer eigenen Führungsrolle gedacht war, so zeigen diese Bestrebungen doch, dass man sich vor allem in Zeiten der Krise an die vermittelnde Rolle der Blockparteien erinnerte. Sie sollten gleichsam als Puffer zwischen dem von der SED beherrschten politischen System und den Bevölkerungsgruppen wirken, die ihrer Herrschaft distanziert oder kritisch gegenüberstanden, aber weder den Weg der Abwanderung noch den der Systemopposition wählten. Dass die Blockparteien diese Aufgabe angesichts ihrer nie ernsthaft in Frage gestellten Unterordnung unter die politischen Ziele der SED nicht glaubhaft erfüllen konnten, liegt auf der Hand. Andererseits schuf ihnen ihre grundsätzliche Loyalität gegenüber dem Staat begrenzte Handlungsspielräume, die sie vor allem auf kommunaler Ebene zu nutzen wussten. In der Zeit der „Wende“ kam ihnen dies zugute. Funktion der MassenWäre es nach Artikel 29 der DDR-Verfassung gegangen, dann hätten alle organisationen DDR-Bürger das Recht auf Vereinigung in politischen Parteien, in gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen und Kollektiven gehabt, um dort „ihre Interessen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung zu verwirklichen“. Der letzte Teil des Satzes enthielt die entscheidende Einschränkung. Die in der Verfassung proklamierten Grundsätze, vor allem die Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei (Art. 1 DDR-Verf.) und das die Struktur und Funktion des politischen Systems prägende Prinzip des demokratischen Zentralismus (Art. 47, Abs. 2 DDR-Verf.), setzten den Rahmen für die Bürger, sich in Vereinigungen zu organisieren. Konkurrierende organisierte Interessengruppen ließ das Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht zu – mit einer bedeutenden Ausnahme, den Kirchen (Pollack/Rink, 1997). So ist denn auch verständlich, dass es unter Hinweis auf Artikel 21 der DDR-Verfassung als vordringliche Aufgabe aller Vereinigungen oder „gesellschaftlicher Organisationen“ angesehen wurde, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Gesellschaft und des sozialistischen Staates „umfassend mitzugestalten“ (Handbuch gesellschaftlicher Organisationen, 1985: 89). Diese gesellschaftlichen Organisationen waren Elemente des politischen Systems und unterlagen seinen Strukturprinzipien und Funktionsgesetzen. Nur über die Vermittlung dieser Organisationen und bei Wahlen hatten die Bürger ein formales Recht zur Teilnahme an den gesellschaftlichen und politischen Dingen. Mitwirkung und Mitbestimmung waren nicht als individuelle Rechte gesichert, sondern den Organisationsvorstellungen des Marxismus-Leninismus untergeordnet: Die Bürger sollten sich an den großen gesellschaftlichen Aufgaben beteiligen, an Wahlen teilnehmen, sich in den Massenorganisationen engagieren und, in geregelter Form, Anliegen und Vorschläge vortragen können (Art. 21 DDR-Verf.). Den Massenorganisationen, insbesondere den Gewerkschaften, waren ursprünglich zwei Funktionen zugewiesen: Sie sollten Transmissionen bei der Durchsetzung des Parteiwillens in die Gesellschaft und „Schulen des Sozialismus“ sein. Später kam eine zuvor fast völlig vernachlässigte Funktion hinzu, Vertreter gesellschaftlicher Teilinteressen zu sein. Allerdings war dabei nicht an eine autonome Vertretung gesellschaftlicher Teilinteressen gedacht, vielmehr ging es der SED darum, mit Hilfe der Massenorganisationen diejenigen Bürger
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organisatorisch einzubinden, die nicht Mitglied der SED oder einer anderen Partei waren. Massenorganisationen erkannten in ihrer Programmatik die Führungsrolle der SED an. Viele Führungspositionen waren mit SED-Mitgliedern, z.T. mit hohen SED-Funktionären besetzt. Als die wichtigsten Aufgabenbereiche der Massenorganisationen sind ihre Transmissionsfunktion, d.h. die Übertragung des politischen Willens der SED auf einzelne Sektoren der Gesellschaft, ihre Funktion als „Schulen des Sozialismus“, also die Beeinflussung und Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen im Sinne der SED und ihre Funktion als Kaderreserve der Partei zu nennen. Ihre Aufgabe war es, flukturierende Interessen in der Gesellschaft einzubinden, zu kanalisieren und Informationen über Einstellungen und Ansprüche in der Gesellschaft zu beschaffen, die über die formalisierten staatlichen Informationskanäle nicht zu erlangen waren. In diesem eingeschränkten Sinne hatten sie eine Übersetzungsfunktion gegenüber Partei und Staat. Schließlich stellten sie in organisierter und damit kontrollierbarer Form ein Forum für eine Kritik von Mängeln und Fehlentwicklungen in Teilsektoren der Gesellschaft dar. Die Massenorganisationen in der DDR waren Zwitterwesen. Bar jeglicher eigener Verantwortlichkeit und Autonomie waren sie so etwas wie der verlängerte Arm der Partei in den Bereichen der Gesellschaft, wo die SED nicht direkt präsent sein konnte oder wollte. Auf der anderen Seite aber nahmen sie in den engen Begrenzungen, die ihnen der Parteistaat setzte Vertretungsfunktionen für bestimmte Gruppen wahr oder versuchten sich als Anwälte für ungelöste soziale Probleme zu profilieren. Die im Arbeitsgesetzbuch und anderen gesetzlichen Bestimmungen normierten Mitwirkungsmöglichkeiten waren keine individuellen Rechte, sondern Organisationsrechte von Massenorganisationen, vor allem des FDGB, aber auch der FDJ, des DFD, der KdT und anderer Organisationen. Besonders deutlich wurde dieser Widerspruch bei den Gewerkschaften. Ihr Bekenntnis zur Führungsrolle der Partei markierte deutlich Grenzen und Möglichkeiten ihrer Tätigkeit. Ihre verfassungsrechtlich normierte Unabhängigkeit war eine Fiktion, aber es gelang den Gewerkschaften häufig, die von der Partei vorgegebenen Handlungsspielräume zu nutzen. Ihre Kennzeichnung als Interessenvertretung aller „Werktätigen“ war das Eingeständnis, dass es einer solchen, wenngleich regulierten und strikt limitierten Vertretung bedurfte, weil auch in der sozialistischen Gesellschaft Interessenunterschiede und soziale Konflikte fortbestanden. Die Gewerkschaften boten sich als Konfliktregelungsinstanz an, da sie in allen Bereichen der Arbeitswelt organisatorisch vertreten waren und in ihren Reihen über 95 % aller Berufstätigen organisierten. Neben dieser äußerst eingeschränkten Vertretungsfunktion ist für die Jahre nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 ein Prozess der „Verstaatlichung“ der Massenorganisationen zu beobachten gewesen. Dies zeigte sich in einer Reihe von organisatorischen Maßnahmen und gesetzlichen Regelungen. So wurde z. B. die Rolle des FDGB im novellierten Arbeitsgesetzbuch von 1978 erkennbar gestärkt. Die betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen erhielten zusätzliche Kontrollbefugnisse gegenüber den Betriebsleitungen. Ihre Kompetenzen im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung und bei Fragen der Ausgestaltung der betrieblichen Arbeits- und Lebensbedingungen wurden gestärkt. Der FDGB unterhielt
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Massenorganisationen als Transmissionsinstrumente der SED
Rolle der Gewerkschaften
„Verstaatlichung“ der Massenorganisationen
einen eigenen Feriendienst und Ferienheime, die den Mitgliedern zur Verfügung standen und er nahm Selbstverwaltungsaufgaben im Bereich der Sozialversicherung wahr – er leitete die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten (AGB § 274ff.) und war damit für die Versicherung bei Krankheit, Arbeitsunfall, Mutterschaft und für Rentenleistungen bei Invalidität, Arbeitsunfällen, für die Alters- und Hinterbliebenenrenten verantwortlich. Die Mitglieder von Genossenschaften, Selbständige usw. waren staatlich versichert. Vor allem aber zeichnete der Bundesvorstand des FDGB zusammen mit dem Politbüro der SED und dem Ministerrat für alle bedeutenden sozialpolitischen Entscheidungen seit 1971 mitverantwortlich. Welchen konkreten Anteil er an der Formulierung der Sozialpolitik der SED hatte, lässt sich nicht zuverlässig beantworten. Doch auch unabhängig davon deutete die Aufwertung des FDGB zu einer rechtssetzenden Institution auf ein gewandeltes Verhältnis der SED zu den Gewerkschaften hin.
4.3
Von der Sowjetischen Besatzungszone zur Deutschen Demokratischen Republik: Aspekte der Gründungsgeschichte der DDR
4.3.1 Wirtschaftliche und politische Weichenstellungen Wirtschaftliche Rahmenbedingungen in der Sowjetischen Besatzungszone
Welcher politische Weg in der SBZ auch immer eingeschlagen werden sollte, Voraussetzung jeder Politik war es, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Der Wirtschaftsraum der SBZ glich 1945, nach der fast völligen Unterbrechung aller Verbindungen zu den westlichen Zonen, einem Torso. Etwa 45 % der Industrieanlagen waren zerstört, die Zulieferungen von Rohstoffen (Steinkohle, Eisenerze, Stahl und andere Halbfertigprodukte) aus den westlichen Teilen Deutschlands waren unterbrochen, die Verkehrswege, soweit sie nicht zerstört waren oder später von der Besatzungsmacht als Reparationsleistungen demontiert wurden, verliefen in Ost-West-Richtung und entsprachen so in keiner Weise den neuentstandenen wirtschaftsgeographischen Bedingungen. Der traditionell hochentwickelten Konsumgüterindustrie, der metallverarbeitenden Industrie und der Chemieindustrie Mitteldeutschlands fehlte die entsprechende Rohstoffbasis und vor allem blieben die Steinkohlelieferungen aus dem Ruhrgebiet aus. Auch nach der allmählichen Lockerung der Zonenschranken waren die entsprechenden Lieferungen völlig unzureichend. Reparationen und Einen entscheidenden negativen Einfluss auf die wirtschaftliche EntwickDemontagen lung hatten die Demontagen seitens der Sowjetunion. Daneben waren es in späterer Zeit vor allem die Reparationen „aus der laufenden Produktion“, welche die Wirtschaftskraft der SBZ/DDR schwächten; erst 1953/54 wurden sie völlig eingestellt. Eine besondere Rolle spielten hierbei die etwa 200 in sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) umgewandelten Betriebe. Während Demontage und Reparationen auf eine Befriedigung der Kompensationsbedürfnisse der Siegermacht hinausliefen, die Wirtschaftskraft ihrer Be202
satzungszone aber schwächten und unterminierten, waren die früh einsetzenden eigentumspolitischen Entscheidungen darauf gerichtet, die Wirtschaft der SBZ von den Westzonen abzukoppeln, die marktwirtschaftliche Ordnung zu beseitigen und schrittweise eine zentrale Planwirtschaft nach dem Modell der Sowjetunion zu etablieren. Dies bedeutete, dass ein erheblicher Anteil der verfügbaren finanziellen Mittel in den Ausbau der Grundstoffindustrie investiert werden musste, anstatt die Vorteile zu nutzen, die die traditionell heimische Fertigwarenindustrie bot und den Konsumbedarf der Bevölkerung zu befriedigen. Die SBZ konnte auch auf keine dem Marshall-Plan vergleichbare Starthilfe bauen. All dies waren denkbar schlechte Ausgangs- und Rahmenbedingungen für eine grundlegende sozial-ökonomische Umgestaltung. Zwar schien unmittelbar nach dem Kriegsende in Ostdeutschland ein breiter Konsens erkennbar, dass grundlegende gesellschaftliche Reformen notwendig waren, aber bereits der Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946 über die „Enteignung von Kriegsund Naziverbrechern“ konnte nur gegen den hinhaltenden Widerstand von CDU und der Liberaldemokraten durchgesetzt werden. Bei einer Beteiligung von nur 39,7 % der Abstimmungsberechtigten stimmten 77,6 % für die Enteignung. Durch die Bodenreform wurde der gesamte Boden von 7.000 Großgrundbe- Bodenreform und sitzern entschädigungslos enteignet (2,5 Mio. ha.). In der Größenordnung von 25 Sozialisierung bis 100 ha wurden die Betriebe enteignet, deren Besitzer, häufig willkürlich, als aktive Militaristen und Nationalsozialisten eingestuft wurden (600.000 ha.). 2,1 Mio. ha. des so gewonnenen Landes wurden an Landarbeiter, landlose oder landarme Bauern, Flüchtlinge und Umsiedler und andere (insgesamt 500.000 Menschen) verteilt. Die so entstandenen Betriebsgrößen erwiesen sich aber in ihrer Mehrzahl als ökonomisch nicht lebensfähig, sodass die seit 1952 betriebene Gründung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) auch unter wirtschaftlichen Aspekten geboten war. Mit den Befehlen Nr. 124 und Nr. 126 der SMAD vom Oktober 1945 wurde auf dem Gebiet der SBZ das gesamte Eigentum des deutschen Reiches, der NSDAP und ihrer Amtsleiter sowie der Wehrmacht beschlagnahmt. Hinzu kamen Schlüsselbetriebe, deren Besitzer nach Meinung der Behörden den Nationalsozialismus und seine Kriegswirtschaft unterstützt hatten, und Betriebe von „Personen, die vom sowjetischen Militärkommando durch besondere Listen oder auf andere Weise bezeichnet werden“. 213 dieser meist schwerindustriellen Großbetriebe, die 25% der Industriekapazität der SBZ repräsentierten, wurden in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) umgewandelt, die anderen der Verwaltung der Länder übergeben. Sie bildeten die Grundlage für den späteren „volkseigenen Sektor“, der von 36,8% des Anteils an der Bruttoproduktion 1947 auf 52,4% im Jahre 1950 stieg, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Privatbetriebe von 43,7% auf 25% fiel. Etwa ein Fünftel der Produktion entfielen auf die SAG (Vom Werden, 1966, Bd. 1: 316; Barthel, 1979: 137). Der kontinuierliche Rückgang der Privatbetriebe ist das Ergebnis weiterer Enteignungen, der Ausweitung des Kreises auf „Unterstützer“ des Nationalsozialismus und von Abwanderungen von Unternehmern in die Westzonen. Zu den ersten politischen Maßnahmen gehörten weitreichende personalpoliti- Kaderpolitik der SED sche Weichenstellungen. Vor allem in der Justiz, bei der Polizei und im Bildungssektor ging es der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED nicht nur
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Bildung von Parteien und Vereinigungen auf Grundlage eines Befehls der Sowjetischen Militäradministration
um einen Austausch belasteter Mitarbeiter und Funktionsträger, sondern um die Entwicklung eines eigenen zuverlässigen „Kaderstamms“. Die Prinzipien der Kaderpolitik der kommunistischen Parteien bildeten die Grundlage staatlicher Personalpolitik. Offen geschah dies erst nach einer als „antifaschistischdemokratische Ordnung“ bezeichneten Übergangsphase, die bis zur 1. Parteikonferenz 1948 der SED dauerte. In der politischen Praxis setzte die Besatzungsmacht bereits unmittelbar nach Kriegsende ihr genehmes Personal in Führungspositionen ein, nur war die Auswahl zu dieser Zeit eher von Zufälligkeiten als von Planmäßigkeit gekennzeichnet. Drei Elemente sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Bei der Besetzung wichtiger Schlüsselfunktionen wurde darauf geachtet, dass die eigenen Gefolgsleute in strategisch wichtigen Positionen platziert wurden, vor allem den Abteilungen für Inneres und Volksbildung der jeweiligen deutschen Verwaltungseinheiten. Repräsentative Wahlpositionen, wie z.B. die des Bürgermeisters, Oberbürgermeisters, Landrats und anfangs auch Ministerpräsidenten wurden häufig mit unbelasteten „bürgerlichen“ Politikern besetzt. Um in kurzer Zeit nicht nur die „Kommandohöhen“ (Lenin) in den Verwaltungen mit zuverlässigen Parteigängern besetzen zu können, sondern alle Apparate personell zu durchdringen, wurden Nachwuchskräfte in Schnellkursen auf eine Tätigkeit in der Verwaltung vorbereitet. Später wurden eigene Ausbildungsund Weiterbildungseinrichtungen wie die 1948 gegründete Deutsche Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“ in Forst-Zinna geschaffen. In der Justiz und der Volksbildung wurde der Grad der politischen Belastung generell und ohne Prüfung des Einzelfalls als sehr hoch und die Chance einer „Umerziehung“ des Personals als so gering angesehen, dass in Schnellkursen „Volksrichter“ und „Neulehrer“ ausgebildet wurden. Hier wurde durch politisch gesteuerte Rekrutierung erfolgreich der Versuch unternommen, aus der Arbeiterschaft und Kleinbauernschicht eine neue „sozialistische Intelligenz“ zu schaffen. Ein wichtiges Rekrutierungsfeld waren auch junge, aus dem Krieg heimkehrende Soldaten. Spätestens seit 1948, also bereits vor der Staatsgründung, funktionierten die institutionellen Mechanismen kommunistisch-stalinistischer Kaderpolitik, die zur Etablierung der „Nomenklatura“ als herrschender Schicht in Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Kultur führte (Glaeßner, 1977). Im Gegensatz zu den Westmächten hatte es die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) erkennbar eilig, ihr genehme institutionelle Rahmenbedingungen für ein politisches Leben in ihrer Besatzungszone zu schaffen. Schon vor der abschließenden alliierten Konferenz in Potsdam ließ sie mit ihrem Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 die Bildung „antifaschistischer“ Parteien und Vereinigungen, vor allem Gewerkschaften zu. Schon einen Tag später trat die KPD mit einem in Moskau vorbereiteten Gründungsaufruf an „das schaffende Volk in Stadt und Land“ an die Öffentlichkeit. Mit diesem Text hatte die SED später einige Schwierigkeiten; sein Inhalt wurde nur verstümmelt wiedergegeben, was nicht verwundert, wenn man im Aufruf liest: „Mit der Vernichtung des Hitlerismus gilt es, ... die Sache der Demokratisierung Deutschlands, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen, die feudalen Überreste völlig zu beseitigen und den
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reaktionären altpreußischen Militarismus mit allen seinen ökonomischen und politischen Ablegern völlig zu vernichten. Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, eines parlamentarisch-demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“ (Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, 1968: 60)
Entgegen der Erwartung vieler alter Mitglieder von KPD und SPD zielte die Politik der Sowjetunion weder auf die Gründung einer Einheitspartei noch auf eine sofortige revolutionäre Umgestaltung ihrer Besatzungszone (Krisch, 1974: 37ff.). Viele, die KZ, Gefängnis und Illegalität überlebt hatten, waren nach dem Sieg über den Nationalsozialismus der Meinung, jetzt stehe der Sozialismus auf der Tagesordnung. Den Mitgliedern der KPD war die siegreiche Sowjetarmee Garant für eine solche revolutionäre Entwicklung. Diesen Überlegungen standen die staats- und gesellschaftspolitischen Ziele der Sowjetunion entgegen, der in erster Linie an der Festigung der ihr in Jalta zugestandenen Einflusszonen in Mittel- und Osteuropa gelegen war. Diesem Ziel ordnete sie ihre revolutionäre Zielsetzung unter, den Sozialismus mit Hilfe der Roten Armee zu exportieren. Die aus Moskau zurückgekehrten KPD-Kader um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck unterstützten diese Politik der Besatzungsmacht. Für die KPD ergab sich daraus ein schwerwiegendes Problem: Sie musste ihre revolutionäre Programmatik – vorerst – dem Ziel der Besatzungsmacht unterordnen, ein antifaschistisch-demokratisches Bündnis aller Parteien unter Einschluss anderer demokratischer Organisationen zu schaffen. Nur in zwei Bereichen konnte sie Maßnahmen fordern, die dann alsbald auch eingeleitet wurden – die Enteignung der „Nazibonzen und Kriegsverbrecher“ und die „Liquidierung des Großgrundbesitzes“. Die proklamierte Absicht, kein sozialrevolutionäres Experiment nach dem Vorbild der Sowjetunion starten zu wollen, basierte ohne Zweifel auf einer realistischen Einschätzung der Bewusstseinslage der Mehrheit der Deutschen, die eine Unterstützung grundlegender politischer und sozialer Veränderungen nicht erwarten ließ, warf aber gleichwohl das Problem einer genuin sozialistischen Strategie des Wiederaufbaus Deutschlands auf. Die SPD in der SBZ war hier deutlicher. Sie hielt in ihrem Gründungsaufruf vom 15. Juni 1945 an traditionellen sozialistischen Forderungen wie der Verstaatlichung von Banken, Versicherungen und Schlüsselindustrien fest, formulierte im Übrigen aber ähnliche Ziele wie die KPD: In der gegenwärtigen Lage gehe es um die Errichtung eines antifaschistisch-demokratischen Regimes und einer parlamentarisch-demokratischen Republik. Neben den beiden Arbeiterparteien entstanden auch im bürgerlichen Spektrum Parteien, die – wie die Liberaldemokraten – an die Tradition der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) der Weimarer Republik anknüpften oder aber, ähnlich wie in den Westzonen, eine christliche Sammlungspartei (CDU) gründeten. Es gab auch Überlegungen, nach dem Vorbild der britischen Labour Party eine Partei zu
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Wiedergründung der KPD
Sozialistische Programmatik der SPD
Gründung bürgerlicher Parteien
Gründung lokaler politischer Basisorganisationen gegen den Widerstand von KPD und SMAD
Die Frage der Einheitspartei
gründen, die christliche, liberale und freie (nicht jedoch kommunistische) Gewerkschafter vereinen sollte, dies stieß jedoch bei der SPD auf Ablehnung. Die Christlich-Demokratische Union (CDU) trat am 26. Juni, die LiberalDemokratische Partei Deutschlands (LDPD) am 5. Juli 1945 mit programmatischen Erklärungen an die Öffentlichkeit. Am 14. Juli 1945 wurde in Berlin von den Vertretern der Parteien die „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ gegründet, die dem Ziel dienen sollte, Deutschland in enger Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden auf „antifaschistisch-demokratischer Grundlage“ aufzubauen (Staritz, 1984: 93ff.). Von Anfang an ging die KPD, unterstützt von der sowjetischen Besatzungsmacht, gegen spontane lokale, basisorientierte Partei- und Organisationsgründungen vor. In den ersten Nachkriegsmonaten waren vielfältige lokale Organisationen entstanden, die als Versuch zu verstehen sind, die Arbeiterbewegung von unten her wieder zu beleben und die alte Spaltung zu überwinden. Es waren „Volksausschüsse“, „Volkskomitees“, „Antifa-Komitees“, Ausschüsse zur Bildung freier Gewerkschaften und sogar regionale (Einheits)Parteien entstanden (Niethammer/Borsdorf/Brandt, 1976). In Meißen fand die aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrte Gruppe um Anton Ackermann sogar einen „Rat der Volkskommissare“ vor. Alle dieser Gruppierungen wurden binnen kurzem von den sowjetischen Besatzungsbehörden aufgelöst oder unter dem Einfluss der KPDKader in die neu entstehenden örtlichen Verwaltungen „integriert“. Die „Rummurkserei mit der Antifa“ müsse aufhören, meinte Walter Ulbricht Ende Juni 1945. Wenn die Partei eine richtige Politik betreibe, sei für „antifaschistische Sekten“ kein Platz mehr (Staritz, 1984: 99; Leonhard, 1976: 313ff.). Die Sowjetunion konnte basisdemokratischen Organisationsbestrebungen verständlicherweise wenig abgewinnen. Wie die anderen Besatzungsmächte auch nahm sie ihre Rechte als Besatzungsmacht, die politische Entwicklung in ihrer Zone zu kontrollieren, wahr. Anders jedoch als in den Westzonen ging es ihr nicht nur um die Formulierung von Rahmenbedingungen und die Lizenzierung eigenständiger deutscher Parteien und Organisationen, sondern um eine weitgehende Bestimmung der politischen Programmatik und der Personalpolitik. Insbesondere bei der Rekrutierung von Personal für die neuen Verwaltungen setzte die SMAD ihre kaderpolitischen Vorstellungen durch. Seit dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 war in den verschiedensten Dokumenten der Kommunistischen Internationale und der KPD die Frage der Einheitsfront und der Einheitspartei, also die Beseitigung der Spaltung der organisierten Arbeiterbewegung thematisiert worden. Der Wunsch nach Einheit entsprach auch der gemeinsamen Erfahrung vieler Antifaschisten im Widerstand oder in den Gefängnissen und Konzentrationslagern. Diese Auffassungen standen in diametralem Gegensatz zu den politischen Leitlinien des KPD-Aufrufs und der von der Sowjetunion veranlassten Neugründung der KPD – und zur logischen Folge dieser Entscheidung: der Wiedergründung der SPD. Versuche von Mitgliedern des späteren Zentralausschusses (ZA) der SPD in der sowjetischen Besatzungszone, vor der Neugründung von KPD und SPD über die Bildung einer Einheitspartei zu sprechen, wurden von den aus Moskau heimgekehrten KPD-Funktionären abgelehnt. Sie setzten darauf, erst die politisch-ideologische und organisatorische Geschlossenheit der KPD herzustellen und dann das Ange-
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bot einer „Aktionseinheit“ zu machen. Demgegenüber war im Gründungsaufruf der SPD in der SBZ vom 15. Juni ein erneutes Angebot zur „organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse“ enthalten. Als im Spätherbst 1945 die KPD-Führung überraschend für eine schnelle Vereinigung von SPD und KPD eintrat, war die anfängliche Einheitseuphorie in den Reihen der SPD längst verflogen. Erste Erfahrungen in der Verwaltungsarbeit und mit der Politik von SMAD und KPD stimmten skeptisch. Auch der antikommunistische Kurs Schumachers und der SPD in den Westzonen zeigte seine Wirkungen. SMAD und KPD wurden zu diesem politischen Schwenk durch eine veränderte Lageeinschätzung veranlasst: Trotz der Tatsache, dass es der KPD in der SBZ mit massiver Unterstützung von Seiten der SMAD gelungen war, ihre Organisation zu festigen und in den Mitgliederzahlen mit der SPD gleichzuziehen (beide hatten Ende 1945 etwa 375.000 Mitglieder), sodass sie nicht mehr „Juniorpartner“ in einer Einheitspartei sein würde, wurde doch die Konsolidierung der Sozialdemokratie und vor allem ihr wachsendes Selbstbewusstsein – so hatte der Vorsitzende des Zentralausschusses der SPD, Otto Grotewohl, in einer Rede vor Berliner und sowjetzonalen Funktionären am 14. September 1945 nicht nur eine deutliche, wenngleich indirekte Kritik an der Politik der Besatzungsmacht geübt, sondern auch einen politischen Führungsanspruch in Deutschland angemeldet – als Gefahr für die eigene Position empfunden. Die Ankündigung von freien Wahlen auf kommunaler Ebene in Berlin durch die Amerikaner, und die Niederlagen der kommunistischen Parteien bei den Wahlen in Ungarn und Österreich im Spätherbst 1945 bestärkten die Sowjets, einen politischen Kurswechsel in Bezug auf die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei vorzunehmen (Leonhard, 1976: 348ff.; Krisch, 1974: 101ff.). Unter dem massiven Druck der sowjetischen Besatzungsmacht wandelte sich die Haltung führender Mitglieder der Berliner Parteiführung der SPD. Insbesondere Otto Grotewohl gab die anfängliche Ablehnung einer Einheitspartei auf und spielte eine entscheidende Rolle bei der erzwungenen Vereinigung von KPD und SPD (Hurwitz, 1990: 494ff.). Der Widerstand, der sich in der SPD gegen diese Pläne regte, wurde seitens der Besatzungsmacht mit Redeverboten und Verhaftungen widerspenstiger Funktionäre gebrochen. Der historische Händedruck zwischen Wilhelm Pieck (KPD) und Otto Grotewohl (SPD) auf dem Vereinigungsparteitag von SPD und KPD zur SED am 21./22. April 1946 besiegelte nicht das Ergebnis eines demokratischen Willensbildungsprozesses der Mitglieder beider Parteien, sondern die Niederlage demokratisch-sozialistischer Strömungen in beiden Arbeiterparteien angesichts des machtpolitischen Kalküls der Sowjetunion und der von ihr protegierten KPD-Führung. Die beiden 1945 gegründeten Parteien, CDU und Liberaldemokraten, konnten sich nur einer sehr kurzen Zeit relativer Unabhängigkeit erfreuen. Sie gerieten unter massivem politischem Druck seitens der Besatzungsmacht und durch die Absetzung politisch selbstbewusster und selbständiger Parteiführer und willkürliche Verhaftungen aktiver Mitglieder sehr schnell in den Sog sowjetischer Instrumentalisierungsbestrebungen. Mit ihrer Einbindung in den „Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen“ und später in die „Na-
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Gründung der Einheitspartei unter dem Druck der Besatzungsmacht
Verlust der Eigenständigkeit der bürgerlichen Parteien
tionale Front“ verloren die „bürgerlichen Parteien“ ihr eigenes Profil und fungierten vierzig Jahre lang als verlässliche „Bündnispartner“ der SED (Fröhlich, 1995). Sie waren „SED-abhängige, politisch und materiell unselbständige Organisationen“ (Suckut, 1994: 101). Es ist insbesondere diese Erfahrung, welche die anfangs bei vielen demokratischen Politikern und Intellektuellen vorhandene Hoffnung enttäuschte, in der sowjetisch besetzten Zone ließe sich ein neues, demokratisches, antifaschistisches Deutschland aufbauen. Die im Sommer 1945 propagierte Entwicklung hin zu einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ erschien vielen Zeitgenossen als ein Angebot, aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Weltkrieges Lehren für eine zukünftige demokratische Neuordnung Deutschlands zu ziehen. Trotz erheblicher Skepsis versuchten auch Sozialdemokraten und bürgerliche Politiker der neu entstandenen Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDUD) und der Liberalen, sich an diesem Neuaufbau zu beteiligen. Das Ende der Illusionen kam bereits im Spätherbst 1945 mit dem Beginn der Vereinigungskampagne für den Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED und wachsendem politischen Druck auf die bürgerlichen Parteien.
4.3.2 Staatsgründung und Sowjetisierung Umbau der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in der SBZ
Die Zukunft Deutschlands und die Politik der Sowjetunion gegenüber der DDR
Von einem anfangs propagierten besonderen „deutschen Weg zum Sozialismus“ blieb wenig übrig. Die stets betonte gesamtdeutsche Mission einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ geriet mehr und mehr zur Begründung für eine immer engere Anlehnung an sowjetische Vorstellungen: Im Westen Deutschlands bauten die alten „Nazis und Kriegstreiber“, gemeinsam mit den „amerikanischen Imperialisten“, einen „westdeutschen Separatstaat“ als Basis für ihre aggressive Politik auf. Die Gründung einer Deutschen Demokratischen Republik als eine Art Bollwerk gegen die angeblichen imperialistischen „Expansionsgelüste“ bedeutete die Liquidierung der von KPD/SED in den Jahren 1945/46 versprochenen eigenständigen Entwicklung. Bereits vor der Gründung der DDR wurden in den Jahren 1947/48 die Weichen für die Sowjetisierung Ostdeutschlands und die endgültige Unterwerfung unter den Willen der Besatzungsmacht gestellt. Die zunehmenden Spannungen zwischen den Siegermächten des II. Weltkrieges beschleunigten die Integration der Länder Mittel-, Südost- und Osteuropas in den sowjetischen Block. Spätestens der kommunistische Putsch in der Tschechoslowakei im Februar 1948 und die „Exkommunikation“ Jugoslawiens aus dem Kominform im gleichen Jahr machten deutlich, dass es der Sowjetunion nicht nur um die sicherheitspolitische Konsolidierung, sondern um die sozialökonomische und politische Umgestaltung des von ihr im II. Weltkrieg befreiten und anschließend politisch und militärisch beherrschten Raumes ging. In den sowjetischen Überlegungen spielte die Frage nach der zukünftigen Gestalt Deutschlands eine entscheidende Rolle. Die Sowjetunion verfolgte eine zweigleisige Strategie, indem sie auf der einen Seite sehr früh Bestrebungen unterstützte, die auf einen Ausbau ostdeutscher politischer Strukturen hinausliefen, die später mühelos als Nukleus einer eigenen Staatlichkeit genutzt werden konn-
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ten, zum anderen aber Wert darauf legte, ihre eigenen Vorbereitungen zur Gründung eines Separatstaates in der Sowjetischen Besatzungszone stets als Reaktion auf die „Teilungspläne der Imperialisten“ erscheinen zu lassen. Obwohl sie bis etwa Mitte der 1950er-Jahre immer wieder gesamtdeutsche Optionen propagierte, hat sie doch bereits kurz nach dem Krieg auch eine Separatstaatsbildung ins Auge gefasst. Nicht anders ist die frühe Einrichtung von deutschen Zentralverwaltungen in der SBZ zu interpretieren. Die endgültige Entscheidung für die Gründung eines Staates fiel, wie im Westen, im Jahre 1948. Im Bereich des Aufbaus einer zukünftigen deutschen Verwaltung fielen sehr früh weitreichende Grundsatzentscheidungen. Nachdem sich die anglo-amerikanischen Streitkräfte gemäß den Beschlüssen der alliierten Kriegskonferenzen aus den von ihnen eroberten Gebieten, die der Sowjetischen Besatzungsmacht zugedacht waren, zurückgezogen hatten, richtete die SMAD durch Befehl Nr. 5 vom 9. Juli 1945 regionale Militäradministrationen ein und unterteilte ihr Besatzungsgebiet in fünf Verwaltungseinheiten – die Länder Mecklenburg inklusive Vorpommern, Sachsen und Thüringen, sowie die Provinzen Brandenburg und Sachsen(-Anhalt), letztere bestanden wesentlich aus Restbeständen Preußens und kleineren, früher selbständigen Gebietseinheiten. Nach der formellen Auflösung Preußens durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 wurden die Provinzen Brandenburg und Sachsen durch SMAD-Befehl zu Ländern erhoben. Diese fünf Länder der SBZ und späteren DDR existierten bis 1952 als auch formal eine zentralistische Staatsstruktur mit vierzehn Bezirken und der „Hauptstadt der DDR Berlin“ eingeführt wurde. Mit Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 ordnete die SMAD die Bildung von zunächst elf, später sechzehn deutschen Zentralverwaltungen an, die neben klassischen „Ressorts“, wie Inneres, Justiz, Finanzen, Arbeits- und Sozialfürsorge u.a.m. auch spezielle Aufgaben, wie die Frage von Beschlagnahmungen und Sequestrierungen oder Umsiedlerfragen umfassten. Diese Zentralverwaltungen bildeten die Vorläufer und den institutionellen Kern der Regierung der 1949 gegründeten DDR (SBZ-Handbuch, 1990, 201ff.). Nur in der britischen Besatzungszone gab es mit den Zentralämtern entfernt vergleichbare deutsche Institutionen. Nach dem Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Besatzungszone zur Bi-Zone am 1. Januar 1947 und in Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten einer zentralen Planwirtschaft, wie sie sich in der SBZ entwickelte, forcierte die sowjetische Besatzungsmacht die Entwicklung zentraler Verwaltungen in ihrer Zone. Die entsprechenden Beschlüsse wurden allerdings erst nach der anglo-amerikanischen Ankündigung einer bizonalen Wirtschaftsverwaltung vom 29. Mai 1947 und der gescheiterten Münchener Ministerpräsidentenkonferenz vom 6. bis 9. Juni 1947 veröffentlicht. Hier zeigt sich ein Muster, das für die Vor- und Frühgeschichte der DDR typisch ist: Maßnahmen zur Separatstaatsbildung und Verfestigung des politischen Systems wurden von langer Hand vorbereitet, mit ihrer öffentlichen Verfolgung aber gewartet, bis die Westmächte und später die Bundesrepublik entsprechende Schritte unternommen hatten. Dies war bei der Etablierung quasi-staatlicher Strukturen so, wiederholte sich bei der Herausbildung der beiden Staaten und galt später in gleicher Weise bei der Wiederbewaffnung und formalen Integration in die jeweiligen Blöcke.
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Aufbau deutscher Verwaltungseinheiten und die Gründung von Ländern
Deutsche Zentralverwaltungen
Die Volkskongressbewegung
Erarbeitung einer „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“
Gesamtdeutscher Anspruch der DDR
Bereits vor der gescheiterten Londoner Außenministerkonferenz vom 25. November bis 15. Dezember 1947 hatte die SED die so genannte „Volkskongressbewegung für Einheit und gerechten Frieden“ ins Leben gerufen. Sie war als gesamtdeutsche Bewegung zur Beeinflussung der Londoner Außenministerkonferenz im Sinne der sowjetischen Politik angelegt. Diese Absicht bewog die CDU der SBZ, die sich als Partei des „demokratischen Blocks“ unter massivem Anpassungsdruck befand, dazu, an der Volkskongressbewegung nicht teilzunehmen. Bei den Liberalen führte die Frage der Teilnahme zu massiven Auseinandersetzungen und angesichts des politischen Drucks schließlich zu einer Beteiligung. Die von der SED initiierte Volkskongressbewegung diente einem doppelten Ziel: sie sollte auf gesamtdeutscher Ebene die deutschlandpolitischen Ziele der SED und der Sowjetunion propagieren und sie bildete zugleich den institutionellen Rahmen für die Vorbereitung einer Separatstaatsbildung in der SBZ. In den westlichen Besatzungszonen wurde die Beteiligung am Volkskongress behindert und zum Teil verboten. Auf den Plenartagungen des Volkskongresses waren nicht nur Parteien, sondern auch sogenannte „Massenorganisationen“, wie die Gewerkschaften und der Jugendverband FDJ vertreten, was der SED eine solide Mehrheit garantierte. Auf der ersten Tagung im Dezember wurde eine friedenspolitische Resolution verabschiedet und eine Delegation unter der Leitung von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gewählt, die zur Londoner Außenministerkonferenz reisen sollte – ihr wurde allerdings die Einreise nach Großbritannien verweigert. Der Zweite Volkskongress, der noch eindeutiger von der SED dominiert wurde, schuf mit der Wahl eines „Deutschen Volksrates“ ein Quasi-Parlament, dessen Hauptaufgabe die Erarbeitung des Entwurfs einer Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik“ war, die am 19. März 1949 verabschiedet wurde. Der Volksrat beschloss gleichzeitig, diesen Entwurf einem noch zu wählenden Dritten Volkskongress zu unterbreiten. Die Wahlen zum Dritten Volkskongress fanden – beschränkt auf die SBZ und Ost-Berlin – am 15./16. Mai, wenige Tage vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 statt. Der gesamtdeutsche Anspruch hatte nur mehr rhetorische Bedeutung. Faktisch waren diese Wahlen, die erstmals auf der Grundlage von Einheitslisten des „Demokratischen Blocks der Parteien und Massenorganisationen“ stattfanden und bei denen trotz massiver Propaganda ein Drittel der Wähler mit Nein stimmten, Gründungswahlen für eine verfassungsgebende Versammlung des Teilstaates DDR. Am 30. Mai billigte der Dritte Volkskongress einstimmig den Verfassungsentwurf. Der vom Kongress gewählte Dritte Volksrat erklärte sich zur „Provisorischen Volkskammer“ der DDR, die am 7. Oktober 1949 einstimmig die Verfassung verabschiedete und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik proklamierte. Der Deutsche Volkskongress konstituierte sich nach Gründung der DDR als „Nationale Front des demokratischen Deutschland“. Wie die Bundesrepublik, so war auch die DDR schon längst de facto ein staatliches Gebilde, noch bevor sie offiziell gegründet wurde. Die DDR stellte sich als das wahre, demokratische und antifaschistische Deutschland dar, das radikal mit der unseligen Vergangenheit gebrochen und die
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Lehren aus der Geschichte gezogen habe. „Die drohende Gefahr eines imperialistischen Krieges“ habe, so formulierte es der erste Ministerpräsident der DDR, der frühere SPD-Politiker Otto Grotewohl, in seiner Regierungserklärung, „mit gebieterischer Notwendigkeit die Aufgabe gestellt, für den Kampf zur Wiedervereinigung Deutschlands, für den demokratischen Neuaufbau und für den Frieden eine wirkungsvolle und starke Führung zu schaffen“ (ND vom 12./13.10.1949). Staatsgründung und weitere Transformation der Gesellschaft, nach dem Vorbild der Sowjetunion gingen in der SBZ Hand in Hand. Eine Schlüsselrolle nahm in diesem Zusammenhang die 1. Parteikonferenz der SED im Januar 1948 ein. Dort wurde die ideologische Begründung sowohl für die noch nicht offen ausgesprochene Absicht, einen eigenen Staat zu gründen als auch für die Beschleunigung des politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses geliefert. In einer Entschließung der Konferenz war von der „kolonialen Versklavung“ Westdeutschlands durch den Imperialismus und seiner „Ausbeutung durch das deutsche und ausländische Monopolkapital“ die Rede. Die westdeutschen Politiker wurden als „Lakaien“ des Imperialismus bezeichnet. Ziel der westlichen Mächte sei es, „Westdeutschland zu einem Stützpunkt des Dollarimperialismus zur Beherrschung West- und Mitteleuropas und zur Eroberung der Weltherrschaft“ zu entwickeln, die westlichen Besatzungszonen würden zum „Aufmarschgebiet für einen neuen Krieg“ gemacht (Protokoll der 1. Parteikonferenz der SED. Berlin, 1949: 508f.). Vor diesem Hintergrund konnte die Forderung nach Abschluss eines Friedensvertrages, der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung „aus den demokratischen Parteien und Organisationen“ nur als politische Rhetorik wahrgenommen werden. Die 1. Parteikonferenz der SED stellte die Weichen in Richtung einer Sowjetisierung des politischen Systems. Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklung war die Erklärung der SED zur marxistisch-leninistischen „Partei neuen Typs“ nach dem Vorbild von Lenins Bolschewiki und später der KPdSU, die Forcierung der zentralen Wirtschaftsplanung durch die Einführung von Zweijahresplänen, die Erweiterung des volkseigenen Sektors, d. h. Enteignungen, erste Schritte in Richtung einer Kollektivierung der Landwirtschaft und schließlich die Förderung einer „demokratischen Kultur“ auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus (Protokoll der 1. Parteikonferenz der SED. Berlin, 1949: 518ff.). Nur zum Teil waren dies Neuheiten. Viel eher beschrieb die Parteikonferenz den status quo ante, nur war zuvor versucht worden, die politische Entwicklung in der SBZ hinter einem Vorhang von Bündnisparolen und gesamtdeutscher Rhetorik zu verstecken. Nunmehr wurde ohne Umschweife erklärt, dass eine Vereinigung mit Westdeutschland nur auf „demokratischer Grundlage“ und das heißt, nach den eigenen Bedingungen möglich sei. Zwar wurde der Begriff offiziell vermieden, aber jedem Beobachter war klar, dass die Entwicklung in Ostdeutschland in Richtung einer „Volksdemokratie“ nach dem Modell der osteuropäischen Länder verlaufen werde. Die Beschlüsse der 1. Parteikonferenz und andere Dokumente aus dieser Zeit zeigen, dass eine im Verhältnis zu den Volksdemokratien behutsamere Umgestaltung
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Staatsgründung und weitere Transformation der Gesellschaft
Sowjetisierung der SBZ/DDR
„Volksdemokratie“
Übernahme des sowjetischen Transformationsmodells
der gesellschaftlichen und politischen Strukturen in der SBZ nicht in Betracht gezogen wurde. Seit 1948 war erkennbar, dass an eine „Normalisierung“ der Verhältnisse und einen Abbau von Zwang und Willkür nicht zu denken war. Die ideologische und politisch-praktische Festlegung auf das – wenngleich den nationalen Bedingungen entsprechend modifizierte – sowjetische Modell führte vielmehr zu einer Verschärfung des Klassenkampfes von oben. Resümierend lässt sich festhalten, dass nach einer kurzen Zeitspanne, in der die besonderen nationalen Bedingungen beim Aufbau des Sozialismus betont wurden, die stalinistische Transformationskonzeption und das sowjetische Entwicklungs- und Organisationsmodell von der SED (ebenso wie von den anderen osteuropäischen kommunistischen Parteien) für die SBZ/DDR übernommen wurden. Dieser Prozess wurde bereits 1948 eingeleitet und in den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz 1952, die den „Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe“ machte, bestätigt und programmatisch untermauert. Der Widerspruch zwischen politischer Integration in den Block und nationaler Option war in der SBZ/DDR noch schwerer zu vermitteln, als in der jungen Bundesrepublik. Sowjetisierung und Stalinisierung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in der Sowjetischen Besatzungszone – und seit 1949 in der DDR – erfolgten nach dem Vorbild des von der KPdSU entwickelten Transformationsund Gesellschaftsmodells (Glaeßner, 1977: 81ff.; Meuschel, 1992: 116ff.; Weber, 1988: 25ff.). Die SED übernahm den „Leninismus“ Stalinscher Prägung. Zunehmende Repressionen im Inneren und der offene Ausbruch des Kalten Krieges mit der Berlin-Krise des Jahres 1948 ließen die Eigenständigkeit demokratischer politischer Kräfte wie Schnee in der Sonne schmelzen. Mit der Erklärung der SED zur Leninschen „Partei neuen Typs“, der Absage an die demokratischen Traditionen der bürgerlichen Revolution von 1848 und die Kritik der „Fehler“ der Novemberrevolution des Jahres 1918 war der 1946, kurz vor der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED von einem prominenten KPDFunktionär, Anton Ackermann, (Einheit, 1/1946: 22ff.) propagierte besondere deutsche Weg zum Sozialismus definitiv verlassen und eine gesellschaftliche und politische Umgestaltung nach dem Muster der Sowjetunion ins Werk gesetzt worden. Die Art und Weise, in welcher der Aufbau der neuen politischen Ordnung vor sich ging, insbesondere die von der SMAD und deutschen Stellen praktizierte politische Repression, willkürliche Verhaftungen, Enteignungen und soziale Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen ließen die anfangs durchaus erkennbare Legitimationsgrundlage, den Antifaschismus und das Versprechen eines demokratischen Neubeginns erodieren. Die den anderen politischen Kräften und „bürgerlichen“ Parteien anfangs eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten wurden weiter eingeschränkt und blieben schließlich im Blocksystem nur als leere Hülsen bestehen. Die neue (Teil)Gesellschaft war bereits vor Gründung des Staates DDR ihrer kurz nach dem Krieg entstandenen eigenständigen politischen und gesellschaftlichen Organisationen beraubt. Parteien und intermediäre Institutionen waren in das Blocksystem eingesperrt und unter die Suprematie der SED gezwungen.
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Ökonomisch bedeutete die Sowjetisierung, dass die für einen ganz anderen Sowjetisierung der historischen Kontext und wirtschaftlichen Entwicklungsstand in den 1930er- DDR Jahren in der Sowjetunion entwickelten Methoden zentraler staatlicher Wirtschaftsplanung und nachholender Industrialisierung auf die DDR (und die anderen Volksdemokratien) übertragen wurden. Ideologisch manifestierte sich die bedingungslose Festlegung auf das sowjetische Modell in der Übernahme des von Stalin im „kurzen Lehrgang“ der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) von 1938 und seinem Buch „Fragen des Leninismus“ vermittelten Geschichtsbildes und ideologischen Kanons. Der „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“ offerierte ein geschlossenes Weltbild und beanspruchte allgemeine Deutungsmacht und geriet zur reinen Legitimationswissenschaft für die unbeschränkte Herrschaft der marxistisch-leninistischen Partei. Sichtbarster Ausdruck des Stalinismus, aber keineswegs, wie die Kritik Entstalinisierung Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 glauben machen wollte, einziges Element, war der „Personenkult“. Nach dem Tode Stalins im März 1953 und den durch die Nachfolgekämpfe verursachten Unsicherheiten setzte der XX. Parteitag der KPdSU neue Rahmenbedingungen für die regierenden kommunistischen Parteien – auch für die SED. Sukzessive wurden einstmals sakrosankte Elemente der Stalinschen Lehre über Bord geworfen und Abschied vom Stalinismus als integralem Element des „Marxismus-Leninismus“ genommen. Walter Ulbricht, einstmals bedingungsloser Gefolgsmann Stalins, verkündete im März 1956, dass Stalin nicht zu den Klassikern des Marxismus-Leninismus gerechnet werden könne (ND vom 18.3.1956: 3). Der Terror der Stalinzeit endete, aber die sozialistischen Länder blieben repressive Systeme ohne Rechtsstaatlichkeit und politische Freiheiten. Politische und wirtschaftliche Reformen wurden eingeleitet, aber die Grundstrukturen des stalinistischen politischen Systems: die Herrschaft der Partei, zentrale staatliche Planung der Wirtschaft und ideologischer Monismus wurden nicht angetastet. Die Vorstellung, dass sozialistische Systeme reformbedürftig sein könnten, war dem Stalinismus fremd und wurde als „revisionistisch“ denunziert (Meuschel, 1992: 123ff.). Nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurde die Vorstellung akzeptiert, dass sich auch der Sozialismus in einer Entwicklung befinde und an veränderte Zeitläufe angepasst werden müsse. Außer in der ýSSR 1968 und nach der 19. Parteikonferenz der KPdSU im Januar 1987 wurde daraus aber parteioffiziell nie der Schluss gezogen, dass es einer grundlegenden Reform der Ideologie und der Herrschaftskonzeption der marxistisch-leninistischen Parteien bedürfe. So schwankte deren Reformbereitschaft und Reformfähigkeit stets zwischen technokratischen Anpassungsversuchen an die veränderte Wirklichkeit und ideologisch motivierter Furcht vor einer Auflösung der führenden Rolle der Partei (Glaeßner, 1977: 101ff.). Die Entwicklung in der DDR machte davon keine Ausnahme.
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4.4 Krisen und Reformen
Problematik des Begriffs „Reform“ bei der Analyse der DDR-Entwicklung
Systemstrukturen und politische Reformen
Das gesellschaftliche und politische System der DDR hat nie über einen längeren Zeitraum hinweg zu Stabilität und Kontinuität finden können. Die Entwicklung ist von periodischen Krisen und von halbherzigen, vorzeitig abgebrochenen Reformversuchen gekennzeichnet. Nur die 1970er- und frühen 1980er-Jahre stellten eine Zeit relativer Ruhe und Normalität dar. Die großen Krisen der DDR-Geschichte sind allgemein bekannt: der Aufstand des 17. Juni 1953, der Mauerbau am 13. August 1961 und die finale Krise des Jahres 1989. Für das innere Gefüge von Gesellschaft und Staat von kaum geringerer Bedeutung waren krisenhafte Entwicklungen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, wiederkehrende kulturpolitische Auseinandersetzungen, wie die nach dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965, den Repressionen gegen Künstler und Schriftsteller Ende der 1970er-Jahre (Walther, u.a., 1991) und immer neue Flucht- und Ausreisewellen. Schwerer fällt die Antwort auf die Frage, welche Reformen für die Entwicklung der DDR von Bedeutung waren und ob überhaupt von Reformen gesprochen werden kann. Reformpolitik in der DDR war stets das Ergebnis politischen Kalküls der SED, nicht aber aus der Gesellschaft entspringender und politisch umgesetzter Wille zur Veränderung. Im Rückblick sind zwei Reformvorhaben von Bedeutung: Die auf dem VI. Parteitag der SED eingeleiteten Wirtschaftsreformen und die nach dem VIII. Parteitag der SED begonnene neue Wirtschaftsund Sozialpolitik. Während das „Neue Ökonomische System“ des Jahres 1963 ein technokratisches Modernisierungskonzept darstellte, war die Strategie der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ nach 1971 als autoritäres wohlfahrtsstaatliches Modell angelegt, das im Bereich der Wirtschaftslenkung auf eine Rezentralisierung der Planung und Anleitung der Staatswirtschaft zielte. Die Entwicklung in der DDR (und in den anderen sozialistischen Ländern) war durch ein Nebeneinander und Nacheinander von Reform und Krise gekennzeichnet. Krisen waren das Resultat verschleppter Reformen, wie der 17. Juni 1953 und die Krise des Jahres 1989, sie waren aber auch Auslöser von Reformen, die, halbherzig betrieben, erneut krisenhaften Entwicklungen Vorschub leisteten.
4.4.1 Das Erbe des Stalinismus: Die fehlgeschlagene Liberalisierung der 1950er-Jahre „Planmäßiger Aufbau des Sozialismus“ als Ziel: Die Folgen der 2. Parteikonferenz der SED 1952
Ähnlich wie 1948, als auf der 1. Parteikonferenz die Entscheidung für die Angleichung der DDR an die Volksdemokratien, die Proklamation der SED zur Partei neuen Typs und eine radikale Absage an die demokratischen Traditionsbestände der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ erfolgten, wurde auch der nächste Schritt zur Transformation des politischen Systems auf einer Parteikonferenz verkündet. Es waren erneut nicht staatliche Institutionen, wie die Volkskammer oder die Regierung, die den weiteren politischen Weg der DDR bestimmten, sondern die SED.
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Die 2. Parteikonferenz, die vom 9. bis 12. Juli 1952 tagte, brachte die endgültige, nunmehr auch explizite Angleichung an das sowjetische Modell. Mit der Parole vom „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ war die definitive Absage an spezifisch nationale Sonderbedingungen verbunden. Erneut bestätigten die Beschlüsse der Parteikonferenz nur, was in der Praxis bereits geschehen war. 1950 war die DDR Mitglied des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) geworden und damit in den Austausch mit der sowjetischen und den osteuropäischen Ökonomien eingebunden. Der Fünfjahresplan 1951 bis 1955 war nach dem Muster vergleichbarer Pläne in der Sowjetunion gestaltet und sah vor allem einen Ausbau der schwerindustriellen Basis der DDR vor. Die Anzahl der Volkseigenen Betriebe (VEB) war erheblich angewachsen, z. T. durch die sukzessive Rückgabe der Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG). Private Landwirtschaft, Handwerk und Handel gerieten unter immer stärkeren Kollektivierungsdruck. Damit einher ging die Verschärfung der innenpolitischen Repression. Die Parole der SED lautete seit 1951: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“. Der Personenkult um Stalin erreichte pseudoreligiöse Züge. Auf allen Parteiversammlungen wurde der nicht anwesende Genosse Stalin in das Ehrenpräsidium gewählt, zu seinen Ehren blieb ein Stuhl frei. Ein vergleichbarer Personenkult wurde um Walter Ulbricht, den Generalsekretär der SED und 1. stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, veranstaltet. Die Vorbereitung der 2. Parteikonferenz fiel in die Zeit der „Stalin-Note“, also des Angebots der Sowjetunion an die Westmächte, unter der Bedingung der Neutralität am Ende eines Prozesses freie Wahlen in Gesamtdeutschland abzuhalten. Es ist vermutet worden, dass dies der Grund dafür war, dass während der Vorbereitung über das eigentliche Ziel der Parteikonferenz Unklarheit bestand, da sich die Entscheidung, in der DDR den Sozialismus aufzubauen mit dieser gesamtdeutschen Initiative nicht vertragen hätte (Staritz, 1984: 179ff.). Nach der Ablehnung des sowjetischen Vorschlags durch die Westmächte und die Bundesregierung war die Situation aus der Sicht der SED klar: Den amerikanischen, englischen und französischen Imperialisten sei es mit Hilfe der reaktionärsten Kreise des westdeutschen Großkapitals gelungen, Westdeutschland zu versklaven und auszuplündern. Die Arbeiterklasse und die „patriotischen Kräfte“ Westdeutschlands würden, so meinte Walter Ulbricht in seiner Rede auf der Parteikonferenz, diese Versklavung aber nicht ewig dulden, sondern alles unternehmen, „um aus der amerikanischen Unfreiheit auszubrechen und vereint mit den Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik ein selbständiges freies Leben aufzubauen“ (Protokoll der 2. Parteikonferenz, Berlin 1952: 38). Ein knappes Jahr später am 17. Juni 1953 lehnte sich die Arbeiterklasse der DDR gegen die SED auf und zeigte, was sie von solchen Vorstellungen hielt. Ermutigt durch den Tod Stalins im Frühjahr 1953 und den von der sowjetischen Führung eingeleiteten „Neuen Kurs“ war auch in der DDR die Hoffnung auf eine Lockerung der repressiven Politik der SED, auf Liberalisierung und Reformen gewachsen. Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes war dafür kein Raum mehr. Selbst zuvor begonnene vorsichtige Reformschritte wurden gestoppt. Erst zwei Jahre später wurde an Ideen des „Neuen Kurses“ angeknüpft.
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Eine erste Debatte über die Rolle des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts
Die Folgen des XX. Parteitages der KPdSU
Konsolidierung der DDR durch veränderte außenpolitische Rahmenbedingungen
1955 setzte in der Sowjetunion eine Debatte über die wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die planmäßige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft ein. Sie führte zu verstärkten Anstrengungen in diesem Bereich und legte die Grundlagen für den Triumph der sowjetischen Weltraumtechniker, die 1957 noch vor den USA einen Satelliten (Sputnik) in den Weltraum schicken konnten. Diese Neuorientierung hatte auch in der DDR einen – wenngleich zuerst eher zögerlichen – Wandel in der Wissenschafts- und Bildungspolitik zur Folge. Die Parteiführung begann zu erkennen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt einen immer größeren Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung hatte und dass die bisherigen Planungs- und Lenkungsmethoden diesen Herausforderungen nicht gewachsen waren. Vor allem aber musste man sich von der Verdammung moderner Wissenschaftsdisziplinen wie der Kybernetik und Systemtheorie als „bürgerliche“ Pseudowissenschaft verabschieden und sich statt dessen ihrer Erkenntnisse vergewissern um die Planung, Leitung und Lenkung der sozialistischen Gesellschaft zu modernisieren. Bis die SED sich dazu durchgerungen hatte, vergingen noch Jahre. Sie fürchtete um das Erklärungsmonopol des Marxismus-Leninismus und sah die Gefahr, dass damit ihre eigene exklusive Rolle in Frage gestellt werden könne. Die Öffnung der ideologischen Diskussion nach dem XX. Parteitag der KPdSU war für die SED in besonderer Weise prekär. Sie öffnete Schleusen, die die SED lieber geschlossen gehalten hätte. Der XX. Parteitag und vor allem die schon bald in der DDR kursierende „Geheimrede“ Nikita Chruschtschows (Crusius/Wilke, 1977: 487ff.) führten zu einer tiefen Verunsicherung der Mitglieder und Funktionäre der SED. Erneut stellte sich, wie nach Stalins Tod drei Jahre zuvor, die Frage, wie es denn um den Stalinismus in der DDR bestellt sei. Auf der anderen Seite zeichnete sich eine Konsolidierung der Situation ab: Die Existenz der DDR, die angesichts gelegentlich vorgebrachter gesamtdeutscher Optionen der Sowjetunion immer wieder in Frage stand, erschien gesichert. Erst 1955 mit der weitgehenden Souveränität der Bundesrepublik und der DDR wurde erkennbar, dass beide deutsche Teilstaaten eine längerfristige Perspektive haben würden. Für die DDR bedeutete dies, dass die „Errungenschaften“ des Sozialismus nicht mehr ohne weiteres auf dem Altar der nationalstaatlichen Einheit geopfert werden würden. Seit Stalins Tod 1953 hatte sich auch die internationale Situation entscheidend geändert. Die Sowjetunion hatte ihre Rolle als Atommacht gefestigt und schickte sich an, das Tor zum Weltraum aufzustoßen. Im gleichen Zuge hatte sie erste vorsichtige Schritte unternommen, eine neue Außenpolitik gegenüber den westlichen Demokratien und den sich als eigene Staatengruppe etablierenden „blockfreien“ Ländern zu formulieren – das Stichwort lautete „friedliche Koexistenz“. In einer Erklärung der offiziellen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom 12. Juli 1955 wurde dieser Kurswechsel amtlich: Vorrang habe jetzt die „Gewährleistung der europäischen Sicherheit“, demgegenüber sei die zuvor propagierte Durchführung von Wahlen in Gesamtdeutschland eine „untergeordnete Frage“. Der Abschluss des Warschauer Vertrages im Mai 1955 und die formale Anerkennung der Souveränität der DDR seitens der Sowjetunion, die zur Auflösung der Hohen Kommission der UdSSR in Deutschland und zum Außerkraftsetzen
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von Befehlen und Anordnungen der SMAD führten, stellten eine Zäsur in der Geschichte der DDR dar. Nicht nur in außenpolitischer Hinsicht ist das Jahr 1955 ein Schlüsseljahr. Vor dem Hintergrund einer gesicherten staatlichen Perspektive gewann die Frage nach den politischen, ökonomischen und sozialen Zielen der Partei und der Gestaltung der administrativen Strukturen eine neue Bedeutung. Auf zwei Tagungen des ZK der SED im Juni und Oktober 1955 standen Fragen der Wirtschaftsleitung und der Arbeit des Staatsapparates auf der Tagesordnung (Glaeßner, 1977: 112ff.). In einer bis dahin unbekannten Offenheit wurde über eine partielle Reform der Planungs- und Leitungsmethoden diskutiert, die erst wenige Jahre zuvor, nach der 2. Parteikonferenz von 1952, als unabdingbare Voraussetzung und Begleiterscheinung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR propagiert worden waren. Kritisiert wurden bürokratische Aufblähungen und Auswüchse, die Nichtbeachtung von Weisungen der Partei, die Überzentralisierung und bürokratische Tendenzen im Staatsapparat. An Stelle der Hyperzentralisierung aller Entscheidungsabläufe wurden nunmehr Aspekte der Differenzierung und der Spezialisierung innerhalb der neuen institutionalisierten Planungs- und Leitungsapparate in den Vordergrund gestellt. Auf der 25. Tagung des Zentralkomitees der SED im Oktober 1955 wurde eine Reihe von Entscheidungen angekündigt, die auf eine faktische Dezentralisierung des Staatsapparates hinausliefen. Es ging um erweiterte Rechte der Volksvertretungen und der örtlichen Einrichtungen des Staatsapparates. Sie sollten größere Vollmachten für die regionale Wirtschaftspolitik und die kulturelle Entwicklung vor Ort erhalten. Im zentralen Staatsapparat wurde der „bürokratischen Arbeitsweise“ der Kampf angesagt. Eine stärkere funktionale Abgrenzung der Aufgaben der einzelnen staatlichen Institutionen und die engere Verkopplung der staatlichen Planung mit der Wirtschaft sollten die Effektivität staatlicher Leitung erhöhen. Mit diesem Aufgabenkatalog waren – wenngleich nur verklausuliert – die strukturellen Mängel des politischen Systems und der zentralen Planwirtschaft angesprochen, Mängel, die bis zum Ende der DDR nicht beseitigt werden konnten. Bemerkenswert war, dass erstmals von der Parteiführung selbst das Problem von Zentralisierung und Dezentralisierung der Leitungsstrukturen aufgegriffen wurde. Nur wenig davon wurde in die Praxis umgesetzt. Die hier angesprochenen Mängel und Lösungsvorschläge blieben auf der Agenda der Politik der SED, die auch dafür verantwortlich war, dass eine Strukturreform nicht in Gang kam. Die Debatte stellte keine der bislang vertretenen ideologischen Grundpositionen in Frage, warf aber einige Probleme auf und präsentierte Lösungsvorschläge, die später, nach 1963, im Zuge des „Neuen Ökonomischen Systems“ wieder aufgegriffen wurden. Die 1955 erstmals parteioffiziell geäußerte und später immer wieder aufgenommene Kritik am „Bürokratismus“ kam nie über die Beschreibung von Symptomen hinaus. Als Strukturdefekt des sowjetsozialistischen Systems wurde er in der SED erst in der Zeit der „Wende“ des Jahres 1989 erkannt.
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Reformüberlegungen im Bereich der Staats- und Wirtschaftsleitung
4.4.2 Das „Neue Ökonomische System“: Die Grenzen technokratischer Reformen in den 1960er-Jahren Veränderte Bedingungen für politische und ökonomische Reformen
Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS)
Zwei äußere Rahmenbedingungen veränderten die Chancen für Reformen in der DDR, die in den 1950er-Jahren zweimal, 1953 nach dem 17. Juni und 1956/57 im Zusammenhang mit den Unruhen in Polen und dem Volksaufstand in Ungarn, stecken geblieben waren. Der XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 hatte im neuen Programm der sowjetischen Partei eine weitreichende programmatische Öffnung vorgenommen. Ermutigt durch die wissenschaftlichen und technischen Erfolge, vor allem in der Weltraumforschung (und versteckt der Rüstung), hatte die KPdSU unter der Führung Nikita Chruschtschows den Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion proklamiert. Die Förderung von Wissenschaft und Forschung, Mechanisierung und Automatisierung sollten die Voraussetzungen schaffen, die „materiell-technische Basis des Kommunismus“ zu errichten (Programm und Statut der KPdSU, Berlin 1961: 64). Die SED formulierte zeitversetzt ähnliche Ziele und verband sie mit dem ideologischen Konstrukt des „umfassenden Aufbaus des Sozialismus“ in der DDR. Als zweite Rahmenbedingung ist die Abschottung der Grenzen gegenüber dem Westen am 13. August 1961 zu nennen. Sie schuf den Spielraum, der erforderlich war, um das größte sozial-ökonomische Experiment in der Geschichte der DDR nach den ökonomischen und sozialen Umwälzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu starten: das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS). Es sind Vorstellungen, die noch wenige Jahre zuvor als revisionistisch verdammt worden waren, die bei der 1963 begonnenen Veränderung der Planungsverfahren, der Einführung „materieller Hebel“, also finanzieller Anreize für Individuen und Betriebe, der behutsamen und zögernden Anpassung der politischadministrativen Strukturen an die veränderten Gegebenheiten und der partiellen Öffnung der Avantgardeorganisation gegenüber der Gesellschaft Pate gestanden haben. Mit dem NÖS gelang es erstmals, ein relativ geschlossenes Reformkonzept in die Praxis umzusetzen. Der entscheidende Unterschied zu bisherigen Vorstellungen lag darin, dass Kriterien ökonomischer Rationalität und Effektivität in den Mittelpunkt aller Überlegungen gestellt wurden. Die materiellen Interessen der „Werktätigen“ wurden nicht mehr als bedauerliche Relikte einer überholten kapitalistischen Denkweise angesehen; vielmehr setzte man alles daran, sie produktiv zu nutzen. Das „Prinzip der materiellen Interessiertheit“, die Kopplung von individueller Leistung und materieller Vergütung sollte den Leistungswillen und die Verantwortungsbereitschaft des einzelnen heben und bisher brachliegende produktive Reserven mobilisieren. Die SED setzte ferner auf die segensreichen Wirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, in der Hoffnung, mit seiner Hilfe die entstandenen ökonomischen und sozialen Probleme lösen zu können. Mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und politisch-sozialer Modernisierung sollte die ökonomische Leistungsfähigkeit gesteigert und die DDR zu einem der führenden Industriestaaten der Welt entwickelt werden. Die SED war aber nicht in der Lage, die entscheidenden ideologischen Voraussetzungen für eine solche Politik zu 218
garantieren: Die erwartete Entwicklung der Wissenschaft zur „Hauptproduktivkraft“ hätte der Freiheit der Wissenschaft, einer Öffnung gegenüber kritischen Fragen an das eigene System und der Diskussion von der Parteilinie abweichender Gedanken bedurft. Eine Liberalisierung des politischen Systems wäre unumgänglich gewesen. In der Organisations-, Planungs- und Prognoseeuphorie der 1960er-Jahre meinte man aber, auf eine weiter reichende Liberalisierung verzichten zu können und angesichts der deutschen Sondersituation auch verzichten zu müssen. Die Rationalisierung wirtschaftlicher und staatlicher Entscheidungsabläufe fand dort ihre Grenze, wo sie eine wesentliche Öffnung des Gesamtsystems erfordert hätte. Das NÖS war die Antwort auf eine am Ende der 1950er, Anfang der 1960erJahre heranreifende Fundamentalkrise des Systems. Das Scheitern des 1959 – mitten in einer bereits mehrfach unterbrochenen Fünfjahrplanperiode – begonnenen und 1961 aufgegebenen Siebenjahrplans hatte die SED zu dem Eingeständnis gezwungen, dass die bisherigen Methoden der Wirtschaftsplanung, trotz der seit 1955 vorgenommenen Veränderungen der Leitungsstrukturen, den Bedingungen einer hochindustrialisierten Gesellschaft nicht mehr entsprachen. Die in der „ökonomischen Hauptaufgabe“ des V. Parteitages von 1958 geforderten hohen Steigerungsraten konnten nicht realisiert werden. Die gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten stiegen 1957 um 7 %, 1958 um 12 % und 1959 um 11 %, gingen dann aber auf 6 % im Jahre 1960 und 4 % im Jahre 1961 zurück. Die unrealistischen Planziele des Siebenjahrplanes bewirkten schließlich eine Beeinträchtigung der zukünftigen Wachstumschancen; die Anlageinvestitionen stagnierten, begonnene Investitionsvorhaben konnten nicht fertiggestellt werden oder verzögerten sich, bei der Lieferung von Rohstoffen und Zwischenprodukten traten Störungen auf. Darüber hinaus waren in der DDR bereits 1957/58 trotz der geforderten Steigerung der Arbeitsproduktivität Tendenzen erkennbar, dass der Übergang zu neuen modernen Technologien sich nicht so reibungslos vollzog wie gehofft. Dass sich trotz aller dieser, auch in anderen sozialistischen Ländern zu beobachtenden Dysfunktionen eine insgesamt positive Entwicklung der Volkswirtschaft feststellen lässt, erklärt Wlodzimierz Brus (1972: 49ff.) damit, dass es möglich war, Vorteile aus den Fehlern der früheren Periode zu ziehen. Die Politik in den letzten Jahren der Stalinära habe in den sozialistischen Ländern die rationelle Nutzung des Wirtschaftspotentials, vorab im Sektor der Konsumgüterproduktion und der landwirtschaftlichen Produktion, so stark behindert, dass es genügt habe, die krassesten Fehler zu korrigieren, um relativ bedeutende Effekte zu erzielen. Die verspätete Inbetriebnahme industrieller Großprojekte, die in der vorangegangenen Periode mit großen Kosten installiert worden waren, sei hinzugekommen. Diese Gegebenheiten hätten lange Zeit die institutionellen Faktoren in den Hintergrund treten lassen, die die Entwicklungsdynamik hemmten. Hier setzte das „Neue Ökonomische System“ an. Die Reform der Planungsund Leitungsstrukturen in der Volkswirtschaft und die Einführung neuer Methoden der Planung sollten eine kontinuierliche und abgestimmte Entwicklung der einzelnen Bereiche der Wirtschaft ermöglichen und ein rasches Wirtschaftswachstum in die Wege leiten. Das alles erforderte eine wissenschaftlich fundierte
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Das NÖS als Antwort auf ökonomische Krisenerscheinungen
Reform der staatlichen Wirtschaftsplanung
Veränderungen in der staatlichen Administration und die Rolle von Experten
Der „umfassende Aufbau des Sozialismus in der DDR“ als politisches Ziel der Reformpolitik
Vorausschau und eine möglichst exakte Analyse der zu erwartenden ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Aus der Einsicht, dass die obersten Planungsbehörden kaum in der Lage waren, alle Prozesse zentral zu lenken, wurde der Schluss gezogen, dass eine gewisse Dezentralisierung unumgänglich sei. Die zentrale staatliche Planung sollte auf die für die volkswirtschaftliche Entwicklung besonders wichtigen Aspekte konzentriert werden. Die weniger bedeutsamen Entscheidungen sollten von den produzierenden Einheiten und den mit Wirtschaftsfragen befassten Institutionen auf den verschiedenen Ebenen der Leitungshierarchie getroffen werden. Für den Staats- und Wirtschaftsapparat bedeutete dies, dass die zentralen Planungsbehörden nicht mehr mit allen Detailentscheidungen belastet wurden, sondern sich auf strategische Grundsatzentscheidungen konzentrieren konnten. Die taktischoperativen Aufgaben wurden den nachgeordneten Leitungsorganen übertragen. Entscheidungsdelegation nach unten bei gleichzeitiger Effektivierung eines Systems ökonomischer Kontrolle von oben wurde als wirkungsvolleres Prinzip zentraler Leitung angesehen als die Zentralisierung sämtlicher Entscheidungskompetenzen. Die Einführung neuer Planungs- und Leitungsmethoden beschränkte sich nicht auf den Bereich der Wirtschaft, sondern bezog auch die staatliche Administration ein. Die wirtschaftlichen und organisatorischen Aufgaben des Staatsapparates wuchsen eher, als dass sie abnahmen. Sieht man einmal von den Sicherheitsapparaten mit ihrer eigenen Erfolgslogik ab, sollte auch die Arbeit des Staatsapparates von ökonomischen Rationalitätskriterien bestimmt sein. Organisations- und Leitungsmethoden, die sich in der Wirtschaft bewährt hatten, sollten vom Staatsapparat übernommen werden. Der Anspruch, alle gesellschaftlichen Prozesse in die Planung einzubeziehen, stellte neue Anforderungen an den Staatsapparat. Er versuchte, dem gerecht zu werden, indem er sich des wissenschaftlichen Sachverstandes von Experten und Spezialisten bediente. Ziel des NÖS war nicht nur eine Verbesserung der Arbeit des Wirtschaftsund Staatsapparates. Es ging vielmehr um nichts Geringeres als um die Rationalisierung sämtlicher Leitungsprozesse, in der Wirtschaft, im Staatsapparat, in der Wissenschaft, im Bildungswesen, in der Kultur und so weiter. Das NÖS war also keine Wirtschaftsreform im engeren Sinne. Das Ziel war viel anspruchsvoller. Mit seiner Hilfe sollte eine neue Entwicklungsetappe eingeleitet werden: der „umfassende Aufbau des Sozialismus in der DDR“. Der 1963 in den Mittelpunkt der Parteipropaganda gestellte Begriff blieb ähnlich leerformelhaft, wie 1952 nach der 2. Parteikonferenz die Rede vom „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“. Gemeint war offenkundig eine, durch äußere Einflüsse des „westdeutschen Imperialismus und Revanchismus“ weitgehend unbeeinflusste Entwicklung in der DDR (Programm der SED, 1963: 70). Dies wurde von der SED nicht etwa als eine pragmatische und aus den aktuellen Gegebenheiten entstandene Aufgabenstellung angesehen, sondern es wurde emphatisch vom Beginn eines neuen Zeitalters gesprochen, dem Zeitalter des Sozialismus, in das die DDR bereits eingetreten sei. Dagegen erschienen die realen Probleme eher unbedeutend – und es gab massive Probleme bei der Realisierung dieser Politik forcierten ökonomischen Wachstums im Zeichen der „wissenschaftlich-technischen Revolution“.
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4.4.3 Sozialismus als „System“ und Ideologie der Gemeinschaft Bereits 1965 war eine zweite Etappe des NÖS proklamiert worden, in der nach offizieller Darstellung einige Mängel der ursprünglichen Konzeption korrigiert werden sollten. Faktisch bedeutete es die Rücknahme wichtiger Reformvorhaben zu Gunsten einer erneuten Verstärkung des Politischen. Ein entscheidender Faktor für diese Revision war der Sturz des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow 1964, dessen politischer Kurs auf Veränderungen des Sowjetsystems zielte, an die in den 1980er-Jahren erneut angeknüpft wurde. Die neue sowjetische Parteiführung unter Leonid Breschnew stoppte alle auch in der Sowjetunion diskutierten innenpolitischen Reformvorhaben. Das NÖS, das zeitweilig als eine Art Pilotprojekt für andere sozialistische Länder fungiert hatte, war in dieser veränderten politischen Landschaft nicht mehr zeitgemäß. Dies erleichterte es den zahlreichen Reformgegnern auch in der DDR das Rad zurückzudrehen. Die Zurücknahme des NÖS, das eines der Lieblingsprojekte des wissenschaftsund fortschrittsgläubigen Ersten Sekretärs des ZK der SED, Walter Ulbricht, war, bedeutete aber keine Rückkehr zum status quo ante. Vielmehr wurden einzelne Elemente weitergeführt und weiterentwickelt. 1965 setzten Bemühungen ein, das ursprüngliche Konzept über den ökonomischen Sektor hinaus zum Vorbild für alle Bereiche der Gesellschaft zu machen und zugleich technokratischen und ökonomistischen Tendenzen entgegenzutreten, die die Parteiführung bei einigen Wirtschaftsfunktionären auszumachen glaubte. Auf einer Tagung des Zentralkomitees vertrat Walter Ulbricht mit Nachdruck die Auffassung, dass die ökonomischen Anforderungen nur dann in einem richtigen Zusammenhang erkannt werden könnten, wenn man von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR ausgehe, was heiße, die Probleme und Aufgaben „von der Warte des Marxismus-Leninismus“ aus anzugehen. Äußerungen wie diese ließen erkennen, dass die Parteiführung die Gefahren sah, die sich aus einem bloß technisch-pragmatischen Verständnis der Tätigkeit des Staats- und Wirtschaftsapparates, aber auch des Parteiapparates, auf Dauer Probleme für die Legitimation ihres eigenen Führungsanspruchs ergeben könnten. Das NÖS hatte unverkennbar die Tendenz, über den engeren Bereich der Wirtschaft hinauszugreifen. Es sollte den Beginn einer alle Bereiche der Gesellschaft umfassenden Reform markieren. Für die ideologischen Gralshüter war diese Absicht bedrohlich, denn schließlich hätte das ja bedeutet, dass Kriterien wie Effektivität, Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Kontrolle, Berechenbarkeit verallgemeinert werden mussten – und wo bliebe dann das Recht und die Fähigkeit der Partei, jederzeit in alle Bereiche der Gesellschaft politisch einzugreifen? Der Ausweg, den die SED auf ihrem VII. Parteitag 1967 beschritt, war auf den ersten Blick faszinierend: Mit Hilfe von Regelungsvorstellungen, die aus der Kybernetik und Systemtheorie entlehnt waren, sollte versucht werden, ein gesamtgesellschaftliches Funktionsmodell zu entwickeln, das neben den ökonomischen auch alle anderen gesellschaftlichen Prozesse in ihrer gegenseitigem Verflechtung analysieren und in die Planung und Leitung einbeziehen sollte – in der Sprache der SED lautete die Zielstellung: „Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“. Im Rahmen dieser Systemvorstellung wurde der ökonomischen Entwicklung, dem „Ökonomischen System des Sozia221
Rücknahme wichtiger Reformvorhaben
Das Konzept des „entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ und das „Ökonomische System des Sozialismus“
Versuch einer Verbindung von Parteiherrschaft und Expertokratie
lismus“ (ÖSS), die entscheidende Rolle zugewiesen. Eine nach neuen wissenschaftlichen Methoden gelenkte und geplante Wirtschaft sollte die Ressourcen bereitstellen, die notwendig waren, um auch andere Bereiche der Gesellschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur usw. in eine gesamtgesellschaftliche Modernisierungsstrategie einzubeziehen. Die Argumentation der Parteiführung ließ allerdings erkennen, dass sie bestrebt war, die zuvor im Rahmen des NÖS registrierbaren Tendenzen einer einseitigen Ausrichtung auf die Steuerung der Ökonomie zu vermeiden. Daher betonte sie die politische Dimension des Projekts, die Bedeutung der führenden Rolle der Partei und die Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Tendenzen eines „Ökonomismus“ wurde eine Absage erteilt. Die Hoffnung der SED richtete sich darauf, alle Bereiche der Gesellschaft mit Hilfe neuer, wissenschaftlicher Planungs- und Leitungsmethoden gleichmäßig entwickeln zu können. Dazu sollten langfristige Prognosen erstellt werden, die die Grundlage für wirtschafts- und strukturpolitische, wissenschafts- und forschungspolitische, kultur- und bildungspolitische Entscheidungen bilden sollten. Die Nutzung der Kybernetik und Systemtheorie, die Entwicklung einer besonderen Leitungswissenschaft, der „Marxistisch-Leninistischen Organisationswissenschaft“ (MLO) und eine intensive Vermittlung leitungswissenschaftlicher Kenntnisse an die führenden Kader der Partei, der Wirtschaft und des Staatsapparates (Glaeßner/Rudolph, 1978: 219ff.) sollten die Voraussetzungen für eine qualitative Verbesserung der Planung der gesellschaftlichen Entwicklung schaffen. Die Planung selbst war die Aufgabe von Spezialisten und Experten. Für die Partei kam es darauf an, keine Verselbstständigungstendenzen innerhalb des Planungsund Leitungssystems zuzulassen. Sie musste sich, wollte sie dies verhindern, selbst, genauer: der Parteiapparat musste sich selbst die fachliche Kompetenz zulegen, um die Arbeit der Experten im Staats- und Wirtschaftsapparat, in Beratungskommissionen und wissenschaftlichen Stäben beurteilen zu können und die politische Entscheidungsfreiheit nicht zu verlieren. Die SED als leitende Kraft und als Zentrum perspektivischen Denkens – das war die Vision der Parteiführung und ihrer wissenschaftlichen Berater. Die Entwicklungen moderner leitungswissenschaftlicher Methoden und Prognosetechniken ließen die Hoffnung entstehen, dass der Partei nun endlich die Instrumentarien zur Verfügung stünden, die es ermöglichten, die objektiven Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung zu bestimmen und Irrtümer, wie sie in der Entwicklung der DDR immer wieder aufgetreten waren, weitgehend auszuschließen. Würden diese Instrumente erst einmal voll entwickelt sein und beherrscht werden, ginge es nur noch darum, eine richtige Struktur- und Wirtschaftspolitik und eine exakte Bestimmung der gesellschaftlichen Aufgaben vorzunehmen. Gesellschaftliche Planung in überschaubaren Zeiträumen wurde hier scheinbar zu einem rein technischen Problem. Das bedeutet nun keineswegs, dass der politische Führungsanspruch der Partei in Frage gestellt worden wäre. Sie legitimierte ihn nur neu: Sie sah sich jetzt in der Lage, die einzelnen Schritte der gesellschaftlichen Entwicklung mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Methoden so exakt bestimmen, planen und leiten zu können, dass allenfalls noch leichte Friktionen, kaum aber mehr Krisenerscheinungen auftreten könnten. Mit ernsthaften ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Konflikten glaubte man nicht mehr rechnen zu müssen.
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Mit dieser Haltung stand die Parteiführung nicht allein; sie teilte sie mit vielen Wissenschaftlern der jüngeren Generation. Es war, so resümiert einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler der DDR, Harry Maier (er kam 1986 in die Bundesrepublik), „die Illusion meiner Generation von Gesellschaftswissenschaftlern der DDR, dass wir glaubten, eine zentralgeleitete Wirtschaft könne das Lernen durch Schocks durch ein weiträumig vorausschauendes Lernen ablösen. Hierdurch hofften sie, die sozialen Kosten gesellschaftlicher Lernprozesse beträchtlich zu verringern“ (Die Zeit vom 5.12.1986: 29). In der sozialen Wirklichkeit führten die Reformen der 1960er-Jahre zu einer Ausdifferenzierung der Sozialstruktur der DDR, zu wachsender sozialer Ungleichheit und ungleichen Aufstiegschancen (Geißler, 1993; Glaeßner/Rudolph, 1978). Um diese nur zum Teil intendierten Folgewirkungen der Reformpolitik ideologisch abzufedern, wurde das Programm eines Sozialismus der Parteikader, Wissenschaftler und Ingenieure durch das Konstrukt der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ konterkariert. Ähnlich wie die Theorie, dass sich der Sowjetstaat zu einem „Staat des ganzen Volkes“ entwickele, wurde die Behauptung aufgestellt, die Klassen und Schichten in der DDR näherten sich sozial immer weiter aneinander an und es entstehe eine auf gemeinsamen Überzeugungen und Wertorientierungen beruhende politische und soziale Gemeinschaft. Das Parteiprogramm sprach von einer „Gemeinschaft freier Menschen“ und von der „politisch-moralischen Einheit aller Bürger“ (Programm der SED, 1963: 281; 305). Mit der sozialen und politischen Wirklichkeit hatten diese Vorstellungen nichts zu tun. Sie war durch das faktische Bündnis zweier Elitegruppen bestimmt: der alten Parteikader und der neuen, parteigebundenen „sozialistischen Intelligenz“, die sich auf eine Effektivierung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen, aber weder auf eine Liberalisierung noch gar auf eine graduelle Demokratisierung verständigt hatten (Ludz, 1970). Zusammenfassend lassen sich die Reformen der 1960er-Jahre als Versuch darstellen, die Konsequenzen aus der Erkenntnis zu ziehen, dass die revolutionäre Entwicklungsphase mit ihren politischen und sozialen Umbrüchen ihr Ende gefunden hatte und die DDR die entstandenen Strukturen sichern und modernisieren müsse. Die Transformation der gesellschaftlichen Grobstrukturen war beendet und es ging jetzt um die Konsolidierung des Erreichten. Hervorgerufen durch den Schock des 17. Juni 1953, die Entstalinisierung, die Systemkrisen in Ungarn und Polen und die oppositionellen Strömungen in der eigenen „neuen“ Intelligenz 1956/57, hatte die SED einsehen müssen, dass sie nicht mehr ohne weiteres in der Lage war, als einheitliches Handlungszentrum zu fungieren und die Gesellschaft bis in ihre feinsten Verästelungen hinein zentral zu lenken. Die ökonomische, wissenschaftlich-technische und soziale Entwicklung und die um sich greifende Differenzierung und Diversifikation gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen zwangen sie, ihre eigene Rolle zu überdenken. Nach einer Phase des Experimentierens, die etwa von 1954/55 bis 1963 dauerte, griff die SED bei der Ausarbeitung des NÖS Gedanken auf, die sie noch kurz zuvor als revisionistisch denunziert und massiv bekämpft hatte. Sie akzeptierte, dass die DDR, wie alle anderen wirtschaftlich entwickelten Länder auch, vor einer neuen Situation stand: Sie musste den Herausforderungen der zweiten industriellen oder wissenschaftlich-technischen Revolution gewachsen sein,
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Soziale Folgen der Reformpolitik und das ideologische Konstrukt einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“
Herausforderungen an die Führungsrolle der SED
wollte sie ihre Zukunft nicht verspielen. Der wesentliche Lernschritt, den die SED am Ende der 1950er-Jahre vollzogen hat, war die nur zögerlich akzeptierte Einsicht, dass diese Herausforderungen mit den tradierten Organisationskonzepten, mit überzogenem Bürokratismus und Überzentralisation nicht zu lösen seien. Da sie jedoch weder bereit noch in der Lage war, die anderen hemmenden Faktoren zu überwinden und eine offene und öffentliche Diskussion anstehender Probleme und möglicher Problemlösungen zu gestatten und freie Gestaltungsspielräume für die organisierte Vertretung von Individual- und Gruppeninteressen zur Verfügung zu stellen, blieben ihre Reformbestrebungen im Technokratischen stecken.
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Krisen als Folge von Strukturdefekten des sozialistischen Systems
Krisen und Krisenbewältigung
Vor dem Hintergrund der finalen Krise des sowjetischen Sozialismus erscheint die Geschichte der sozialistischen Länder häufig linear und historisch zwangsläufig. Wie die Darstellung der widersprüchlichen Reformversuche gezeigt hat, wäre ein solcher Rückblick auf das untergegangene System grob simplifizierend. Nicht in jedem Falle existenzgefährdend, aber von erheblicher Bedeutung für die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung waren immer wiederkehrende Konflikte: die Abkehr „revisionistischer“ Parteiintellektueller vom stalinistischen Modell und ihre Forderung nach Dezentralisierung und Entbürokratisierung im Jahre 1957, das Scheitern des ehrgeizigen 7-Jahrplanes Ende der 1950er-Jahre, der Mauerbau 1961, die Krise nach dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965, auf dem Liberalisierungsbestrebungen im Bereich der Kulturpolitik gestoppt worden sind, die inneren Folgen des „Prager Frühlings“ 1968, Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre, erneute Konflikte um die Kulturpolitik nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, den anschließenden Protesten und dem folgenden Exodus bedeutender Schriftsteller und Künstler, das Aufkommen einer eigenständigen, von den protestantischen Kirchen beschützten Friedensbewegung Anfang der 1980er-Jahre und schließlich die in längeren Abständen immer wieder aufflackernden Ausreisewellen über westliche Botschaften und die bundesdeutsche Vertretung in Ost-Berlin. Alle diese Konflikte, die sich nicht in jedem Falle krisenhaft zuspitzten, waren das Ergebnis eines im System des Sozialismus sowjetischen Typs angelegten Strukturdefekts: Die Herrschaft der marxistisch-leninistischen Partei, ihr Anspruch, als Avantgarde die gesellschaftliche und politische Entwicklung allein zu gestalten – und dazu historisch legitimiert zu sein – ließ keine eigenen, autonomen Artikulations- und Handlungsräume für Individuen und Gruppen zu. Die Gesellschaft des „realen Sozialismus“ war eine von der Partei geformte und gelenkte. Dort, wo die Bürger oder soziale Gruppen auf ihr Recht pochten, an der Gestaltung der Gesellschaft und der Politik beteiligt zu sein, waren sie entweder auf die hierarchischen Strukturen des Parteistaates angewiesen oder vor die Alternative der Systemopposition gestellt (Neubert, 1997). Erst seit den 1970er-Jahren ließ die SED das Entstehen privater und gemeinschaftsorientierter Freiräume zu, die der erste Vertreter der Bundesrepublik in
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der DDR, Günter Gauss, mit dem einprägsamen Begriff „Nischen“ beschrieben hat. Dieses faktische Eingeständnis, dass eine Gesellschaft auf Dauer nicht bis in alle privaten Lebensräume hinein staatlich organisierbar und mobilisierbar ist, hat die DDR in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren vor größeren Krisen bewahrt und ihr eine Phase relativer Ruhe und Stabilität beschert, jedoch keine dauerhafte Konsolidierung zur Folge gehabt.
4.5.1 Der 17. Juni 1953 – Ein Lehrbeispiel Der 17. Juni 1953 war die erste existenzielle Krise der kaum vier Jahre zuvor gegründeten DDR. Statt des proklamierten Sozialismus verlangte die Bevölkerung freie Wahlen und das Ende der SED-Herrschaft. Nur ein Jahr zuvor hatte die 2. Parteikonferenz der SED den Aufbau des Sozialismus in der DDR proklamiert. Dieses Programm bedeutete die offene Stalinisierung der DDR. Die Folgen waren eine weitere Zentralisierung der staatlichen Verwaltung, wie sie in der Auflösung der Länder und der Einführung der Bezirke ihren institutionellen Ausdruck fand, die Bevorzugung der Schwerindustrie vor der Konsumgüterproduktion, in der Absicht, sich vollständig von der Bundesrepublik abzukoppeln und eine „sozialistische Volkswirtschaft“ nach dem Modell der Sowjetunion der 1930er-Jahre und der Volksdemokratien nach 1945 . In der Industrie wurden die sowjetischen Methoden der „Stachanow-Bewegung“ zur Steigerung der Arbeitsproduktivität eingeführt. Die praktischen Auswirkungen dieser Politik betrafen vor allem die Arbeiter: Ihre Leistung wurde durch die Erhöhung der Normen schlechter bezahlt, sie standen unter einem permanenten Druck, freiwillig mehr zu arbeiten und gleichzeitig wurden ihnen Preiserhöhungen in der staatlichen Handelsorganisation (HO) zugemutet. In der Landwirtschaft und im Handel waren die Sozialisierungs- und Kollektivierungsmaßnahmen verschärft worden. Von der immer wieder betonten Freiwilligkeit konnte in der Praxis keine Rede sein. Selbständigen Handwerkern, Ladenbesitzern und Landwirten wurden allmählich die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Selbständigkeit entzogen. Sie bekamen z.B. keine Kredite mehr oder die Abnahme ihrer Produkte durch die staatliche Handelsorganisation (HO) wurde storniert, ganz zu schweigen von politischem Druck und häufig vorkommender Kriminalisierung wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen. Einen großen Einfluss hatte die veränderte äußere Situation. Nach dem Tod Stalins im März 1953 waren Zeichen einer vorsichtigen politischen Korrektur erkennbar. Die neue sowjetische Parteiführung hatte das Signal für einen „Neuen Kurs“ gegeben, der das Tempo der ökonomischen, sozialen und politischen Umwälzung vermindern und die Lebensbedingungen der Bürger verbessern sollte. Das beginnende politische „Tauwetter“ (den Begriff hat Ilja Ehrenburg geprägt), weckte in ganz Ost- und Mitteleuropa Hoffnungen auf Veränderungen und Reformen des stalinistischen Systems. Die Bevölkerung war des Terrors und des Zwangs ebenso überdrüssig wie der ständigen Aufforderung, mehr zu arbeiten, ohne dass sich dies in einer Verbesserung ihrer Lebenslage niedergeschlagen hatte. Die Unruhen waren vor allem das Ergebnis innerer sozialer Konflikte in den sozialistischen Ländern.
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Der politische Kurs der 2. Parteikonferenz der SED als Ursache für die krisenhafte Entwicklung bis zum 17. Juni 1953
Veränderte politische Rahmenbedingungen nach dem Tod Stalins: Die Politik des „Neuen Kurses“
Politische Fehlentscheidungen als Auslöser der Krise
Die SED-Führung schloss sich diesen Veränderungen nur zögerlich an. Massive Fraktionskämpfe in der Parteiführung schlugen sich in widersprüchlichen Aussagen über die Reformbereitschaft der Partei nieder. In der DDR kam der von der SED-Führung nachvollzogene Kurswechsel zu spät. Der Ministerrat beschloss im Mai 1953 eine massive Erhöhung der Arbeitsnormen, die eine weitere Verschlechterung der Lebenslage vor allem der Arbeiter erwarten ließ. Die Unruhe in den Großbetrieben und den Baustellen an der Berliner Stalinallee wuchs von Tag zu Tag. Betriebsversammlungen verweigerten die ritualisierte einhellige Zustimmung zu den Normenerhöhungen und es kam zu vereinzelten Arbeitsniederlegungen. Auf Anordnung der neuen Moskauer Parteiführung, die nicht nur eine veränderte Deutschlandpolitik in Erwägung zog, sondern auch zu der Erkenntnis gekommen war, dass sich der Sozialismus in der DDR nicht durchsetzen lasse – zumindest nicht so schnell wie auf der 2. Parteikonferenz angestrebt und nicht mit den in der Sowjetunion „bewährten“ politisch-administrativen Mitteln – vollzog die SED einen Kurswechsel um 180 Grad. Ohne Vorbereitung der Partei und der Öffentlichkeit verabschiedete das Politbüro am 9. Juni 1953 einen Beschluss, der weitreichende politische und soziale Zugeständnisse enthielt und der am 11. Juni im Neuen Deutschland als „Kommuniqué“ veröffentlicht wurde – eine einmalige Aktion in der bisherigen Geschichte der kommunistischen Parteien. Der Politbürobeschluss versprach positive Veränderungen für die Intelligenz, die um ihre Privilegien fürchtete, für die Bauern, die um ihren Hof bangten, den sie häufig erst durch die Agrarreform nach dem Krieg erhalten hatten, für die Handwerker und für die kleinen Ladenbesitzer, die zum Eintritt in Produktionsgenossenschaften oder zur Übertragung ihrer Läden an die HO gezwungen worden waren. Über die Probleme der Arbeiter wurde im Kommuniqué des Politbüros nicht gesprochen. Widersprüchliche Die Aussagen der Partei waren widersprüchlich. Neben dem Beschluss des Aussagen der SED Politbüros fanden die Leser im Neuen Deutschland die alten Erfolgsberichte von der Arbeitsfront. Die Funktionäre vor Ort konnten sich nicht von einem Tag auf den anderen umstellen. Sie hatten nicht gelernt, zu argumentieren und zu diskutieren, sie waren gewohnt, Parteiaufträge zu erfüllen und die Befehle der Parteiführung weiterzuleiten. Mit den symbolischen Handlungen, die an die Stelle konkreter Beschlüsse zur Normenfrage traten – es verschwanden alle Plakate und Transparente, die den Aufbau des Sozialismus und den Kurs der 2. Parteikonferenz priesen – konnten die Arbeiter wenig anfangen. Die Unruhe wuchs, und das idyllische Bild einer Partei und einer Regierung, die so eng wie nie zuvor mit dem Volk verbunden war, erwies sich als Fata Morgana. Der „Neue Kurs“ stellte die Politik der 2. Parteikonferenz, die einen neuen revolutionären Schub eingeleitet und die Bevölkerung zu neuen Opfern gezwungen hatte, die sie nicht mehr zu leisten gewillt war, nicht grundsätzlich in Frage. Er verlangsamte nur das Tempo der geplanten „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“. Den 17. Juni hat er nicht mehr verhindern können. Die Lunte an das Pulverfass sozialer Spannungen legte ein Leitartikel des stellvertretenden FDGB-Vorsitzenden Otto Lehmann, den am 16. Juni die Gewerkschaftszeitung „Tribüne“ abdruckte. Auf die selbstgestellte Frage, ob und inwieweit nach der Verkündung des neuen Kurses die Beschlüsse über die Erhö-
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hung der Arbeitsnormen noch richtig seien und aufrechterhalten würden, antwortete Lehmann forsch: „Jawohl, die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig“ (Tribüne vom 16. Juni 1953). Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob es sich bei diesem Artikel um einen gezielten Angriff auf die neue Parteilinie handelt, er also eine Waffe im Fraktionskampf innerhalb der Parteiführung war, oder seine Veröffentlichung nur auf die Unfähigkeit des Gewerkschaftsapparates zurückzuführen war, die neue Linie auch gegenüber ihrer Klientel zu vertreten – er war der ungewollte Aufruf zur Revolte. Die Unfähigkeit der Parteiführung, adäquat auf die sozialen Forderungen der Arbeiter zu reagieren, machte aus dem sozialen Konflikt sehr schnell einen politischen Aufstand, der die Existenz der DDR ernsthaft in Frage stellte. Am 17. Juni 1953 wurde aus dem Arbeiterprotest ein Volksaufstand, der vor Folgen des 17. Juni allem von der Arbeiterschaft getragen wurde. Er breitete sich über die ganze DDR aus. Seine Schwerpunkte lagen neben Berlin, wo die Lage durch die offene Grenze zu West-Berlin besonders gefährlich war, in den traditionellen sächsischen und thüringischen Industriebezirken, in denen von jeher die organisierte Arbeiterbewegung stark verankert war. Am 17. Juni 1953 haben Arbeiter dem Stalinschen Umwälzungskonzept eine Absage erteilt. Gegen diese Revolution von oben haben übrigens nicht nur deutsche Arbeiter revoltiert. Zu Unruhen kam es auch in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Die Politik nach dem 17. Juni beendete die Politik des „Neuen Kurses“, die zwar von der Sowjetunion kopiert worden war, aber auch, wenngleich nur verdeckt, auf erste Anzeichen eines sich verlangsamenden Wirtschaftswachstums und die immer deutlicher werdende mangelnde Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsmechanismus reagiert hatte. Der unmittelbare Wiederaufbau nach dem Krieg ging seinem Ende zu und die nötigsten Umstellungsmaßnahmen nach der Teilung des deutschen Wirtschaftsgebietes waren eingeleitet. Das überzentralisierte Wirtschaftsmodell war weit weniger leistungsfähig, als behauptet. Der Wirtschaftsmechanismus und die politischen Entscheidungsstrukturen erwiesen sich als zu starr und unflexibel, um mit den Herausforderungen einer entwickelten industriellen Gesellschaften Schritt zu halten. Die Fundamentalkrise des 17. Juni beendete vorerst alle Bemühungen, durch Strukturreformen auf diese veränderten Bedingungen zu reagieren. Spätere Versuche scheiterten. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes durch sowjetische Panzer wurde er in der DDR als „faschistischer Putschversuch“ dargestellt, der, vom Westen angezettelt, den Sozialismus in der DDR zu Fall bringen sollte. Von dieser Interpretation ging die Parteiführung der SED nie ab.
4.5.2 Revision des Sozialismus? Die unmittelbare Reaktion auf den 17. Juni war eine Politik verschärfter Repression. Für Reformen war kein Raum. Die dogmatische Parteiführung unter Walter Ulbricht, deren Ende vor dem 17. Juni besiegelt schien (ein Bündnis führender Politbüromitglieder der SED mit der neuen sowjetischen Parteiführung hatte sich auf einen personellen Wechsel an der Spitze der SED verständigt), ging aus der Krise insoweit gefestigt hervor, als ihr nachträglicher Sturz als Schwäche gewer-
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Verschärfte Repression als Antwort auf den 17. Juni
Wiederanknüpfen an Ideen des „neuen Kurses“ im Jahre 1955
Konsequenzen des XX. Parteitages der KPdSU
Der „Revisionismus“Streit in der SED
tet worden wäre und daher aus Gründen des Machterhalts der Partei nicht in Frage kam. Mit zweijähriger Verzögerung wurden 1955, dem Jahr, in dem die zwei deutschen Staaten endgültig in die beiden Blöcke integriert wurden, Überlegungen der Zeit des „Neuen Kurses“ wieder aufgegriffen. Die SED startete eine Kampagne, die darauf abzielte, die übermäßige Zentralisierung des politischen Systems, der staatlichen Verwaltung und der Methoden der Wirtschaftsplanung zu beseitigen. Entscheidungsvollzüge sollten vereinfacht und dezentralisiert werden, kurzum, die Folgen der Überbürokratisierung und Zentralisierung, die das stalinistische Modell zur Folge gehabt hatte, sollten gemildert werden. Dies bedeutete aber keineswegs, dass an eine grundlegende Reparatur des Planungsund Leitungssystems gedacht war. Die Grundprinzipien der bürokratischen Herrschaft der SED wurden nicht angetastet. Gleichwohl hatte die SED mit dem proklamierten „Kampf gegen den Bürokratismus“, der Forderung nach Dezentralisierung und der „Erhöhung der Eigenverantwortung“ nachgeordneter Leitungsebenen selbst die Stichworte geliefert, die zwei Jahre später im Mittelpunkt der sogenannten Revisionismusdebatte standen. Eine der entscheidenden Ursachen für die 1956/57 aufbrechende Kontroverse war die als ungenügend empfundene Aufarbeitung der Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU 1956 durch die Führung der SED. Nikita Chruschtschow hatte in einer „Geheimrede“, die sehr schnell durch westliche Medien bekannt wurde, Erscheinungen des „Personenkults“ und „Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit“ in der Stalinära gegeißelt und eine Reformpolitik der KPdSU angekündigt. Die vorsichtigen Versuche einer Revision der zentralen Axiome des Stalinschen Modells des Sozialismus wurde in allen sozialistischen Ländern als Zeichen des Aufbruchs gedeutet. Erneut setzte ein Aufstand am Rande des sowjetischen Imperiums allen Veränderungstendenzen ein Ende – der Volksaufstand in Ungarn, der von der Roten Armee blutig niedergeschlagen wurde. Die nach dem XX. Parteitag von der SED-Parteiführung verbreitete Parole, die Verbrechen Stalins und der „Personenkult“ seien ausschließlich ein Problem der Sowjetunion und in der DDR könne man zur Tagesordnung übergehen, verursachte erhebliche Unruhe in der Parteimitgliedschaft und in Kreisen der Parteiintelligenz. Die Befürchtung der SED, der Volksaufstand in Ungarn 1956 und die politischen Unruhen im benachbarten Polen könnten zu neuen Aktionen der Arbeiterschaft führen, erwies sich zwar als gegenstandslos, wie sehr aber diese Ereignisse in der Parteiführung als Bedrohung angestammter Machtpositionen empfunden wurden, zeigt die Reaktion auf Reformüberlegungen führender Vertreter der Parteiintelligenz. Prominente Parteiintellektuelle hatten, ausgehend von den Dezentralisierungsthesen der SED, eine schrittweise Ersetzung staatlicher Funktionen durch die Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Bereich und in der Wirtschaft gefordert. Sie beriefen sich dabei explizit auf die Vorstellungen von Karl Marx und Friedrich Engels, die das Absterben des Staates im Sozialismus vorausgesagt hatten. Die von der SED-Führung als „Revisionisten“ abgekanzelten Reformer kritisierten vor allem die bürokratischen Auswucherungen des Sozialismus in der
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DDR. Die Vorstellung, dass der von der marxistisch-leninistischen Partei beherrschte Staat alles, „auch die privateste Angelegenheit“ regeln und kontrollieren müsse, war für den führenden theoretischen Kopf der „Revisionisten“, den Leiter der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Fritz Behrens, Ausdruck eines Erbes, das er als „nichtsozialistisch, sondern ,preußisch‘, d.h. junkerlich-monopolistisch“ einstufte. Der Sozialismus verlange eine „Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Werktätigen, weil die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ihre Ergänzung durch die Vergesellschaftung der Verwaltung erfordert“. Die Vorstellung von der Omnipotenz des Staates (die der Partei konnte er nicht nennen) war für Behrens Ausfluss der spezifischen nationalen Tradition und Ergebnis der monopolkapitalistischen Überlieferung. „Das Problem der Bürokratie ist ein ökonomisches und gesamtgesellschaftliches Problem“ (Behrens, 1957: 125f.). Behrens und andere „Revisionisten“ sahen in der Bürokratie ein strukturelles Element der DDR-Gesellschaft. Ihr sei allein mit der Forderung nach Dezentralisierung nicht beizukommen. Schließlich gebe es nicht nur eine zentrale staatliche, sondern auch eine ausufernde örtliche Bürokratie, die die gleichen Wurzeln wie die zentrale Bürokratie habe und deren Arbeit nach den gleichen Prinzipien funktioniere. Es gebe nur einen Weg, um den Zentralismus zu überwinden: „Den Weg für die Entfaltung der schöpferischen Initiative der werktätigen Massen freizumachen“ (Behrens, 1957: 128). Die Bürger müssten die Möglichkeit erhalten, die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen zu beeinflussen. Die Partei müsse ihre Angst vor der Spontaneität und den wechselnden Meinungen und Stimmungen der Bürger aufgeben. Nur dann könne der bürokratische Zentralismus überwunden werden. Spontaneität war bislang stets mit Anarchie gleichgesetzt worden, die unvereinbar mit Planmäßigkeit sei. Jetzt wurde zu bedenken gegeben, ob das spontane Handeln nicht ein notwendiges Element des gewollten gesellschaftlichen Fortschritts sei. Diese Überlegungen wurden von der SED-Führung als Generalangriff auf ihr Machtmonopol angesehen. Entsprechend scharf fiel ihre Reaktion aus. Mit dem Hinweis auf die Unruhen in Polen und den ungarischen Volksaufstand versuchte sie die nach dem XX. Parteitag der KPdSU in Gang gekommene Diskussion zu beenden. Sie nahm ihre eigenen Thesen von der notwendigen Demokratisierung und Dezentralisierung zurück, die die Kritiker der Parteiführung ermuntert hatten, sich offen zu artikulieren, und setzte an ihre Stelle die These, dass es notwendig sei, das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“, das heißt die unbedingte Führungsrolle der Parteiführung, konsequent anzuwenden. Der Begriff Demokratisierung wurde in der Folge durch den Begriff „sozialistische Demokratie“ ersetzt, der die Beteiligung der Bürger, der „befreundeten Parteien“ und der Massenorganisationen auf die Unterstützung der Parteiziele im ökonomischen und staatlichen Bereich reduzierte. Es hat in der DDR insgesamt nur zwei Debatten gegeben, bei denen es um mehr ging, als um kosmetische Korrekturen oder eine technokratische Reform des Systems: die eine war die „Revisionismusdebatte“ der 1950er-Jahre, die andere der Versuch junger Reformer in der SED im Herbst 1989, Bedingungen für ein nach vorne weisendes Sozialismusmodell zu entwickeln (Brie/u.a., 1989; Bluhm/u.a., 1989). Beide Versuche wurden aus der Partei heraus initiiert, beide scheiterten und beide konnten sich nicht aus den Beschränkungen einer ideologi-
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Abwehr der Reformideen durch die Führung der SED
Erfolglose Reformforderungen
schen Vorstellung lösen, dass der Partei eine führende Rolle bei der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung zukomme. 1957 haben zum ersten Male in der DDR führende Parteikader und -intellektuelle ein weitreichendes und grundlegendes Alternativkonzept zu den nachstalinistischen Organisations- und Politikvorstellungen der Partei entwickelt. Wenn auch viele dieser Überlegungen 1963 in das Neue Ökonomische System eingegangen sind, zentrale Elemente blieben außer Betracht, nämlich die von den „Revisionisten“ betonte Notwendigkeit einer Demokratisierung des politischen Systems, einer Verlagerung staatlicher Aufgaben in die Gesellschaft und eines Abbaus staatlicher Repression (Glaeßner, 1977: 106ff.). Bevor es aber zu den Reformen der 1960er-Jahre kam, hatte die DDR noch eine zweite Existenzkrise zu überwinden, die in der Rückschau mindestens ebenso weitreichende Konsequenzen hatte wie die des 17. Juni 1953.
4.5.3 Der 13. August 1961 und die Folgen Der vom Westen geplante „Tag X“ als Begründung für den Bau der Mauer
In der Ausgabe vom 12./13. August 1989, also nur wenige Wochen vor dem Beginn der Massendemonstrationen in der DDR, befasste sich das Zentralorgan der SED, das Neue Deutschland, wie jedes Jahr mit den Ereignissen des 13. August 1961. Und wie jedes Jahr wurde die Geschichte vom geplanten „Tag X“ wiederholt, an dem, wie in NATO-Manövern geübt, die westlichen Streitkräfte unter Beteiligung der Bundeswehr die DDR militärisch angreifen würden. Die DDR sollte zuvor durch „Sabotage, Diversion, Hetze, Verleumdung, ... Abwerbung und Menschenhandel“ politisch und ökonomisch destabilisiert werden. Die „Abriegelung der Staatsgrenze der DDR“, so die euphemistische Umschreibung des Mauerbaus, habe der DDR „Ruhe, Stabilität und Sicherheit“ für ihren sozialistischen Aufbau beschert (ND vom 12./13.8.1989: 3). An der Begründung für den Bau der Mauer hat sich bis zum Ende der DDR nichts Wesentliches geändert. Der Beschluss des Ministerrates der DDR vom 12.8.1961, der am 13. August im Neuen Deutschland abgedruckt worden war, begründete die Aktion u.a. folgendermaßen: x x x x x x
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dem „Treiben der westdeutschen Revanchisten und Militaristen“ musste ein Riegel vorgeschoben werden; in Westdeutschland sei „eine Verschärfung der Revanchepolitik mit sich steigernden Gebietsanforderungen“ gegenüber der DDR und den Nachbarstaaten (gemeint sind Polen und die ýSSR) zu beobachten; Die Adenauer-Regierung betreibe eine „systematische Bürgerkriegsvorbereitung“ gegenüber der DDR; von Westberliner Agentenzentralen aus werde „eine systematische Abwerbung“ von DDR-Bürgern betrieben; die Bundeswehr werde weiter aufgerüstet und die atomare Option sei unverkennbar; schließlich gehe aus NATO-Dokumenten hervor, dass „diese aggressive Politik und Störtätigkeit das Ziel [hat], ganz Deutschland in den westlichen Militärblock der NATO einzugliedern und die militaristische Herrschaft in der Bundesrepublik auch auf die Deutsche Demokratische Republik auszudeh-
nen, und zwar bis zur Oder, um dann den großen Krieg zu beginnen“ (ND vom 13.8.1961: 1). Alle diese absurden Argumente wurden später nicht mehr im Detail vorgebracht, aber bis zum Jahre 1989 taucht regelmäßig das vielstrapazierte Bild vom „Tag X“ auf, der durch den Mauerbau verhindert worden sei – an ihm sollten angeblich die Träume der Springerpresse Wirklichkeit werden, dass die Bundeswehr „mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor“ zieht (ND vom 14.8.1986: 1). Der 13. August 1961 hat unmissverständlich klargemacht, dass an eine wie auch immer geartete Veränderung der Einflusszonen der Großmächte nicht zu denken war. Die Westmächte waren nicht bereit, mit allen, zur Not auch militärischen Mitteln, die endgültige Spaltung Berlins zu verhindern – sie bestanden lediglich an der Aufrechterhaltung der Rechte ihrer Truppen aus dem Potsdamer Abkommen. Obwohl der 13. August die definitive Spaltung Deutschlands bedeutete, war er doch paradoxerweise auch der Ausgangspunkt für eine neue Deutschlandpolitik. Zugleich ermöglichte er der DDR, sich in den folgenden Jahren relativ unabhängig von der Bundesrepublik zu entwickeln. Die Bevölkerung der DDR, die in Krisensituationen, wie nach dem 17. Juni 1953 oder bei der Kollektivierung der Landwirtschaft vor dem Mauerbau, die DDR verlassen konnten, um in der Bundesrepublik eine neue Heimat zu finden, befand sich nun in der Lage, dass es keine „exit-Option“ mehr gab. Sie musste sich in der einen oder anderen Weise mit dem Regime arrangieren (Hirschmann 1992; Weber, 1985: 327). Die innergesellschaftlichen Auswirkungen des Mauerbaus waren schon sehr bald erkennbar. Die ökonomische und soziale Krise, in die die DDR hineingeraten war, konnte relativ schnell bewältigt werden. Die neue Situation erlaubte es der SED, ihre aktuellen politischen Ziele, nämlich die umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft, die stärkere Einbindung der noch verbliebenen Privatwirtschaft in die staatliche Kontrolle und die Erweiterung des volkseigenen Sektors, voranzutreiben. Sie zwang zugleich dazu, die DDR noch stärker als zuvor an den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), im Westen meist als COMECON bezeichnet, anzulehnen.
Der 13. August 1961 als entscheidende Zäsur in der Geschichte der DDR
4.5.4 Die Krise Ende der 1960er-Jahre Die 1960er-Jahre waren eine Zeit der Reformen. Die Erfinder des NÖS und sei- Widersprüchliches ner Folgeprogramme konnten für sich in Anspruch nehmen, den Reformstau der Verhalten der SEDReformer 1950er-Jahre aufgelöst und der weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in der DDR eine Perspektive gewiesen zu haben. Das widersprüchliche Verhalten der Reformer hatte aber auch deutlich werden lassen, dass sie in der Ideologie des Marxismus-Leninismus befangen waren. Nur in einem sehr eingeschränkten Sinne können sie als „institutionalisierte Gegenelite“ (Ludz, 1970) beschrieben werden. Über ein strategisches Gegenkonzept zu den Vorstellungen der Dogmatiker in der Parteiführung, der von Ludz als „strategische Clique“ bezeichneten Funktionäre der älteren Generation, verfügten sie nicht. Ihre Vorstellungen zielten auf eine „technokratische Reparatur“ der Funktionsmechanismen 231
Folgewirkungen eines technokratisch verkürzten Reformkonzepts
Einflüsse des „Prager Frühlings“ 1968
des Sozialismus sowjetischen Typs. Für die in den sozialistischen Ländern an Boden gewinnenden Vorstellungen einer Liberalisierung und Demokratisierung hatten sie kein Verständnis. Ihr Bündnis mit den Vertretern der Orthodoxie war vorübergehend insofern erfolgreich, als es – wenngleich begrenzte – wirtschaftliche Erfolge möglich machte. Das Bündnis blieb labil und pendelte zwischen unvollständigen und halbherzigen Reformen und dem absoluten Führungsanspruch der Partei hin und her. An diesem Widerspruch scheiterte eine wirkliche Strukturreform des Systems. Nicht allein diese politische Konstellation ist für das schließliche Scheitern der Wirtschaftsreformen verantwortlich zu machen. Die Ursachen liegen auch im technokratisch verkürzten Reformkonzept selbst. Dessen negative Folgen waren Ende der 1960er-Jahre nicht mehr zu übersehen. Die Fixierung auf die erwarteten Segnungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die Erwartung, die wissenschaftlich-technische Revolution werde zur „Haupttriebkraft“ der ökonomischen und sozialen Entwicklung und es genüge, mit Hilfe von langfristigen Planungen und Prognosen und mit technisch-organisatorischen Maßnahmen die Voraussetzungen für eine möglichst ungestörte Entfaltung der Produktivkräfte zu schaffen, führte zu einer Vernachlässigung der sozialen Konsequenzen, die mit der forcierten ökonomischen Entwicklung verbunden waren. Die Folgen können hier nur angedeutet werden. Die einseitige Bevorzugung der Sektoren der Volkswirtschaft, von denen man sich „wissenschaftlichtechnische Spitzenleistungen“ erhoffte, hatte erhebliche Disparitäten zur Folge. Vor allem die infrastrukturelle Modernisierung (im Transportwesen, den Zulieferbetrieben, der Energieversorgung usw.) wurde vernachlässigt und minderte erheblich die Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft. Die Wissenschafts- und Forschungspolitik behinderte Innovationen und eine schnelle Umsetzung wissenschaftlich-technischer Neuerungen. Trotz steter Beteuerungen über die Bedeutung des Natur- und Landschaftsschutzes und eines modernen Naturschutzgesetzes stieg die Umweltbelastung vor allem in den industriellen Ballungszentren dramatisch an. Nicht minder problematisch waren die Folgen einer ohne Rücksicht auf die ökologischen Belastungen betriebenen „Chemisierung“ und Industrialisierung der Landwirtschaft. Die auf den technischen Fortschritt fixierten Planer waren nicht in der Lage zu begreifen, dass hier längerfristig erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgekosten zu erwarten waren. Durch die einseitige Bevorzugung der industriellen Ballungszentren und mangelnde Stadt- und Raumplanung verschärften sich die regionalen Disparitäten. Der wachsenden Kaufkraft der Bevölkerung und den gestiegenen Qualitätsanforderungen stand keine entsprechende Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und hochwertigen Konsumgütern gegenüber. Die mangelhafte Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen führte zu permanenter Unzufriedenheit. Diese Aufzählung ließe sich verlängern. All dies deutet darauf hin, dass die DDR am Ende der 1960er-Jahre in eine Situation hineingeraten war, die jederzeit in eine politische Krise umschlagen konnte. Diese Gefahr war umso größer, als 1968 in der ýSSR der historisch einmalige Versuch unternommen wurde, ein sozialistisches System sowjetischen Typs von innen heraus, durch die regierende Partei selbst, nicht nur zu reformieren,
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sondern auch zu demokratisieren. Aus der Sicht der SED-Führung nahm sich die Situation völlig anders aus. Für sie war der „Prager Frühling“ das „schändliche Komplott der rechten und antisozialistischen Kräfte“ in der Tschechoslowakei. Der „westdeutsche Imperialismus“ versuche, „mit Hilfe der sogenannten neuen Ostpolitik die Konterrevolution in die sozialistischen Länder Europas [zu] exportieren“ und habe daher feindliche Gruppen in der ýSSR ermuntert und unterstützt, die sozialistische Ordnung zu beseitigen. „Die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik [aber] lieben die fleißigen und tüchtigen Völker der Tschechen und Slowaken. Wir kennen und schätzen die großen revolutionären Traditionen und Taten, die bedeutenden wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen des tschechoslowakischen Brudervolkes. Wir fühlen uns mit den uns befreundeten und verbündeten tschechischen und slowakischen Völkern in guten und erst recht in schweren Stunden fest verbunden.“ (Dokumente der SED, Bd. XII: 1971: 127)
Im Gegensatz zu diesem zynischen Aufruf des ZK der SED, des Staatsrates und des Ministerrates fand in der DDR-Bevölkerung der Versuch der tschechoslowakischen Kommunisten, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, breite Unterstützung. Sie war von der Hoffnung getragen, dass in Prag eine Entwicklung begonnen hatte, die auch im eigenen Land nicht ohne Konsequenzen bleiben könne. Dies genau war auch die Befürchtung der SEDFührung, die zu den prononciertesten Fürsprechern einer harten Linie der Sowjetunion und ihrer Verbündeten gegenüber den Prager Reformkommunisten gehörte. Die SED unterstützte bedingungslos die Intervention und die als „BreschnewDoktrin“ bekannt gewordene Haltung der UdSSR, keinen Ausbruch eines Landes aus dem „sozialistischen Lager“ zu dulden. Eine gemeinsame Erklärung des ZK der SED und des Ministerrates der DDR macht diese Position und die ihr zu Grunde liegende ideologisch motivierte Wahrnehmung der Situation deutlich: Es sei die Absicht der imperialistischen Mächte „mit subversiven Angriffen auf die innere Ordnung der sozialistischen Staaten und der Unterwanderung der Einheit der sozialistischen Staatengemeinschaft das internationale Kräfteverhältnis zu verändern“. Dies führe zu einer Gefährdung des Friedens und bewirke eine Verschärfung der internationalen Spannung. Insbesondere „die westdeutsche Bundesrepublik, der aggressivste imperialistische Staat in Europa“ spiele dabei eine besondere Rolle, da ihr daran gelegen sei, den „Herrschaftsbereich des deutschen Imperialismus nach Osten ausdehnen“ (9. Tagung des ZK der SED, 22.25.10.1960, Beschlüsse: 93f.). Von einer Unterstützung der Politik der SED außerhalb der von ihr gelenkten und kontrollierten Parteien und Organisationen konnte aber keine Rede sein. Nach der Invasion des Warschauer Paktes kam es in der DDR zu einer Vielzahl von Protesten und Sympathiekundgebungen, die erstmals Züge eines „systemimmanenten Widerspruchs“ trugen und anders als 1953 keine antisozialistischen Parolen und Losungen kannten (Neubert, 1997: 164ff.). Dies deutet zum einen darauf hin, dass die Idee eines demokratischen Sozialismus Prager Provenienz eine große Attraktivität entfaltet hatte, zeigt aber zum anderen auch, dass in den fünfzehn Jahren seit dem Aufstand vom 17. Juni 1953, nach den Erfahrungen des Ungarnaufstandes von 1956 und des Mauerbaus 1961 die Hoffnung, man könne sich der Herrschaft der SED entledigen, im Schwinden war und man begonnen 233
Die Beteiligung der DDR an der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ fordert Opposition heraus
Distanz der SEDFührung gegenüber der neuen Ost- und Deutschlandpolitik
hatte, sich mit der gegebenen Situation zu arrangieren. Der Prager Frühling schien in einer solchen Situation eine realistische Chance für eine Liberalisierung und Demokratisierung des Systems zu eröffnen. Ähnlich wie die Studentenunruhen in den westlichen Ländern hat die Reformbewegung in der Tschechoslowakei und ihre gewaltsame Niederschlagung durch die Armeen des Warschauer Paktes (unter logistischer Beteiligung der Nationalen Volksarmee der DDR) die Gesellschaften Osteuropas und der DDR zutiefst erschüttert. In der ýSSR wurde auf unabsehbare Zeit die Hoffnung zerschlagen, dass der sowjetisch geprägte Sozialismus sich zum demokratischen Sozialismus entwickeln könne. Erneut hatte sich gezeigt, dass die politische und militärische Führungsmacht UdSSR keine Sonderwege zum Sozialismus zuließ, sondern nach wie vor darauf bestand, Vorbild für alle sozialistischen Länder zu sein. Ein dritter Aspekt der latenten Krise Ende der 1960er-Jahre war die unbewegliche Haltung der SED-Führung gegenüber der Bundesrepublik, die durch die als bedrohlich empfundene neue Ostpolitik der sozial-liberalen Bundesregierung nach 1969 eher noch verstärkt wurde. Ihre Blockadepolitik gegenüber der Bundesrepublik isolierte die DDR im eigenen Lager. Der Abschluss des Moskauer und des Warschauer Vertrages 1970 brachte die SED in eine schwierige Situation, da sie nicht erklären konnte, warum sie sich gegen die von der Sowjetunion vorexerzierten „Politik der friedlichen Koexistenz“ auch gegenüber der Bundesrepublik abgrenzte. Das Schreckgespenst einer „revanchistischen BRD“ war angesichts der faktischen Anerkennung des status quo und der Grenzen in den Ostverträgen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es kamen also drei Krisenfaktoren zusammen: Die Defizite der Reformpolitik der 1960er-Jahre, die Erschütterung durch die Zerschlagung des Prager Frühlings und die starre Haltung gegenüber den Bemühungen um eine Entspannung des Ost-West-Konflikts. Diese Faktoren führten dazu, dass die sowjetische Parteiführung auf eine Ablösung von Walter Ulbricht als 1. Sekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates drängte und seinen Sturz durch Erich Honecker vorbereitete und unterstützte.
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Die gescheiterte Modernisierung: Politik in der Ära Honecker
Der erzwungene Rücktritt Walter Ulbrichts als Erster Sekretär des ZK der SED am 3. Mai 1971 stellt eine weitere Zäsur in der Geschichte der DDR dar. Mit ihm verließ eine politische Generation die Bühne, die von den Klassenkämpfen der Weimarer Republik und der Bolschewisierung der kommunistischen Parteien geprägt worden war. Im sowjetischen Exil während der Zeit des Nationalsozialismus hatten diese Funktionäre der KPD nur überleben können, wenn sie sich bedingungslos der Stalinschen Terrorherrschaft unterwarfen. Der Kalte Krieg festigte ihr Weltbild, das vom Kampf zwischen räuberischem Imperialismus und dem Lager des Friedens und der lichten kommunistischen Zukunft geprägt war. Die vorsichtigen Versuche, nach der permanenten Krise um Berlin, die am 234
13. August 1961 ihren Höhepunkt fand, und der Kuba-Krise des Jahres 1962, einen partiellen Interessenausgleich zwischen den beiden Großmächten zu finden, wurde von der SED-Führung mit äußerstem Misstrauen betrachtet. Die 1960er-Jahre waren von widersprüchlichen Tendenzen geprägt: Während die DDR im Bereich des Ökonomischen mit dem NÖS eine Vorreiterrolle gespielt hatte, und ihre Reformpolitik nach dem Sturz Chruschtschows auf Druck der neuen Führung der KPdSU aufgeben musste, zielte ihre Gesellschaftspolitik auf die Sicherung des status quo. Jede Bewegung war der SED suspekt. Ähnlich wie das Konzept der „formierten Gesellschaft“ Ludwig Erhards in der Bundesrepublik sollte die von der SED proklamierte „sozialistische Menschengemeinschaft“ einen harmonischen Zustand der sozialen Beziehungen, des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat und der kulturellen Entwicklungen suggerieren. Während der Klassenkampf im Inneren mehr oder weniger zum Stillstand gekommen sei, gelte es umso mehr, nach außen wachsam zu sein und allen Einflüssen des Westens (und seien es die des aufblühenden „EuroKommunismus“) auf die eigene Gesellschaft entgegenzutreten. Dies bedeutete eine klare Absage an eine gesellschaftliche und politische Modernisierung. Diese Abwehrhaltung verschärfte sich noch nach dem August 1968. An der „Scheidelinie“ zwischen den beiden Systemen war für die SED auch der geringste Versuch, die Ideologien zu „versöhnen“, der erste Schritt zur Aufgabe der eigenen Positionen. Neben den innenpolitischen trat ein außenpolitischer und deutschlandpolitischer Immobilismus, der zuletzt den politischen Zielen der Sowjetunion hinderlich war. Walter Ulbricht, der den sowjetischen Genossen gegenüber stolz hervorhob, dass er – im Gegensatz zu ihnen – Lenin noch gekannt habe, wurde, ähnlich wie sein Nachfolger Erich Honecker 1988/89, zur Belastung für die Sowjetunion. Die Ablösung Walter Ulbrichts von der Parteiführung auf der 16. Tagung des ZK der SED öffnete den Weg zu einer realistischeren Westpolitik der DDR, und sie war auch die Voraussetzung für eine Wende in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der SED. Zuvor war bereits auf der 14. ZK-Tagung eine Revision der bisherigen Wirtschaftspolitik angedeutet worden. Ministerpräsident Willi Stoph hatte verschlüsselt davon gesprochen, dass es „einige Probleme der proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft und der damit verbundenen Bilanzen“ gegeben habe, die in der weiteren Planung zu berücksichtigen seien (14. Tagung des ZK der SED, 9.-11.12.1970: 7). Diese Bestandsaufnahme führte auf dem VIII. Parteitag des SED 1971 zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, der Abschied von den Wachstumseuphorie und Wissenschaftsgläubigkeit der 1960er-Jahre nahm. In der offiziellen Parteigeschichte hieß es verschlüsselt, dass in diesen Jahren „in mancher Hinsicht eine Überschätzung der Möglichkeiten der DDR“ zu beobachten gewesen sei. Es habe „Erscheinungen des Subjektivismus“ gegeben, die schließlich das ZK bewogen hätten, „überzogene Vorstellungen und Wünsche“ zurückzuweisen (Geschichte der SED, 1978: 545). Die Kritik zielte auf den Kern der Ulbrichtschen Politik in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre: die ideologische Sonderentwicklung der DDR (Stichwort „sozialistische Menschengemeinschaft“) und die einseitige Bevorzugung „strukturbestimmender“ Berei-
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Versuch der Sicherung des status quo
Der Sturz Walter Ulbrichts
Kritik der Politik Walter Ulbrichts durch die neue Parteiführung
Der VIII. Parteitag der SED und die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“
Anfängliche Erfolge des sozialpolitischen Programms der SED
che der Volkswirtschaft in der – vergeblichen – Hoffnung, doch noch den bereits mehrfach gescheiterten großen Sprung nach vorn zu schaffen und ökonomisch und wissenschaftlich-technisch zur Weltspitze aufzuschließen. Darüber waren die sozialen Probleme übersehen worden, die zu wachsender sozialer Ungleichheit und Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt hatten. Die Antwort des VIII. Parteitages der SED 1971 auf diese Probleme lautete: „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. „Hauptaufgabe“ aller staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen sollte es nach Auffassung der SED fortan sein, die sozialen Probleme der Menschen, ihre Bedürfnisse und Interessen nicht länger zu vernachlässigen, sondern sie als untrennbares Element einer krisenfreien gesellschaftspolitischen Entwicklung in alle planenden Überlegungen einzubeziehen (Programm der SED, in: Protokoll des IX. Parteitages der SED, 1976, Bd. 2: 218f.) Zentrales Element der politischen und programmatischen Neujustierung der SED war die Bedeutung, die der Sozialpolitik zugemessen wurde. Zuvor war Sozialpolitik ausschließlich als Mittel zur Linderung der schlimmsten Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft angesehen worden. Im Sozialismus sei eine solche Korrektur nicht notwendig. Die reale Entwicklung hatte aber die ideologisch motivierte Behauptung, es gebe keine gravierenden sozialen Probleme mehr, Lügen gestraft: Die Mehrheit der Rentner existierten an der untersten Einkommensgrenze, junge Familien fanden keine angemessene Wohnung, die Situation berufstätiger Frauen wurde durch die miserable Versorgungslage zusätzlich erschwert, die Lebenschancen zwischen Stadt und Land wiesen erhebliche Divergenzen auf und die „wissenschaftlich-technische Revolution“ hatte einseitig die neuen „sozialistischen Mittelschichten“ begünstigt. Der politische Kurswechsel des VIII. Parteitages der SED zielte darauf ab, diese Probleme durch eine enge Verkopplung von Wirtschaftspolitik und einer mit dieser abgestimmten sozialpolitischen Strategie zu überwinden. Wirtschaftsund Sozialpolitik wurden fortan als Einheit angesehen. Die Sozialpolitik war gleichgewichtiges Pendant und Korrektiv der Wirtschaftspolitik. Gleichwohl war eine Rangfolge unverkennbar: Die Sozialpolitik sollte die sozialen Folgen der Wirtschaftspolitik heilen und als Sozialplanung dafür sorgen, dass sie gar nicht erst entstehen konnten. Insofern war sie Gesellschaftspolitik, die fast alle Bereiche von Einzelpolitiken umgriff: die Bevölkerungsentwicklung, die industrielle Arbeitsorganisation, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Dienstleistungen, den Wohnungsbau, die Stadt- und Regionalplanung, die Gesundheitspolitik, die Sozialversicherung, Freizeit und Erholung, soziale Beziehungen im Betrieb, die spezifischen Probleme einzelner Bevölkerungsgruppen usw. Sozialpolitik war ein Synonym für umfassende Gesellschaftspolitik. Bis Mitte der 1970er-Jahre gelang es der SED, neue Akzente in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu setzen. Ein gemeinsamer Beschluss des Zentralkomitees der SED, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates vom April 1972 verkündigte die Erhöhung der Renten und anderer Leistungen der Sozialversicherung für etwa 3,5 Millionen DDR-Bürger und ebnete den Weg für die besondere Förderung berufstätiger Mütter, junger Ehen und kinderreicher Familien. Für 1,7 Millionen Menschen wurden die Mindestlöhne erhöht. Schließlich und vor allem wurde im Oktober 1973 vom ZK der SED ein umfang-
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reiches Wohnungsbauprogramm in die Wege geleitet. Sie hatte das ehrgeizige Ziel, die Wohnungsfrage als „soziale Frage“ bis 1990 zu lösen. Eine Vielzahl weiterer sozialpolitischer Beschlüsse folgte in den nächsten Jahren. Die Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre hat jedoch die Rahmenbedingungen für das wirtschafts- und sozialpolitische Programm erheblich verschlechtert. Zwar wurde das Konzept der „Hauptaufgabe“ beibehalten und die sozialen Leistungen ausgebaut, deutlicher als zuvor wurde jedoch der Grundsatz betont, dass nur das als sozialpolitische Gratifikation verteilt werden könne, was zuvor erwirtschaftet werde. In der Praxis wurde dieser Grundsatz aber nicht eingehalten, sodass es in den 1980er-Jahren zu einer Überbeanspruchung des Staatshaushaltes für Zwecke der Sozialpolitik kam. Zudem geriet die DDR-Wirtschaft in Schwierigkeiten, weil sie seit Beginn der 1970er-Jahre verstärkt auf dem Weltmarkt agiert hatte. Um ihre Modernisierungsstrategie realisieren zu können, hatte sie in großem Umfang Investitionsgüter aus dem Westen importiert und mit eigenen Produkten bezahlen wollen. Beides gelang nicht wie geplant: Die DDR-Produkte waren auf dem Weltmarkt nur bedingt konkurrenzfähig und viele Devisen wurden für Nahrungsmittel- und Konsumgüterimporte statt für Investitionsgüter ausgegeben. Dies und das rapide steigende Zinsniveau auf den internationalen Finanzmärkten brachten die DDRÖkonomie in massive Schwierigkeiten. Ihre Auslandsverschuldung hatte 1981 die Grenze von 10 Mrd. Dollar überschritten. Mit einer Exportoffensive und der Hinnahme deutlicher Versorgungsprobleme gelang es, die sich abzeichnende Wirtschaftskrise vorerst zu vermeiden. Bereits die Ziele des Fünfjahrplans 1976 bis 1980 konnten nicht erreicht werden. In der Zeit von 1981 bis 1985 sollte durch eine offensive Strategie die außenwirtschaftliche Belastung abgebaut und das Wachstum beschleunigt werden. Die Exportoffensive bei Investitionsgütern und Verbrauchsgütern scheiterte allerdings an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Produkte auf dem Weltmarkt. Ein Kurswechsel der westlichen Banken 1981/82 nötigte die DDR-Wirtschaft zu einer Reduzierung ihrer Westverschuldung, die durch eine drastische Einschränkung von Westimporten bei gleichzeitiger Steigerung der Ausfuhren erreicht werden sollte. Massive Versorgungsengpässe im Inland waren die Folge. Ein von Franz Josef Strauß initiierter „Milliardenkredit“ brachte eine deutliche Entlastung, änderte aber nichts an der labilen Gesamtsituation. Ende der 1970er-Jahre sollte eine Veränderung der Leitungsstrukturen in der DDR-Volkswirtschaft die organisatorischen Voraussetzungen für die beschleunigte Rationalisierung der Volkswirtschaft schaffen und damit die materiellen Bedingungen herstellen, unter denen die langfristigen sozialpolitischen Ziele trotz sich verschlechternder ökonomischer Rahmenbedingungen erreicht werden könnten. Ein zentraler Faktor in diesen Bestrebungen war die Kombinatsbildung, mit der eine Straffung der Leitungs- und Planungsstrukturen und eine Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten durch den Staats- und Wirtschaftsapparat erreicht werden sollte. Die Schaffung großer Industriekombinate führte erneut zu einer Zentralisierung der DDR-Wirtschaft und konterkarierte Bestrebungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die Eigenverantwortung der unteren Entscheidungseinheiten (z.B. im Staatsapparat) zu stärken. Die Veränderungen in der Organisationsstruktur und den Prozessabläufen haben nicht mehr als eine
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Fehlgeschlagene Weltmarktstrategie
Rezentralisierung der Planungs- und Leitungsstrukturen
Vernachlässigung der Infrastruktur
Das Scheitern der Strategie „konservativer Modernisierung“
Reproduktion der alten Dilemmata auf höherer Stufe hervorgebracht: Die Dysfunktion der Planung, diskontinuierliche Produktionsabläufe, unzureichende Koordination der Planungsabläufe konnten nicht beseitigt werden. Ein weiteres Problem stellte die mangelhafte Arbeitsproduktivität dar. Die Einsparung von Arbeitsplätzen, die „Freisetzung“ von Arbeitskräften und eine effektivere Nutzung der verfügbaren Arbeitszeit war der Kern der Rationalisierungsbestrebungen der SED seit dem X. Parteitag 1981. Diese Zielsetzung stieß aber auf ein allgemeines gesellschaftliches Bewusstsein, das durch massiven Arbeitskräftemangel, arbeitsextensive Modernisierungsstrategien früherer Jahre, die rechtlich und auch faktisch garantierte Arbeitsplatzsicherheit sowie das Fehlen von effektiven Anreizsystemen geprägt war. All dies hatte ein spezifisches individuelles und gemeinschaftsbezogenes Denken und Verhalten im Arbeitsprozess produziert, das mit den abstrakten gesellschaftlichen Anforderungen und Normen nicht unbedingt übereinstimmte, ja oft mit ihnen konfligierte. Gescheitert ist die SED in den 1980er-Jahren mit ihrem Versuch, den Anschluss der DDR-Wirtschaft an die internationale technologische Entwicklung zu erreichen. Ähnlich wie Ende der 1960er-Jahre wurden alle Kraft und enorme Geldsummen auf die Entwicklung einer eigenen Mikroelektronik und anderer Zukunftsindustrien verwandt. Erneut versäumten es die Planungsbehörden, für eine abgestimmte und ausgeglichene Entwicklung aller Wirtschaftszweige Rechnung zu tragen. Insbesondere die Entwicklung einer modernen Infrastruktur wurde sträflich vernachlässigt. Auch ohne den Kollaps der DDR hätte dies mittelfristig zu erheblichen wirtschaftlichen Problemen geführt. Hinzu kam, dass die Wirtschaft der DDR seit Jahrzehnten von der Substanz lebte. Die Anlagen waren hoffnungslos überaltert, dort, wo neue moderne Anlagen entstanden, existierten sie zumeist als „Inseln“, unfähig, die ihnen zugedachte Produktivität zu entfalten. Und schließlich zeichnete sich eine Umweltkrise großen Ausmaßes ab. Während es in den 1960er-Jahren noch gelungen war, durch ein „nationales“ Rahmenprogramm die Krisen der vorangegangenen Jahre zu vermeiden, ließ sich die bei Honeckers Machtantritt proklamierte „Hauptaufgabe“, Wirtschaftsund Sozialpolitik als Einheit zu betrachten und auf dem Wege wirtschaftlichen Wachstums individuellen Konsum und soziale Wohlfahrt zu steigern, nicht realisieren. Sozialpolitik geriet mehr und mehr zu einem Instrument sozialer Befriedigung ohne wirtschaftliche Grundlage und auf Kosten wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die sozialistische Planwirtschaft scheiterte bei dem Versuch, sich dem internationalen technologischen Niveau anzunähern und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden. Eine grundlegende Reform der Wirtschaft wurde nicht in Angriff genommen. Dies hätte eine Abkehr von der Strategie „konservativer Modernisierung“ erfordert, welche die SED trotz gegenteiliger Beteuerungen bis zuletzt betrieben hat (Brus/Kende/Mlynar, 1984: 10). Diese Strategie beruhte auf dem Festhalten an Planungs- und Leitungsstrukturen, die in den 1930er-Jahren in der UdSSR entwickelt worden waren, an der Führungsrolle der Partei in der Wirtschaft und der Ablehnung von Marktmechanismen und Konkurrenz. Das in Ungarn erfolg-
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reich praktizierte Experiment einer zweiten, privaten Ökonomie neben der staatlich gelenkten, kam für die SED aus ideologischen Gründen nicht in Frage. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass sich die DDR-Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in einem desolaten Zustand befand, dessen wahres Ausmaß allerdings den Experten und Politikern im eigenen Land und in der Bundesrepublik weitgehend verborgen blieb. Die Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, so wie sie seit dem VIII. Parteitag der SED 1971 verfolgt wurde, hatte eine Abwendung von den Modernisierungsstrategien der 1960er-Jahre bedeutet. An die Stelle einer, mit welchen Widersprüchen auch immer behafteten wirtschaftlichen Reformstrategie war eine im doppelten Sinne konservative Politik getreten: Durch die Rezentralisierung der Planungs- und Lenkungsmechanismen wurde der politische Zugriff auf die Wirtschaft wieder erhöht und den Verselbständigungstendenzen der neuen technokratischen Eliten Einhalt geboten, zugleich versprach diese Politik einer autoritären Wohlfahrtspolitik eine soziale Pazifizierung der Gesellschaft. Durch einen fürsorglichen Staat sollte dem politischen System die Legitimität erwachsen, die es benötigte, um ohne Krisen, wie in den 1950er- und 1960er-Jahren, existieren zu können. Eine Zeitlang ist diese Rechnung aufgegangen. Es waren aber nicht allein wirtschaftliche Ursachen, die diesen ungeschriebenen Pakt – soziale Wohlfahrt als Gegenleistung für politisches Wohlverhalten – in Frage stellten. Eine entscheidende Komponente für den anfänglichen Erfolg der Politik der SED unter der neuen Parteiführung war die erklärte Bereitschaft, den Griff, mit dem die Partei und die staatlichen Institutionen die Gesellschaft umklammerten, zu lockern. Vor allem im Bereich der Kulturpolitik wurde eine Liberalisierung versprochen, von der kurzzeitig nicht nur Schriftsteller und Künstler profitierten. Insbesondere für die jüngere Generation bedeutete die kulturpolitische Öffnung, dass sie nicht mehr völlig von der internationalen Jugendkultur abgeschnitten war und Jugendliche nicht mehr mit Repressionen zu rechnen hatten, wenn sie sich für Jazz oder Rockmusik interessierten, oder von der Schule verwiesen wurden, wenn sie Jeans trugen. Ähnlich wie in den 1960er-Jahren währte der kulturpolitische Frühling nur kurze Zeit. Allerdings gelang es der SED nicht mehr, den status quo ante wiederherzustellen. Die 1970er- und 1980er-Jahre sind von einem permanenten Widerspruch zwischen dem Willen der Partei, ihre kulturelle Hegemonie zu bewahren und Bestrebungen aus der Gesellschaft gekennzeichnet, sich kulturelle Freiräume zu erobern, wo es doch keine politischen Freiräume gab. Dies führte zu massiven Konflikten mit Teilen der „künstlerischen Intelligenz“, Schriftstellern, Künstlern, Schauspielern, die sich nicht mehr ohne weiteres auf die dogmatische Linie der SED verpflichten lassen wollten. Es führte zu einer wachsenden Entfremdung zwischen ehemals loyalen Künstlern und der Partei. Es führte zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im Spätherbst 1976, die zu einer bis dahin nicht gekannten Solidarisierungs- und Protestwelle führte. Viele Schriftsteller und Künstler verließen in der Folge der Ausbürgerung und des Protestes die DDR. Und schließlich entwickelte sich in Teilen der jungen Generation eine eigenständige Jugend- und Protestkultur, die sich den Anforderungen des SED-Staates entzog und wesentlich zur Formierung einer, wenngleich auch klei-
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Wirtschaftspolitik in der Ära Honecker
Partielle Liberalisierung als Befriedungsstrategie
Kultureller Wandel in den 1970er- und 1980er-Jahren
nen, Oppositions- und Protestbewegung Mitte der 1980er-Jahre beitrug (Neubert, 1997: 499ff.). Diese, hier nur angedeuteten Zusammenhänge verweisen auf den Tatbestand, dass die SED in der Ära Honecker nicht nur bei dem Versuch scheiterte, eine wirtschaftliche Modernisierung zuwege zu bringen. Auch die notwendige gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung wurde nicht in Angriff genommen. Dies hätte allerdings eine radikal andere Politik verlangt, nämlich den Abschied vom allumfassenden Organisations- und Interpretationsmonopol der marxistisch-leninistischen Parte. Dazu war die SED-Führung weder bereit noch in der Lage. Als nach 1987 durch die sowjetische Politik von Glasnost und Perestroika ein Anstoß in dieser Richtung von außen erfolgte, sperrte sie sich gegen jede Veränderung und trug damit entscheidend zu ihrem eigenen Untergang bei.
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Ursachen der Systemkrise von 1989
Von ihrer Gründung bis zu ihrem Ende hat die DDR unter einem Legitimationsdefizit gelitten. Obwohl sie angetreten war, das neue, das bessere Deutschland zu repräsentieren und mit den Fehlern der Vergangenheit endgültig zu brechen, hatten sich viele negative Elemente deutscher obrigkeitsstaatlicher Tradition erhalten, versehen mit neuen politisch-ideologischen Rechtfertigungen. Der Entwurf einer deutschen, einer demokratischen Republik Stand unter keinem guten Stern. Die DDR war gezeichnet von ihrer Gründungsgeschichte und scheiterte an ihrem diktatorischen Wesen. Die Führung der DDR trat mit dem Anspruch auf, nicht nur eine politische, sondern auch eine andere, gerechtere und effektivere ökonomische und soziale Ordnung als die des Kapitalismus geschaffen zu haben. Sie dünkte sich dabei in Übereinstimmung mit den objektiven Gesetzen der Geschichte. Diese Auffassung führte die Herrschenden dazu, vermeintlich im objektiven Interesse der Herrschaftsunterworfenen handelnd, keinen Widerspruch zu dulden, keine eigenständige Organisation der Gesellschaft, keine politischen Alternativen zuzulassen. Selbst als im „Vaterland aller Werktätigen“, der Sowjetunion, die Dinge begannen sich zu verändern, hielt die überalterte SED-Führung an ihrem Glauben fest, sie könne die sich abzeichnende Krise mit Stärke und Unnachgiebigkeit überstehen.
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Reformblockaden im politischen System der DDR
Alle historische Erfahrung sprach gegen die Vermutung, dass kommunistische Regime und die Führungsmacht Sowjetunion bereit wären, friedlich von der politischen Bühne abzutreten. Die militärischen Interventionen in der DDR 1953, in Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968, das Kriegsrecht in Polen 1981 und zuletzt die Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Frühjahr 1989 sprachen eine deutliche Sprache. Diese Ereignisse festigten aber auch – in Ost und West – die Vorstellung, dass der sowjetische Sozialismus resistent gegenüber Veränderungen sei. Es gelang ihm, Forderungen nach Selbstorganisation und Selbstregulierung aus der Gesellschaft abzuweisen. Die sozialistischen Systeme litten aber nicht nur an einem Demokratie-, sondern seit den 1970er-Jahren auch an einem Modernisierungsdefizit. Sie waren
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Der Kommunismus als Zielkultur
Sozialer und kultureller Wandel
nicht in der Lage, das monistische Gesellschaftsmodell an die Anforderungen des weltweiten Modernisierungsprozesses anzupassen. Die Komplexität moderner Industriegesellschaften erschien den Ideologen des Marxismus-Leninismus als permanente Gefahr für den Führungsanspruch der kommunistischen Parteien. Es war dieser ideologisch bestimmte Monismus, der letztlich das Ende des Sozialismus herbeigeführt hat. Moderne Gesellschaften sind nicht nach einem einheitlichen Plan steuerbar, es gibt auch keine Blaupause für den geplanten Ablauf der Geschichte. Der Sozialismus blieb den Illusionen des 19. Jahrhunderts mit seinen großen historischen Entwürfen verhaftet (Löwenthal, 1964; A. G. Meyer, 1967). Ebenso wie in den anderen sozialistischen Ländern, die 1989 revolutionäre Umbrüche erlebten, zeigte sich auch in der DDR, dass der Sozialismus sowjetischen Typs zu einer grundlegenden Systemreform nicht in der Lage war. Alle dahingehenden Versuche blieben in den Anfängen stecken oder wurden gewaltsam niedergeschlagen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, die hier nicht im Einzelnen dargelegt werden können. Zuvörderst ist von einem „Zielverlust“ zu sprechen. Der Kommunismus als Zielkultur, der bis ans Ende der 1960er-Jahre – trotz aller Erfahrungen mit dem Stalinismus – eine große Faszination auf das politische Denken in Ost und West ausgeübt hatte, ging immer mehr seiner Ziele verlustig. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, der eine gründliche Abrechnung mit dem Stalinismus in Aussicht stellte, (Crusius/Wilke, 1977) schien eine Systemreform möglich. Der Sturz Chruschtschows 1964 beendete die Reformbestrebungen in einzelnen sozialistischen Ländern, so auch in der DDR. Als am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes die Reformbewegung in der Tschechoslowakei gewaltsam niederschlugen, wurde erneut deutlich, dass die Hegemonialmacht Sowjetunion nationale Eigenwege und eine Reform an Haupt und Gliedern nicht dulden werde. Die „Risse im Monolith“ (Zbigniew Brzezinski), die bereits mit der „Exkommunikation“ Titos 1948 erkennbar wurden und sich dann am Ende der 1950er-Jahre mit dem Schisma der chinesischen Kommunisten gezeigt hatten, wurden aber durch diese gewaltsame Intervention nicht dauerhaft gekittet. Der politischen Desintegration folgte unvermeidlich die ideologische. Die Doktrin von der Einheit der kommunistischen Weltbewegung, ihres unvermeidlichen Sieges über den Imperialismus und der historischen Mission der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei verlor immer mehr an Glaubwürdigkeit. Auch alle mittelfristigen Identifikationsangebote, wie das Versprechen, die „wissenschaftlich-technische Revolution“ werde den sozialistischen Ländern stetiges Wirtschaftswachstum und Prosperität bringen, erwiesen sich als nicht tragfähig. Die mangelnde ökonomische Leistungsfähigkeit und der wachsende technologische Rückstand gegenüber dem Westen offenbarten immer deutlicher, dass das System zentraler Planung und Steuerung innovationsfeindlich und unfähig war, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Auch im sozialen Bereich zeigten sich völlig neue Probleme. Das ideologische Postulat, dass die von den regierenden kommunistischen Parteien geformten Gesellschaften soziale Verhältnisse hervorbrächten, die einen neuen, „sozialistischen Menschen“ und weitgehende soziale Gleichheit schüfen, hielt der Wirklichkeit nicht stand.
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Vielmehr vollzog sich, in der DDR wie in anderen sozialistischen Ländern, ein sozialer und kultureller Wandel, der von diesen Parteien nicht mehr zu steuern war. Die soziale Struktur der Gesellschaft entwickelte sich anders, als die ideologischen Postulate glauben machen wollten, die soziale Gleichheit als Ziel propagierten, wohingegen die Politik de facto sowohl in der Gesellschaft als auch in der unmittelbaren Machtsphäre soziale Differenzierungsprozesse aktiv unterstützte. Auf diese Weise entstanden neue Wertorientierungen und Verhaltensweisen, die mit dem ideologischen Gleichheitspostulat immer deutlicher in Konflikt gerieten. Als bedeutsamster exogener Faktor sind die Einflüsse internationaler Kultur und Zivilisation zu nennen, die sich im Zeitalter der Massenmedien nicht mehr künstlich fernhalten ließen. Sie verstärkten die kritische Distanz zur offiziellen Politik. Alles dies trug zu der in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre immer deutlicher erkennbar gewordenen Emanzipation der Gesellschaft vom Führungs- und Regelungsanspruch der kommunistischen Parteien bei. Es gab aber nach den Jahren der „Stagnation“ in der Breschnew-Ära auch entscheidende Anstöße von innen, die einen Wandel in den versteinerten Strukturen des Sozialismus zur Folge hatten. Sie waren Begleiterscheinungen einer „Revolution von oben“, die mit dem Wechsel der Parteiführung von einer gerontokratischen Führungselite zu Michail Gorbatschow in der Sowjetunion 1985 einsetzte. Mit einer Politik struktureller Reformen (Perestroika) und einer Liberalisierung des politischen Lebens (Glasnost) sollte die lange verschleppte Reform des Sozialismus in Gang gesetzt werden. Die DDR-Führung, die, wie wenige andere, stets die Führungsrolle der KPdSU betont hatte, wurde durch die Reformpolitik in der Sowjetunion in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Vor diesem Hintergrund wird die bemerkenswerte Aussage von Erich Honecker auf einer Sitzung des Zentralkomitees verständlich, dass es „kein für alle sozialistischen Länder geltendes Modell“ gebe. Honecker sprach statt dessen vom Sozialismus „in den Farben der DDR“ (Honecker, 1988: 10; 91). Diese Formulierung war, ohne es auszusprechen, dem Sprachgebrauch der französischen Kommunisten in ihrer „eurokommunistischen“ Phase entlehnt. Nur einmal, in der Anfangszeit der SED im Jahre 1946 war in einem berühmt gewordenen Aufsatz von einem „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ die Rede gewesen (Ackermann, 1946). Danach wurde stets das große Vorbild Sowjetunion gepriesen und eigenständige nationale Regungen in anderen sozialistischen Ländern mit Argwohn beobachtet. Als sozialistisches System in einem geteilten Land sah die SED – zu Recht – jede Diskussion über nationale Besonderheiten als potentielle Gefahr für die eigene Herrschaft an. Bei näherem Hinsehen aber stellte sich heraus, dass das Reden über besondere Bedingungen in der DDR 1988 nur dazu diente, sich von den Reformkonzepten der sowjetischen Kommunisten unter Michail Gorbatschow abzugrenzen. Westliche Medien wurden in einer Rede Honeckers beschuldigt, die Politik der KPdSU für eine Kampagne gegen die DDR auszubeuten. Sie, die immer beklagt hätten, dass die Politik der SED zu russisch sei, drängten sie jetzt, „in die Anarchie zu marschieren“, denn dies war nach Auffassung Honeckers und der Partei-
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Gorbatschows „Revolution von oben“
„Sozialismus in den Farben der DDR“
Absage der SED an eine Reformpolitik
Reformpolitik anderer sozialistischer Staaten
Einfluss der Reformpolitik auf die DDR
führung das zu erwartende Ergebnis von Perestroika und Glasnost. Die SED aber werde diesen neuen „Freundchen“ der Sowjetunion nicht folgen (Honecker, 1988: 11). Diese Polemik wurde in großen Teilen der Parteimitgliedschaft und generell in der DDR völlig zutreffend als Absage an jede Reform gewertet. Dieser Politik blieb die Parteiführung unter Erich Honecker bis zu ihrem Ende treu. Dabei schien Honecker einige gute Argumente auf seiner Seite zu haben. War nicht die DDR das industriell am weitesten entwickelte Land im RGW? Hatte sie nicht den höchsten Lebensstandard, und hatte die Politik der Perestroika nicht bereits zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen in der Sowjetunion geführt? Der entscheidende Aspekt aber wurde verkannt: Perestroika und Glasnost eröffneten zum ersten Mal seit den frühen 1960er-Jahren und der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 die vage Hoffnung auf eine Reform des sowjetischen Sozialismus. Hinzu kamen die Berichte und Erfahrungen über die Reformpolitik in anderen sozialistischen Ländern, die durch die ideologische und politische Öffnung in der Sowjetunion bestärkt wurden. In Ungarn verfolgte die kommunistische Partei unspektakulär eine Reformpolitik mit marktwirtschaftlichen Elementen und politischer Liberalisierung. Außenpolitisch öffnete sich das Land gegenüber dem Westen. Mit der Ankündigung im Frühjahr 1989, die Grenzbefestigungen zu Österreich abzubauen, wurde eine große Bresche in den „eisernen Vorhang“ geschlagen, durch die im Sommer und Frühherbst Tausende DDR-Bürger in den Westen gelangten. In Polen waren alle Versuche, die Solidarnosc zu unterdrücken, gescheitert. Sie war zu einer mächtigen politischen Bewegung angeschwollen, die im Frühjahr 1989 bei den der politischen Führung abgetrotzten halbfreien Wahlen einen überwältigenden Sieg erringen konnte und die Regierung stellte. Dies war das erste Mal in der Geschichte, dass eine regierende kommunistische Partei abgewählt wurde und einer „bürgerlichen“ Regierung das Feld überließ. Dass die Sowjetunion nicht intervenierte, machte deutlich, dass sie nicht mehr, wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der ýSSR, in der Lage oder bereit war, ihr Imperium notfalls mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Glasnost und Perestroika und die Ereignisse in Polen und Ungarn hinterließen in der DDR tiefe Spuren. Sie ermunterten nicht nur die kleine Opposition, sich mutiger zu äußern, sondern zeigten auch der apathischen Mehrheit der Bevölkerung, dass um sie herum tief greifende Veränderungen im Gange waren. Angesichts der abwehrenden Haltung der SED gegenüber diesen Ereignissen war freilich die Vorstellungskraft überfordert, an ähnliche Entwicklungen in der DDR zu glauben. Glasnost war eine Verheißung für die DDR, aber das über Jahrzehnte gewachsene Misstrauen war so groß, dass die Bürger in ihrer Mehrheit bei der ersten sich bietenden Gelegenheit massenhaft die Flucht in den Westen einer unsicheren Perspektive im eigenen Land vorzogen. Erst im Frühherbst des Jahres 1989, als sich die Situation zuspitzte, waren viele Bürger bereit, für Veränderungen in ihrem Land einzutreten und ihm nicht den Rücken zu kehren. Je weiter die Veränderungen in der Sowjetunion, Polen und Ungarn vorangingen, umso unsicherer wurde die überalterte Führung der SED. Sie spann sich in ein Netz von Selbsttäuschungen ein und sah jeden Versuch zur Veränderung als Anschlag des Klassengegners an.
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An vier Themenkomplexen der politischen Diskussion im Sommer und Herbst 1989 lässt sich demonstrieren, dass die politische Führung völlig unfähig war, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Es sind dies die Haltung zu den öffentlichen Protesten gegen die gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989, die Reaktion auf die blutige Unterdrückung der Demokratiebewegung in China, die Berichterstattung über die Ausreisewelle und die Vorbereitung des 40. Jahrestags der DDR. Am 8. Mai 1989 meldete das „Neue Deutschland“ unter der Überschrift „Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus“, dass 98,85 % der Wähler bei den Kommunalwahlen am Tage zuvor für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt hätten. Diese Kommunalwahlen waren im Stil aller bisheriger Wahlkampagnen Anlass einer groß angelegten Mobilisierungsaktion gewesen. Erstmals hatte es aber im Vorfeld vereinzelte Proteste gegen die Kandidatenaufstellung gegeben, vor allem aber hatten einige Bürgergruppen die öffentliche Auszählung der Wahlergebnisse überwacht und deutliche Diskrepanzen zwischen den ausgezählten Stimmen und dem offiziell verkündeten Ergebnis festgestellt. Diese Wahlfälschung wurde zum entscheidenden Auslöser für öffentlich artikulierten Unmut. Darauf reagierte die SED mit einer Propagandakampagne, in der die „Errungenschaften“ der sozialistischen Kommunalpolitik als Beleg für das enge Bündnis von Partei und Volk herausgestellt wurden. Die Blockparteien stimmten, wie gewohnt, in diesen Chor ein. Die Zeitung der CDU, die „Neue Zeit“, schrieb am 9. Mai zum Ergebnis der Kommunalwahlen, dass jene, „denen wir millionenfaches Vertrauen als Vertreter des Volkes aussprachen, ... in Stadt und Land maßgeblich für die weitere Entwicklung unseres Staates, über die erste große Wegstrecke im 5. Jahrzehnt der DDR mitbestimmen“ werden (Neue Zeit vom 9.5.1989). In einem Kommentar der LDPDZeitung „Der Morgen“ wurde von einem „geschichtlichen Gemeinschaftswerk“ gesprochen, das unter der Führung der SED in der Nationalen Front realisiert worden sei. Der Wahlsonntag symbolisiere „den Stolz der Bürger darauf, diese unsere Gesellschaftsordnung, die soziale Sicherheit und Geborgenheit für jeden garantiert, in der beruflichen und ehrenamtlichen Arbeit auf vielfältige Weise mitgestaltet zu haben“ (Der Morgen vom 9.5.1989). Der gleiche Tenor findet sich in den Kommentaren der übrigen Parteien und Massenorganisationen. Dass Wahlergebnisse entsprechend vorheriger Beschlüsse gefälscht wurden, war nichts Neues. Neu war, dass es der sich formierenden Opposition im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen erstmals gelang, diesen Wahlbetrug nachzuweisen und den Skandal öffentlich zu machen. Welche Brisanz diese Vorgänge hatten, war weder der Parteiführung noch vielen Kritikern der SED klar. Das öffentliche Aussprechen einer allen bekannten Tatsache wirkte befreiend. Die Entstehung einer autonomen politischen Öffentlichkeit außerhalb der kleinen Oppositionszirkel geht auf das Frühjahr 1989 zurück. Das zweite wichtige Element, das zur Krise führte, war die Reaktion auf die Ereignisse in China. Das „Neue Deutschland“ übernahm am 5. Juni 1989 ohne jede Modifikation die offizielle Meinung der chinesischen kommunistischen Partei, dass ein „konterrevolutionärer Aufruhr“ niedergeschlagen worden sei. Bei einem Besuch im Saarland wurde Egon Krenz wenige Tage nach dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz von der Presse nach seiner Position gefragt.
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Die gefälschten Kommunalwahlen vom 8. Mai 1989
Reaktion auf die Ereignisse in China
Die Massenflucht von DDR-Bürgern und die Reaktion der SED
Er wandte sich gegen die „Horrordarstellungen der BRD-Medien“ und berief sich auf die offizielle Darstellung der KP Chinas, die festgestellt habe, „dass die friedliche Demonstration der Studenten zu einem konterrevolutionären Umsturz in der Volksrepublik China ausgenutzt werden sollte“ (ND vom 9.6.1989: 2). In der Folge wurde im DDR-Fernsehen mehrmals der offizielle chinesische Rechtfertigungsfilm über die Ereignisse in Peking ausgestrahlt – dies konnte nur als deutliche Warnung an die DDR-Bürger interpretiert werden. Bis zu ihrem Sturz betonte die SED-Parteiführung ihre Solidarität mit der KP Chinas, sei es Egon Krenz während einer offiziellen Reise in die Volksrepublik Ende September (ND vom 26.9.1989: 1), sei es der für internationale Beziehungen zuständige ZK-Sekretär, Hermann Axen, auf einer Festveranstaltung zum 40. Gründungstag der Volksrepublik China in Berlin Anfang Oktober (ND vom 30.9./1.10.1989: 3). Am 2. Oktober, wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR, berichtete das „Neue Deutschland“ unter dem zynischen Titel „Pekings Tienanmen-Platz erlebte ein mitreißendes Fest der Lebensfreude“, dass Egon Krenz in Peking gegenüber einer Delegation von Werktätigen betont habe: „Euer Feiertag ist unser Feiertag. Uns vereinen gleiche Ideale.“ Diente die Berichterstattung über die Ereignisse in China unverkennbar der Einschüchterung der eigenen Bevölkerung, so zeigt die Reaktion auf die im Sommer einsetzende massive Fluchtbewegung aus der DDR deutlich, dass die politische Führung jeglichen Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Die massenhafte Abwanderung vor allem junger DDR-Bürger wurde – wie vor dem 13. August 1961 – dem negativen Einfluss, der Abwerbungskampagne und der „Frontberichterstattung“ der Westmedien zugeschrieben, die die „organisatorischen Regieanweisungen“ gäben, um „Bürger der DDR zum Verlassen ihrer Heimat anzustiften“ (ND vom 25.8.1989: 2). Denjenigen, welche die DDR verließen, müsse man keine Träne hinterher weinen, meinte das Zentralorgan der SED am 2. Oktober 1989. Presse und Fernsehen berichteten – wie 1953 – von „durch Provokateure von langer Hand vorbereiteten“ Aktionen, die nicht zufällig am 40. Jahrestag der DDR kulminierten. Journalisten des „Neuen Deutschland“ stellten am 10. Oktober einen unmittelbaren Bezug zwischen der Berichterstattung westlicher Medien und „antisozialistischen Ausschreitungen“ her. „Die Provokation war von langer Hand vorbereitet. Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen haben sich dabei hervorgetan. Auch schickte man Hetzballons mit Flugblättern wie in Hochtagen des kalten Krieges.“ Von einer „aufgeputschten Meute“ war die Rede, die Polizeibeamte mit dem Nazigruß empfingen. Die Gethsemane-Kirche in Berlin, von der seit Jahren viele Proteste ausgegangen waren, wurde als Ort einer Verschwörung ausgemacht (ND vom 10.10.1989: 3). In allen Zeitungen kamen „empörte Bürger“ zu Wort, die „einhellig“ die „gewissenlosen Provokationen“ verurteilten. Jegliche Übergriffe der „Ordnungskräfte“ wurden geleugnet. Wahr sei vielmehr, „dass Randalierer, aufgeputschte Störer und kriminelle Elemente staatsfeindliche Parolen riefen und die im Ordnungseinsatz befindlichen Volkspolizisten tätlich angriffen“ (ND vom 11.10.1989: 2). In einer Rede zur Eröffnung des Parteilehrjahres der SED 1989/90 setzte sich der Berliner SED-Vorsitzende, Günter Schabowski, mit den „zweifelhaften Segnungen des Imperialismus“ auseinander (ND vom 8.9.1989: 3) und bestimm-
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te damit den Tenor einer Medienkampagne, die das Ziel hatte, die Bürger von der Flucht in den Westen abzuhalten. In großer Aufmachung wurde über die angebliche Verletzung des Völkerrechts in der Bundesrepublik berichtet (ND vom 13.9.1989: 5). Die Wirkung war gegenteilig: Die Fluchtwelle wurde weiter angeheizt, weil viele Bürger der DDR glaubten, die SED werde in Kürze die Grenzen auch zu den Nachbarstaaten schließen. Der 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 sollte von der Parteiführung Der 40. Jahrestag in gewohnt bombastischer Form inszeniert werden: Massenaufmärsche, Grußad- der DDR ressen von Arbeitskollektiven, ein Festakt im „Palast der Republik“ in Berlin und eine Rede des „Ersten Sekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Genossen Erich Honecker“. Honeckers Rede am Vorabend des Jahrestages trug den beschönigenden Titel „Durch das Volk und für das Volk wurde Großes vollbracht“. Honecker malte ein wahrhaft idyllisches Bild der Situation in der DDR. Seine Rede ließ jeden Wirklichkeitsbezug vermissen und flüchtete sich in platte Losungen wie „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“. Die DDR überschreite die Schwelle zum Jahr 2000 mit der Gewissheit, dass dem Sozialismus die Zukunft gehöre, auch wenn „einflussreiche Kräfte der BRD“ die Chance witterten, „die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung durch einen Coup zu beseitigen“. Statt eines Hinweises auf die realen Probleme des Landes war von der „Politik der Kontinuität und Erneuerung“ die Rede, eine Floskel, die in den Jahren zuvor ständig gebraucht worden war, um alle Forderungen nach einer Reform abzublocken. Diese Politik sichere, dass auch künftig der „Sozialismus in den Farben der DDR“ leuchten werde. Während Tausende die DDR verließen oder auf den Straßen für eine andere Republik demonstrierten, sprach Honecker von dem „vertrauensvollen Gespräch in Stadt und Land“, das in Vorbereitung des XII. Parteitages im Gange sei (ND vom 9.10.1989, S. 3). In der Scheinwelt einer politischen Führung, die ihr eigenes Lebenswerk von außen bedroht sah, blieben Volk und Partei im gemeinsamen Bemühen vereint. Zur gleichen Zeit fand auf den Straßen von Berlin eine große Demonstration statt, bei der die Polizei brutal gegen die Demonstranten vorging. Das Idol der Menschen auf der Straße war Michail Gorbatschow, der als Gast der SEDFührung gute Miene zum bösen Spiel machte. Die Feiern zum 40. Jahrestag gerieten zum peinlichen Abgesang der SEDHerrschaft. Die Unfähigkeit der politischen Führung, die Zeichen der Zeit zu erkennen, hat die DDR zuerst an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht und dann ihr Ende besiegelt. Nur einem Zusammentreffen glücklicher Umstände war es zu danken, dass die friedliche Revolution am 9. Oktober in Leipzig nicht nach dem Muster des 4. Juni in Peking verhindert worden ist. Angesichts der Stellungnahmen der DDR-Führung zur gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung in China war die Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen, dass ähnliche Optionen auch für den Fall größerer Unruhen in der DDR erwogen wurden.
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5.2
„Politische Kultur einer unpolitischen Gesellschaft“
Der Traum von einer demokratische Bürgergesellschaft: Politische Opposition und Bürgerbewegungen
Beobachter der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR hatten schon seit langem einen manifesten Widerspruch zwischen der offiziellen politischen Kultur mit ihren abgelebten Ritualen und Parolen und der Alltagskultur der Menschen konstatiert. Der erste Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus, hatte in einem Buch den einprägsamen aber zu idyllischen Begriff „Nischengesellschaft“ benutzt, um zu beschreiben, wie die Menschen sich vor den Zumutungen des Systems in private Freiräume zurückzogen (Gaus, 1983). Treffend war die Beobachtung, dass es den Bürgern gelang – und dass die SED es zuließ –, eigene gemeinschaftsbezogene Lebenswelten zu entwickeln und sich vor den Zumutungen einer totalen politischen Durchdringung der Gesellschaft zu schützen. Andererseits waren seit Anfang der 1980er-Jahre mehr Menschen bereit, sich für vielfältige, nicht von der politischen Obrigkeit vorgegebene Ziele zu engagieren. Entgegen späterer Legendenbildung waren diese Gruppen in der Gesellschaft der DDR allerdings bis zum Sommer 1989 eine marginale Erscheinung. Jahrzehntelang hatte die SED Politik für sich monopolisiert. Die Aufgabe der Bürger war es, für die Massenaufmärsche und politischen Kampagnen der Partei- und Staatsführung die Staffage zu liefern. Das Ergebnis war eine allgemeine Ermüdung. Unter der Oberfläche einer durch und durch politisierten Gesellschaft entwickelte sich politische Apathie, es entstand die „politische Kultur einer unpolitischen Gesellschaft“ (Hanke, 1987). Die Fluchtbewegung Diese, in langen Jahren gewachsene, aber seit Mitte der 1980er-Jahre sukals Auslöser des zessive ausgehöhlte politisch-kulturelle Grundkonstellation zerbrach im Sommer Umbruchs und Frühherbst 1989 innerhalb weniger Wochen und Monate. An ihre Stelle trat für kurze Zeit eine massenhafte Kultur politischen Protestes und Widerstandes. Erst durch die Massenflucht des Sommers und Frühherbstes und die Unfähigkeit der SED, dieser Krise Herr zu werden, wurden die bis dahin randständigen Oppositionsgruppen ermutigt, an die Öffentlichkeit zu treten. Nur für einige wenige Wochen wurden sie zur Speerspitze der Demokratiebewegung in der DDR. Schon Ende des Jahres 1989 fanden sie sich erneut in einer politischen Randposition wieder. Im Sommer 1989 hatte die Fluchtbewegung dramatisch zugenommen. Sie war eine Reaktion auf kumulierende soziale und politische Probleme. Sie war auch Reaktion auf und Auslöser der politischen und sozialen Eruption, die innerhalb weniger Monate zum Ende der DDR führen sollte. Es war vor allem die zum Teil panikartige Ausreise, die den Menschen die Labilität der Situation vor Augen führte und viele ermunterte, sich offen und öffentlich zu Wort zu melden. Neben den wöchentlichen Demonstrationen in Leipzig, Dresden und vielen Städten der DDR und der Demonstration von Hunderttausenden von Menschen (die Schätzungen gehen von 500.000 bis eine Million) am 4. November 1989 in Berlin, war es auch die Parteibasis der SED, die sich im November und Anfang Dezember fast täglich zu Tausenden vor der mächtigen Parteizentrale einfand, um ihre Forderungen vorzubringen. Das Gesetz des Handelns war auf die De-
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monstranten auf den Straßen der DDR übergegangen. Die einst allmächtige SED vermochte gegen sie nichts auszurichten. Vor dem Frühjahr 1989 kann von einer nennenswerten organisierten Opposition in der DDR nicht gesprochen werden. Die Situation unterschied sich erheblich von anderen sozialistischen Ländern. Seit den späten 1970er-Jahren gab es verschiedene informelle Gruppen, die meist im Schutzraum der Kirchen arbeiteten. Seit Mitte der 1980er-Jahre entstand eine „zweite Öffentlichkeit“. Verschiedenste Formen halblegaler und illegaler Publikationen, z. B. der Berliner „Umweltbibliothek“, sorgten dafür, dass offiziell unterdrückte Nachrichten und Informationen in den allmählich wachsenden Netzwerken der kirchlichen Friedens- und Umweltbewegung verbreitet wurden. Aber eine organisierte Opposition, vergleichbar der Charta 77 in der ýSSR oder Solidarnosc in Polen, existierte nicht. Nahezu keine Berührungspunkte bestanden zwischen diesen Gruppen und Oppositionellen aus den ersten drei Jahrzehnten der Existenz der DDR – weder personell noch ideologisch. Nach der Zerschlagung der bürgerlichen Kräfte waren frühere Oppositionsbestrebungen vor allem von SED-Mitgliedern getragen, die zu verschiedenen Zeiten gegen die politische Linie der Partei opponierten. Bei den neuen informellen Gruppen dominierten eher subkulturelle Orientierungen und eine große Distanz zu jeder Form formaler Organisation. Es gab viele Bezüge zu lebensreformerischen und kulturrevolutionären Bewegungen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, ohne dass dies den Beteiligten immer bewusst war. Das politische System und seine Ideologie wurden als bedrückend empfunden. Der politischen und ideologischen Herrschaft des Marxismus-Leninismus wurde aber kein geschlossenes Gegenmodell gegenübergestellt. Ein entscheidender Unterschied zu anderen sozialistischen Ländern bestand darin, dass sozialistische Ideen und Konzepte auch in oppositionellen Zirkeln eine entscheidende Prägekraft behielten. Es hatte in kleinen Gruppen schon seit geraumer Zeit Diskussionen über eine notwendige Reform des Sozialismus von Grund auf gegeben. Nur sehr vereinzelt wurden Stimmen laut, die auf den Sozialismus als Leitidee verzichten wollten. Nachdem das alte System gestürzt war, stellte sich paradoxerweise heraus, dass die schärfsten Kritiker des Sozialismus à la SED die treuesten Verfechter der reinen sozialistischen Idee waren. Die systemsprengende Kraft der politischen und kulturellen Vorstellungen innerhalb der neuen Gruppen lag darin, dass der umfassende Regelungsanspruch der Partei zurückgewiesen wurde. Ihm wurde das Recht auf die Privatheit entgegengesetzt. Ganz im Sinne der Lebensreformbewegung und der „neuen sozialen Bewegungen“ im Westen wurden dem Gesellschaftlichen gemeinschaftliche Strukturen privater Freundeskreise und die bindende Kraft von Lebens- und Glaubensgemeinschaften gegenübergestellt. Die Überwindung der parteizentrierten politischen und sozialen Verhältnisse durch die Kraft der Gemeinschaft trat an die Stelle gesellschaftspolitischer Gegenkonzepte, wie sie die marginale Systemopposition in früheren Jahren formuliert hatte (Havemann, 1964; Bahro, 1977). Zugespitzt lässt sich die These formulieren, dass die diversen neuen Gruppen durch die Ereignisse außerhalb der DDR, nämlich den Umbruch in der Sow-
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Das Entstehen alternativer Netzwerke und Oppositionsgruppen
Traditionsbezüge der Oppositionsgruppen
Gemeinschaftssuche gegen Totalitätsansprüche des politischen Systems
Forderungen nach Wahl- und Vereinigungsfreiheit und Formierung der Opposition
Gründung des Neuen Forums
jetunion und den fundamentalen Transformationsprozess in den sozialistischen Ländern, gezwungen wurden, sich als politische Opposition zu verstehen und zu organisieren. Die wachsende Unruhe in der Bevölkerung und die beginnende Ausreisewelle zwangen die verstreuten kleinen Oppositionsgruppen zu einer klaren Positionsbestimmung. Monate vor dem Oktober 1989, und verstärkt nach den manipulierten Kommunalwahlen vom Mai des gleichen Jahres, hatten die etwa 500 Basisinitiativen in der DDR, die meist unter dem Dach der evangelischen Kirchen Zuflucht gefunden hatten, zu entscheiden, ob und wenn ja, wie sie den notwendigen Prozess der Veränderung in der DDR anstoßen könnten Am 1. Juli 1989 veröffentlichten Mitglieder eines Friedenskreises und die Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ einen offenen Brief, der erstmals weitreichende politische Forderungen enthielt – Forderungen, die den Systemzusammenhang des „realen Sozialismus“ sprengen mussten. Aus Empörung über die Fälschung der Kommunalwahlen im Frühjahr forderten sie eine Reform des Wahlrechts, die das Wahlgeheimnis garantiere und dem Bürger die Möglichkeit gebe, wirklichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretungen zu nehmen. Gefordert wurde ferner die Zulassung „unabhängiger Interessengemeinschaften“ entsprechend der verfassungsrechtlich garantierten Vereinigungsfreiheit. Im Oktober/November 1989 wurde das „Neue Forum“, die zahlenmäßig stärkste Oppositionsgruppe, zum Symbol des Wandels und der Auflehnung. Es wurde am 9. September 1989 von 30 Vertretern verschiedener, meist kirchlicher Gruppen gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u.a. die Malerin Bärbel Bohley, die Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, Katja Havemann, der aus der SED ausgeschlossene Anwalt Rolf Henrich, Autor eines regimekritischen Buches (Henrich, 1989), der Physiker Sebastian Pflugbeil und der Molekularbiologe Professor Jens Reich. Das Neue Forum verstand sich als pluralistisches Sammelbecken der Opposition und als Vereinigung, die einen „demokratischen Dialog“ über Fragen ermöglichen und anstoßen wollte, die die gesamte Gesellschaft angingen. Den Aufruf des Neuen Forum vom Oktober 1989 hatten in kurzer Zeit mehr als 200.000 Menschen unterschrieben. Im Gründungsaufruf hieß es: „Um alle diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen ... Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen NEUES FORUM.“ (Aufbruch 89, in: Oktober 1989, 1990: 18f.)
„Demokratie Jetzt“
Am 12. September veröffentlichten zwölf Personen einen „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“, in dem sie angesichts der Reformunwilligkeit des Staatssozialismus und der aktuellen Krise der DDR ein Bündnis aller reformwilligen Menschen forderten. „Alle, die sich beteiligen wollen, laden wir zu einem 250
Dialog über Grundsätze und Konzepte einer demokratischen Umgestaltung unseres Landes ein“ (Demokratie Jetzt, 1990: Dok. 26). Unter den Gründungsmitgliedern von „Demokratie Jetzt“ waren die Mitgründerin der Gruppe „Frauen für den Frieden“, Ulrike Poppe, der Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann, der Physiker und Synodale Hans-Jürgen Fischbeck und der Regisseur Konrad Weiß. Dem Aufruf der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“, der, wie die meisten vergleichbaren Stellungnahmen, in wenigen Exemplaren geschrieben war („Bitte abschreiben und weitergeben“), waren „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ beigefügt, in denen es einleitend hieß: „Das Ziel unserer Vorschläge ist es, den inneren Frieden unseres Landes zu gewinnen und damit auch dem äußeren Frieden zu dienen. Wir wollen eine solidarische Gesellschaft mitgestalten und alle Lebensbereiche demokratisieren. Zugleich müssen wir ein neues, partnerschaftliches Verhältnis zu unserer natürlichen Umwelt finden. Wir wollen, daß die sozialistische Entwicklung, die in der Verstaatlichung steckengeblieben ist, weitergeführt und dadurch zukunftsfähig gemacht wird. Statt eines vormundschaftlichen, von der Partei beherrschten Staates, der sich ohne gesellschaftlichen Auftrag zum Direktor und Lehrmeister des Volkes überhoben hat, wollen wir einen Staat, der sich auf den Grundkonsens der Gesellschaft gründet, der Gesellschaft gegenüber rechenschaftspflichtig ist und so zur öffentlichen Angelegenheit (RES PUBLICA) mündiger Bürgerinnen und Bürger wird. Soziale Errungenschaften, die sich als solche bewährt haben, dürfen durch ein Reformprogramm nicht aufs Spiel gesetzt werden.“ (Demokratie Jetzt, 1990: Dok. 27)
„Demokratie Jetzt“ entstand aus zwei Oppositionsgruppen, der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, der „Initiative für Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ und der Beteiligung weiterer Ost-Berliner Intellektueller. Obwohl diese Gruppe in vielen Bereichen ähnliche Positionen vertrat wie das Neue Forum, kam es vorwiegend auf Grund persönlicher Konflikte zu keinem Zusammengehen der beiden Oppositionsgruppen. Eine dritte Oppositionsgruppe, die in der Anfangsphase des Umbruchs Be- „Demokratischer deutung erlangte, war der „Demokratische Aufbruch – sozial+ökologisch“. Im Aufbruch“ Juni 1989 hatte sich eine Initiativgruppe zusammengefunden, die überwiegend aus kirchlichen Mitarbeitern bestand. Zu den Mitbegründern gehörten der später der Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst überführte Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der Pfarrer und spätere Verteidigungsminister der DDR Rainer Eppelmann, der Weimarer Theologe Edelbert Richter und der wissenschaftliche Mitarbeiter des DDR-Kirchenbundes Ehrhart Neubert. Auch die heutige Kanzlerin, Angela Merkel, war Mitglied dieser Gruppe. Nach einer von der Polizei behinderten Gründungsversammlung am 2. Oktober 1989 hat sich der „Demokratische Aufbruch“ am 30. Oktober als Partei konstituiert. Eines der Motive für diese Gründung war die Unzufriedenheit mit der informellen Struktur der Oppositionsbewegung. Rainer Eppelmann sagte dazu, die Gründer hätten das Gefühl gehabt, dass es Zeit sei, von der Spontaneität zu einem dauerhaften Engagement und festen Strukturen zu kommen (TAZ vom 18.10.1989). Der Parteitag Mitte Dezember war durch massive Auseinandersetzungen zwischen dem rechten und linken Flügel, vor allem über Fragen der Wirtschaftspolitik und die deutsche Einheit bestimmt und führte zur Spaltung.
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„Forum“ statt Partei: Organisationsvorstell ungen der neuen politischen Gruppen
Viele prominente Mitglieder schlossen sich der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) an. Die Bürgerbewegungen waren in einer Zeit entstanden, als jede politische Betätigung außerhalb der reglementierten Formen der „sozialistischen Demokratie“ behindert und von staatlicher Seite unterdrückt wurde. Die Bürgergruppen waren bewusst als Foren gegründet worden. Sie wollten eine Auseinandersetzung über die vielfältigen Probleme in Gang bringen, die sich in den Jahrzehnten der Diktatur des bürokratischen Sozialismus angehäuft hatten. Darin sahen sie die Grundvoraussetzung für das Entstehen einer Zivilgesellschaft. Das Einfordern eines breiten und uneingeschränkten Dialogs stellte in der geschlossenen Gesellschaft der DDR, die vom Informationsmonopol der SED geprägt war, ein Sakrileg dar. Daneben war allerdings in den Jahren zuvor allmählich eine informelle Kommunikationsstruktur entstanden, in der kritische Fragen gestellt und Probleme benannt werden konnten. Die neuen Gruppen waren wichtiger Teil dieser zweiten Öffentlichkeit. Ihre Vorstellung aber, es ließe sich auf Dauer ein breiter kritischer Diskurs der gesamten Gesellschaft ermöglichen, erwies sich bald als Illusion. Als Foren hatten die neuen Gruppen schnell ausgedient, und sie mussten anderen Formen politischer Meinungs- und Willensäußerung den Platz überlassen: den Massendemonstrationen und den sich neu gründenden Parteien. Im Unterschied zu den anderen Ländern des Sozialismus sowjetischen Typs fällt auf, dass die Opposition in der DDR allenfalls für einen kurzen historischen Augenblick die Richtung bestimmte, während sie schon kurz nach dem Fall der Mauer nur „auf dem Wellenkamm des revolutionären Umbruchs schwamm, sodass es den Anschein hatte, sie befinde sich an der Spitze der Bewegung“ (Meuschel, 1991: 43).
5.3 „Dialog“ statt Konfrontation: Reaktion der SED auf den Massenprotest
Die „Wende“
Erst am 11. Oktober 1989 zeigte das Politbüro der SED öffentlich, dass es über die Situation im Lande besorgt war. Es verabschiedete eine Erklärung, in der erstmals bescheidene Zeichen einer Einsicht in die tatsächliche Lage zu erkennen waren. Den Bürgern wurde ein „sachlicher und vertrauensvoller Dialog“ angeboten, die Abwanderung vieler DDR-Bürger bedauert. Die SED-Führung ließ sogar Anzeichen von Selbstkritik erkennen, indem sie vorsichtig andeutete, dass die Ursachen für die massenhafte Abwanderung von DDR-Bürgern in den Westen möglicherweise auch bei ihr zu suchen seien – das letzte Mal hatte es ein solches Eingeständnis nach dem 17. Juni 1953 gegeben. Gemeinsamkeit wurde beschworen, „demokratisches Miteinander“ angeboten und „engagierte Mitarbeit“ eingefordert. Zugleich aber war von großangelegten Provokationen des Imperialismus die Rede, deren Opfer viele der Flüchtlinge geworden seien. Vor allem aber wurde jede Hoffnung gedämpft, es werde sich Entscheidendes an den Strukturen von Staat und Gesellschaft ändern: Die DDR verfüge über „alle erforderlichen Formen und Foren der sozialistischen Demokratie.“ Es komme darauf an, sie „noch umfassender“ zu nutzen, was in der Sprache der SED bedeutet, dass sie bisher ungenügend genutzt worden waren (ND vom 12.10.1989: 1). Mit dem Wort „Fo-
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ren“ sollte ein direkter Bezug zum „Neuen Forum“ hergestellt und die Diskussionsbereitschaft der SED-Spitze signalisiert werden. Der Erklärung waren dramatische Ereignisse vorausgegangen. Tausende Zuspitzung der Krise DDR-Bürger hatten im September versucht, über Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen die DDR zu verlassen. Im Garten der Prager Botschaft der Bundesrepublik campierten Hunderte unter schlechtesten Bedingungen. Die Parteiführung der Tschechoslowakei hatte der SED-Führung am 25. September mitgeteilt, dass sie nicht mehr bereit sei, die Folgen der panikartigen Ausreise zu tragen. Sie fürchtete zu Recht, dass die Ereignisse die innenpolitische Lage in der ýSSR gefährdeten. Die Frage war, ob die Grenzen der DDR zu Tschechoslowakei geschlossen werden sollten. Dies hätte unabsehbare Folgen gehabt. Der Generalsekretär der SED hatte die Idee, „durch einen einmaligen Akt“ die Botschaftsbesetzer über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen (Schabowski, 1990: 68; Der Spiegel vom 23.4.1990: 88ff.). Bei dieser Aktion kam es am 4. Oktober zu gewaltsamen Demonstrationen in Dresden, wo verzweifelte Menschen versuchten, den Hauptbahnhof zu stürmen, um auch in die durchreisenden Züge zu gelangen. Die Regelung der Reisemöglichkeiten war zum entscheidenden Indikator dafür geworden, ob die SED-Führung gewillt war, in letzter Sekunde das Steuer herumzureißen und in eine umfassende Reform des Systems einzuwilligen. Beide Entscheidungen kamen zu spät und waren zudem noch halbherzig.
5.3.1 Das Ende der SED als Staatspartei Nur elf Tage nach den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR wurde der Generalsek- Der Sturz Erich retär des ZK der SED, Erich Honecker, gestürzt. Dass der neue erste Mann der Honeckers SED, Egon Krenz, eine Übergangsfigur sein würde, war offenkundig; dass er für kaum zwei Monate der letzte Generalsekretär einer allmächtigen Staatspartei und Konkursverwalter eines gescheiterten politischen und sozialen Experiments sein würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu ahnen. Die Vorgeschichte des Sturzes von Erich Honecker als Generalsekretär durch das Politbüro am 17. Oktober 1989 und die Art und Weise, in der sein Nachfolger inthronisiert wurde, widerspiegeln die Folgen der Deformation des politischen Systems. Dieser ganze Prozess glich eher den Rankünen am Hofe eines absoluten Fürsten als dem Führungswechsel in einem modernen Staatswesen. Die Vorbereitungen zur Ablösung Erich Honeckers waren seit dem Spätsommer im engsten Kreis einiger Mitglieder des Politbüros getroffen worden. Die Entscheidung wurde immer wieder verzögert. Wie ein magisches Datum wirkte der 40. Jahrestag der DDR. Die geplante Palastrevolution konnte nicht ohne Zustimmung, zumindest aber Duldung des Ministeriums für Staatssicherheit erfolgen (Hertle, 1996: 122ff.; Schabowski, 1990: 80; Interviews des Verf. mit Wolfgang Herger und Egon Krenz). Erich Honecker hat seinen Sturz später als „innerparteilichen und staatlichen Putsch“ bezeichnet, bei dem sich die Konspirateure auf die sowjetischen Berater im Ministerium für Staatssicherheit hätten stützen können (Andert/Herzberg, 1990: 375). Für ihn war seine Absetzung
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auf das Wirken dunkler Mächte und von Verrätern in den eigenen Reihen zurückzuführen: „Mein Sturz als Partei- und Staatschef war das Ergebnis eines großangelegten Manövers, deren Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten. Diejenigen, die sich heute mit dieser Tat brüsten, sind dagegen kleine Lichter. Hier handelt es sich um große Vorgänge, die nicht von heute auf morgen eintraten, sondern um langfristig angestrebte Veränderungen auf der europäischen Bühne, ja auf der Weltbühne.“ (Andert/Herzberg, 1990: 21)
Die „Wende“ der SED
„Aktionsprogramm“ der neuen SEDFührung
Honecker deutet damit eine sowjetische Verschwörung an. Als Ursache führte er an, dass er sich dem seit 1987 angeblich beobachtbaren Trend, die Teilung Deutschlands zu überwinden, entgegengestellt habe und damit der Politik des Ausverkaufs der DDR im Wege gestanden habe. Diese Verschwörungstheorie erinnert in bemerkenswerter Weise an die Umstände des Sturzes von Walter Ulbricht 1971; der damalige Verschwörer war – mit Duldung oder im Auftrag der Sowjets – Erich Honecker (M. Kaiser, 1997). Die Ablösung Honeckers und anderer führender Mitglieder des Politbüros und die Wahl von Egon Krenz, Mitglied des Politbüros und Sekretärs des ZK für Sicherheit (in dieser Funktion war er für die brutalen Polizeieinsätze am 7./8. Oktober verantwortlich), zum Generalsekretär der SED und, wenige Tage später, am 24. Oktober, zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates hinterließ den Eindruck, dass es die SED-Spitze bei kosmetischen Operationen belassen wollte. Krenz und das neue Politbüro fanden mit ihren Beteuerungen, eine „Wende“ herbeiführen und eine neue Politik einleiten zu wollen, keinen Glauben. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Krenz der treue junge Mann Erich Honeckers und der Wahlfälscher der Kommunalwahlen im Frühjahr 1989. Die Signale, die die neue Partei- und Staatsführung aussandte, waren widersprüchlich. Am Tag nach seiner Wahl traf sich Krenz mit einem führenden Kirchenvertreter, nach einer langen Zeit der Sprachlosigkeit ein positives Zeichen. Er diskutierte mit Arbeitern öffentlich über die politische Situation. Das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“, das im Herbst 1988 zu offener Empörung auch in den Reihen der SED geführt hatte, wurde aufgehoben. Der Staatsrat beschloss eine Amnestie für alle, die wegen „illegalen Grenzübertritts“ verurteilt worden waren. Auch politische Gefangene sollten freikommen. Auf der anderen Seite ging das Versprechen eines Neuanfangs mit altbekannten Äußerungen und der erneuten Machtkumulation beim Generalsekretär der Partei einher. Die Tatsache, dass die Ablösung Honeckers nicht als Absetzung, sondern als Rücktritt aus Gesundheitsgründen deklariert wurde, ließ an der Ernsthaftigkeit der angekündigten Erneuerung zweifeln. Die neue SED-Führung hatte die Lage politisch nicht mehr im Griff. Es blieb ihr nur, auf die sich überschlagenden Ereignisse zu reagieren. Einen Tag vor der großen Berliner Demonstration am 4.11.1989, die zum Signal für den Aufbruch über die Grenzen des alten Systems hinaus wurde und für kurze Zeit die Hoffnung einer sozialistischen Alternative beschwor, wurde auf einer Sitzung des Politbüros ein Aktionsprogramm verabschiedet, dessen Grundzüge Egon Krenz in einer anschließend überraschend angekündigten Fernsehrede umriss. Es enthielt weitreichende Reformvorschläge, die noch wenige Wochen und 254
Monate zuvor allenthalben begrüßt worden wären, aber in dieser Situation nur noch als halbherzige Zugeständnisse einer Partei erschienen, die sich verzweifelt an die Macht klammert. Versprochen wurde die Veröffentlichung des Entwurfs eines Reisegesetzes, die am 6. November erfolgte. Seine bürokratischen Regelungen und unklaren Formulierungen riefen einen Sturm der Entrüstung hervor, vor dem die Führung der SED zwei Tage später kapitulierte. In einer überstürzten, nicht vorbereiteten Aktion öffnete sie die Mauer (Hertle, 1996: 164ff.). Im Zusammenhang damit wurde auch die Aufhebung des § 213 (Republikflucht) des Strafgesetzbuches angekündigt. Weitere Reformmaßnahmen wurden in Aussicht gestellt: die Ausarbeitung eines Mediengesetzes, die Veröffentlichung von Umweltdaten, eine Amnestie durch den Staatsrat, eine Reform des politischen Systems, die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes, eine Verwaltungsreform, insbesondere eine Stärkung der kommunalen und regionalen Ebene, die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes, den Kirchen und Bürgerrechtsgruppen seit Jahren vergeblich gefordert hatten, eine umfassende Wirtschaftsreform, die Reform des Bildungswesens, dessen starre ideologische Ausrichtung einen erheblichen Anteil an der Unruhe im Lande hatte und nicht zuletzt Erneuerungen innerhalb der Partei selbst (ND vom 4./5.11.1989). Zugleich aber zielte die politische Strategie der SED seit der Wahl von Egon Krenz auf Schadensbegrenzung. Hoffte man zuerst noch, durch Nachgeben im Detail den Unmut der Bevölkerung beruhigen zu können, so zeigte sich bald, dass dies nicht mehr möglich war. Die Bevölkerung nahm der nur an den Spitzen ausgewechselten Parteiführung ihren Erneuerungswillen nicht ab. Als dann auch noch die Parteibasis, empört über immer neue Enthüllungen über Machtmissbrauch, Korruption und illegale Geschäfte aufbegehrte, war nicht nur die „Ära“ Krenz bereits nach 48 Tagen zu Ende, sondern auch das Ende der SED besiegelt. Am 3. Dezember 1989 trat das Politbüro der SED unter dem Druck der Parteibasis geschlossen zurück – ein einmaliges Ereignis in der über 70jährigen Geschichte kommunistischer Parteien. Dem folgte drei Tage später der unfreiwillige Rücktritt von Egon Krenz als Vorsitzender des Staatsrates und des nationalen Verteidigungsrates. Trotz einer bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit an die neuen Bedingungen hatte es die „erneuerte“ SED-Führung nicht vermocht, die Initiative wieder zu erlangen. Über Wochen hinweg blieb ihr nichts anderes übrig, als der Bewegung hinterherzulaufen. Derweil hatten die oppositionellen Gruppen an Boden gewonnen, und bis weit in die Reihen der SED verbreitete sich der Eindruck, dass nur eine radikale Reform den Zerfall der DDR aufhalten könne. Dazu konnte sich die SEDFührung nicht aufraffen. Trotz der verbal bekundeten Lernfähigkeit der Partei sah die politische Praxis der SED anders aus. Große Teile des Apparates und die „neue“ Führung der SED unter Egon Krenz versuchten bis zum erzwungenen Rücktritt am 3. Dezember, mit Zähnen und Klauen ihre Positionen zu verteidigen und eine schonungslose Aufdeckung der wahren Situation zu verhindern. Die Parteiführung, die anfangs noch gehofft hatte, bis zum vorgezogenen XII. Parteitag im Frühjahr 1990 ihre Position zu festigen, musste unter dem Druck der Parteibasis einen außerordentlichen Parteitag einberufen. Es ging um
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Unruhe an der Parteibasis und Desintegration der SED
Außerordentlicher Parteitag der SED im Dezember 1989
die Weiterexistenz der SED oder ihre Auflösung. Mit allen Mitteln versuchte der Parteiapparat zu verhindern, dass eine Mehrheit von Delegierten zu Stande kam, die für eine Auflösung der SED stimmen würde. Im Vorfeld des Parteitages wuchs die Unzufriedenheit der Parteibasis mit dem Verzögerungskurs der Parteiführung, der jeder konkrete Reformschritt abgerungen werden musste. Als erkennbar wurde, dass das Politbüro diese Haltung nicht aufgeben würde, hat die Parteibasis die Führung hinweggefegt. Der Rücktritt aller Führungsgremien am 3. Dezember war der vorletzte Schritt in die Agonie der ehemals unbeschränkt herrschenden SED. Die Mitgliedschaft der Partei war zu diesem Zeitpunkt von über 2,3 Mio. auf knapp 1,8 Mio. geschrumpft. In der Parteiorganisation regte sich offener Protest und die Forderung nach einem radikalen Neuanfang, was nicht anderes bedeutete, als die Auflösung der SED und die Gründung einer neuen, reformorientierten sozialistischen Partei. Widerstand gegen eine Auflösung der SED wurde von verschiedenen Gruppen, keineswegs nur von den Vertretern der Partei-Orthodoxie geäußert. Der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, hielt auf dem Sonderparteitag der SED am 7./8. Dezember vor den 2750 Delegierten eine emotional gehaltene Rede, in der er vor einem Zerfall und einer Selbstauflösung der SED warnte. Es komme darauf an, die Partei nicht zu zerbrechen, nicht untergehen zu lassen, sondern „sie sauber und stark“ zu machen, „damit jeder Genosse jedem Bürger gerade in die Augen blicken kann! Macht sie stark, damit sie dem gesellschaftlichen Fortschritt in unserem Lande dienen kann, und das bedeutet für mich, dem Volke zu dienen“ (ND vom 9./10.12.1989: 1). Gregor Gysi forderte zwar einen vollständiger „Bruch mit dem gescheiterten stalinistischen, das heißt administrativ zentralistischen Sozialismus in unserem Land“, sprach sich aber ebenfalls gegen eine Parteineugründung aus. In der Diskussion des Parteitages wurden drei Grundsatzpositionen deutlich, die sich unvereinbar gegenüberstanden: 1. Auflösung der SED und Gründung einer neuen sozialistischen Partei, 2. Erneuerung der SED und Umbenennung, 3. Beibehaltung des bisherigen Namens – wobei unklar blieb, wie weit die Erneuerung gehen solle. Gründung Für die Nichtauflösung der SED wurden indirekt drei Hauptargumente ins der SED-PDS Feld geführt: Wenn die SED sich aufgelöst hätte, so lautete die Befürchtung, wäre die letzte halbwegs funktionierende staatliche Institution, die Regierung unter Hans Modrow, nicht mehr zu halten gewesen. Damit wären zweitens auch die Einflussmöglichkeiten der SED auf staatliche Entscheidungen aufgegeben worden, und schließlich wären drittens bei einer Selbstauflösung das riesige Parteivermögen (Immobilien, Verlage, wissenschaftliche Institute u.s.w.) und die soziale Existenz der Mitarbeiter des Parteiapparates erheblich gefährdet, das Eigentum der Partei wäre zunächst „herrenlos“ geworden, und anschließend hätten dann mehrere Nachfolger Anspruch darauf erhoben. Alle diese Folgewirkungen traten dann trotzdem relativ schnell ein, nur dass die SED durch ihr Zögern später keinen politischen Gewinn mehr aus ihrem schrittweisen Rückzug von angestammten Positionen ziehen konnte und die Last der Vergangenheit nicht los wurde. Nach langer Diskussion und scharfen Kontroversen stimmten die Delegierten einstimmig für den Fortbestand der SED unter dem neuen Namen SED-PDS.
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Der Parteitag wählte den Berliner Anwalt Gregor Gysi mit 95,32 % der Stimmen in geheimer Wahl zum Vorsitzenden. Einer von drei Stellvertretern wurde Hans Modrow. Alle Argumente, die für die Weiterexistenz der SED ins Feld geführt worden waren, haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Die Regierung konnte, trotz der anfänglichen Popularität Hans Modrows, nicht das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen. Der SED-PDS gelang es nicht, ihre politische Wandlung glaubhaft zu machen. Das Eigentum der SED war langfristig nur zu einem geringen Teil zu retten. Einzig der Einfluss der SED auf die staatlichen Dinge konnte zunächst gesichert werden. Die SED-PDS verspielte ihren anfänglichen Kredit, als deutlich wurde, dass es ihr auch unter ihrer neuen, reformorientierten Parteiführung vor allem darum ging, möglichst viele ihrer Positionen zu retten. Trotz erklärten Reformwillens der SED-PDS und trotz des Wirkens der Runden Tische auf allen Ebenen blieben die alten Apparatstrukturen bis weit in das Jahr 1990 im Wesentlichen intakt. Schon im Januar 1990 geriet die SED-PDS in eine tiefe Existenzkrise. Es gelang ihr nicht, eine klare Position zur deutschen Frage zu entwickeln, die seit Ende Dezember 1989 zum alles beherrschenden Thema der Politik geworden war. Sie hatte sich programmatisch auf einen reformkommunistischen Kurs festgelegt, der an eurokommunistische Ideen anknüpfte, deren Ausstrahlungskraft nicht nur im Westen längst verblasst war. Die neue Parteiführung war nicht bereit oder in der Lage, den Parteiapparat radikal zu entmachten. Dieser nutzte seine Erfahrungen in der Handhabung der Machtstrukturen für restaurative Bestrebungen, insbesondere aber für undurchsichtige finanzielle Manöver, die die Partei in der Folge immer wieder in Skandale verwickelten. Die neue, von Ausnahmen abgesehen politisch unerfahrene Führung der Partei war in erheblichem Maße vom Herrschaftswissen des Apparates abhängig. Ende Januar 1990 war der Zerfall der Partei so weit fortgeschritten, dass ganze Kreisverbände sich auflösten. Prominente Mitglieder des technokratischen Reformflügels und viele Intellektuelle kündigten ihre Mitgliedschaft auf. Die SED-PDS verlor die entschiedensten Reformer. Viele der Parteiintellektuellen, die den Aufbruch im Herbst mitgetragen und wesentlich zum Aufbegehren der Partei gegen ihre Führung beigetragen hatten, verließen eine Partei, der sie keine grundlegende Erneuerung mehr zutrauten.
5.3.2 Die Regelung des Übergangs: Der Runde Tisch und die Regierung Modrow Die „Wende“ scheiterte nicht nur an und innerhalb der SED. Auch auf der staatlichen Ebene blieb sie in Halbheiten stecken. Hier wurden die vorsichtigen Korrekturversuche ebenfalls binnen kürzester Zeit von den revolutionären Ereignissen überholt – die staatlichen Stützen des alten Systems verhielten sich ähnlich widerstrebend wie die SED.
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Die Rolle der Volkskammer der DDR in der Zeit des Umbruchs
Die Regierung Modrow als Nachlassverwalter der SED-Herrschaft
In den dramatischen Tagen des Dezember 1989 schien das Parlament der DDR, die Volkskammer, nicht zu existieren. Die einzige Handlung der Volkskammer nach der „Wende“ war am 24. Oktober die Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates gewesen. Erstmals gab es bei der Wahl eines (des dritten) Staatsratsvorsitzenden der DDR 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen aus dem Lager der Blockparteien. Zuvor war Erich Honecker in Abwesenheit von seinem Amt entbunden worden. Der Volkskammerpräsident, das Mitglied des Politbüros Horst Sindermann, würdigte das Wirken Honeckers: „Wir lassen die menschliche Größe des Revolutionärs und die kommunistische Anständigkeit unseres Genossen Erich Honecker nicht antasten“ (ND vom 25.10.1989: 1). Dann vertagte sich die Volkskammer und trat erst am 13. November wieder zusammen. Grund dafür war eine systematische Verzögerungstaktik des Präsidiums. So kam die „oberste Volksvertretung“ am 13. November erst nach dem Rücktritt der Regierung Stoph am 7. November, der Abdankung des gesamten Politbüros der SED auf der 10. ZK-Tagung am 8. November und der Öffnung der Mauer am 9. November wieder zusammen. Hier wurden die letzten verbliebenen Spitzen des Staates, der Präsident und die Mitglieder des Präsidiums der Volkskammer, ausgetauscht. Der bisherige Bezirkschef der SED in Dresden, Hans Modrow, wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. In seiner ersten Regierungserklärung am 17. November 1989 (ND vom 18./19.11.1989: 3ff.) hatte der neue Regierungschef einen grundsätzlichen Wandel der Politik versprochen und um einen „Vertrauensvorschuss“ gebeten. Angekündigt wurde ein umfangreiches Reformprogramm, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, ein neues Wahlgesetz und freie Wahlen 1990, eine Neufassung des Gesetzes über den Ministerrat, eine Strafrechtsreform und die Schaffung eines Verfassungsgerichts. Die Wirtschaftsreform müsse die Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte erhöhen, die zentrale Leitung und Planung vermindern und das Leistungsprinzip verwirklichen. Besonders hervorgehoben wurden ökologische Probleme, Fragen der Stadtentwicklung, Bildungsfragen, und es wurde ein Ende der „Verstaatlichung des kulturellen Lebens“ versprochen – Bereiche also, deren Vernachlässigung und/oder ideologische Durchdringung wesentlich zur Unruhe im Lande beigetragen hatten. Dieser relativen Offenheit gegenüber neuen politischen Notwendigkeiten stand eine bemerkenswerte Intransigenz gegenüber. Als die Menschen auf den Straßen immer eindeutiger einen Bruch mit dem alten System verlangten, zeigte sich, dass die Regierung vor dem gleichen Dilemma stand, wie die meisten Regierungen in vergleichbaren Umbruchprozessen: Im Widerstreit von Reform und Bruch und angesichts der immensen Beschleunigung aller politischen Prozesse erwies sie sich als unfähig, Politik zu gestalten. Da auch die Opposition nicht in der Lage war, an ihre Stelle zu treten, entstand eine diffuse Mischung von Wandel und Beharrung. Die Regierung hatte die besseren Ausgangsbedingungen, als es darum ging, das entstandene Machtvakuum auszufüllen. Einer der entscheidenden Gründe dafür lag in der großen personellen Kontinuität der Regierenden, vor allem aber ihrer Abhängigkeit vom SED-beherrschten Staatsapparat. Die jahrzehntelange
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Monopolisierung des Herrschaftswissens verhalf den „alten Genossen“ zu einem Platzvorteil und machte sie unentbehrlich. Politische Umbrüche, auch wenn sie sich in revolutionärer Form ereignen, stellen selten einen bedingungslosen und abrupten Bruch mit dem ancien régime dar. Dies gilt in besonderer Weise für unblutige Revolutionen. Hier enden die Machtträger von einst nicht auf dem Schafott oder werden von einer wütenden Menschenmenge an Laternenpfählen aufgeknüpft, sondern sie werden von ihren Positionen verdrängt. Sie behalten aber einen Einfluss auf das politische Geschehen. Nachdem die Hardliner um Erich Honecker durch eine „Palastrevolte“ der zweiten Reihe des SED-Politbüros gestürzt war, setzte die neue Führung auf „Dialog“ und „Konsens“ mit der wachsenden und sich organisierenden Opposition. Die überall entstehenden Runden Tische, die neben und an die Stelle der weiter existierenden staatlichen Institutionen traten, waren die einer friedlichen Revolution adäquaten Institutionen zur Regelung des Übergangs vom alten Regime zu einer neuen politischen Ordnung. Als revolutionäre Institutionen waren sie „historisch“, nicht jedoch im eigentlichen demokratischen Sinne legitimiert, Entscheidungen zu treffen: niemand hat ihre Mitglieder gewählt, kein Souverän ihnen einen Auftrag erteilt. Runde Tische waren der institutionelle Ausdruck des Willens der alten und der sich herausbildenden neuen politischen Eliten, sich – mit durchaus unterschiedlichen Intentionen und Erwartungen – auf einen Kompromiss über die Umgestaltung von Politik und Wirtschaft zu verständigen – in Polen und Ungarn war sogar der Umbruch selbst ein am Runden Tisch „verhandelter“. Als der zentrale Runde Tisch am 7. Dezember 1989 zum ersten Mal tagte, war ein gefährliches Machtvakuum entstanden. Es war nicht auszuschließen, dass verschiedene rückwärtsgewandte Kräfte versuchen könnten, diese Situation zur Restauration der alten Verhältnisse zu nutzen. Der Regierung drohte durch den Niedergang der SED der Verlust ihrer entscheidenden politischen Stütze. Die Opposition sah sich weder konzeptionell noch organisatorisch und personell in der Lage, die Macht zu übernehmen. Seit Anfang Oktober hatte eine „Kontaktgruppe“, bestehend aus Mitgliedern von sieben politischen Gruppierungen, unter konspirativen Bedingungen über Formen eines Dialogs mit der politischen Macht beraten. Beteiligt waren: Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Sozialdemokratische Partei (SDP), Grüne Partei und Vereinigte Linke. Die Einladung zum ersten Treffen des Runden Tisches kam vom Bund der Evangelischen Kirchen (Thaysen, 1990: 25ff.). Der Pakt zwischen reformbereiten Teilen der alten Eliten und den neuen Eliten sollte das Machtvakuum füllen und die Gefahr gewaltsamer innerer Unruhen eindämmen, die durch das unversöhnliche Gegenüber einer verhandlungsunwilligen politischen Führung und einer verhandlungsunfähigen fluktuierenden Masse entstanden war. Die Runden Tische wurden in dieser Situation zu den entscheidenden Promotoren des Transitionsprozesses. Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass es gelang, alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Kräfte an einem Tisch zu versammeln. Die
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Runde Tische als Institutionen des Übergangs
Der zentrale Runde Tisch der DDR
Obstruktives Verhalten der Regierungsvertreter am Runden Tisch
„Regierung der nationalen Verantwortung“: Der Pakt zwischen Vertretern des alten Systems und der Opposition
Verhandlungen am zentralen Runden Tisch in Berlin, die unter der Leitung von Kirchenvertretern stattfanden, machten in ihrer Anfangsphase deutlich, dass sich zunächst die Regierung, trotz vielfältiger Zugeständnisse, in entscheidenden Punkten (Wirtschaftsreform, Strukturreform des Staatsapparates) wenig flexibel zeigte. Ihr konkretes Verhalten entsprach nicht den Erklärungen, die bei Bildung der als „Koalitionsregierung“ titulierten Regierung Modrow abgegeben worden waren. Als es der SED-PDS nach dem Sonderparteitag Anfang Dezember vorübergehend gelang, den rasanten Zerfallsprozess zu stoppen, ermutigte dies die Regierung, sich dem Zugriff des Runden Tisches zu entziehen. Von den Vertretern der neuen politischen Gruppierungen und den Menschen auf den Straßen wurde das zu Recht als Versuch interpretiert, alte Machtpositionen der SED wiederherzustellen, umso mehr, als sich dies mit dem Bestreben verband, große Teile des alten Staatssicherheitsdienstes unter neuem Namen in die neue Zeit hinüberzuretten (Falkner, 1991). Das anfänglich obstruktive Verhalten der Regierungsvertreter gegenüber dem Runden Tisch (nicht nur, was die Frage des Staatssicherheitsdienstes anging) und die zögerliche Bereitschaft zu durchgreifenden politischen und vor allem wirtschaftlichen Sofortmaßnahmen verfestigten den Eindruck, dass die Regierung und die sie tragende Partei nur dann zu Zugeständnissen bereit waren, wenn sie dazu gezwungen wurden. Der am Runden Tisch entstandene informelle Pakt zwischen Regierung und Opposition war äußerst labil, die Haltung der Regierung doppeldeutig. Dies wurde an der Frage deutlich, welche Kompetenzen den neu entstandenen „revolutionären“ Institutionen, den Runden Tischen, die sich nicht nur auf der zentralen staatlichen Ebene, sondern bis hinunter in die Gemeinden, Betriebe, öffentlichen Verwaltungen, wissenschaftlichen Institutionen usw. gebildet hatten, einzuräumen seien. Die Regierung Modrow versuchte, durch das Angebot an den zentralen Runden Tisch, Personen für die Teilnahme an der Regierungsarbeit zu benennen, die oppositionellen Kräfte in die von ihr kontrollierten staatlichen Strukturen einzubinden. In mehreren nichtöffentlichen Debatten, die bereits vom sich abzeichnenden Wahlkampf beeinflusst waren, hatten sich die oppositionellen Gruppierungen zuvor dazu durchgerungen, sich an der Regierung zu beteiligen. Dieses taktische Kalkül ging aber insofern nicht auf, als nach dem Eintritt von Vertretern der Opposition in die „Regierung der nationalen Verantwortung“ unter Hans Modrow, die politische Agenda – trotz gegenteiliger Versuche – nicht mehr durch die SED-PDS gesetzt werden konnte. Der Runde Tisch mutierte durch diese Erweiterung der Regierung endgültig „vom Veto-Organ zur Steuerungsinstanz“ (Thaysen, 1990: 76). Angesichts der Gefahr eines völligen Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung mit unübersehbaren Konsequenzen, war Modrow schließlich bereit, die Blockadepolitik der Regierung gegenüber dem Runden Tisch aufzugeben. Der Ministerpräsident erwies sich in dieser Phase als geschickter Machtpolitiker, dem es gelang, die neuen politischen Gruppierungen so unter Zugzwang zu setzen, dass diese sich schließlich genötigt sahen, sich an der Regierung zu beteiligen. Die Opposition – insgesamt wurden sie von dreizehn Parteien und politischen Gruppen getragen – trat am 5. Februar in die „Regierung der nationalen
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Verantwortung“ unter Hans Modrow ein. Die Absicht war, innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens die Blockparteien für eine Politik der Öffnung zu instrumentalisieren und die neuen politischen Gruppierungen einzubinden. Dieser Versuch, die Machtpositionen der SED und ihrer Nachfolgepartei wenngleich in eingeschränkter Form zu sichern, misslang jedoch gründlich. Eine Bilanz dieser Entwicklungsphase des Transitionsprozesses kann nur Bilanz der widersprüchlich ausfallen. Als Hans Modrow am 13. November zum Minister- Übergangsphase präsidenten gewählt wurde, sollte seine Regierung die Wende der SED-Führung unter dem Übergangs-Generalsekretär Egon Krenz staatlich absichern und retten, was zu retten war. Gemessen an diesem Ziel ist diese Regierung gescheitert. Ähnlich zwiespältig fällt das Urteil aus, wenn man die Tätigkeit der Volkskammer zwischen Wende und Wahl betrachtet. In ihr spiegelte sich, vielfach gebrochen, der Umbruch in der Gesellschaft selbst wider. Die Volkskammer war nie treibende Kraft, sondern repräsentierte eher die individuellen und kollektiven Widersprüche von Personen und Institutionen, die in der einen oder anderen Weise Träger des alten Systems waren. Insoweit erscheint es auch problematisch, von der Volkskammer als parlamentarischer Vertretung zu sprechen. Sie hat nie die Legitimität eines Parlaments gehabt und hat sie auch nicht verdient. Allerdings konnte sie in der ersten kritischen Phase der Transition eine wichtige Funktion wahrnehmen: Sie trug entscheidend dazu bei, dass Öffentlichkeit hergestellt wurde, und sie zwang die Verantwortlichen von einst, sich öffentlich zu rechtfertigen. Der Runde Tisch schließlich hat die Entwicklung beschleunigt, aktiv mitgestaltet und zugleich kanalisiert. Er war nicht „das“ Volk, er war eine transitorische Institution, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich in dieser Zeit Interessen artikulieren konnten. In dem Maße, wie dies gelang, wurde er selbst auch zum Podium für das Austragen von Interessenkonflikten zwischen den einzelnen Gruppen und – ab Mitte Januar – auch zur wirksamen Bühne des beginnenden Wahlkampfes. Die Beteiligten, insbesondere die neuen politischen Gruppen, mussten schmerzhaft erfahren, dass „das Volk“ sehr schnell eigene Wege einschlug. In der Anfangsphase, als es um den endgültigen Sturz der SED-Herrschaft ging, vor allem in seinem zähen Kampf gegen die Fortexistenz der Staatssicherheit, vertrat der Runde Tisch „das Volk“. Ab Ende Januar 1990 entstand die paradoxe Situation, dass der Runde Tisch und die Regierung – mit unterschiedlichen Motivationen – Repräsentanten einer eigenständigen „DDR-Identität“ waren, während die Mehrheit der Bevölkerung längst das möglichst schnelle Ende eben dieser DDR wollte. Die Folge war ein wachsender Druck auf die politisch Verantwortlichen, den Weg zu ebnen, um möglichst schnell die Vereinigung mit der Bundesrepublik bewerkstelligen zu können. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der anhaltenden Fluchtbewegung kam der ursprünglich vorgesehene „Fahrplan“ ins Wanken, der freie Wahlen zur Volkskammer der DDR für den Mai 1990 vorgesehen hatte. Die Wahlen mussten vorgezogen werden und fanden am 18. März statt.
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Entwicklung eines neuen Parteiensystems
Die Zeiten revolutionärer Umwälzungen sind auch immer Zeiten, in denen sich neue politische Gruppierungen und Parteien bilden. Die meisten führen nur ein kurzes Leben und verschwinden wieder nach der Konsolidierung des politischen Systems. In allen postkommunistischen Ländern wurde eine Vielzahl von Parteien neu gegründet, manche bezogen sich explizit auf Vorgänger in der Zwischenkriegszeit, andere stellten neue politische Gruppierungen dar. In Ländern, in denen die kommunistische Partei darauf verzichtet hatte, sich mit getreuen „Bündnispartnern“ zu umgeben, konnte es nur Neu- oder Wiedergründungen geben. In der DDR existierten mit den Blockparteien politische Organisationen, die über eine breite Mitgliedschaft, große Vermögen, einen weitgestreuten Immobilienbesitz und über eine ausgebaute Parteiorganisation verfügten. Phasen der Das neue Parteiensystem in der DDR entstand in mehreren Schüben. Im Parteigründung Herbst 1989 nabelten sich die Blockparteien von der SED ab. Ferner gründeten sich neue politische Vereinigungen, die sich in einer zweiten Phase Anfang des Jahres 1990 als Parteien konstituierten. In einer dritten Phase, die vom Wahlkampf zu den Volkskammerwahlen am 18. März geprägt war, stand der Versuch im Mittelpunkt, durch die Bildung von Allianzen und Wahlbündnissen eine Zersplitterung des neuentstehenden Parteiensystems zu verhindern. Als die Volkskammer am 1. Dezember 1989 aus dem Artikel 1 der Verfassung der DDR den Passus entfernte, der den Führungsanspruch der SED verankerte, endete rechtlich eine Ära der Politik, die von der Dominanz einer selbsternannten Avantgardepartei bestimmt war. Das „vertrauensvolle Bündnis“ zwischen der marxistisch-leninistischen Partei und den Parteien des „Demokratischen Blocks“ wurde auch formal aufgekündigt. Alle Blockparteien traten aus der „Nationalen Front“ aus und tauschten ihre Führungen aus. (Nur Manfred Gerlach, zu dieser Zeit amtierender Staatsratsvorsitzender, blieb bis zum Februar 1990 Vorsitzender der LDPD.) Die ersten Monate des Jahres 1990 waren durch Umorientierungs- und Anpassungsversuche der Blockparteien an die neue Situation und eine Welle von Parteigründungen geprägt. Die alten Parteien suchten nach neuen programmatischen Orientierungen. Sie strichen das Bekenntnis zum Sozialismus aus ihren Programmen und Statuten. Damit versuchten sie, vergessen zu machen, dass sie mit einer ähnlichen Erblast leben mussten wie die SED, die sich im Dezember in „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (SED-PDS) umbenannt hatte. Nur wenige Monate später, zu den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990, präsentierten sich die traditionellen Parteien der DDR in einem neuen programmatischen Gewand. Es ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit sie sich – zumindest äußerlich – zu Parteien westlichen Typs mauserten. Sie verzichteten darauf, sich als Vertreter bestimmter ideologischer Konzepte oder als Repräsentanten bestimmter sozialer Gruppen zu verstehen. Ideologische Orientierungen wurden verdrängt. An die Stelle trat der Versuch, die Ablösung von der eigenen belasteten Vergangenheit durch möglichst schnelle und unauffällige Adaption an das Muster westlicher Volksparteien zu vollziehen.
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Nachdem die Blockparteien zuerst versucht hatten, sich für eine neue Rolle in der DDR zu profilieren, waren sie, als das Ende der DDR absehbar war, bemüht, in der neuen gesamtdeutschen Parteienlandschaft einen Platz zu finden. Dies konnte nach Lage der Dinge nur erfolgreich sein, wenn sie für die westlichen Parteien, die sich nach Osten auszudehnen begannen, interessant wurden. Der DDR-CDU und den Liberalen ist dies gelungen. Neben den Blockparteien entstanden Ende 1989 und in den ersten Monaten des Jahres 1990 eine Vielzahl von Parteien und parteiähnlichen Gruppierungen. Dazu gehörten u.a. der „Demokratische Aufbruch“ (DA), die Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP), die „Grünen“, die „Grüne Partei in der DDR“, die „Grüne Liga“ (ein sich überparteilich verstehender Dachverband), sowie die „Deutsche Volkspartei“ (DVP) und die CSU-DDR, die später in der „Deutschen Sozialen Union“ (DSU) aufgingen. Ein besonderes Kennzeichen dieser „Gründerzeit“ war, dass die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 in dieser Situation eine große Zurückhaltung an den Tag legten. Ihrem Selbstverständnis als antitotalitäre politische Bewegung entsprechend, stand ein Teil dieser Gruppen einer Parteigründung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Andere waren führend bei der Gründung von Parteien wie dem Demokratischen Aufbruch und der Sozialdemokratischen Partei. Viele ehemalige Mitglieder der Bürgerbewegungen fanden später auf verschiedenen direkten oder indirekten Wegen ihre politische Heimat bei den ostdeutschen Landesverbänden der bundesdeutschen Parteien. Insgesamt lassen sich vier Entwicklungslinien erkennen: 1. Die Staatspartei SED versuchte sich in mehreren Schritten von einer kommunistischen Kaderpartei in eine moderne links-sozialistische Partei umzuwandeln. 2. Die Bürgerbewegungen schlossen sich zu einem Bündnis für die anstehenden demokratischen Wahlen zusammen und vermieden eine frühzeitige Parteibildung. 3. Es entstanden neue Parteien, die – zumeist erfolglos – an den Wahlen teilnahmen. 4. Die alten Blockparteien gingen Wahlbündnisse mit Neugründungen ein. Die aus der SED hervorgegangene PDS präsentierte sich Anfang des Jahres 1990 als „eine sozialistische Partei auf deutschem Boden“, die einen humanistischen demokratischen Sozialismus verwirklichen wolle und in der „Tradition der progressiven deutschen und internationalen Arbeiterbewegung“ verwurzelt sei. „Weltanschauliche Enge ist ihr fremd.“ Deutlich erkennbar war bereits damals der Versuch, sich als eine Art Sammlungsbewegung zur Rettung der DDRIdentität zu profilieren. Die PDS führte eine Wahlkampagne, mit der sie sich als offene, moderne, zukunftsorientierte Partei vorstellte, bei der die Sorgen und Nöte der DDR-Bürger gut aufgehoben seien. Sie opponierte nicht offen gegen die Vereinigung, betonte aber, nicht ganz zu Unrecht, wie sich zeigen sollte, dass sie unübersehbare negative Konsequenzen haben werde. Sie spielte auf der Klaviatur antikapitalistischer Stereotype und verbreiteter Ängste vor einer „Kohlonisation“. Von Selbstkritik keine Spur – allenfalls wurde, mit inzwischen ritualisierten Formeln, der Abstand zur alten SED betont.
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Neue Parteien gründen sich Anfang 1990
Zurückhaltung der Bürgerbewegungen gegenüber Parteigründungen
Günstige Startbedingungen für die reformierten Blockparteien
Die „Allianz für Deutschland“ als Wahlbündnis für die Volkskammerwahl
Die CDU in der Zeit der „Wende“
Angesichts des politischen Erbes der PDS, Nachfolgerin der Staatspartei SED zu sein, schlug sie sich in den März-Wahlen bemerkenswert gut. Es gelang ihr jedoch weder in den letzten Monaten der DDR noch gar nach dem 3. Oktober 1990, sich als glaubhafte Opposition darzustellen. Massiver Wähler- und Mitgliederschwund waren die Antwort auf das unbestimmte Taktieren zwischen Gestern und Morgen, auf Finanzskandale und unausgegorene Politikkonzepte. Erst nach dem Ende der DDR gelang es der PDS sich als Partei der Enttäuschten und zu kurz Gekommenen zu etablieren und die politische Landschaft in den neuen Bundesländern entscheidend mitzuprägen. Ebenso wie die PDS konnten sich die alten Blockparteien dank großen organisatorischen Geschicks und Anpassungsfähigkeit einen Platz im neuen Parteiensystem erobern und die neuen politischen Kräfte an den Rand drängen. Dabei kamen ihnen zwei Faktoren zugute. Trotz der Krise war ihre Organisationsmacht weitgehend erhalten geblieben. Wesentliche Ursache dafür war der zu dieser Zeit noch funktionierende große hauptamtliche Funktionärskader. Bei den „gewendeten“ Blockparteien kam als entscheidendes Element das Interesse der West-Parteien hinzu, mit ihrer Hilfe im Osten Fuß zu fassen. Dies verschaffte ihnen erhebliche Vorteile gegenüber den organisatorisch und personell schwachen Neugründungen. Bereits am 16. Januar hatte im Bonner Bundeskanzleramt ein Treffen von Politikern der West-CDU und CSU stattgefunden, bei dem es um Pläne ging, in der DDR eine „Allianz gegen den Sozialismus“ zu Stande zu bringen. Unter dem direkten Einfluss und Druck der westdeutschen CDU, insbesondere des Bundeskanzlers, Helmut Kohl, formierte sich dann am 5. Februar die „Allianz für Deutschland“, zu der sich, trotz unterschiedlicher Auffassungen und innerer Konflikte, die DDR-CDU, die der bayerischen CSU nahestehende „Christlich Soziale Union“ (DSU) und der als Bürgerbewegung entstandene „Demokratische Aufbruch – sozial+ökologisch“ (DA) zusammenschlossen. Im liberalen Lager kam es zur Gründung des „Bundes Freier Demokraten“, gebildet von der Blockpartei LDPD, der neugegründeten FDP der DDR und der „Deutschen Forumspartei“. Der unerwartete Sieg der Allianz für Deutschland unter Führung der alten Blockpartei CDU bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 beschleunigte die Neustrukturierung des Parteiensystems nach dem Vorbild der Bundesrepublik. Diese Entwicklung bestimmte die politische Debatte im Sommer und endete im Herbst 1990 mit Vereinigungsparteitagen von CDU, SPD und FDP. Die PDS, die Nachfolgerin der SED, versuchte mit geringem Erfolg eine Ausdehnung nach Westen. Allein die Grünen und die Bürgerbewegungen in der DDR beharrten vorerst auf ihrer Eigenständigkeit. Für alle Parteien lässt sich sagen, dass im Laufe des Jahres 1990 der Einfluss der westlichen Parteien immer stärker und schließlich dominant wurde. Nach der staatlichen Vereinigung ging die Initiative vollends auf die westlichen Parteiführungen über – die Ost-Parteien waren nur mehr Objekte westdeutscher Parteiinteressen und -strategien. Mit einem Überdenken tradierter Positionen hatte sich anfangs besonders die CDU schwer getan. Zwar hatte es intern bereits im Frühherbst Forderungen nach einem Politikwechsel gegeben, aber erst Ende Oktober 1989 veröffentlichte die
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„Neue Zeit“ eine Erklärung des Präsidiums des Hauptvorstandes der CDU, in der eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft und ein „grundlegend verändertes öffentliches Bewusstsein“ gefordert wurden, „in dem moralisch-ethische Werte obenan stehen, das sich durch lebendige Demokratie, strikte Rechtsstaatlichkeit und realistische Medien politisch auszeichnet“. Zugleich wurde die CDU als „Partei des Sozialismus“, des Friedens, des „Humanismus und geistiger Weite“ charakterisiert, die als eigenständige Partei im Block wirke und im Bündnis mit den anderen Parteien „eine unerlässliche Voraussetzung“ für die Verwirklichung gemeinsamer Ziele sehe (Neue Zeit vom 28.10.1989). Unter der Führung des späteren Ministerpräsidenten, Lothar de Maizière, hatte sich die CDU seit Beginn des Jahres 1990 in einem schnellen programmatischen Erneuerungsprozess befunden, sodass sie sich nur wenig später den Wählern als „Volkspartei der Mitte“ präsentieren konnte, die konservativ und bewahrend, im Blick auf ethische Grundwerte ihre Politik gestalte. Im Selbstverständnis war die erneuerte CDU der DDR durchaus keine Kopie ihrer westlichen Schwester. Vielmehr betonte sie in ihren programmatischen Aussagen vor allem die Bedeutung christlicher Werte für die Politik und ihr soziales Engagement. Von Seiten der CDU der Bundesrepublik wurde dieser Prozess anfänglich mit großer Skepsis beobachtet. Die historische Erfahrung mit der Gleichschaltung der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg war noch präsent und die „Mitteldeutsche Vereinigung“ der CDU erhob den Anspruch, als eine Art „Exil-CDU“ genuine Vertreterin der ostdeutschen Christdemokraten zu sein. Mit dem Experiment der Allianz für Deutschland hielt man die nötige Distanz, versicherte sich aber gleichzeitig der organisatorischen Möglichkeiten und der Zustimmung der Anhänger der CDU der DDR bei den Volkskammerwahlen. Die Zurückhaltung der West-CDU gegenüber der ehemaligen Blockpartei in der DDR wurde fallen gelassen, als die Ergebnisse der Volkskammerwahlen zeigten, dass der Ost-CDU von den Wählern ihre Vergangenheit „vergeben“ worden war. Die Entscheidung, die CDU in der DDR nunmehr voll zu unterstützen, war durch eine Vielzahl von Überlegungen bestimmt: Die Ost-CDU verfügte über eine noch immer beträchtliche Mitgliederzahl, großes Vermögen und vor allem eine ausgebaute Parteiorganisation, die für die kommenden Wahlkämpfe von Bedeutung war. Zusätzlichen Gewinn zog die CDU daraus, dass sie im Sommer 1990 die Reste der Demokratischen Bauernpartei (DBD) übernahm, sodass sie etwa 200.000 Mitglieder in die gesamtdeutsche CDU einbringen konnte. Hinzu kam, dass die Wahlergebnisse der beiden anderen Allianz-Partner ernüchternd waren. Die DSU hatte bei weitem nicht ihr Ziel erreicht, zur dominierenden konservativen Kraft im Süden der DDR zu werden, und der Demokratische Aufbruch war zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Mit dem Ende der Allianz für Deutschland war allerdings ein Streit im christlich-demokratischen Lager vorprogrammiert, der den ganzen Sommer hindurch anhielt und nach den Bundestagswahlen vom 2. Dezember 1990 mit einem deutlichen Gewichtsverlust der CSU im gesamtdeutschen Parteienspektrum endete. Im tradierten Parteienspektrum der DDR hatten die Liberalen im Jahre 1989 als erste erkennen lassen, dass sie für politische Veränderungen eintreten würden. Ihr Vorsitzender, Manfred Gerlach, der zugleich lange Jahre stellvertreten-
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Programmatische Erneuerung der CDU
Das Ende der Allianz und Unterstützung der CDU aus dem Westen
Wandel der LDPD und liberale Neugründungen
der Vorsitzender des Staatsrates der DDR war, hatte bereits im Spätsommer 1989 als einziger Spitzenpolitiker der DDR die Politik von Glasnost und Perestroika öffentlich unterstützt und ein Eingehen auf die Sorgen der Bürger gefordert. Das gab ihm in der ersten Phase der Transition einigen Kredit. Diese vorsichtigen Versuche, die Bunkermentalität der SED-Gerontokratie aufzubrechen, bedeutete jedoch keinen Abschied von tradierten Politikvorstellungen. Bei den Liberalen lässt sich eine ähnliche Entwicklung wie bei der CDU konstatieren. Die LDPD hatte sich zu Beginn des Jahres 1990 in LiberalDemokratische Partei (LDP) umbenannt. Im März 1990 präsentierten sich die DDR-Liberalen als Partei mit „liberaler Geisteshaltung und Weltsicht“, für die die Freiheit der Persönlichkeit im Mittelpunkt aller politischen Bestrebungen stehe. Die LDP sprach sich für die schnellstmögliche Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung, für Rechtsstaatlichkeit und für eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Ordnung aus (Politische Parteien und Bewegungen, 1990: 55). Auch für die Liberalen war das Ergebnis der Volkskammerwahlen, bei denen sie nur 5,3 % der Wählerstimmen erringen konnten, Grund für neue Überlegungen. Am 28. März beschlossen die Parteiführungen von LDP, DDR-FDP und Deutscher Forumspartei, ihre drei sich als liberal verstehenden Parteien zu verschmelzen. Die neue Partei sollte den Namen „Freie Demokratische Partei – die Liberalen“ erhalten. Dieser Plan scheiterte aber nach wenigen Tagen am Widerstand des „Fußvolks“. Vor allem den aus den Bürgerbewegungen kommenden Mitgliedern der Deutschen Forumspartei waren die Liberaldemokraten zu belastet. Nach dem Scheitern des Zusammenschlusses fusionierte die LDP Ende März mit der NDPD und nannte sich „Bund Freier Demokraten – Die Liberalen“. In der Volkskammer ging sie mit der DDR-FDP eine Fraktionsgemeinschaft ein. NDPD und DBD Während sich die ehemaligen Blockparteien CDU und LDPD bei ihrer Erneuerung an „klassischen“ Vorstellungen christlicher und liberaler Politik orientieren konnten, hatten die „Demokratische Bauernpartei Deutschlands“ (DBD) und die „National-Demokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) erhebliche Orientierungsschwierigkeiten, die letztlich zu ihrem Ende als Parteien führten. Sie konnten nicht erklären, welchen eigenständigen Platz sie in einem demokratischen Parteiensystem einnehmen könnten. Sie hatten nie ein selbständiges politisches Profil entwickelt, verfügten aber über erhebliche Vermögenswerte, die sie 1990 in den Fusionsprozess mit der CDU bzw. den Liberalen einbringen konnten. Ende März beschloss der Parteivorstand der NDPD, sich mit seinen ca. 80.000 Mitgliedern den Liberalen anzuschließen. Ende Juni empfahl der Parteivorstand der DBD seinen Mitgliedern, sich mit der CDU zusammenzuschließen. Die Versuche, neue, unbelastete Parteien zu gründen, waren eng mit der Vorstellung verknüpft, ein neues politisches System in der DDR errichten zu können, das sich dann in einem allmählichen Prozess mit dem der Bundesrepublik vereinen könne. Bereits im Vorfeld der Volkskammerwahlen – deren Termin unter dem immer größeren öffentlichen Druck der Öffentlichkeit in Richtung Wiedervereinigung auf den 18. März 1990 vorgezogen worden war – zeigte sich, dass die meisten dieser Parteigründungen nur Übergangserscheinungen sein würden.
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Fünfundvierzig Jahre nach ihrer erzwungenen Vereinigung mit der KPD zur SED im April 1946 wurde im Frühherbst 1989 in der Illegalität die Sozialdemokratie in der DDR aus der Taufe gehoben. Sie nannte sich „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SPD). Auf einer Konferenz in Berlin benannte sie sich am 13.1.1990 in SPD um. Deutlicher und früher als die anderen Parteien entwickelte sich die SPD der DDR zu einem Teil einer gesamtdeutschen Partei. Im Februar 1990 wurde Willy Brandt zu ihrem Ehrenvorsitzenden gewählt. Die neugegründete SDP erhob den Anspruch, Nachfolgerin der alten Sozialdemokratie zu sein. Allerdings war die soziale Herkunft und berufliche Stellung ihrer Gründer nicht unbedingt typisch für die klassische Sozialdemokratie – es überwogen Theologen und Akademiker, die aus der Menschenrechts-, Friedensund Ökologiebewegung kamen. Dies führte in den folgenden Jahren immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten innerhalb der SPD, die vor allem als Ost-West-Konflikte wahrgenommen wurden, aber zu einem erheblichen Teil auf unterschiedliche Milieuprägungen zurückzuführen waren. Die SPD verfügte, anders als die ehemaligen Blockparteien, über keinen funktionierenden Parteiapparat. In vielen Gemeinden und Kreisen war sie gar nicht präsent. So erschien die weitere Existenz der ostdeutschen SPD im Frühjahr 1990 gefährdet. Zwischen den nur etwa 25.000 Mitgliedern und der Parteiführung, die sich aus staatspolitischen Gründen an einer großen Koalition beteiligt hatte, kam es zu erheblichen innerparteilichen Spannungen. Auf ihrem Parteitag in Halle im Juni 1990 gelang es, die in der Partei wirkenden zentrifugalen Strömungen einzugrenzen und eine neue Führungsspitze zu etablieren. Die Partei konnte sich konsolidieren, ohne jedoch das Grundproblem zu lösen. Der SPD der DDR war es in der schwierigen Phase der Transformation nicht möglich, ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Besonders erschwerend kam hinzu, dass sie in den Monaten bis zur Vereinigung zum Objekt westdeutscher Parteitaktik wurde. Das auch in der West-SPD umstrittene Wahlkampfkonzept des Kanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, stellte – durchaus realistisch – die zu erwartenden negativen finanziellen und sozialen Folgewirkungen der Einheit in den Mittelpunkt. Der Vorwurf der West-SPD an der Politik der Bundesregierung, dass sie unter Einheit nur die staatliche Einheit verstehe, während Sozialdemokraten darunter auch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse verstünden, hatte, wie die weitere Entwicklung in Ostdeutschland gezeigt hat, ihre Berechtigung. Er berücksichtigte aber in keiner Weise die Stimmungslage in der DDR. Dort wurden diese Argumente als Kritik am Wunsch der Menschen nach baldiger Einheit Deutschlands verstanden. Nach dem Scheitern des breit angelegten Bündnisses aller Oppositionsgruppen hatten sich im Februar das „Neue Forum“, die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und „Demokratie Jetzt“ zum „Bündnis 90“ zusammengeschlossen. Das Bündnis verstand sich als Zusammenschluss von Gruppierungen, denen es – aus der Erfahrung mit der Diktatur heraus – um die Verteidigung der individuellen und sozialen Rechte der Bürger ging. Alle drei Gruppierungen sprachen vom Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, dem Ziel einer solidarischen Gesellschaft, von der Sicherung des Rechtsstaates und von der erforderlichen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Gemeinsam war ihnen auch die Vorstellung, dass es dauerhaft möglich sein müs-
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Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP)
Politische und kulturelle Differenzen mit der SPD
Organisationsschwäche der SPD und innerparteiliche Krise
Bündnis 90
Konflikte mit dem Neuen Forum
Die DSU und der Versuch einer regionalen Ausweitung der CSU
se, die Interessen von Bürgern im Parlament und außerhalb des Parlaments zu vertreten, ohne sich als Parteien zu konstituieren. Auseinandersetzungen gab es immer wieder zwischen dem Neuen Forum und den übrigen Gruppen. Kern der Kontroversen war die Frage nach der Einordnung in das traditionelle Rechts-Links-Spektrum und nach den Organisationsformen. Das Neue Forum verstand sich, der Tradition seines Gründungsaufrufs entsprechend, als politische Gruppierung, die nicht dem linken Lager zuzuordnen war. Es hatte vielfältige Berührungspunkte zu wertkonservativen Vorstellungen und lehnte jede parteiähnliche Organisationsform ab. Gleichwohl blieben auch über den Wahlkampf und die Volkskammerwahlen hinaus Gemeinsamkeiten, die von Erfahrungen der Zeit vor dem November 1989 geprägt waren. Im Sommer sah es eine kurze Zeit so aus, als ob unter dem Druck der Wahlrechtsdiskussion das Bündnis der Bürgerbewegungen an der Frage des Verhältnisses zu den West-Grünen zerbrechen würde. Viele Mitglieder der Bürgerrechtsgruppen taten sich mit der Vorstellung schwer, ein Bündnis mit den westdeutschen Grünen einzugehen, deren mehrheitlich linke Politikvorstellungen sie nicht teilten und deren Distanz gegenüber liberalen Bürgerrechten ihren eigenen Vorstellungen oft diametral entgegenstand. Dass es sich dabei nicht nur um zeitweilige Unstimmigkeiten, sondern um tiefer liegende weltanschauliche Differenzen handelte, hat die weitere Entwicklung des schwierigen Verhältnisses von „Bürgerrechtlern“ im Osten und Grünen im Westen belegt. Eine besonders interessante, wenngleich nur kurzlebige Parteigründung stellt die „Deutsche Soziale Union“ (DSU) dar, die am 20. Januar 1990 aus einem Dutzend kleiner christlicher und konservativer Gruppierungen und Parteien entstand und danach trachtete, sich als östliches Pendant zur bayerischen CSU zu etablieren. Sie polemisierte anfangs vor allem gegen die „Blockpartei“ CDU und war nur mit Mühe zu bewegen, in die von der West-CDU geförderte „Allianz für Deutschland“ einzutreten. Während der Gründer, der Leipziger Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling, die DSU als Partner der Schwesterparteien CDU (West) und CSU begriff, bevorzugte ein rechts-populistischer Flügel eine enge Bindung an die CSU. Im Wahlkampf profilierte sich die DSU als Partei, die gegen alle Formen des Sozialismus auftrat. Folgerichtig machte sie das Motto des Bundestagswahlkampfes von 1980 „Freiheit statt Sozialismus“ zu ihrer programmatischen Grundaussage. Die „Allianz für Deutschland“ war von Anfang an ein Zweckbündnis gewesen. Es zerbrach unmittelbar nach den Wahlen. Die DSU scherte im April, noch während der Koalitionsverhandlungen, aus dem Bündnis aus. Die Parteiführung um den Gründungsvorsitzenden Ebeling und den Generalsekretär und letzten Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, wurde faktisch gestürzt. Die DSU gewann rechts-populistische Züge. Die West-CDU hatte nach den Volkskammerwahlen die Kontakte zur DSU weitgehend abgebrochen und sich auf die Unterstützung der Ost-CDU konzentriert. Bei der DSU gab es Überlegungen, sich dauerhaft in allen Ländern der DDR zu etablieren. Das schloss aber eine Fusion mit der CSU aus, da dies die Übereinkunft einer regionalen Beschränkung der CSU auf Bayern gebrochen und damit das Ende der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag bedeutet hätte.
268
Die CSU als regional begrenzte Partei hatte ihre Bedeutung in der alten Bun- Divergierende desrepublik daraus gewonnen, dass sie zugleich einen wichtigen konservativen Interessen von CDU und CSU Block innerhalb der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU darstellte. Durch die Erweiterung des Wahlgebietes wurde ihr Einfluss erheblich reduziert. Von daher war sie an einem Pendant in den östlichen Bundesländern interessiert. Da es noch keine festen Parteibindungen gab, musste anfangs auch der West-CDU daran gelegen sein, das konservative Wählerpotential in der DDR nicht nach rechts abdriften zu lassen. Die DSU schien für diese Wählergruppen ein Angebot bereit zu halten. Nach ihrem schlechten Wahlergebnis bei den Volkskammerwahlen und einer Halbierung des Stimmenanteils bei den anschließenden Kommunalwahlen war aber klar, dass eine eigenständige konservative Partei rechts von der CDU keine Chance hatte. Die Planspiele einiger Vertreter der Münchener CSU-Führung endeten in einer Sackgasse.
5.5
Die gescheiterte Verfassungsreform
Der Umbruch in der DDR begann als Massenprotest von Bürgern gegen die politischen und sozialen Verhältnisse und endete in einer politischen Revolution, die das alte Regime hinwegfegte. Wie in den meisten anderen Ländern des ehemaligen „sozialistischen Lagers“ gab es auch in der DDR eine Phase des Übergangs, in der Vertreter des ancien régime mit den neuen politischen Kräften an einem Tisch saßen, um einen gewalttätigen Verlauf der Ereignisse zu verhindern. Die Motive und Ziele der Beteiligten waren höchst unterschiedlich. Die Vertreter der SED und ihre Verbündeten wollten möglichst viel vom alten System retten, die neuen politischen Gruppierungen waren in sich gespalten. Nur über ein Ziel waren sich die Vertreter der Opposition einig, dass es darum gehe, eine auf den individuellen Menschen- und Bürgerrechten ruhende demokratische Ordnung anzustreben. Die Entscheidung für eine freiheitliche demokratische Ordnung war allen mittel-osteuropäischen Umbrüchen gemeinsam. Über die konkrete Ausgestaltung dieser neuen Ordnung gingen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. Ähnliches gilt für die Grundlagen der Wirtschaftsordnung. Keine der neuen politischen Gruppierungen verfügte über einen „Masterplan“ für die Zukunft. Die erste und dringendste Aufgabe war es daher, sich über die zentralen ordnungspolitischen Weichenstellungen zu verständigen. Dies geschah in aller Regel im Rahmen von Verfassungsdiskussionen. Durchaus zutreffend sind daher die Umbrüche in den sozialistischen Ländern als „Verfassungsrevolutionen“ bezeichnet worden (Preuß, 1990). Es ging darum, die normativen und institutionellen Konturen der zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Ordnung zu skizzieren. In der ersten Phase der Transition standen notwendigerweise die Fragen nach der Gestalt der zukünftigen politischen Ordnung im Mittelpunkt. Es war die Zeit der Verfassungspolitik, in der es um die Gestaltung der Grundlagen von Staat und Gesellschaft ging. Demokratie, Bürgerrechte und politische Freiheiten beherrschten die Diskussion. Fragen der konkreten Politik spielten vorerst nur eine sekundäre Rolle.
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Der Umbruch in Mittel-Osteuropa als „Verfassungsrevolution“
„Revolutionen sind [jedoch] unnormale Zeiten, in denen die normale Politik suspendiert wird. Aber allmählich kehrt die normale Politik zurück. Konstitutionalisten mag das beunruhigen, aber für die Menschen ist das eher eine Wohltat ... Normale Politik ist unordentlicher als Verfassungspolitik, aber sie ist auch näher am täglichen Leben und daher an der Erfahrung der meisten Menschen.“ (Dahrendorf, 1990: 35f.) Gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion der Verfassungsdebatte
Bedeutung der Verfassungspolitik
Spezifik der Revolution in der DDR
Dieser Beobachtung Ralf Dahrendorfs ist kaum zu widersprechen, sie unterschätzt aber die gemeinschafts- und identitätsstiftende Funktion einer Verfassungsdebatte nach langen Jahren der Abwesenheit eines gesellschaftlichen Diskurses über politische Grundfragen. „Normalität“ stellt sich nur sehr langsam her. Für alle postkommunistischen Länder war die relativ früh einsetzende Verfassungsdebatte eine Diskussion über das Selbstverständnis der Gesellschaft und der zu errichtenden neuen politischen Ordnung. Zum zweiten ging es in MittelOsteuropa um eine Rekonstituierung dieser Länder als selbständige Nationen. 1989 war das Jahr der nationalen Revolutionen gegen den jahrzehntelangen sowjetischen Hegemonialanspruch. Die Umwälzungen in den sozialistischen Ländern hatten unter anderem das Ziel, Anschluss an die Verfassungsentwicklung der freiheitlichen Demokratien des Westens zu finden. Dass ihnen dies nur mit Mühen und häufig unzureichend gelungen ist, hängt damit zusammen, dass die alten Eliten auch nach dem Regimewechsel eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft spielen konnten und neue demokratische Eliten erst in rudimentärer Form existierten. Das Ergebnis waren häufig in sich widersprüchliche Verfassungsdokumente, die ihre Bewährungsprobe nicht immer bestanden. Zwischen der Emphase des revolutionären Umschwungs und der politischen Wirklichkeit der nachrevolutionären Entwicklung klaffte oft eine große Lücke, die zu erheblichen Legitimationsproblemen der neuen Demokratie geführt hat. Verfassungspolitik spielte in den postkommunistischen Ländern während dreier Stadien der Entwicklung eine bedeutende Rolle: In der Umbruchphase wurden die sozialistischen Verfassungen an die neuen Verhältnisse sukzessive angepasst, blieben aber in Kraft, in der Zeit des Übergangs vor den ersten freien Wahlen wurden in einigen Ländern Übergangsverfassungen erarbeitet, und schließlich erfolgte nach den ersten freien Wahlen die Verabschiedung endgültiger demokratischen Verfassungen, bzw. die Überarbeitung von Übergangsverfassungen (Glaeßner, 1994: 207ff.). Dieser Weg einer langen, möglicherweise krisenhaften politischen Entwicklung hin zu einem demokratischen Verfassungsstaat ist Ostdeutschland erspart geblieben, weil kaum ein Vierteljahr nach dem Umbruch die Zeichen auf Beitritt zur Bundesrepublik und damit auf das Ende der DDR gestellt waren. Es war eine Spezifik der „deutschen Revolution“, dass es möglich war, ohne schmerzhafte Umwege, den Schritt zur Demokratie zu vollziehen. Während die anderen postkommunistischen Länder lange Zeit damit beschäftigt waren, sich über die Grundlagen des neuen politischen Systems auseinander zu setzen, konnte die DDR Teil einer über vierzig Jahre bewährten Demokratie werden. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik übernahm die ehemalige DDR eine seit Jahrzehnten erprobte Verfassung. Für eine Verfassungsdebatte schien keine Veranlassung zu bestehen.
270
Nur für eine kurze Übergangszeit musste die Frage geklärt werden, was mit der DDR-Verfassung von 1974 geschehen solle und welche Elemente dieser Verfassung im Transitionsprozess erhalten, welche geändert werden sollten. Nach einigen kosmetischen Veränderungen im Dezember 1989, die im Wesentlichen die darauf hinausliefen, alle Formulierungen zu tilgen, welche die Suprematie der SED in Staat und Gesellschaft festgeschrieben hatten, befasste sich die Volkskammer der DDR Anfang Januar 1990 mit konkreten Verfassungsänderungen, die – im Vorgriff auf eine zu erarbeitende neue Verfassung – die Einrichtung gemeinsamer Unternehmen mit westlichen Firmen und die Gründung von Privatbetrieben in der DDR ermöglichen sollten. Mit diesen Verfassungsänderungen wurde ein erster Schritt in Richtung einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung getan. Es waren tastende Versuche, sich von Verfassungsvorstellungen des Marxismus-Leninismus zu lösen. Eine stufenweise Reparatur der alten sozialistischen Verfassung genügte allerdings nicht, um den Umbruchprozess zu gestalten. Daher beschloss der zentrale Runde Tisch in Berlin in seiner ersten Sitzung am 7. Dezember 1989, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die eine neue Verfassung der DDR erarbeiten sollte (Herles/Rose, 1990: 24). Im Frühjahr 1990 hat diese Arbeitsgruppe einen Entwurf vorgelegt, der zuerst eine breite Resonanz fand. Alle Parteien, die am Runden Tisch mitgearbeitet hatten, trugen diesen Entwurf mit. Gedacht als Verfassung für eine demokratische DDR, offerierte der Entwurf zugleich ein Angebot für eine zukünftige gesamtdeutsche Verfassung oder auch ein verbessertes und modernisiertes Grundgesetz. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches sah einen ausführlichen Grundrechtskatalog vor, formulierte verfassungsrechtlich geschützte Staatsziele und versah die Verfassung mit plebiszitären Elementen. Der Grundrechtsteil umfasste vierzig zum Teil ausführliche Artikel, die neben individuellen Grundrechten auch Bestimmungen über das Wirtschafts- und Arbeitsleben, gesellschaftliche Gruppen und Verbände und die Minderheit der Sorben einschlossen. Unter der Überschrift „Würde, Gleichheit, Freiheit, Solidarität“ wurde u.a. im Art. 3 Abs. 2 die Verpflichtung des Staates formuliert, „auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und öffentlichem Leben, in Bildung und Ausbildung, in der Familie sowie im Bereich der sozialen Sicherung hinzuwirken.“ Vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung werden Bestimmungen verständlich, die das Recht auf „Freizügigkeit, Ein- und Ausreise“, das Verbot des Entzugs der Staatsbürgerschaft, (Art. 7 Abs. 1) den Schutz der Persönlichkeit und „Privatheit“ (Art. 8 Abs. 1) oder das Verbot enthielten, Personen zu zwingen, „andere Personen wegen begangener oder drohender Straftaten anzuzeigen“ (Art. 14 Abs. 1). Ähnlich verhielt es sich mit der Verankerung des Zeugnisverweigerungsrechts für Angehörige von Heil- und Pflegeberufen, Seelsorgern und Rechtsvertretern (Art. 14 Abs. 3). Daneben fanden sich lyrische Bestimmungen wie die, dass das Gemeinwesen das Alter achte und Behinderung respektierte (Art. 23), die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung der Stellung der Kinder, „die ihrer wachsenden Einsichtsfähigkeit durch die Anerkennung zunehmender Selbständigkeit gerecht wird“, oder die Formulierung des Art. 1 Abs. 2: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher“, eine Formulierung, die
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Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches
Verarbeitung der Diktaturerfahrung
Staatsziele und soziale Grundrechte
Mitwirkungsrechte und Partizipation der Bürger
Traditionsbezüge des Verfassungsentwurfs
später von ostdeutschen Abgeordneten noch einmal in die Diskussion der gemeinsamen Verfassungskommission eingebracht wurde. Als Staatsziele formulierte soziale Grundrechte umfassten u.a. das Recht auf die staatliche Förderung von Kindergärten und Schulhorten (Art. 24 Abs. 3), auf „angemessenen Wohnraum“ und die staatliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus (Art. 25) und die betriebliche Mitbestimmung (Art. 28). Auch Aspekte der Wirtschaftsordnung wurden grundrechtlich normiert: dazu zählten das Verbot der Bildung von Kartellen und marktbeherrschenden Unternehmungen (Art. 30) sowie das Recht des Staates und der Gebietskörperschaften, zur Erfüllung ihrer Aufgaben am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Staatsziele beinhalteten ferner die Gleichstellung der Frau (Art. 3 Abs. 2), das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung (Art. 27) und den Umweltschutz (Art. 33). Angesichts der „friedlichen Revolution“ in der DDR schien die starke Betonung des Repräsentationsprinzips und die „plebiszitäre Enthaltsamkeit“ (Simon, 1990 b) im Grundgesetz der Bundesrepublik überholt. Der Entwurf des Runden Tisches unterstrich den Aspekt unmittelbarer Partizipation der Bürger an den Regierungsgeschäften. Mitwirkungsrechte umfassten nicht nur die Vereinigungsfreiheit (Art. 17), die Gründung von Gewerkschaften, ihre Tariffähigkeit, das Streikrecht und das Verbot der Aussperrung (Art. 39), sondern auch die Anerkennung der Bürgerbewegungen und ihres Zugangsrechts zu staatlichen Entscheidungsträgern, wie Parlamenten und Verwaltungen (Art. 35), die Rolle der Parteien (Art. 37) und ein allgemeines „Recht auf politische Mitgestaltung“ (Art. 21 Abs. 1). Auch hier ist, jenseits der Frage, ob solche Regelungen sinnvollerweise in einer Verfassung enthalten sein sollten, ihre Verankerung im Grundrechtsteil eine Reaktion auf Erfahrungen mit versagter politischer Willensbildung in der DDR. Der Entwurf stand sowohl in der Tradition der Weimarer Reichsverfassung als auch des Grundgesetzes. In dem Bestreben, unter demokratischen Verhältnissen vieles von dem festzuhalten, was als „Errungenschaften“ der DDR begriffen wurde, orientierte er sich eher am Grundrechtsverständnis der Verfassung von Weimar, als am Grundgesetz. Letzteres stand vor allem im Organisationsteil Pate. Allerdings ist auch deutlich, dass im Vordergrund die konkrete Erfahrung mit der Herrschaft der SED gestanden hat, die zu manchen Formulierungen führte, die im Westen Deutschlands nur auf Unverständnis stoßen konnten (Schlink, 1991: 165). Einer der Mitverfasser des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches, Ulrich K. Preuß, hat darauf hingewiesen, dass er „konsequenter als das Grundgesetz nicht nur als Staats-, sondern als Gesellschaftsverfassung“ konzipiert gewesen sei. Charakteristisch dafür sei ein kleines Detail: Der Entwurf berufe sich nicht auf das „Volk“, sondern die Bürgerinnen und Bürger der DDR erklärten „sich zum verfassungsgebenden Subjekt“. Die Verfassung werde nicht als autoritative Setzung eines Souveräns, sondern als ein wechselseitiges Versprechen von Bürgern konzipiert, die sich „dadurch zur ,Zivilgesellschaft' konstituieren und deren Lebensform die Verfassung sein soll“ (Preuß, 1990). Dass diese Hoffnung, die zugleich die Idee einer eigenständigen, demokratischen DDR implizierte, von den Bürgern, mindestens von ihrer überwiegenden
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Mehrheit, nicht geteilt wurde, haben wenig später die Volkskammerwahlen gezeigt. Die frei gewählte Volkskammer der DDR stand im Frühsommer 1990 vor der Frage, ob sie sich diesen Entwurf zu eigen machen sollte. Sie hat dies mehrheitlich abgelehnt. In ihrer ersten Sitzung wurde zwar in einem symbolischen Akt die Präambel der DDR-Verfassung gestrichen, in der von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ die Rede war, die Abgeordneten konnten sich in der Folge aber weder auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches noch auf einen neuen Verfassungsentwurf verständigen. Dabei hatte die Koalitionsvereinbarung durchaus die Möglichkeit offen gelassen, eine neue Verfassung für die DDR zu erarbeiten. In ihr sollten die sozialen Grundrechte, vor allem das Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung als nicht einklagbare Individualrechte verankert werden. Sollte es zu keiner neuen Verfassung kommen, seien diese Aspekte in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen. Die Koalition trat dafür ein, den Vereinigungsprozess „schnell und verantwortlich“ unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze zu organisieren. Durch Übergangsregelungen sollte gesichert werden, dass sowohl Elemente der alten Verfassung der DDR von 1949 als auch des Entwurfs des Runden Tisches berücksichtigt würden (Informationen, Hrsg.: Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 8/1990, Beilage). Dazu kam es nicht mehr. Auf ihrer 15. Tagung am 17. Juni 1990 verabschiedete die Volkskammer neue Verfassungsgrundsätze, die alle Rechtsvorschriften in der DDR aufhoben, die den einzelnen Bürger oder staatliche Institutionen auf den Sozialismus, die „sozialistische Gesetzlichkeit“ und den „demokratischen Zentralismus“ verpflichteten. Um die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik zu ermöglichen, legten die Verfassungsgrundsätze fest, dass die DDR Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen und Einrichtungen der Bundesrepublik übertragen konnte. Die DDR wurde als „freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat“ beschrieben. Die kommunale Selbstverwaltung wurde gewährleistet. Die Grundsätze gewährten Tarifautonomie, wirtschaftliche Handlungsfreiheit, das Privateigentum, eine unabhängige Rechtsprechung und den Schutz der Umwelt (Verfassungsgrundsätze in: GBl I, Nr. 33 vom 22.6.1990, S. 299). Sie schufen den rechtlichen Rahmen für die Ausarbeitung der beiden wichtigsten Dokumente, die die Praxis der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bestimmten: den „Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ vom 18. Mai 1990 und den „Einigungsvertrag“ vom 31. August 1990.
5.6
Veränderte Prioritäten der Verfassungsdebatte nach der Volkskammerwahl im März 1990
Demokratische Wahlen und das Ende der DDR
Das neue Parteiensystem erlebte seinen ersten „Test“ bei den vorgezogenen Das Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990. Entgegen allen Vorhersagen siegte die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 von der CDU geführte „Allianz für Deutschland“ mit 48,1 % deutlich vor der SPD, die zuvor als sicherer Wahlsieger angesehen worden war. Sie verzeichnete mit nur 21,8 % der Stimmen ein niederschmetterndes Ergebnis.
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Die Regierung de Maizière
Das Wahlergebnis machte alle Überlegungen einer längeren Übergangsphase und eigenständigen Entwicklung einer demokratischen DDR zunichte. Der überraschende Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ war ein deutlicher Beleg dafür, dass es für solche Überlegungen keine Mehrheit gab. Das Ergebnis der Wahlen und die desolate Situation der DDR-Wirtschaft setzten die in der Volkskammer vertretenen Parteien einem vehementen Druck aus, über die Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um auf dem kürzesten Wege die Einheit zu erreichen. Tabelle 3: Ergebnisse der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 Parteien und Wahlbündnisse Allianz für Deutschland d av o n : CDU DA DSU Bund freier Demokraten SPD Grüne Partei und Unabhängiger Frauenverband Bü n d n i s 9 0 PDS DBD sonstige Parteien
Stimmenanteil in % 48 ,1 % 4 0 ,9 % 0 ,9 % 6 ,3 % 5 ,3 % 2 1 ,9 % 2 ,0 % 2 ,9 % 1 6 ,4 % 2 ,2 % 1 ,4 %
Dazu galt es, arbeitsfähige Mehrheiten in der Volkskammer und eine starke Regierung zu Stande zu bringen. Eine große Koalition war unausweichlich. Die neue, demokratisch legitimierte Regierung unter dem CDU-Politiker Lothar de Maizière, der CDU, DSU, Demokratischer Aufbruch, Liberale, Deutsche Forumpartei, Bund Freier Demokraten, FDP und SPD angehörten, verständigte sich in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 12. April 1990 auf einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach dem Modell des Artikels 23 des Grundgesetzes. Die deutsche Einheit Die Koalition sah es als ihre Aufgabe an, „den Prozess der deutschen Einials politisches Ziel gung mit parlamentarischer Beteiligung“ zu gestalten und die Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zu schaffen. Lothar de Maizière widersprach in seiner Regierungserklärung vom 19. April der zu dieser Zeit von vielen Vertretern der DDR-Bürgerbewegungen und Intellektuellen im Westen vertretenen Auffassung, die beiden, den Umbruch in der DDR begleitenden Parolen: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“, seien unvereinbar. „Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen, ist unsere gemeinsame Verantwortung.“ (de Maizière, in: Zanetti, 1991: 272)
In der Regierungserklärung war noch eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben genannt worden, die dem Ziel dienen sollten, die staatliche Kommandowirtschaft „auf eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft umzustellen“ (de Maizière, in: Zanetti, 1991: 27 a). Diese Vorstellungen standen aber in erkennbarem
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Widerspruch zur gleichzeitig anvisierten Währungsunion, die eine eigenständige ordnungspolitische Gesetzgebung der Volkskammer obsolet machte. Ähnliches galt für weitere Vorhaben, sei es die Verbesserung der Infrastruktur, den Städtebau oder die Wohnungspolitik. Die Regierungserklärung de Maizières liest sich, aus ihrem historischen Kontext gelöst, als Programm einer Reformkoalition für mindestens eine Legislaturperiode, obwohl das Ziel eines schnellen Beitritts zur Bundesrepublik und des Endes der DDR vorgezeichnet und politisch gewollt war. Der wichtigste Schritt zu diesem Ziel waren Verhandlungen mit der Bundesregierung über zwei Verträge: Am 1. Juli 1990 trat der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft, mit dem die DDR ihre finanzielle Unabhängigkeit verlor und die DM als gesamtdeutsche Währung eingeführt wurde. Im Sommer wurde der Einigungsvertrag ausgehandelt, der detailliert die Regularien für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik kodifizierte. Als am 3. Oktober 1990 die Einheit vollzogen wurde, hatte die erste und einzige demokratische Regierung der DDR ihre Aufgabe erfüllt. Sie bestand, dem Wunsche der Wähler am 18. März entsprechend, darin, die DDR als Staatswesen zu liquidieren.
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III Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
6
6.1
Ordnung und Wandel: Herausforderungen an die Verfassungspolitik
Die Verfassung als Grundlage der politischen Ordnung
Jede politische Ordnung bedarf der Legitimation. Die Siedler, die sich in Nordamerika von England lossagten, beriefen sich in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 auf selbstverständliche Wahrheiten: „We hold these truths for self-evident, that men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are Life, Liberty, and the persuit of Happiness.“ Die Republikaner der Französischen Revolution kreierten die Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 betonte die souveränen Rechte der deutschen Fürsten, die „einen ewigen Bund“ geschlossen hatten, der „den Namen Deutsches Reich führen wird“. Die Weimarer Reichsverfassung beschwor das „Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“. Auch Verfassungen revolutionärer Systeme benötigten einen solchen Bezug, sei es auf die historische Mission der Arbeiterklasse oder, wie die Verfassung der DDR von 1949, auf hehre Ziele wie „soziale Gerechtigkeit“, den „gesellschaftlichen Fortschritt“, die „Freundschaft mit allen Völkern“ und die Sicherung des Friedens. Im alltäglichen Leben eines politischen Gemeinwesens beruht die Legitimitätsgeltung auf einer Vielzahl von Faktoren. Debatten über solche Grundsatzfragen sind eher selten. An historischen Bruchpunkten aber, wie denen von 1918, 1945 oder 1989, haben sie eine erhebliche Bedeutung. Auch wenn sie nicht in aller Öffentlichkeit und unter Beteiligung einer Vielzahl von Bürgern stattfinden, prägen sie doch die weitere Entwicklung und tragen wesentlich dazu bei, die Stabilität politischen Ordnung herzustellen oder aber Instabilität zu befördern. Der Vorstellung aber, die Gründung einer politischen Ordnung sei die Quelle aller echten Autorität, ist mit Carl Joachim Friedrich entgegenzuhalten, dass sie ihren Ursprung nicht in der Wirklichkeit, sondern in den Mythen hat, die sich um ein solches Gründungserlebnis ranken und in denen die Interessen, Werte und Überzeugungen der neuen Ordnung (aber wohl auch derer, die im Gründungsprozess an den Rand gedrängt wurden) zum Ausdruck kommen. „Es ist, mit anderen Worten
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Legitimationsgrundlagen der politischen Ordnung
Politische Gemeinschaft und politische Ordnung
die neue Ordnung selbst und nicht deren Gründung, die die Grundlage der neuen Autorität bildet“ (Friedrich, 1970: 258). Friedrich führt die Schwierigkeiten, die in der Vergangenheit eine realistische Einschätzung des Gründungsprozesses politischer Ordnungen verhindert hatten, darauf zurück, dass man zwischen politischer Gemeinschaft und politischer Ordnung nicht klar unterschieden habe. „Politische Gemeinschaften werden nicht gegründet; sie bilden sich im Verlauf eines Prozesses ... allmählich heraus. Es ist allein die politische Ordnung einer solchen Gemeinschaft, die eines Gründungsaktes bedarf, oder, wie es in der Rechtssprache heißt ,instituiert‘ werden muss ... Revolutionen, die eine alte Ordnung zerstören, bilden daher zugleich auch den Auftakt für die Gründung einer neuen Ordnung; die Gemeinschaft dagegen kann zu einem großen Teil in ihrer alten Form weiterbestehen. Allerdings wird das Ausmaß an Veränderungen, die eine Revolution für die Gemeinschaft mit sich bringt, zugleich auch das Ausmaß an für die neue politische Ordnung erforderlichen Neuerungen mitbestimmen.“ (Friedrich, 1970: 259)
Verfassungsdiskussion und Verfassungspolitik
Die Verfassung als „Konsensquelle des Gemeinwesens“
Im Nachkriegsdeutschland war die politische Ordnung des Deutschen Reiches mit der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands untergegangen, wobei sich die Staatsrechtler noch lange Zeit darüber stritten, ob das Deutsche Reich auch als Rechtssubjekt untergegangen oder nur „suspendiert“ worden sei. Die politische Gemeinschaft bestand, wenngleich durch Besatzungsrecht an der Ausübung souveräner Rechte gehindert und in Besatzungszonen geteilt, weiter. Ihr einen verlässlichen demokratischen Rahmen zu geben, war Aufgabe der Verfassungspolitik. Auf Grund der Spaltung Deutschlands konnte diese Aufgabe nur für eine Übergangszeit und nur für einen Teil des Staatsvolkes in Angriff genommen werden. Verfassungspolitik in der entstehenden Bundesrepublik war „Stellvertreterpolitik“ auch für den Teil der Bevölkerung, der daran nicht teilnehmen konnte. Verfassungsdiskussionen sind Auseinandersetzungen über die zukünftige Gestaltung der Grundzüge einer politischen Gemeinschaft und einer politischen Ordnung. Sie finden in einem konkreten politisch-gesellschaftlichen Umfeld statt und nur in Ausnahmefällen ist der Souverän, das Volk, unmittelbar beteiligt. Weder die Gestaltung neuer demokratischer Landesverfassungen nach 1945 noch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes verliefen nach dem „Drehbuch“ eines demokratietheoretisch argumentierenden Verfassungsverständnisses. Gleiches gilt für die Mehrzahl der Verfassungsdiskussionen, die in den letzten Jahrzehnten nach der Überwindung von Diktaturen geführt worden sind – vor allem nach den Revolutionen von 1989. Bei dem Versuch, nach dem Ende des Nationalsozialismus eine neue demokratische Ordnung zu errichten, ging es sowohl um die Verständigung über allgemeine, allseits akzeptierte Werte als auch um die institutionelle Gestalt des politischen Systems. Im Zentrum stand also, um mit Ralf Dahrendorf zu sprechen, die Frage, „wie und wo die Grenze gezogen wird zwischen den für alle verbindlichen Regeln und Prinzipien und Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb dieser Regeln ausgefochten werden sollen“ (Dahrendorf, 1990: 35). Diese Debatte ist umso bedeutsamer, wenn die nationale Geschichte nicht die Requisiten zur Verfügung stellt, die notwendig sind, um ein ungebrochenes historisches und kulturelles Selbstbewusstsein und einen von allen getragenen Kon280
sens über die Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu entwickeln. Hier kann, wie in der Bundesrepublik geschehen, unter günstigen Umständen die Verfassung zur dauerhaften und verlässlichen „Konsensquelle des Gemeinwesens“ werden (Isensee, 1996: 1087). Sie gibt einer Gesellschaft den Rahmen, innerhalb dessen an die Stelle des Kampfes aller gegen alle ein Wettbewerb tritt, dessen Regeln und Verfahren Verlässlichkeit garantieren und Sicherheit versprechen. Der innere Friede wird „in sorgfältig strukturierten und kanalisierten Verfahren freiheitlicher Teilwettbewerbe gesichert“ (Kirchhof, 1996:1497). Nach dem Ende von Diktaturen und Regimewechseln ist der Prozess der Verfassungsgebung von entscheidender Bedeutung für die Chancen der Demokratisierung und die Errichtung einer lebensfähigen demokratischen Ordnung. Demokratisierungswellen (Huntington, 1991) wie nach 1945 und nach 1989 sind Hochzeiten des Konstitutionalismus. Die Paradigmen und fundamentalen Prinzipien konstitutioneller Demokratien, wie sie in historischen Verfassungsdokumenten und in der Verfassungsentwicklung des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet sind, standen nach dem II. Weltkrieg und stehen auch in den verfassungspolitischen Diskussionen der Gegenwart zur Debatte: Welches ist der Grundkonsens, auf den sich ein politisches Gemeinwesen verständigen kann und wie ist zu sichern, dass Regieren (government) nicht die Angelegenheit einer privilegierten Minderheit bleibt? Der Konstitutionalismus legt besonderen Wert auf eine Begrenzung und Einschränkung von Macht, um zu verhindern, dass sie eine Gefahr für die individuelle Freiheit darstellt. Eine offene Gesellschaft, die keine Einschränkungen der Rechte und Chancen Einzelner auf Grund von Traditionen, Geburt, Religion, Rasse, Glauben usw. zulässt, wird als Garant einer lebensfähigen demokratischen Ordnung betrachtet. Die menschliche Würde und der Schutz des Individuums sind Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung – seien diese Grundsätze in einem Grund- und Menschenrechtsteil der Verfassung kodifiziert oder nicht. Rechtsstaatlichkeit (rule of law) und das Prinzip des „due process of law“, eine Idee, so alt wie die Magna Charta, erfordert nicht nur formale Gleichheit vor und gegenüber dem Gesetz, sondern Herrschaft durch das Gesetz und Fairness im Umgang mit dem Gesetz. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die institutionentheoretisch begründete These, dass Verfassungen einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens, das Verhältnis Staat – Bürger und die Beziehungen der Bürger untereinander haben. Die Antwort auf die Frage „Do constitutions matter?“ (Lane, 1996: 187) lautet: Konstitutionelle Mechanismen sind entscheidend für Freiheit, Stabilität, Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. In diesem Kontext ist das Grundgesetz nicht nur normative Grundlage der politischen Ordnung der Bundesrepublik, sondern institutioneller Garant einer stabilen Entwicklung in den vier Jahrzehnten bis zur deutschen Einheit 1990 und seither.
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Konstitutionalismus und Demokratisierung
Do constitutions matter?
6.2
Politische Rahmenbedingungen der Entstehung des Grundgesetzes
Die Demokratie in den drei westlichen Besatzungszonen und den westdeutschen Ländern begann nach 1945 als antitotalitäre politische Ordnung. Sie wollte die Lehren aus dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und der Herrschaft des Nationalsozialismus ziehen und etablierte sich als „Bollwerk“ gegen den Herrschafts- und Machtanspruch des stalinistischen Systems der Sowjetunion und ihres deutschen Derivats in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Nichts hatte 1945 darauf hin gedeutet, dass es schon sehr bald zu einem neuen, eigenständigen politischen Leben in Deutschland kommen werde. In den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz war in Bezug auf die künftige Verwaltung Deutschlands von einer notwendigen „Dezentralisierung der politischen Struktur“ und der „Entwicklung eines Verantwortungsbewusstseins auf lokaler Ebene“ und lokaler Selbstverwaltung die Rede, die oberste Macht aber lag – auf unabsehbare Zeit – bei den Oberkommandierenden der Alliierten Streitkräfte. Die Alliierten wünschten in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine deutsche staatliche Zentralgewalt. Staatliche Gewalt wurde von den alliierten Militärregierungen in den Besatzungszonen und vom Alliierten Kontrollrat ausgeübt. Ohne deutsche Verwaltungseinheiten ließen sich jedoch die vielfältigen praktischen Probleme, wie die Versorgung der Bevölkerung, die Wiederbelebung der Wirtschaft, die Reparatur der zerstörten Infrastruktur usw. nicht bewerkstelligen.
6.2.1 Die Neukonstituierung der Länder Aufbau deutscher Verwaltungen in der amerikanischen Besatzungszone
In den westlichen Besatzungszonen unternahmen die Amerikaner die ersten Schritte zum Aufbau überregionaler Verwaltungen, nachdem die Sowjets in ihrer Zone mit dem SMAD-Befehl Nr. 3 vom 9. Juli 1945 vorgeprescht waren, der die Gliederung der sowjetischen Zone in fünf Verwaltungseinheiten vorsah – die Länder Mecklenburg, Thüringen und Sachsen und aus der Verfügungsmasse Preußens die Provinz Sachsen und die Mark Brandenburg. Die eingeschränkte legislative Gewalt bekamen diese Länder bereits am 22. Oktober 1945. Zugleich waren von der SMAD mit Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 elf „Deutsche Zentralverwaltungen“ als Körperschaften des öffentlichen Rechts gegründet worden (für Verkehr, Nachrichtenwesen, Brennstoffindustrie, Handel und Versorgung, Industrie, Land- und Forstwirtschaft, Finanzen, Gesundheitswesen, Arbeit und Sozialfürsorge, Volksbildung, Justiz). Ländergliederung In der amerikanischen Besatzungszone entwickelte das neugegründete „Office of the Military Government“ (OMGUS) unter der Leitung von General Lucius D. Clay ab Oktober 1945 präzise Pläne für einen allmählichen Übergang der Verwaltung an deutsche Länderregierungen. Dies war sowohl eine Reaktion auf die Ereignisse in der SBZ als auch auf die bereits erkennbare Blockierung des Kontrollrats. Die Deutschen sollten auf dem Wege der „indirect rule“ an die politische Verantwortung herangeführt werden.
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Mit der Proklamation von Groß-Hessen (aus Kurhessen, Hessen-Nassau und dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt), Württemberg-Baden und Bayern (die Enklave Bremen wurde bis Oktober 1946 von amerikanischen Beamten nach britischem Besatzungsrecht verwaltet) war bereits Ende 1945 die künftige Länderstruktur in diesem Gebiet vorgezeichnet. Im Oktober 1945 verkündete Clay die Absicht, einen Rat der Ministerpräsidenten der US-Zone ins Leben zu rufen, dem in der Folge ein bemerkenswert großer Spielraum eingeräumt wurde (Birke, 1994: 60). Dieser Länderrat der amerikanischen Besatzungszone konstituierte sich am 6. November als „Coordinating Agency for all Matters of German Administration Affecting more than one Land within the U. S. Zone“. Im Januar 1946 fanden in der US-Zone Kommunalwahlen statt. Schritte zur Parlamentarisierung waren die Angliederung eines Parlamentarischen Rates an den Länderrat im Frühjahr 1946 und die Wahlen zu den Länderparlamenten im November/Dezember 1946. Damit war eine duale Struktur von Länderregierungen und Länderrat entstanden, die Tendenzen einer Sonderentwicklung in einzelnen Ländern verhinderte und – mit dem Hinweis auf die Kompetenzen der Besatzungsmächte – die Beschlusskompetenz der Landtage einschränkte. Über den Länderrat wurden die Kontakte zu den deutschen Verwaltungsstellen der anderen Zonen verstärkt. Diese föderale Struktur hätten die Amerikaner gern auf ganz Deutschland übertragen. Sie kam auch der liberalen und föderalen Tradition Süd- und Südwestdeutschlands entgegen. Die Vorstellungen des OMGUS verlieh den Ministerpräsidenten der Länder eine starke Stellung, die sie in der Folge geschickt zu nutzen wussten. In der britischen Zone ging die Ländergründung wesentlich langsamer vor Entwicklung in sich. Die Besatzungsbehörden favorisierten eine bundesstaatliche Konstruktion der britischen Besatzungszone mit einer Zentralgewalt, die den Parteien einen stärkeren politischen Einfluss einräumte. Die Zentralämter der britischen Zone waren mit Deutschen besetzt. Sie koordinierten die Bereiche Handel und Industrie, Ernährung und Landwirtschaft, Justiz, Gesundheitswesen, Post- und Fernmeldewesen, Verkehr, Arbeitseinsatz, Flüchtlinge, öffentliche Sicherheit und Erziehung. Ein Zonenbeirat (gegr. 15.2.1946) war der Militärregierung als Beratungsorgan zugeordnet. Anders als dem süddeutschen Länderrat gehörten ihm die Länderchefs, elf Fachvertreter aus den Zentralämtern, vier Repräsentanten der Parteien, zwei Gewerkschaftsvertreter und zwei Vertreter der Konsumgenossenschaften an. Die politische Struktur der britischen Zone war wesentlich komplizierter als in der amerikanischen, wo nur Hessen eine neue politische Einheit darstellte. In der britischen Zone gab es vier kleine Länder (Oldenburg, Braunschweig, LippeDetmold, Schaumburg-Lippe), zwei Stadtstaaten (Hamburg, Bremen) und mit Schleswig-Holstein, Hannover, Westfalen und dem Nordteil der Rheinprovinz vier ehemaligen preußische Provinzen. Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und die Provinz Hannover wurden am 1. November 1946 zum Land Niedersachsen zusammengefasst. Aus der Provinz Westfalen und dem Nordteil der Rheinprovinz enstand am 23. August 1946 das Land Nordrhein-Westfalen, im Januar 1947 kam noch LippeDetmold hinzu.
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Sonderentwicklung in der französischen Zone
Die Sonderstellung Berlins
Einrichtung von deutschen Kommunalverwaltungen
Die französische Zone – eine territorial nicht geschlossene Einheit – nahm eine andere Entwicklung. Hier sperrten sich die Besatzungsbehörden gegen deutsche Zentralbehörden und interzonale Zusammenarbeit. Die französische Besatzungspolitik unterschied sich signifikant von der der Amerikaner und Briten und ließ sich nur widerwillig auf eine gemeinsame westliche Vorgehensweise ein (Birke, 1994: 65). Deutsche Verwaltungsbehörden wurden auf unterer Ebene (Gemeinden, Städte, Landkreise, Regierungsbezirke) eingerichtet. Länder bzw. Landesteile wurden einer „délégation supérieure“ unterstellt, die es für das Saarland, das Rheinland, die Pfalz, Baden und Württemberg gab. Vier Generaldirektorate für Verwaltung, Wirtschaft und Finanzen, Abrüstungskontrolle und Justiz residierten am Sitz des Chefs der Militärregierung in Baden-Baden. Die territoriale Neugliederung war ähnlich kompliziert wie in der britischen Zone. Im Herbst 1946 wurden die Länder Baden, Rheinland-Pfalz und Württemberg-Hohenzollern gegründet. Gegenüber dem Saarland verfolgte Frankreich eine besondere Politik – zum vierten Mal wurde der Versuch unternommen, die Saar zu annektieren.1 Frankreich trennte das Saarland sofort von der übrigen Besatzungszone ab. Im Februar 1946 erklärte es die Herauslösung der Saar aus der Zuständigkeit des Kontrollrates. Es wurde keiner deutschen Zentralverwaltung unterstellt. Im Dezember wurden Zollgrenzen gegenüber den anderen Besatzungszonen errichtet. „Das Saargebiet erhielt immer stärker den Charakter eines französischen Protektorats“ (Birke, 1994: 65). Amerikaner und Briten stimmten der Abtrennung der Saar auf der Pariser Außenministerkonferenz im Sommer 1946 vorbehaltlich einer späteren friedensvertraglichen Regelung zu. Berlin wurde den alliierten Beschlüssen entsprechend einer gemeinsamen Verwaltung der vier Siegermächte unterstellt. Oberste Verwaltungsbehörde war die Alliierte Kommandantur. Mit dem Auszug der Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat am 20. März 1948 endete diese gemeinsame Verwaltung, jedoch blieben die Rechte der vier Siegermächte für Berlin und weit reichende Eingriffsmöglichkeiten in die Politik in beiden Teilen Berlins bis zum Jahre 1990 erhalten. Noch vor der Gründung von Ländern wurden als erstes wieder deutsche Kommunalverwaltungen eingerichtet. Dies entsprach auch den Dezentralisierungsabsichten, auf die sich die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz verständigt hatten. Die örtlichen Verwaltungen arbeiteten zunächst auf der Grundlage der von nationalsozialistischen Elementen gereinigten Deutschen Gemeindeordnung von 1935, bevor sukzessive neue Gemeindeordnungen erlassen wurden. Auf Grund der unterschiedlichen Vorstellungen der Alliierten entstanden in den Westzonen vier unterschiedliche Typen von Gemeindeordnungen, deren Vereinheitlichung und bundesweite Angleichung erst in den 1980er-Jahren in Gang kam (Engeli/ Haus 1975ff.). Die Magistratsverfassung: Ein vom Bürgermeister und seinen Beigeordneten gebildetes Kollegium wird von der Gemeindevertretung gewählt und leitet die 1
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Ludwig XIV. 1680-1697 das Gebiet um Saarbrücken; Napoleon I. 1801-1815; 1866 schlug der Versuch Napoleons III. fehl, die Saar als Kompensation für Preußens Eroberungen im Krieg gegen Österreich zu erhalten; wirtschaftliche Ausbeutung von 19191935, Unterstellung unter den Völkerbund.
Stadtverwaltung. Die Magistratsverfassung wurde in Hessen, Schleswig-Holstein und in modifizierter Form in Rheinland-Pfalz eingeführt. Die Bürgermeisterei-Verfassung nach dem Modell des alten französischen Mairie-Systems: Hier wählt der Gemeinderat einen Bürgermeister, der in alleiniger Verantwortung die Gemeindeverwaltung leitet und zugleich den Vorsitz im Gemeinderat hat. Diese Regelung wurde im Saarland und in kleineren Gemeinden in Rheinland-Pfalz eingeführt. Die süddeutsche Ratsverfassung: Der Bürgermeister wird direkt von den Gemeindebürgern gewählt. Er ist mit starken Kompetenzen ausgestatteter Leiter der Verwaltung und Vorsitzender des Gemeinderates. Diese Verfassung galt in Bayern und Baden-Württemberg. Inzwischen ist die Direktwahl der Landräte und Bürgermeister auch in anderen Bundesländern eingeführt worden. Die norddeutsche Ratsverfassung: Hier ist der vom Rat gewählte Bürgermeister im Wesentlichen eine Repräsentationsfigur, während die Verwaltung einem ebenfalls vom Rat bestimmten Verwaltungsbeamten (Oberstadtdirektor) obliegt. Sie wurde in Niedersachsen und Rheinland Pfalz eingeführt (Botzenhart, 1993: 179ff.). In der Sowjetischen Besatzungszone wurde zwar 1946 eine „Demokratische Gemeindeordnung“ erlassen und die Verfassung von 1949 schrieb in Art. 139 die kommunale Selbstverwaltung fest. Die kommunalen Verwaltungen gerieten aber sehr schnell unter das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ und degenerierten zu einer Erfüllungsinstanz zentralstaatlicher Vorgaben. Die Konstituierung der Länder erfolgte in den westlichen Besatzungszonen in unterschiedlichem Tempo, auch hier spielten verschiedene Intentionen der Besatzungsmächte eine entscheidende Rolle. Die Amerikaner genehmigten schon Ende 1946 die Bildung der Länder Bayern, Hessen und Württemberg-Baden und die Verabschiedung von Verfassungen (Bremen erhielt seine Verfassung im Oktober 1947). Die in der französischen Zone gelegenen Länder Baden, RheinlandPfalz und Württemberg-Hohenzollern folgten im Mai 1947, das Saarland, das einem Sonderstatus unterlag, erhielt im Dezember 1947 eine Verfassung. In der britischen Zone zog sich der Prozess der Verfassungsgebung bis nach der Verabschiedung der Grundgesetzes hin. In der Sowjetischen Besatzungszone entstanden (wesentlich aus den Restbeständen Preußens und Pommerns) 1947 fünf Länder, denen jedoch nur eine kurze Lebensdauer beschieden war. Sie wurden im Zuge der Stalinisierung der DDR 1952 aufgelöst. Mit dem Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990, das die demokratisch gewählte letzte Volkskammer der DDR wenige Monate vor der Vereinigung im Oktober 1990 verabschiedete, wurden die ostdeutschen Länder wieder eingerichtet. Nur auf den ersten Blick bedeutete die Wiedererrichtung von Ländern ein Anknüpfen an die föderale Tradition Deutschlands, die durch den nationalsozialistischen Einheitsstaat – wenngleich unter formaler Weiterexistenz von Ländern – unterbrochen worden war. Das Problem war Preußen, das im Kaiserreich die politische Dominante des Deutschen Reiches war und als größtes Einzelland in der Weimarer Republik ein deutliches Übergewicht besaß. Die gewaltsame Absetzung der demokratischen Regierung Preußens unter Otto Braun am 20. Juli
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Konstituierung der Länder
Die Auflösung Preußens
Zentrale Rolle der Länder in der Gründungsphase der Bundesrepublik
Verfassungen der Länder
1932, der sogenannte „Preußenschlag“, war nicht zufällig ein entscheidendes Datum auf dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur. Die Auffassungen darüber, wann Preußen aufgehört habe zu existieren, gehen weit auseinander. Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz hatten dieses Problem nicht angesprochen, wenngleich klar war, dass ein Land Preußen, dessen Gebiete inzwischen verschiedenen Besatzungszonen zugeschlagen worden waren, nicht mehr wiedererstehen werde. Erst nach der Errichtung neuer Länder hat der Alliierte Kontrollrat mit seinem Gesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 die Auflösung des nicht mehr existierenden Staates Preußen verfügt. Das Argument lautete, dass Preußen „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen sei. Seine Gebiete sollten, wie die „Mark Brandenburg“, die Rechtsstellung von Ländern erhalten oder, wie die preußischen Teile Thüringens oder das Rheinland, Ländern einverleibt werden. Große Teile der preußischen Kernlande östlich der Oder standen unter polnischer Verwaltung. Staatsund Verwaltungsfunktionen, sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des preußischen Staates gingen auf die beteiligten Länder über. Das Neuentstehen und Wiederentstehen von Ländern nach 1945 stand also unter einem doppelten politischen Diktat der Siegermächte, dem auf der Potsdamer Konferenz beschlossenen Ziel einer Dezentralisierung der Verwaltung und der verordneten Auflösung Preußens. Für die Gründungskonstellation der Bundesrepublik spielten die Länder in zweifacher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Die Dezentralisierungsabsichten der Potsdamer Konferenz, die schiere Existenz der Länder als einziger deutscher politischer Institution oberhalb der kommunalen Ebene und die Vorgaben der Westalliierten, eine föderale Ordnung mit starken Ländern zu schaffen, versetzte die Länder in eine komfortable Ausgangsposition. Begünstigend kam zweitens hinzu, dass die Alliierten die Ministerpräsidenten mit den Vorbereitungen für die Ausarbeitung eines Verfassungsgesetzes beauftragten. Dies verschaffte ihnen eine sehr starke Verhandlungsposition und kam der Durchsetzung von Länderinteressen zugute. Die Länderverfassungen kamen auf verschiedenem Wege zu Stande. Eine verfassungsgebende Versammlung mit anschließendem Volksentscheid gab es in Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz. In Bremen und Nordrhein-Westfalen wurde die Verfassung vom Landesparlament erarbeitet und anschließend dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. In Berlin, Hamburg, Niedersachsen und SchleswigHolstein wurde die Landesverfassung vom Landtag (bzw. der damaligen Stadtverordnetenversammlung von Berlin und der Hamburger Bürgerschaft) ausgearbeitet und verabschiedet. In Baden-Württemberg und im Saarland, beide „Nachzügler“ auf Grund der späteren Gründung bzw. des Beitritts zur Bundesrepublik, erarbeitete und verabschiedete eine verfassungsgebende Versammlung die Landesverfassung (Hölscheidt, 1995: 81).
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Abbildung 3: Deutsche Länderverfassungen La n d Amerikanische Zone Bayern Bremen
v o r d em 2 3 . Mai 1 9 4 9
Hessen Württemberg-Baden* Französische Zone Ba d e n *
1. Dez. 1947
WürttembergHohenzollern* Rheinland-Pfalz (Saarland) Britische Zone Hamburg
2. Dez. 1946 21. Okt. 1947
1 8 . Mai 1 9 4 7 17. Dez. 1947 15 . M a i 1 9 4 6 vorläufige Verfassung
Sachsen Provinz SachsenAnhalt Thüringen Berlin
1991 reformiert
6. Juni 1952 1 . Mai 1 9 5 2 („Vorläufige Niedersächsische Verfassung“) 28. Juni 1950 13. Dez. 1949 („Landessatzung“)
Nordrhein-Westfalen Schleswig-Holstein
Mecklenburg
Verfassungsreform 1994
Baden-Württemberg 11. Nov. 1953
Niedersachsen
Sowjetische Zone Brandenburg
n a c h d e m 2 3 . M a i 1 9 4 9 n a ch 1 9 8 9
Neue Verfassung 1. Juni 1993
Neue Landesverfassung 13. Juni 1990 20. August 1992
6. Febr. 1947 als „Mark Brandenburg“; 24. Juli 1947 Land Brandenburg 16. Januar 1947
MecklenburgVorpommern 12. Juni 1994 2 2 . Mai 1 9 9 2 17. Juli 1992
28. Februar 1947 10. Januar 1947 20. Dezember 1947 1. Sept. 1950 (Berlin-West)
29. Okt. 1993 22. Okt. 1995
* 1953 Baden-Württemberg
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6.2.2 Zentralismus versus Föderalismus: Zur Vorgeschichte des Grundgesetzes
Neuordnungskonzepte für einen westdeutschen Teilstaat
Die Ergebnisse der Londoner SechsmächteKonferenz ebnen den Weg zur Bildung der Bundesrepublik
Bereits im Sommer 1947 hatten die USA und Großbritannien Frankreich zu einer Abkehr von seiner bisherigen Obstruktionspolitik gedrängt. Das Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz im Dezember 1947 machte eine Veränderung der deutschlandpolitischen Prioritäten der Westalliierten unabweisbar. Die durch die Konfrontation mit der Sowjetunion heraufbeschworene neue Situation zwang insbesondere Frankreich, seine bisherigen Positionen zu überdenken und zu revidieren. Anfang Januar 1948 vereinbarten die britische und amerikanische Regierung, eine Konferenz der drei westlichen Besatzungsmächte einzuberufen, um über eine Tri-Zone und die Einbeziehung Westdeutschlands in das European Recovery Program (ERP) zu verhandeln. Die Zurückhaltung Frankreichs hing vor allem mit der Saarfrage und dem Ruhrstatut zusammen. Diese SechsmächteKonferenz fand vom 23. Februar bis 6. März und vom 20. April bis 2. Juni 1948 statt. An ihr nahmen neben den Westalliierten auch die drei Beneluxländer teil, die bereits am 14. März 1947 eine Zollunion geschlossen hatten. Die drei Alliierten waren sich nunmehr in Bezug auf die zukünftige politische Ordnung Deutschlands insofern einig, als sie einen demokratischen Staat auf betont föderalistischer Basis befürworteten. Allerdings tendierte Frankreich eher in Richtung einer Konförderation und die beteiligten Benelux-Staaten favorisierten eine lose Föderation souveräner Staaten, ein Generalstaaten-Modell (Welmer, 1994: 47f.). Nach amerikanischer Auffassung sollte in Deutschland ein föderalistisches System mit einer Zentralregierung errichtet werden, der alle gesetzlichen, wirtschaftlichen und administrativen Befugnisse übertragen werden sollten, die für einen Bundesstaat notwendig sind. Die Befugnisse sollten, wie später im Grundgesetz geschehen, im Detail festgelegt werden. Alle anderen Kompetenzen würden bei den Ländern verbleiben. Es ging den Vereinigten Staaten um ein höchst mögliches Ausmaß der Autonomie der Länder. Diesem Ziel entsprechend sollte auch die Prozedur der Verfassungsdiskussion erfolgen. Nach britischer und amerikanischer Auffassung sollte die Souveränität beim gesamten Volk liegen, das sie durch die Verfassung auf die Zentralregierung und die Länderregierungen delegieren würde. Nach französischer (und Benelux) Auffassung sollte die Souveränität auf dem Volk der jeweiligen Länder beruhen, von der dann ein Teil an die Zentralregierung delegiert würde (Welmer, 1994: 53). Dies waren die grundsätzlichen Ausgangspositionen im Ringen um die zukünftige politische Ordnung Westdeutschlands. Die Beschlüsse der Sechsmächte-Konferenz, die vierzehn Tage vor der Währungsreform den Rahmen für die künftige Staatlichkeit Westdeutschlands vorgaben, wurden in der deutschen Öffentlichkeit ohne große Begeisterung aufgenommen. Die Pläne wurden, durchaus zutreffend, als erster Schritt zur staatlichen Trennung der westlichen Besatzungszonen von der SBZ angesehen. Im Rahmen eines zukünftigen europäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses wurde auf der Londoner Konferenz erstmals offen über eine westdeutsche Separatstaatsbildung gesprochen, wobei in der Folge immer die formale 288
Möglichkeit offengelassen wurde, dass sich die SBZ anschließen könne. Die folgenden Etappen und Grundsätze waren vorgesehen: x x x x x x
Bevollmächtigung der Ministerpräsidenten zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung; diese sollte aus Vertretern bestehen, die von den Länderparlamenten gewählt wurden; die zukünftige staatliche Ordnung sollte auf föderativer Grundlage gestaltet werden; die Verfassung müsse die Individualrechte der Bürger explizit garantieren; der Entwurf müsse von den Militärgouverneuren gebilligt werden; am Ende müsse eine Abstimmung über die Verfassung durch die Bevölkerung stehen.
Unter der Überschrift „Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Organisation Deutschlands“ formulierte das Abschlusskommunique die Aufgabe an die Militärgouverneure, die Ministerpräsidenten zu bevollmächtigen, eine verfassungsgebende Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung einzuberufen, „die von den Ländern zu genehmigen sein wird.“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 3f.) Die beschlossene offizielle Unterrichtung der Ministerpräsidenten fand am 1. Juli 1948 in Frankfurt a. M. statt. Die drei Militärbefehlshaber (die Generale Clay, Robertson und Koenig) überreichten den Ministerpräsidenten die deutsche Übersetzung nach der Sitzung. In diesen „Frankfurter Dokumenten“ ermächtigten („authorize“) die Militärgouverneure die Ministerpräsidenten, bis spätestens zum 1. September eine verfassungsgebende Versammlung („constituent assembly“) einzuberufen. Die Landtage sollten das jeweilige Wahlverfahren festlegen. Auf je ca. 750.000 Einwohner sollte ein Mandat entfallen, ein Proporz der Länder sollte gewahrt werden. Die von der verfassungsgebenden Versammlung auszuarbeitende Verfassung sollte „eine Regierungsform des föderalistischen Typs“ schaffen, die am besten geeignet sei, „die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen“, sie sollte die Rechte der beteiligten Länder schützen, eine angemessene Zentralinstanz schaffen und schließlich „die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthalten“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 31). Entsprechend den Londoner Beschlüssen sollte am Ende des Prozesses in jedem Land ein Verfassungsreferendum abgehalten werden. In einem zweiten Dokument wurde eine Neugliederung der Länder verlangt, die den „überlieferten Formen“ Rechnung tragen, zugleich aber problematische Größenunterschiede vermeiden sollte. Ein drittes Dokument schließlich entwickelte Grundzüge eines Besatzungsrechts, das unbestimmt gehaltene Klauseln für alliierte Vorbehaltsrechte nach Inkrafttreten der deutschen Verfassung enthielt. Alliierte Zuständigkeiten wurden in folgenden Bereichen vorbehalten: auswärtige Beziehungen, Kontrolle des Außenhandels, Kontrollen der Binnenwirtschaft (Internationale Ruhrbehörde, Reparationen, Dekartellisierung), Abrüstung und Entmilitarisierung, „gewisse Formen wissenschaftlicher Forschung“, Sicherheit und Versorgung der Besat-
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Die „Frankfurter Dokumente“
Grundzüge des Besatzungsrechts
Die „Rittersturz“Konferenz der Ministerpräsidenten
Konflikt zwischen Teilstaatsgründung und Erhalt des deutschen Nationalstaates
zungsstreitkräfte sowie die Beachtung (ensure the observance) der von ihnen gebilligten Verfassungen. Für den Notstandsfall behielten sich die Alliierten die volle Wiederaufnahme der Machtbefugnisse vor. Nach Billigung der Verfassung sollte ein gültiges Besatzungsstatut veröffentlicht werden, „damit sich die Bevölkerung der Länder darüber im Klaren ist, dass sie die Verfassung im Rahmen dieses Besatzungsstatutes annimmt“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 33ff.). Das Hauptproblem für die deutschen Politiker stellte – neben dem Zeitdruck – die Unklarheit darüber dar, wie verbindlich die Vorgaben seien und welcher Verhandlungsspielraum ihnen eingeräumt wurde. Der Wortlaut der Dokumente, in denen Begriffe wie Autorisieren, Ermächtigen, Ersuchen enthalten waren und die Aufforderung zu Gegenäußerungen enthielten, hatten die Ministerpräsidenten zu einer Fehleinschätzung ihrer Handlungsmöglichkeiten geführt, die noch durch Äußerungen des französischen Militärgouverneurs Koenig verstärkt wurde. All dies ließ den Eindruck entstehen, es handele sich bei den Londoner Empfehlungen um „suggestions“, über die verhandelt werden könne (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: XXXIVff.; Sörgel, 1985: 39ff.). Auf dieser Wahrnehmung der Intentionen der Alliierten beruhten die Gespräche der Ministerpräsidenten am 8. – 10. Juli 1948 in Koblenz (Rittersturz) über die zukünftige Verfassung. Am deutlichsten für die Annahme der Dokumente und ein schnelles Procedere plädierten Wilhelm Kaisen (Bremen) und Max Brauer (Hamburg), unterstützt von Christian Stock (Hessen) und Reinhold Maier (Württemberg-Baden). Zögerlicher verhielten sich Bayerns Ministerpräsident Hans Ehard, Karl Arnold (NRW) und die Regierungschefs der französischen Zone Leo Wohleb (Baden), Peter Altmeier (Rheinland-Pfalz) und Lorenz Bock (Württemberg-Hohenzollern). Als einziger machte Carlo Schmid (Stellvertretender Ministerpräsident in Württemberg-Hohenzollern) grundsätzliche Bedenken geltend. Zwischen der bejahenden und der abwartenden bis negativen Haltung wurde eine Kompromisslinie gefunden, die auf Forderungen an die Alliierten hinauslief. Man sprach sich für indirekte Wahlen eines Verfassungsausschusses aus und forderte, um die Vorläufigkeit zu unterstreichen, anstelle der Bezeichnung „Verfassung“ den Begriff „Verwaltungsstatut“, „Organisationsstatut“ oder „vorläufiges Staatsgrundgesetz“ zu wählen. Der Begriff „Grundgesetz“ wurde von Max Brauer eingeführt. Die Frage des Plebiszits sollte offen gelassen werden (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 68; Benz, 1989: 163ff.). Das Hauptproblem für die Ministerpräsidenten stellte die Spannung zwischen dem geplanten Teil-Staatsverband und dem erstrebten Nationalstaat dar. Die Furcht vor einer faktischen Preisgabe eines zukünftigen deutschen Nationalstaates bestimmten Diktion und Argumentation der Antwort der Ministerpräsidenten an die Militärgouverneure. „Die Ministerpräsidenten glauben ..., daß, unbeschadet der Gewährung möglichst vollständiger Autonomie an die Bevölkerung dieses Gebietes alles vermieden werden müßte, was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde; sie sind darum der Ansicht, daß auch durch das hierfür einzuschlagende Verfahren zum Ausdruck kommen müßte, daß es sich lediglich um ein Provisorium handelt sowie um eine Institution, die ihre Entstehung lediglich dem augenblicklichen Stand
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der mit der gegenwärtigen Besetzung Deutschlands verbundenen Umstände verdankt.“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 143f.)
In einer Anlage präzisierten die Ministerpräsidenten ihre Forderungen in acht Punkten. Sie sprachen sich gegen die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung und die Ausarbeitung einer deutschen Verfassung aus. Beides solle solange „zurückgestellt werden bis die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Regelung gegeben sind und die deutsche Souveränität in ausreichendem Maße wieder hergestellt ist“. Sie schlugen statt dessen die Wahl eines Parlamentarischen Rates durch die Länderparlamente vor, der „ein Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte auszuarbeiten“ solle. Zudem forderten sie die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung: Das zu erarbeitende Grundgesetz müsse neben der aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Volksvertretung „eine bei der Gesetzgebung mitwirkende Vertretung der Länder vorsehen“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 146f.). Die Koblenzer Beschlüsse führten zu einer ernsten Verstimmung bei den Besatzungsbehörden, insbesondere General Clay fühlte sich persönlich düpiert – „Gentlemen, you have deserted me in the struggle with the Russians for the fight for Berlin and for the development of Western Germany.“ Er hatte die Londoner Vorschläge den Briten und vor allem den Franzosen mühsam abgerungen und befürchtete durch die Haltung der Ministerpräsidenten eine Verzögerung des Projekts. Darauf deuteten auch Äußerungen General Koenigs zum Problem der Länderneugliederung hin (vgl. das Protokoll der Besprechung der Ministerpräsidenten mit General Clay am 14. Juli 1948, in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 151ff.). Nach einer Reihe weiterer Gespräche und Konferenzen verabschiedeten die Ministerpräsidenten am 22. Juli im Jagdschloss Niederwald bei Rüdesheim ein Aide-Mémoire, in dem ihre Haltung präzisiert wurden. (Um weitere Konflikte auszuschließen, fügten sie ihren Bemerkungen jeweils die englische und französische Übersetzung bei.) Sie erklärten die aufgetauchten Missverständnisse zwischen ihnen und den Alliierten mit terminologischen und Übersetzungsproblemen. Es gebe keine grundlegenden inhaltlichen Differenzen. Sie bekundeten die Bereitschaft, ihre Verantwortung „in demselben Ausmaße zu übernehmen“, in dem sie ihnen von den Besatzungsmächten übertragen worden war. Die Beschlüsse von Koblenz seien nur Anregungen gewesen, die den einzuberufenden Parlamentarischen Rat in keiner Weise binden könnten. Sie seien einverstanden, dass in Übereinstimmung mit den Londoner Empfehlungen „bei gegebener Sachlage zur Zeit nur eine vorläufige Regelung möglich ist. Nichtsdestoweniger sind sie entschlossen, diese so kraftvoll und wirksam wie möglich zu gestalten“. Und schließlich äußerten sie sich zur wichtigen Frage der Verabschiedung des Grundgesetzes und schlugen vor, dass diese Aufgabe Landtagen übertragen werden sollte (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 270-272). Auf einer erneut konfliktreichen Sitzung der Ministerpräsidenten mit den Militärgouverneuren am 26. Juli in Frankfurt a. M. wurde schließlich eine Einigung über die Frankfurter Dokumente erzielt. Bis zuletzt war es um die Frage Verfassung oder Grundgesetz gegangen. In einer dramatischen Intervention des Hamburger Bürgermeisters Brauer, in der er vermeintliche Übersetzungsproble291
Verfassung oder Grundgesetz? Konflikte zwischen den Ministerpräsidenten und den Besatzungsbehörden
Einigung mit den Militärgouverneuren
me für die Differenzen verantwortlich machte („basic law“ statt „basic constitutional law“ für Grundgesetz) und damit den gordischen Knoten durchteilte, wurde deutlich, in welcher Situation sich die deutschen Vertreter befanden. Nach den bitteren Erfahrungen in der Weimarer Republik mussten sie alles vermeiden, um als neue Generation von „Verzichtpolitikern“ und Spalter der deutschen Nation zu erscheinen. Max Brauers zentrale Aussage war von der Furcht bestimmt, dass die Kommunisten in Ostdeutschland sich mit einem gewissen Erfolg als Hüter der Einheit Deutschlands darstellen könnten, wenn die neue politische Ordnung in Westdeutschland nicht klar und deutlich als zeitlich begrenztes Provisorium deklariert und entsprechend konstitutionell begründet würde (Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, 1975: 277).
6.2.3 Der Herrenchiemseer Konvent
Unterschiedliche Verfassungs- und Staatsvorstellungen der Parteien
Schlussbericht des Herrenchiemseer Konvents
Bereits einen Tag vor der entscheidenden Sitzung mit den Militärgouverneuren hatten die Ministerpräsidenten am 25. Juli einen Ausschuss mit Vertretern der elf Länder und Sachverständigen eingesetzt, der „Richtlinien für ein Grundgesetz“ erarbeiten sollte. Dieser nach dem Tagungsort sogenannte „Herrenchiemseer Konvent“, zu dessen Mitgliedern Staatsrechtler wie Hermann Brill, Theodor Maunz, Carlo Schmid, Adolf Süsterhenn u.a. gehörten, trat vom 10. bis 23. August 1948 zusammen Die Arbeit des Konvents war nach Auffassung des Staatsrechtlers Erhard Denninger „durch professionellen staatsrechtlichen Fachverstand ... und eine exekutivistisch-normgläubige Juristenmentalität“ geprägt, „wie man sie bei der höheren Beamtenschaft in den Staatskanzleien antrifft“. Die Tendenz zu juristisch-technischer Präzision seien Charakteristika des Grundgesetzes, die ihm schon von den Vorarbeiten der Sachverständigen anhafteten (Erhard Denninger, Einleitung zu: Alternativ Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 1989, 70). In den Beratungen des Konvents kamen die unterschiedlichen Positionen der Parteien deutlich zum Ausdruck. Die SPD, die bereits 1946 einen Verfassungspolitischen Ausschuss eingesetzt hatte, der „Richtlinien für den Aufbau einer deutschen Republik“ erarbeiten sollte, präferierte ein eher zentralistisches Verfassungs- und Staatskonzept. Vorstellungen der CDU, die in Westdeutschland noch gar nicht als einheitliche Parteiorganisation existierte, waren in informellen Diskussionsrunden, dem sogenannten „Ellwanger Kreis“ erarbeitet worden. Sie enthielten eine starke föderale Komponente und die Betonung christlicher Werte als Grundlagen des Staates. Die Liberalen waren zersplittert und zu einer einheitlichen Strategie kaum fähig. Sie betonten die Reichseinheit als Ziel, bestanden auf der Vorläufigkeit des neuen Staatsgebildes und zweifelten die Legitimität des Tuns der Ministerpräsidenten an (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: LI). In seinem Schlussbericht hat der Verfassungskonvent die Grundsätze zusammengefasst, von denen die Ergebnisse, vor allem der Entwurf eines Grundgesetzes getragen waren: „Es bestehen zwei Kammern. Eine davon ist ein echtes Parlament. Die andere gründet sich auf die Länder.
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Die Bundesregierung ist vom Parlament abhängig, sofern es zur Regierungsbildung fähig ist. Das Vertrauen einer arbeitsfähigen Mehrheit ist unerläßlich und jederzeit ausreichend, einen Mann an die Spitze der Regierung zu bringen. Eine arbeitsunfähige Mehrheit kann dagegen weder die Regierungsbildung vereiteln, noch eine bestehende Regierung stürzen. Der Ausweg einer Präsidialregierung wird dabei vermieden. Neben der Regierung steht als neutrale Gewalt das Staatsoberhaupt. Die Funktion wird zunächst behelfsmäßig versehen. Nach Herstellung einer angemessenen völkerrechtlichen Handlungsfreiheit und nach Klärung des Verhältnisses zu den ostdeutschen Ländern wird sie nach der überwiegenden Meinung von einem Bundespräsidenten übernommen. Notverordnungsrecht und Bundeszwang liegen bei der Bundesregierung und der Länderkammer, nicht beim Staatsoberhaupt. Bei der Bundesaufsicht leistet die Bundesjustiz Hilfestellung. Die Vermutung spricht für Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz, Finanzhoheit und Finanzierungspflicht der Länder. Bund und Länder führen eine getrennte Finanzwirtschaft. Es gibt kein Volksbegehren. Einen Volksentscheid gibt es nur bei Änderungen des Grundgesetzes. Eine Änderung des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, ist unzulässig.“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 505f.)
Damit sind bereits entscheidende Organisationsgrundsätze genannt, die später in das Grundgesetz Eingang gefunden haben – die starke Position des Regierungschefs, die Ablehnung eines Notverordnungsrechts, die Finanzhoheit der Länder, die Ablehnung plebiszitärer Elemente und die Grundzüge der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes. Zum Charakter des zu schaffenden Bundes bemerkte der Konvent: „Der Begriff ,Grundgesetz‘ ist vieldeutig. Er kann nach dem Sprachgebrauch eine Verfassung bezeichnen, also das rechtliche Gefüge und die Grundnormen eines Staates. Es ist aber ebenso möglich, daß mit der besonderen Wahl dieser Bezeichnung – anstatt des präziseren Wortes ,Verfassung‘ – von den Ministerpräsidenten zum Ausdruck gebracht werden wollte, daß die Aufgabe des Parlamentarischen Rates nicht darin bestehen solle, die rechtliche Ordnung für einen Staat im vollen und strengen Sinn des Wortes zu schaffen, sondern für ein hoheitliches Gebilde, dem gewisse Merkmale fehlen, die nur Staaten im vollen Sinne des Wortes eigentümlich sind. Bei der Klärung dieser Frage war der Ausschuß auf die Auslegung gewisser Dokumente und Vorgänge angewiesen.“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 507)
Die Dokumente der Verhandlungen der Ministerpräsidenten mit den Alliierten sprächen nicht für die Schaffung eines „eigentlichen Staates“. Aus der Haltung der Ministerpräsidenten müsse der Schluss gezogen werden, „daß in dem Gebiet der drei Westzonen zum mindesten kein Staat im vollen Sinne des Wortes“ entstehen solle, sondern ein „zeitliches Provisorium“, eine „Notlösung, die lediglich 293
Provisorischer Charakter der zu schaffenden staatlichen Ordnung
den Übergang zu einer gesamtdeutschen Verfassung vorbereiten und erleichtern soll“. Zudem sei die neu zu beschaffende politische Ordnung auch ein räumliches Provisorium. Und schließlich würde zu einem Staat im vollen Sinne des Wortes auch das Recht gehören, selbstständig auswärtige Beziehungen zu gestalten. All dies mache, so der Konvent, die neue Ordnung zu einem „Staatsfragment“, nicht zu einem Staat. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit einer Klausel (wie sie dann später in Art. 146 des Grundgesetzes aufgenommen wurde), dass das Grundgesetz seine Geltung an dem Tage verliere, „an dem eine von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossene Verfassung in Kraft tritt“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 507). Volkssouveränität Obwohl die Alliierten dem neu zu schaffenden Staatsgebilde keine volle und Teilstaats- Souveränität zugestehen wollten, und insoweit ein demokratischer Staat im volGründung len Sinne des Wortes nicht entstehen könne, sei eine vollständige Staatsorganisation erforderlich. Der Konvent war einmütig der Auffassung, dass ein solches Staatsfragment mit allen Einrichtungen versehen werden könne und solle, „die eine volle Legislative, eine volle Exekutive nach innen und die umfassende Ausübung der Gerichtsbarkeit erlauben“. Der fragmentarische Charakter komme weniger in der Gestaltung der einzelnen Institutionen zum Ausdruck als in deren Begrenzung und eingeschränkten Möglichkeiten. Die zu schaffende Ordnung als solche könne und solle so ausgestaltet werden, dass die politischen Institutionen bei Ausweitung der gewährten Freiheitssphäre fähig seien, „sie voll auszufüllen und gegebenenfalls diese Ausweitung in Fluss zu bringen und durchzusetzen“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 509). Bemerkenswert ist, in welch hohem Maße der Entwurf von Herrenchiemsee der Gliederung des Grundgesetzes entspricht, obwohl einige dieser Fragen in den Beratungen des Parlamentarischen Rates heftig umstritten waren und letztendlich anders entschieden wurden und der Entwurf nicht einmal in allen Ausschüssen des Parlamentarischen Rates offizielle Beratungsgrundlage, sondern einer neben anderen Vorschlägen war.
6.2.4 Der Parlamentarische Rat Personelle Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates trafen sich am 1. September 1948 in der Pädagogischen Akademie in Bonn, dem späteren Bundeshaus, zur konstituierenden Sitzung, die von den Ministerpräsidenten einberufen worden war. Sie wählten Konrad Adenauer (CDU) zu ihrem Präsidenten und Adolph Schönfelder (SPD) und Hermann Schäfer (FDP) zu Vizepräsidenten. Die parteipolitische Zusammensetzung der von den Länderparlamenten delegierten 65 stimmberechtigten und fünf nicht stimmberechtigten Berliner Vertreter war wie folgt: CDU 19 Berlin (1), CSU 8, SPD 27 Berlin (3), FDP/DVP/LDP 5 Berlin (1), DP 2, Zentrum 2 und KPD 2. Fast 70% der Vertreter waren Landtagsabgeordnete. Viele hatten hohe Parteifunktionen inne. Zahlreiche Abgeordnete waren bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen – das erklärt das Durchschnittsalter von knapp 55 Jahren.
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Der Anteil der Akademiker lag bei etwa zwei Dritteln. Über 60% der Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren Berufsbeamte, Richter oder Professoren. Der Juristenanteil lag bei 41,6%. Kein Abgeordneter war selbstständiger Handwerker. Die Kirchen waren nicht direkt durch Repräsentanten vertreten (wenngleich indirekt einflussreich) und nur ein SPD-Vertreter konnte als Repräsentant der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen angesehen werden. Bereits hier zeigt sich eine Tendenz, die sich dann im Bundestag fortsetzte: die eines „Beamtenparlaments“. Dass gleichwohl die vielfältigen Gruppeninteressen (Gewerkschaften, Unternehmer, Kirchen, Beamte, Flüchtlinge und Vertriebene, Landwirte) im Grundgesetz berücksichtigt wurden, ist vor allem der Struktur des sich herausbildenden neuen Parteiensystems, der sozialen und milieumäßigen Verankerung der Mitglieder des Rates und dem Willen der Parteien geschuldet, die neue staatliche Ordnung auf einem möglichst breiten Grundkonsens aufzubauen. Außer dem Herrenchiemseer Entwurf lagen dem Parlamentarischen Rat noch andere Beratungsunterlagen vor: der „zweite Menzel-Entwurf“ der SPD, Verfassungsvorschläge des „Ellwangerkreises“ der CDU/CSU, ein Entwurf der Deutschen Partei, ein privater Diskussionsbeitrag des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Theodor Steltzer und eine Denkschrift „Der Zonenbeirat zur Verfassungspolitik“. Erneut spielte die Frage nach der Natur des zu gründenden Staates und seiner historischen Grundlagen eine entscheidende Rolle in den Debatten. Auf den Namen „Deutsches Reich“ musste man nolens volens verzichten, dem standen, wie Carlo Schmid formulierte, psychologische Gründe ebenso entgegen, wie der Anspruch der Vorläufigkeit der neuen politischen Ordnung. Das Wort Reich habe nun einmal „bei den Völkern um uns herum einen aggressiven Akzent“, es werde als „Anspruch auf Beherrschung“ gelesen (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 169). Jakob Kaiser, der frühere CDU-Vorsitzende in der Sowjetischen Besatzungszone, hielt dem entgegen, dass man mit dem Begriff „Reich“ auch einen bedeutenden Grundsatz aufgebe. Es habe selbst „bei unseren bayerischen Freunden“ eine tiefe emotionale Bedeutung „in dieser trostlosen Zeit“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 170). Dieser Einwand wurde mit dem Argument zurückgewiesen, dass es ja nicht um die Erarbeitung einer endgültigen Verfassung, sondern um ein Provisorium gehe. Der Herrenchiemseer Entwurf hatte vom Bund Deutscher Länder gesprochen. Der spätere hessische Ministerpräsident, Georg-August Zinn, hat den Begriff „deutsche Republik“ vorgeschlagen, Theodor Heuss reklamierte die Formulierung Bundesrepublik Deutschland für sich (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 159ff.). Die Unsicherheit und die Meinungsverschiedenheiten über den Charakter des zu schaffenden staatlichen Gebildes zeigten sich auch in den langen und kontroversen Debatten über die Präambel des Grundgesetzes. Welche Fragen sollten angesprochen werden? Welches ist die Zielsetzung des Grundgesetzes, was soll mit ihm bewirkt werden? Welches sind die normativen Grundlagen des Grundgesetzes? Soll eine Invocatio Dei aufgenommen werden? Welche Haltung soll zur Fortexistenz Deutschlands eingenommen werden? Existiert es fort oder muss es neu geschaffen werden? Wo liegt die Quelle der zu errichtenden deutschen
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Erneuter Dissens über die Grundlagen der staatlichen Ordnung
Die Präambel des Grundgesetzes
Die Frage nach dem Souverän
Fragen der zukünftigen Staatsorganisation
Staatsgewalt – beim deutschen Staatsvolk oder bei den Ländern? Soll die Präambel das Vorläufige und den Übergangscharakter des Grundgesetzes hervorheben? Soll auf die historischen Entstehungsbedingungen bezug genommen werden? Soll ein gesamtdeutscher Auftrag und ein Anspruch auf stellvertretendes Handeln für die ostdeutsche Bevölkerung enthalten sein? Und schließlich, wie soll die Frage einer zukünftigen Vereinigung der beiden Teile Deutschlands und die sich daraus ergebenden konstitutionellen Konsequenzen, nämlich die Notwendigkeit einer gesamtdeutschen Verfassung angesprochen werden (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: XXX)? Die endgültige Fassung der Präambel des Grundgesetzes von 1949 enthält vier grundlegende normative Positionen. Mit der Formulierung „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ wird auf christliche und naturrechtliche Begründungen staatlicher Ordnung verwiesen, die der Verfassung vorausgehen und als konstitutiv für die demokratische Ordnung erachtet werden. Eine wichtige Rolle in den Beratungen des Parlamentarischen Rates spielte zweitens die Frage nach dem Staatsvolk, dem Souverän. Die Präambel verweist auf das in Länder gegliederte „Deutsche Volk“ und referiert damit nicht nur einen empirischen Tatbestand, nämlich die bereits existierenden, demokratisch verfassten deutschen Länder, sondern rekurriert auch auf den Aspekt einer bundesstaatlichen Ordnung. Dass nicht das gesamte deutsche Volk das Staatsvolk bilden konnte, war offenkundig. Um den gesamtdeutschen Anspruch deutlich zu machen, formuliert die Präambel eine Stellvertreterrolle des westlichen Teilsouveräns, auch für jene Deutschen gehandelt zu haben, „denen mitzuwirken versagt war“. Dritter Grundsatz ist die Betonung des Übergangscharakters („für eine Übergangszeit“) und die Aufforderung an das gesamte deutsche Volk „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Schließlich wird die Absicht bekundet, und implizit auch die Forderung erhoben, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Nicht nur die normativen Grundlagen, auch die Reichweite einiger Grundrechte und die Fragen der zukünftigen Staatsorganisation waren Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Die größten Meinungsverschiedenheiten bestanden bei folgenden Komplexen: x
x
x x
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Welche Funktion sollte dem Staatsoberhaupt zugewiesen werden? Sollten Elemente eines präsidentiellen Systems in der Tradition der Weimarer Republik wieder aufleben, oder sollte eine rein parlamentarische Ordnung gewählt werden? Angesichts der alliierten Vorgabe, einen föderalen Staat zu etablieren, spielte die Frage, welche Rolle die zweite Kammer in der Gesetzgebung spielen und welche Zusammensetzung sie haben sollte (Senat oder Bundesrat), eine wichtige Rolle für die Ausgestaltung der föderalen Ordnung. Umstritten war auch die Finanzverfassung, also die Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern und die Struktur der Finanzverwaltung. Massive Konflikte entstanden über die Forderungen der Kirchen, ein Elternrecht in den Grundrechtskatalog aufzunehmen und über die Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat.
Während bei den staatsorganisatorischen Fragen die Meinungsunterschiede oft quer zu den Parteilinien verliefen und häufig durch regionale Interessen und unterschiedliche historische Traditionen geprägt waren, kam es um die kirchlichen Forderungen zu scharfen ideologisch bestimmten Auseinandersetzungen zwischen CDU/CSU, Zentrum und Deutscher Partei auf der einen, SPD und FDP auf der anderen Seite. Es ging vorrangig um die Garantie der autonomen Rechte der Kirchen als öffentlich-rechtliche Institutionen, ihren Einfluss auf die weltanschauliche Gestaltung des Schulwesens, den Schutz von Ehe und Familie, den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. SPD und FDP opponierten auch gegen die von den katholischen Bischöfen geforderte Fortschreibung des Reichskonkordats von 1933 im Grundgesetz, da der Vatikan mit diesem Konkordat als erster das NSRegime hoffähig gemacht habe. Die weit reichenden Ansprüche der Kirchen, ihre Vorstellungen im Grundrechtskatalog verankert zu sehen, wurden z.T. dadurch abgewehrt, dass die Sozialdemokratie ihrerseits darauf verzichtete, wirtschaftliche und soziale Grundrechte zu verankern (Birke, 1994: 234ff.; Sörgel, 1985: 167ff.). Im Gegensatz zu den Kirchen hatten die Gewerkschaften die Vertretung ihrer Interessen implizit an die sozialdemokratischen Vertreter im Parlamentarischen Rat „delegiert“ und ihr gesellschaftliches Druckpotential nicht mobilisiert. Der SPD war aber aus grundsätzlichen Überlegungen nicht daran gelegen, das Grundgesetz mit Einzelregelungen zu überfrachten, da sie fürchtete, dass dies unter der Hand zu einer Regelung auf Dauer führen werde und den Charakter der Vorläufigkeit der neuen Ordnung in Frage stelle. Dies erschwerte es ihr, eine konsistente Position bezüglich der Hereinnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz zu entwickeln (Hartwich, 1977: 27ff.). Auch taktische Überlegungen über neue Gestaltungsmöglichkeiten nach einem erwarteten Wahlsieg mögen eine Rolle gespielt haben (v. Beyme, 1993: 40). Entscheidend aber war, dass weder die Maximalpositionen der CDU/CSU und der Kirchen noch die Forderungen der SPD und der Gewerkschaften nach einer grundlegenden Neugestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung eine qualifizierte Mehrheit finden konnten (Sörgel, 1985: 201ff.). Die neue Demokratie sollte über institutionelle Sicherungen gegen ihre Abschaffung im Rahmen der Verfassung verfügen. Eine streitbare und wehrhafte Demokratie sollte entstehen. Dabei haben die Erfahrungen mit den Notverordnungsregimen am Ende der Weimarer Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten Pate gestanden. Stabilität und Wehrhaftigkeit gegen antidemokratische Angriffe waren ein Leitmotiv, das die konkrete Gestaltung des Organisationsteils des Grundgesetzes durchzieht (Fromme, 1960: 164ff.). Weit gehende Einigkeit bestand auch darüber, der künftigen Ordnung eine dezidiert repräsentative Gestalt zu geben. Den unmittelbaren Äußerungen des Volkswillens gegenüber hegte man, von regulären Wahlen abgesehen, eine gesunde Skepsis – die Erinnerung an die plebiszitäre Zustimmung des deutschen Volkes zum Nationalsozialismus in den 1930er-Jahren war noch zu frisch. Diese Skepsis ging sogar so weit, dass man die Abstimmung über das Verfassungsdokument entgegen dem Vorschlag der Alliierten nicht einer Volksabstimmung überantworten wollte.
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Streit um die Rolle der Kirchen und die Verankerung christlicher Werte im Grundgesetz
Verzicht auf soziale Grundrechte
Wehrhafte Demokratie
Entscheidung für eine repräsentative Ordnung
Das Problem weiterbestehender alliierter Vorbehalte
Zu den Meinungsunterschieden innerhalb des Parlamentarischen Rates kamen massive Interventionen der Alliierten erschwerend hinzu. Sie gefährdeten gegen Ende der Verhandlungen die zwischen den Parteien erreichten, mühsam gefundenen Kompromisse. Unter anderem suspendierten die Alliierten im Mai und Juni 1949 die Aussagen des Grundgesetzes über Berlin, was dazu führte, das Berlin (West) bis 1990 nicht vom Bund regiert werden durfte und Berliner Abgeordnete nicht direkt gewählt wurden, sondern vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag entsandt wurden und dort kein volles Stimmrecht hatten. Völlige Unsicherheit bestand darüber, welche Regelungen ein zukünftiges Besatzungsstatut enthalten werde, d.h. welches Maß an Eigenständigkeit dem neuen staatlichen Gebilde zuerkannt werden würde. Diese Frage war aber insofern von großer Bedeutung, als die deutschen Politiker alles vermeiden mussten, um als bloße Handlanger der Alliierten zu erscheinen. Für die Legitimität der neuen politischen Ordnung war entscheidend, welchen Einschränkungen der Souveränität sie auch zukünftig unterworfen sein würde. Verschiedene Interventionen der Alliierten verstärkten den Legitimationsdruck auf die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, als Vertreter deutscher Interessen akzeptiert zu werden. Der Parlamentarische Rat betrachtete sich als durch die Bevölkerung der Länder demokratisch legitimiert und leitete seine Vollmachten nicht nur aus dem Auftrag der Besatzungsmächte her (zu daraus entstehenden Protokollproblemen vgl. Benz, 1989: 215). Als der Parlamentarische Rat den Entwurf des Grundgesetzes Anfang März 1949 den Alliierten zur Zustimmung vorlegte, geriet die Arbeit an der Verfassung in eine ernste Krise. In acht Punkten, wovon die beiden wichtigsten die Finanzverfassung und die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern waren, verlangten die Besatzungsmächte Veränderungen. Nach zähen Verhandlungen machten die Alliierten in der Frage der Finanzverfassung und der Gesetzgebungskompetenzen Kompromisse und übermittelten dem Parlamentarischen Rat am 22. April eine schon am 8. April von den Außenministern in Washington beschlossene moderatere Stellungnahme. Schon zwei Tage später wurde ein Kompromiss im Parlamentarischen Rat von den Alliierten akzeptiert. Verabschiedung des Am 5. und 6. Mai beendete der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates Grundgesetzes in vierter Lesung die Arbeit am Verfassungstext. Am 6. Mai fand im Plenum die 2. Lesung, am 8. Mai 1949, also genau fünf Jahre nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, die abschließende dritte Lesung und die Schlussabstimmung statt. Das Grundgesetz wurde mit 53 Stimmen gegen 12 Neinstimmen verabschiedet. Mit Nein stimmten je zwei Abgeordnete des Zentrums, der Deutschen Partei und der KPD und sechs von acht CSU-Abgeordneten. Die Alliierten genehmigten das Grundgesetz am 12. Mai, formulierten in ihrem Genehmigungsschreiben an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, allerdings einige Vorbehalte. Die Genehmigung erfolgte unter dem Generalvorbehalt des Besatzungsstatuts, das gleichzeitig mit dem Grundgesetz in Kraft trat und das weniger Einschränkungen als erwartet enthielt. Einzelvorbehalte galten den Polizeibefugnissen, der Beteiligung Berlins am Bund und dem Vollzug der Art. 29 und 188 (Ländergrenzen). Am 18., 20. und 21. Mai billigten 10 Landtage der Länder – nicht wie ursprünglich vorgesehen, die Wähler – das Grundgesetz. Der Bayerische Landtag lehnte mehrheitlich (101 gegen 63 Stimmen) eine Ratifizierung ab, beschloss aber mit 97 Stimmen gegen
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70 Enthaltungen (der SPD und FDP) und 6 Neinstimmen, das Grundgesetz als rechtsverbindlich für Bayern anzuerkennen, wenn es von zwei Dritteln der übrigen Länder angenommen sei (Benz, 1989: 225ff.). In einer feierlichen Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausgefertigt und verkündet. Das Grundgesetz, das als provisorische verfassungsrechtliche Grundlage ge- Vorbildwirkung des dacht war, überlebte 40 Jahre Bundesrepublik und mutierte nach 1990 mit ge- Grundgesetzes ringfügigen Änderungen zur Verfassung des wiedervereinten Deutschlands. Aber nicht nur das: Das Grundgesetz diente in den folgenden Jahrzehnten vielen Ländern, die eine Diktatur abgeschüttelt hatten und nach einer tragfähigen Grundlage für ihre neue demokratische Ordnung suchten, als Blaupause oder Steinbruch für eigene verfassungsrechtliche Überlegungen. Anregungen des Grundgesetzes sind u.a. in der demokratischen Verfassung Spaniens von 1978, in einigen Verfassungen Mittel-Osteuropas nach 1990 und in der neuen Verfassung Südafrikas wiederzufinden. Was macht die Attraktivität dieses „provisorischen“ Verfassungstextes für postdiktatorische Regime aus (Glaeßner, 1994: 207ff.)? Es ist zum einen sicher der Grundrechtskatalog und vor allem die rechtliche Stellung der Grundrechte, zum anderen aber das ausgewogene Verhältnis von parlamentarisch-demokratischen Prinzipien und der Sicherung der Regierungsfähigkeit. Und schließlich ist das System von „checks-and-balances“ zu nennen, das einem Missbrauch von Macht konstitutionelle Riegel vorschiebt.
6.3
Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes
Der Verfassungsgeber in den drei westlichen Besatzungszonen, aus denen die Bundesrepublik Deutschland entstehen sollte, stand vor einem in der neueren Verfassungsgeschichte einmaligen Problem. Auf wen konnte er sich als legitime Quelle berufen? Das Deutsche Reich hatte am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert. Die Staatsgründung war nur für einen Teil Deutschlands vorgesehen. Die Deutschen lebten unter einem Besatzungsregime. Wesentliche verfassungspolitische Weichenstellungen wurden von den westlichen Alliierten vorgegeben. Die Alliierten hatten die höchste rechtliche und politische Gewalt inne. Gleichwohl ging die, nach langer und kontroverser Debatte, verabschiedete Präambel des Grundgesetzes davon aus, dass „das Deutsche Volk in den Ländern ..., um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen“ habe. Dieser Aussage lag eine Reihe von rechtlichen und politischen Überlegungen zu Grunde. Der Verfassungsgeber vertrat die Ansicht, dass die Teilstaatsgründung Deutschland staatlich nicht neu konstituiere. Das Deutsche Reich war – nach der Meinung der Mehrheit der Teilnehmer des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee – „als Staat und Rechtssubjekt nicht untergegangen, sondern lediglich desorganisiert und seiner Geschäftsfähigkeit beraubt worden.“ Es gehe
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Die Teilstaatsgründung und das Problem der staatsrechtlichen Kontinuität
Die Identitätsthese des Herrenchiemseer Konvents
Die Rolle der Länder
jetzt darum, es neu zu organisieren, wenn auch unter Beschränkung auf seine westlichen Gebiete. In diesem Zusammenhang wurde auf die Rekonstitution der IV. Republik in Frankreich nach dem Kriege und auf die internationale Judikatur in Bezug auf die Identität der 1919 neu entstandenen Republik Polen mit dem alten Kongresspolen verwiesen (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 509). Diese rechtliche Sichtweise, die später zur herrschenden Meinung in der Staatsrechtslehre wurde, hatte aber eine Reihe schwer wiegender politischer und politisch-moralischer Konsequenzen. 1945 hatte keine Revolution stattgefunden wie im Jahre 1918, in deren Verlauf die alte monarchische Ordnung durch eine Republik ersetzt worden war. Aber auch bei einer, wie auch immer vorgestellten rechtlichen Fortexistenz des Deutschen Reiches musste und sollte der Bruch mit dem untergegangenen nationalsozialistischen Staat eindeutig und unmissverständlich sein. Ein Anknüpfen an die politische Ordnung der Demokratie von Weimar wäre zwar möglich gewesen, deren ruhmloser Untergang und politische Selbstaufgabe in den Jahren 1932 („Preußenschlag“) und 1933 hätte aber zur Legitimierung einer neuen politischen Ordnung wenig beitragen können. Die neue Ordnung konnte letztlich nur aus sich selbst heraus legitimiert werden. Auf dem „Herrenchiemseer Konvent vertrat die Mehrheit der Mitglieder die Identitätsthese. Danach lag „die konstitutive Gewalt originär bei dem Volke dieses Gebietes, das in seiner Gesamtheit sein ,Staatsvolk‘ ist.“ Dieses Staatsvolk sei aber keine ungegliederte Masse, sondern in Länder gegliedert, „so daß die Neuorganisation durch das Volk von dem in Ländern gegliederten Volk des neu zu organisierenden Gebietes auszugehen hat“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 509). Eine Minderheit vertrat die Meinung, dass Deutschland ebenso wie die deutschen Länder auf Grund der 1945 erfolgten Debellation aufgehört habe, als staatliche Wirklichkeit zu bestehen, sodass es nicht nur neu organisiert, sondern neu konstituiert werden müsse. „Der neu zu schaffende Staat ist nicht der Rechtsnachfolger der Weimarer Republik“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, 1981: 510f.). Zur vorherigen Staatlichkeit bestand nach dieser Auffassung kein rechtliches Band. Da inzwischen Länder entstanden seien, könne die neue Verfassung mangels eines organisierten Staatsvolkes nicht durch ein „Deutsches Volk“, sondern nur durch die Länder als in sich geschlossene Rechtssubjekte geschaffen werden. Über die Frage, ob die Bundesrepublik rechtlich „Nachfolgerin“ des Deutschen Reiches oder mit ihm identisch sei, hat es in den folgenden Jahrzehnten eine kontroverse Diskussion gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen, unter anderem zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972 die Identitätsthese vertreten, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik zugleich nur „teilidentisch“ sei, weil der Gestaltungsbereich des Grundgesetzes sich nur auf einen Teil des Staatsgebietes und des Staatsvolkes erstrecke (BVerfGE 5, 85: 126ff.; 36, 1: 18ff.; 77, 137: 149ff.). Hinter diesem rechtsdogmatischen Streit verbargen sich ein Legitimationsund Kompetenzproblem. Das Kompetenzproblem ergab sich aus der Entschei-
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dung darüber, wer die konstitutive Gewalt darstelle: das wenngleich in Länder gegliederte Staatsvolk oder die Länder. Die Frage nach der Legitimität der neuen staatlichen Ordnung war angesichts der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches, dessen rechtliches „Erbe“ die Bundesrepublik antrat und angesichts der Tatsache, dass hier eine Separatstaatsgründung vorgenommen wurde, von höchster Brisanz. Alle Beteiligten am Prozess der Verfassungsgebung waren sich darin einig, dass nur eine politische Ordnung Legitimität beanspruchen könne, die auf den Prinzipien der Volkssouveränität und der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde und der bürgerlichen Freiheiten gründe. Dies umso mehr, als nur ein Teil des Staatsvolkes, sei es direkt durch eine verfassungsgebende Versammlung und ein Verfassungsreferendum, sei es, wie geschehen, nur indirekt an diesem Prozess beteiligt war. Es war freilich mehr als eine rechtstheoretische Frage, ob eine politische Ordnung, die unter den Bedingungen des Besatzungsrechts zu Stande kam, diesen Legitimitätsanspruch erheben konnte. Alles hing davon ab, dass es gelang, diesen neuen Versuch, eine demokratische Ordnung zu schaffen, auf ein sicheres Fundament zu stellen. Dazu bedurfte es mehr als einer Verständigung auf die formale Organisation und Kompetenzverteilung politischer Institutionen, vielmehr wurde ein Basiskonsens über die normativen Grundlagen benötigt, auf denen die neue Ordnung errichtet werden sollte. Dem Grundgesetz liegt die Idee zu Grunde, dass ein demokratisches Ge- Das Grundgesetz als meinwesen nur bestehen kann, wenn es sich auf gemeinsame Grundnormen ver- politisches Programm ständigt und Institutionen einrichtet, die die Macht des Staates begrenzen und rechtlich binden. Diese Idee des modernen Konstitutionalismus (Lane, 1996: 50ff.) lässt sowohl verschiedene konkrete Formen der Ausgestaltung dieser Grundnormen – in Form von Grundrechten – als auch unterschiedliche institutionelle Arrangements zu. Als Staatsform hat der Grundgesetzgeber sich für ein parlamentarischrepräsentatives System entschieden, das dem unmittelbaren Zugriff der Bürger auf politische Entscheidungsprozesse enge Grenzen setzt. Das Übergewicht des repräsentativen Prinzips zu Ungunsten unmittelbarer politischer Willensbildung war eine der Lehren aus Weimar, die der Verfassungsgeber 1948/49 gezogen hat. Es bestand eine große Abneigung, plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz einzubauen. Einzige Ausnahme ist der Artikel 29 GG, der zwingend einen Volksentscheid bei der Neugliederung der Bundesländer vorschreibt. Dieses Misstrauen galt dem gleichsam „ungeordneten“, leicht manipulierbaren Volkswillen. Demokratie als politisches Prinzip fragt nach der Umsetzung des politischen Willens der Bürger. Hier weist das Grundgesetz – in bewusster Abkehr von tradierten Vorstellungen – dem organisierten und institutionalisierten Volkswillen erhebliche Kompetenzen zu: durch die grundrechtlich verankerte Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des Art. 9 GG und das sogenannte „Parteienprivileg“ in Art. 21 GG. Das Spannungsverhältnis zwischen der prinzipiell unbegrenzten Souveränität des Volkes, mit Mehrheit zu entscheiden und der konstitutionellen und rechtlichen Begrenzung dieser Macht, um Demokratie institutionell überhaupt erst
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möglich zu machen, ist strukturell nicht aufzuheben (Dahl, 1956; 1989). Alle Vorkehrungen sind fragil und – zumal in gesellschaftlichen Krisen – gefährdet. Bestimmung der Der Parlamentarische Rat hat im Grundgesetz eine Reihe von EntscheidunStaatsform der gen getroffen, die die spezifische Staatsform der Bundesrepublik dauerhaft festBundesrepublik schreiben, also auch gegenüber Veränderungen von Mehrheiten immunisieren. x x x x x Leitprinzipien des Grundgesetzes
Die Entscheidung für ein parlamentarisches System anstatt eines präsidentiellen oder semipräsidentiellen Systems wie in der Weimarer Republik; Der Einbau von Sicherungen gegen „negative Mehrheiten“ in Art. 67 GG – konstruktives Misstrauensvotum; Die Betonung des Prinzips der Repräsentation anstelle der Partizipation, insbesondere direkt-demokratischer Elemente; Die partielle Revision dieses Prinzips durch die verfassungsrechtliche Verankerung der Parteien; Die (von den Alliierten geforderte) Festlegung auf ein föderales System statt eines unitarischen Einheitsstaates.
Die programmatische Dimension des Grundgesetzes kommt vor allem in bestimmten Leitprinzipien zum Ausdruck, die in den Artikeln 20, 24 und 28 formuliert worden sind: Art. 20 Abs. 1 GG bezeichnet die Bundesrepublik als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“, während Art. 28 Abs. 1 GG davon spricht, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes“ entsprechen müsse. Art. 20 Abs. 2 GG verankert die Gewaltenteilung, der dritte Absatz das Rechtsstaatsprinzip. In Art. 24 GG wird die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen zugelassen. Hinzuzuzählen ist der nach der deutschen Einheit hinzugefügte neue Art. 23 GG, der die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Union ausdrücklich zulässt. Die Mitwirkung der Bundesrepublik bei der Entwicklung der EU ist allerdings an einen bestimmten normativen Rahmen gebunden; die Union muss den „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet [sein] und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz“ gewährleisten (Art. 23, Abs. 1 GG). Damit formuliert das Grundgesetz sechs konstitutive Leitprinzipien: Das republikanische Prinzip, das Bundesstaatsprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip, das Demokratieprinzip und das Prinzip des partiellen Souveränitätsverzichts2
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In der Literatur finden sich leicht unterschiedliche Systematisierungen, die in erster Linie mit der Interpretation des Begriffs „sozialer Rechtsstaat“ in Art. 28 Abs. 1 GG zu tun haben; vgl.: K. Hesse, 1991: 51ff. und 110ff.; v. Arnim 1984: 67 ff.; Böhret u. a., 1988: 97ff.; Benda, 1989: 457 ff. Der wichtige Aspekt des verfassungsrechtlich legitimierten Souveränitätsverzichts wird in den angeführten Systematisierungen nicht einbezogen.
6.3.1 Die Bundesrepublik Deutschland als republikanische politische Ordnung Die Weimarer Reichsverfassung hatte in Artikel 1 kurz und klar formuliert: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das Grundgesetz kennt keine ähnliche Formulierung. Es erwähnt das Republikprinzip eher indirekt in Art. 28 Abs. 1 GG, wo von den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ die Rede ist, und es setzt in Art. 20 Abs. 1 GG implizit die republikanische Staatsform für den Bund voraus. Die Kennzeichnung der Bundesrepublik als eine republikanische politische Ordnung knüpft an die Bedeutung von Republik als Verfassungsstaat an und schließt andere demokratische Staatsformen wie eine konstitutionelle Monarchie britischen oder skandinavischen Musters aus. Verfassungsmäßigen Ausdruck findet dieses Prinzip auch in dem vom Parlamentarischen Rat gewählten Begriff „Bundesrepublik Deutschland“ (Isensee, Art.: Republik, in: Staatslexikon: Sp. 882ff.; W. Henke, Art.: Die Republik, HdBStR I, § 21). Der Verzicht auf eine explizite Erwähnung des Republikprinzips hatte 1949 damit zu tun, dass das dahinter liegende konstitutionelle Problem nicht mehr relevant war. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 musste diese verfassungsmäßige Normierung noch gegen monarchische Ansprüche behaupten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand eine wie auch immer geartete Rückkehr zur Monarchie nicht zur Debatte. Gleichwohl ist das republikanische Prinzip – obwohl nur indirekt erwähnt – im Gefüge des Grundgesetzes als unaufhebbar festgeschrieben. In einem weiteren Sinne bedeutet Republik „res publica“. Alle öffentliche Gewalt ist auf das Gemeinwesen zurückzuführen und hat ihm zu dienen. Dies verweist auf die Republik als einer Bürgergesellschaft, nicht auf eine Gesellschaft von Untertanen. Eine solche Republik der Bürger bedarf sowohl bestimmter vereinbarter Grundwerte und institutioneller Sicherungen gegen die mögliche Willkür von mit Herrschaftsfunktionen beauftragten Institutionen und Gruppen als auch der Anerkennung republikanischer, auf das Gemeinwesen orientierter Bürgertugenden. Daher überschneiden sich die Inhalte des Prinzips der Republik im ursprünglichen, weiteren Sinne im Grundgesetz „mit denen der Demokratie und des Rechtsstaates, mit denen sie sich geschichtlich verbunden haben und in die sie heute weithin eingegangen sind. Namentlich in den Gedanken des ,gemeinen Wesens‘ und der Verpflichtung der Regierenden auf die salus publica behält jedoch das republikanische Element auch innerhalb dieser Ordnung die Bedeutung eines positiven Leitprinzips“ (K. Hesse, 1991: 52).
Republik als Verfassungsstaat
Republik als „res publica“
6.3.2 Das Prinzip des Bundesstaates – Der Föderalismus Die Entscheidung für die Republik als Staatsform lässt verschiedene Möglich- Unitarischer keiten der Staatsorganisation offen. Sie kann sich als unitarischer Einheitsstaat Einheitsstaat versus Föderalstaat oder als föderales Gebilde konstituieren. Die erste Variante repräsentiert die
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Argumente für einen föderalen Staat
Eigenständigkeit und Eigeninteressen der Länder
Französische Republik seit der revolutionären Verfassung von 1793, wobei die Zentralstaatsvorstellungen ihre historischen Wurzeln im Absolutismus haben. Deutschland kennt diese Tradition nicht. Es bestand vor dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 aus einer Vielzahl Territorien unterschiedlichster Rechtsnatur (weltliche, geistliche, freie Reichsstädte und reichsunmittelbare Gebiete), es kannte bündische Zusammenschlüsse (Rheinbund) und Staatenbünde (Norddeutscher Bund) und schließlich einen Bundesstaat, das Deutsche Reich von 1871. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 schuf zwar eine bundesstaatliche Ordnung, diese trug aber stark unitarische Züge und übertrug der Reichsgewalt erhebliche Eingriffs- und Notstandskompetenzen, die 1932/33 wesentlich zu ihrem Niedergang beigetragen haben (Vogel 1983: 811ff.). Über die bundesstaatliche Natur der neu zu gründenden Bundesrepublik konnte angesichts dieser Vorgeschichte und der eindeutigen Vorgaben der Alliierten und der bereits erfolgten Restituierung der Länder kein Zweifel bestehen. Die bundesstaatliche Ordnung und die Eigenständigkeit der Länder wurden zu einem zentralen Gestaltungsprinzip der politischen Ordnung der Bundesrepublik. Für das Bundesstaatsprinzip wird meist mit historischen Argumenten geworben. Länder, die keinen unitarischen Zentralstaat kannten und/oder im Verlauf der Nationalstaatsbildung aus kleineren staatlichen Einheiten zusammengewachsen sind, Staaten, in denen diese historischen Einheiten noch eine Bedeutung für das Leben der Menschen haben und ihre kollektive Identität prägen, seien, so lautet das Argument, prädestiniert für bundesstaatliche, föderative politische Ordnungen. Jeder Versuch einer Zentralisierung sei problematisch, wenn nicht tendenziell einheitsgefährdend. Historische Erfahrung spricht dafür, dieses Argument sehr ernst zu nehmen, vor allem dann, wenn religiöse und ethnische Aspekte im Spiel sind. Es gibt ein weiteres, demokratietheoretisches Argument für die föderative Gestaltung einer politischen Ordnung. Ein Bundesstaat stellt institutionalisierte Formen der Einbeziehung der Opposition in die demokratische Ordnung auf der Ebene der Gliedstaaten einer Föderation, der Differenzierung und regionalen Diversifizierung des Parteien- und Verbandssystems und der Zuweisung von Entscheidungskompetenzen an kleinere staatliche Einheiten zur Verfügung, die sowohl eine machthemmende Funktion haben als auch eine funktionale Ausdifferenzierung staatlicher Aktivitäten erlauben (K. Hesse, 1991: 111; Böhret u.a., 1988: 98). Schließlich gibt es das funktionale Argument, dass der Föderalismus eine sinnvolle politische Organisationsform sei, weil er besser als ein Einheitsstaat die Ausdifferenzierung und Ausweitung staatlichen Handelns in großen Flächenstaaten bewältigen könne. Es waren vor allem die historischen Argumente, die Existenz der Länder und der dezidierte Wille der Alliierten, keinen deutschen Zentralstaat zuzulassen, welche die Entscheidung zu Gunsten eines föderalen Systems bestimmten. Beauftragt von den Alliierten hatten die Ministerpräsidenten der Länder einen entscheidenden Einfluss auf die Diskussion um die zukünftige staatliche Ordnung. Einige der Länder (Bayern, Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und die Hansestädte Hamburg und Bremen) hatten eine lange geschichtliche Tradition, andere, die sich z.T. noch im Aufbau befanden (Hessen,
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Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) waren alliierte „Kunstgründungen“. Alle aber hatten bereits ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt und waren nicht ohne weiteres bereit, ihre durch die Nachkriegssituation gewonnene Selbständigkeit aufzugeben. Insbesondere Bayern hielt an seiner Eigenstaatlichkeit fest und forderte einen betont föderativen Charakter der neuen Verfassung. Folgerichtig stimmte der bayerische Landtag dem Grundgesetz als einziger nicht zu. Das Grundgesetz hat den Föderalismus zu einem zentralen, nicht korrigierbaren Tragpfeiler der politischen Ordnung der Bundesrepublik gemacht. Die Entscheidung für ein föderales System hatte historische, pragmatische und demokratietheoretisch begründete Ursachen. Historisch ist Deutschland nie ein Einheitsstaat gewesen. Weder hat die Auseinandersetzung der Stände mit dem Monarchen wie in England zur Konstituierung eines Parlaments als Nukleus eines Staatsverbandes noch die Herrschaft des Absolutismus und später die Revolution zur Entwicklung eines Nationalstaates geführt. Die Reichsverfassung vom 28. März 1849 („Paulskirchenverfassung“) sah eine föderale Gliederung vor: Die „Vertreter der deutschen Staaten“ sollten im „Staatenhaus“ (§ 86), die „Abgeordneten des deutschen Volkes“ im „Volkshaus“ (§ 93) die zwei Häuser des Reichstages bilden (§ 85). Das Deutsche Reich war ein „ewiger Bund“ der Fürsten, „der den Namen Deutsches Reich führen“ werde, so formulierte es die Reichsverfassung vom 16. April 1871. Das Bundesgebiet bestand aus Staaten – an ihrer Spitze Preußen (Art. 1), das im Bundesrat, der aus Vertretern der Mitglieder des Bundes bestand, 17 von 58 Stimmen hatte, während kleine Länder, wie Schwarzburg-Rudolstadt oder Waldeck nur über eine Stimme verfügten. Der Reichstag ging aus allgemeinen und direkten Wahlen hervor. Die Weimarer Reichsverfassung konstituierte in Art. 1 das Deutsche Reich als Republik. Das Reichsgebiet bestand „aus den Gebieten der deutschen Länder“ (Art. 2 WRV). Sie sah eine föderale Struktur vor, in der „Reichsangelegenheiten durch Organe des Reichs aufgrund der Reichsverfassung, ... Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder aufgrund der Landesverfassungen ausgeübt“ wurden (Art. 5 WRV). Was Reichs- und was Bundesangelegenheiten waren, regelte ein detaillierter Katalog der Gesetzgebungskompetenzen des Reiches (Art. 6-12 WRV) und der Länder. Dabei wurde zwischen ausschließlicher (Art. 6 WRV), konkurrierender (Art. 7 WRV) und Rahmengesetzgebung (Art. 10 WRV) unterschieden. Das Grundgesetz hat die föderale Tradition nicht nur fortgesetzt, sondern als unabänderliches Strukturmerkmal der Verfassungsordnung festgeschrieben. Die Präambel spricht davon, dass „das Deutsche Volk in den Ländern“ das Grundgesetz beschlossen habe und Art. 79 Abs. 3 GG verbietet jede Änderung des Grundgesetzes, „welche die Gliederung der Länder“ und „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung“ berührt. Ein entscheidendes Argument für eine föderale Ordnung war demokratietheoretisch motiviert: Nur der Nationalsozialismus hatte einen deutschen Einheitsstaat geschaffen. Der Föderalismus sollte – neben den Prinzipien der „wehr-
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Tradition föderaler Ideen in der deutschen Verfassungsgeschichte
haften Demokratie“ – ein Bollwerk gegen Machtakkumulation und ein Instrument der Machtdispersion zur Verfügung stellen. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass auch die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 eine föderale Ordnung mit einer (nie eingerichteten) Länderkammer vorsah, die 1952 mit der Gründung der Bezirke auch formal aufgehoben wurde.
6.3.3 Das Rechtsstaatsprinzip Umstrittener Rechtsstaatsbegriff
Der Rechtsstaatsbegriff ist umstritten. Im Grundgesetz taucht er eher versteckt im Zusammenhang mit dem „Homogenitätsgebot“ der Art. 28 Abs. 1 GG auf. Er wird sogar gelegentlich als „Leerformel“ oder „Begriffshülse“ bezeichnet (Münch, 1994: 169). Aus der Abgrenzung gegenüber dem Verwaltungsstaat des Absolutismus (in der damaligen Terminologie „Polizeystaat“) und der Zuneigung zum liberalen Verfassungsstaat entstanden, bezeichnete das Rechtsstaatsprinzip rechtlich gebundene Herrschaft, die allein als legitim erachtet wird. In ähnlicher Weise wurde der Rechtsstaatsbegriff in der jüngsten Geschichte in Abgrenzung zum nationalsozialistischen „Maßnahmestaat“ (Ernst Fraenkel) und zum Staat der „Diktatur des Proletariats“ verwendet. Merkmale des Vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte, aber auch in der Rechtsstaats zentraleuropäischen Tradition des Staatsdenkens hat das Grundgesetz dem Rechtsstaatsprinzip eine zentrale Rolle zugewiesen. Es hat nach übereinstimmender Auffassung in der Bundesrepublik bestimmte Merkmale (Münch, 1994: 179f.): x x x x x x x x
Grundrechte Der Vorrang der Verfassung Das Prinzip der Gewaltentrennung Die Bindung aller staatlichen Gewalten an die Verfassung Die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Recht und Gesetz Der Grundsatz der Rechtssicherheit Vertrauensschutz in den Bestand der Rechtsnormen und Beschränkung der Rückwirkung von Gesetzen Die Möglichkeit richterlicher Kontrolle und die Unabhängigkeit der Justiz.
Der Gesetzgeber ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), er kann sich bei seiner Gesetzgebung nicht über die Normen der Verfassung hinwegsetzen. Das heißt, dass in der Normenhierarchie der Verfassung der oberste Rang eingeräumt wird. Im Konflikt zwischen dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsherrschaft und den Interessen von Minderheiten, abweichenden Meinungen, Gruppenrechten, föderalen Strukturen oder dem Prinzip der Gewaltenteilung obsiegt die Doktrin des Konstitutionalismus und das aus ihr abgeleitete Rechtsstaatsprinzip (Lane, 1996: 243ff.; Guggenberger/Offe, 1984). Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Recht und Gesetz gebunden (Gesetzesvorrang). Staatliche Handlungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Gewaltenteilung und Das Prinzip der Gewaltenteilung trennt Legislative, Exekutive und JudikatiGewaltenver- ve – allerdings nicht in der auf Charles Baron de Montesquieu zurückgehenden schränkung
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klassischen Form einer völligen Trennung. Vielmehr „soll gerade die Verschränkung und in vielfältigen Formen durchgeführte gegenseitige Kontrolle der einzelnen Träger der Staatsgewalt Korrekturen von Fehlentwicklungen und insgesamt Mäßigung der Staatsmacht bewirken“ (Benda, 1989: 461). Staatliche Macht muss berechenbar sein. Rechtssicherheit und Rechtsschutz sind dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Vertrauensschutz bedeutet, dass jeder sich darauf verlassen kann, dass einmal gesetztes Recht gilt (Rückwirkungsverbot) und nur auf dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Weg verändert werden kann. Weit gehende Einigkeit besteht darüber, dass das Grundgesetz das Rechtsstaatsprinzip nicht, wie die konservative deutsche Staatsrechtslehre, als nur formales Prinzip auffasst, sondern dass es, worauf die Formel vom „sozialen Rechtsstaat“ in Art. 28 Abs. 1 GG hindeutet, auch bestimmte materielle Grundelemente enthält. „Erst in der Verbindung von Form und konkretem Inhalt wird die Eigenart der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes erkennbar“ (K. Hesse, 1991: 80). Welches die konkreten Inhalte seien, insbesondere, was die soziale Dimension des Rechtsstaates ist und wie weit sie greift, darüber gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Aber selbst wenn es darüber eine Übereinkunft gäbe, wäre sie nicht von Dauer, denn das materiale Element, nämlich die Gerechtigkeit muss immer wieder hergestellt und neu justiert werden. „Rechtsstaatlichkeit ist deshalb – und diese Eigenart teilt sie mit den übrigen Strukturprinzipien des Art. 20 GG – zugleich Zustand und Staatsziel“ (Ipsen, 1991: 235). Im Zusammenhang mit dem Problem sozialer Gerechtigkeit wachsen dem Staat neue Aufgaben zu, die Roman Herzog als „Rechtsstaatlichkeit der zweiten Dimension“ bezeichnet hat (Herzog, 1971: 79f.). Sozialer Rechtsstaat in dieser Vorstellung bedeutet, dass der Staat nicht nur für sozialen Ausgleich, sondern – in völlig neuer Weise – für die Sicherung von Freiheit und Menschenwürde zu sorgen habe. Beide Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis. Der Rechtsstaat hat die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu wählen und zu entscheiden, „ob alte Werte zu Gunsten neuer Chancen aufgegeben werden sollen“. Herzog geht sogar so weit, ihm eine moralische Rolle zuzuweisen: er könne nicht mehr nur Vollstrecker gesellschaftlicher Tendenzen sein, sondern müsse „das bessere Gewissen der Gesellschaft werden“ (Herzog, 1971: 144). Zwischen Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip besteht ein Spannungsverhältnis. Auf eines der potentiellen Konfliktfelder macht Ernst Benda aufmerksam: „Legitime Herrschaft ist rechtlich gebundene Herrschaft“ (Benda, 1989: 460). Aber auch in der Demokratie kann materielles Unrecht unter Wahrung rechtsstaatlicher Formen geschehen. Die Ergebnisse rechtsstaatlicher Verfahren können als „ungerecht“ oder als „unfair“ angesehen werden und die Akzeptanz des Rechtsstaatsprinzips gefährden. Verfassungsordnungen werden auf Dauer nur als legitim erachtet, wenn sie als „gerecht“ empfunden werden. Jede gerechte Verfassung muss formale Verfahren und rechtliche Normen, also Rechtsstaatlichkeit, garantieren, sie kann sich aber nicht darin erschöpfen (Lane, 1996: 239). Formeln wie die vom „demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ in Art. 28 Abs. 1 GG lassen sich in zweifacher Weise lesen - als Tatsachenbehauptung oder als Aufgabe, konfligie-
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Rechtssicherheit und Rechtsschutz
Die Formel vom sozialen Rechtsstaat
rende Normen und Interessen in einem politischen Gemeinwesen im Rahmen allgemein akzeptierter Verfahren auszutragen. Eine Position, die das Rechtsstaatsprinzip verabsolutiert, negiert den Auftrag an die demokratische Ordnung, als gerecht empfundene Verhältnisse zu schaffen. Der Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit hat noch immer in einer Diktatur geendet.
6.3.4 Das Sozialstaatsprinzip
Streit um den materiellen Inhalt des Sozialstaatsprinzips
Der Sozialstaat als Staatsziel
Das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG gehört zu den tragenden Verfassungsprinzipien, die jeder Verfassungsänderung entzogen sind. Es ist auch in Landesverfassungen verankert, als Beispiele seien die baden-württembergische Verfassung, Art. 23 Abs. 1, die Bayerische Verfassung, Art. 3, oder die Saarländische Verfassung, Art 60 genannt. Über Umfang, Bedeutung und Inhalt gab und gibt es keine allgemeine Übereinkunft, obwohl eine umfangreiche Rechtsprechung, insbesondere auch des Bundesverfassungsgerichts, die anfänglich leere Formel materiell angereichert hat. Während es in den 1950er-Jahren noch darum ging, grundsätzliche Richtungsentscheidungen politisch und rechtlich zu untermauern, geht es heute vor allem um die Frage, welchen materiellen Umfang ein allgemein anerkanntes Grundprinzip haben soll. Die konservative Staatsrechtslehre (Forsthoff, 1968) interpretierte Sozialstaatlichkeit lediglich im Sinne einer sozialen Korrektur des Bestehenden. Vertreter der politischen Linken, wie Wolfgang Abendroth (Abendroth/u.a., 1977), sahen – mit Verweis auf die Kontroversen im Parlamentarischen Rat, der sich nicht auf gemeinsame Wertvorstellungen habe einigen können – in der Sozialstaatsklausel eine Formel, die auch eine sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik ermögliche. Die Formulierung „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ bzw. „sozialer Rechtsstaat“ drücke eine Zielbestimmung aus, die es erlaube, mit demokratischen Mitteln die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verändern. Ursprünglich war die Sozialstaatsklausel in der Tat weit gehend ein FormelKompromiss. Erst im Verlauf einer kontroversen Diskussion und umfangreicher Rechtsprechung hat sich eine gewisse Übereinkunft über Grundprinzipien von Sozialstaatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes herausgebildet, mehr im Sinne einer vagen Zielbestimmung denn einer Übereinkunft über die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaates. Dies bedeutet nicht, dass die Meinungsverschiedenheiten über die Reichweite des Sozialstaatsprinzips beseitigt wären, vielmehr gewann die Kontroverse seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre angesichts der völlig veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wieder an Schärfe. Nicht vorauszusehen war 1949, dass die Ausgestaltung dieses Prinzips auch auf supranationaler und völkerrechtlicher Ebene erfolgen und damit die innere Ordnung der Bundesrepublik wesentlich beeinflussen werde (vgl. u.a. EG-Vertrag i. d. F. vom 24.12.2002 Titel XI; Amtsblatt EG C 325/92 ff.). Heute besteht in der Staatsrechtslehre und politischen Wissenschaft weitgehend Einvernehmen darüber, dass das Sozialstaatsprinzip verbindlich ein Staatsziel festlegt und eine „rechtsnormative Aussage über Zweck und Sinn des Staa-
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tes“ darstellt. Die Sozialstaatsklausel stellt eine Berechtigung und Verpflichtung zu „sozialgestaltender, leistender und gewährender Tätigkeit des Staates dar“ (K. Stern: „Sozialstaat“, Evangelisches Staatslexikon 1975: 2405). Diese Verpflichtung zielt auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, bedeutet aber nicht das Bekenntnis zu einem ausufernden Wohlfahrtsstaat (Alber, 1989; Butterwegge 2005; M. Schmidt, 1988). Die Behauptung, es gebe ein Staatsziel „soziale Gerechtigkeit“, wird damit begründet, dass das Grundgesetz von einem Menschenbild ausgehe, das den Menschen „nicht als ein isoliertes souveränes Wesen [ansieht], sondern als gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsgebunden, dem zugleich aber ein unantastbarer Eigenwert zukommt. Mit diesem Bild des Menschen wäre es unvereinbar, kämen Freiheit und Würde nur dem sozial und wirtschaftlich Mächtigen zu, der sich aus eigener Kraft und zu Lasten anderer durchsetzen kann“ (Benda, 1989: 462). Das Sozialstaatsprinzip enthält die verfassungsmäßige Verpflichtung zu sozialer Aktivität, deren Ziele soziale Gerechtigkeit im Sinne des Ausgleichs ungleicher sozialer Chancen und die Freiheit des Einzelnen sind. Die Bedeutung des Sozialstaatsgrundsatzes ist vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen bestimmt worden. „Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“ (BVerfGE 22, 180). Es enthält nach Auffassung des Gerichts einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit lässt sich daraus jedoch kein Gebot entnehmen, „soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren.“ Zwingend sei lediglich, dass der Staat „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft“ (BVerfGE 82, 60:80). Der immanente Konflikt zwischen sozialen Rechten und Freiheitsrechten ist in der deutschen Verfassungslehre ausführlich diskutiert worden. Dabei ging es u.a. darum, ob die Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 GG der Verwirklichung im Grundrechtsteil verbürgter Grundrechte entgegenstehe oder umgekehrt, ob und inwieweit bestimmte Grundrechte, z.B. das Recht auf Eigentum (Art. 14 GG), der Verwirklichung des Sozialstaatsgedankens im Wege stünden. Strittig ist zudem, ob mit der Sozialstaatsklausel lediglich Anrechte (entitlement) oder auch eine umfassende materielle Unterstützung gemeint sind. Die von der britischen Labour Party übernommene Formel des „aktivierenden Sozialstaats“ versucht, diesen Konflikt aufzulösen. Der Konnex zwischen Sozialstaatsprinzip und Grundrechten besteht darin, dass das Sozialstaatsprinzip „im weitesten Umfang nicht nur zur Achtung, sondern auch zur faktischen Verwirklichung der Grundrechte anhält.“ Das Prinzip enthalte, so argumentiert Roman Herzog, „eine starke Komponente, die den Staat zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet.“ Soziale Gerechtigkeit aber bedeute vor allem soziale Gleichheit, die ein Staat, der diesem Ziel verpflichtet sei, herstellen oder bewahren müsse. Entscheidend sei, ob es gelinge, „die Idee einer von Grundrechten gesicherten und befruchteten Gesellschaft zum Ziel des Sozialstaates zu machen“ (Herzog, 1971: 394f.). Roman Herzog weist darauf hin, dass Sozialstaatlichkeit zwar bestimmte Formen sozialer Gleichheit impliziere, die aber stets zugleich mit der Freiheit verbunden sein müssten. Die Idee der Grundrechte verpflichte dazu, eine Gesell-
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Ausgestaltung durch das Bundesverfassungsgericht
Spannungsverhältnis zwischen sozialen Rechten und Freiheitsrechten
schaft anzustreben, in der die heute nur bedingt eingelösten Ideen der Freiheit so weit wie irgend möglich verwirklicht werden“ (Herzog, 1971: 395). Ein ausschließlich technokratisches oder ein autoritär-paternalistisches Sozialstaatsverständnis, das um der sozialen Gerechtigkeit wegen die Freiheitsrechte hintanstellt, wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar.
6.3.5 Das Demokratieprinzip Rückbezug staatlicher Gewalt auf das Volk in Art. 20 GG
Auf den ersten Blick scheint die Bestimmung dessen, was das Grundgesetz unter demokratisch versteht, eindeutig und keiner weiteren Diskussion wert. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (Art. 20 Abs. 2 GG)
Die Formulierung, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehe, bedeutet nicht, dass sie von ihm ausgeübt wird. Dies geschieht nach Art. 20 Abs. 2 GG durch: x x x x
Wahlen und Abstimmungen. In Wahlen werden Abgeordnete oder andere Vertreter (z.B. Abgeordnete in Kreistagen oder Stadtverordnete) gewählt, die als Repräsentanten der Wähler fungieren; besondere Organe der Gesetzgebung, nämlich Parlamente; die vollziehende Gewalt, also die Verwaltungen der verschiedenen Gebietskörperschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts; die Rechtsprechung.
Die direkte Ausübung der Staatsgewalt sieht das Grundgesetz nur im Falle des Art. 29 (Neugliederung des Bundesgebietes) vor, während die Länderverfassungen je unterschiedliche, in der Regel deutlich weiter gefasste Bestimmungen enthalten. Darauf deutet der Begriff Abstimmungen in Art. 20 Abs. 2 GG hin. Mindeststandards Der Organisationsteil des Grundgesetzes stellt alle Requisiten zur Verfüeiner demokratischen gung, die nach allgemeiner Ansicht ein demokratisches System konstituieren. Es Ordnung gibt bestimmte Mindeststandards, die eine demokratische Ordnung erfüllen und zusichern muss (Dahl, 1989; Lane 1996): gleiche Wahlchancen für alle Bürger, die Möglichkeit effektiver Partizipation, eine öffentliche Diskussion, die ein Verständnis der politischen Vorgänge ermöglicht, die Möglichkeit, die Agenda der Politik zu kontrollieren und „Inklusion“, d.h. Einbeziehung der Bürger in den Prozess der Politik. Dazu müssen funktionierende institutionelle Sicherungen zur Verfügung stehen: gewählte Vertreter der Bürger, freie und faire Wahlen, das allgemeine Wahlrecht, das Recht, für ein öffentliches Amt zu kandidieren, Freiheit der Meinungsäußerung, umfassende, nicht von der Regierung beeinflusste oder kontrollierte Informationsmöglichkeiten und Vereinigungsfreiheit (Dahl, 1989: 221). Das Demokratieverständnis des Grundgesetzes geht über die Formulierung solcher Mindeststandards und institutioneller Sicherungen hinaus. Es begreift die Demokratie als eine Staatsform, aber auch als politisches Prinzip, das auch in nichtstaatlichen Bereichen seine Berechtigung hat. Prominentestes Beispiel sind die Parteien, denen durch das Grundgesetz explizit eine Mitwirkung an der poli-
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tischen Willensbildung aufgetragen ist und von denen, quasi im Gegenzug, verlangt wird, ihre innere Ordnung nach demokratischen Grundsätzen zu gestalten (Art. 21 Abs. 1 GG).
6.3.6 Souveränitätsverzicht und begrenzte Souveränität In der Staatslehre ist Souveränität ein „Schlüsselbegriff“ (Herzog, 1971: 87). Er meint „höchste, unabgeleitete Gewalt“ (Ipsen, 1991: 1068). Mit diesem Begriff sind verschiedene Vorstellungen verbunden: die Unabhängigkeit eines Staates von allen anderen Staaten, das Recht, seine Aufgaben nach eigenem Willen zu bestimmen und die Machtmittel uneingeschränkt einzusetzen, die erforderlich sind, um seine Ziele zu erreichen und seine Aufgaben zu erfüllen, die Vorstellung, die Staatsgewalt sei eine höchste, von keiner anderen (irdischen) abgeleitete oder abhängige Gewalt und die Vorstellung, dass im Krisenfall alle im Staat vorhandene Macht in der Hand eines „Souveräns“ gebündelt sein müsse (Herzog, 1971: 87). Die beiden ersten Aspekte beziehen sich auf die äußere, die beiden folgenden auf die innere Souveränität, der letzte auf die „Organ-Souveränität“. Aus der Sicht der Politikwissenschaft muss der Begriff Souveränität in seiner Bedeutung erheblich eingeschränkt werden. Wirklich souverän ist kein Staat der Welt, weder im rechtlichen noch im politischen Sinne. Allein die vielfältigen Regelungen des Völkerrechts und internationale Vereinbarungen wie die Charta der Vereinten Nationen oder die Menschenrechtserklärung des Europarates binden staatliches Handeln. Ob deshalb jedoch der Begriff Souveränität „generell als überholt gelten“ muss, sei dahingestellt (Czempiel, 1993: 147). Sein Inhalt, die äußere und innere Handlungsfreiheit eines Staates, entstammen allerdings einer Zeit, deren politische und sozial-ökonomischen Bedingungen entfallen sind. Der moderne demokratische Rechtsstaat kennt nicht mehr das Gegenüber von Gesellschaft und monarchischem Staat, der auf seiner Regelungsautonomie beharrt. Staatliches Handeln spielt sich, zumal in föderalen Systemen und in politischen Ordnungen mit kommunaler Selbstverwaltung, auf mehreren Ebenen ab. Die innere Souveränität des Staates ist durch ein Gefüge von Interdependenzen und Interaktionen mit der Gesellschaft und die „Vergesellschaftung“ staatlicher Funktionen ersetzt worden. Bezüglich der äußeren Souveränität sind moderne Nationalstaaten vielfältigen Restriktionen unterworfen. Sie haben sich Regeln des internationalen Völkerrechts, internationalen Konventionen und Verträgen unterworfen, sind Mitglieder von supranationalen Vereinigungen von Staaten. Nicht zuletzt haben sie angesichts der Internationalisierung und Globalisierung des Wirtschaftsgeschehens erheblich an Handlungsmöglichkeiten verloren. Welches sind die wichtigsten Dimensionen eines modernen Souveränitätsbegriffs?
Souveränität als Schlüsselbegriff der Staatslehre
Der Souveränitätsbegriff in der Politikwissenschaft
1. Moderne Staaten erkennen einander als rechtlich gleiche Einheiten an, die in Dimensionen eines modernen ihrem Bereich Autorität beanspruchen. Souveränitätsbegriffs 2. Souveränität resortiert beim Staat, wobei nicht immer deutlich zwischen „state“ und „government“ unterschieden wird. Der Staat ist ein bürokratischer Apparat, der separiert und potentiell auch im Konflikt mit der Gesell311
schaft existiert. Als Nationalstaat monopolisiert er die Machtmittel, sowohl intern (Recht, Polizei) als auch extern (Militär). 3. Der Staat erhebt den Anspruch darauf, exklusiv die politischen und gesellschaftlichen Verfahrensregeln zu bestimmen und zu kontrollieren („Gewaltmonopol des Staates“). Dies geschieht mit Hilfe des Rechts und seiner Fähigkeit, diese Regeln auch gegen Widerstand durchzusetzen, also im Sinne Max Webers Herrschaft nach innen auszuüben. Von dieser Möglichkeit und Fähigkeit, Zwang anzuwenden, hängt letztendlich die Autorität eines Staates ab. 4. Dieses Monopol auf Machtausübung im Inneren wird seit dem 19. Jh. durch eine Struktur internationaler Beziehungen gestützt, die auf dem gemeinsamen Interesse von Staaten beruht, über berechenbare Regeln (Völkerrecht, Diplomatie) zu verfügen und nichtstaatliche Akteure (z.B. soziale Aktivisten, Systemgegner) zu kontrollieren und die Beachtung des Rechts zu erzwingen. 5. Indem sich Staaten als souverän anerkennen, akzeptieren sie auch die exklusive Autorität des jeweils anderen in seinem territorialen Verantwortungsbereich – und das bedeutet de facto über die in einem Territorium lebenden Menschen. Das Prinzip der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ eines Staates ist Ausdruck dieser territorialen Dimension der Souveränität. Souveränität und „international governance“
Moderne Staaten, insbesondere solche, die wie die Bundesrepublik in besonderem Maße wirtschaftlich und politisch mit ihrer Umwelt verflochten sind, binden sich in vielfältige Interaktionsbeziehungen mit nationalen und transnationalen staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen ein. Dies macht es zunehmend schwer, eine klare Scheidelinie zwischen binnenstaatlichem und internationalem System zu ziehen. Regieren im innerstaatlichen Bereich ist von „international governance“ nicht mehr zu trennen. Freiwilliger Das Grundgesetz eröffnet die Möglichkeit, auf Teile der nationalen SouveSouveränitätsverzicht ränität zu Gunsten zwischenstaatlicher Einrichtungen zu verzichten. Dieser Verin Art. 24 GG zicht war 1949 insoweit fiktiv, als sich die Besatzungsmächte mit dem „Besatzungsstatut“, das mit der Verabschiedung des Grundgesetzes in Kraft trat, wesentliche Souveränitätsrechte vorbehalten hatten, die neue Bundesrepublik also allenfalls als semi-souveräner Staat zu bezeichnen war. Er war aber andererseits insofern in die Zukunft gerichtet, als er aus der Geschichte der ersten Hälfte des Jahrhunderts den Schluss zog, dass die Idee des geschlossenen Nationalstaates nicht nur überholt sei, sondern auch unkalkulierbare Gefahren in sich trage, denen nur durch zukünftige supranationale Institutionen erfolgreich zu begegnen sei. Und schließlich waren der bedingte Souveränitätsverzicht und das Bekenntnis zu einer europäischen Friedensordnung der Versuch, bei behaupteter rechtlicher Identität mit dem Deutschen Reich, einen fundamentalen politischen Neuanfang zu signalisieren. Daher unterstellt das Grundgesetz die politische Ordnung den Regeln des allgemeinen Völkerrechts und bietet einen partiellen Souveränitätsverzicht an (Art. 24 Abs. 1 GG). Ein Souveränitätsverzicht konnte 1949 nicht viel mehr als eine Absichtserklärung sein, er hat aber den Weg der Bundesrepublik in die Ge312
meinschaft der europäischen Demokratien geebnet und im Laufe der Jahrzehnte im Zuge des europäischen Einigungsprozesses eine immer größere Bedeutung erlangt. Von ähnlicher Relevanz ist der Art. 25 GG, der die allgemeinen Regeln des Unmittelbare Geltung Völkerrechts zum unmittelbaren Bestandteil des Bundesrechts erklärt und be- des Völkerrechts in Art. 25 GG stimmt, dass sie den Gesetzen vorgehen und „Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen“. Die Bestimmungen der Artikel 24 und 25 des Grundgesetzes spiegeln das Ergebnis historischer Erfahrungen mit einem überzogenen, auf den Ideen des Nationalismus und völkischem Denken beruhenden Souveränitätsbegriffs wider. Sie können mit Fug und Recht als zu ihrer Zeit (1949) „sensationell“ bezeichnet werden, weil sie nicht nur einen oktroyierten Verzicht auf Souveränitätsrechte unter dem Besatzungsstatut darstellten, sondern auch für die Zeit danach bewusst auf eine begrenzte Souveränität der Bundesrepublik abzielten.
6.4
Grundrechte und Wertordnung des Grundgesetzes
Bei der Diskussion des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat war die Stellung und der Umfang des Grundrechtskatalogs umstritten. Es war keineswegs ausgemacht, ob neben den klassischen Individualrechten auch Elemente der politischen Ordnung grundrechtlich abgesichert werden sollten. Ja, selbst die Frage, ob es überhaupt einen Grundrechtskatalog geben sollte, war zeitweise umstritten. Angesichts der Vorläufigkeit, die der neuen politischen Ordnung zugemessen wurde, ist die Auffassung vertreten worden, es genüge, sich auf die Erarbeitung eines Staatsorganisationsrechts zu konzentrieren. Insbesondere in Kreisen der SPD blieb die Vorstellung virulent, angesichts der unterschiedlichen Auffassungen unter den deutschen Politikern und der Bedingungen der Besatzungsherrschaft ganz auf einen Grundrechtskatalog zu verzichten (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: XXXV f.). Dass es dann doch zu einem ausformulierten Grundrechtskatalog kam, hatte sowohl verfassungstheoretische als auch direkt politische Ursachen. In der sich entwickelnden Systemauseinandersetzung zwischen den westlichen Demokratien und dem Kommunismus spielte die Frage der Sicherung von Freiheit und Menschenwürde die entscheidende Rolle. Aus der Sicht der liberalen Demokratien des Westens erschien der „Bolschewismus“ als ebenso gefährlicher und prinzipieller Gegner der Freiheit und Würde des Menschen, wie der Nationalsozialismus. Ihm entgegenzutreten bedeutete, die liberalen Ideen und freiheitlichen Werte der Demokratie deutlich herauszustellen und die Demokratie wehrhaft zu machen. Daher wurde im Grundgesetz nicht nur ein umfangreicher Grundrechtskatalog kodifiziert, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit geschaffen, Angriffen gegen die demokratische Ordnung durch Einschränkungen von Grundrechten bzw. durch ihre Verwirkung zu begegnen. Jedoch erteilte der Parlamentarische Rat Versuchen eine Absage, umfangreiche soziale und wirtschaftliche Grundrechte aufzunehmen, die nach Auffassung der KPD nötig seien, weil „auch die
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Differenzen über Umfang und Inhalt des Grundrechtskatalogs
Vorrang der Freiheitsrechte bei gleichzeitiger Einbeziehung von Regelungen der Gesellschaftsordnung
Die Erfahrung von Weimar als Leitlinie
bestformulierten persönlichen Grundrechte nur dann einen Sinn haben und nur dann wirksam werden können, wenn sie mit entsprechenden sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten verbunden sind“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 253). Aber nicht nur die KPD drängte auf eine Ausweitung der klassischen individuellen Grundrechte: auch die beiden einflussreichsten gesellschaftlichen Institutionen, die Gewerkschaften (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 124ff.; 197ff.; Bd. 5/2, 1993: 726ff.) und die Kirchen (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, 1993: 633ff.) forderten, mit unterschiedlichem Erfolg, die Berücksichtigung ihrer Vorstellungen, die auf die Aufnahme sozialer und kultureller Grundrechte in das Grundgesetz hinausliefen. Das Elternrecht und der Religionsunterricht in den Schulen seitens der Kirchen und die grundrechtliche Absicherung des Streikrechts und der Sozialisierung auf Gewerkschaftsseite waren Forderungen, die über den klassischen Grundrechtskatalog hinausreichten und in die Gestaltung der „Lebensordnung“ eingriffen. Angesichts der Unvereinbarkeit der Positionen sprach vieles dafür, dass eine erhebliche Ausweitung des Grundrechtskatalogs letztendlich eine Übereinkunft unmöglich machen könnte. Dies bewog die CDU/CSU-Fraktion ebenso wie die Fraktion der SPD im Parlamentarischen Rat dafür zu plädieren, nur die klassischen Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen. Eine solche „minimalistische“ Position hat sich nicht durchhalten lassen. Dies lag zum einen daran, dass Forderungen aus der Gesellschaft, bestimmte Grundelemente der politischen und sozialen Ordnung im Grundrechtsteil der Verfassung zu normieren, nicht abgewiesen werden konnten. Artikel 6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der Verfassung. Art. 7 GG schreibt das Elternrecht und den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in öffentlichen Schulen fest und untersagt die Einrichtung von Vorschulen. Art. 14 GG schützt das Eigentum und Erbrecht und bestimmt, dass Eigentum verpflichte und sein Gebrauch „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit“ zu dienen habe. Eine Enteignung ist nur „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig und an eine angemessene Entschädigung gebunden. Art. 15 GG lässt unter besonderen Bedingungen die Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln zu. Allerdings hat im Grundrechtsbereich „das Freiheitsprinzip Vorrang, sofern der Gesetzgeber nicht ausreichende Gemeinwohlgründe vorweisen kann, die eine Freiheitsbeschränkung zu rechtfertigen vermögen“ (Alternativkommentar 1989, Bd. 1: 181). Zum anderen sprach die historische Erfahrung gegen eine ausschließliche Beschränkung auf individuelle Freiheitsrechte, zumal, wenn diese wie in der Weimarer Reichsverfassung, zur Disposition des Gesetzgebers standen, der häufig durch einfache Gesetzgebung die Grundrechte einschränken konnte. Am verhängnisvollsten aber waren die auf Art. 48 Abs. 2 WRV zurückgehenden Notstandsrechte des Reichspräsidenten, auf deren Grundlage er, „erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht“ einschreiten und Grundrechte suspendieren konnte.3 Dies war die Rechtsgrundlage für die am 28. Februar 1933 in Kraft ge3
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Individuelle Grundrechte waren in der WRV in folgenden Artikeln kodifiziert: Art. 114 Freiheit der Person; Art 115 Unverletzlichkeit der Wohnung; Art. 117 Briefgeheimnis;
setzte „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die die wichtigsten Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft setzte und den Weg in die nationalsozialistische Diktatur ebnete. Der Nationalsozialismus setzte dann alle Grundrechte außer Kraft, seine Ideologie beruhte auf der Verneinung von Menschen- und Bürgerrechten als Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft. „Nach den Exzessen“ der nationalsozialistischen Herrschaft, so formulierte es Georg-August Zinn (SPD) in einer Stellungnahme vor dem Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates, „haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt.“ Sie müssten daher „als aktuelles Recht und nicht als Rechtsgrundsätze, die zu ihrer Ausführung erst noch besonderer Durchführungsgesetze bedürfen, ausgestaltet werden“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 34f.). Hinzu kam die Tatsache, dass erste Erfahrungen mit den z.T. umfangreichen Grundrechtskatalogen der Länderverfassungen die Gefahr erkennbar werden ließen, dass Verfassungsrhetorik und Verfassungswirklichkeit auseinander klafften und dies für die Konsolidierung einer demokratischen Ordnung nach einer Diktatur keine guten Voraussetzungen bot. Als Beispiel sei die Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 genannt, die in Anlehnung an die Weimarer Reichsverfassung im dritten Abschnitt „Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten“ formuliert und u.a. das Recht auf Arbeit und auf Unterhalt bei Arbeitslosigkeit festschreibt (Art. 28) und in Art. 29 das Streikrecht garantiert und die Aussperrung verbietet.4 Der Missbrauch des gesetzespositivistischen Rechtsformalismus, der mit zur Beseitigung der Demokratie in der Weimarer Republik beigetragen hatte, und die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus führten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dazu, nicht nur einen Grundrechtskatalog in das Grundgesetz einzubauen, sondern die Grundrechte als Teil einer objektiven Wertordnung zu verankern. Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht und die allgemeinen Gesetze müssen im Lichte der besonderen Bedeutung der Grundrechte ausgelegt werden. In mehreren grundlegenden Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht die Position entwickelt, dass das Grundgesetz „keine wertneutrale Ordnung sein will“, sondern in seinem Grundrechtsabschnitt „auch eine objektive Wertordnung eingerichtet hat“, (BVerfGE 2, 1 – SRP-Urteil; BVerfGE 5, 85 – KPDUrteil; BVerfGE 7, 198: 205 – Lüth-Urteil) die nicht nur den Staat, sondern auch seine Bürger bindet und auf das bürgerliche Recht einwirkt. Unstrittig ist, dass heute ein ausdifferenziertes und in vielerlei Hinsicht systematisiertes Grundrechtsverständnis existiert – dies vor allem dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in mehr als 50 Jahren. Theodor Maunz hat sogar von einer durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten „Wertsy-
4
Art. 118 Meinungsfreiheit, Zensur; Art. 123 Versammlungsfreiheit; Art. 124 Vereinigungsfreiheit und Art. 153 Eigentumsgarantie. Erst Mitte der 1970er-Jahre ist durch eine Klage beim Hessischen Staatsgerichtshof anlässlich der Aussperrung bei einem Arbeitskampf in der Metallindustrie festgestellt worden, dass das Aussperrungsverbot der Hessischen Verfassung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
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Grundrechte als Teil der objektiven Wertordnung und unmittelbar geltendes Recht
stem-Lehre“ gesprochen (Maunz, 1966: 52), die auf einem dem Grundgesetz immanenten Wertesystem beruhe. „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei ihren Eigenwert anzutasten.“ (BVerfGE 4, 15)
Wenn die Grundrechte auch Ausdruck einer Wertordnung sind und ihre rechtliche und tatsächliche Geltung umfassend gesichert werden soll, dann stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang sie zur Disposition des Gesetzgebers stehen. Das Grundgesetz bindet alle staatlichen Gewalten, auch den Gesetzgeber, explizit an die Grundrechte: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ (Art. 1 Abs. 3 GG)
Das Grundgesetz schließt ihre Einschränkung durch einfache Gesetze weitgehend aus oder bindet sie an strenge Kriterien. Ausgeschlossen ist auch eine legale Aushebelung von Grundrechten durch Gesetze, die mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedet werden – jede Grundgesetzänderung bedarf eines speziellen, den Wortlaut des betreffenden Grundrechts ändernden Gesetzes (Art. 79 Abs. 1 GG). Soweit Freiheitsrechte durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden können, darf der „Wesensgehalt“ dieses Grundrechtes nicht angetastet werden (Art. 19 Abs. 2 GG). Grundrechte sind als individuelle Abwehrrechte gegenüber dem Staat entstanden. Das Verfassungsverständnis moderner liberaler Demokratien betrachtet die Staatsmacht mit latentem Misstrauen und richtet ihr Interesse in erster Linie auf die Begrenzung der staatlichen Macht. Die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat werden juristisch unter dem Oberbegriff des subjektiv-öffentlichen Rechts zusammengefasst (Herzog, 1971: 357). „Als subjektive, Status begründende Rechte sind die Grundrechte verfassungsrechtliche Fundamentalrechte des einzelnen als Mensch und als Bürger“ (K. Hesse, 1991: 283). Diese subjektiven Rechte werden in vielen modernen Verfassungen durch Grundrechte ergänzt, die als Grundelemente der Ordnung des Gemeinwesens angesehen werden können. Entwicklung Die Entwicklung des modernen Grundrechtsdenkens bezieht seine wichtigsmodernen ten Impulse aus der Idee des Liberalismus, der dem einzelnen Menschen einen Grundrechtsdenkens größtmöglichen Freiheitsraum zuwies, das Recht auf Unversehrtheit des Lebens, das Recht auf persönliche Freiheit, auf Ehre und auf Unverletzlichkeit des Eigentums proklamierte, ja, mehr noch, die Suche nach Glück (persuit of happiness), wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 heißt. Die liberale Gesellschaftstheorie sah in der Verteidigung individueller Rechte aber nicht nur eine Garantie für persönliches Wohlergehen, sondern auch die entscheidende Voraussetzung für ökonomischen, sozialen und politischen Fortschritt. Wenn man den im Individuum schlummernden Kräften der Vernunft nur genügend freien Raum ließe, dann würden sich die gesellschaftlichen Dinge schon bestmöglich regeln. Dazu bedurfte es einer umfassenden Gestaltung individueller Grundrechte.
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Als erster moderner „Grundrechtskatalog kann die „Virginia Bill of Rights“ von 1776 angesehen werden, der im August 1789 die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung und in den USA die „Bill of Rights“ (Amendment 1 bis 10) vom 15. Dezember 1791 folgten. Diese Dokumente stellen den Kernbestand modernen Grundrechtsdenkens zur Verfügung. Während die englische, weitgehend ungeschriebene Verfassungstradition und die Bill of Rights in den USA eher konkret-pragmatische Lösungen präferierten, formulierte die französische Nationalversammlung grundlegende Prinzipien, die, aufbauend auf den Ideen von Jean Jacques Rousseau, bestimmte anthropologische Grundannahmen beinhalteten, deren Geltung nicht nur für die Bürger Frankreichs, sondern für alle Menschen, also universalistisch, wenn nicht sogar „heilsgeschichtlich“ beansprucht wurden. Anders als in England, wo sich das Verfassungs- und Grundrechtsdenken über lange Zeiträume inkremental entwickelte, und der Situation in Amerika, wo ein neues politisches Gemeinwesen, eine Republik ohne historisches Vorbild entstand, war kontinentaleuropäisches Verfassungsdenken im späten 18. und im 19. Jhd. von der Auseinandersetzung mit den Resten der feudalen Ordnung und des absoluten Staates gekennzeichnet. So verwundert es nicht, dass in der Verfassung der deutschen Nationalversammlung von 1848 ein Grundrechtskatalog mit einer umfassenden und detaillierten Kodifizierung von liberalen Freiheitsrechten enthalten war, die im Unterschied zu früheren landständischen Verfassungen auch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre garantieren sollte (Botzenhart, 1993: 49). Weder die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867, die sich dem Schema des damaligen europäischen Konstitutionalismus entzog noch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 kannten einen Grundrechtskatalog. Erst die Weimarer Reichsverfassung knüpfte an die Tradition von 1848 an – wobei der „Vater“ dieser Verfassung, Hugo Preuß, in seinem ursprünglichen Entwurf keinen Grundrechtskatalog vorgesehen hatte. Im 20. Jh. bekam die Diskussion über Grundrechte eine eindeutige Richtung: Es ging nicht mehr um die Verteidigung individueller bürgerlicher Rechte gegen das ancién régime, sondern gegen den überbordenden Anspruch des modernen bürokratischen Staates, wie ihn Max Weber als erster beschrieben hat. Die Verfassung von Weimar antwortete auf diese Entwicklung mit einem ausdifferenzierten Grundrechtskatalog, der allerdings neben individuellen Abwehrrechten unter der Überschrift „das Gemeinschaftsleben“ auch weit reichende, unerfüllbare Versprechungen enthielt, wie in Art. 119 die „Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie“, den „Schutz der Jugend gegen Ausbeutung, sowie sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung“ in Art. 122 oder die Verpflichtung aller Bürger in Art. 134 „ohne Unterschied ... im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze“ beizutragen. Das Grundgesetz steht, was die Grundrechte angeht, einerseits in der Tradition der Weimarer Reichsverfassung, geht aber einen entscheidenden Schritt über sie hinaus, indem es ihnen die Qualität unmittelbar geltenden Rechts zuerkennt und sie weitgehend gegen die Eingriffe eines künftigen Gesetzgebers immunisiert.
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Grundrechte in der deutschen Verfassungsgeschichte
6.4.1 Grundrechte als individuelle Freiheits- und Abwehrrechte Individualrechte im Grundgesetz
Bei der Formulierung des Grundrechtskatalogs hat der Parlamentarische Rat, seine entscheidende Aufgabe in der Ausgestaltung der individuellen Freiheitsrechte gesehen. Bewusst sind diese Rechte an den Anfang des Verfassungstextes platziert worden, um damit auch optisch ihren, das Gesamtverfassungswerk prägenden und durchdringenden Charakter hervorzuheben. Das Grundgesetz kodifiziert die folgenden Individualrechte: x x x x x x x x x x x
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2, ergänzt durch Art. 104 – Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug) Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) Freiheit der Berufswahl und -ausübung (Art. 12 GG) Freizügigkeit (Art. 11 GG) Schutz vor Auslieferung und Asylrecht (Art. 16 GG) Petitionsrecht (Art. 17 GG mit der Einschränkung in Art. 17 a GG von Grundrechten für Soldaten, z.B. der Meinungs- und Versammlungsfreiheit „soweit es das Recht gewährt“) Darüber hinaus gewährt Art. 2 Abs. 1 GG die „allgemeine Handlungsfreiheit und das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“, das v. a. die Privatsphäre schützt.
Der wirksame Schutz der fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte erfolgt im Grundgesetz aber nicht ausschließlich im Grundrechtskatalog (Art. 1 – 19 GG). Daneben gibt es „grundrechtsgleiche Rechte“. Dazu zählen vor allem die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) und des rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), das Verbot mehrmaliger Bestrafung, nach dem Grundsatzes „nulla poena sine lege“, sowie die Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug (Art. 104 GG).
6.4.2 Menschen- und Bürgerrechte Menschenrechte und Bürgerrechte
Der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes unterscheidet zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten. Die Formulierung „Jeder hat das Recht ...“; oder „Alle Menschen ...“ umfasst alle sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhaltenden Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und Nationalität. Bürgerrechte werden allen Bürgern („alle Deutschen“) zuerkannt. Daher wird gelegentlich auch der Begriff „Deutschenrechte“ verwandt. Der Begriff „Deutscher“ im Sinne des Grundgesetzes deckt sich nicht völlig mit dem des deutschen Staatsangehörigen, wie er in Art. 116 Abs. 1 GG normiert ist (K. Hesse, 1991: 284). Der Begriff „Deutscher“ wurde im Grundgesetz zusätzlich zum dem des „deutschen Staatsangehörigen“ eingeführt, um die Flüchtlinge und Vertriebenen „deutscher Volkszugehörigkeit“, die vor 1938 keine deutschen Staatsbürger waren, einzuschließen (Maunz, 1966: 33).
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Grundgesetz in Bezug auf den Einzelnen zum einen Abwehrrechte gegen staatliche Willkür, zum anderen aber auch Rechte normiert, die die Chance der Mitwirkung am politischen und gesellschaftlichen Leben sichern sollen, wie z.B. in Art. 2 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Meinungsfreiheit in Art. 5 GG oder die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG. Diese Grundrechte sind mehr als individuelle Gestaltungsrechte. Sie vermitteln das Bild eines Bürgers, der sich nicht nur vom „Staat“ abgrenzt, sondern in freier Entscheidung und eigener Verantwortung an den öffentlichen Dingen teilhat. Abbildung 4: Menschen- und Bürgerrechte im Grundgesetz Menschenrechte Art. 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar Art. 2: Art. 3: Art. 4:
Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit
Art. 5:
Meinungsfreiheit
Art. 18:
Verwirkung von Grundrechten Einschränkung von Grundrechten
Art. 19:
Bürgerrechte Art. 8,1: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln Art. 9: Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden Art. 11: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet Art. 12: Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen Art. 16,1: Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden Art. 17: Petitionsrecht
Neben diesen subjektiven Menschen- und Bürgerrechten im engeren Sinne stehen Rechte, die das individuelle Schicksal durch die grundgesetzliche Sicherung bestimmter Lebensformen prägen, wie die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG, der Wehr- und Ersatzdienst in Art. 12 a GG, der Schutz von Ehe und Familie und der nichtehelichen Kinder in Art. 6 Abs. 1 GG, das Eigentums- und Erbrecht in Art. 14 Abs. 1 GG und das Staatsangehörigkeits- und das Asylrecht in Art. 16. GG.
6.4.3 Gleichheitsgrundrechte Außer den Freiheitsrechten, die die in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes verbürgte Der Gleichheitsfreie Entfaltung der Persönlichkeit garantieren sollen, formuliert das Grundge- Grundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG setz so genannte Gleichheitsrechte, die den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – ausgestalten. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet die Verpflichtung des Staates zur ausnahmslosen Verwirklichung des geltenden Rechts ohne Ansehen der Person. „Der Gesetzgeber verletzt dieses Gebot, wenn er ohne vernünftigen Grund und 319
damit willkürlich Differenzierungen oder Gleichsetzungen vornimmt“ (Benda, 1989: 356; vgl. auch: BVerfGE 1, 14: 52). Die speziellen, Gleichheit gewährleistenden Grundrechte ergeben sich aus dem Menschenrechtsgrundsatz der Gleichheit aller Menschen, dem Diskriminierungsverbot auf Grund des Geschlechts, der Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, des Glaubens oder religiöser und politischer Anschauungen (Art. 3 Abs. 3 GG), der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) und der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG).
6.4.4 Grundrechte als Antwort auf die Diktaturerfahrung Erweiterung und Präzisierung von Individualrechten
Ein Vergleich der Weimarer Reichsverfassung mit dem Grundgesetz und der Nachvollzug der Debatten im Parlamentarischen Rat macht deutlich, dass in die Formulierung der Grundrechte in erheblichem Maße Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus eingeflossen sind. Klassische Individualrechte werden im Grundgesetz substantiell erweitert und präzisiert (Fromme, 1960: 197ff.). Dies schlägt sich sowohl in der Neueinführung von Grundrechten als auch in ergänzenden und erläuternden Formulierungen und in der Aufnahme bestimmter Teilaspekte nieder. Erweiterungen und Präzisierungen von Individualrechten finden sich u.a. im Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 Abs. 1 GG, im Verbot der Trennung der Kinder von der Familie gegen den Willen der Erziehungsberechtigten in Art. 6 Abs. 3 GG, im Verbot jeder Zwangsarbeit in Art. 12 Abs. 3 GG, oder im Verbot des Art. 16 Abs.1 Satz 2, Deutschen ihre Staatsangehörigkeit entziehen zu können, eine Strafmaßnahme, die das NSRegime in großem Umfang angewendet hat. Historisch neu sind die Verankerung der Würde des Menschen und ihres Schutzes als Aufgabe staatlicher Gewalt in Art. 1 Abs. 1 GG, des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG, mit dem auf Folter, Euthanasie und Zwangssterilisierung im Nationalsozialismus reagiert wurde und des Asylrechtes in Art. 16 Abs. 2 GG. Das Beispiel des Asylrechts, dessen ursprünglicher Sinn 1993 mit dem neuen Art. 16a GG faktisch ausgehebelt worden ist, oder die Debatte über den „Großen Lauschangriff“ und eine Veränderung des Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung), dessen Gehalt bereits durch die Polizeigesetze vieler Bundesländer eingegrenzt worden ist, zeigt die Anfälligkeit historisch motivierter Normgebung gegenüber veränderten politischen Rahmenbedingungen und dem Zeitgeist. Einführung eines Angesichts des scheinlegalen Endes der Weimarer Republik wurde nach Widerstandsrechts 1945 intensiv über die Einführung eines individuellen Widerstandsrechtes gegen staatliche Gewalt diskutiert. Diese Überlegung fand Niederschlag in Art. 147 Abs. 1 der Hessischen Verfassung: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.“ Ergänzt wird diese Bestimmung durch ein Strafverbot für Umsturzversuche zur Rettung der Verfassungsordnung (Art. 148 Hess. Verf.). Der Parlamentarische Rat hat ein Widerstandsrecht abgelehnt (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993: 56ff.; 152f.; 865f.). Erst im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung wurde 1968 ein Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 GG aufgenommen, das allen Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden einräumt, der es unternimmt, die „verfassungsmäßige Ordnung“ zu beseitigen. 320
6.4.5 Der Staat als Schutzinstanz Der Staat als Das Grundgesetz enthält keine expliziten Aussagen darüber, ob, inwieweit und Schutzinstanz der mit welchen Mitteln der Staat nicht nur Adressat der Individualrechte, sondern Freiheit der Bürger auch Schutzagentur zu ihrer Realisierung ist. Die alte, klassisch-liberale Dichogegenüber Macht tomie Bürger versus Staat ist in einem modernen Gemeinwesen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Rechte des Einzelnen werden nicht mehr ausschließlich vom Staat, sondern auch aus der Gesellschaft heraus bedroht. Dem Staat kommt hier die Aufgabe zu, durch Gesetzgebung den Freiheitsspielraum der Bürger zu schützen. Es geht im 21. Jh. nicht mehr nur darum, den Bürger vor dem Staat zu schützen. Dies würde es erlauben, den Grundrechtsschutz auf das Vorhandensein von individuellen Abwehrrechten zu reduzieren und den Rechtsstaat auf den Schutz des Bürgers vor staatlichen Übergriffen und die Abgrenzung individueller Lebensbereiche durch das Zivil-, Straf- und Polizeirecht zu begrenzen. Menschliche Freiheit ist in der modernen Gesellschaft in vielfältiger Hinsicht gefährdet. Auch gegenüber nicht staatlichen Mächten besteht ein Schutzbedürfnis. Der Staat kann – und muss in bestimmten Fällen – sogar als Garant der Grundrechte und Beschützer auftreten. Aus Grundrechten kann eine staatliche Schutzpflicht bei der Sicherung von Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger hergeleitet werden. Dies sind Kompetenzen, die traditionell zur Aufgabe staatlicher Gewalt gehören, die jedoch ausschließlich im Rahmen des Zivil-, Straf- und Verfahrensrechts zu regeln waren. Unstrittig ist, dass es Aufgabe des Staates ist, seine Bürger vor Angriffen auf Gibt es ein Leib und Leben zu schützen. Unstrittig ist auch, dass der demokratische Staat „Grundrecht auf Sicherheit“? sowohl Adressat als auch Garant des Freiheitsbegehrens der Bürger ist. Niemand bestreitet ernsthaft, dass der moderne demokratische Staat eine Freiheit verbürgende, Sicherheit gewährleistende und die demokratische Ordnung selbst gegen Angriffe sichernde Funktion hat. Die Meinungen gehen aber auseinander, wenn es um die Frage geht, welche konkreten Schlussfolgerungen aus dieser Aufgabenstellung zu ziehen sind und insbesondere, ob es eine normative und politisch-praktische Rangordnung oder Gleichrangigkeit zwischen Freiheitsgarantie und Sicherheitsfunktion des Staates gebe. Angesichts des hohen Stellenwerts, der den Freiheits- und Abwehrrechten im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes beigemessen wird, bedarf es besonderer Anstrengungen, dem Aspekt der Sicherheit eine vergleichbare grundrechtliche Dignität zu verleihen. Josef Isensee hat in einem Beitrag aus dem Jahre 1983 „Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates” mit einem Rückgriff auf die ideengeschichtliche Entwicklung des Sicherheitsbegriffs seine Ansicht begründet, dass es ein Grundrecht auf Sicherheit gebe. Am Beginn des modernen Verfassungsdenkens habe es eine Schlüsselrolle gespielt, sei aber im Verlauf der Entwicklung und der Dominanz liberalen Staatsverständnisses verschüttet worden, da dieses den Gegensatz von Freiheit und Sicherheit kultiviert und Abwehrrechte gegen Schutzrechte ausgespielt habe. Der Staat habe die Aufgabe, die Unversehrtheit der grundrechtlichen Güter zwischen privaten und damit die Sicherheit in den privaten Beziehungen zu garantieren. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die staatliche Gewalt nicht, wie
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Abkehr vom Wertrelativismus der Weimarer Reichsverfassung
bei den Abwehrrechten, zurückgedrängt werden müsse, sondern vielmehr aktiv gefordert sei - in der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Während die Abwehrrechte darauf zielen, den Staat aus bestimmten geschützten Bereichen (z. B. der Wohnung) herauszuhalten, wird vom Staat bei der Wahrnehmung seiner Schutzfunktion erwartet, dass er diese Bereiche positiv schützt und gegen Gefährdungen durch Dritte sichert. Der Grundkonflikt zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten des Staates reduziert sich auf ein institutionelles Problem, nämlich eine funktionierende Gewaltenteilung. In polemischer Abgrenzung gegenüber einer von ihm als liberale „Staatsabwehrdoktrin” (Isensee 1983: 2) gekennzeichneten Position, die Freiheit und Sicherheit gegenüberstelle und jede Sicherheitsgewährleistung seitens des Staates als Kollision mit den grundrechtlichen Eingriffsverboten ansehe, formuliert Isensee, dass es neben dem Schutz vor der Staatsgewalt auch eines “Schutzes vor dem Bürger” bedürfe. Nicht die Gefahr staatlichen Übermaßes sei das Problem, sondern die Staatsabwehrdoktrin selbst, welche in ihrer Einseitigkeit die Grundrechte zu verkürzen und damit zu pervertieren drohe. Hier treten ohne Zweifel vorhandene und zunehmende Gefährdungen von Grundrechten aus der Gesellschaft heraus in den Vordergrund (Herzog, 1971: 79 f.; 143; Isensee 1983: 21 ff; Robbers 1987: 121). Es ist nicht mehr ausschließlich der Staat, dem gegenüber die Achtung und Schutz der Rechte des Individuums eingefordert würden und vor dessen (potenziellen) Übergriffen sie geschützt werden müssen. Durch die tief greifenden Ungleichheiten und die grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen in modernen Gesellschaften werden die Menschen in vielerlei Weise an der freien Entfaltung ihrer Fähigkeiten gehindert und in ihren sozialen Chancen behindert. Aufgabe des politischen Gemeinwesens ist es, ihnen die Chance zu geben, frei und unangefochten leben zu können. Freiheit und Sicherheit werden nicht allein durch staatliche Übergriffe gefährdet. In wachsendem Maße sind es gesellschaftliche Kräfte, international agierende wirtschaftliche Interessen, sich organisierende kriminelle Aktivitäten oder der Terrorismus, die Leben, Sicherheit und Freiheit der Bürger bedrohen. Hier kehrt sich in gewisser Weise die alte Frontstellung um: der Staat muss ein Korrektiv gegenüber diesen Machtansprüchen bilden, da die Individuen und sozialen Gruppen zu schwach sind, ihre Rechte wirksam zu schützen. Der demokratische Staat fungiert als Schutzinstanz gegenüber privater Macht, übernimmt also auf neue Weise Funktionen, die am Beginn der modernen Staatsentwicklung nach der Erfahrung der religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts standen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten, wie erwähnt, weitgehend darauf verzichtet, solche weit reichenden theoretischen und politisch-programmatische Überlegungen anzustellen und entsprechende Aussagen in den Grundrechtskatalog aufzunehmen. Sie haben sich vielmehr auf die möglichst lückenlose und unzweideutige Verankerung der individuellen Grund- und Abwehrrechte konzentriert. Dies bedeutete aber nicht, wie die Debatte um die Präambel und einzelne Grundrechte zeigt, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates wertneutral agiert hätten. Im Gegenteil, der Wertrelativismus der Weimarer Verfassung und das Rechtsdenken in der Zwischenkriegszeit wurden scharf kritisiert
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und mit dafür verantwortlich gemacht, dass die erste deutsche Demokratie gescheitert war. Für die Verfassung der zweiten deutschen Demokratie wurde ein ausdrücklicher Wertbezug bejaht. Wenn die gesellschaftliche und politische Ordnung des Grundgesetzes aber nicht wertneutral ist, dann stellt sich verfassungsrechtlich und politisch-praktisch die Frage, wie Individualrechte und allgemein anerkannte Wertorientierungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Da das Grundgesetz hierzu keine direkte Antwort gibt und geben konnte, war das Bundesverfassungsgericht als „Hüterin der Verfassung“ gefordert. Es hat sich in mehreren Urteilen zu diesem Problem geäußert. In seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1975 formulierte das Gericht eine umfassende Schutzpflicht des Staates, die nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das werdende Leben verbiete, sondern es dem Staat auch gebiete, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen“. Dies heiße vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. „An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten“ (BVerfGE 39, 1: 42). Diese im Urteil über die „Fristenlösung“ entwickelte Rechtsprechung hat das Gericht auch in späteren Urteilen angewandt. Der wohl dramatischste Anlass sich mit diesem Problem zu befassen, war die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) und seine spätere Ermordung im Herbst 1977. Die Angehörigen hatten die Regierung durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zwingen wollen, auf die Forderungen der Entführer, wegen Terrorismus verurteilte Häftlinge aus deutschen Strafanstalten zu entlassen, einzugehen (Dokumentation Hanns Martin Schleyer, 1977: 49*). In Abwägung der aus den Grundrechten abgeleiteten Schutzpflicht für das Leben des Einzelnen und der Bürger insgesamt (vor den Folgen des Terrorismus), hat das Gericht die Bestimmungen des Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes dahingehend interpretiert, dass das Grundgesetz „eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch der Gesamtheit aller Bürger“ gegenüber begründe (BVerfGE 46, 160: 164). Ähnlich wie beim Urteil über den Schwangerschaftsabbruch handelt es sich hier um eine Einschränkung individueller Rechte, nämlich der Freiheit der Person und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Im Falle des § 218 StGB steht die Entscheidungsfreiheit des einen Rechtssubjekts, der Mutter, gegen das Recht auf Leben des anderen, des ungeborenen Lebens. Hier greift die Wertordnung also in private Beziehungen ein. Im Schleyer-Urteil wird das individuelle Recht auf Leben den Interessen der politischen Gemeinschaft gegenüber gestellt und die aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflicht für das Leben des Einzelnen generalisiert. Damit wird dem Staat, dem eigentlichen Adressaten des Schutzbegehrens des Einzelnen eine Entscheidung darüber eingeräumt, ob wie auch immer verstandene Gemeinwohlerwägungen in bestimmten Entscheidungssituationen den Individualinteressen vorgehen. Diese Ermächtigung geht aber nicht so weit, dass es dem Staat erlaubt wäre, in Abwägung mehrerer Übel das Leben von Bürgern auszulöschen, um andere zu schützen, wie es in einem Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahre 2005 vorgesehen
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Das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Schutzpflicht des Staates, der Individualrechte und der Gemeinwohlorientierung
Das „SchleyerUrteil“ des Bundesverfassungsgerichts
war, das vom Bundesverfassungsgericht mit folgender Begründung kassiert worden ist: „1. [Das Gesetz] greift in den Schutzbereich des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Grundrechts auf Leben sowohl der Besatzung und der Passagiere des von einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG betroffenen Luftfahrzeugs als auch derer ein, die dieses im Sinne dieser Vorschrift gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen. Die Inanspruchnahme der Ermächtigung zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug nach § 14 Abs. 3 LuftSiG führt praktisch immer zu dessen Absturz. Dieser wiederum hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod, also die Vernichtung des Lebens aller seiner Insassen zur Folge. 2. Für diesen Eingriff lässt sich eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht anführen...“ (1 BvR 357/05 vom 15.2.2006: 87 f.).
6.4.6 Grundrechte als Elemente der politischen Ordnung Das „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts zum Problem der Meinungsfreiheit
Moderne Verfassungen wie das Grundgesetz enthalten in ihrem Grundrechtsteil meist neben den subjektiven Grundrechten auch Grundrechte, die nicht primär oder gar keine Individualrechte festschreiben, sondern Grundelemente der politischen Ordnung enthalten (K. Hesse, 1991: 279; Herzog, 1971: 365). In seinem sogenannten „Lüth-Urteil“ zum Problem der Meinungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht 1958 festgestellt: „Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpern sie aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.“ (BVerfGE 7, 198)
Historisch motivierte Ordnungselemente im Grundgesetz
Diese Elemente der politischen Ordnung werden grundrechtlich verankert, um sie dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers und möglicher allzu leichter Manipulation zu entziehen. Im Grundgesetz kommt neben den üblichen Bestimmungen über Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit eine Reihe anderer Elemente hinzu, die erneut historisch motiviert sind. Abbildung 5: Grundrechte als Elemente der politischen Ordnung Art. 7 Abs. 1 GG Art. 7 Abs. 3 GG Art. 7 Abs. 5 GG Art. 7 Abs. 6 GG Art. 9 Abs. 3 GG
staatliche Aufsicht über das Schulwesen Religionsunterricht in den Schulen Einschränkung der Einrichtung privater Volksschulen Verbot von Vorschulen Vereinigungen zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ Art. 14 Abs. 3 GG Sozialbindung des Eigentums Art. 15 GG Sozialisierung Art. 18 GG Verwirkung von Grundrechten; Art. 19 GG Einschränkung von Grundrechten
Wenn Art. 1 Abs. 2 GG das Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und Gerechtigkeit in der Welt“ ablegt und Art. 1 Abs. 3 GG die Grund-
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rechte als Rechte bezeichnet, die die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden, dann wird damit auf historische Erfahrungen bezug genommen und eine grundlegende ordnungspolitische Position beschrieben. Das Grundgesetz normiert bewusst keine Rechte, die sich als individuelle Ansprüche auf staatliche Leistungen interpretieren lassen. So bedeutet das in Art. 12 GG allen Deutschen verbriefte Recht auf freie Berufs-, Arbeitsplatz- und Ausbildungsplatzwahl kein Recht auf Arbeit oder auf eine bestimmte Ausbildung. Allerdings sind mit der Formulierung vom sozialen Rechtsstaat in Art. 28 Abs. 1 GG und vom sozialen Bundesstaat in Art. 20 Abs. 1 GG, vor allem aber durch die Rechtsprechung zu diesem Bereich, bestimmte Normen entwickelt worden, die indirekt auch Rechte des Einzelnen auf Teilhabe an staatlichen Leistungen konstituieren. Die herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre geht dahin, dass dies keine „Umdeutung der in das Grundgesetz aufgenommenen Grundrechte in Teilhaberrechte“ rechtfertige (K. Hesse, 1991: 289). Entsprechende Versuche, im Zuge der Verfassungsdiskussion nach 1990 soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz aufzunehmen, sind gescheitert. Es bleibt der politischen Gestaltung des Gesetzgebers überlassen, wie er die allgemeinen Aussagen des Grundgesetzes über die sozialstaatliche Ordnung interpretiert und ausfüllt (BVerfGE 33, 303: 332ff.). Das Problem der Verankerung von Staatszielen verweist auf einen weiteren systematischen Aspekt von Grundrechten. Die Grundrechte regeln nicht nur das Verhältnis Bürger – Staat und verankern normative Leitlinien der staatlichen Ordnung, sondern sie greifen auch in die Beziehungen in der Gesellschaft ein. Hier stellt sich die Frage, ob sie ausschließlich gegen die öffentliche Gewalt gerichtet sind, oder aber auch im Privatrechtsverkehr die individuelle Freiheit vor den Gefahren des Missbrauchs gesellschaftlicher Macht schützen. Nur in Art. 9 Abs. 3 GG wird explizit darauf bezug genommen, wenn Abreden, die das Recht der Koalitionsfreiheit einschränken als nichtig und hierauf gerichtete Maßnahmen als rechtswidrig eingestuft werden. Wenn heute aus den Grundrechten eine Verpflichtung des Staates hergeleitet wird, diese auch zu schützen, dann bedeutet dies ipso facto auch eine „Drittwirkung“ dieser Grundrechte, also ihre Wirkung über das Verhältnis Staat – Bürger hinaus in die Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen hinein. Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte wird von der herrschenden Lehre verneint. Unstrittig ist aber, dass die Grundrechte auch Wirkungen auf die Beziehungen zwischen den Bürgern entfalten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lüth-Urteil von 1958 eine mittelbare Drittwirkung dergestalt anerkennt, dass der Wertgehalt der Grundrechte in den Bereich des Bürgerlichen Rechts und der Privatrechtsbeziehungen ausstrahlt, also auch für die Beziehungen zwischen den Bürgern untereinander normsetzende Kraft besitzt (Alternativkommentar, 1989, Bd. 1: 191). „Dieses Wertsystem [des Grundgesetzes], das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerli-
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Verzicht auf Leistungsrechte und Staatszielbestimmungen
Das Problem der Drittwirkung von Grundrechten
che Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“ (BVerfGE 7, 198: 205)
In seinem Urteil vom Dezember 1979 über eine Verfassungsklage gegen die Errichtung des Atomkraftwerks Mühlheim-Kärlich hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte und der Schutzpflicht des Staates ausgeführt, dass das in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe zu verstehen sei. „Vielmehr folgt darüber hinaus aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.“ (BVerfGE 53, 30: 57)5
Wie schmal der Grat zwischen der Ausgestaltung der vom Staat wahrzunehmenden Schutzrechte auf der einen und dem Grundsatz der Privatautonomie auf der anderen Seite sein kann, haben die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch deutlich gemacht, in denen es zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Entscheidungsfreiheit der Mutter abzuwägen galt. Hier hat sich das Gericht wohl am weitesten in Richtung einer unmittelbaren Drittwirkung, nämlich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit bewegt. Wertekanon des Auch wenn man angesichts der Zurückhaltung des Parlamentarischen Rates Grundgesetzes gegenüber sozial und kulturell gestaltenden Grundrechten eine gewisse Skepsis gegenüber der Behauptung hegt, dass dem Grundgesetz eine mehr oder weniger geschlossene Wertordnung zu Grunde gelegen hat, ist doch heute festzuhalten, dass durch die spätere Gesetzgebung, vor allem aber durch höchstrichterliche Rechtsprechung eine Art Wertekanon entstanden ist, der über die liberale Idee individueller Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat hinausgeht und den Grundrechten eine die gesellschaftliche und politische Ordnung normierende Kraft zuerkennt. In mehr als einem Fall ist der Schutz individueller Grundrechte in Konflikt mit den im Grundgesetz übergeordneten Interessen der Gemeinschaft geraten, sei es beim Parteien- oder Vereinsverbot, der Berufsfreiheit und den „Berufsverboten“ der 1970er-Jahre (BVerfGE 39, 334), sei es bei der Freiheit der Meinungsäußerung (BVerfGE 7, 198) oder gar, wie im Falle des § 218 StGB (BVerfGE 39, 1; 88, 203), der Schleyer-Entführung (BVerfGE 46, 160) und dem Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05) beim Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Solche Konflikte erscheinen unvermeidlich. Für die faktische Ausgestaltung der Werteordnung des Grundgesetzes ist es aber von entscheidender Bedeutung, in welche Richtung sich die Waage beim Konflikt zwischen individuellen Grundrechten und Rechten der Gemeinschaft neigt. Gesetzgebung und Rechtsprechung tendieren, mit Verweis auf den demokratischen Charakter 5
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Gleichlautend auch im Urteil zum „schnellen Brüter“ in Kalkar (BVerfGE 53, 30: 57) und im Urteil zu einer Verfassungsbeschwerde von Anliegern des Flughafens Düsseldorf wegen des Fluglärms (BVerfGE 56, 54: 71); vgl. hierzu auch die Position von Konrad Hesse in: Benda/ Maihofer/ Vogel, 1983, Bd.1: 102 ff. und ders., 1991: Rdnr. 350.
des politischen Institutionensystems dahin, eine gewisse Präferenz für den Schutz der Gemeinschaftsordnung erkennen zu lassen.
6.4.7 Renaissance der Grundrechte In den letzten Jahren ist, bedingt durch neue Bedrohungen und Konfliktlagen, eine gewisse Renaissance der Grundrechte zu verzeichnen. Sowohl individuelle Freiheitsrechte wie die Religionsfreiheit als auch Schutzrechte gegenüber dem Staat haben wieder an Bedeutung gewonnen. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Erstens zeigt die Entwicklung in vielen liberalen Demokratien nach der „Zeitenwende“ des 11. September 2001, dass der Staat die neuen Bedrohungen zum Anlass nimmt, um seine Kontrollrechte gegenüber den Bürgern auszubauen und auszuweiten – häufig auf Kosten bürgerlicher Freiheitsrechte. Insbesondere sind hier massive Eingriffe in die Rechte von einer terroristischen Straftat Verdächtigten zu nennen, aber auch erweiterte Zugriffsrechte der Strafverfolgungsbehörden. In einem Minderheitsvotum der Richterinnen am Bundesverfassungsgericht, Jaeger und Hohmann-Dennhardt zum Urteil des Gerichts über den so genannten „Großen Lauschangriff“, also dem Recht der Behörden, unter bestimmten Bedingungen auch Wohnungen mit elektronischen Mittels zu überwachen, wird die Sorge vor einer Tabuverletzung deutlich: „Inzwischen scheint man sich an den Gedanken gewöhnt zu haben, dass mit den mittlerweile entwickelten technischen Möglichkeiten auch deren grenzenloser Einsatz hinzunehmen ist. Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht. Umso mehr ist Art. 79 Abs. 3 GG streng und unnachgiebig auszulegen, um heute nicht mehr den Anfängen, sondern einem bitteren Ende zu wehren. (1 BvR 2378/98; 1 BvR 1084/99: 373)
Zweitens haben die tief greifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen und neue Disparitäten in modernen Gesellschaften, soziale und kulturelle Differenzierungsprozesse, unterschiedlich gelagerte individuelle und kollektive Chancen und Risiken den Gleichheitsrechten und dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung neue Aktualität verliehen. Trotz entsprechender Maßnahmen wie „affirmative action“ oder spezifischer Anti-Diskriminierungsgesetze, hat sich das Grundrechtsversprechen der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung noch nicht umfassend realisieren lassen. Der Absicht des Grundgesetzes stehen erhebliche gesellschaftliche Widerstände entgegen, die auch mit noch so „progressiver“ Gesetzgebung schwer zu überwinden sind, man denke nur an die volle Gleichberechtigung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen oder die Rechte von Behinderten. Und schließlich organisieren sich, aus der Gesellschaft heraus, neue ideologisch oder religiös motivierte „fundamentalistische“ Widerstände gegen zentrale Grundbestände einer auf Freiheit und Gleichheit aller Menschen ausgerichteten sozialen Ordnung und politischen Gemeinschaft, wobei, wie die Beispiele der 327
USA und Israels zeigen, nicht nur der Islam, sondern alle drei monotheistischen Religionen für solche Bestrebungen anfällig sind. Auch wenn vergleichbare Erscheinungen in Deutschland allenfalls in Ansätzen erkennbar sind, zeigt sich hier möglicherweise eine neue Konfrontation mit den Ideen einer freien Bürgergesellschaft, deren Urheber nicht der Staat, sondern gesellschaftliche Gruppen sind.
6.5
Der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung
Definition der freiheitlich demokratischen Grundordnung ex negativo
Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes
Dem Grundgesetz unterliegt eine bestimmte Vorstellung davon, wie eine freiheitliche, liberale Demokratie auszusehen habe. Das Grundgesetz formuliert verbindliche normative Positionen – vor allem im Grundrechtsteil – und bestimmt in der Präambel und im Art. 20 unveränderbare Grundbedingungen einer solchen freiheitlichen und demokratischen politischen Ordnung. Der Begriff „freiheitlich demokratische Grundordnung“ taucht im Grundgesetz in Verbindung mit der Aufhebung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 2 GG), der Einschränkung der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG), der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG), dem Parteienverbot (Art. 21 Abs. 2 GG), der Abwehr von Gefahren für den Bestand des Bundes oder eines Landes (Art. 91 Abs. 1 GG) und beim Einsatz der Bundeswehr im Inneren (Art. 87a Abs. 4 GG) auf. Der Begriff wird also im Grundgesetz immer dann benutzt, wenn es um den Schutz der politischen und gesellschaftlichen Ordnung und die damit zusammenhängende Einschränkung oder Verwirkung von Grundrechten geht. Er umfasst nicht die Gesamtheit der Verfassungsbestimmungen zur politischen Ordnung, sondern bezieht sich auf die unverzichtbaren Werte und Grundsätze der Verfassung. Bei Beeinträchtigung oder Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung sieht das Grundgesetz ein Bündel von einschneidenden Maßnahmen bis hin zur Verwirkung von Grundrechten vor. Umso mehr verwundert es, dass der Verfassungsgeber keine Legaldefinition dieser Ordnung vorgelegt hat. So sehr die Frage nach einem positiven, kohärenten, systematischen Wertesystem des Grundgesetzes umstritten ist, so wenig ist strittig, dass es ein eindeutiges Bekenntnis zu einer politischen Ordnung gibt, die auf bestimmten Grundwerten beruht und dass es – gleichsam ex negativo – einen Begriff für diese Ordnung gibt. Mit ex negativo ist gemeint, dass das Grundgesetz selbst, wie erwähnt, die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht positiv definiert, sondern Bestrebungen, sie zu beseitigen sanktioniert, z.B. mit dem Instrument des Parteienverbots. Es erscheint auf den ersten Blick völlig einsichtig und unbestreitbar, dass es einen zu schützenden Kern des politischen Gemeinwesens geben muss und dass dazu Sanktionsmittel vorhanden sein müssen. Die Drohung mit Sanktionen bedeutet aber Einschränkungen der Freiheit. Folglich geht es darum, ob und in welchem Umfang demokratische Freiheiten eingeschränkt werden dürfen – und wenn ja, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln – um sich gegen Feinde der Freiheit und der Demokratie zu wehren. Es geht um den „Republik328
schutz“, „Verfassungsschutz“ oder „Staatsschutz“ im eigentlichen Sinne des Wortes (Glaeßner 2003: 175 ff.). Aus der historischen Erfahrung, dass eine Demokratie mit ihren eigenen Mitteln geschwächt und beseitigt werden kann, entstand die Idee einer „wehrhaften Demokratie“. Sie wurde nach 1949 zusätzlich unterstützt durch die Verschärfung des „Kalten Krieges“, was den konservativen Kommentator des Grundgesetzes Günter Dürig bewog, als Maßstab für die Bestimmungen der freiheitlich demokratischen Grundordnung den Blick „zurück“ auf den Nationalsozialismus und den Blick nach „drüben“, in die DDR, einzuführen (Maunz/Dürig/Herzog, 1964: Rdnr. 48-50). „Der Begriff der fdGO ergibt sich einfach daraus, was wir von ,früher’ und von ,drüben’ als politische Ordnung unbedingt nicht wollen.“ (Maunz/Dürig/Herzog, 1964: Rdnr. 48)
Dies ist erneut keine positive Beschreibung des Kernbestands einer freiheitlichen demokratischen Ordnung im Sinne des Grundgesetzes, sondern der Hinweis auf unvereinbare Elemente politischer Systeme, die beide – bei allen Unvergleichbarkeiten – als „totalitär“ wahrgenommen wurden. Diese Abgrenzung markiert einen tiefgreifenden Wandel gegenüber dem Verfassungsverständnis der Weimarer Republik. Die Verfassung als „Wertsystem“ und „Wertordnung“ sei, so Theodor Maunz, „etwas typisch Neues“ in der deutschen Verfassungsgeschichte (Maunz, 1966: 51). Nur auf dieser Grundlage ist begründbar, warum es Beschränkungen von Bürgerrechten und demokratischen Mitwirkungsrechten geben kann und darf: Gesellschaft und Staat sind sich darüber im Klaren, was schützenswert ist und zu welchem politischen Preis dieser Schutz garantiert werden soll. Angesichts der Bedeutung, die das Grundgesetz den Parteien als Trägern der politischen Willensbildung im Art. 21 zuweist, verwundert es nicht, dass das Bundesverfassungsgericht erstmals ausführlich anlässlich des Verbots der neonazistischen „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) 1952 und des Verbots der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ (KPD) 1956, also in zwei Fällen, in denen mit dem Verweis auf die Beeinträchtigung oder Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung ein Parteienverbot ausgesprochen wurde, diesen Begriff näher erläutert hat. (Ein im Jahre 2000 angestrengtes Verbotsverfahren gegen die NPD scheiterte an schwer wiegenden Verfahrensfehlern seitens der Antragsteller; 2 BvQ 42/0.) Mit der inhaltlichen Ausgestaltung des Begriffs freiheitlich demokratische Grundordnung hat das Bundesverfassungsgericht jedoch keine Legaldefinition nachgeliefert. Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts war die Legitimität der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und die auf historischer Erfahrung beruhende Berechtigung, Gegnern der demokratischen Ordnung in den Arm zu fallen, zumal dann, wenn, wie im Grundgesetz geschehen, die politischen Parteien „in den Rang verfassungsrechtlicher Institutionen“ gehoben wurden (BVerfGE, 5, 85: 137). In seinem SRP-Urteil definierte das Gericht diese freiheitlich demokratische Grundordnung folgendermaßen: „Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechts-
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Konkretisierung des Begriffs durch das Bundesverfassungsgericht
staatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ (BVerfGE, 2, 1: 1)
Diese Interpretation lässt der konkreten Gestaltung weite Spielräume. Es ist allerdings auffällig, dass diese begriffliche Eingrenzung der freiheitlich demokratischen Grundordnung nur Elemente enthält, die der Sphäre des Rechtsstaates und dem Demokratieprinzip zuzuordnen sind, wohingegen das Republik-, Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip, die durch Art. 79 Abs. 3 GG unveränderbarer Bestandteil der Verfassung sind, nicht berührt werden. Es sind also Mindeststandards einer demokratischen Ordnung, die hier formuliert wurden. In Bezug auf die Rolle der Parteien heißt es weiter: „Die besondere Bedeutung der Parteien im demokratischen Staat rechtfertigt ihre Ausschaltung aus dem politischen Leben nicht schon dann, wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln bekämpfen, sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern wollen. Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung – der ,verfassungsmäßigen Ordnung’ – als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.“ (BVerfGE 2, 1: 12)
Erweiterung des Begriffs freiheitlich demokratische Grundordnung in den Verträgen zur deutschen Einheit
Auf der Grundlage dieser Vorstellungen gestaltete das Bundesverfassungsgericht später seine Rechtsprechung zu Fragen des politischen Extremismus und zu den Rechten und Pflichten öffentlich Bediensteter, insbesondere von Beamten. Von ihnen wird „mehr als nur eine formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung“ gefordert, sondern eine eindeutige Distanzierung von Gruppen und Bestrebungen, „die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren“ (BVerfGE 39, 334). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 eine Erweiterung des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vornehmen und zugleich das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das im GG keine Erwähnung findet, als Grundlage der staatlichen Ordnung einführen. Der Staatsvertrag sagt in Art. 1 Abs. 3 „Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft“; Art. 2 Abs. 1 lautet, „Die Vertragsparteien bekennen sich zur freiheitli-
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chen, demokratischen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung“. Die Präambel des Einigungsvertrages spricht von einem „rechtsstaatlich geordneten demokratischen und sozialen Bundesstaat“. Diese Formulierungen verschieben – auch wenn sie nicht mehr als verbale Zugeständnisse an die „Befindlichkeiten“ der ostdeutschen Vertragspartner waren – die Gewichte im Verständnis des Begriffs freiheitliche demokratische Grundordnung, der als politischer Abwehrbegriff entstanden war und als solcher Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und die politische Debatte gefunden hat. Die Möglichkeit der Einschränkung oder Verwirkung von Grundrechten, das Vereins- und Parteienverbot und andere Bestimmungen zur Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung beruhten, wie Otto Kirchheimer in einem Buch über „Politische Justiz“ angemerkt hat, auf der Furcht davor, dass „die zentrale und überragende Gefahr“ darin bestehe, „dass es angesichts der spezifischen Funktionsweise der Demokratie nicht möglich sei, die politischen Gegner daran zu hindern, von den demokratischen Rechten und Freiheiten zur Zerstörung von Recht und Freiheit Gebrauch zu machen“ (Kirchheimer, 1965: 74). Daher sind politische Freiheitsrechte im Grundgesetz an das Bekenntnis zu den Grundlagen einer demokratischen Ordnung gebunden und auf Seiten der Grundrechtsträger, der Individuen, Parteien, Vereine, juristischen Personen, nicht beliebig disponibel, so wie der Staat nur dann in die Freiheitssphäre eingreifen darf, wenn dies nicht die „Wesensgehaltsgarantie“ des Art. 19 Abs. 2 GG und die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Die Einschränkung von Freiheit zum Schutz der Freiheit waren die ultima ratio der neuen Staatlichkeit, die das Grundgesetz gestaltete. Das Grundgesetz zielte auf die Freiheit des Bürgers und seinen Schutz in doppelter Hinsicht.
Einschränkung von Freiheit zum Schutz der Freiheit als ultima ratio
Es zielt „auf die Freiheit des privaten, wenngleich vergesellschafteten, in Gruppen ,organisierten’ Individuums, mithin des ,bourgeois’ wie auch, wenngleich nicht mehr ebenso ausgeprägt, auf die politische Autonomie, auf die Selbstbestimmung des demokratischen ,citoyen’. Der Begriff ,freiheitliche demokratische Grundordnung’ bringt diese beiden Wirkungsbereiche einer einheitlichen Grundintention wörtlich zum Ausdruck.“ (Denninger, 1977: I, 18f.)
Die ordnungspolitischen Elemente des Grundrechtskatalogs beschreiben eine liberale Demokratie und einen Rechtsstaat. Nimmt man die Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinzu, so werden die Sicherungen erkennbar, die diese liberale Ordnung gegen Gefährdungen immunisieren sollen. Es gibt weitere konstitutionelle Vorkehrungen. Dazu zählen die Bindung aller staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz, der Vorrang der Verfassung, wie ihn Art. 1 Abs. 3 GG formuliert und die „Wesensgehaltsgarantie“ des Art. 19 Abs. 2 GG, die den einfachen Gesetzgeber dahingehend bindet, dass eine Einschränkung von Grundrechten nur auf der Grundlage eines allgemeinen Gesetzes erfolgen kann, wenn der entsprechende Grundrechtsartikel eine solche gesetzliche Einschränkung ausdrücklich zulässt, dass aber auch bei einer solchen Einschränkung das Grundrecht in keinem Falle „in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ darf. Die konstitutionellen Vorkehrungen konkretisieren sich an verschiedenen Stellen im Grundgesetz. Eine Sicherung besonderer Art stellen Bestimmungen des Art. 79 GG dar, der das Verfahren bei Grundgesetzänderungen regelt. Art. 331
Konstitutionelle Vorkehrungen zum Schutz der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes
79 Abs. 1 GG legt fest, dass das Grundgesetz nur durch Gesetz geändert werden kann, „das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.“ Art. 79 Abs. 2 GG schreibt für alle Grundgesetzänderungen eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates vor. Die „EwigkeitsUnter dem Aspekt der Stabilität ist der Artikel 79 Abs. 3 GG von besonderem garantie“ des Art. 79 Interesse. Hier hat der Verfassungsgeber mit der „Ewigkeitsgarantie“ eine verfasAbs. 3 GG sungspolitisch einmalige und historisch-politisch bedeutsame Sperre eingebaut. „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundlegende Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ (Art. 79 Abs. 3 GG)
Dies bedeutet, dass bestimmte ordnungspolitische Grundprinzipien in ihrer Substanz geschützt werden und nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen. Geschützt sind das Gebot der Menschenwürde als oberste Leitprinzip staatlicher Gewalt, die Menschenrechte und die Rechtsbindung der Grundrechte, sowie die Strukturprinzipien der politischen Ordnung: x x x x x x x
Modifikation der Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG durch die Rechtsprechung
der Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG; das Bekenntnis zu den allgemeinen Menschenrechten, Art. 1 Abs. 2 GG; die Bindung der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG; die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, Art. 1 Abs. 3 GG; das Demokratieprinzip, Art. 20 Abs. 1 GG; das Leitbild des „demokratischen und sozialen Bundesstaates“, Art. 20 Abs. 1 GG; das Bundesstaatsprinzip und die föderale Ordnung: Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 GG (Bundesgarantie für die Länderverfassungen), Art. 30 GG (Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern), Art. 31 GG (Vorrang des Bundesrechts) und Art. 50 bis 53 GG (Rechte des Bundesrates):
Die ordnungspolitische Sperre des Art. 79 Abs. 3 GG schließt nicht nur einfache Gesetzgebung, sondern auch Verfassungsänderungen aus, die diese normativen Grundlagen und grundlegenden Organisationsprinzipien der demokratischen Grundordnung in ihrer Substanz antasten. Die Grundsätze einer demokratischen, republikanischen und rechtsstaatlichen Ordnung und das Prinzip des Sozialstaates stehen nicht zur Disposition. Eine Entwicklung wie am Ende der Weimarer Republik wäre also nur auf dem Wege des konstitutionellen Staatsstreichs möglich. Unterhalb dieser Schwelle freilich hat sich im Laufe der Jahrzehnte einiges geändert. Die aus der Erfahrung von Weimar gespeiste ordnungspolitische Rigidität des Art. 79 Abs. 3 GG ist durch Gesetzgebung – man denke an die Ergänzung des Art. 10 GG im Rahmen der Notstandsgesetzgebung oder die Veränderung des Asylrechts in Art. 16 und 16a GG – und durch die anschließende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes aufgelockert worden. Aus der Bestimmung, dass die genannten Grundsätze nicht „berührt“ werden dürfen, ist in der Judikatur des Gerichts ein Verbot geworden, diese Grundsätze „prinzipiell“ preiszugeben.
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In seinem „Abhörurteil“ vom 15. Dezember 1970 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage zu beschäftigen, ob die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eingeführte Möglichkeit, eine Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zum „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“ vorzunehmen, ohne dass diese Tatsache dem Betroffenen mitgeteilt werden muss, dem Grundgesetz und insbesondere den Einschränkungen des Art. 79 Abs. 3 GG zuwiderlaufe – es ging also um die Klärung, ob eine Verfassungsnorm verfassungswidrig sei. Entgegen seiner früheren restriktiven Auslegung wies das Gericht jetzt darauf hin, dass die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG nicht von vornherein „berührt“ würden, „wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden“ (BVerfGE 30, 1: 24). Solche evident sachgerechten Gründe sah das Gericht im Falle des sogenannten „G10-Gesetzes“ gegeben. In einer komplizierten Argumentation verwies das Gericht auch darauf, dass nicht „das“ Rechtsstaatsprinzip, sondern nur bestimmte Elemente dieses Prinzips durch die Klauseln des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt seien, sodass auch der faktische Ausschluss des Rechtsweges für die Betroffenen, die über die Einschränkung ihrer Grundrechte nicht informiert werden müssen, rechtens sei. Die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers durch Art. 79 Abs. 3 GG sei eine „Ausnahmevorschrift“, die jedenfalls nicht dazu führen dürfe, „dass der Gesetzgeber gehindert wird, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren.“ Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz, dass „dem Bürger ein möglichst umfassender Gerichtsschutz zur Verfügung stehen muss“, gehöre nicht zu den in Art. 20 GG „niedergelegten Grundsätzen“, sei also auch nicht durch die in Art. 19 Abs. 4 GG normierte Rechtswegegarantie einer Einschränkung oder Modifizierung entzogen (BVerfGE 30, 1: 25). Interessant ist vor diesem Hintergrund die Begründung für die Zweckbestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslegung dieses Artikels anführt: „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze.“ (BVerfGE 30, 1: 24)
Man kann diese Begründung auf verschiedene Weise lesen. Sie ist auf der einen Seite eine Bestätigung der Intentionen des Verfassungsgebers, der in der Tat vor allem und in erster Linie die „formal-legalistischen“ Gefährdungen im Auge hatte, denen sich ein demokratischer Verfassungsstaat wie die Weimarer Republik gegenüber sehen kann. Sie kann auch als Beleg für die Einschätzung genommen werden, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit diesem (und anderen) Urteilen auf die Seite derer geschlagen habe, die Verfassungsreformen befürworten und dies auf dem Wege der Rechtsprechung betreiben (Hoüevar, 1995: 35). Sie kann andererseits als Weigerung verstanden werden, die anfangs als Abwehrin333
Interpretation der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts
strument der „streitbaren Demokratie“ konzipierte Verfassungsbestimmung auch als Schranke gegenüber auswuchernden Regelungs- und Kontrollansprüchen des Staates zu interpretieren, eine Weigerung, die nicht zuletzt auch durch die Zeitumstände Anfang der 1970er-Jahre befördert worden sein mag, wie spätere, die Individualrechte stärkende Urteile des Gerichts es nahe legen – man denke an das Urteil zur „Volkszählung“ mit seiner Einführung des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“, das nur „im überwiegenden Allgemeininteresse“ eingeschränkt werden darf (BVerfGE 65, 1).
6.6
Der Parlamentarische Rat und das Problem der Wiedervereinigung
Die deutsche Vereinigung als verfassungspolitisches Problem
Angesichts der politischen Umstände, die eine staatliche Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR in überschaubarer Zukunft undenkbar erscheinen ließen, stellte sich vor 1989 die Frage, auf welchem Wege die beiden deutschen Staaten eines Tages wieder vereint werden könnten, als mehr oder weniger hypothetisch. Es gab kaum Zweifel darüber, dass für diesen unwahrscheinlichen Fall der Schlussartikel 146 des Grundgesetzes gelten werde. Das deutsche Volk würde sich im Falle einer Wieder- oder Neuvereinigung eine neue Verfassung geben, die dem deutschen Volk zur Abstimmung vorzulegen sei (Simon, 1990a). Die in Art. 23 GG a.F. vorgesehene Möglichkeit, dass „andere Teile Deutschlands“ ihren Beitritt zur Bundesrepublik erklären, war nach herrschender Meinung rechtlich nicht obsolet geworden, aber es blieb der demokratische Auftrag, den Souverän bei der Gestaltung der zukünftigen politischen Ordnung des vereinten Deutschland nicht zu übergehen. Das Grundgesetz war als Provisorium für eine Übergangszeit gedacht gewesen. Carlo Schmid (SPD) hat es im Parlamentarischen Rat als „einen Schuppen, einen Notbau“ bezeichnet, dem man nicht die Weihe gebe, „die dem festen Hause gebührt“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, 1996: 597). Andere Mitglieder des Parlamentarischen Rates, wie der spätere Außenminister Heinrich von Brentano (CDU) oder der spätere Justizminister Thomas Dehler (FDP) hatten es schon damals als Mangel empfunden, die endgültige Entscheidung über das Grundgesetz dem Volke vorzuenthalten. Thomas Dehler argumentierte, dass es darum gehe, „einen demokratischen Staat zu schaffen und diesem demokratischen Staat in unserem Volk Wirkung und Leben zu geben. Da darf man der Entscheidung durch das Volk meiner Überzeugung nach nicht ausweichen“ (Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, 1996: 597). Wie und unter welchen Umständen aus diesem Notbau Bundesrepublik Deutschland eine dauerhafte politische Ordnung werden könne, war unklar. Dass aber das Grundgesetz etwas Vorläufiges, nicht Dauerhaftes sein sollte, stand für alle Beteiligten außer Zweifel. Daher der Auftrag der Präambel des Grundgesetzes, trotz der Teilstaatsgründung die „nationale und staatliche Einheit zu wahren“ und die Aufforderung, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, daher die Begrenzung der Geltungsdauer des
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Grundgesetzes in Art. 146, das heißt die verfassungsrechtlich ungewöhnliche Bereitschaft zur „Selbstaufgabe“ (Alternativkommentar, Bd. 2: 1579). Im Parlamentarischen Rat war auch die Möglichkeit eines späteren Beitritts Ostdeutschlands angesprochen worden. So argumentierte der CDU-Abgeordnete Adolf Süsterhenn, dass auch „die Länder der Ostzone mit gleichen Rechten und Pflichten die Mitgliedschaft in dem von uns zu schaffenden Bundesstaat erwerben können“, freilich unter der Bedingung, dass „nicht nur die Verfassung, sondern auch die realen politischen Verhältnisse der Länder der Ostzone freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen“ (Der Parlamentarische Rat Bd. 9, 1996: 51). Diese Option galt aber aus damaliger – und in der Staatsrechtslehre als rechtliche Position aufrechterhaltener – Sicht auch für das Saarland bis zum Beitritt 1957 und für die Gebiete, die nach 1945 unter polnische Verwaltung gestellt worden waren. Verfassungsrechtlich standen also 1990 zwei Rechtsnormen zur Verfügung, um die staatliche Einheit zu verwirklichen: Art. 23 GG und Art. 146 GG. Ob sich daraus ableiten lässt, dass damit ein „Staatsziel“ Wiedervereinigung normiert gewesen ist (Isensee, 1990: 309), war und bleibt umstritten. Rupert Scholz argumentiert im Einklang mit der herrschenden Meinung, dass es einen verfassungsrechtlichen „Wiedervereinigungsauftrag“ gegeben habe, der in der Präambel, in Art. 23 und Art. 146 des Grundgesetzes normiert gewesen sei. Dieser verbindliche Verfassungsauftrag habe weder zur rechtlichen noch zur politischen Disposition gestanden (Maunz/Dürig, 1994: Kommentar zu Art. 23 GG, Rd.Nr. 6; BVerfGE 36, 1: 18ff.; 77, 137: 149ff.). Die leidenschaftliche und zum Teil ideologisch verbissene Debatte des Jahres 1990, ob der Artikel 23 oder der Artikel 146 den „Königsweg“ zur deutschen Einheit darstellten, änderte nichts an der Tatsache, dass rechtlich beide Wege möglich waren. Es gab in der Staatsrechtslehre keine ernsthaften Auseinandersetzungen darüber, dass „das GG entweder über den Weg des Art. 23 Satz 2 auch zur gesamtdeutschen Verfassung werden kann oder bei einer Wiedervereinigung mittels Konstituierung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung die eigene Geltung einbüßt (Art. 146 a.F.)“ (Maunz/Dürig, 1994: Kommentar zu Art. 23 GG, Rd.Nr. 7). Der Artikel 23 des Grundgesetzes bot sich als nützliches Instrumentarium in einer außergewöhnlichen historischen Konstellation an. Er ermöglichte einen schnellen und unkomplizierten Weg des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik. Eine entsprechende Erklärung der DDR hätte genügt, um die Verpflichtung der Bundesrepublik auszulösen, die DDR in ihren Staatsverband aufzunehmen. Ein solcher Beitritt hätte auch bedeutet, dass automatisch das Grundgesetz der Bundesrepublik für den beigetretenen Teil gegolten hätte, so wie dies 1957 im Saarland der Fall war. Die herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre bestand darauf, dass Art. 23 GG nach der Rückgliederung des Saarlandes am 1. Januar 1957 nicht gegenstandslos geworden sei (Isensee, 1990: 312). Diese Position hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 31. Juli 1973 ausdrücklich bestärkt. Der Artikel 23 GG stehe in einem inneren Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsgebot und gehöre zu den zentralen Vorschriften, die dem Grundgesetz sein besonderes Gepräge gäben. Er besage, dass sich die Bundesrepublik „als gebietlich unvollständig versteht, dass sie, sobald es
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Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG
Interpretation des Art. 23 GG durch das Bundesverfassungsgericht
Der Präzedenzfall Saarland
Begründung für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik
Wiedervereinigung nach Art. 146 GG
möglich ist und die Bereitschaft anderer Teile Deutschlands zum Beitritt vorliegt, von sich aus kraft dieser Verfassungsbestimmung das dazu nötige zu tun verpflichtet ist, und dass sie erst ,vollständig' das ist, was sie sein will, wenn die anderen Teile Deutschlands ihr angehören“ (BVerfGE 36, 1: 28). Das Verfassungsgericht war allerdings realistisch genug, einzuräumen, dass diese rechtliche Position politisch faktisch durch die Existenz der „inzwischen anderweitig staatlich organisierten Teile Deutschlands“ beeinflusst werde, sie sei dadurch aber nicht überholt „noch sonst aus irgendeinem Grund rechtlich obsolet geworden“ (BVerfGE 36, 1: 29). Art. 23 GG war in den 1950er-Jahren bei der Rückgliederung der Saar angewandt worden. Ein Volksentscheid, in dem sich die Bevölkerung der Saar am 23. Oktober 1955 für den Anschluss an die Bundesrepublik aussprach, führte zur Vereinbarung von Übergangsregeln zwischen der Bundesrepublik, dem Saarland und Frankreich und am 4. Dezember 1956 zu einem Beschluss des saarländischen Landtages, in dem er den Beitritt der Saar zur Bundesrepublik erklärte. Anschließend hat der Bundestag die Geltung des Grundgesetzes und der Bundesgesetze inklusive bestimmter Übergangsregelungen beschlossen. Die Inkraftsetzung des Grundgesetzes war eine automatische Rechtsfolge des Beitrittsbeschlusses. Dieses Verfahren stellte das Szenario für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zur Verfügung. Hier trat die DDR als Ganzes und nicht einzelne Länder bei. Dies war möglich, da der Art. 23 GG a. F. nur allgemein von „anderen Teilen Deutschlands“ und nicht explizit von Ländern sprach. Die Befürworter des Weges über Artikel 23 GG, soweit sie politisch und nicht ausschließlich juristisch argumentierten, führten an, dass es nur so möglich sei, den Prozess auf der Grundlage einer bewährten Verfassungsordnung politisch zu steuern. Das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sicherten ein hohes Maß an verfassungsrechtlicher Rationalität, die beim Verfahren nach Artikel 23 erhalten bleibe. Die Lernfähigkeit des Systems und die Stabilität der Bundesrepublik sei zu Recht mit dem Grundgesetz identifiziert worden. Für die Fortgeltung spreche ferner, dass das Grundgesetz eine funktionierende bundesstaatliche Ordnung zur Verfügung stelle und die zu erwartenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme auf der Grundlage einer stabilen und bewährten Verfassung besser zu bewerkstelligen seien, als wenn erst ein neues rechtliches Fundament gezimmert werden müsste (Leicht, 1990). Der Artikel 146 des Grundgesetzes bezeichnete den Weg, auf dem die Wiedervereinigung ursprünglich vorgestellt war (BVerfGE, 5, 85:130). Er hätte nicht nur die DDR, sondern auch die Bundesrepublik zur Disposition eines gesamtdeutschen Verfassungsgebers gestellt. Eine verfassungsgebende Versammlung oder eine vergleichbare Institution hätte eine Verfassung für Gesamtdeutschland ausarbeiten und damit auch darüber entscheiden müssen, „ob die Ordnung des Grundgesetzes auch für Gesamtdeutschland fortbestehen oder durch eine andere Verfassungsordnung abgelöst werden soll. Die Legitimität der gesamtdeutschen Verfassung kann nicht daran gemessen werden, ob sie in einem Verfahren zu Stande gekommen ist, das seine Legalität aus der Ordnung des Grundgesetzes herleitet“ – so das Bundesverfassungsgericht in seinem KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85: 131). Die Vertreter der Bundesrepublik in der verfassungsgebenden Ver-
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sammlung wären in diesem Fall nicht mehr an das Grundgesetz, wohl aber an das Prinzip der Selbstbestimmung gebunden gewesen. Nach allgemeinem Verständnis hätte die neue Verfassung schließlich dem Volke zur Abstimmung vorgelegt werden müssen. Das vereinte deutsche Staatswesen hätte sich rechtlich und politisch neu konstituiert. Diejenigen, die eine Vereinigung nach Artikel 146 GG befürworteten, wandten ein, nur so könnten die Interessen der DDR-Bürger gewahrt werden (Seifert, 1990). Im Kern gehe es um die Frage, ob der kommende Nationalstaat sich auf der Einheit der Nation oder auf der demokratischen Selbstkonstitution einer politischen Gemeinschaft von Bürgern gründe. Das Grundgesetz habe, wegen seines provisorischen Charakters, die in der modernen deutschen Geschichte nicht gelöste Frage einer Versöhnung des konstitutionellen mit dem nationalen Gedanken nicht beantworten müssen, dazu sei jetzt die Chance und die Notwendigkeit gegeben. Bei allen Befürwortern des Verfahrens nach Artikel 146 wog schließlich das Argument schwer, dass nur so den Bürgern der DDR eine Chance der Beteiligung an der Gestaltung der zukünftigen staatlichen Ordnung gegeben werde könne. In höchstem Maße strittig waren verschiedene Varianten der Verbindung von Art. 23 und Art. 146 GG.6 Der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon argumentierte 1990, wie sich zeigen sollte durchaus zutreffend, dass, wenn erst einmal der Weg des Artikel 23 eingeschlagen sei, „weder eine Fortentwicklung des Grundgesetzes noch eine echte Beteiligung des Volkes in Betracht kommen“ werde (Simon, 1990a: 9). Die Beantwortung der Frage, ob eine solche Kombination der beiden Artikel des Grundgesetzes rechtlich möglich gewesen wäre, hing davon ab, wie die in Art. 146 GG gebrauchte Formel: „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“, interpretiert wurde. In der Diskussion über die Fortgeltung des Grundgesetzes oder eine neue gesamtdeutsche Verfassung standen sich zwei Positionen diametral gegenüber. Die eine ließ sich auf eine politische Debatte nicht ein und argumentierte ausschließlich juristisch, freilich mit dem erkennbaren Ziel eine weitergehende Verfassungsdiskussion zu verhindern (Badura, 1991; Blumenwitz, 1992; Isensee, 1990). Die Vertreter der Gegenposition argumentierten sowohl juristisch als auch politisch-normativ mit der noch ausstehenden Erfüllung des Gebots „in freier Selbstbestimmung“ durch den gesamtdeutschen Souverän (Benda, 1990; Schneider, 1991). Die vorgebrachten Argumente wurden auch dann nicht obsolet, als der erhoffte Weg des Art. 146 GG nicht eingeschlagen wurde. In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. September 1990 wurde der politische Kern der Kontroverse auf den Punkt gebracht. Das Argument lautete, das Grundgesetz habe „seine größte Bewährungsprobe mit Bravour bestanden und sich als gesamtdeutsche Verfassung qualifiziert“. Dieser Artikel trägt die Überschrift „Die Drohung des Artikels 146“. Der Autor sprach davon, dass der Artikel 146 eine „allzu gut gemeinte“ Bindung und ein Angebot des Parlamentarischen Rates gewesen sei und dass „so manche Kräfte im Westen wie im Osten, denen nicht ein Beitritt der DDR, sondern eine Kon6
Einen Eindruck vermitteln die Beiträge auf einer Diskussionsveranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen am 28.3.1990 in Bonn (ZParl, 21. Jg., H.2, S. 333-366), die mit einem Beitrag von Josef Isensee eingeleitet wurde.
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Überlegungen Art. 23 GG und Art. 146 GG zu verbinden
Kontroverse Debatte über die Frage einer Fortgeltung des Grundgesetzes
Generalrevision des Grundgesetzes?
Der Kompromiss des Einigungsvertrages
vergenz-Vereinigung (!) vorschwebte“, den „dafür notwendigen Artikel 146 vor der Abschaffung durch Einführung einer leicht geänderten Fassung in den Einigungsvertrag“ gerettet hätten. Es gehe „diesem Lager“ darum, Reformbedürfnisse und Anregungen aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches „der Modrowschen DDR“ zu übernehmen (Paul Hefty in: FAZ vom 24.9.1990: 1). Auch die Frage, ob das Grundgesetz, das nach dem 3. Oktober 1990 in ganz Deutschland gilt, einer Generalrevision unterworfen werden oder durch eine neue gesamtdeutsche Verfassung ersetzt werden sollte, war Gegenstand scharfer politischer Kontroversen, deren Fronten sowohl zwischen Ost und West als auch zwischen den politischen Gruppierungen in der alten Bundesrepublik verliefen. Vertreter des konservativen Lagers befürchteten, dass eine Verfassungsdiskussion nur dazu dienen solle, gleichsam durch die Hintertür bewährte Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen und eine „andere Republik“ zu schaffen. Der Generalsekretär der CDU, Volker Rühe, sprach in einem Beitrag in der „Welt am Sonntag“ vom 19. Mai 1991 davon, dass derjenige, der eine neue Verfassung wolle, sich fragen lassen müsse, ob er nicht in Wirklichkeit eine andere Gesellschaftsordnung und einen anderen Staat zum Ziel habe. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg meinte, das Ziel derer, die mit Eifer für eine Verfassungsrevision plädierten, sei eine „Links-Verschiebung“ des Grundgesetzes (Kielmansegg, 1991: 8). Linke und Linksliberale forderten, die Gelegenheit zu nutzen, längst überfällige Verfassungsreformen nunmehr in Angriff zu nehmen und meinten damit insbesondere die Aufnahme von Staatszielen und die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Diese Polemik zeigt, dass es im Einigungsprozess um mehr ging, als um Verfahrensfragen. Dahinter stand die Furcht, die in der Bundesrepublik bewährten Formen und Verfahren pluralistischer Demokratie könnten gefährdet werden oder, um den damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger zu zitieren, der Verdacht, dass diejenigen, die für eine Volksabstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung eintraten, eine „andere Republik“ anstrebten (FAZ vom 24.9.1990: 5). Der im Einigungsvertrag gefundene Kompromiss beschrieb eine originelle Variante eines dritten Weges, in dem sich die Regelungsvorteile beider Lösungen miteinander verbanden. Der Vertrag vertagte die innen- und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen um neue Verfassungsinhalte auf die Zeit nach der staatsrechtlichen Vereinigung. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR sah in seinen Artikeln 4 und 5 die nachträgliche Befassung mit Verfassungsfragen ausdrücklich vor, setzte sich also über die staatsrechtliche Schutzbehauptung hinweg, mit dem Beitritt nach Art. 23 GG sei der Art. 146 GG obsolet geworden. Er trägt der außergewöhnlichen Situation Rechnung, indem er Art. 146 GG dahingehend umformulierte, dass das Grundgesetz, „das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“, seine Gültigkeit an dem Tage verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ (Art. 4 Abs. 6 EVertr.). Ob dies geschehen solle, blieb offen.
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6.6.1 Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der Einigungsvertrag Die politische Entscheidung, die Vereinigung auf dem von Art. 23 GG vorgezeichneten Weg zu erreichen, stellte die politischen Akteure vor die Frage, wie und mit welchen Mitteln es gelingen könne, die Verhältnisse in der ehemaligen DDR an die Normen und Verfahrensregeln der Bundesrepublik anzugleichen, ohne erhebliche politische, wirtschaftliche und soziale Friktionen zu erzeugen. Es bedurfte politischer Zielvorgaben und rechtlicher Normen für den notwendigen Prozess des Umbaus. Dies umso mehr, als sich die ökonomische und soziale Lage in der DDR im Frühsommer des Jahres 1990 so bedrohlich verschlechterte, dass den ostdeutschen Politikern kein anderer Ausweg möglich erschien, als die Souveränität der DDR schon vor der Vereinigung faktisch dadurch zu beenden, dass die Bundesrepublik die Verantwortung für die Geld- und Finanzpolitik übernahm. Die dafür nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen schuf die Volkskammer der DDR am 17. Juni 1990 mit den von ihr verabschiedeten Verfassungsgrundsätzen. Der „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 18.5.1990 (BGBl. II S.537) trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Vorgespräche über einen solchen Vertrag hatte es auf Vorschlag der Bundesregierung bereits seit dem 20. Februar 1990 mit der Regierung Modrow gegeben. Zu dieser Zeit waren noch alternative Wege zu einem Währungsverbund oder einer deutsch-deutschen Konföderation in der Diskussion. Seither waren monatlich Zehntausende aus der DDR in die Bundesrepublik gegangen, angelockt durch bessere wirtschaftliche Bedingungen und soziale Chancen. Die Abschaffung der DDR-Währung und die Einführung der D-Mark sollten diesen Abwanderungsstrom stoppen und die Voraussetzungen für die Gesundung der DDR-Wirtschaft schaffen. Die Währungsunion war aber auch das Signal, dass die Einheit Deutschlands schnell vollzogen werden sollte. De facto lief die Währungsunion auf die Ausweitung der Prinzipien des bundesdeutschen Wirtschaftssystems auf die DDR und damit das Ende der DDR hinaus – und so wurde es auch von der Mehrheit der Bevölkerung empfunden. Die Übertragung der Währungssouveränität auf die Bundesrepublik bedeutete, wie es der Finanzminister der DDR, Walter Romberg, in der Volkskammer formulierte, den Verlust eines wesentlichen Teils „wirtschaftspolitischer Souveränität und damit auch von politischer Souveränität“ (Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode, Sondertagung [8. Tagung] 21. Mai 1990: 211). Die Einführung der D-Mark wurde so, wie es der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank formulierte, zum „Markenzeichen des Vereinigungsprozesses“ (Pöhl, 1990). Eine Vielzahl von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik galt ab sofort in der DDR. Alte DDR-Gesetze wurden aufgehoben und die Volkskammer war genötigt, neue Gesetze zu verabschieden, die den Übergang regelten. Die Anlagen des Staatsvertrages sahen hierzu detaillierte Regelungen vor. Westdeutsche Behörden konnten, noch vor der formalen Vereinigung, „nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts“ Amtshilfe leisten und es wurde
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Verhandlungen über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
Weitgehender Verlust der Souveränität der DDR durch die Währungsunion
Kontroverse über den Staatsvertrag in der DDR
Voraussetzungen des Einigungsvertrages
eine gemeinsame Regierungskommission zur Durchführung des Staatsvertrages gebildet. Der Staatsvertrag war politisch und rechtlich als erster Schritt auf dem Wege zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten konzipiert. In seiner Präambel heißt es, dass die vertragschließenden Seiten entschlossen seien, „in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden“. Der Vertrag beendete die Diskussion darüber, ob bestimmte Elemente der sozial-ökonomischen Ordnung der DDR länger Bestand haben sollten. Er beschrieb die „Soziale Marktwirtschaft“ als die „gemeinsame Wirtschaftsordnung“ der beiden Staaten und gab, anders als das Grundgesetz, auch eine Definition vor: „Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen.“ Über den Staatsvertrag gab es in der Volkskammer eine kontroverse Debatte. Vor allem das Bündnis 90 und die PDS warfen der Regierung vor, der Vertrag sichere keine gleichberechtigte Mitwirkung der DDR-Bürger und übertrage schlicht das politische und soziale System der Bundesrepublik. Demgegenüber beschwor die Regierungskoalition die Chancen, die der Vertrag eröffne. Bei der Unterzeichnung des Vertrages fiel in der Rede des DDR-Ministerpräsidenten, Lothar de Maizière, ein später häufig zitierter Satz, der zeigt, mit welcher Hoffnung oder auch Naivität man auf die Einführung der Marktwirtschaft wartete: „Niemandem wird es schlechter gehen als bisher. Im Gegenteil!“ Und Bundeskanzler Helmut Kohl betonte, dass niemandem „unbillige Härten zugemutet“ werden würden (Frankfurter Rundschau vom 19.5.1990: 11). Die Parteien, die sich an der Regierung de Maizière beteiligten, waren sich einig, dass es keine politische Alternative zur Währungsunion gab. Es gab aber tiefgreifende Differenzen darüber, wie gesichert werden könne, dass die zu erwartenden negativen sozialen Folgen möglichst gering seien. Der Staatsvertrag war der entscheidende Schritt hin zur deutschen Einheit. Er hatte zwar de facto die Souveränität der DDR aufgehoben, ihre Existenz als völkerrechtliches Subjekt aber nicht beendet. Formal war er ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR, materiell-inhaltlich ein verfassungsrechtlicher Vertrag (Ingo von Münch, Einführung zu: Die Verträge, 1990: XV-XVI), der erhebliche Teile des Rechts der DDR außer Kraft setzte. Sollte verhindert werden, dass der geplante Beitritt der DDR zur Bundesrepublik einem „Anschluss“ gleichkam, dann mussten in einem zweiten Staatsvertrag alle Grundlagen für einen geregelten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik festgeschrieben werden. Nach langen, quälenden öffentlichen Diskussionen über Art und Termin des Beitritts erklärte die Volkskammer der DDR am 23. August den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit Datum des 3. Oktober 1990. Als Voraussetzung wurde genannt, dass der geplante zweite Staatsvertrag, der sogenannte „Einigungsvertrag“, fertiggestellt sei, die „2+4-Gespräche“ mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges einen Stand erreicht hätten, der die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt, und die Länderbildung in
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der DDR soweit vorbereitet sei, dass am 14. Oktober Landtagswahlen stattfinden könnten. Der Einigungsvertrag wurde am 31. August 1990 unterzeichnet. Am 23. September stimmten der Bundestag mit 440 gegen 47 Stimmen bei 3 Enthaltungen und die Volkskammer mit 299 gegen 80 Stimmen bei einer Enthaltung dem Einigungsvertrag zu. Der Bundesrat hatte ihn am 21. September einstimmig gebilligt („Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ – Einigungsvertrag – vom 31.8.1990, BGBl II S. 889). Während der erste Staatsvertrag vor allem die Reform des Wirtschaftssystems zum Inhalt hatte, umfasste der Einigungsvertrag alle übrigen Rechtsgebiete – die Verfassung, das Verwaltungsrecht, das Strafrecht, EG-Recht, Völkerrecht usw. Auf etwa 900 Schreibmaschinenseiten wurde nahezu alles geregelt, vom Parteiengesetz über den Umgang mit Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR bis zur Bestimmung, dass der Standesbeamte des Standesamtes I in Berlin(West) jetzt der Standesbeamte des Standesamtes I in Berlin sei oder Regelungen des „Saatgutverkehrsgesetzes“. Es stellte sich aber heraus, dass diese Fleißarbeit deutscher Verwaltungsbeamter erhebliche Lücken aufwies. So wurden z.B. die Gemeinden wurden im Vertrag kaum berücksichtigt, was in der Folge zu erheblichen Problemen führte. Trotz vieler Mängel und Inkonsistenzen im Detail, die angesichts des enormen Zeitdrucks, unter dem die Akteure standen, nicht zu vermeiden waren, schuf der Einigungsvertrag, aufs Ganze gesehen, die Voraussetzung dafür, dass Ostdeutschland viele der Umwege und Sackgassen erspart geblieben sind, die die Entwicklung in anderen postkommunistischen Nachbarländern aufgehalten und negativ beeinflusst haben. Insbesondere der Rechts- und Institutionentransfer hat, nach anfänglichen Anpassungsproblemen, relativ reibungslos funktioniert. Ähnliches gilt auch für den Elitentransfer, für den der Einigungsvertrag ebenfalls die Grundlage schuf – allerdings waren hier vielfältige, den jeweiligen spezifischen Gegebenheiten geschuldete mentale Barrieren zu überwinden. Mit der Verabschiedung des Einigungsvertrages durch die gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik und der DDR war nicht nur die deutsche Einheit vollzogen, es galt nunmehr auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als gesamtdeutsche Verfassung. Im Einigungsvertrag wurde die Frage einer möglichen Ergänzung oder einer Revision des Grundgesetzes in der Schwebe gehalten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand die Frage, ob der Zeitpunkt geeignet sei, das Grundgesetz, dessen Qualitäten keiner der Diskutanten leugnete, zu modifizieren. Dabei ging es materiell um zwei Aspekte: Sollten „Staatszielbestimmungen“ wie Umweltschutz, das Recht auf Arbeit u.a., auf die der Grundgesetzgeber bewusst verzichtet hatte, aufgenommen werden, und sollte das Grundgesetz eine plebiszitäre Öffnung erfahren. Am Ende blieb es bei einigen Änderungen des Grundgesetzes, die nicht aus dem seit vierzig Jahren gewohnten Rahmen heraus fielen.
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Gegenstände des Einigungsvertrages
Verfassungsreform oder Fortschreibung des Grundgesetzes?
6.6.2 Das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung und die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission „Vereinigungsbedingte Änderungen“ des Grundgesetzes
Der Einigungsvertrag war in Bezug auf die Frage der notwendigen und gewünschten Verfassungsänderungen wenig präzise. Die Formulierungen des Art. 4 und Art. 5 des Vertrages waren vorderhand erst einmal als Geste gegenüber den Ostdeutschen gemeint, dass ihre Interessen im weiteren Verfahren nicht untergingen. Als Ergebnis massiver Auseinandersetzungen bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag kam lediglich eine Empfehlung an die „gesetzgebenden Körperschaften“ heraus, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“ (Art. 5 EVertr.). Insbesondere wurden erwähnt: x
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Minimalistische Position der Regierungskoalition
Die Beschäftigung mit den Themenkomplexen, die in einem gemeinsamen Beschluss der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, den sogenannten „Eckpunkten“ der Länder für die bundesstaatliche Ordnung im vereinten Deutschland formuliert worden waren. Sie enthielten weit reichende Forderungen insbesondere für die Finanzverfassung, die Gesetzgebungskompetenzen der Länder (Art. 72 GG) und der Beteiligung der Länder bei der Bildung zwischenstaatlicher Einrichtungen (Art. 24 GG); Die Neuregelung des Raumes Berlin-Brandenburg unabhängig von den Bestimmungen des Art. 29 GG, die eine Länderneugliederung auf dem Wege eines Bundesgesetzes mit anschließender Volksabstimmung in den betroffenen Ländern vorsehen, sondern durch Vereinbarung der beteiligten Länder – ein Versuch, der 1996 an der Ablehnung der Brandenburger und OstBerliner Bevölkerung scheiterte; Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz, die eine der wesentlichen Forderungen der DDR-Seite darstellten; Die Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in diesem Zusammenhang der Abhaltung einer Volksabstimmung über die Verfassung, wie sie von der parlamentarischen Opposition und den DDR-Bürgerbewegungen gefordert wurde.
Das Wort „insbesondere“ im Einigungsvertrag schloss die Beschäftigung mit anderen Materien nicht aus. Es war aber schon bei den Verhandlungen mit der DDR deutlich geworden, dass die Regierungskoalition die Veränderungen auf das Mindeste begrenzen wollte und entsprechend den Auftrag an die Kommission auslegte, wohingegen SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regelung des Einigungsvertrages weit auslegten. Ebenso wenig wie die materiellen Fragen nach Ziel und Umfang zukünftiger Verfassungsänderungen waren die bereits angedeuteten Unterschiede in Bezug auf die normative Seite des Verfahrens im Einigungsvertrag geklärt. Daraus ergab sich eine langwierige Auseinandersetzung über die Bezeichnung und die personelle Zusammensetzung des geplanten Gremiums, über die der Einigungsvertrag keine Aussagen gemacht hatte (Batt, 1996; 53ff.; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1993: 15ff.).
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Die unterschiedlichen Positionen der Parteien wurden in der Sitzung des Bundestages am 14. Mai 1991, in der sich das Gremium erstmals mit der geplanten Verfassungsreform beschäftigte auch einer breiteren Öffentlichkeit deutlich. Sie betrafen sowohl institutionelle Fragen, wie die nach dem Charakter und dem Status des für die Verfassungsrevision einzurichtenden Gremiums als auch inhaltliche Probleme, insbesondere die „Anreicherung“ des Grundgesetzes durch neue Elemente wie Staatszielbestimmungen und plebiszitäre Elemente. Die Regierungskoalition vertrat eine „minimalistische“ Position und wollte nur einen „Gemeinsamen Verfassungsausschuss“ mit begrenzten Kompetenzen einrichten, während SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen „Verfassungsrat“ präferierten, dessen Zusammensetzung und weiter gespannten Kompetenzen den politischen Neuanfang dokumentieren sollten, den die Vereinigung darstellte. Nach einer langen und kontroversen Debatte (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1993: 16) einigte sich der Bundestag auf die Einsetzung einer „Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“ mit 64 Mitgliedern. Die Abgeordneten des Bundestages waren nach Fraktionsstärke vertreten: die CDU/CSU entsandte 15, die SPD 11, die FDP 4 Vertreter, Bündnis 90/Die Grünen und die PDS je einen. Die 32 Mitglieder der Länder wurden nicht vom Bundesrat, sondern von den Landesregierungen bestimmt und mussten, anders als im Bundesrat, auch nicht einheitlich stimmen. Die sich aus dem Einigungsvertrag ergebenden Konflikte über den Umfang der anzustrebenden Verfassungsänderungen und den konkreten Auftrag der Gemeinsamen Kommission waren mit deren Einsetzung nicht beseitigt – die Arena der Auseinandersetzung hatte sich lediglich verlagert. Das Verfahren der Zusammensetzung der „Länderbank“ der Gemeinsamen Verfassungskommission war zwar unter demokratietheoretischen Aspekten äußerst fragwürdig (Hennis, 1993a), erleichterte es aber, unterschiedliche Positionen von Koalitionsregierungen auf Landesebene in der Kommission zum Ausdruck kommen zu lassen. Es offenbarte aber auch eine generelle Tendenz, die sich im Zuge der grundgesetzrelevanten Auseinandersetzungen um den Einigungsvertrag und den Vertrag von Maastricht herausgeschält hatte. Die Länder, genauer gesagt, die Länderregierungen nutzten ihre Verhandlungsposition, um Kompetenzerweiterungen durchzusetzen, bzw. potentiellen weiteren Kompetenzverlusten, wie sie sich im Zuge der europäischen Einigung vollziehen, vorzubeugen. Die Gemeinsame Verfassungskommission war ein institutionelles Novum und zugleich Ausdruck des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, wo wichtige politische Entscheidungen ohne die Länder nicht gefällt werden können. Eingesetzt wurde sie durch Beschlüsse sowohl des Bundestages als auch des Bundesrates. Neben dem Vermittlungsausschuss und dem für Notstandsfälle vorgesehenen „Gemeinsamen Ausschuss“ nach Art. 53a GG war die Gemeinsame Kommission das dritte Gremium, in dem Bundesgesetzgeber und Länder, anders als im Bundesrat, nicht nach einem Schlüssel vertreten waren, der die Bevölkerungszahl widerspiegelt. Im Vergleich zu den beiden anderen Gremien waren die Länder in der Gemeinsamen Kommission stärker vertreten, weil sie die gleiche Anzahl von Mitgliedern wie der Bundestags entsandten (im Gemeinsamen Ausschuss beträgt das Verhältnis 2:1) und mit dem Hamburger Ersten Bür-
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Unterschiedliche Grundpositionen der Parteien
Die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestags und des Bundesrates
Kompetenzausweitung der Länder
Die Gemeinsame Verfassungskommission als institutionelles Novum
Kontroverse Positionen in der Gemeinsamen Verfassungskommission
Ost-WestDifferenzen
Mehrheitsbildung in der Gemeinsamen Verfassungskommission und Regelungsdefizite
germeister, Henning Voscherau, einen der beiden Vorsitzenden stellten (im Vermittlungsausschuss wechselt der Vorsitz vierteljährlich). Ihre Stellung war auch stark, weil sie in ihren Beratungen nicht an eine vom Bundestag entwickelte Agenda gebunden war, sondern auf dem Wege der „Selbstbefassung“ über Themen souverän bestimmen konnte (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1993: 20ff.; Busch, 1993). Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat stand vor einer komplizierten Aufgabe. Ihr Auftrag war lapidar und wenig präzise formuliert und sie hatte es mit weit auseinandergehenden Vorstellungen der Akteure zu tun. Die sich überschneidenden Konfliktlinien lassen sich vereinfacht folgendermaßen beschreiben: Da war erstens der Gegensatz zwischen denjenigen, die das Grundgesetz bewahren wollten, weil sie es als ein bewährtes und auch für das vereinte Deutschland optimales Verfassungswerk ansahen und den Anhängern einer grundlegenden neuen Verfassung. Die Haltung der ersten Gruppe konnte aus zwei unterschiedlichen Motivlagen gespeist sein: Der Furcht, angesichts der Unwägbarkeiten des Umbau- und Integrationsprozesses auf einer unsicheren, weil in Frage gestellten konstitutionellen Basis zu operieren. Dieses Argument hatte angesichts der Entwicklungen in Mittel-Osteuropa einige Plausibilität. Das andere Motiv, häufig, aber nicht immer mit dem ersten verwoben, war die Furcht, gleichsam durch die Hintertür erneut mit Fragen konfrontiert zu werden, deren sich die politische Mehrheit in der alten Bundesrepublik in den 1980er-Jahren erfolgreich erwehrt hatte. Dazu gehörte die plebiszitäre Öffnung des Grundgesetzes ebenso wie die Aufnahme von Staatszielen in die Verfassung. Auch bei den Befürwortern einer neuen Verfassung gab es zwei unterschiedliche Motive. Während die einen normativ argumentierten und die Verwirklichung der ursprünglichen Intention des Verfassungsgebers einforderten, im Falle der Vereinigung die Zustimmung des gesamten deutschen Volkes zu einer Verfassung, die materiell auch das Grundgesetz sein konnte, einzuholen, ging es anderen um grundlegende materielle Änderungen der Verfassung. Die Vertreter der letzten Position versuchten, bislang im Westen erfolglose Positionen im Zuge der gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion zu realisieren. Zweitens verliefen die Frontlinien zwischen den Akteuren weder eindeutig entlang der gewohnten Linien des Rechts-Links-Spektrums noch zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen. Die Vertreter der Regierungskoalition tendierten zwar dahin, eine konservierende Position zu beziehen, während die Opposition Veränderungen einforderte, aber auch ostdeutsche Abgeordnete der Regierungskoalition neigten der Idee qualitativer Ergänzungen und materieller Veränderungen zu, während sich die Westdeutschen jedweder Couleur auch dann eng an das Grundgesetz anlehnten, wenn sie auf Veränderungen aus waren. Nach den Einsetzungsbeschlüssen war für Entscheidungen der Kommission ein Quorum von zwei Drittel der Mitglieder erforderlich. Mit dieser Regelung war gesichert, dass Beschlüsse der Kommission eine große Chance hatten, in der parlamentarischen Beratung und Abstimmung die notwendigen Mehrheiten zu finden. Zugleich bedeutete dieses Quorum, dass weder eine der großen Parteien noch die Länder oder der Bund über eine Mehrheit verfügten, die jeweils andere
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Seite zu überstimmen – der Zwang zum Kompromiss war bereits im Stadium der Debatte außerordentlich groß. Vergleicht man die Diskussionsgegenstände, die die Kommission beschäftigt haben mit den schließlichen Empfehlungen, so zeigen sich vier Aspekte, die zwar breit diskutiert worden sind, aber zu keinem Ergebnis geführt haben (Batt, 1996: 97 ff; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1993: 37ff.; Quint, 1997). 1. Vorrangig ist die Debatte über Staatsziele zu nennen. Von dem umfangreichen Katalog, der vom Recht auf Arbeit über das Recht auf soziale Sicherung, das Recht auf Wohnung bis zum Tierschutz reichte, ist nur das Staatsziel Umweltschutz geblieben. Dies Ziel wurde zwar nicht, wie ursprünglich von der CDU/CSU verlangt, mit einem Gesetzesvorbehalt versehen, aber an die „verfassungsmäßige Ordnung“ gebunden (Art. 31 GG). 2. Ein weiterer Aspekt war die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit unterschiedlicher Reichweite und Intensität geforderte Ausweitung der Mitwirkungsrechte der Bürger, insbesondere durch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Hier beharrte die Mehrheit auf einer strikt repräsentativen Ordnung und bestätigte die plebiszitäre Abstinenz des Grundgesetzes. 3. Vorgeschlagen war von der Kommission die Einführung eines Art. 20 b mit dem Wortlaut. „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten.“ Sie war nur durch eine Verschiebung der Parteifronten in dieser Frage Teil der Empfehlungen der Kommission geworden und wurde von der CDU/CSU weder im Bundestag noch im Vermittlungsausschuss akzeptiert. 4. Heftige Kontroversen hatte in der Kommission und in der Öffentlichkeit der Vorschlag eines möglichen Selbstauflösungsrechts des Bundestages hervorgerufen, der kurzfristig mehrheitsfähig erschien. Nicht ohne Grund wurde darin ein Anschlag auf die Statik des Verfassungsgefüges der Bundesrepublik gesehen (Hennis, 1993b). Wohl nicht zuletzt die ablehnende öffentliche Reaktion auf diesen Vorschlag hat ihn schließlich vereitelt. Als Fazit lässt sich formulieren, dass sich im Ergebnis der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission nur in zwei Bereichen nennenswerte Veränderungen ergeben haben, nämlich durch den neuen Art. 23 GG, den „Europaartikel“, der verfassungsrechtlich den Weg zu einer vertieften Integration und die Errichtung der Europäischen Union ebnete, sowie durch die im gleichen Artikel fixierten Veränderungen im föderalen Gefüge der Bundesrepublik, insbesondere das Recht der Länder, in bestimmten, ihre Aufgaben betreffenden Angelegenheiten, an auswärtigen und europäischen Entscheidungen beteiligt zu werden, die klassischerweise Aufgabe der nationalen Regierungen sind. Einwände gegen die Ergebnisse der Arbeit der Verfassungskommission lassen sich aus dem Verfehlen ihres eigentlichen Auftrages herleiten, sich mit den „im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ zu befassen. Im Wesentlichen wurden Probleme der Verfassungsmodernisierung aus der alten Bundesrepublik fortgeschrieben (Kloepfer, 1994). Dies bedeutet nicht, dass „ostdeutsche Interessen“ in den Debatten der Kommission keine Rolle gespielt hätten, sie haben vielmehr einen erheblichen Einfluss auf die Agenda gehabt, weil sie in vielerlei Weise mit
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Einwände gegen die Ergebnisse der Arbeit der Verfassungskommission
„Verfassungspolitischer Immobilismus“ oder Rettung der Ordnung des Grundgesetzes?
denen westlicher Akteure verknüpft waren (Bremers, 1996). Dominant war jedoch nicht der Wille, die Revolution in der DDR zum Anlass zu nehmen, etwas Neues zu schöpfen, sondern etwas Bewährtes zu sichern. Entscheidend war die Tatsache, dass es unter den Beteiligten keinen Grundkonsens über das Ziel und die Absicht des gesamten Prozesses gab. Im Streit zwischen der minimalistischen Position der Regierungskoalition, die, von gewichtigen Stimmen in der Staatsrechtslehre unterstützt, die Auffassung vertrat, eigentlich sei das Grundgesetz die gesamtdeutsche Verfassung und der maximalistischen Position von SPD und insbesondere Bündnis 90/Die Grünen, die mit der Verfassungsdiskussion weit reichende politische Ziele, insbesondere die Verankerung von Staatszielen verfolgten, siegte am Ende der kleinste gemeinsame Nenner. Der Tenor der Beschlüsse spiegelte am Ende eher die status quo orientierte Position der Regierungskoalition wider. Weder die bereits in den 1970er-Jahren von der Enquêtekommission Verfassungsreform (BT-Drs. 7/5924) geforderten Reformen im Verfassungsgefüge, insbesondere des kooperativen Föderalismus, die ein Jahrzehnt nach der Einheit erneut auf der Tagesordnung stand noch gar die in den 1980er-Jahren neu aufgekommenen Fragen einer partizipativ-demokratischen – nicht unbedingt plebiszitären – Öffnung des Grundgesetzes fanden Eingang in das reformierte Grundgesetz. Dies wäre gut zu begründen, wenn der Gesetzgeber, wie in den USA, Veränderungen und Ergänzungen der Verfassung mit großer Reserve gegenüber stünde und „Amendments“ nur in Ausnahmefällen beschlösse. Davon kann aber in der Bundesrepublik nicht gesprochen werden. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine Vielzahl von Verfassungsänderungen und Ergänzungen gegeben, die allerdings in ihrer großen Mehrheit organisationstechnischer Natur waren. Tiefe Eingriffe in das grundlegende normative Gefüge der Verfassung sind selten: Die Wehrverfassung von 1956, die Notstandsgesetze von 1968 oder die 1993 erfolgte Beseitigung des allgemeinen und uneingeschränkten Asylrechts für politisch Verfolgte in Art. 16 GG stellen eher Ausnahmen dar. Für die Befürworter einer grundsätzlichen Verfassungsdebatte aus Anlass der deutschen Einheit stellten die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission einen Beleg für „verfassungspolitischen Immobilismus“ dar. Die „Chance zu einer wirklichen Modernisierung des Grundgesetzes“ sei vertan worden, „das Schiff der Verfassungsreform auf Grund gesetzt“ (Schneider, 1994: 559). Für die Befürworter des verfassungsrechtlichen status quo ist die Bundesrepublik in der Verfassungsdebatte noch einmal „mit blauem Auge davongekommen“. Den politischen Initiatoren einer umfassenden Verfassungsdiskussion sei es nicht um die Erneuerung der Verfassung, ja, nicht einmal um eine Totalrevision gegangen. Ihre Erwartungen seien vielmehr auf „die Erneuerung der Verfassung von ihren Fundamenten her“ gerichtet gewesen. Doch sei die „levé en masse für eine neue Verfassung oder für die grundstürzende Erneuerung der alten Verfassung“ mangels Anteilnahme des Volkes ausgeblieben (Isensee, 1993: 2583). Jenseits der Notwendigkeit praktischer Kompromisse, die die Akteure einzugehen hatten, war keine Bewegung der Grundpositionen der Beteiligten zu er-
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kennen. Insofern kann nur in einem begrenzten Sinne von einer Debatte über die Verfassung gesprochen werden: Es handelte sich eher um den Austausch allseits bekannter Argumente, die in der verfassungspolitischen Diskussion der alten Bundesrepublik beheimatet waren. Die von allen Seiten immer wieder beschworene Beachtung und Würdigung „ostdeutscher Erfahrungen“ diente vor allem der zusätzlichen Stützung und Unterfütterung der jeweiligen Position. Das Ergebnis der Verfassungsdebatte bedeutet in der politischen Praxis, dass die neue Bundesrepublik weiter mit einer Verfassung lebt, die sich fast sechzig Jahre bewährt hat und die durch die vielen Veränderungen, die sie seit 1949 erfahren hat, nicht in jedem Falle verbessert worden ist. Ihre „Balance zwischen grundsätzlicher Normativität und zurückhaltender Programmatik“ ist nicht angetastet worden (Stern, 1995).
6.7
Verfassungspolitik im Zeichen europäischer Einigung
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat seit 1949 vielfältige Ergänzungen und Veränderungen erfahren. Der Anlass war in der überwiegenden Zahl der Fälle die als notwendig empfundene Anpassung der Verfassungsnormen an sich verändernde oder erweiterte Aufgaben staatlicher Institutionen oder der notwendigen Abgrenzung ihrer Kompetenzen untereinander. Dazu gehören u.a. die Wehrverfassung von 1956, die Notstandsgesetzgebung 1968, die Finanzverfassungsreform 1969 und die einigungsbedingten Anpassungen 1990 bis 1994. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bis zur Neufassung des Art. 23 GG der europäische Einigungsprozess keinen nachhaltigen Niederschlag im Verfassungsgefüge gefunden hatte, sondern auf der Basis der recht allgemein gehaltenen Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“ agiert wurde. Sicher ist richtig, dass erst der qualitativ neue, in die Kernbereiche von Staatlichkeit und staatlicher Souveränität vordringende Integrationsschub, der durch den Vertrag von Maastricht ausgelöst wurde, die Grenzen des Art. 24 offenkundig werden ließen, gleichwohl ist festzuhalten, dass in der Geschichte der Bundesrepublik die Verfassung aus nichtigeren Anlässen als der stufenweise sich entwickelnden und seit Mitte der 1980er-Jahre beschleunigenden europäischen Integration geändert worden ist. Der Grund dafür dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass der europäische Integrationsprozess von seinem Charakter her regierungsgesteuert war (und über weite Strecken noch ist) und eine öffentliche, zumal parlamentarische Debatte über die „Finalität“ Europas (Pernice, 2005) nach der ersten Euphorie der 1950er-Jahre kaum noch stattfand. Erst im Zuge der Debatte über den Vertrag von Maastricht und seine Folgen, der Osterweiterung der EU, der möglichen Aufnahme der Türkei und der Diskussion über den europäischen Verfassungsvertrag sind die politischen und konstitutionellen Fragen nach dem Charakter und der Zukunft Europas wieder in den Vordergrund getreten. Zwei Aspekte stehen seit Maastricht im Vordergrund der Überlegungen: Zum einen die Intentionen und Folgewirkungen des im Jahre 1992 bereits vor
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Reichweite der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG
Beschluss des Bundesverfassungsge richts vom 7. Juni 2000
Das Solange I"-Urteil vom 29. Mai 1974
Abschluss der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission in das Grundgesetz eingefügten Art. 23 GG, zum anderen die verfassungsrechtliche Problematik des Souveränitätsverzichts und der Souveränitätsübertragung als Voraussetzung und Konsequenz des europäischen Einigungsprozesses. Vor 1989 war es verfassungsrechtlich zumindest fraglich, wie weit die Ermächtigung des Bundes ging, nach Art. 24 Abs. 1 GG a. F. einzelne Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, und inwieweit das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes mit der westeuropäischen Integration in einer immer engeren Union auf Dauer zu vereinbaren gewesen wäre. Mit dem neuen Art. 23 GG wurde die verfassungsrechtliche Voraussetzung geschaffen, um eine durch Maastricht unabdingbar gewordene weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union möglich zu machen. Dies wäre nach verbreiteter Auffassung durch den Art. 24 Abs. 1 GG nicht mehr gedeckt gewesen – die Übertragung der währungspolitischen Kompetenzen auf die neu geschaffene Europäische Zentralbank ist das sichtbarste Beispiel. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner früheren Rechtsprechung wesentlich dazu beigetragen, dass Unsicherheit über die verfassungskonforme Beteiligung der Bundesrepublik an weiteren Integrationsschritten der Gemeinschaft entstanden war. Mit einem "europafreundlichen" Beschluss vom 7. Juni 2000 (BVerfG, 2 BvL 1/97) hat das Gericht dieser Kontroverse weit gehend den Boden entzogen. Es hatte über eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Frankfurt zu entscheiden, das der Ansicht war, die EU-Bananenmarktordnung aus dem Jahre 1993 sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei und könne daher in der Bundesrepublik keine Anwendung finden. Das Frankfurter Gericht hatte das Bundesverfassungsgericht angerufen, obwohl der Europäische Gerichtshof diese Ordnung 1995 gebilligt hatte. Die Frankfurter Richter beriefen sich dabei auf das MaastrichtUrteil, in dem sich das Verfassungsgericht eine Prüfungs- und Verwerfungskompetenz gegenüber hoheitlichen Akten der Europäischen Gemeinschaft vorbehalten habe. Dieser Interpretation haben die Richter nunmehr klar entgegnet, dass Verfassungsbeschwerden "von vornherein unzulässig" seien, wenn sie nicht darlegten, dass die europäische Rechtsentwicklung den erforderlichen Grundrechtsstandard nicht mehr sicherstelle. Die nunmehr vom Bundesverfassungsgericht festgestellte "Fehlinterpretation" (BVerfG, 2 BVL 1/97: 64) früherer Urteile, insbesondere des MaastrichtUrteils, muss nicht immer eindeutigen, als europaskeptisch wahrgenommenen Äußerungen des Gerichts angelastet werden. Verfassungsrechtliche Probleme einer weiteren Integration sind Gegenstand mehrerer einschlägiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts gewesen und ausführlich und kontrovers diskutiert worden. In seinem "Solange I"-Urteil vom 29. Mai 1974 hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Vereinbarkeit einer EWG-Verordnung aus dem Jahre 1967 und einer diesbezüglichen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs befunden: "Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grund-
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rechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert." (BVerfGE 37, 271; Hervorh. GJG)
Demgegenüber hatte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nahezu Das Nold-Urteil des zeitgleich am 14. Mai 1974 in einem Urteil zur Beschwerde der Kohlen- und EuGH Baustoffhandlung Nold unter Artikel 33 des EWG-Vertrages festgestellt: "Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen. Er kann keine Maßnahmen als Rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten". (Nold vs. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zit. nach: Europäische GrundrechteZeitschrift, 1. Jg., H.1: 3-4; Nold v. Commission, Case 4/73, 1974 ECR, 491)
Dieses Urteil ging erheblich über frühere Urteilssprüche des EuGH hinaus. Der Gerichtshof hat seit den 1960er-Jahren vor allem gegenüber deutscher Zurückhaltung bezüglich der generellen Anerkennung von Gemeinschaftsrecht seine Auffassung entwickelt, dass Gemeinschaftsrecht nationalem Recht vorgehe.7 Bereits in einem Urteil vom 15. Juli 1964 (Costa v. ENEL, Case 6/64, 1964 ECR 585) hatte er festgestellt, dass die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte auf Dauer und nicht rückholbar auf die Gemeinschaft übertragen hätten und einzelne Mitgliedstaaten europäisches Recht, das im gesamten Bereich der Gemeinschaft einheitlich und vollständig gelte, nicht antasten könnten. Dies bedeutet, dass Gemeinschaftsrecht dem jeweiligen Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. "Es ist nicht nur stärker als das frühere nationale Recht, sondern entfaltet eine Sperrwirkung gegenüber später gesetztem Recht" (Borchardt 1996: 62). Dazu musste der Gerichtshof, um diese Kontroverse zu Gunsten seiner eigenen Rechtsauffassung zu entscheiden, klarstellen, dass es ein gemeinsames europäisches Verständnis der Grundrechte gebe und dass er gewillt war, jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts für ungültig zu erklären, die dem entgegen steht. Mit der Doktrin, dass fundamentale Menschenrechte im Gemeinschaftsrecht beachtet und vom Europäischen Gerichtshof garantiert würden, hat der EuGH in seinem Urteil zum Fall Nold diese Klarstellung vorgenommen und ist zugleich über seine bisherige Rechtsprechung hinausgegangen (Hartley, 1998: 135). Für die Verfassungsordnung der Bundesrepublik entscheidend war die Fra- Stellung des ge, ob durch das Gemeinschaftsrecht und die gemeinschaftliche Grundrechtsan- Gemeinschaftsrechts wendung der Grundrechtsschutz den gleichen Rang wie im Grundgesetz hat oder, möglicherweise, sogar gestärkt würde. Das Bundesverfassungsgericht, mit diesem Problem befasst, zeigte sich skeptisch. Es hatte über die Frage des Verhältnisses zwischen den Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes, in denen sich der Kläger, eine deutsche Import- und Exportfirma für Getreide und Futtermittel, 7
Vgl. dazu: Stauder v. City of Ulm, Case 29/69, 1969 ECR, 419; Internationale Handelsgesellschaft, Case 11/70, 1970 ECR, 1125; Hartley 1998, 132 ff.
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verletzt sah und dem sekundären Gemeinschaftsrecht zu entscheiden. Es hatte ferner darüber zu entscheiden, ob die Auslegung der inkriminierten Verordnung der EWG, wie sie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Verlaufe des Verfahrens vorgenommen hatte, im Lichte der Bestimmungen des Grundgesetzes haltbar sei. Dazu musste es sich über die Natur des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht äußern. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte seine Rechtsauffassung, dass "das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt" (BVerfGE 37, 271 [277 f.]). Die Gemeinschaft sei kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern "eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art", eine "zwischenstaatliche Einrichtung" im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG (BVerfGE 37, 271 [278]). Daraus ergebe sich, dass „grundsätzlich die beiden Rechtskreise unabhängig voneinander und nebeneinander in Geltung stehen und dass insbesondere die zuständigen Gemeinschaftsorgane einschließlich des Europäischen Gerichtshofs über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Gemeinschaftsrechts und die zuständigen nationalen Organe über die Verbindlichkeit, Auslegung und Beachtung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben. Weder kann der Europäische Gerichtshof verbindlich entscheiden, ob eine Regel des Gemeinschaftsrechts mit dem Grundgesetz vereinbar ist noch das Bundesverfassungsgericht, ob und mit welchem Inhalt eine Regel des sekundären Gemeinschaftsrechts mit dem primären Gemeinschaftsrecht vereinbar ist." (BVerfGE 37, 271 [ 278]) Konkordanz der Rechtsordnungen
Die zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht und der EuGH, hätten, um Konflikte zu vermeiden, die Aufgabe, sich um die Konkordanz beider Rechtsordnungen zu bemühen. Es sei aber keineswegs zu rechtfertigen, dass sich Gemeinschaftsrecht stets gegen das nationale Verfassungsrecht durchsetzen müsse, weil andernfalls die Gemeinschaft in Frage gestellt würde (BVerfGE 37, 271 [278]). So wenig wie das Völkerrecht durch Art. 25 GG ("Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes") in Frage gestellt werde, wenn er bestimme, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nur dem einfachen Bundesrecht vorgingen, und so wenig eine andere Rechtsordnung in Frage gestellt werde, wenn sie durch den ordre public (vgl. den "ordre-public-Vorbehalt" in Art. 46 EGV) der Bundesrepublik verdrängt werde, "so wenig wird das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen lässt", da die Bindung der Bundesrepublik an die Gemeinschaft nicht einseitig sei, sondern auch die Gemeinschaft verpflichte, das ihre zu tun, um mögliche Konflikte auszuschalten und nach einer Regelung zu suchen, "die sich mit einem zwingenden Gebot des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland verträgt" (BVerfGE 37, 271 [279]). Grundrechtsschutz Ein solches unabdingbares Essential der Verfassungsordnung der Bundesreund publik ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Grundrechtsteil Gemeinschaftsrecht des Grundgesetzes. Solange die Gemeinschaft keinen dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes vergleichbaren Rechtsschutz gewährleisten könne – und dies 350
sah das Gericht auch nicht durch die "anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung" des EuGH gewährleistet –, setze sich im Konfliktfall das nationale Verfassungsrecht gegenüber dem Gemeinschaftsrecht durch. Der "gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft" erlaubte es nach Meinung des Gerichts noch nicht, auf diesen Vorbehalt zu verzichten (BVerfGE 37, 271 [280 f.]). Dieser erste "Solange-Beschluss" hat massive Kritik hervorgerufen, weil er von einer erheblichen Distanz des Gerichts zur Gemeinschaftsordnung zeugte. Mit ihm wurde ein Graben zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und dem von allen relevanten politischen Kräften in der Bundesrepublik getragenen eindeutigen Willen zur europäischen Integration ausgehoben. Das Gericht habe, so lautete eine verbreitete Kritik, die spezifische Natur des Gemeinschaftsrechts verkannt. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lag unübersehbar die Sorge um den Grundrechtsschutz in der Bundesrepublik zu Grunde. Dieses Urteil beschwor aber die Gefahr herauf, dass Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik für unanwendbar erklärt werden könnten und damit die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung empfindlich gestört würde. In seinem "Solange II-Urteil" vom 22. Oktober 1986 (BVerfGE 73, 339) hat Konkordanz beider das Bundesverfassungsgericht diese Haltung explizit insoweit korrigiert, als es Rechtsordnungen unter teilweiser Aufgabe seines früheren im Urteil von 1974 entwickelten Standpunktes anerkennt, dass die europäischen Institutionen, hier vor allem der Europäische Gerichtshof, im Wesentlichen den gleichen Grundrechtsschutz gewährleisten wie die deutschen Institutionen. Im Urteil des Zweiten Senats ging es um die Frage, ob der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gelten könne. Das Bundesverfassungsgericht bejahte diese Frage, da der EuGH ein durch Gemeinschaftsverträge eingerichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan sei, auf der Grundlage festgelegter Kompetenzen und nach Maßgabe von Rechtsnormen in richterlicher Unabhängigkeit endgültig entscheide. Das Verfahrensrecht des EuGH genüge rechtsstaatlichen Anforderungen an ein Verfahren, "es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensstand angemessene prozessuale Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten und frei gewählten, kundigen Rechtsbeistand" (BVerfGE 73, 339). In seinem Solange I-Urteil von 1974 hatte das Gericht insbesondere bemängelt, dass die Europäischen Gemeinschaften noch nicht über die demokratisch legitimierten Institutionen – vor allem ein aus freien Wahlen hervorgegangenes Parlament, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die für die Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch verantwortlich sind – verfügten und noch keinen kodifizierten Grundrechtskatalog aufwiesen und damit seine Skepsis gegenüber der Aufgabe nationaler Kontrollkompetenzen begründet. Schon in seinem "Vielleicht Beschluss" vom 25. Juli 1979 hat der Zweite Senat eine deutlich moderatere Position bezogen und es dezidiert offen gelassen, "ob und gegebenenfalls inwieweit – etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich – für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts" die Grundsätze des Beschlusses vom 29. Mai 1974 "weiterhin uneingeschränkt Geltung bean-
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spruchen können." Es machte insoweit einen entscheidenden Schritt vorwärts, als es die Auslegung der Verträge durch den EuGH nicht dem abgeleiteten, sondern dem primären Gemeinschaftsrecht zurechnete (BVerfGE 52, 187 [203]). Damit hatte das Gericht den Weg geebnet, der es im Solange II-Urteil ermöglichte, unter positiver Bezugnahme auf den Fall Nold (EuGH RS 4/73, Slg. 1974, S. 491; Hartley, 1998: 135) dem EuGH zu bescheinigen, dass er "aus der Sicht des Grundgesetzes" in dieser Entscheidung den "wesentlichen Schritt" geleistet habe, indem er ausführte, "dass er bei der Gewährleistung der Grundrechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen habe." In der Folgezeit habe der EuGH Grundrechte, wie sie in den nationalen Verfassungen verankert seien, "als bindende Prüfungsmaßstäbe für das hoheitliche Verhalten von Gemeinschaftsorganen herangezogen" (BVerfGE 73, 339 [379 f.]). Aus dieser Einschätzung zog das Gericht den Schluss: "Solange die Europäischen Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen." (BVerfGE 73, 339 [340])
Art. 24 Abs. 1 GG erlaubt nur eine begrenzte Einschränkung nationaler Hoheitsrechte
Damit war noch immer ein Restvorbehalt formuliert, aber über "Solange I" hinausgehend sprach das Gericht jetzt von einer "funktionelle[n] Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten" (BVerfGE 73, 339 [367]). Grundlage der Argumentation des Gerichts war Art. 24 Abs. 1 GG. In der Staatsrechtslehre bestand weit gehende Übereinkunft darüber, dass diese Ermächtigung nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen sei, eine Argumentation, die sich das Gericht zu Eigen machte (BVerfGE 73, 339 [375]). Nach Auffassung des Gerichts erlaubt Art. 24 Abs. 1 GG keine Einschränkung nationaler Hoheitsrechte, die "die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch den Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen"(BVerfGE 73, 339 [375 f.]) in Frage stellt. Er eröffnet, wie das Gericht in seiner "Eurocontrol Entscheidung" von 1981 formulierte, "nicht den Weg, das Grundgefüge der Verfassung anzutasten" (BVerfGE 58, 1). Damit hatte das Gericht deutliche Warnlampen aufgestellt, die zu blinken begannen, als es etwa fünf Jahre später zu einem neuen Verregelungsschub im europäischen Einigungsprozess kam, der in seinen Auswirkungen auf die nationalen Souveränitätsrechte weit über das hinausging, was Grundlage der skeptischen Haltung des Gerichts in den 1970er-Jahren gewesen war, ohne dass es einen entscheidenden qualitativen Schub in Richtung einer Konsolidierung der demokratischen Grundlagen der Gemeinschaft gegeben hätte, die im Solange I-Urteil im Mittelpunkt der Argumentation gestanden haben. Sollte der historische Schritt, den die Gemeinschaft im Vertrag von Maastricht zu gehen sich anschickte, nicht an Verfassungsbedenken scheitern, war eine grundgesetzlich abgesicherte Kompetenz zur Übertragung nationaler Rechte auf 352
die Gemeinschaft nötig, die deutlich über die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG hinausging, durch den die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gedeckt war, allerdings, soweit es die Verfassung berührende Rechte sind, ausdrücklich in den durch den Art. 79 Abs. 2 und 3 GG gesetzten Grenzen (Götz, 1993; Tomuschat, 1993: 492). Diesem Zweck dienten der neue Art. 23 GG und einige weitere Änderungen des Grundgesetzes, wie sie von der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgeschlagen und von Bundestag und Bundesrat 1992 im Vorgriff auf die endgültigen Vorschläge der Kommission verabschiedet worden sind. Tabelle 4: Europapolitisch relevante Änderungen des Grundgesetzes auf Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission Artikel des Grundgesetzes Art. 23 GG
Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission und Ergänzungen im Gesetzgebungsprozessa) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbaren Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert und ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3. In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtssetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im Übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.
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Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.8 Art. 24 GG
(1a) Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen
Art. 28 GG
(...) Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar.
Art. 45 GG
Der Bundestag bestellt einen Ausschuss für die Angelegenheiten (neu) der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen.
Art. 50 GG
Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit.
Art. 52 GG
(3a) Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten; Artikel 51 Abs. 2 und 3 Satz 2 gelten entsprechend.
Art. 88 GG
Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können einer Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet.
a) Bereits vor Änderung des GG bestehende Regelungen sind kursiv gesetzt. Quelle: 38. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften
Die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften im "Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG)" und der "Vertrag über die Europäische Union (EU)" erforderten explizite Ermächtigungen, da sich die Kompetenzen der Gemeinschaft mit dem EG-Vertrag und der Erweiterung der Gemeinschaftsaufgaben auf die Wirtschafts- und Währungsunion und weitere Materien, wie Sozialpolitik, berufliche Bildung, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, transeuropäische Netze, Industriepolitik, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (Kohäsion), Forschung und technologische Entwicklung, Umweltschutz und Entwicklungszusammenarbeit, auf nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt haben. Schließlich haben auch die zweite Säule Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und vor allem die auf Regierungszusam8
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Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern ist im "Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union" vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 313) im Detail geregelt.
menarbeit beruhende dritte Säule des EU-Vertrages – gemeinsame Justiz- und Innenpolitik (Glaeßner/Lorenz 2005) – weit reichende Folgen für die Bürger Europas. Insoweit bestand, wie auch die Verhandlungen und die Expertenanhörungen der Gemeinsamen Verfassungskommission deutlich machten, Handlungsbedarf seitens des Verfassungsgesetzgebers (Materialien 1996, Bd. 3: 211 ff.), um das Grundgesetz an die neuen Aufgaben anzupassen, die mit der "Generalklausel" des Art. 24 Abs. 1 GG in der alten Fassung nicht mehr zu bewältigen waren. Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes bietet dafür die Handhabe. Der Verfassungsgesetzgeber hat, mögliche Einwände des Bundesverfassungsgerichts antizipierend, erhebliche Mühe darauf verwandt, diesen Artikel "integrationsoffen" zu formulieren, ohne die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG zu verletzen. Dies betrifft vor allem die Konditionierung zukünftiger Souveränitätsübertragungen an die Grundsätze des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, ergänzt durch die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips als Gestaltungsgrundlage einer künftigen europäischen Ordnung, wie sie im Maastrichter Vertragswerk anvisiert worden ist. Es war insbesondere diese Neufassung eines "Europaartikels" des Grundgesetzes, die es dem Bundesverfassungsgericht erleichterte, Verfassungsbeschwerden gegen den Vertrag von Maastricht als unbegründet zu verwerfen (BVerfGE 89, 155), die damit argumentierten, das Demokratieprinzip sei durch den Vertrag verletzt. Dieses Prinzip hindere die Bundesrepublik nicht, Mitglied einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft zu werden. Voraussetzung sei aber, so formuliert das Gericht in den Leitsätzen des Urteils, dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert sei. Für die Zukunft sei entscheidend, dass "die demokratischen Grundlagen der Union Schritt haltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt" (BVerfGE 89, 155). Mit dem Begriff des "Staatenverbundes" als einer Form der Gemeinschaft, die "von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet" (BVerfGE 89, 155 [181]), hat das Gericht eine neue Kategorie in die Debatte eingeführt. Dies geschah in der Absicht, den spezifischen Vergemeinschaftungsmechanismus der Europäischen Union jenseits von Staatenbund und Bundesstaat zu kennzeichnen. Die Wortschöpfung geht auf den Berichterstatter der Entscheidung, den Verfassungsrichter Paul Kirchhoff zurück (Kahl 1994: 241). Sie hat zu erheblichen Kontroversen darüber geführt, ob sie nur den gegenwärtigen oder auch den zukünftigen Status der Europäischen Union beschreiben wolle. Wäre Letzteres der Fall, hätte sie sich als eine restriktive Formel erwiesen, die einer wesentlich weiter gehenden Vergemeinschaftung im Wege stünde. Erst in seiner Entscheidung vom 7. Juni 2000 zur Gültigkeit der europäischen Bananenmarktordnung hat das Gericht – nach dem Ausscheiden des europaskeptischen Richters Kirchhoff – diesbezüglich Klarheit geschaffen. Allerdings gab es schon im Maastricht-Urteil deutliche Hinweise, die einer solchen engen Interpretation entgegenstehen. Das Grundgesetz weise sich durch "Integrationsoffenheit" aus, stellt das Gericht fest (BVerfGE 89, 155 [183]). Es erkennt an, dass in einer solchen Staatengemeinschaft, wie sie die EU darstellt, demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden könne wie
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Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes
Die EU als „Staatenverbund“
innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung. "Werden supranationalen Organisationen Hoheitsrechte eingeräumt, verliert das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwendig an Einfluß auf den politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß. Jeder Beitritt zu einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft hat zur Folge, daß das Mitglied einer solchen Gemeinschaft an deren Entscheidungen gebunden ist. Der Mitgliedstaat – und mit ihm seine Bürger – gewinnt freilich auch Einflußmöglichkeiten durch die Beteiligung an einer Willensbildung der Gemeinschaft zur Verfolgung gemeinsamer – und damit auch eigener – Zwecke, deren Ergebnis für alle Mitgliedstaaten verbindlich und deshalb auch die Anerkennung der eigenen Bindung voraussetzt." (BVerfGE 89, 155: 182 f.)
Die Europäische Union gründe sich auf die Ermächtigung der souverän bleibenden Staaten, die im zwischenstaatlichen Bereich durch ihre Regierungen handelten. Dieser Form der primär gouvernemental bestimmten Zusammenarbeit sind nach Auffassung des Gerichts Grenzen gezogen: Die Integrationsgrenzen sieht das Gericht durch das Demokratieprinzip des Grundgesetzes gezogen. Auch im Zuge der weiteren Integration, wie sie der Vertrag von Maastricht in seiner Präambel anvisiert, seien es die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation vermittelten und dies bedeute, dass dem Deutschen Bundestag auch bei einer Ausweitung und Vertiefung der Integration "Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben müssen" (BVerfGE 89, 155 [186]). Europa und das Aufgabe der Verfassungspolitik war und ist es, eine Balance zwischen der Grundgesetz Weiterexistenz der Nationalstaaten und dem fortschreitenden europäischen Einigungsprozess zu halten. Hier hat das Grundgesetz mit dem neuen Artikel 23 einen gangbaren Weg gewiesen. Keine europäische Verfassung hat so explizit wie das Grundgesetz die Frage der Finalität Europas beantwortet, noch bevor es dieses Europa gab (Pernice, 2005). „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Hier wird die Vereinigung Europa nicht als Ziel, sondern als Zweck beschrieben. Angesichts der historischen Erfahrung kriegerischer Auseinandersetzungen und zweier Weltkriege erscheint die Ratio eines vereinten Europa, einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten. Über die mögliche innere Verfassung eines solchen vereinten Europa konnte sich der Grundgesetzgeber – verständlicherweise – im Jahre 1949 nicht äußern. Der bundesdeutsche Gesetzgeber tat es aber auch nicht in den Jahrzehnten, in denen der europäische Einigungsprozesses immer konkretere Gestalt gewann. Er überließ diese Aufgabe vielmehr de facto dem Bundesverfassungsgericht, das ihm schließlich unmissverständlich bedeutete, dass der Weg, den der Einigungsprozess mit dem Vertrag von Maastricht eingeschlagen hatte, ohne eine verfassungsrechtliche Grundlage nicht zu gehen war. Erst der Art. 23 Abs. 1 in seiner neuen Fassung formuliert inhaltliche Ziele der Europäischen Union:
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„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.“
Das Grundgesetz, in das hier wörtlich Formulierungen aus dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgenommen worden sind, hat hier eine „Struktursicherungsklausel“ eingebaut, die Prinzipien benennt, die für die staatliche Ordnung der Bundesrepublik unverzichtbar sind und die für die neue, entstehende europäische Hoheitsgewalt ebenfalls verbindlich sein sollen, eine Hoheitsgewalt, die als „Staatenverbund“ aber, selbst nach einem Inkrafttreten des Verfassungsvertrages kein Staat sein wird. Der Unionsvertrag von Nizza, aber auch der vorerst gescheiterte Vertrag Die Souveränität über eine Verfassung für Europa belässt die Souveränität bei den Mitgliedstaa- verbleibt bei den Mitgliedstaaten ten. Die Frage ist gerechtfertigt, ob es angesichts der Dynamik und des bereits erreichten Standes der Integration realistisch ist anzunehmen, dass der Nationalstaat noch die normativ gewollte und ihm traditionell zugewiesene umfassende Verantwortung wahrnehmen kann. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind in der modernen Welt nicht mehr allein „innerstaatlich“ zu sichern, sie hängen unmittelbar von äußeren Faktoren und Einflüssen ab, für deren Gestaltung oder Einhegung dem Nationalstaat nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten bereit stehen. Insoweit hat das Grundgesetz in seiner Präambel 1949 nicht nur den Weg in Richtung auf ein – damals noch utopisch erscheinendes – vereintes Europa und eine neue Friedensordnung gewiesen, sondern auch die Interdependenz von freiheitlicher und rechtsstaatlicher Entwicklung im Inneren und der Gestaltung einer europäischen und internationalen einer Friedensordnung betont. Ohne die immer wieder mit Recht betonten Demokratiedefizite der Europäischen Gemeinschaft gering zu schätzen bleibt doch festzuhalten, dass es gerade die Integration Europas war und ist, welche die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen sichert, unter denen die nationalstaatlich organisierten demokratischen Verfassungsstaaten sich entwickeln konnten. Es ist der europäische Integrationsprozess, der sichere und verlässliche Umweltbedingungen für die Mitgliedstaaten und ihre Bürger schafft und insofern eine Garantie für die Verwirklichung der in nationalen Verfassungsdokumenten und europäischen Rechtsakten normierten Menschen- und Bürgerrechte darstellt und die gemeinsamen Werte der europäischen Demokratien zum Ausdruck bringt.
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7.1
Strukturmerkmale des politischen Systems
Die Idee der repräsentativen Demokratie
Das Grundgesetz beschreibt die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Rechts- und Bundesstaat, der auf den Ideen der allgemeinen Menschenrechte gründet und der seinen Ort in einer größeren europäischen Staatengemeinschaft hat. Diese grundlegenden normativen Aussagen bilden den Rahmen für die konkreten Regelungen der Staatsorganisation der alten Bundesrepublik und des vereinten Deutschland. Wie alle modernen Demokratien beruht die politische Ordnung der Bundes- Entwicklung des republik auf dem Prinzip der Volkssouveränität. Alle politische Macht muss sich Parlamentarismus in Deutschland vom in Wahlen ausgedrückten Willen des Volkes herleiten. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (Art. 20 Abs. 2 GG)
In einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik sind die Parlamente der Ort, wo sich der Volkswille mittelbar, durch gewählte Repräsentanten, die Abgeordneten manifestiert. Parlamente sind als Institutionen entstanden, in denen die neu aufsteigenden sozialen Schichten, v. a. das Bürgertum, ihre politischen, ökonomischen und sozialen Interessen gegenüber den überkommenen feudalen und spätabsolutistischen Zwängen artikulieren konnten. Die Entstehung des Parlamentarismus ist eine Begleiterscheinung der Entwicklung der modernen kapitalistischen Gesellschaft und der modernen Nationalstaaten. Der deutsche Nationalstaat von 1871 entstand, ohne dass dem deutschen Reichstag eine vergleichbare Rolle wie dem britischen Unterhaus oder der französischen Nationalversammlung zugestanden worden wäre. Insbesondere kannte die Reichsverfassung von 1871 keine Verantwortlichkeit der Regierung. Das allgemeine Wahlrecht war mehr als Gegengewicht gegen den Partikularismus der Länder, denn als demokratisches Verfahren zur Bestellung politischer Eliten gedacht gewesen – dass es wesentlich zur Herausbildung und Etablierung moderner politischer Parteien beitragen sollte, war ein unvorhergesehener und ungewollter Begleiteffekt. Erst mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurde das Parlament in seine Rechte eingesetzt, wenngleich sowohl Elemente eines 359
Die Idee der repräsentativen Demokratie
Repräsentationsanspruch und antiparlamentarische Ressentiments
Missverständnis des Repräsentationsprinzips
Machtdualismus zwischen Reichstag und Reichspräsident (insbesondere durch die Notstandsvollmachten des Art. 48 WRV) als auch letztlich nicht ausgespielte plebiszitäre Elemente die Rechte des Parlaments begrenzten. Die „Rückbildung des Weimarer Systems vom parlamentarischen System zur Hegemonie der Exekutive“ (v. Beyme, in: Schneider/Zeh, 1989: 105) ist diesen Entscheidungen wesentlich zuzurechnen. Die Idee der repräsentativen Demokratie, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, wie es Art. 20 Abs. 2 GG ausdrückt, rückt die Frage nach dem Verhältnis des Souveräns zu seinen Repräsentanten in den Mittelpunkt des Interesses, zumal dann, wenn, wie in Deutschland, das Parlament in der Kaiserzeit als weitgehend machtloses Gremium dahinvegetierte, in der Weimarer Republik als „Schwatzbude“ denunziert und seit dem 30. Januar 1933 Schritt für Schritt in ein Instrument der Machtausübung der Nationalsozialisten umgewandelt wurde. Die Formulierung des Grundgesetzes ist weit zurückhaltender als z.B. die berühmte „Gettysburg-Formel“ Abraham Lincolns von 1863, dass Demokratie bedeute: „government of the people, by the people, for the people“. Als die Bundesrepublik und die DDR 1949 gegründet wurden, gab es keine Tradition in Deutschland, die den Anspruch des Parlaments auf Vertretung des Volkes und davon abgeleitet als Quelle der Legitimation demokratischer Herrschaftsausübung historisch bestätigt hätte. Alles kam darauf an, das Parlament zu der Institution zu machen, die sich mit ihrem Vertretungsanspruch Geltung verschaffen konnte. Die Landtage in den westlichen Besatzungszonen und der Deutsche Bundestag hatten alle institutionellen Voraussetzungen dafür, als Institutionen anerkannt zu werden, in denen das Volk repräsentiert wird. Allein die Wahl reichte aber nicht aus, um Legitimität zu schaffen. Demgegenüber hat das weitgehend „gleichgeschaltete“ Parlament der DDR, die Volkskammer, diese Chance nie erhalten. Aus der Wahl einer „Einheitsliste“ hervorgegangen, repräsentierte sie nicht mehr, als den politischen Willen der Kommunisten und der Besatzungsmacht. Repräsentation kann nicht nur angemaßt sein, sie kann auch verweigert werden. Der Souverän entzieht oder verweigert seinem Repräsentationsorgan die Anerkennung; er beteiligt sich zwar am formalen Prozess der demokratischen Wahl, ihr eigentlicher Sinn erschließt sich ihm aber nicht. Dies war die Situation in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Die frühen Studien zur politischen Kultur in der Bundesrepublik von Gabriel Almond und Sidney Verba, (1963: 196) haben gezeigt, dass noch Ende der 1950er-Jahre die Überzeugung, dass ein demokratisches Parlament notwendig sei, direkt von der Einschätzung abhing, wie gut es seine Arbeit nach Meinung der Befragten verrichtete. Zehn Jahre später wurde ein demokratisches Parlament als notwendig erachtet – auch von denen, die seine konkrete Arbeit negativ beurteilten (Conradt, 1989: 224). Antiparlamentarische Ressentiments können verschiedene Ursachen haben: Zweifel an den Umständen der Personenauslese durch Wahlen, am Wahlverfahren oder an der Echtheit der Repräsentation (Sartori, 1992: 40). Die historische Konfrontation von Volk und Monarch legte die Vorstellung einer umfassenden Repräsentation des Volkes im Parlament nahe. Anders als im angelsächsischen Kulturkreis, wo sich das Parlament als Ort der Interessenausei-
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nandersetzung etablierte und verstanden wird, hat die kontinentaleuropäische Entwicklung dazu geführt, dass das Parlament „kraft des Repräsentationsgedankens gewissermaßen das Volk selbst sei“ (Herzog, 1971: 216). Überall in Europa beruhte der politische Parlamentarismus im 19. Jh. auf den Interessen des Bürgertums. Liberaler Parlamentarismus war, wie das englische Beispiel zeigt, durchaus mit der strikten Beschränkung des Wahlrechts auf die besitzenden Klassen vereinbar.1 Daher spielte das allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlrecht eine so große Rolle in der Arbeiterbewegung (Ferdinand Lassalle). Deshalb organisierte sich die erste Frauenbewegung in England an der Wahlrechtsfrage (Suffragetten, von suffrage = allgemeines Wahlrecht). In der Parlamentarismuskritik spielt die Frage der Repräsentation eine bedeutende Rolle. Es ist aber ein spätrousseauistisches Missverständnis, dass das Parlament die soziale Struktur und die Interessenkonstellationen der Bevölkerung einer politischen Gemeinschaft möglichst spiegelbildlich abbilden, also repräsentieren müsse. Es geht zurück auf eine Zeit, in der die Abgeordneten als Repräsentanten des Volkes gegenüber der Monarchie angesehen wurden. Mit dem Übergang zu parlamentarischen Regierungssystemen lag es nahe, eine umfassende Repräsentation des Volkes als wichtigen Integrationsfaktor zu begreifen (Herzog, 1971: 216). Dem Wesen einer modernen Parteiendemokratie wird dieser antiquierte Repräsentationsgedanke nicht mehr gerecht. Auch modernere Vorstellungen einer ethnischen, berufsständischen, klassenmäßigen, sozialstrukturellen oder einer Repräsentation nach Geschlechtern (Frauenquote; „affirmative action“) sind insofern problematisch, als sie das gedachte Ziel nicht erreichen können. Zwar können Quotierungen der Verminderung der Benachteiligung von Karrierechancen bestimmter Gruppen und einer Öffnung des politischen Systems gegenüber bisher benachteiligten oder marginalisierten Gruppen möglicherweise dienen, für eine Repräsentanz der Interessen einer solchen Gruppe sorgen Quoten nicht, da sie angesichts der höchst unterschiedlichen Problemkonstellationen und Feindifferenzierung moderner gesellschaftlicher Gruppen (Frauen, Ausländern, Landwirte, Studenten, allein erziehende Mütter oder Väter, Schwule und Lesben etc.) versagen. Wenn die Idee der Repräsentation nicht die Widerspiegelung gesellschaftlicher Gruppierungen bedeutet, dann muss sie sich auf eine Bezugsgröße haben. Dies kann nach Lage der Dinge nur das Ganze des politischen Gemeinwesens sein. Für den Staatsrechtler Gerhard Leibholz manifestiert sich das Wesen der Repräsentation im „Bezug zum Volksganzen“. „Die Repräsentation setzt eine höhere Art Sein voraus, das durch die Repräsentation in der Person des Repräsentanten noch einmal präsent gemacht wird. Sie ist in einer spezifisch ideellen Wertsphäre verhaftet und unterscheidet sich schon hierdurch grundsätzlich von dem in der Rechtswissenschaft geläufigen Begriff der Vertretung. Transzendente Ordnungsmächte und Ideen, Gemeinschaften, wie z.B. die Kirche, das Volk, die Nation, der Staat, die durch bestimmte ideelle Werte zusammengehalten 1
Im „Mutterland" der Demokratie, England, waren nach der Wahlrechtsreform von 1832 7% (anstatt bis dahin 5%) der erwachsenen männlichen Bevölkerung wahlberechtigt, nach der Reform von 1867 erhöhte sich der Anteil auf ca. 16%. Erst nach dem I. Weltkrieg wurde das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen eingeführt.
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Moderne Ergänzungen der Repräsentationsidee
Gerhard Leibholz’ Theorie der Repräsentation
werden, können repräsentiert werden. Von Vertretung spricht man dagegen, wenn jemand z.B. seine privaten Interessen durch eine andere, von seinem Willen unabhängige Person wahrnehmen läßt. Richtigerweise sollte man auch nicht von Repräsentation, sondern von Vertretung bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Interessen sprechen, wenn es sich darum handelt, daß diese sach- und fachkundig durch bestimmte wirtschaftliche Verbände, Gruppen, Organisationen wahrgenommen werden sollen.“ (Leibholz, in: Evangelisches Staatslexikon, 1975: Sp. 2195) Kritik eines „RepräsentationsIdealismus“
Diese Vorstellung des wohl einflussreichsten Staatsrechtlers und Bundesverfassungsrichters der frühen Bundesrepublik ist als „höchst fragwürdiger Repräsentations-Idealismus“ kritisiert worden (Hofmann/Dreier, 1989:168). Roman Herzog hält es für problematisch, den Begriff der Repräsentation „automatisch mit der Vorstellung eines ethisch wertvollen Vorganges“ zu verbinden (Herzog, 1971: 218). Unter Umständen könne das, was von einem bestimmten Personenkreis repräsentiert werde, aus Gründen der Erhaltung der Demokratie nicht akzeptiert werden, sodass es einem Unwerturteil verfallen müsse (Herzog, 1971: 217). Zudem könne Repräsentation behauptet und von Dritten hingenommen werden, ohne wirklich gegeben zu sein. Fehlende demokratische Legitimation werde oft durch das Pathos der Repräsentation ersetzt. Daher biete sich eine Unterscheidung zwischen akzeptabler und inakzeptabler Repräsentation an. „Akzeptabel kann Repräsentation immer nur dann sein, wenn sich die repräsentierte Idee im Rahmen des von der Gesellschaft tolerierten Wertekatalogs hält und wenn sie sich überdies auf einen demokratischen Auftrag der Repräsentierten berufen kann.“ (Herzog, 1971: 218)
Repräsentationsprinzip versus pluraler Interessenausgleich
Die Antwort der „Federalist Papers“
Angesichts der Tatsache, dass das Parlament heute nicht mehr der einzige Ort ist, an dem politische Entscheidungen von Bedeutung getroffen werden, und Wahlen zum Parlament nur noch rechtlich, nicht aber faktisch um die Vertretung des einzelnen Wahlkreises im Parlament geführt werden, spricht nach Auffassung Herzogs einiges dafür, die Repräsentation des Volkes eher „bei den Führungsmannschaften der beiden großen Parteien zu suchen als beim einzelnen Abgeordneten oder beim Gesamtparlament“ (Herzog, 1971: 217). In modernen Demokratien ist das Parlament nur noch eine, wenngleich wichtige und in ihrer demokratischen Legitimation besonders hervorgehobene Arena der politischen Auseinandersetzung. Andere Politik-Arenen wie die Parteien, die Verbände, Vereine, Initiativen und wirtschaftliche und soziale Vereinigungen verfügen ebenfalls über die Kraft der Vertretung gesellschaftlicher Interessen. Eine solche Sichtweise legt es nahe, dem pluralen Interessenausgleich eine größere Bedeutung beizumessen, als der formalen Repräsentation und nach Wegen zu fragen, wie beides miteinander verbunden werden kann. Eine historische Antwort ist die auf die „Federalist Papers“ und Alexander Hamilton zurückgehende Idee der „representative democracy“, die den bestehenden Interessenpluralismus zum Inbegriff der Demokratie macht. Die Federalists, die einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der amerikanischen Unionsverfassung von 1787 hatten, sahen die Artikulation unterschiedlicher Meinungen nicht als störenden Faktor im Repräsentationsverfahren, sondern als dessen Grundlage (Hamilton/Madison/Jay, 1994). Die partikularen Interessen der
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Bürger „bilden gleichsam das Rohmaterial, das im Verlauf des Repräsentationsverfahrens seine Veredelung erfährt“ (Hofmann/Dreier, 1989: 170). Politikwissenschaftlich bedeutsam ist das Argument, dass angesichts der fundamentalen Veränderungen in der Struktur und im Problemhaushalt moderner Gesellschaften der Charakter parlamentarischer Repräsentation aus ganz anderen, nämlich sozio-politischen Gründen in Frage steht: Angesichts der Auflösung gesellschaftlicher Großgruppen und ihrer sozialen Milieus, welche durch Parteien und Interessenorganisationen und durch Wahlen im Parlament vertreten waren, wäre eine auch nur annähernd proportionale soziale Repräsentativität der Wählerschaft durch die Abgeordneten weder herzustellen noch praktikabel. Die sozio-politischen Systeme der modernen Demokratien werden zugleich inhomogener und dynamischer. Der dadurch ausgelöste Prozess des dealignment, der Abkopplung des politischen Engagements und des Wählerverhaltens von den traditionellen Partei- und Organisationsbindungen und unschärfere, aber nicht abnehmende Konfliktstrukturen in der Gesellschaft (cleavages), führen zu einer Ausweitung der parlamentarischen Agenda auf Grund von erweiterten Ansprüchen, wobei die politischen Konflikte zwischen den „Repräsentanten“ diffuser werden und nicht mehr eindeutig bestimmten politischen und sozialen Konfliktlinien zuzuordnen sind. Die bundesdeutsche Variante des Parlamentarismus beruht auf einer historisch verständlichen Auseinandersetzung mit der Weimarer Reichsverfassung, die trotz ihrer institutionellen Schwächen wie dem Notverordnungsrecht und der Stellung des Reichspräsidenten eine moderne Verfassung einer parlamentarischen Republik war. Das Grundgesetz beseitigte die Ambivalenzen der Verfassung von Weimar und räumt dem Parlament eine herausragende, durch präsidiale Machtkompetenzen nicht eingeschränkte Kompetenz ein.
7.2
Sozio-politische Einflüsse
Die Rolle des Parlaments im Grundgesetz
Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung
Kein Begriff wird so häufig verwandt wie Gewaltenteilung, wenn es um die Beschreibung demokratischer politischer Ordnungen geht und kein Begriff wird so häufig missverstanden. Bei Charles Baron de Montesquieu, dessen „Der Geist der Gesetze“ am Beginn der modernen Diskussion über eine Teilung der Gewalten steht, ging es – entgegen verbreiteter Wahrnehmung – nicht um eine funktionale Gewaltenteilung, seine Unterscheidung von Exekutive, Legislative und Judikative nahm vielmehr eine soziologische Zuteilung der Gewalten vor. Die Exekutive lag beim Monarchen, die Legislative beim Volk (genauer, bei dem mit Kapital oder Grundbesitz ausgestatteten Bevölkerungskreisen)und beim Adel, was sich in den Repräsentationsorganen Volks- und Adelskammer widerspiegelte. Nur die Judikative war ständisch nicht unmittelbar gebunden. Idealtypisch wäre von einer Teilung der Gewalten dann zu sprechen, wenn die drei wesentlichen Funktionen des Staates streng von einander getrennt wären: Die Parlamente sind für die Gesetzgebung, die Regierung für den Vollzug der vom Parlament verabschiedeten Gesetze und die Verwaltung zuständig und der Gerichtsbarkeit obliegt die Rechtsprechung (Ipsen, 1991: Rdnr. 770). Eine
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Die klassische Theorie der Gewaltenteilung bei Montesquieu
Verschränkung oder Verflechtung dieser Gewalten oder personelle Überschneidungen, wie sie z.B. entstehen, wenn Mitglieder der Regierung zugleich ein Parlamentsmandat wahrnehmen, sind in einem solchen Modell ausgeschlossen. Es ist offenkundig, dass sich eine solche Vorstellung von Gewaltentrennung nicht der Wirklichkeit moderner Verfassungsstaaten entspricht und sich auch kaum als Forderung aufrechterhalten lässt. Zwar ist das Prinzip der Gewaltenteilung eine der essentiellen Grundlagen einer demokratischen Ordnung, niemand würde z.B. das Prinzip der Unabhängigkeit der Justiz und der juristischen Überprüfbarkeit staatlichen Handelns ernsthaft in Frage stellen, aber schon beim Verhältnis von Parlament und Regierung verkomplizieren sich die Dinge. Neben die Gewaltenteilung tritt eine Gewaltenverschränkung.
7.2.1 Gewaltenteilung als politisch-institutionelles Prinzip Horizontale und vertikale Teilung der Gewalten
Bei der klassischen Trennung der drei Gewalten handelt es sich um eine horizontale Teilung der Gewalten, die häufig durch andere, vertikale Elemente ergänzt wird. Kurt Loewenstein hat in seiner Verfassungslehre (Tübingen 1959) zwischen horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung unterschieden. Horizontale Gewaltenteilung berührt das Verhältnis der obersten Staatsorgane zueinander (Exekutive, Legislative, Judikative), also die klassische Dimension einer Separierung von Gewalten. Vertikale Gewaltenteilung berührt das Verhältnis Bürger– Staat sowie des Zentralstaates zu den Gliedstaaten, bzw. von Regierung zur kommunalen Ebene in unitarischen Staaten. Neben der Teilung der Gewalten gibt es vielfältige Formen der „Gewaltenkoordinierung“ oder Gewaltenverschränkung. GewaltenDie Exekutive kann, zumindest im deutschen Rechtskreis, ohne ausgiebige verschränkung Gesetzgebung bzw. gesetzliche Ermächtigung gar nicht tätig werden, ist also existentiell von der Legislative abhängig. Idealtypisch bedeutet das, dass erst die Gesetzgebung Anstoß zum Exekutivhandeln gibt. Die Regierung ist in den meisten europäischen Verfassungssystemen keine selbständige Gewalt mehr, die neben der Legislative existiert, sondern in ihrem Entstehen und ihrer Existenz von der Mehrheit der Legislative abhängig. Die wesentlichen Entscheidungen im Zusammenspiel von Parlaments- und Regierungspolitik werden auf der Ebene der Führungsmannschaften der Regierung und der sie tragenden Mehrheiten getroffen. Andererseits geht die übergroße Mehrzahl der Gesetzesinitiativen nicht vom Parlament, sondern von der Verwaltung aus, ist also eigentlich Regierungs- und erst in zweiter Linie Gesetzgebungshandeln des Parlaments. Die konkrete Ausprägung dieses Zusammenspiels hängt entscheidend vom Typus des Regierungssystems ab. Während in demokratischen präsidentiellen Systemen die Trennung von Regierung, Parlament und Justiz stark ausgeprägt ist und eine gegenseitige Kontrolle und Aufsicht die Autonomie der „three branches of government“ einschränkt, sind parlamentarische Systeme durch eine enge Verquickung von Legislative und Exekutive gekennzeichnet, die auch das Wirken der Judikative nicht unbeeinflusst lässt. Hier sind, wie in der Bundesrepublik, Parlamentsmehrheit und Regierung so eng miteinander verknüpft, dass von einer Teilung der Gewalten
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im klassischen Sinne nicht die Rede sein kann. Hinzu kommt der Einfluss von außen, vor allem durch die Parteien, auf die Besetzung von politischen Positionen, aber auch auf die Ernennung oberster Richter, vor allem des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichte der Länder. Deutlichstes Zeichen für das Phänomen der Gewaltenverschränkung ist die dominante Rolle der Verwaltung im Gesetzgebungsprozess. Die überwiegende Mehrheit der Gesetze werden von der Verwaltung erarbeitet, die Legislative hat hier faktisch nur noch eine bestätigende Funktion. Dies betrifft nicht nur die Anpassungsgesetzgebung, sondern auch und gerade die gesetzgeberischen Weichenstellungen für mittel- und langfristige Vorhaben von weitreichender Bedeutung, sei es die Steuerreform, die Gesundheits- oder die Rentenreform. Hier hat die Ministerialverwaltung einen Informations- und Kompetenzvorsprung, den das Parlament trotz wissenschaftlicher Unterstützung durch einen eigenen Mitarbeiterstab nicht aufholen kann. Abbildung 6: Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung im politischen System der Bundesrepublik
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Zwang zur Kooperation der Verfassungsorgane
Dass Erscheinungen der Gewaltenverschränkung nicht nur das Ergebnis der konkreten Entwicklung des politischen Systems der Bundesrepublik oder gar einer unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten problematischen „Landnahme“ der Ministerialverwaltung auf Kosten des Gesetzgebers waren, wird in den Bestimmungen des Grundgesetzes deutlich. Im bewussten Gegensatz zum britischen Verständnis von „parliamentary sovereignty“ ist dem Parlament in der Bundesrepublik kein allumfassender Vorrang gegenüber anderen Verfassungsorganen übertragen worden. Vielmehr ist eine Verschränkung der Zuständigkeiten der einzelnen Verfassungsorgane gewählt worden. Kontrolle gegen Machtmissbrauch wird nicht in erster Linie durch strikte Abgrenzung und Abschottung der Gewalten und eine Beschränkung auf genau definierte Wirkungsbereiche erreicht, sondern durch verkoppelte Zuständigkeiten – z.B. des Bundesgesetzgebers und der Länder – bis hin zur Institutionalisierung wechselseitiger Blockademöglichkeiten. Dieser häufig kritisierte Zustand ist nicht auf eine Unachtsamkeit des Verfassungsgebers zurückzuführen, sondern gewollt. Ihn zu beseitigen würde dessen Intentionen deutlich zuwiderlaufen, ging es ihm doch um den Zwang zur Zusammenarbeit und Kompromissbildung. Neben den drei klassischen Gewalten ist eine Reihe anderer Institutionen in dieses System von Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung einbezogen: Zu nennen sind vor allem die Bundesbank (seit dem 1. Juni 1998 die Europäische Zentralbank EZB) und die Rechnungshöfe (seit 1977 auch der Europäische Rechnungshof). Die Bundesbank, nicht die Regierung, bestimmte Jahrzehnte lang die Geldpolitik. Rechnungshöfe überprüfen öffentliches Finanzgebaren. Hier handelt es sich um die Delegation von Regelungs- und Kontrollaufgaben in Form einer Selbstbindung der Exekutive, die aber durch den Gesetzgeber widerrufen werden kann. Schließlich kommen als den politischen Entscheidungsprozess wesentlich prägende Akteure auf europäischer Ebene hinzu, die das tradierte Modell der Gewaltenteilung vollends in Frage stellen. So ist der Rat der Europäischen Union zugleich Gesetzgeber, der alle wichtigen Grundsatzentscheidungen trifft und nicht in jedem Fall der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf. Die Kommission ist Spitze der Exekutive der EU und erlässt zugleich in erheblichem Maße sekundäre Rechtsakte, die von den nationalen Parlamenten umgesetzt werden müssen. Die Verschränkung von Zuständigkeiten findet sich nicht nur auf der europäischen Ebene selbst, sondern sie prägt insgesamt das „Mehrebenensystem“ der Europäischen Union. Dieses System zeichnet sich durch eine enge Verflechtung europäischer, nationaler und regionaler Einheiten aus, sodass in den meisten Politikfeldern keine klare Trennung der Aufgaben zwischen diesen verschiedenen Ebenen und den klassischen Trägern staatlicher Gewalt mehr vorgenommen werden kann. Funktionale Die Unterscheidung dieser verschiedenen Ebenen und Dimensionen von Differenzierung der Gewaltenteilung in modernen Demokratien haben zu der Überlegung geführt, Gewalten auch andere Bereiche des politischen Lebens wie Parteien, Verbände oder die Medien einzubeziehen (Steffani 1979: 37-60). Eine solche Ausweitung des Begriffs erscheint aber problematisch, weil er den Kernbestand staatlicher Gewalt mit nicht-staatlichen Elementen vermischt. Nur den Parteien wird im Art. 21 Abs. 1 GG eine Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung zuerkannt. Ver-
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bände haben ohne Zweifel Einfluss auf staatliche Entscheidungen und vor allem auf die Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik, aber sie sind nicht Institutionen der Staatswillensbildung. Wäre dies so, müssten sie den gleichen strengen Kriterien bezüglich ihrer inneren Organisation, Finanzierung und Rechenschaftslegung und der Kontrolle unterliegen, wie die Parteien. Ähnliches gilt für die politische Öffentlichkeit, insbesondere für die Massenmedien. Sie üben zwar einen erheblichen und wachsenden Einfluss auf die staatliche Willensbildung aus, sind aber nicht Teil derselben und, im Gegenteil, streng von ihnen zu trennen. Es empfiehlt sich daher, das Problem der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung auf den Bereich der Staatswillensbildung, also auf die in Art. 20 Abs. 2 GG erwähnten „besonderen Organe der Gesetzgebung“, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung, sowie auf den Aspekt der vertikalen Gliederung der Gewalten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu beschränken.
7.2.2 Die Trennung der Staatsfunktionen im Grundgesetz Das Grundgesetz nimmt in Art. 20 Abs. 2 eine Funktionstrennung zwischen den Inkompatibilitätsverschiedenen Staatsorganen vor. Mit dieser sachlichen Funktionstrennung ist regelungen eine personelle verbunden. Hinzu kommen die Grundsätze des Föderalismus und die Verteilung der Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden, also eine konkrete Aufschlüsselung der Prinzipien und Verfahren einer vertikalen Teilung der Gewalten. Elemente klassischer Gewaltenteilungsvorstellungen finden sich in „Inkompatibilitätsregeln“, die eine gleichzeitige Mitgliedschaft in voneinander zu trennenden Bereichen ausschließen, um Interessenkollisionen zu vermeiden. Zu nennen sind hier u.a.: x x x x x x x
Art. 55 Abs. 1 GG: der Bundespräsident darf nicht zugleich Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft sein; §§ 5 und 8 des Abgeordnetengesetzes (AbgG): der Beamten- und Soldatenstatus und die Mitgliedschaft im Bundestag sind unvereinbar; § 8 Abs. 3 AbgG: Gleiches gilt für Angestellte des öffentlichen Dienstes; §§ 8 Abs. 1 und 5 Abs. 1 AbgG: die Rechte eines Richters ruhen, solange er Abgeordneter ist; § 3 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG): ein Abgeordneter verliert sein Mandat, wenn er zum Bundesverfassungsrichter gewählt wird; Es gibt auch Inkompatibilitätsvorschriften zwischen Exekutive und Judikative. Nach § 4 des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) darf ein Richter nicht zugleich vollziehende Aufgaben wahrnehmen (vgl. Ipsen, 1991: Rdnr. 766ff.); keine Inkompatibilität besteht zwischen Abgeordnetenmandat und Ministeramt.
Als Fazit läßt sich festhalten, dass Art. 20 Abs. 2 GG die verschiedenen Staatsfunktionen unterschiedlichen Institutionen zugewiesen hat, zwischen denen im Wesentlichen Inkompatibilität besteht, sodass die „Funktionentrennung nicht nur
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in sachlicher, sondern auch in personeller Hinsicht gewährleistet ist“ (Ipsen, 1991: Rdnr. 769). Freilich gibt es Funktionsüberschneidungen, die das Bundesverfassungsgericht dazu geführt haben, Eingriffe in die Kompetenz anderer soweit zu akzeptieren, wie sie nicht in den Kernbereich des anderen eingreifen (BVerfGE 9, 268: 280; 30,1: 28; 34, 52: 59). Das Prinzip Neben der Funktionstrennung und der Zuordnung von Staatsfunktionen ist wechselnder das Prinzip der wechselseitigen Kontrolle von Bedeutung. Wichtige KontrollinKontrolle strumente sind mündliche oder schriftliche Anfragen und Untersuchungsausschüsse im Parlament, die richterliche, insbesondere verfassungsgerichtliche Nachprüfung, Normenkontrollverfahren (Prüfung von Rechtsnormen auf ihre Verfassungsmäßigkeit) und die Möglichkeit der Gesetzeskorrektur zur Änderung der Rechtslage.
7.2.3 Föderale Gewaltenteilung Vertikale Gliederung der Gewalten in föderalen Systemen
Neben dem subsidiären Aspekt der Gesetzgebung in einem bundesstaatlichen System kommt für die Bundesrepublik als weiteres Merkmal der dezentrale Staatsaufbau hinzu. Er ergänzt die horizontale Gewaltenteilung und Gewaltenverflechtung durch eine vertikale Gliederung der Gewalten. Gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt sind sowohl auf der Bundes- als auch auf der Länderebene institutionell verankert. Damit ist zugleich eine vertikal wirkende Gewaltenverschränkung verbunden, wie sie in der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Verwaltungen der Länder (Art. 84 GG), in der Rahmengesetzgebung des Bundes, die Ausführungsgesetze der Länder erforderlich macht und in der Aufgliederung der Rechtsprechungsfunktionen (Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichte, Gerichte der Länder; Art. 92 GG) zum Ausdruck kommt. Das bedeutet, dass der Bund (Gesamtstaat) und die Länder (Gliedstaaten) jeweils für bestimmte Materien zuständig sind und hier sowohl gesetzgebende als auch vollziehende und rechtsprechende Gewalt innehaben. (Eine denkbare andere, dem Prinzip einer bundesstaatlichen Ordnung entsprechende Kompetenzverteilung wäre die Zuweisung der Gesetzgebung an den Bund und des Vollzuges an die Länder.) Für das politische System der Bundesrepublik ist schließlich noch anzumerken, dass die Gemeinden und Gemeindeverbände keine eigenständigen staatlichen Subjekte sind, obwohl ihnen Art. 28 Abs. 2 GG das Recht zuweist, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“, d. h. ihnen das Recht der Selbstverwaltung überträgt.
7.3 Das Prinzip des Föderalismus
Grundzüge des bundesdeutschen Föderalismus
Eine bundesstaatliche Ordnung gestaltet das Verhältnis zwischen Gesamtstaat und Gliedstaat oder zwischen Bund und Ländern nach dem Prinzip einer funktional differenzierten Gleichberechtigung. Ihre typische Ausprägung ist eine föde-
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rative Ordnung, wobei Föderalismus ein Prinzip bezeichnet, das „die freie Einigung von differenzierten, dahingehend gleichberechtigten, in der Regel regionalen politischen Gesamtheiten [ermöglicht], die auf diese Weise zu gemeinschaftlichem Zusammenwirken verbunden werden sollen“ (K. Hesse, 1991: 90). Das zu Grunde liegende Prinzip ist, dass sich Gliedstaaten (die Länder) zu einem Zentralstaat (der Bundesrepublik) verbinden, ohne ihre Staatsqualität einzubüßen. Damit entsteht eine durch die Struktur des föderalen Systems bedingte vertikale Gewaltenteilung, die eine genaue Bestimmung der jeweiligen Zuständigkeiten von Bund und Ländern erfordert, soll es nicht permanent zu Kompetenzstreitigkeiten kommen. Die konkrete Ausgestaltung einer bundesstaatlichen Ordnung ist von vielfältigen historischen, sozialen, ökonomischen, politischen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Rahmenbedingungen abhängig, sodass kaum von einem allgemeingültigen Typus des Bundesstaates gesprochen werden kann. Schon ein oberflächlicher Blick auf existierende bundesstaatliche Ordnungen macht dies deutlich: USA, Kanada, Bundesrepublik Deutschland, Belgien, die Schweiz, Jugoslawien (vor dem Zerfall). Die Gründung bundesstaatlicher Ordnungen kann verschiedene Ursachen haben. Die Schweizer Kantone haben sich in einem lange währenden Prozess zu einem relativ losen Bund vereint, in dem erhebliche Kompetenzen bei den Kantonen verblieben. Die USA entstanden aus bislang unabhängigen Staaten, die sich entschlossen, ein politisches Gemeinwesen, eine Republik, zu bilden, ohne sich selbst vollkommen aufzugeben. Ähnliches trifft, unter obrigkeitsstaatlichen Vorzeichen, für der Norddeutschen Bund von 1866 und das Deutsche Reich von 1871 zu. Belgien hat spät ein föderales System errichtet, um die nationalen und religiösen Spannungen zwischen Flamen und Wallonen und die übermächtige Stellung der Hauptstadt Brüssel auszutarieren. Ein solcher Ausgleich kann, aber muss nicht in Form einer föderalen Ordnung geschehen, es gibt die verschiedensten Formen der Teilautonomie, wie in Spanien (autonomidades) oder der Dezentralisierung eines ursprünglich unitarischen Systems, wie in Großbritannien (devolution). Die spezifische Vorstellung einer bundesstaatlichen Ordnung im Grundgesetz ist in erster Linie aus dem historischen Kontext zu erklären, weniger aus einem übergreifenden theoretischen und normativen Verständnis von Bundesstaat. Die Existenz der Länder vor der Gründung der Bundesrepublik und die deutsche Staatstradition, die einen Einheitsstaat wie z.B. Frankreich nicht kannte, hätten eine föderale Ordnung auch dann nahegelegt, wenn dies nicht eine der Bedingungen der Alliierten für die Staatsgründung gewesen wäre. Allerdings ist hier einschränkend darauf hinzuweisen, dass 1949 mit Ausnahme Bayerns und der Stadtstaaten keines der Bundesländer auf eine historische Eigenständigkeit vor dem bundesstaatlichen Zusammenschluss verweisen konnte, sie waren vielmehr „Kunstgründungen“, bei deren Gestaltung sowohl traditionelle Zuordnungen als auch Gegebenheiten des Besatzungsregimes eine Rolle spielten. Das Verhältnis der Gliedstaaten zum Zentralstaat und untereinander kann in unterschiedlicher Weise geregelt werden. Föderale Systeme wie die USA, Kanada, Australien oder die Schweiz zeichnen sich durch einen Dualismus zwischen
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Varianten bundesstaatlicher Ordnungen
Dualer Föderalismus
Kooperativer Föderalismus
Ursprüngliche Aufgabenverteilung von Bund und Ländern
Unklare Verantwortlichkeiten als Kennzeichen des deutschen Föderalismus
dem Gesamtstaat und der Gliedstaaten aus, wobei die einzelnen Staaten, Länder oder Kantone ihrerseits in einem Wettbewerb miteinander stehen. Es gibt eine klare Aufgabenverteilung, die Gliedstaaten verfügen über eigene Parlamente und Verwaltungen und sie können eigene Steuern eintreiben. Auf der zentralstaatlichen Ebene sind sie eher schwach repräsentiert, die zweite Kammer, z.B. der Senat in den USA, besteht meist aus gewählten Repräsentanten und nicht, wie der Bundesrat aus den Regierungsvertretern der Länder und zugleich mächtigen Parteipolitkern. Dies bedeutet, dass in einem, für föderale Staaten typischen Zweikammersystem, in beiden Kammern direkt demokratisch legitimierte Vertreter an der Gesetzgebung beteiligt sind. Demgegenüber ist der der bundesdeutsche Föderalismus exekutivisch geprägt. Die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung erfolgt über den Bundesrat, durch die Vertreter der Landesregierungen. Dieser „Exekutivföderalismus“ hat sich im Verlauf der Jahrzehnte nicht unerheblich verändert – er weist eine stark ausgeprägte unitarische Tendenz auf und hat sich zu einem „kooperativen Föderalismus“ weiterentwickelt (Mielke/Reutter, 2004: 23). Mit dem Begriff „kooperativer Föderalismus“ ist ein Verhältnis zwischen Bund und Ländern gemeint, in dem beide Ebenen staatlicher Gewalt bei der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben auf Unterstützung, Zustimmung oder Zusammenarbeit angewiesen sind und daher in einem Kooperationsverhältnis zueinander stehen. Dieser Begriff hat sich nach der folgenreichen Umgestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern 1969 durchgesetzt, obwohl er insoweit irreführend ist, als der Föderalismus, trotz der vom Grundgesetz vorgegebenen Aufgabenverteilung, von Anfang an auf Zusammenarbeit angelegt war. Das föderale System der Bundesrepublik ist 1949 aus den Ländern entstanden. Der Grundgesetzgeber hatte noch eine relativ klare Aufgabenverteilung vor Augen: Der Bund war für den Großteil der Gesetzgebung und für die Steuergesetzgebung und Verteilung des Steueraufkommens zuständig. Die Länder hatten genuine Aufgaben im Bereich der Bildung, Kultur und inneren Sicherheit und sie trugen und tragen die Hauptlast der öffentlichen Verwaltung, indem sie die „Bundesgesetze als eigene Angelegenheit“ ausführen, soweit es das Grundgesetz nicht anders bestimmt oder zulässt (Art. 83 GG). Nur in wenigen Bereichen wie der Wehr- oder Steuerverwaltung verfügt der Bund über eigene Verwaltungen, die auf allen Ebenen der Gebietskörperschaften existieren. Der deutsche Föderalismus zeichnete sich ursprünglich auch im Hinblick auf die Gesetzgebung durch relativ klare Zuständigkeitsregelungen aus, die im Kapitel VII „Gesetzgebung des Bundes“ normiert waren. Es galt eine, noch immer in der Verfassung verankerte Zuständigkeitsvermutung zu Gunsten der Länder: “Die Länder haben das Recht zur Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“ (Art. 70 Abs. 1 GG).
Detaillierte Kataloge regeln die Bundeszuständigkeiten bei der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes (Art. 73 und 74 GG). Es waren vor allem die während der Großen Koalition von 1966 bis 1969 voran gebrachten Verfassungsänderungen, die zu der seit langem kritisierten Verflechtung von Bundes- und Landeszuständigkeiten beigetragen haben. Zu nennen ist hier die Verlagerung der Steuergesetzgebung auf den Bund (Art. 104 a und 105 GG), vor
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allem aber die Einführung von „Gemeinschaftsaufgaben“ nach Art. 91 a GG, die den Bund ermächtigten, zur „Verbesserung der Lebensverhältnisse“ „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder“ mitzuwirken (Art. 91 a Abs.1) - hier geht es um die Zusammenarbeit beim Ausbau und Neubau von Hochschulen, der Verbesserung der regionalen Wirtschafts- und Agrarstruktur und den Küstenschutz und die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der „Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung“ (Art. 91 b GG). Für diese Aufgaben gab es, auf der Grundlage eines Bundesgesetzes und der Zustimmung des Landes, auf dessen Gebiet sie durchgeführt werden, eine Rahmenplanung. Die Hälfte der Ausgaben trug der Bund, die andere Hälfte das Land. Die diese Gemeinschaftsaufgaben kennzeichnende „Mischfinanzierung“ durch Bund und Länder wurde in den letzten Jahren zunehmend kritisiert, weil sie die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten verwischte und im Steuersystem keine Entsprechung fand. Hier wie in anderen Bereichen wurden seit langem Korrekturen an der föderalen Struktur der Bundesrepublik gefordert. Die nach jahrelangem Streit vereinbarte Föderalismusreform soll diese als „Politikverflechtungsfalle“ (Fritz Scharpf) wahrgenommene Aufgabenverteilung beseitigen. Im Kontext der Debatte um die Entwicklung und mögliche Reform des Föderalismus in der Bundesrepublik wird häufig der Begriff Politikverflechtung verwendet. Er geht zurück auf Fritz W. Scharpf, der damit die „institutionalisierte Mitwirkung nachgeordneter Gebietskörperschaften an der Willensbildung auf der übergeordneten Entscheidungsebene“ bezeichnet hat. Eine solche Verflechtung von Aufgaben und Kompetenzen habe „machthemmende Wirkungen, die aber angesichts krisenhafter und veränderlicher Problemlagen die Problemlösungsfähigkeit der Politik spürbar beschränken können“ (Scharpf, 1994: 7). Mit dieser Begriffsbestimmung und Erläuterung trifft Scharpf den Kern des Problems: Der Grundgesetzgeber war von der Überzeugung getragen, dass möglichst hohe Hürden für eine einseitige Machtkonzentration aufgebaut werden müssten und dass eine föderale Struktur mit starken Ländern ein wesentliches Element der Verteilung von Machtressourcen ist. Der Gesetzgeber von 1969 war eher von funktionalen Überlegungen geleitet, als er die erkennbaren Diskrepanzen zwischen den Ländern und die mangelhafte Koordination bei der Erfüllung gesamtstaatlicher Aufgaben zum Anlass nahm, gemeinsame Aufgabenfelder von Bund und Ländern zu bestimmen und Finanzierungsmodi einzuführen. Dieser Verschiebung und Neujustierung von Zuständigkeiten wurde damit erkauft, dass den Bundesländern über den Bundesrat neue Kompetenzen bei der Bundesgesetzgebung zuwuchsen, die nicht nur den Entscheidungsprozess erheblich verkomplizierten, sondern, angesichts parteipolitisch überlagerter Kontroversen, auch mehrfach zu Blockadesituationen geführt haben. Als „unitarischer Bundesstaat“ (Konrad Hesse) ist die Bundesrepublik ein Sonderfall unter den föderalen Staaten. Der Auftrag des Grundgesetzes, im Sinne der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG „einheitliche Lebensverhältnisse“, seit 1994 „gleichwertige Lebensverhältnisse zu garantieren, war nicht nur auf enge Kooperation zwischen Bund und Ländern angelegt, sondern hatte folgerichtig auch die Notwendigkeit zur Folge, die Politik zwischen den Ländern zu koordinieren. Eine Fülle von Gremien wie die Kultusministerkonferenz oder die
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Politikverflechtung
Die Bundesrepublik als „unitarischer Bundesstaat“
Konferenz der Innenminister ist das Ergebnis dieses Politikmodells. Die vom Grundgesetz geforderte Rechts- und Wirtschaftseinheit („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen“ (Art. 28 Abs. 1 GG); die Formulierung des Art.72 Abs. 2 GG und nicht zuletzt die vor allem durch höchstrichterliche Rechtsprechung materiell aufgefüllte Formel des Grundgesetzes vom „sozialen Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1) haben einen „Umverteilungsföderalismus“ kreiert, der die ursprüngliche Aufgabenverteilung weit gehend aufgehoben und zu Verflechtungen geführt hat, die in vielen, nicht allen Fällen keine klare Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit mehr erlauben. Diese intensive Verflechtung hat zwar den positiven Effekt gehabt, dass allzu krasse Diskrepanzen zwischen einzelnen Ländern und Regionen vermieden werden konnten, sie hat auch in den Jahren nach der deutschen Einheit ein völliges Abgleiten großer Teile Ostdeutschlands in den wirtschaftlichen und sozialen Kollaps verhindert, ist aber gleichzeitig wesentlich dafür verantwortlich, dass, wegen der Zahl der einzubeziehenden Akteure, politische Entscheidungen äußerst schwer zu erreichen sind und eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Die in föderalen Systemen gegenüber unitarischen Staaten sowieso schon komplizierteren politischen Entscheidungsprozesse haben in der Bundesrepublik eine Form angenommen, die nach Meinung vieler Beobachter ursächlich für einen weit verbreiteten Immobilismus und die Entscheidungsschwäche des politischen Systems ist. Ergebnis der sich über Jahrzehnte hinziehenden Unitarisierungsund Verflechtungsprozess sind hohe Entscheidungskosten, häufig suboptimale Problemlösungen und eine, über den Bundesrat mobilisierbare Blockadeanfälligkeit.
7.3.1 Gescheiterte Verfassungsreform
Vorschläge der Enquête-Kommission „Verfassungsreform“ 1976
Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung
Von daher verwundert es nicht, dass die Reform des Föderalismus in der Bundesrepublik immer wieder auf der politischen Agenda stand. Wiederkehrende Kritik an der Arbeit der politischen Institutionen, vor allem des Bundestages und der Länderparlamente, dem Verfahren der Gesetzgebung, der Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern, der Verwaltung und Rechtsprechung hat in der Geschichte der Bundesrepublik zu einer Reihe von Verfassungsänderungen und -anpassungen geführt. Den anspruchsvollsten Versuch, Ziele und Inhalte einer Reform des politischen Institutionensystems zu bestimmen, hat eine vom 6. Deutschen Bundestag 1971 eingesetzte Enquête-Kommission „Verfassungsreform“ unternommen, die ihren Bericht im Jahre 1976 dem 7. Deutschen Bundestag vorlegte. In ähnlicher Ausführlichkeit ist über eine Revision des Grundgesetzes nur später, zwischen 1991 und 1993 in der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates beraten worden (Schindler, 1984: 840ff.; Bericht der gemeinsamen Verfassungskommission, 1993; Batt, 1996; Quint, 1997). Die Empfehlungen bezüglich des Bundesrates waren sehr zurückhaltend. Die Enquête-Kommission redete keiner Änderung des Bundesratsprinzips durch zusätzliches Entsenden von Länderparlamentariern das Wort und lehnte auch die
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Erweiterung der Aufgaben des Bundesrates durch die Einführung einer „dritten Ebene“, z.B. eines „Länderrates“ als Kooperationsorgan der Länder ab. Die faktische Existenz solcher Institutionen auf der Ebene der Fachministerien (Kultusministerkonferenz oder Konferenz der Länderinnenministerien) blieb davon unberührt. Abgelehnt wurde auch die Überlegung, die Länderparlamente unmittelbar, durch die Zustimmung von 2/3 der Länderparlamente, an Grundgesetzänderungen zu beteiligen. Vorschläge zur Reform des Gesetzgebungsverfahrens und der Gesetzgebungskompetenzen bezogen sich vor allem auf eine deutlichere Trennung von Bundesund Länderkompetenzen. Die Kommission reagierte damit auf die seit 1949 zu beobachtende Praxis, die grundgesetzliche Zuständigkeitsvermutung immer weiter zu Gunsten des Bundes zu verschieben. Der Bund hatte von seiner Zuständigkeit wie reichenden Gebrauch gemacht und sie in der Regel voll ausgeschöpft. Die umfassenden Kataloge der Art. 73 bis 75 GG waren durch eine Reihe von Verfassungsänderungen ergänzt und verstärkt worden. „Dabei wurden die Zuständigkeitsbereiche oft extensiv ausgelegt und mit Hilfe der Rechtsfigur der Annexkompetenz und des Sachzusammenhangs ausgeweitet“ (BT-Drs. 7/5924: 126). Diese Praxis habe – unter Mitwirkung des Bundesrates – dazu geführt, dass „die Gesetzgebung ganz überwiegend zur Bundessache geworden ist“ (BT-Drs. 7/5924: 126). Selbst in die genuinen Bereiche der Landesgesetzgebung, wie der Polizei oder der Kultur dringe die Bundesgesetzgebung immer weiter vor. Zur Lösung dieser Problematik wurden verschiedene Modelle entwickelt, die auf eine Neueinteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten und die Stärkung der Länderrechte hinauslaufen sollten. Insbesondere sollte das Erfordernis für die Begründung einer bundesgesetzlichen Regelung verschärft werden und die Rahmenkompetenz des Bundes an die Zustimmung des Bundesrates gekoppelt werden (BT-Drs. 7/5924: 130ff.). Umfassende Reformvorschläge wurden zur Finanzverfassung unterbreitet Weitere Vorschläge (Art. 104ff. GG). Die Beteiligung der kommunalen Ebene an übergreifenden Aufgaben durch eine Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände (Deutscher Städtetag; Deutscher Städte- und Gemeindebund; Deutscher Landkreistag) an der gemeinsamen Rahmenplanung, wenn kommunale Belange berührt werden, und eine entsprechende Erweiterung des Art. 28 GG wurde ebenso verworfen, wie die Mitwirkungsmöglichkeit der Kommunen im Bundesrat oder die verschiedentlich vorgeschlagene Einrichtung von Gemeindekammern auf Bundes- und Landesebene (BT-Drs. 7/5924: 224). Schließlich schlug die Kommission vor, die Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes an internationale Organisationen an die Zustimmung der Länder zu binden, wie dies im Zuge der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht geschehen ist.
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7.3.2 Der Föderalismus nach der deutschen Einheit Versäumte Länderneugliederung
Probleme des Länderfinanzausgleichs
Partielle Neuregelung des Bund-LänderVerhältnisses bei der Gesetzgebung
Trotz bereits damals geäußerter ernster Zweifel an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Größe der neuen Länder, die ja zusammen gerade die Bevölkerungszahl von Nordrhein-Westfalen haben, wurde die Wiedererrichtung der ostdeutschen Länder im Einigungsvertrag – mit Ausnahme der gescheiterten Fusion von Berlin und Brandenburg – nicht in Frage gestellt. Da die Bundesregierung glaubte, die Folgekosten der Einheit kurzfristig mit Hilfe eines besonderen Fonds „Deutsche Einheit“ (Gesetz über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit“ vom 25. Juni 1990, BGBl 1990 II, S. 518), dessen Mittel auf dem Kapitalmarkt aufgenommen wurden, begleichen zu können, verankerte sie bis Ende 1994 Sonderregelungen für die Finanzierung der Länder der ehemaligen DDR. Damit wurden die neuen Länder vorerst vom Länderfinanzausgleich ausgenommen, der in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik sichern soll, dass keine allzu großen Disparitäten zwischen ärmeren und wohlhabenderen Gegenden entstehen. Man hoffte, so die Bürger der alten Bundesrepublik vor zusätzlichen Belastungen bewahren zu können und vertraute darauf, dass die ehemaligen DDR-Bürger mit dem allmählichen Anstieg ihres Lebensstandards zufrieden sein würden. Unter anderem sah der Vertrag vor, dass die neuen Bundesländer nur 55% statt des im Westen üblichen vollen Anteils des durchschnittlichen Umsatzsteueranteils pro Einwohner erhielten. Dieser Anteil sollte bis 1994 auf 70% angehoben werden (Einigungsvertrag, Anlage I, Abschnitt II). Ende Februar 1991 mussten diese und andere Festlegungen des Einigungsvertrages revidiert werden, sollte nicht die wirtschaftliche und soziale Zukunft in den östlichen Ländern dauerhaft gefährdet werden. Bis 1998 sind fast 1,4 Billionen Mark nach Abzug aller Rückflüsse in die ehemalige DDR transferiert worden, ohne dass ein überzeugendes Strukturkonzept erkennbar geworden wäre (Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, 1998: 30). Die föderale Ordnung war auch Gegenstand der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, die über mögliche einigungsbedingte Änderungen des Grundgesetzes beriet. In zwei Bereichen haben die Beratungen wichtige Veränderungen gebracht: bei partiellen Neuregelung des Verhältnisses von Bund und Ländern bei der Gesetzgebung und mit dem neuen Art. 23 GG. Unter der Überschrift „Gesetzgebungskompetenzen und Gesetzgebungsverfahren im Bundesstaat“ hat die Kommission eine Reihe von Verfahrensänderungen und Zuständigkeitsregelungen vorgeschlagen. Grund für diese Veränderungen war, wie der Bericht vermerkt, die Forderung der Ministerpräsidenten in ihrem sogenannten „Eckwerte-Beschluss“ vom 5. Juli 1990, der die Forderungen der Länder bezüglich der in Art. 5 EVertr. vorgesehenen Verfassungsergänzungen formuliert und unmissverständlich eine Stärkung der Gesetzgebungsmacht der Länder gefordert hatte. Diese Forderungen bezogen sich vor allem auf die Erhöhung der Ausübungsschranken des Bundes bei der konkurrierenden Gesetzgebung, die Neuabgrenzung der Kompetenzkataloge zwischen Bund und Ländern, erweiterte Zustimmungsbefugnisse des Bundesrates, insbesondere bei Bundesgesetzen, die finanzielle Auswirkungen auf die Länder haben und längere Beratungsfristen im Bundesrat (Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, 374
1993: 63f.). Dabei ist die Lösung des wichtigsten Problems, die Neuregelung der Finanzverfassung, erneut misslungen. Bei Lichte betrachtet, handelt es sich bei den Veränderungen, die vorgenommen worden sind, um Kompetenzverschiebungen zu Gunsten der Länder, die diese durchsetzen konnten, weil ihre Zustimmung zu den Grundgesetzergänzungen und -veränderungen erforderlich war. Dies betrifft die konkurrierende und Rahmengesetzgebung des Bundes in den Artikeln 72, 74 und 75 GG, die Regelung von Verfahrensfragen bei der Gesetzgebung und Rechte des Bundesrates (Art. 76, 77 und 80 GG) sowie die in Art. 23 GG geregelte Beteiligung, Mitwirkung und Mitentscheidung des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Länder pochten erfolgreich auf eine Erweiterung ihrer Zuständigkeiten, Reföderalisierung meinten damit aber Zuständigkeiten der Länderregierungen. Durch den Bundesrat wirken nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 50) die Länder „bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit“, und Art. 77 Abs. 1 GG sagt unmissverständlich, dass Bundesgesetze „vom Bundestag beschlossen“ werden. Die faktische Aufwertung des Bundesrates zu einer gleichberechtigten „zweiten Kammer“, bedeutet eine konstitutionelle Verlagerung im Verhältnis der „gesetzgebenden Körperschaften“, wie es in einer problematischen Formulierung des Art. 5 des Einigungsvertrages heißt. Ob dies ein „Rückfall in die ,bündische' Welt der Bismarckverfassung“ ist (Hennis, 1993a), mag bezweifelt werden, aber es stellt eine Verschiebung der Gewichte der Verfassungsorgane dar, zumal wenn man in Betracht zieht, dass der europäische Einigungsprozess den nationalen Entscheidungsgremien, insbesondere den Parlamenten, Kompetenzen entzieht. Der mögliche Gewinn einer stärkeren Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durch eine Stärkung der Länderkompetenzen wird aber dadurch aufgebraucht, dass dies keine Verschiebung zu Gunsten der vom Bürger direkt beauftragten Repräsentationsorgane, nämlich der Länderparlamente, darstellt, sondern die Landesregierungen stärkt. Dies führte zu einer weiteren Ausschaltung der Länderparlamente in entscheidenden Fragen und zur Ausgestaltung quasi intergouvernementaler Beziehungen zwischen Bund und Ländern. Nachdem die rot-grüne Regierung im Frühjahr 1999 ihre Mehrheit im Bun- Blockade oder Große desrat verloren hatte, setzte die Union auf ein Politikmuster, das die SPD vor der Koalition Bundestagswahl 1998 vorexerziert hatte, die parteipolitisch motivierte Blockade von Regierungsvorhaben über den Bundesrat. Damit erlangte ein spezifisches Strukturmerkmal der politischen Ordnung der Bundesrepublik über längere Zeit eine erhebliche Bedeutung: Die Verbindung des in Art. 21 GG verankerte, auf Konkurrenz beruhende hervorgehobene Stellung der Parteien und das auf Konsens und Kooperation angelegte Bundesstaatsprinzip, das in seiner konkreten Ausprägung die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung bedeutet. Auch wenn der Bundesrat als Blockadeinstanz eher überschätzt wird (Stüwe, 2004), war die zweite Legislaturperiode der Regierung Schröder doch wesentlich durch den Versuch der Union geprägt, die Vorhaben der Regierung im Bundesrat zu Fall zu bringen oder aber über den Bundesrat eine Entscheidungsstruktur zu etablieren, die ihr optimale Mitwirkung sicherte. Die großen Gesetzesvorhaben der rot-grünen Regierung wie die Steuer- und die Arbeitsmarktreformen sind
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durch eine informelle Große Koalition von SPD und Union verabschiedet worden.
7.3.3 Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung als Aufgabe der Verfassungspolitik Die „Föderalismuskommission“
Länderfreundliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Reformziele der Großen Koalition
Die Reform des Föderalismus ist ein immer wiederkehrendes Problem. Das Scheitern einer auch nur marginalen Reform des Föderalismus nach der deutschen Einheit und die deprimierenden Erfahrungen mit den konkreten Auswirkungen der in hohem Maße interdependenten und verflochtenen Entscheidungsstrukturen, aber auch unmissverständliche Hinweise des Bundesverfassungsgerichts beförderten die Idee, eine gemeinsame „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (KMbO) einzuberufen. Dieser von Bundestag und Bundesrat im Oktober 2003 gebildeten Kommission wurde die Aufgabe übertragen, eine „die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern“ (Schubert, 2005: 127). Ferner sollte die Weiterentwicklung der Europäischen Union und die Situation der Kommunen in die Überlegungen einbezogen werden. Ausgenommen war von vorneherein ein Großteil der Finanzverfassung, insbesondere der Steuerverbund und der BundLänder-Finanzausgleich, Bereiche, die in erheblichem Maße zum System der Politikverflechtung beigetragen haben. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon seit längerem Sympathie für eine Stärkung der Rechte der Länder und ein Zurückdrängen des Regelungsanspruchs des Bundes erkennen lassen. In seiner Entscheidung zum Altenpflegegesetz vom 24.10.2002 (BVerfGE 106: 62) hat das Gericht die legislativen Rechte der Länder gestärkt, indem es die Erfordernisklausel des Art. 72 GG sehr restriktiv auslegt und damit für die konkurrierende Bundesgesetzgebung die Hürden deutlich erhöht. Die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ermächtige den Bundesgesetzgeber erst dann zu einer gesetzlichen Regelung, wenn sich die Lebensverhältnisse in einer, das bundesstaatliche Sozialgefüge erheblich beeinträchtigenden Weise auseinander entwickelten oder sich eine solche Entwicklung konkret abzeichne. In seinem Urteil zur Juniorprofessur vom 27.7.2002 (2 BvF 2/02) hat das Verfassungsgericht an dieses Urteil angeknüpft und weit reichende Detaileingriffe des Bundes moniert, die aus der Gesetzgebungskompetenz nach Art. 75 GG (Rahmengesetzgebung) nicht herzuleiten seien. Den Ländern müsse, so urteilt das Gericht, „ein eigener Bereich politischer Gestaltung von substanziellem Gewicht“ verbleiben. Auf der Grundlage der Vorschläge der Föderalismuskommission hat sich die Große Koalition auf eine Föderalismusreform geeinigt. Die wesentlichen Punkte sind aus den Empfehlungen der Föderalismuskommission übernommen. Eine Koalitionsarbeitsgruppe unter dem Vorsitz der beiden Ko-Vorsitzenden der Föderalismuskommission, Franz Müntefering und Edmund Stoiber, hat, nach Absprache mit Ländervertretern, einen umfassenden Text vorgelegt, der als Anlage
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zum Koalitionsvertrag die wesentlichen Eckpunkte der Empfehlungen übernahm: Kern der Reform ist die Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern und die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten, die Stärkung des Prinzips der Subsidiarität, was bedeutet, Aufgaben und Verantwortlichkeiten, wo möglich und sinnvoll, auf die Länder zurück zu verlagern und die Neuregelung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern, wobei man sich nicht zu einer, von vielen Fachleuten geforderten, vollen Entflechtung verstehen konnte. Das im Juli 2006 verabschiedete Gesetzespaket sieht umfangreiche Veränderungen der Zuständigkeiten von Bund und Ländern vor. Insgesamt wurden 25 Artikel des Grundgesetzes geändert. Dazu zählen u.a.: 1. Art. 23 Abs. 6 neu – in Fragen der schulischen Bildung, Kultur oder des Gegenstände der Rundfunks werden die Vertretungsrechte des Bundes einen Beauftragten der Föderalismusreform Länder übertragen; 2. Art. 52 GG – die Beteiligung der Länder an europapolitischen Angelegenheiten wird durch Neufassung des Absatz 3 a und der Geschäftsordnung des Bundesrates (Europakammer) gestärkt. 3. Nach dem Urteil der Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz vom 15.2.2006 (1 BvR 357/05) wird die Bundeszuständigkeit beim Katastrophenschutz (Art 35 Abs. 3 GG) neu überdacht; 4. Art. 72 Abs. 3 GG neu - hat der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen, u.a. im Hochschulwesen und bei der Hochschulzulassung, im Umweltschutz 5. Umfangreiche Verlagerungen auf die Länder finden im Rahmen der Kompetenzkataloge der Art. 73 und 74 GG statt – sie betreffen u.a. das Versammlungsrecht, den Strafvollzug, Ladenschlussrecht, Gaststättenrecht, Flurbereinigung oder die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse; 6. Art. 73 – aus der konkurrierenden Gesetzgebung in die ausschließlich Gesetzgebung des Bundes werden verlagert: das Waffen- und Sprengstoffrecht, Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, Versorgung von Kriegsopfern; 7. Art. 73 – aus der Rahmengesetzgebung in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes werden übernommen: das Melde- und Ausweiswesen und der Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ins Ausland; 8. Art. 73 – neu ist die BKA-Kompetenz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus, wenn eine Länder übergreifende Gefahr vorliegt und die Zuständigkeit einer Landesbehörde nicht erkennbar ist oder seitens eines Landes um Übernahme gebeten wird, entsprechende gesetzliche Grundlagen sind zustimmungspflichtig; 9. Art. 74 – Statusrechte und -pflichten der Angehörigen des Öffentlichen Dienstes der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des Öffentlichen Rechts, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen werden mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes; 10. der 1971 eingefügte Art. 74 a (Besoldung und Versorgung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes), wird gestrichen, diese Aufgabe fällt den Ländern zu; 377
11. Art 75 GG – die Rahmengesetzgebung wird abgeschafft, dies betrifft u.a. Bereiche wie die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes, das Hochschulwesen, die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse, Naturschutz und Landschaftspflege, die Raumordnung und dien Schutz deutschen Kulturgutes vor Abwanderung ins Ausland. 12. Art. 84 GG – wenn Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, regeln sie die Einrichtung der Behörden und Verwaltungsverfahren; sofern Bundesgesetze etwas andere bestimmen, können sie davon abweichende Regelungen treffen; 13. Art. 85 GG – durch Bundesgesetze dürfen den Gemeinden und Gemeindeverbänden keine Aufgaben übertragen werden; 14. Art. 104 a – führen Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, bedürfen sie der Zustimmung des Bundesrates, wenn sie für die Länder Geldleistungen oder geldwerte Sachleistungen gegenüber Dritten haben, die „zu einer erheblichen Kostenbelastung“ der Länder führen; (Quelle: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/813) Erforderlichkeitskrite rium des Art 72 Abs. 2 GG
Mischfinanzierung und Gemeinschaftsaufgaben
Einhaltung der Maastricht-Kriterien
Ein zweiter Schwerpunkt ist die Neujustierung der Gesetzgebungsgegenstände. Die unter das Erforderlichkeitskriterium des Art 72 Abs. 2 GG fallen („...wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“). Eine Vielzahl von Gesetzgebungsmaterien werden ausgenommen. Dazu zählen u.a. das Bürgerliche Recht, das Strafrecht, die Gerichtsverfassung das Gerichtsverfahrensrecht, die Rechtsanwaltschaft und Rechtsberatung, das Personenstandsrecht, das Vereinsrecht, das Arbeitsrecht und die Sozialversicherung oder die Rechte der öffentlich Bediensteten, die nunmehr in die Länderkompetenz fallen. Zentraler Bezugspunkt der Kritik an der Ausgestaltung des Föderalismus seit den 1960er-Jahren waren die Auswirkungen unklarer Finanzverantwortung und vielfältiger Tatbestände der Mischfinanzierung und Gemeinschaftsaufgaben. Hier haben weder die Kommission noch die Koalition, noch die Länder den großen Reformschritt gewagt. Die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und 91 b GG werden neu geregelt. Abgeschafft werden nur die Gemeinschaftsaufgaben Bildungsplanung Hochschulbau, letztere allerdings unter Weiterführung der Förderung von Großgeräten und der Vorhaben nationaler Exzellenz. Der Kompromisscharakter dieser Vereinbarungen wird im neu einzufügenden Art. 143 c GG deutlich festlegt, dass den Ländern bis zum 31. Dezember 2019 für den durch die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich Hochschulkliniken und Bildungsplanung sowie für den durch die Abschaffung der Finanzhilfen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und zur Förderung des Wohnungsbaus Finanzierungsanteile des Bundes jährlich Beträge aus dem Haushalt zufließen werden. Im Endeffekt wollten die Länder, die sich im Zuge der Föderalismusreform viele neue Kompetenzen erworben, bzw. alte zurück erobert haben, auf die finanziellen Segnungen nicht verzichten die ein Strukturmerkmal des heftig kritisierten kooperativen Föderalismus waren. Erwähnenswert ist schließlich die im Hinblick auf die europäische Politik bedeutsame Entscheidung, die Einhaltung der Vorgaben des EG-Vertrages in der 378
Haushaltspolitik und die Einhaltung der „Maastricht-Kriterien“ in einem „Nationaler Stabilitätspakt“ zu regeln. Ein neuer Art. 109 Abs. 5 GG enthält die gemeinsame Verpflichtung von Bund und Ländern zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin aufgrund Art. 104 EG-Vertrag. Im Falle von Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft tragen Bund und Länder die Kosten im Verhältnis 65 zu 35, wobei die auf die Länder entfallenden Lasten entsprechend ihrer Einwohnerzahlverteilt werden und die die Lasten verursachenden gesondert herangezogen werden. Die Vorschläge sind auf erhebliche Kritik gerade auch jener gestoßen, die Rückkehr der seit langem eine grundlegende Reform angemahnt hatten. Aus der Sicht vieler Kleinstaaterei? Kritiker hat der Versuch, undurchsichtige Entscheidungsverfahren und vermischte Kompetenzen abzuschaffen und die Eingriffsmöglichkeiten des Bundes zurückzudrängen problematische Nebeneffekte gezeitigt. An die Stelle der in ihren konkreten Auswirkungen immer wieder kritisierten Politikverflechtung sei in vielen Bereichen das Paradigma der „Entflechtung“ getreten. Die „Fixierung der Reformbemühungen auf das Trennprinzip“ (Scharpf, 2005: 108) habe negative Konsequenzen, weil es die gesamtstaatlichen Aufgaben zu gering schätze. Kritisiert wird auch die z.B. beim Umweltrecht eingeräumte Möglichkeit, dass zwar der Bundesgesetzgeber für einzelne Materien zuständig ist, den Ländern aber die Möglichkeit eingeräumt wird, mit eigenen Gesetzen von den Vorgaben der Bundesgesetzgebung abzuweichen. Dies durchbricht den die bundesstaatliche Ordnung bislang prägenden Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG). Als problematisch ist auch die Regelung anzusehen, dass künftig Bundesgesetze erst mit halbjährlicher Verzögerung in Kraft treten, um den Ländern die Möglichkeit zu eröffnen, abweichende Regelungen zu verabschieden. Schließlich sind in der langen Liste der Kritikpunkte die unter dem Stichwort „Europatauglichkeit“ eingeführte Veränderung der Entscheidungsverfahren und die zwingende Außenvertretung des Bundes durch einen Landesbeauftragten in Angelegenheiten, die in die Länderkompetenz eingreifen problematisch. Art. 23 GG hat einen neuen Absatz 6 mit folgendem Wortlaut erhalten: „Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen..“
Ein Paradigmenwechsel ist auch hinsichtlich der Gründe für die Zustimmungspflicht der Länder erkennbar. Sie wird zukünftig nicht mehr an die Organisationshoheit der Länder, sondern an den Schutz ihrer Finanzhoheit geknüpft. Musste der Bundesrat bisher zustimmen, wenn der Bund in seine Verwaltungskompetenz eingriff, so ist die Zustimmung nunmehr daran geknüpft, ob Gesetze zu „erheblichen finanziellen Verpflichtungen“ führen – ob die vor allem von dieser Regelung erwartete Reduzierung der Zustimmungstatbestände von bisher ca. 60 % auf 30-40 % erreicht werden wird, bleibt abzuwarten.
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Stellung von Bund und Ländern im Mehrebenensystem der EU
Die Ergebnisse der Föderalismusreform erscheinen auch vor dem Hintergrund der Stellung von Bund und Ländern im Mehrebenensystem der EU problematisch, basiert doch die nach dem Vertrag von Maastricht gefundene Form der Beteiligung der Länder an europäischen Angelegenheiten in Art. 23 GG und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Art 24 Abs. 1a auf einer Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, die bei einer weit getriebenen Trennung von Bundes- und Länderkompetenzen neu austariert werden müsste. Mit dem neuen Art. 23 GG hatten sich die Länder erhebliche Mitwirkungsrechte in europäischen Angelegenheiten gesichert. Sie können diese – neben der Repräsentanz in Brüssel und intergouvernementaler Abstimmung unter den Länderregierungen und mit der Bundesregierung – zuvörderst über den Bundesrat im Gesetzgebungsprozess ausüben.
7.3.4 Europa der Regionen und der deutsche Föderalismus Wachsende Bedeutung der Regionen
Der Artikel 5 des EG-Vertrages enthält mit dem neuen, der katholischen Soziallehre entlehnten Zauberwort Subsidiarität Elemente, die nicht nur für eine föderative Weiterentwicklung der Gemeinschaft taugen, sondern auch die Rolle der deutschen Bundesländer auf dem Weg über das Gemeinschaftsrecht und deren Mitwirkung im Ausschuss der Regionen gestärkt haben. Dort heißt es: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher, wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen, besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Damit ist ein Übermaß-Verbot („sofern und soweit“) ausgesprochen, das der Brüsseler Zentrale potentiell Beschränkungen auferlegt – vorausgesetzt, dieses Prinzip wird institutionell und verfahrensmäßig unterfüttert. Es war insbesondere diese Formulierung, die dem Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung erleichtert hat, die Klage gegen den Vertrag von Maastricht abzuweisen (BVerfGE 89, 155). Neben der mit dem Begriff Subsidiarität verbundene Rückverlagerung politischer Entscheidungen an die nationalen politischen Institutionen, die im bundesdeutschen Föderalismus zum Teil nicht die Rückverlagerung auf die nationale, sondern auf die Länderebene bedeutet, zumal wenn diese, wie in der Föderalismusreform vorgesehen, erheblich gestärkt wird, hat die Aufwertung der Regionen einen entscheidenden Einfluss auf das Binnengefüge des bundesdeutschen Föderalismus. Unter „Regionen“ werden sub-nationale territoriale Einheiten verstanden, die oberhalb der Gemeindeebene angesiedelt sind und über eigene Verwaltungsund Entscheidungsstrukturen unterhalb der zentralstaatlichen Ebene verfügen. In der Bundesrepublik sind dies die Länder. Die Rolle der Insbesondere für ein föderales System wie die Bundesrepublik haben diese Bundesländer im Entscheidungen weit reichende Folgen. Die Bundesländer sind Regionen in anEuropa der Regionen deren europäischen Ländern gleichgestellt, die bei weitem nicht den gleichen
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staatsrechtlichen Status und eine vergleichbare politische Stellung besitzen. Im Inneren haben die Bundesländer die Tatsache für sich ausnutzen können, dass der Vertrag von Maastricht ihrer Zustimmung im Bundesrat bedurfte und sich im Ratifizierungsverfahren Beteiligungsrechte auf europäischer Ebene gesichert. Sie haben den Prozess, der mit der Einberufung einer Regierungskonferenz durch den Europäischen Rat auf seinem Treffen in Dublin am 25./26. Juni 1990 eingeleitet und in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza zu einer neuen vertraglichen Grundlage geführt hat, kritisch und selbstbewusst begleitet. Die Grundsatzposition der Länder ist in einer Erklärung der Ministerpräsidentenkonferenz vom 20./21. Dezember 1990 in München formuliert: „So wie der Föderalismus und Subsidiarität wesentlich dazu beigetragen haben, nach 1945 stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, so bieten diese Architekturprinzipien die beste Gewähr dafür, die Probleme der modernen Industriegesellschaften nicht nur im vereinten Deutschland, sondern auch im sich einigenden Europa zu lösen. Föderalismus ist ein wesentlicher Garant für Freiheit und Demokratie. Er gewährleistet größtmögliche Bürgernähe, bewahrt kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt und setzt durch den Wettbewerb neue Kräfte für die Fortentwicklung Europas frei.“ (zit. nach: Borkenhagen/u.a., 1992: 236)
Dass diese spezifisch deutsche Sicht der Vorzüge des Föderalismus nicht von allen europäischen Partnern geteilt wird, liegt auf der Hand. Insbesondere die unitarisch organisierten Staaten würden neben praktischen Argumenten ins Feld führen, dass das demokratietheoretische Argument zu Gunsten des Föderalismus nicht zu verallgemeinern und als Begründung für ein föderal organisiertes Europa abzulehnen sei. In Rechnung zu stellen ist auch, dass die Regionalstruktur in der EU äußerst Heterogene heterogen ist. Nur einige Staaten (Belgien, Frankreich, Griechenland und Italien) Regionalstruktur in der EU kennen territoriale Einheiten, die als Regionen bezeichnet werden, in anderen (Dänemark, Irland und Portugal) existieren verschiedene Formen des „local government“, einige Länder wie Irland kennen Provinzen. Wichtige europäische Länder sind unitarische, andere föderative Staaten. Spanien gliedert sich in siebzehn autonome Gemeinschaften mit z.T. eigenen Nationalitäten. Dass die Bedeutung der Regionen wächst und eine Rolle in der Agenda nationaler Politik spielt, hat der Prozess der „devolution“ im traditionell zentralistischen Großbritannien in den 1990er-Jahren gezeigt. Im Ausschuss der Regionen stellen Gliedstaaten wie die deutschen Bundesländer mit eigenen verfassungsmäßig verankerten europapolitischen Kompetenzen eine Ausnahme, nicht die Regel dar Ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Regionen sind keine unvereinbaren Konzepte – auch wenn dies die mit häufig weltanschaulicher Unversöhnlichkeit ausgetragene Debatte suggeriert. Mit der wachsenden Bedeutung des europäischen Zusammenschlusses verringert sich, darüber bestehen kaum Meinungsverschiedenheiten, tendenziell die Bedeutung der Nationalstaaten. Ob dies jedoch zu einer Herausbildung einer neuen Form von Regionen führen wird, die die nationalstaatlichen Grenzen überschreiten und alte Brüche zwischen Nationalstaaten (wie das Gebiet der Alpen und des Rheins) überwinden, ist ebenso umstritten, wie die These, dass es nur in Ausnahmefällen, nämlich bei instabilen nationalen Bindungen, zu einem Wiederaufleben regionaler Identitäten (zumeist auf 381
symbolischer Ebene) kommen wird. Es gibt eine Fülle von Indizien, dass beide Elemente eine größere Bedeutung erlangen werden: die Entwicklung grenzübergreifender Großregionen und die Persistenz eines kleinräumigen Regionalismus. Der Nationalstaat als Ergebnis der politischen, sozialen und kulturellen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit war sowohl dem Universalismus als auch dem Regionalismus älterer Staatsbildungen entgegengesetzt. Angesichts des neuen „europäischen Universalismus“ muss das Verhältnis dieser drei Komponenten neu austariert werden.
7.4
Vergemeinschaftung von Politiken
Die EU als föderal organisierte Gebietskörperschaft
Europäisierung nationalstaatlicher Politik
Die Europäische Union setzt als supranationales Gebilde einen immer konkreteren Handlungsrahmen für nationale Politik. Sie bildet den Bezugsrahmen für die Integrationsforschung in der die Verlagerung von politischen Entscheidungen von der nationalen auf die europäische Ebene besondere Aufmerksamkeit findet. Dieser Prozess wird als Europäisierung bezeichnet. Es geht um die Neujustierung der Entscheidungsmuster und -prozesse im europäischen Mehrebenensystem. Die europäische Einigung wird als ein Prozess der Institutionenbildung auf europäischer Ebene begriffen, in dessen Verlauf immer weitere Bereiche der Politik entweder vergemeinschaftet oder durch Regierungszusammenarbeit geregelt werden (Diman 1994). Die institutionellen Neuerungen, Verfahrensregeln und Politikbereiche, die die Verträge von Maastricht und Amsterdam einführten, standen dabei im Vordergrund. Analysiert wurde das Entstehen eines besonderen Typs von governance (Kohler-Koch/Edler 1998: 170). Bereits mit der „Einheitlichen Europäischen Akte“ drückten die Teilnehmerländer der Europäischen Gemeinschaft den Wunsch aus, eine politische Union Europas zu erreichen, also über eine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus einen neuen Typus des Herrschaftsverbundes von Staaten zu kreieren (Art. 10 EG-Vertrag; RS. C-2/88 (Zwartveld), Slg. 1990, S. I-3365). Nach Maastricht gab es zwar einerseits mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, der Wirtschafts- und Währungsunion, der gemeinsamen Außenpolitik und der wachsenden Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit einen neuen massiven Schub in Richtung einer immer engeren (institutionellen) Union der Völker Europas. Andererseits überforderten diese weit reichenden Ziele, wie einzelne nationale Referenda zum Maastricht-Vertrag gezeigt haben, viele Bürger in den Mitgliedsländern und fachten unter den politischen Eliten eine Debatte über die Zukunft der europäischen Nationalstaaten an. Im Zuge der Integration steht daher gerade auch die Politik innerer Sicherheit in einem Spannungsverhältnis nationalstaatlicher und gemeinschaftlicher Sicherheitskonzepte und Verfahren. Die Europäische Union, die mit dem Vertrag von Maastricht aus der Taufe gehoben worden ist, stellt eine föderal organisierte Gebietskörperschaft dar (Bogdandy, 2005: 25), die mit den klassischen Begriffen der Staatrechtslehre und der politischen Wissenschaft nur schwer zu bestimmen ist. Sie ist ein politisches Gemeinwesen, das kein Staat ist, sie ist mehr als ein Staatenbund, denn ihre Mitglieder haben erhebliche Teile ihrer Souveränität auf die EU übertragen,
382
ihre Beziehungen untereinander sind nicht nur über das Völkerrecht sondern auch über das Gemeinschaftsrecht geregelt, die Kompetenzen der Gemeinschaft reichen weit in die angestammten Felder nationalstaatlicher Souveränität hinein und das Gemeinschaftsrecht genießt Vorrang vor nationalem Recht. In vielen Bereichen hat europäisches Recht heute Vorrang vor nationalem Recht. Der EWG-Vertrag und die ihm folgenden völkerrechtlichen Verträge, zuletzt der Vertrag von Nizza, schufen mit dem primären Gemeinschaftsrecht de facto europäisches Verfassungsrecht, noch bevor ein einheitlicher Text einer europäischen Verfassungsurkunde existierte. Die EU ist aber auch kein (oder noch kein) Bundesstaat, in dem die Gliedstaaten zueinander in einem staatsrechtlichen Verhältnis stehen und ihre Stellung als Völkerrechtssubjekt aufgegeben haben. Häufig wird die EU daher etwas vage und wenig präzise als politische Ordnung sui generis bezeichnet, was nichts anderes bedeutet als dass sie mit bekannten historischen Vorbildern eines politischen Verbandes seit der Entstehung des modernen Nationalstaates nicht vergleichbar sei. Der vom Bundesverfassungsgericht eingeführte Begriff „Staatenverbund“ soll diese besondere rechtliche Stellung der EU verdeutlichen. Die Union zielt, wie es im Unionsvertrag heißt, darauf ab, eine „immer engere Union der Völker Europas“ zu schaffen (Art. 1 EUV), das bedeutet aber nicht, einen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden (Bundes)Staat. Die Eu ist – bis zum In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages – kein eigenständiges Rechtssubjekt sondern Organ der „gemeinsam handelnden Mitgliedstaaten“, die ihre völkerrechtliche Staatsqualität nicht verloren haben (BVerfGE 89, 155: 156; 184). Als politische Gemeinschaft ist die EU in der Lage, aus eigener Machtvollkommenheit, auf einer eigenen Rechtsgrundlage und kraft eigener Legitimität zu handeln. Sie ist also mehr als ein nur ausführendes Organ einer durch Verträge verbundenen Anzahl von Staaten. Und sie ist entwicklungsfähig. Der im Verfassungsentwurf angelegte europäische Zusammenschluss enthält bereits heute Merkmale, die in der politischen Theorie einer Republik zugewiesen werden. Wenn man die Engführung von Staat und Republik aufgebe und den Kern, „ein Gemeinwesen, das auf der Grundlage einer legitimen Verfassung mittels gewaltenteilender Demokratie gemeinsame Angelegenheiten der Bürgerinnen und Bürger regelt“ in den Mittelpunkt stelle, dann könne, so argumentiert Armin von Bogdandy, die EU als Republik bezeichnet werden (Bogdandy, 2005: 25). Jenseits einer rechtlichen Einordnung der Europäischen Union, steht außer Frage, dass es sich hier um einen neuen Typus eines, wenngleich nicht im tradierten Sinne staatlich verfassten Herrschaftsverbandes handelt, der immer weitere Bereiche der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seinen Regeln unterwirft und damit zugleich die Regelungs- und Gestaltungskompetenzen der Mitgliedstaaten einschränkt. Das Zusammenspiel von europäischen und nationalen Entscheidungsinstanzen, im deutschen Fall ergänzt durch die Bundesländer, hat zu einer Mehrebenenstruktur geführt, in der die Nationalstaaten in wichtigen Politikbereichen nicht mehr die zentrale, sondern eine mittlere Ebene zwischen europäischen und regionalen Einheiten darstellen. Diese Kompetenzverschiebung ist nicht temporär, sondern dauerhaft. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat zu Konflikten geführt, die im deutschen Fall auf der grundsätzlichen Ebene vom
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Rechtlicher Status der EU
Die EU als politische Gemeinschaft
Die Europäische Union als Herrschaftsverband neuen Typs
Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof ausgetragen worden sind. Hier ging es vorrangig um die Frage der Vorrangigkeit von Gemeinschaftsrecht, den Schutz der Grundrechte und deren Garantie durch die nationale Verfassung und/oder das durch den Europäischen Gerichtshof ausgelegte Gemeinschaftsrecht. Europäisches und Die normativen Grundlagen der Europäischen Union sind durch das Nebennationales Recht einander von nationalem Verfassungsrecht und primärem Gemeinschaftsrecht der EU gekennzeichnet. Das Gemeinschaftsrecht greift tief in die Verfassungsund Rechtstraditionen der Mitgliedsländer ein und erfordert, wie im Falle der Reichweite des Art. 24 GG, Anpassungen im Verfassungsrecht und eine Konkordanz europäischen und nationalen Rechts. Das Konkordanzprinzip ist nicht politisch, sondern durch die inzwischen unangefochtene Rechtsprechung des EuGH durchgesetzt worden, der eine Direktwirkung und den Vorrang europäischen Sekundärrechts vor dem nationalen Recht konstatiert hat. Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags ist dieser Vorrang verankert: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ (Art. I-6 VE)
Bei der Ausübung der Zuständigkeiten der Union werden sich die Organe nach in Kraft treten des Verfassungsvertrages folgender Rechtsakte bedienen: Europäisches Gesetz, Europäisches Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme. „Das Europäische Gesetz ist ein Gesetzgebungsakt mit allgemeiner Geltung. Es ist in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“ (Art. I-33 VE). Rahmengesetze im Sinne des Verfassungsvertrags sind hinsichtlich des Ziels verbindlich, jedoch wird den innerstaatlichen Stellen überlassen, in welcher Form und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht wird. Europäische Verordnungen im Sinne des Vertrages sind Rechtsakte allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter, die in allen Teilen verbindlich oder nationaler Ausgestaltung offen sein können, während der Europäische Beschluss in allen seinen Teilen verbindlich ist. Der gültige EG-Vertrag unterscheidet Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 249 EGV). Eine EUVerordnung hat allgemeine und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat. Die Verordnungen schalten faktisch die nationalen Parlamente aus. Die Richtlinien zwingen die nationalen Parlamente zur Gesetzgebung, nehmen ihnen aber ihre Initiativfunktion und schränken ihre Entscheidungsmöglichkeiten ein. Politische Die Zuständigkeiten und Aktivitäten der der EU umfassen alle Dimensionen Handlungsfelder der der Politik: Polity, Policy und Politics (Preuß, 2005: 497). Die EU ist unzweifelEU haft eine Polity, sie hat die institutionelle Gestalt eines politischen Verbandes, der jedoch nicht staatlich organisiert ist. Sie verfügt mit den Verträgen (und in Zukunft möglicherweise mit dem Verfassungsvertrag) über eine normative rechtliche Grundlage, über Institutionen, die die in den Verträgen genannten Ziele umsetzen (Europäischer Rat, Rat, Kommission, Parlament) und über Möglichkeiten, Normverstöße zu ahnden, z.B. mit Hilfe von finanziellen Sanktionen.
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Die EU entwickelt in immer weiteren Bereichen eigene policies. Ursprünglich waren es Fragen der Wirtschaft und vor allem des Agrarsektors, die durch Gemeinschaftsrecht reguliert wurden, inzwischen umfassen die im Dritten Teil des EGV geregelten „Politiken der Gemeinschaft“ nahezu den gesamten Bereich bislang staatlich regulierter Aufgabenbereiche. Abbildung 7: Die Politiken der Europäischen Gemeinschaft Titel Politiken I freier Warenverkehr II Agrarpolitik III Freizügigkeit und freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr IV Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken, die den freien Personenverkehr betreffen V Verkehrspolitik VI gemeinsame Regeln, die den Wettbewerb, Steuerfragen und die Angleichung der Rechtsvorschriften betreffen VII Wirtschafts- und Währungspolitik mit der Gründung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) VIII Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie IX gemeinsame Handelspolitik X Zusammenarbeit im Zollwesen XI Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung der Jugend XII Förderung der Kultur und des gemeinsamen kulturellen Erbes XIII Gesundheitswesen XIV Verbraucherschutz XV transeuropäische Netze im Bereich der des Verkehrs-, der Telekommunikations- und Energieinfrastruktur XVI Industriepolitik XVII wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in der Gemeinschaft, insbesondere die Verringerung von Unterschieden im Entwicklungsstand besonders benachteiligten Regionen und Gebiete XVIII Forschung und technologische Entwicklung XIX Umwelt XX Entwicklungszusammenarbeit (Quelle: EGV, Dritter Teil) Die Europäische Union setzt als supranationales Gebilde einen immer konkrete- Europäisierung als ren und umfassenderen Handlungsrahmen für nationale Politik. Das Ausgreifen „negative Integration“ europäischer Regelungen auf tendenziell alle Bereiche der Gesellschaft hat eine Entwicklung angestoßen, die mit dem Begriff „Europäisierung“ umschrieben wird. Damit ist ein politischer und gesellschaftlicher Vorgang gemeint, der dazu führt, dass politische Entscheidungen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden oder dass eine Neujustierung der Entscheidungsmuster und -prozesse im europäischen Mehrebenensystem vorgenommen wird. Die europäische Einigung ist darüber hinaus auch ein Prozess der Institutionenbildung auf europäischer Ebene, in dessen Verlauf immer weitere Bereiche der Politik entweder vergemeinschaftet oder durch Regierungszusammenarbeit geregelt und neue Institutionen geschaffen werden, die an die Stelle nationaler Entscheidungsträger treten (Dinan, 1994). Als Beispiel sei das im Vertrag von Maastricht (Art. K 8) vorgesehene und 1998 geschaffene Europäische Polizeiamt „Europol“ ge-
385
nannt, das den Auftrag hat den im Amsterdamer Vertrag geschaffenen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ auf der Ebene polizeilicher Zusammenarbeit auszugestalten. Europäisierung wird häufig als „negative Integration“ verstanden (Scharpf 1998; M. Schmidt, 1999). Europäische Normensetzung schränkt in diesem Verständnis die Handlungs- und Gestaltungsräume ein, weil ihnen bestimmte Entscheidungskompetenzen entzogen werden. Sie erzeugt einen Anpassungsdruck, dem sich nationale Politik nicht entziehen kann und der sie in vielen Bereichen überformt. Zu den klassischen Feldern „negativer“ Integration gehören die Aspekte europäischer Politik, die auf Marktöffnung und Wettbewerbsgleichheit gerichtet sind, die also auf die Gestaltung eines Gemeinsamen Marktes ohne Binnengrenzen zielen. Mit Gründung der Union hat sich das Feld gemeinsamer Politik ausgeweitet und umfasst nunmehr neben so wichtigen Bereichen wie der gemeinsamen Geld- und Währungspolitik oder der Energiepolitik auch die öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Europäisierung übt sowohl einen Veränderungsdruck auf die einzelnen Mitgliedstaaten der Union als auch auf die in Staaten organisierten Gesellschaften aus, ihre inneren Angelegenheiten nach vorgegebenen und vorrangigen europäischen Normen zu regeln, das heißt, auf eigenständige „souveräne“ Entscheidungen zu verzichten und sich als Teil eines übergeordneten europäischen Rechtssystems und einer politischen Ordnung jenseits des Staates zu verorten. Die Mitgliedstaaten werden dadurch ihres ursprünglichen souveränen und allumfassenden Geltungsanspruchs beraubt. Europäisierung bedeutet „ein kontinuierliches Schrumpfen des Bereichs relevanter politischer Regelungen, die von Regierungen noch autonom gestaltet werden können, d.h. ohne dass jeweils übergeordneten politischen Leitideen, Zielbestimmungen und Rechtsnormen d er Europäischen Union Rechnung getragen werden muss. Die nationalen Regierungen sind in zunehmendem Maße an Beschlüsse gebunden und Restriktionen unterworfen, die auf kollektive Entscheidungsprozesse der EU zurückzuführen sind (Bach, 2000: 11). Europäisierung als „positive Integration“
Mit dem Begriff ‚positive’ soll das gestaltende Element europäischer Politik hervorgehoben werden. Sie beinhaltet z.B. die Schaffung neuer oder die Veränderung bestehender Institutionen und, wie auch immer im Einzelnen geartete, Kontrolle dieses neuen institutionellen Zusammenhangs (Jachtenfuchs, 1998: 239). Als Beispiel „positiver“ Integration können die GASP oder der im Amsterdamer Vertrag als Ziel formulierte „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ angeführt werden, die sich nicht zwangsläufig aus dem ursprünglichen Integrationsziel einer Wirtschaftsgemeinschaft herleiten lassen. Dieser gestaltende Aspekt der Integration erfordert ein hohes Maß an Übereinstimmung (häufig auch Einstimmigkeit) und ist, angesichts der differierenden Verfassungs- und Politiktraditionen und Interessenlagen der Mitgliedstaaten noch schwerer zu harmonisieren, als Politiken, die sich aus der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes ergeben. Die Kontroversen über die Ausgestaltung des europäischen Sozialmodells oder die erheblichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des BolognaProzesses mögen als Beispiele gelten. Der Prozess der Europäisierung ist nicht auf ein einfaches UrsacheWirkung-Modell zu reduzieren. Der in Maastricht eingeschlagene Weg indiziert, 386
dass in vielen Bereichen, sei es die Wirtschafts-, die Sozial-, die Umwelt- oder die Sicherheitspolitik, nationale Problemlösungen nicht mehr ausreichend und Erfolg versprechend sind. Policy-Kooperation und Integration dienen dazu, übergreifende Herausforderungen zu verarbeiten, die im regionalen oder nationalen Kontext nicht mehr zu bewältigen sind. Damit entstand eine sich ausweitende Zone der Kooperation und Integration, die die Grenzen von Innen und Außen zunehmend verwischt. Klassische Felder der Innenpolitik wie die innere Sicherheit, Polizei- und Justizangelegenheiten, Asyl- und Einwanderungsfragen, die Gestaltung sozialer Sicherungssysteme oder Fragen der Kultur und Bildung, also auch Bereiche, die seit der Entstehung des modernen Staates als souveräner Kernbereich staatlicher Machtausübung galten, werden „europäisiert“. Dort, wo sie, wie in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit noch nicht in der „Ersten Säule“ vergemeinschaftet werden, geschieht dies auf dem Weg der Regierungszusammenarbeit in der zweiten Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - GASP) und die dritte Säule (Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik). Bezogen auf die nationale Ebene, beinhaltet die institutionelle und materielle Europäisierung die innere Beeinflussung der einheimischen Institutionen, Rechtsnormen, die Verlagerung von Verantwortlichkeiten öffentlicher Institutionen auf die europäische Ebene und das Hinzukommen neuer institutioneller Akteure. Dies erfordert eine Neujustierung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen den Institutionen, die für die Erbringung bestimmter Leistungen verantwortlich sind, sowie der Legitimationsgrundlagen hoheitlichen Handelns. Im deutschen Fall kommt beispielsweise angesichts der Länderzuständigkeiten für Sicherheitsfragen oder Fragen der Kultur und Bildung als zusätzliches Problem die durch das föderale System bedingte Mehrebenenproblematik ins Spiel. Europäische, nationale und regionale (Länder) Akteure sind in Entscheidungsund Umsetzungsprozesse involviert. Das in den Verträgen verankerte Subsidiaritätsprinzip ist so vage und allgemein formuliert, dass es für klare Kompetenzabgrenzungen und Handlungsanweisungen nicht taugt und Anlass für Kompetenzkämpfe bietet. Die Ausweitung der Agenda des europäischen Einigungsprozesses auf immer weitere Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens erfordert von den nationalen politischen Akteuren nicht nur erhöhte Aufmerksamkeit, sondern auch Sachkompetenz, die über den fachlichen Radius von Einzelpolitiken hinausgeht und den polity- und politics-Aspekt des Wechselverhältnisses von europäischer und nationaler Entscheidungsfindung in den Blick nimmt. Die Parlamente tragen dem Rechnung, indem sie eigene Ausschüsse einsetzen, die mit allen europäischen Fragen befasst werden. Auf der Ebene der Regierungen sind Verschiebungen der Zuständigkeit erkennbar, die das Verhältnis der Regierungszentrale (im deutschen Fall des Kanzleramts) und der Ministerien, aber auch die Beziehungen der Fachressorts untereinander berühren. Das Kanzleramt hat in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle inne, vor allem wenn es um Grundsatzentscheidungen geht, die im Europäischen Rat zu fällen sind. Unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders wurde erstmals eine eigene Europaabteilung im Kanzleramt eingerichtet. Eine besonde387
Innen und Außen
Innenpolitische Effekte der Europäisierung
Institutionelle Konsequenzen der Europäisierung
Legitimations probleme
Ist die Bundesrepublik ein „guter Europäer“?
re Rolle spielen traditionell das Außen-, Finanz- und Wirtschaftsministerium, deren Kompetenzen sich im Laufe der Zeit verschoben haben. Inzwischen sind auf Grund der Ausweitung der europäischen Agenda nahezu alle Ministerien genötigt, sich zu „Europäisieren“, was in der Regel durch die Einrichtung spezieller Europaabteilungen bzw. -referate geschehen ist und ihre Politik daraufhin abzustimmen (Helms, 2005: 107 ff.; Sturm/Pehle, 2005: 43 ff.). Neben den institutionellen Aspekten hat die Europäisierung auch eine subjektive Dimension, die sich in den Einstellungen und Werthaltungen der Akteure und der Bevölkerungen widerspiegelt. In der Ideen- und Einstellungsdimension bedeutet Europäisierung das Übergreifen europäischer Wertmuster, die Entwicklung eines europäisch orientierten Sicherheitsverständnisses sowie die gezielte Verbreitung europäischer politischer Ordnungsvorstellungen (vgl. Kohler-Koch 2000: 22). Sie berührt den sensiblen Bereich von Legitimation. Dabei ist anzunehmen, dass der Legitimitätsvorrat abnimmt, je relevanter Gemeinschaftsentscheidungen und Gemeinschaftsrecht für das Alltagsleben der Bürger werden, je mehr sie sich von den durch Wahlen legitimierten lokalen, regionalen und nationalen Entscheidungsagenturen ablösen und „anonym“ werden. Dies ist auch durch die Erweiterung demokratischer Beteiligung der Bürger in den Wahlen zum Europäischen Parlament und durch die stete Ausweitung von dessen Kompetenzen nur partiell zu kompensieren, denn ungeachtet politischer und administrativer Veränderungen scheint der Nationalstaat für die meisten Bürger noch immer die primäre Quelle von Wohlfahrt, Ordnung, Autorität, Legitimation, Identität und Loyalität zu sein. Im Ergebnis wäre Europäisierung nicht ausschließlich an der Verlagerung von Kompetenzen, Aufmerksamkeit und Ressourcen auf die europäische Ebene und der tatsächlichen Implementierung europäischer Vorgaben erkennbar, sondern auch an der Angleichung des Politikverständnisses, dem Wandel politischer Verhaltenslogik der nationalen Entscheidungsträger, der Bereitschaft zur Machtabgabe und Kooperation im europäischen Rahmen sowie der Berücksichtigung politischer und ökonomischer Dynamiken der EU. Hier zeigt sich, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern gibt und dass die Umsetzung europäischer Beschlüsse dann besonders problematisch und langwierig ist, wenn sie zentrale Aufgaben staatlichen Handelns wie z. B. die innere Sicherheit betreffen. Eine Diskrepanz zwischen der Haltung der nationalen Vertreter auf europäische Ebene, insbesondere im Europäischen Rat, und dem Verhalten nationaler Legislativen und Exekutiven ist nicht zu übersehen. Vor allem im Kernbereich nationaler Souveränitätsansprüche steht den Proklamationen auf europäischer Ebene häufig das Selbstbehauptungsrecht der Staaten entgegen (Glaeßner/Lorenz, 2005: 266). In der offiziellen politischen Rhetorik stellt sich die Bundesrepublik Deutschland als „guter Europäer“ dar und vergisst selten, auf die überproportionalen finanziellen Leistungen zu verweisen. Ein empirischer Blick auf das Verhalten der Bundesrepublik bei der Umsetzung europäischer Rechtsnormen relativiert das Bild (Huelsholt/Sperling/Hess, 2005). Deutschland rangiert nicht in der Spitzengruppe der Länder, sondern mit Staaten wie Frankreich, Portugal oder Großbritannien im Mittelfeld. Es ist wiederholt von der Kommission zur Einhal388
tung und Umsetzung eingegangener Verpflichtungen ermahnt worden. Die Suprematie des Gemeinschaftsrechts wird nicht in Frage gestellt, aber dann faktisch unterlaufen, wenn Anpassungen nationaler Gesetzgebung an europäische Normen unbotmäßig lange auf sich warten lassen, wie das z.B. mit der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie der Fall war. Hauptgrund dürfte das Beharrungsvermögen der Verwaltung und ihr in verschiedenen Politikbereichen erkennbares Bestreben sein, europäischen „Zumutungen“ so weit als möglich Widerstand entgegen zu setzen (Sturm/Pehle, 2005: 24) und bei der konkreten Umsetzung nicht nur Zeit zu gewinnen, sondern möglichst viel an eigener Kompetenz zu wahren und die Neuerungen im Sinne des Althergebrachten zu interpretieren. Die immer weitere Ausdehnung europäischer Kompetenztitel und Regelungsansprüche ist nicht ohne Konflikte verlaufen. Die erwähnte Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist nur eines unter vielen Beispielen. Von noch größerer Brisanz war und ist die Frage, wie weit eigentlich dieser Prozess gehen kann, ohne Grundnormen der Verfassung und des Staates selbst in Frage zu stellen. Auf Grund der Formulierungen des Grundgesetzes, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Einflusses der Länder ist die Bundesrepublik nicht frei und ungebunden, wenn es an die Verwirklichung einer Europäischen Union geht. Die in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza skizzierte Aufgabe geht weit über den bisherigen Rahmen supranationaler Zusammenarbeit und Integration hinaus und berührt die innere Ordnung aller Mitgliedsstaaten in ihrer Kernsubstanz. Diese Entwicklung nötigt somit zu einer Bestimmung des Verhältnisses von nationaler Verfassungsordnung und der sich entwickelnden europäischen politischen Ordnung. Die Bestimmungen des neuen Art. 23 GG machen das aus dieser Güterabwägung entstehende Dilemma deutlich: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.“
Wie problematisch der Prozess der Abwägung zwischen nationalen Interessen an der Aufrechterhaltung der eigenen politischen Ordnungen und Gepflogenheiten und den Konsequenzen des forcierten Prozesses europäischer Integration ist, haben die Schwierigkeiten bei der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht deutlich werden lassen. Erkennbar wurde auch, dass der Integrationsprozess seither eine neue Dimension erreicht hat, die Rückwirkungen auf das allgemeine politische Bewusstsein in den Mitgliedsländern haben. Die Ablehnung des Verfassungsvertrags durch die Bürger Frankreichs und der Niederlande im Jahre 2005
389
Politische und verfassungsrechtliche Schranken der weiteren europäischen Integration
und die Daten, die „Eurobarometer“ aus den Mitgliedstaaten der Union zur Verfügung stellt zeigen, dass das „europäische Projekt“ in einer Akzeptanzkrise steckt.
390
8
Das Regierungssystem
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine bemerkenswerte institutionelle Stabilität und personelle Kontinuität aus. Ohne die günstigen politischen und wirtschaftlich-sozialen Rahmenbedingungen gering zu schätzen, die einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatten, ist es in entscheidendem Maße dem Gestaltungswillen des Grundgesetzgebers zuzuschreiben, dass der zweite deutsche Versuch eine Demokratie zu errichten, erfolgreich war. Zu den begünstigenden Verfassungsnormen sind die grundgesetzliche Verankerung der Parteien als Mitgestalter des politischen Lebens, die Entscheidung für ein parlamentarisches Regierungssystem, die Vorsorge gegen negative Mehrheiten im Parlament, das Austarieren von Gewalten teilenden und kontrollierenden Elementen im politischen Institutionengefüge und die Aufgabenteilung zwischen den Verfassungsorganen zu nennen. Es war dieser normative und institutionelle Rahmen, der eine weit gehend krisenfreie Entwicklung und Festigung der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik ermöglichte.
8.1
Wahlen, Regierungen, Koalitionen
Das Grundgesetz macht über die Form und Ausgestaltung des Wahlrechts keine Aussagen. Es legt in Art. 38 Abs. 1 lediglich allgemeine Wahlgrundsätze nieder: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Um der für die Weimarer Republik typischen Zersplitterung des Parteiensystems Wahlrecht entgegenzuwirken, wurde im Wahlgesetz mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht eine Form gewählt, die sowohl der Parteiendemokratie (über die „Zweitstimme“) als auch dem Persönlichkeitselement durch die direkte Wahl eines Kandidaten mit der „Erststimme“ Geltung verschafft. Mit der seit 1953 bundesweit geltenden 5%-Sperrklausel wurde ein Strukturelement eingebaut, das zu einer Konzentration des Parteiensystems und der Repräsentanz von Parteien im Parlament, und zwar sowohl im Bundestag als auch in den Länderparlamenten geführt hat.
391
Betrachtet man die Ergebnisse der Bundestagswahlen seit 1949, so zeigen sich vier zeitlich versetzte Trends, die für die Regierungsbildung von Bedeutung waren. Regierungsbildung
1. Von den ersten Bundestagswahlen bis zur Wahl von 1957, die der CDU/CSU die absolute Mehrheit der Stimmen brachte, ist eine Konzentration hin zu einem Drei-Parteien-System erkennbar – eine Konstellation, die bis Anfang der 1980er-Jahre die Rahmenbedingungen für die Regierungsbildung setzte und die FDP zur „natürlichen“ Regierungspartei machte. 2. Mit dem Erfolg der Grünen, der nicht unwesentlich auf Kosten der Sozialdemokratie erfolgte, erweiterten sich zwar theoretisch die Optionen, Alternativen zur konservativ-liberalen Regierung scheiterten aber an den gegebenen Mehrheitsverhältnissen. 3. In den Jahren nach der Einheit entwickelte sich ein gespaltenes Parteiensystem mit vier Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne) im Westen und drei Parteien im Osten. Da in Ostdeutschland außer den beiden Volksparteien nur die PDS als starke Regional- und Milieupartei eine entscheidende Rolle spielte, hatte dies den Effekt, dass die PDS, die im Westen Deutschlands bedeutungslos blieb, in Ostdeutschland eine strategische Stellung bei Regierungsbildungen erlangen konnte. Zugleich verhinderte die Repräsentanz der PDS im Bundestag bis 1998 eine Regierungsmehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. 4. Erst in jüngster Zeit beginnt sich auch im Osten, wenngleich unterschiedlich gewichtet und nicht in allen Ländern, ein Fünf-Parteiensystem herauszubilden. Bei der Bundestagswahl 2005 war der Versuch erfolgreich, durch ein Wahlbündnis von PDS und der neu gegründeten „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) eine neue gesamtdeutsche Linke zu etablieren. Ob dies von Dauer sein wird, steht dahin. Das hier skizzierte Bild ist allerdings unvollständig und könnte in die Irre führen. Es berücksichtigt nicht die parteipolitischen Konstellationen in den Bundesländern und deren Einfluss auf Bundesebene. Es hat in der Bundesrepublik nie ein eindeutiges und unangefochtenes Machtkartell der CDU/CSU und ihrer Koalitionspartner – in erster Linie und seit Mitte der 1950er-Jahre ausschließlich der FDP – gegeben. Die Koalitionsregierungen auf Landesebene wiesen und weisen die unterschiedlichsten Kombinationen und relativ häufigen Wechsel auf.1 Die Mehrheiten im Bundesrat waren in entscheidenden Phasen der Geschichte der Bundesrepublik ein wichtiger politischer Faktor. So sah sich die sozial-liberale Bundesregierung einer Mehrheit der CDU/CSU dominierten Länderregierungen im Bundesrat gegenüber und die Regierung Kohl musste viele ihrer Vorhaben modifizieren oder aufgeben, weil sie es mit einer Mehrheit der SPD regierten Länder zu tun hatte, und die Regierung Schröder sah sich seit 1999 einer Mehrheit der CDU/CSU im Bundesrat gegenüber.
1
392
Richard Stöss hat von 1945 bis zur Vereinigung 1990 insgesamt 206 Regierungsbildungen auf Bundes- und Landesebene, darunter 98 Regierungswechsel, ausgezählt; Stöss, 1991: 223.
Tabelle 5: Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen 1949 – 2005 (in %) Jahr 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005
Wahl beteil. 78,5 86,0 87,8 87,7 86,8 86,7 91,1 90,7 88,6 89,1 84,3 77,8 79,0 82,3 79,1 77,7
CDU CSU 31,0 45,2 50,2 45,3 47,6 46,1 44,9 48,6 44,5 48,8 44,3 43,8 41,5 35,2 38,5 35,2
SPD
FDP
29,2 28,8 31,8 36,2 39,3 42,7 45,8 42,6 42,9 38,2 37,0 33,5 36,4 40,9 38,5 34,2
11,9 9,5 7,7 12,8 9,5 5,8 8,4 7,9 10,6 6,9 9,1 11,0 6,9 6,2 7,4 9,8
Grüne
1,5 5,6 8,3 5,0 7,3 6,7 8,6 8,1
PDS
Sonst.
2,4 4,4 5,1 4,0 8,7*
27,8 16,5 10,3 5,7 3,5 5,5 0,9 0,9 0,5 0,5 1,2 4,2 3,5 5,9 3,0 4,0
*2005 PDS-Die Linke
In den ersten Jahren nach dem Krieg hatte die Lizenzierungspolitik der Alliierten dafür gesorgt, dass die Zahl der Parteien überschaubar blieb. In der Gründungsphase der Bundesrepublik war der sich herausbildende „Block“ der bürgerlichen Parteien die dominante politische Kraft in allen entscheidenden interzonalen parlamentarischen Körperschaften. Bereits im Parlamentarischen Rat, der von den Länderparlamenten beschickt wurde und am 1. September 1948 erstmals tagte, zeichnete sich die zukünftige Struktur des Parteiensystems ab. Zwar sah es nach den ersten Bundestagswahlen 1949 so aus, als ob die Zersplitterung des Parteiensystems, die kennzeichnend für die Weimarer Republik gewesen war, sich unter neuen Vorzeichen fortsetzen würde – in den ersten deutschen Bundestag zogen 1949 elf Parteien ein – im deutlichen Unterschied zu Weimar konnten aber die beiden großen Parteien, die CDU/CSU, die wider Erwarten stärkste Partei wurde, und die SPD fast 60% der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Nimmt man die Liberalen hinzu, dann betrug der Stimmenanteil der drei, die Geschichte der Bundesrepublik maßgeblich prägenden Parteien bereits damals 72,8% (Klessmann, 1991: 437). Bereits bei den zweiten Bundestagswahlen reduzierte sich die Zahl der Parteien im Deutschen Bundestag auf sechs – nicht zuletzt wegen der damals noch auf Landesebene geltenden 5%-Klausel und einiger Listenverbindungen. Der Stimmenanteil der beiden großen Parteien erhöhte sich auf 74,0%, der der drei „Bonner“ Parteien auf 83,5%. Das bemerkenswerteste aber war die im Wahlergebnis erkennbare endgültige Etablierung und Konsolidierung der Union als stärkster politischer Kraft der Bundesrepublik: Sie erzielte mit 45,2% der Wählerstimmen fast die Hälfte der Mandate im Deutschen Bundestag. Trotz regionaler 5%-Klausel zogen zwar immer noch insgesamt sechs Parteien in den Bundestag ein, aber das Feld hatte sich erheblich gelichtet, kuriose und zwielichtige Gründungen, wie die „Wirtschaftliche Wiederaufbauvereinigung“ (WAV) waren verschwunden. Diese frühen Konzentrationserscheinungen begünstigten die stra-
393
Parteienkonstellation in der Gründungsphase der Bundesrepublik
Konzentration des Parteiensystems in den 1950er-Jahren
tegische Mehrheit der bürgerlichen Parteien, die bis Mitte der 1960er-Jahre unangefochten die Bundesrepublik regierten. Spaltungs- und InteDie Koalition aus CDU/CSU, FDP, Deutscher Partei und Gesamtdeutschem grationstendenzen im Block/BHE hielt nur bis 1955. In diesem Jahr verließ die FDP über einen Streit Parteiensystem um das Saarstatut die Koalition mit der CDU/CSU. Die vier FDP Minister verblieben im Kabinett und gründeten später die „Freiheitliche Volkspartei“ (FVP). Die FDP ging in die Opposition. Ein Regierungswechsel fand zwar nicht statt, aber die 1953 gebildete Koalition von CDU/CSU, FDP, Deutscher Partei (DP) und „Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (GB/BHE) wurde weiter geschwächt. 1954 hatte sich der BHE ebenfalls über das Saarstatut zerstritten. Neun Bundestagsabgeordnete waren aus der Partei ausgeschieden. Eine Gruppe von acht Abgeordneten um den erst seit kurzer Zeit amtierenden Parteivorsitzenden und Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer schloss sich der CDU an, zwei der FDP. Die Abspaltung des national konservativen Flügels der FDP und der Parteiwechsel führender Politiker des BHE, einer Partei, die Anfang der 1950er-Jahre viele Flüchtlinge und Vertriebene als Mitglieder und Wähler mobilisiert hatte, band nicht nur diese Wählergruppe, sondern auch viele ehemalige Nationalsozialisten, die in einigen Landesverbänden der FDP und im BHE nicht nur erhebliche Anteile der Mitglieder und Wähler stellten, sondern wichtige Führungspositionen besetzt hatten, an die CDU. Dass dies nicht zu einem Danaergeschenk für die CDU wurde, lag an deren geschickter Integrationspolitik, der es zu verdanken war, dass, nach dem Zerfall verschiedener Nachkriegsgründungen, dieses potentiell flukturierende Wählerpotential in eine demokratische Partei eingebunden werden konnte. Sicher hat aber auch das Verbot der neonazistischen „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) durch das Bundesverfassungsgericht 1952 eine „Signalwirkung“ gehabt. Diese Integrationspolitik der CDU/CSU war ein entscheidender Faktor für die Konzentration des bürgerlichen Parteienspektrums und den Sieg bei den Bundestagswahlen 1957. Die CDU/CSU hatte mit 50,2% der Stimmen 54,3% der Mandate im Bundestag erobert und verfügte über eine solide absolute Mehrheit. Konrad Adenauer war die unumstrittene Führungsfigur, die „Kanzlerdemokratie“ schien perfekt. Die absolute Mehrheit der Union 1957 förderte einen weiteren Konzentrationsprozess. Nach den Bundestagswahlen von 1961 bestimmten bis zum Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 nur noch drei Parteien das parlamentarische Geschehen. Mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag begann sich die Situation zu verändern. Zwar dauerte es bis 1998 bis sie in eine Regierung mit der SPD eintreten konnten, ihre parlamentarische Präsenz ließ die strategische Position der FDP als „Königsmacher“ erodieren und führte zu einem stabilen VierParteiensystem. Mit der deutschen Einheit trat, mit unterschiedlichen Erfolgen, die PDS hinzu, doch ist auf absehbare Zeit nicht erkennbar, dass sie auf Bundesebene als Koalitionspartner akzeptiert werden könnte.
394
Bei einer Betrachtung der Wahlergebnisse seit 1949 fallen zwei zusätzliche Aspekte auf: Die Bindekraft der Volksparteien hat nachgelassen und die Wahlbeteiligung geht seit Anfang der 1980er-Jahre zurück. Die beiden großen Volksparteien, CDU/CSU und SPD haben in ihren Hoch- Sinkende Bindekraft zeiten, in denen sie weit über 80% der Wähler an sich binden konnten an Attrak- der Volksparteien tivität verloren. Von einem Startpunkt im Jahre 1949 mit 60,2% der Wählerstimmen erreichten sie mit 91,2% im Jahre 1976 ihren höchsten Anteil. Seither sinkt ihr Anteil an den Wählerstimmen. Während die Große Koalition der Jahre 1966 – 1969 zusammen noch 86,9% der Wähler repräsentierte, beträgt dieser Anteil bei der Großen Koalition von 2005 noch 69,4% – sie ist eine kleine Große Koalition, verglichen mit ihrer Vorgängerin. Tabelle 6: Wahljahr 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990* 1994 1998 2002 2005
Stimmenanteil der Volksparteien bei den Bundestagswahlen 1949 – 2005 (in %) Wahlbeteiligung in % 78,5 86,0 87,8 87,7 86,8 86,7 91,1 90,7 88,6 89,1 84,3 78,5 79,1 82,3 79,1 77,7
Stimmenanteil in % 60,2 74,0 82,0 81,5 86,9 88,8 90,7 91,2 87,4 87,0 81,3 80,1 77,9 76,1 77,0 69,4
(Quelle: Statistische Jahrbücher, eigene Berechnungen; * seit 1990 einschließlich Ostdeutschland)
Der normative Anspruch von Art. 20, Abs. 2 GG, dass nicht nur alle Staatsge- Wahlenthaltung walt vom Volke ausgeht, sondern vom Volk "in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird, stellt einen Zusammenhang zwischen der Ausübung legitimer Herrschaft durch repräsentative Gremien und dem Souverän her, die in Frage gestellt wird, wenn sich letzterer dem verweigert, indem er von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch macht. Herrschaft mit Zustimmung des Volkes durch gewählte Repräsentanten bedarf der Beteiligung des Souveräns an diesem Prozess. Wahlen sind die wichtigste Form der Partizipation der Bürger an der Politik (Korte 2003: 8). Insofern ist eine dauerhaft nachlassende Wahlbeteiligung, wie sie in Deutschland seit der Wiedervereinigung zu beobachten ist ein Problem, auch wenn über die Motive derer, die sich der Wahl verweigern, den "Nichtwähler" nur spekuliert werden kann (Eilfort 1994; Gabriel/Völkl 2004).
395
Tabelle 7: Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik 1949-2005 (in %) Jahr BRD ABL NBL Diff.
1949
1953
1957
1961
1965
1969
1972
1976
78,5
86,0
87,8
87,7
86,8
86,7
91,1
90,7
Jahr BRD ABL NBL Diff.
1980
1983
1987
88,6
89,1
84,3
1990 77,8 78,6 74,5 4,1
1994 79,0 80,5 72,6 7,9
1998 82,3 82,2 79,9 2,9
2002 79,1 80,6 72,8 7,8
2005 77,7 78,5 74,3 4,2
BRD = Bundesrepublik; ABL = Alte Bundesländer; NBL = Neue Bundesländer; Diff. = Differenz
Interpretation sinkender Wahlbeteiligung
Die Interpretation sinkender Wahlbeteiligung fällt unterschiedlich aus. Während einige Autoren, mit Blick auf andere, etablierte Demokratien eher von einer Normalisierung auf noch immer hohem Niveau sprechen (Armingeon 1994), ist sie für andere ein Zeichen für die wachsende Entfremdung der Bürger gegenüber der und Enttäuschung über die Politik (Feist 1994; Schultze 1994). Auch, wenn weder für die eine noch die andere Vermutung handfeste Beweise beizubringen sind, dürfte eine Wahlbeteiligung unter 50 % wie bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im Frühjahr 2006 kein Zeichen für ein aktives Engagement der Bürger im Bereich der Politik sein. Regierungskoali- In der Geschichte der Bundesrepublik gab es ein großes Bedürfnis nach Kontinutionen ität und Stabilität. Regierungswechsel sind nicht nur selten, von den dreien bis zur deutschen Einheit war nur der von 1969 das Ergebnis einer vorausgegangenen Wahl. 1998 wurde erstmals eine Regierung abgewählt. Im Jahre 2005 erzwang das Wahlergebnis einen Regierungswechsel. Daraus ergibt sich folgendes Bild (zu „Machtwechsel“ und „Regierungswechsel“ vgl.: Greven, 1991: 204 ff.; Helms, 1994; M. Schmidt, 1991: 179 ff.; Stöss, 1991: 223 ff.): Abbildung 8: Regierungen und Koalitionen 1949 – 2005 Amtszeit
Kanzler
1. Legislaturperiode Konrad Adenauer I 1949 – 1953 2. Legislaturperiode Konrad Adenauer II 1953 – 1957
Koalition CDU/CSUFDP-DP CDU/CSUFDP-DPGB/BHE
3. Legislaturperiode Konrad Adenauer III trotz absoluter 1957 – 1961 Mehrheit der Union: CDU/CSU-DPKoalition
396
Wechsel nach Wahlen und während der Legislaturperiode
GB/BHE verlässt die Koalition 1955; Spaltung der FDP; Ministerflügel formt FVP und verbleibt in der Regierung; FDP verlässt die Koalition 1956 und bleibt bis 1961 in der Opposition Mehrheit der MdB der DP tritt 1960 der CDU/CSU bei
4. Legislaturperiode Konrad Adenauer IV CDU/CSU-FDP Adenauer tritt im Okt. 1963 zu1961 – 1963 rück 4. Legislaturperiode Ludwig Erhard I CDU/CSU-FDP 1963 – 1965 5. Legislaturperiode Ludwig Erhard II CDU/CSU-FDP FDP verlässt im Okt. 1966 die 1965 – 1966 Regierung; Minderheitsregierung bis Dez. 1966 5. Legislaturperiode Kurt-Georg CDU/CSU – Große Koalition 1966 – 1969 Kiesinger SPD 6. Legislaturperiode Willy Brandt I SPD – FDP Koalitionsbildung nach Bundes1969 – 1972 tagswahl; nach Fraktionswechseln, Verlust der Mehrheit und gescheitertem konstruktiven Misstrauensvotum vorgezogene Neuwahlen 7. Legislaturperiode Willy Brandt II SPD – FDP Brandt tritt im Mai 1974 zurück 1972 – 1974 7. Legislaturperiode Helmut Schmidt I SPD – FDP 1974 – 1976 8. Legislaturperiode Helmut Schmidt II SPD – FDP 1976 – 1980 9. Legislaturperiode Helmut Schmidt III SPD – FDP FDP verlässt die Koalition; 1980 – 1982 konstruktives Misstrauensvotum 9. Legislaturperiode Helmut Kohl I CDU/CSU – Koalitionswechsel 1982 – 1983 FDP 10. Legislaturperiode Helmut Kohl II CDU/CSU – vorgezogene Neuwahlen 1983 – 1987 FDP 11. Legislaturperiode Helmut Kohl III CDU/CSU – 1987 – 1990 FDP 12. Legislaturperiode Helmut Kohl IV CDU/CSU – erste gesamtdeutsche Wahlen 1990 – 1994 FDP 13. Legislaturperiode Helmut Kohl V CDU/CSU – 1994 – 1998 FDP 14. Legislaturperiode Gerhard Schröder SPD – Abwahl der Koalition von 1998 – 2002 B90/Grüne CDU/CSU – FDP; Bildung einer Regierungskoalition von SPD – B90/Grüne 15. Legislaturperiode Gerhard Schröder II SPD – 2002 - 2005 B90/Grüne 16. Legislaturperiode Angela Merkel CDU/CSU – vorgezogene Neuwahlen 2005 SPD Regierungswechsel Große Koalition CDU – Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU – Christlich Soziale Union Deutschlands (nur in Bayern) DP-GB – Deutsche Partei/ Gesamtdeutscher Block FDP – Freie Demokratische Partei FVP – Freie Volkspartei GB/BHE – Gesamtdeutscher Block/ Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten SPD – Sozialdemokratische Partei Deutschlands
397
8.2 Die Rolle des Bundestages im Grundgesetz
Politikwissenschaftliche Beschreibung der Rolle des Parlaments
Das Parlament
Die wichtigsten Aufgaben des Bundestages, die ihm nach den Bestimmungen des GG zugewiesen sind, umfassen die Gesetzgebung (Art. 70ff. GG) einschließlich der Haushaltsbewilligung (Art. 110 GG) und die Kontrolle der Bundesregierung und der Verwaltung, die zu einem guten Teil durch die Gesetzgebung erfolgt. Dies sind die klassischen Funktionen eines Parlaments. Entsprechend den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie kommt dem Bundestag ferner die Aufgabe zu, den Regierungschef zu wählen (Art. 63 GG) und gegebenenfalls durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen (Art. 67 GG). Desweiteren sind ihm Mitwirkungsrechte bei der Wahl anderer Mandatsträger, wie dem Bundespräsidenten, Richtern am Bundesverfassungsgericht oder des Generalbundesanwalts übertragen. Vergleichbare Kompetenzen haben die Landtage für die Länder. Schwieriger als die staatsrechtliche erweist sich die politikwissenschaftliche Beschreibung der Rolle der Parlamente im politischen Gefüge der Bundesrepublik. In Abgrenzung von anderen demokratischen Regierungsformen, die ebenfalls Parlamente kennen, wie dem Präsidentialismus à la USA, dem Semipräsidentialismus wie in Frankreich, oder auch dem kollegialen System der Schweiz („Konkordanzdemokratie“), wird in der Politikwissenschaft der Versuch unternommen, die Funktionen des Parlaments in parlamentarischen Systemen nicht an Hand normativer oder verfassungsrechtlicher Zuweisungen, sondern ihrer empirisch vorfindbaren Funktionen vorzunehmen (Hartmann, 2004: 112 ff.). Zwei zentrale Funktionen stehen im Mittelpunkt der folgenden Darstellung: die Gesetzgebung und die Legitimation demokratischer Herrschaft.
8.2.1 Die Gesetzgebungsfunktion des Bundestages im föderalen System der Bundesrepublik Schwierigkeiten einer empirischen Bestimmung des „Gesetzgebers“
Institutionell ist der Bundestag das wichtigste Organ der Gesetzgebung. Er ist der institutionelle Fokus aber er ist nicht alleiniger „Gesetzgeber“ im empirischen Sinne. Am Prozess der Gesetzgebung sind neben dem Parlament mehrere Institutionen beteiligt: die Länder über den Bundesrat, die Ministerialbürokratie, Partei- und Koalitionsgremien, Lobbyisten und Verbände, Sachverständige, die Öffentlichkeit. Neben formellen Institutionen spielen informelle Beziehungen eine wichtige Rolle. Am Gesetzgebungsprozess sind sowohl die in Art. 20 Abs. 2 GG genannten Gewalten – „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ – beteiligt, denen die Ausübung der Staatsgewalt übertragen worden ist als auch die Parteien, als „Zwitterwesen“ zwischen Organ der Staatswillensbildung und gesellschaftlicher Organisation, außerdem die im Grundgesetz stiefmütterlich behandelten Verbände und die zwischen diesen und anderen Akteuren sich entwickelnden policy-Netzwerke (v. Beyme, 1997: 41ff.).
398
Für alle Gesetzgebungsverfahren gelten die gleichen Verfahrensvorschriften (Art. 76-79, 81 und 82 GG im Bund). Die Gesetzgebungstätigkeit konzentriert sich auf vier verschiedene Typen von Gesetzen: x x x x
Gesetze werden verabschiedet, um ein bestimmtes politisches Programm zu Ursachen für die Gesetzgebung und erfüllen. Typen von Gesetzen Der Gesetzgeber ist durch andere Institutionen, z.B. durch das Bundesverfassungsgericht, oder durch Selbstverpflichtung zur Aktivität gezwungen. Der Gesetzgeber wird aktiv, um Gesetze an veränderte Bedingungen anzupassen oder Gesetzesänderungen werden aus Gründen der Gesetzessystematik erforderlich. Der nationale Gesetzgeber muss tätig werden, um europäisches Recht zu implementieren oder in nationales Recht umzusetzen; dies betrifft ca. 60% der bundesdeutschen Gesetzgebung.
Die Feststellung, dass das Parlament das wichtigste Organ der Gesetzgebung ist, verführt zu der Auffassung, dass es auch der Initiator und Motor von Gesetzgebungsinitiativen sei. Dem ist nicht so. Nur ein geringer Teil der neuen Gesetze geht auf den Gestaltungswillen des Parlaments zurück. In der politischen Praxis ist das Gros der Gesetze der Kategorie „nachvollziehender Anpassungsgesetzgebung“ zuzuordnen, die im Wesentlichen in den Händen der Verwaltung liegt und die Aufgabe des Parlaments de facto auf seine Kontrollfunktion reduziert. Nur im Bereich der „Gestaltungsgesetzgebung“, die sich auf die Grundfragen der politischen, sozialen und rechtsstaatlichen Ordnung erstreckt, haben moderne Parlamente eine genuin eigenständige Funktion und inhaltliche Ausgestaltungsmöglichkeit. Insbesondere der Bereich der Verfassungsgesetzgebung und Verfassungsänderungen sind hier zu nennen. In diesem Bereich fungieren der Bundestag und die Länderparlamente ganz im klassischen Sinne als innovative und initiative Institutionen. In Einheitsstaaten wie Großbritannien oder Frankreich liegt die Gesetzgebung in der Hand des nationalen Parlaments. In föderalen Systemen wie der Bundesrepublik haben sowohl die Parlamente des Zentralstaates (Bundestag) als auch die Parlamente der Gliedstaaten oder Länder (Landtage) eigene Gesetzgebungskompetenzen. Hinzu kommt die Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung durch den Bundesrat. Im formalen Verfahren der Bundesgesetzgebung wird dies deutlich. Das Verfahren der Gesetzgebung unterscheidet sich im Ablauf je nach dem, wer die Gesetzesinitiative ergreift (Art. 76 GG). 1. Vorlagen der Bundesregierung müssen zuerst dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet werden, bevor sie von der Regierung (im Bedarfsfalle mit einer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates) in den Bundestag eingebracht werden können. 2. Bundesratsvorlagen müssen zuerst der Bundesregierung zur Stellungnahme zugeleitet werden, bevor diese dem Bundestag unterbreitet werden. 3. Initiativen aus der Mitte des Bundestages (zumeist von Fraktionen) werden sofort dem Bundestag zugeleitet.
399
Unitarismus versus Föderalismus in der Gesetzgebung
Föderale Elemente in der Bundesgesetzgebung
Bei der Verteilung der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern hat sich im Laufe der Jahrzehnte eine Aufgabenverteilung herausgebildet, die im Zuge der Föderalismusreform einer grundlegenden Revision unterzogen worden ist. Das Grundgesetz hat vor den Änderungen des Jahres 2006 folgende unterschiedliche Zuständigkeiten des Bundes vorgesehen: 1. Ausschließliche Bundesgesetzgebung (Art. 71, 73 GG); in diesen Fällen ist in den Gesetzestexten ausdrücklich von „Bundesgesetz“ die Rede; 2. Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72, 74, 74a) - Art. 74a GG ist durch die Föderalismusreform aufgehoben worden; 3. Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG) - dieser Artikel ist durch die Föderalismusreform ebenfalls aufgehoben worden; 4. Grundsatzgesetzgebung des Bundes „Gemeinschaftsaufgaben“ (Art. 91a Abs. 2, Satz 2 GG) durch die Föderalismusreform geändert; Grundsätze des Haushaltsrechts, mittelfristige Finanzplanung (Art. 109 Abs. 3 GG). Abbildung 9: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes Bundesgesetzgebung
ungeschriebene Zuständigkeiten – kraft Sachzusammenhangs – Annex-Kompetenz – aus der Natur der Sache
ausschließliche Bundesgesetzgebung – Art. 71, 73 GG – „Bundesgesetz“ konkurrierende Bundesgesetzgebung – Art. 72, 74 GG (Art. 74a GG aufgehoben) Rahmengesetzgebung des Bundes – Art. 75 GG (aufgehoben) Gemeinschaftsaufgaben – Art. 91a (geändert) Art. 109 Abs. 3 GG (Grundsätze des Haushaltsrechts) Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes
In der politischen Praxis der Bundesrepublik überwiegt eindeutig die Gesetzgebung des Bundes. Allerdings muss der Bund einen im Grundgesetz festgeschriebenen „Kompetenzartikel“ vorweisen, um ein Gesetz verabschieden zu können. Demgegenüber sind die Kompetenzen der Länder nirgendwo niedergeschrieben – für sie gilt die allgemeine, im Laufe der Jahrzehnte aber immer weiter ausgehöhlte Kompetenzvermutung. Die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes umfasst Materien, die zwingend einer Regelung durch den Bund bedürfen. Hier ist Landesgesetzgebung unzulässig, es sei denn, die Länder würden, was kaum vorkommt, ausdrücklich durch Bundesgesetz dazu ermächtigt. 400
Der Begriff konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72, 74 GG) ist missverständlich. Er bedeutet nicht, dass Bund und Länder nebeneinander zuständig sind. Er bezeichnet vielmehr eine subsidiäre Länderzuständigkeit, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch macht. Die Ansichten über das „soweit“, also den sachlichen Umfang der Regelung, sind naturgegeben oft geteilt und müssen dann gerichtlich geklärt werden. Die mit der Föderalismusreform abgeschaffte Rahmengesetzgebung des Bundes bei der Gesetzgebung kann systematisch als ein Unterfall der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes betrachtet werden. Im Unterschied zur konkurrierenden Gesetzgebung hat ein Rahmengesetz des Bundes keine Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber entfaltet, sondern die Landesgesetzgebung genötigt, mit eigenen Gesetzen den Rahmen auszufüllen, der durch das Bundesgesetz zur Verfügung gestellt wurde. Der Bund musste den Ländern Spielraum für eine eigene landesrechtliche Ausgestaltung lassen, durfte also in seiner Rahmengesetzgebung einen Gegenstand nicht abschließend regeln. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber dieses Gebot immer wieder missachtet. Das Bundesverfassungsgericht, in Streitfällen angerufen, hat stets die Auffassung vertreten, dass der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse eine große Bedeutung. Ob und in welchem Umfang dazu bundesrechtliche Regelungen notwendig seien, obliege einer politischen Wertung, die das Verfassungsgericht zu respektieren habe (BVerfGE 13, 230: 233; 26, 338: 382 f.; 78, 249: 270; vgl. auch schon BVerfGE 1, 264: 272 f.). Das Gericht hat aber zugleich in mehreren Fällen zu weit gehende Detailregelungen des Bundesgesetzgebers zurückgewiesen. In seinem Urteil zu den Juniorprofessuren hat es zum Beispiel eine entsprechende Regelung des Hochschulrahmengesetzes für nichtig erklärte, weil sie den Gestaltungsspielraum der Länder in ihrem genuinen Gestaltungsbereich, der Bildungs- und Hochschulpolitik, unzulässig eingeschränkt hatte (2 BvF 2/02 vom 27.7.2002). Noch Anfang der 1990er-Jahre ist dem Bundesverfassungsgericht vorgehalten worden, seine Rechtsprechung habe sich „folgenschwer“ für das BundLänder-Verhältnis ausgewirkt. Die Judikatur des Gerichts sei vom Bund „geradezu als Aufforderung empfunden [worden], möglichst lückenlos bundesgesetzliche Regelungen zu erlassen“ (Ipsen, 1991: Rdnr. 534). Darin zeige sich ein Unitarismus des höchsten Gerichts, der die Gesetzgebung der Länder in den Hintergrund dränge. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützt diese These nicht, sie zeigt vielmehr eine deutliche Tendenz zur Stärkung der Rolle der Länder. Art. 72 Abs. 2 GG besagt, dass der Bund eine Gesetzgebungskompetenz hat, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (bis 1994 hieß es noch „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“) „oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ Im Zuge der Föderalismusreform haben die Länder sich das Recht erkämpft, in bestimmten Fällen abweichende Regelungen zu treffen. „Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen...“ (Art. 23 Abs. 3 GG neu)
401
Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes
Rahmengesetzgebung des Bundes
Wahrung „gleichwertiger“ Lebensverhältnisse
Zusätzliche Gesetzeskompetenzen des Bundes
Kompetenzen des Bundesrates
Durch diese Bestimmung wird der in Art. 31 GG formulierte Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ ausgehöhlt. Angesichts all dieser Regelungen müsste eigentlich ein weiter, wenn nicht gar der größte Bereich der Gesetzgebung bei den Ländern verbleiben. In der Gesetzgebungspraxis hat aber der ursprünglich restriktiv gemeinte Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG keine erkennbare Rolle mehr gespielt und es bleibt abzuwarten, ob sich dies nach der Reform der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern ändern wird. Die Entscheidung zu Gunsten des Bundesstaatsprinzips bedeutet, dass die Ausübung von Staatsgewalt zwischen dem Gesamtstaat, nämlich dem Bund, und den Ländern als Gliedstaaten differenziert wird, wobei die staatlichen Kompetenzen so zwischen ihnen aufgeteilt werden, dass den Bundesländern durch den Bundesrat Einflussmöglichkeiten auf den Gesamtstaat und diesem bestimmte Einflussmöglichkeiten auf die Länder mit dem Ziel eingeräumt sind, eine gewisse Homogenität der gesamt- und gliedstaatlichen Ordnungen herzustellen und zu gewährleisten (K. Hesse, 1991: 89). In der staatsrechtlichen Literatur wird die Frage diskutiert, ob trotz der eindeutigen Regelungstechnik der Art. 70 ff. GG dem Bund darüber hinaus „ungeschriebene“ oder „mitgeschriebene“ Zuständigkeiten zukommen. Genannt werden Bundeskompetenzen kraft Sachzusammenhangs, die „Annex-Kompetenz“ (der Bund greift in eine ihm nicht zugewiesene Materie über) und Bundeskompetenzen „aus der Natur der Sache“ (Ipsen, 1991: Rdnr. 550-557). Die Art und Weise der Einflussnahme der Länder auf die Gesetzgebung des Bundes wird durch die Kompetenzen der Ländervertretung, des Bundesrates, an der Bundesgesetzgebung bestimmt. Zu unterscheiden ist zwischen Einspruchsgesetzen (oder einfachen Gesetzen), Zustimmungsgesetzen und Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. 2 GG). Ein Einspruch des Bundesrates gegen ein Gesetz kann durch eine qualifizierte Mehrheit des Bundestages überstimmt werden, während Zustimmungsgesetze auch vom Bundesrat mit Mehrheit verabschiedet werden müssen. Im ersten Fall kann der Bundesrat nur verzögern, im zweiten verhindern. Der Anteil der Zustimmungsgesetze hat seit Bestehen der Bundesrepublik erheblich zugenommen, von etwa 10% auf circa 60% der Gesetze. Eines der wesentlichen Ziele der Föderalismusreform ist es, diesen Anteil deutlich unter die 40%-Marke zu drücken. Die Bundesratszuständigkeit ist unabhängig von der grundgesetzlichen Regelung der Bundeszuständigkeit in den Artikeln 70 bis 74 GG. Im Grundgesetz finden sich keine allgemeinen Bestimmungen über die Abgrenzung von Zustimmungs- und Einspruchsgesetzen. Ein Bundesgesetz ist ein Einspruchsgesetz, wenn es im Grundgesetz nicht ausdrücklich als Zustimmungsgesetz im Einzelnen aufgeführt wird. Gleichwohl gibt es immer wieder Kompetenzstreitigkeiten. Durch die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit, das Verfahren der Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein starkes vertikales Element in die politische Entscheidungsstruktur eingebaut.
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8.2.2 Opposition Zu den grundlegenden Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie gehört das Recht der Opposition, die Politik der Regierung und der Parlamentsmehrheit zu kritisieren, ohne dass deswegen ihre Legitimität in Frage gestellt wird. An diesem Grundsatz ändert sich auch nichts, wenn, zumal in Wahlkämpfen, die jeweilige Regierung den Eindruck zu vermitteln sucht, ein Sieg der Opposition bedeute eine ernste Gefahr für das Land, die Wirtschaft und soziale Wohlfahrt, oder gar „eine andere Republik“. Die Rechte der parlamentarischen Opposition fanden keinen Eingang in das Grundgesetz. Die Frage, ob es einer expliziten Erwähnung der Opposition im Grundgesetz bedürfe, ist immer wieder einmal aufgeworfen worden, ohne dass sich entsprechende Überlegungen materialisiert hätten. Sie wurde 1989/90 wieder virulent, als in den Beratungen des Runden Tisches der DDR und in der Debatte zu den neuen Länderverfassungen in Ostdeutschland diskutiert wurde, ob es sinnvoll und notwendig sei, die Rechte der Opposition verfassungsrechtlich gesondert zu verankern. In der alten Bundesrepublik hatte zuvor bereits die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg seit 1986 in Art. 23a die Opposition als wesentlichen Bestandteil der parlamentarischen Demokratie bezeichnet. „Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit“ (Art. 23a Abs. 2). Die Verfassungen von Niedersachsen (1993, Art. 19) und Schleswig-Holstein (1990, Art. 12) enthalten ähnliche Formulierungen, wobei in Schleswig-Holstein der Fraktionsvorsitzende der Oppositionsfraktion ausdrücklich als „Oppositionsführerin oder Oppositionsführer“ genannt wird (Art. 12 Abs. 2). In den neuen Bundesländern haben Mecklenburg-Vorpommern (1993, Art. 26), Sachsen (1992, Art. 40) und Sachsen-Anhalt (1992, Art. 48) die Rechte der Opposition in ihren Verfassungen verankert. Die jeweiligen Regelungen besagen, dass diejenigen Fraktionen und Mitglieder des Landtages zur parlamentarischen Opposition gehören, welche die Regierung nicht stützen. Ihnen sei das Recht auf politische Chancengleichheit einzuräumen. Die Formulierung „nicht stützen“ führte nach der Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung in Magdeburg 1994, die für Mehrheiten auf die PDSFraktion angewiesen war, zum erfolglosen Versuch, der PDS gerichtlich den Oppositionsstatus aberkennen zu lassen. Zweifellos sind Formulierungen wie diese nicht auf Situationen wechselnder Zustimmung und fehlender Regierungsmehrheiten gemünzt. Fragwürdig ist, ob die aus dem britischen Modell gewonnene Vorstellung einer Machtalternative die Intentionen des Grundgesetzes trifft. Sie ist eher auf ein Zweiparteiensystem zugeschnitten. Insofern wirkt die Selbstzuschreibung der Rolle des „Oppositionsführers“ nach den Wahlen von 2005 durch den FDPVorsitzenden Guido Westerwelle deplatziert. Zudem enthält die Grundentscheidung für ein föderales System und die Konstruktion des Verhältnisses von Regierung und Parlament Strukturelemente, die das heutige System der Politikverflechtung induziert haben, welches koope403
Aufgaben der parlamentarischen Opposition
Stellung der parlamentarischen Opposition in den Länderverfassungen
Einbeziehung der Opposition in die staatliche Willensbildung
rative Konfliktregelungsmuster und Oppositionsstrategien erfordert. Die Einbeziehung aller Fraktionen, also auch der Opposition, in die gesamtstaatliche Willensbildung hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf das idealtypische Modell des „dualen Systems“ der Willensbildung von Regierungsmehrheit versus Opposition.
8.2.3 Karrierewege und Elitenrekrutierung Rekrutierung von Führungspersonal über Parteikarrieren und das Parlament
Im parlamentarisch-gouvernementalen Bereich gibt es spezifische Karrierewege und Formen der Elitenrekrutierung. Die Rekrutierung für Führungspositionen in Regierungsfunktionen erfolgt im Wesentlichen auf dem Wege über eine Parteikarriere und das Parlament. Die Rekrutierung von Führungspersonal unterscheidet sich signifikant von anderen Bereichen der Gesellschaft, wo in aller Regel bestimmte formale Ausbildungsgänge, Examina, Zertifikate und besondere Wege der Professionalisierung bestehen und häufig von der Profession institutionell geregelt und z.T. normiert werden (Rechtsanwälte, Ärzte, Handwerker, Hochschullehrer u.a.m.). Die Figur des „Berufspolitikers“, wie ihn Max Weber Anfang des Jahrhunderts skizziert hat, ist zum vorherrschenden Typus in Parlament und Regierung geworden. Wie in jeder anderen Profession entwickelt sich auch hier ein gemeinsames Professions- und Rollenverständnis, das zum einen die notwendige Kooperation sichert, zum anderen aber auch berufsspezifische Idiosynkrasien fördert. Dazu zählt auch die wider die eigene Erfahrung behauptete handlungsleitende Gemeinwohlorientierung der Akteure.
8.2.4 Parlament und Parteien Historische Entwicklung des Verhältnisses von Parlament und Parteien
In den klassischen Demokratien ist das Parlament älter als die Parteien. Es hat seine Rechte gegenüber der Monarchie erkämpft. Die Parlamentsabgeordneten waren „Gentlemen“ oder Honoratioren, die sich Ansehen außerhalb der Politik erworben hatten. Das Zensuswahlrecht schützte das Parlament vor dem politischen Einfluss der Volksmassen und der Pauper. Parteien entwickelten sich aus dem Parlament heraus und versuchten mit der Ausweitung des Wahlrechts eine feste Verankerung in der Gesellschaft. (Noch heute gibt es in Großbritannien die „parliamentary party“.) Die verspätete parlamentarische und demokratische Entwicklung in Deutschland führte dazu, dass bereits ein voll ausgebildetes Parteiensystem existierte, bevor mit der Weimarer Reichsverfassung das Parlament voll in seine Rechte eingesetzt worden ist. Bereits die Weimarer Nationalversammlung war ein „parteiendominiertes Staatsorgan“ (Dieter Grimm, in: Schneider/Zeh, 1989: 200). Diese Entwicklung bedeutete aber keineswegs, dass sie sich in einer positiven Bewertung des Parteieneinflusses auf das Parlament und die Funktion der Parteien als Organe der politischen Willensbildung niedergeschlagen hätte. Vorbehalte gegenüber den Parteien und dem Parlament waren weit verbreitet.
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Das Grundgesetz hat bewusst von der Missachtung der Parteien Abschied genommen und sie in Art. 21 mit bemerkenswerten Kompetenzen ausgestattet. Es erwähnt die Parteien positiv als Organe der politischen Willensbildung und setzt ihre Mitwirkung bei der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages selbstverständlich voraus. Unentschieden und widersprüchlich bleibt das Grundgesetz aber, wenn es um den Einfluss der Parteien auf das Parlament und die Abgeordneten geht. Im modernen Parlamentarismus gibt es kein parteiungebundenes Mandat. Es sind die Parteien, die über die Aufstellung und mögliche erneute Nominierung von Kandidaten für Wahlen entscheiden. Entsprechend groß ist ihr Einfluss auf das Handeln der Gewählten. Ebenso wenig wie die Parteien selbst sind die Fraktionen in der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes berücksichtigt worden. Erst durch eine Detailregelung des Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG fanden die Fraktionen 1968 im Zuge der Notstandsgesetze Eingang in das Grundgesetz. Ihre fundamentale Bedeutung für die parlamentarische Arbeit und Willensbildung bleibt aber nach wie vor ohne Erwähnung; die Geschäftsordnung des Bundestages regelt ihren rechtlichen und politischen Status. Legt man nur den Text des Grundgesetzes zu Grunde, so entsteht das irreale Bild eines Parlaments, in dem individuelle, nur ihrem Gewissen unterworfene, an keine Aufträge und Weisungen gebundene Volksvertreter dem allgemeinen Wohl und den Interessen des ganzen Volkes dienen (Art. 38, Abs. 1 GG). Wie dies mit der in Art. 21 Abs. 1 GG formulierten Mitwirkung der Parteien bei der Willensbildung des Volkes zusammenhängt, lässt das Grundgesetz im Dunkel. Die Logik der modernen Wettbewerbsdemokratie hat aber zwangsläufig Auswirkungen auf das Parlament, das in diesen Machtkampf einbezogen und von ihm letztlich dominiert wird. Die Legitimität des Einflusses der Parteien und ihrer Einwirkung auf die Fraktionen wird zwar kaum bezweifelt, sie steht aber in einem permanenten Spannungsverhältnis zur in Art. 38 GG skizzierten Figur des freien, ungebundenen Abgeordneten. Unvereinbar mit den Bestimmungen des Art. 38 GG wäre ein „imperatives Mandat“, das den Abgeordneten an Weisungen seiner Partei bzw. seiner Fraktion in Koalitionsvereinbarungen bände. Im Konfliktfall haben Beschlüsse der Parteien, der Fraktionen oder Verfahrensabsprachen keine rechtliche Bindungswirkung für den einzelnen Abgeordneten. Allerdings kann das Grundgesetz ihn nicht davor bewahren, von außen unter Druck zu geraten. Politik als Beruf (Max Weber) bindet die politische und berufliche Karriere des einzelnen Abgeordneten unauflösbar an die Institution, welche die Chance für ein Mandat verteilt: die Partei, und die Wahlkreisorganisation der Partei, die den Kandidaten für ein Parlamentsmandat nominiert.
8.2.5 Parlament und organisierte Interessen Das klassische Modell der angeblich interessenfreien Repräsentation des Volkes im Parlament war stets eine Illusion. Die angelsächsische Vorstellung des Parlaments als einer Einrichtung, die den friedlichen Interessenkampf und die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs ermöglicht, ist realistischer und den mo-
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Etablierung der Parteien als Organe der politischen Willensbildung im Grundgesetz
Parteieneinfluss und freies Mandat
Kritik am Verbandseinfluss
Repräsentationslücken
Adressat des Verbandseinflusses
dernen Bedingungen angemessener. Damit ist das Gegeneinander unterschiedlicher Interessen auch im Bereich der Staatswillensbildung anerkannt (Fraenkel 1991). In der Bundesrepublik ist hingegen eine Kritik des Verbandseinflusses auf den Gesetzgeber und der starken Repräsentanz der Verbände im Parlament verbreitet. Mächtige Verbände beherrschten das politische Geschehen und den Gesetzgebungsprozess, zum nötigen Ausgleich der Interessen komme es nicht, weil es dazu eines gewissen Gleichgewichts der Kräfte bedürfe, das in der Realität aber nicht gesichert sei. Als Standardbeispiel wird der übermäßige Einfluss der öffentlich Bediensteten und ihrer Verbandsfunktionäre im Parlament auf die sie selbst betreffenden, insbesondere finanziellen Regelungen angeführt (v. Arnim, 1984: 328). Hinzu kommt, dass die „Wählerschaft“ nur einen Teil der Referenzgruppen darstellt, auf deren Belange das Parlament und die Parlamentarier reagieren müssen. Wichtige Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Jugendliche unter 18 Jahren oder in Deutschland dauerhaft lebende Ausländer sind, auch wenn sie es denn wollten, (noch) nicht in der Lage, ihre eigenen Repräsentanten zu wählen. Von zunehmender Bedeutung ist ferner der Tatbestand, dass immer mehr Entscheidungen, die für das politische und gesellschaftliche Leben von Bedeutung sind, auf internationaler und supranationaler Eben erfolgten und Einflüssen von außen unterliegen, die in den traditionellen Kategorien des auf nationaler Ebene agierenden Verbandseinflusses nicht mehr zu fassen sind. Trotz dieser nicht neuen Probleme ist das Grundgesetz in Bezug auf die politische Rolle der Verbände und ihres Einflusses auf die Gesetzgebung abstinent. Zwar wird die Legitimität organisierter politischer Interessen grundsätzlich akzeptiert, welches Maß an Verbandseinfluss auf die Gesetzgebung und politische Willensbildung aber noch als akzeptabel erachtet wird, ist offen und häufig umstritten. Adressat des Verbandseinflusses ist vor allem der „Gesetzgeber“. Dies bedeutet in der politischen Praxis alle am Gesetzgebungsprozess beteiligten Institutionen: Parlament, Regierung und die Verwaltung im Bund und den Ländern. Ähnliches gilt auf der kommunalen Ebene. Die genaue Zahl der organisierten Interessenverbände ist nicht bekannt. In einer beim Deutschen Bundestag geführten Verbandsliste sind weit über eintausend Verbände registriert. Die Einflussnahme der Verbände erfolgt auf allen Stufen der Gesetzgebung, von der Erarbeitung der Referenten- und Regierungsentwürfe über die Plenarberatungen und Ausschusssitzungen im Parlament, die Einflussnahme auf den Bundesrat und gegebenenfalls die Beratungen im Vermittlungsausschuss. Dies ist keine neue Erscheinung, vielmehr haben Studien in den 1950er- und 1960erJahren bereits die erhebliche Bedeutung des Verbandseinflusses auf wichtige Gesetzgebungsvorhaben empirisch nachgewiesen (Bethusy-Huc, 1962; Stammer, 1965; Naschold 1967).
406
8.3
Parlament und Regierung
Neben der Gesetzgebung ist die Bestellung einer demokratisch legitimierten Regierung und deren Abhängigkeit vom Vertrauen des Parlaments ein Grundpfeiler demokratischer Herrschaft. Es war – neben anderen Faktoren – das Fehlen dieser Kompetenz und die Abhängigkeit der Regierung vom Monarchen, die den Deutschen Reichstag nach 1871 zu einem nur „semidemokratischen Parlament“ gemacht hat. Noch in der Weimarer Reichsverfassung waren mit den weit reichenden Rechten des Staatspräsidenten bei der Bestellung des Regierungschefs Elemente pseudo-monarchistischer Regierung erhalten geblieben, die wesentlich dazu beitrugen, die erste deutsche Demokratie zu zerstören. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund kam für den Grundgesetzgeber nur eine klare Entscheidungskompetenz des Bundestages bei der Bestellung des Bundeskanzlers „auf Vorschlag des Bundespräsidenten“ (Art. 63 Abs. 1 GG) in Frage. Nur im außergewöhnlichen Falle des Scheiterns der Vertrauensfrage im Bundestag in Art. 68 GG sind dem Präsidenten eingeschränkte Einflussmöglichkeiten zugestanden worden, aber auch hier ist er auf einen Vorschlag des Bundeskanzlers angewiesen, der im Parlament in einer Vertrauensfrage unterlegen war. Allerdings haben die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den manipulierten Vertrauensabstimmungen 1982 und 2005, in denen die jeweilige Regierung über eine Mehrheit im Bundestag verfügte, den Spielraum des Präsidenten implizit erweitert. Bundestag (Art. 63 GG) und Landtage wählen den jeweiligen Regierungschef. Die Regierungsmehrheit übt entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der Ministerposten aus. Angesichts des wachsenden Einflusses von Parteigremien und vorherigen Absprachen (Koalitionsverträge) kommt es häufig zu Rollenkonflikten zwischen der Parteiorganisation und den Mitgliedern der Parteien und den Parlamentsfraktionen, aber auch zur faktischen Aushöhlung der verfassungsrechtlich normierten Richtlinienkompetenz des Regierungschefs. Durch das Herausstellen von „Kanzlerkandidaten“ und „Spitzenkandidaten“ und „Regierungsmannschaften“ in Wahlkämpfen ist das Recht des Parlaments, den Regierungschef zu wählen de facto bereits im Vorfeld ausgehebelt oder doch politischpraktisch erheblich eingeschränkt. Die Regierung (Regierungschef und Minister) wird in der Regel aus dem Parlament rekrutiert. Es besteht keine Inkompatibilität zwischen Regierungsfunktion und Parlamentsmandat. Die Besetzung von Regierungsposten mit Nichtparlamentariern ist die Ausnahme und erweist sich häufig als nicht tragfähig, da die „Quereinsteiger“ zwar über eine fachliche und/oder wissenschaftliche, nicht jedoch über die notwendige bereichsspezifische politische Professionalisierung verfügen. Nur in wenigen Ausnahmefällen gelingt es solchen Quereinsteigern dauerhaft, sich eine feste Position im Parlament oder der Regierung zu erobern. Der Premierminister, Kanzler oder Ministerpräsident hat in modernen parlamentarischen Systemen meist eine hervorgehobene Stellung bei der Auswahl der Minister und bei politischen Entscheidungen. Die Idee des „prime ministerial government“ hat sich im Grundgesetz im Art. 65 niedergeschlagen.
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Bestellung der Regierung
Herausgehobene Stellung des Regierungschefs und Richtlinienkompetenz
„Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung.“ (Art. 65 GG)
Eine Präzisierung dieser Bestimmung des Grundgesetzes erfolgt in der Geschäftsordnung der Bundesregierung: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Diese sind für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen. In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen.“ (GO der Bundesregierung vom 17.7.1987, § 1,1) Wechsel der Regierung
Neben der Wahl ist auch die Abwahl eines Regierungschefs oder einer Regierung eine der wichtigen Kompetenzen des Parlaments. In einigen parlamentarischen Demokratien gehört der turnusmäßige Wechsel der Regierung zum politischen Alltag. Insbesondere, wenn die Hürden für den Austausch des Regierungschefs und/oder des Kabinetts im Parlament niedrig liegen, wie in der französischen IV. Republik oder in Italien, erweckt dieser Wechsel für außenstehende Beobachter häufig auch dann den Eindruck von Instabilität, wenn das politische Führungspersonal über Jahrzehnte dasselbe bleibt und nur die Koalitionen sich ändern. Die Vorstellung eines turnusmäßigen Wechsels der Regierung als Kennzeichen demokratischer Ordnungen ist im Idealfall an den Wähler gebunden – er soll durch seine Wahlentscheidung dafür sorgen, dass demokratische Regierung Machtausübung auf Zeit ist. Dies schließt andere Formen, insbesondere Koalitionswechsel nach oder während einer Legislaturperiode nicht aus.
8.3.1 Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament und Kontrolle der Regierung durch das Parlament Kontrollrechte des Parlaments
Die knappen Bestimmungen des Grundgesetzes weisen der Kontrolle nur sekundäre Bedeutung zu. In der „Urfassung“ des Grundgesetzes kam der Begriff der parlamentarischen Kontrolle nicht vor. Erst im Zusammenhang mit der Wehrgesetzgebung 1956 fand er Eingang in den neuen Art. 45b GG (Einrichtung des Amtes eines Wehrbeauftragten des Bundestages). Alle weiteren Kontrollregelungen des Grundgesetzes sind nicht explizit als solche ausgewiesen. Als wichtigstes Kontrollinstrumentarium verfügen der Bundestag und die Länderparlamente über das Budgetrecht in Form der Haushaltsberatung und der Haushaltskontrolle. Der Bundestag (bzw. die Länderparlamente) und jeder seiner Ausschüsse können die Anwesenheit eines Mitglieds der Regierung verlangen (Art. 43 Abs. 1 GG). Die Parlamente können Untersuchungsausschüsse einsetzen, meist mit mäßigem Ergebnis. Der Verteidigungsausschuss kann sich nach Art. 45a Abs. 2 GG auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder als Untersuchungsausschuss konstituieren. Das Petitionsrecht des Art. 17 GG hat 1975 zur grundgesetzlichen Verankerung eines Petitionsausschusses geführt. Als ultima ratio bleibt der Art. 67 GG, das konstruktive Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler.
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Der Bundestag übt primär eine politische Kontrolle aus; das Verfahren wird im parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht geregelt (Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages). Es ist das Parlament, das sich die Regeln gibt, nach denen zu verfahren ist. Es handelt sich also um parlamentarische und – von Untersuchungsausschüssen abgesehen – nicht um justizförmige Verfahren. Die Kontrolle der politischen Richtung des Regierungshandelns ist neben dem Budgetrecht die älteste und bedeutendste Funktion des Parlaments. Die klassische Vorstellung, dass das Parlament als Ganzes die Regierung zu kontrollieren habe, entspricht nicht den Bedingungen der modernen Parteiendemokratie. Es sind nicht mehr die Fürsten und der vormoderne autoritäre Staat, gegen die das Parlament seine Souveränität erkämpfen und behaupten muss. In modernen Parteiendemokratien sind Regierung und Regierungsmehrheit, sei es eine einzelne Partei, die mit absoluter Mehrheit regiert, oder eine Koalition mehrerer Parteien als „Erfolgsgemeinschaft“ aufeinander angewiesen. Dies führt dazu, dass die Regierungsfraktion(en) diese Kontrollfunktion allenfalls intern wahrnehmen, während die Opposition die Regierung möglichst öffentlichkeitswirksam zu kritisieren sucht. Die wöchentlichen Tagungen der Partei- und Fraktionsvorstände, der Arbeitskreise und Arbeitsgruppen der Fraktionen und vor allem die Zusammenkünfte der im Grundgesetz und der Geschäftsordnung des Bundestages nicht vorgesehenen informellen Zirkel, insbesondere von Koalitionsausschüssen, sollen sowohl eine interne Kontrolle als auch eine Abstimmung des Handelns von Regierung und der sie tragenden Fraktionen sichern. Diese Feinabstimmung erfolgt weitgehend unter Ausschluss und Vermeidung allzu großer Öffentlichkeit. Das Medium öffentlicher Kritik ist das Plenum des Parlaments. Die Parlamentsdebatten sind auf Außenwirkung gerichtet. Die Medien tragen das sorgsam gepflegte Bild eines Grundsatzstreites von Regierungsmehrheit und Opposition in die Öffentlichkeit. Wirkliche Richtungsentscheidungen sind aber eher selten. Die Westintegration und Wiederbewaffnung, die neue Ostpolitik, die „NATO-Nachrüstung“ Anfang der 1980er-Jahre oder die „out-of-area-Einsätze“ der Bundeswehr nach 1990 und die Frage, ob sich die Bundesrepublik 1998 an einem NATO-Einsatz im Kosovo und 2003 am Irak-Krieg beteiligen sollte, gehörten ebenso dazu, wie der wiederkehrende Streit um die Mitbestimmung, vor allem in den frühen 1950er- und Mitte der 1970er-Jahre oder Kontroversen über die Ausgestaltung des Sozialstaates, die innere Sicherheit, Fragen der Zuwanderung und des Asylrechts oder das Staatsbürgerschaftsrecht und die Nichtdiskriminierung. Im politischen Alltag überwiegen Auseinandersetzungen über praktische Fragen, die in den nichtöffentlichen Ausschusssitzungen behandelt und geklärt werden, wobei oft ein Kompromiss erreicht wird. Die Konstruktion nichtöffentlicher Ausschusssitzungen ist oft kritisiert worden, größere Transparenz wurde angemahnt. Das amerikanische Beispiel, wo Sitzungen von Ausschüssen oder Hearings des Senats direkt von Capitol Hill durch den Kabelsender C-Spann übertragen werden, gemahnen zur Vorsicht – hier nehmen auch die Ausschusssitzungen den Charakter öffentlicher „Schaukämpfe“ an und das notwendige „bargaining“ und „horse trading“ findet in noch stärkerem Maße in informellen Zirkeln statt.
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Politische Kontrolle in der Parteiendemokratie
Plenum und Ausschüsse
Neue Kontrollinstrumente
Im Rahmen immer wieder verhandelter Bemühungen um eine Parlamentsreform sind im Laufe der Jahre einige neue Kontrollinstrumentarien eingeführt worden. In diesen Kontext gehört das bedeutsame und in der Geschichte des Bundestages ausgeweitete Interpellationsrecht (große, kleine oder mündliche Anfragen, aktuelle Stunden; §§ 100-106 GO BT). Leistungs- und Sachkontrollen zielen auf die Kontrolle der Vollzugsapparatur, also vor allem auf die Verwaltung. Diese Form ermöglicht oft ein gemeinsames Vorgehen der Regierungs- und Oppositionsfraktionen, geht es doch um die Rolle und Kompetenzen des Parlaments als Ganzes. Auf Grund der föderativen Verwaltungsstruktur der Bundesrepublik, welche die Verwaltungsaufgaben weit gehend den Ländern überträgt, spielt dies Kontrollaufgabe in den Landtagen eine größere Rolle als im Bundestag.
8.3.2 Zusammenarbeit von Parlament und Regierung Parlamentarischgouvernementale Kooperation
Moderne parlamentarische Demokratien kennen sowohl die Trennung als auch die Zusammenarbeit der Gewalten. In der Literatur ist gelegentlich sogar von „parlamentarischer Mitregierung“ (v. Beyme, in: Schneider/Zeh, 1989: 113) oder den „Regierungsfunktionen des Parlaments“ (Mössle, 1986) die Rede. Als Bereiche „parlamentarisch-gouvernementaler Kooperation“ führt Dietrich Herzog (1993) insbesondere an: die Mitwirkung und Letztentscheidung des Parlaments bei internationalen Verträgen. Dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten kommt dabei bereits bei der Vorbereitung außenpolitischer Entscheidungen eine wichtige Rolle zu (vgl. die herausgehobene Rolle des auswärtigen und des Verteidigungsausschusses in Art. 45a GG); x x x x x
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die Haushaltsgesetzgebung mit beträchtlichen Entscheidungskompetenzen des Haushaltsausschusses (z.B. durch qualifizierte Sperrvermerke); die Möglichkeit eines Parlamentsvorbehalts in Bezug auf das Verordnungswesen (dies betrifft insbesondere den gesamten Planungsbereich); die Berichtspflicht der Regierung über einzelne Politikbereiche; die Mitwirkung der Regierungsfraktionen bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der Ministerialverwaltung. Im Bereich der Personalpolitik ist darüber hinaus ein entscheidender Einfluss von Parteigremien zu konstatieren; Zudem schränken Koalitionsvereinbarungen und die in Koalitionsabsprachen verteilten „Zuständigkeiten“ für die personelle Besetzung einzelner Ressorts die in Art. 65 GG verankerte selbständige und eigenverantwortliche Führung der Ministerien und die Personalhoheit der Fachminister erheblich ein (Mössle, 1986: 163ff).
Kanzlerdemokratie: Institutionelle Rahmenbedingungen stabiler Regierungsmehrheiten
Angesichts der, im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien bemerkenswerten, Festigkeit und Dauerhaftigkeit von Regierungskonstellationen und Amts410
zeiten des Regierungschefs in der Bundesrepublik stellt sich die Frage nach den Ursachen einer Entwicklung, die sich so signifikant sowohl von den Erfahrungen der Weimarer Republik als auch von anderen Nachkriegsdemokratien unterscheidet. Sie liegen in erster Linie in der konstitutionellen und institutionellen Ausgestaltung des Regierungssystems der Bundesrepublik, die den politischen Akteuren berechenbare Rahmenbedingungen und klare Grenzen politischen Handelns eröffnet. Hinzu kamen in den Anfangsjahren als stabilitätsbegünstigende Faktoren eine positive ökonomische und soziale Entwicklung und die aus der Frontstellung gegenüber einem äußeren Feind entstandene Identität der politischen Gemeinschaft. Diese institutionellen Rahmenbedingungen wurden durch eine Reihe von Vorkehrungen der Verfassung geschaffen und verfestigten sich in der politischen Praxis. Die konkrete Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Rahmens von Regierungstätigkeit war zum einen das Werk von Personen, vor allem der jeweiligen Bundeskanzler mit ihrer herausgehobenen, von der Verfassung gewährten Richtlinienkompetenz und ihrer starken Stellung im Parlament, zum anderen der Parteien und Koalitionen. Der Premierminister oder Kanzler hat in den meisten parlamentarischen Demokratien eine hervorgehobene Stellung. Wenn man mit Ernst Fraenkel „England als Modell der deutschen Verfassungssoziologie“ ansieht (Fraenkel, 1991: 75), dann lässt sich seit Walter Bagehots „The English Constitution“ von 1867 eine Verschiebung von der „parliamentary democracy“ über das „cabinet government“ zum „prime-ministerial government“ feststellen, das in der Zeit des II. Weltkrieges seinen ersten Höhepunkt erreichte. Der starken Rolle des englischen Premiers entspricht, unter ganz anders gearteten konstitutionellen und politisch-historischen Bedingungen, die des deutschen Bundeskanzlers. Im politischen System der Bundesrepublik hat sich seine Position als besonders stark erwiesen. Dies ist einer Kombination von institutionellen Regelungen und Kompetenzzuweisungen und personellen Konstellationen zu verdanken. Die beiden wichtigsten institutionellen Vorkehrungen sind die in Art. 65 GG verankerte politische „Richtlinienkompetenz“ des Kanzlers und das „konstruktive Misstrauensvotum“ des Art. 67 GG. Allerdings ist die institutionelle und politische Reichweite der exekutiven Möglichkeiten des Kanzlers in der Praxis häufig geringer als es das Modell der „Kanzlerdemokratie“ vermuten lässt (Padgett, 1994: 18; M. Schmidt, 2005: 70 ff.). Das Recht des Kanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen und bei Konflikten zwischen Ministern, die ihren Geschäftsbereich selbstständig und eigenverantwortlich leiten, zu vermitteln, weist ihm eine Schlüsselrolle zu. Angesichts der langen Amtszeit der meisten Bundeskanzler und ihrer Autorität im Kabinett hat sich das Verhältnis von Richtlinienkompetenz und Eigenverantwortlichkeit der Minister verschoben. Starke Bundeskanzler neigen dazu, ihre Richtlinienkompetenz weit zu definieren und in die einzelnen Ministerien hineinzuregieren. Insbesondere Helmut Kohl hat in den 1990er-Jahren immer mehr Angelegenheiten zur „Chefsache“ erklärt und damit faktisch den Ministern ihre ihnen in Art. 65 GG und in der Geschäftsordnung der Bundesregierung übertragene Verantwortlichkeit entzogen. Dies führte zu einer Verschiebung der Kom-
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Die herausragende Stellung des Kanzlers
Richtlinienkompetenz des Kanzlers und Eigenverantwortlichkeit der Minister
Erklärungskraft des Modells der Kanzlerdemokratie
Funktion des konstruktiven Misstrauensvotums
Personelle Komponente der Kanzlerdemokratie
Die politische Rolle des Bundeskanzleramts
petenzen von den Ministern und dem Kabinett zum Kanzler und seinen Mitarbeitern im Kanzleramt. In der politischen Praxis bedeutet das eine Aufwertung des Bundeskanzleramtes als „geheimer“ Regierung. Angesichts dieses Befundes hat das Modell der „Kanzlerdemokratie“ einigen Erklärungswert (Bracher, 1984; Haungs, 1986; Niclauß, 2004). Entgegen einer zeitgeschichtlichen Zuordnung des Begriffs zur Person Adenauers, genauer, seiner Regierungszeit von 1949 bis zu den Wahlen von 1961 (Schwarz, 1989), aus denen er geschwächt und als Kanzler „auf Abruf“ hervorging, wird der Begriff auch zur Kennzeichnung eines Regierungstyps verwendet, der, in der Regierungszeit Konrad Adenauers entstanden, in unterschiedlicher Ausprägung durch die jeweiligen parteipolitischen Konstellationen und persönlichen Ambitionen und Regierungsstile der Bundeskanzler eine institutionelle Konstante des politischen Systems der Bundesrepublik geworden ist. Die starke Stellung des Kanzlers, eine parlamentarische Mehrheit vorausgesetzt, wird vor allem durch das konstruktive Misstrauensvotum erzeugt. Die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums war eine Reaktion des Verfassungsgebers auf die „negativen“ Mehrheiten in der Weimarer Republik. Nur durch die Wahl eines neuen Kanzlers kann der Amtsinhaber gestürzt werden (Art. 67 GG). Dies misslang der CDU/CSU 1972, als sie Willy Brandt durch Rainer Barzel ersetzen wollte, es gelang 1982 Helmut Kohl nach einem Koalitionswechsel der FDP. Einen Kanzler aus den eigenen Reihen zu stürzen, weil er, wie Helmut Kohl im Frühsommer 1989 als zu schwach und „verbraucht“ gilt, ist faktisch nicht möglich. Ein Kampf um die Führung würde die Partei und die Koalition spalten und es unwahrscheinlich machen, im Parlament eine Mehrheit für einen Herausforderer zu finden. Neben diesen institutionellen Bedingungen gibt es auch personelle Ursachen, die dem Kanzler eine starke Stellung verschaffen. Konrad Adenauer hat kraft seiner persönlichen und politischen Autorität die Richtlinienkompetenz sehr extensiv genutzt. Insbesondere seine Politik gegenüber den Besatzungsmächten in den ersten Jahren der Existenz der Bundesrepublik und seine Außenpolitik hat er häufig ohne Wissen des Kabinetts betrieben. Er stützte sich dabei auf einen kleinen Kreis von Vertrauten, insbesondere seinen umstrittenen Chef des Kanzleramts, Staatssekretär Hans Globke. In der kurzen Amtszeit des „Volkskanzlers“ Ludwig Erhard und der Großen Koalition verlor die Richtlinienkompetenz des Kanzlers an Bedeutung. In den Zeiten der sozial-liberalen Koalition erlangte die institutionelle Komponente der Kanzlerdemokratie eine entscheidende Bedeutung. Das Bundeskanzleramt, zu Zeiten Adenauers eine eher bescheidene Behörde, sollte unter der Leitung Horst Ehmkes zur Steuerungs- und Planungszentrale der Bundespolitik ausgebaut werden – es bestand 1949 aus zwei, 1991 aus sechs Abteilungen mit einundvierzig Referaten (Müller-Rommel, 1994). Unter Helmut Schmidt entwickelte sich das Kanzleramt zur eigentlichen exekutiven Koordinations- und Führungszentrale einer häufig als technokratisch angesehenen Politik. Insbesondere in der durch terroristische Anschläge und Erpressung ausgelösten Krise des Herbstes 1977 bewährte es sich als Lage- und Krisenzentrum. Während der Kanzlerschaft Helmut Kohls verlor das Kanzleramt zuerst an Bedeutung, da der Kanzler sich anfangs der in den Jahren zuvor entwickelten bü-
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rokratischen Kompetenz nicht bedienen konnte und wollte, sondern auf den persönlichen Rat von Vertrauten setzte, die im Amt z.T. eher nach geordnete Positionen innehatten. Erst unter der Leitung Wolfgang Schäubles und später Friedrich Bohls, beide enge Vertraute des Kanzlers, gewann das Amt eine strategische Schlüsselposition. Diese Stellung baute es im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses noch aus. Alle wichtigen Entscheidungen wurden vom Kanzleramt, nicht von den Fachministerien vorbereitet (Korte, 1998). In der Regierungszeit Gerhard Schröders entwickelte sich das Kanzleramt unter der sachkundigen Führung von Walter Steinmeier zur wichtigsten Entscheidungsinstanz und zum persönlichen Machtzentrum des Kanzlers in einer stets labilen rot-grünen Koalition. Das Kabinett als kollektives Entscheidungsgremium wurde weit gehend entmachtet. Der Kanzler neigte dazu, auch das Kabinett vor vollendete Tatsachen zu stellen. Letzteres hat sich nach der Amtsübernahme Angela Merkels nicht nur aus Gründen eines unterschiedlichen Führungsstils verändert. Die Koalition zweier annähernd gleichgroßen Parteien bedarf, wie auch die erste Große Koalition von 1966-1969 lehrt, eines steten Ausgleichs und Austarierens und konsensualer Entscheidungen Ähnlich wie die Entwicklung eines dem Kanzler zugeordneten Amtes, dessen Funktion und Bedeutung wesentlich durch persönliche Vorlieben und Führungsstil des jeweiligen Regierungschefs geprägt worden sind, verhält es sich auch mit den informellen Beziehungen, die der Kanzler zu seiner eigenen Information, zur Beratung oder Entscheidungsvorbereitung aufbaut und pflegt. 1961 wurde erstmals ein „Koalitionsausschuss“ eingesetzt, der die Politik der CDU/CSU-FDP-Koalition koordinieren sollte – eine entscheidende institutionelle Schwächung des Adenauerschen Führungsstils. Während der Großen Koalition tagte zur Vorklärung entscheidender Probleme der so genannte „Kressbronner Kreis“, dem die Führungsspitzen von Regierung und Fraktionen der Koalitionsparteien angehörten. Die Folge war eine Entmachtung des Kabinetts. Der Kanzler war in dieser politischen Konstellation sowieso nicht in der Lage zu „führen“, seine Aufgaben waren die Moderation und Vermittlung. Helmut Schmidt beriet seine Politik mit einem informellen Kreis von Vertrauten, dem „Kleeblatt“, bevor er sie zur Koalitions- und Kabinettssache machte. Koalitionsrunden unter Hinzuziehung der Fraktionsvorsitzenden, „Küchenkabinette“, informelle Absprachen oder extensive Telefonate mit „Bezirksfürsten“ und anderen wichtigen Figuren in der eigenen Partei, wie sie Helmut Kohl pflegte, „Kanzlerrunden“ mit den Spitzen der wichtigen und mächtigen Verbände, eine Vielzahl von Kommissionen („Hartz-Kommission“) oder „Räten“ wie der “Nationale Ethikrat“, wie sie Gerhard Schröder eingesetzt hat, eine Tradition, die Angela Merkel fortzuführen scheint, all dies sind Instrumente zur Festigung der politischen Position, die die Kanzler in unterschiedlicher Weise genutzt haben. Schließlich ist ein weiteres Element für die politische Stellung des Bundeskanzlers von Bedeutung, welches man als die „plebiszitäre“ Komponente der Kanzlerdemokratie bezeichnen kann. Der Parlamentarische Rat hat, wie erwähnt, auf eine streng repräsentative Institutionenordnung gesetzt und alle Elemente plebiszitärer Politik aus dem Grundgesetz ferngehalten. Mit den Artikeln 65 und 67 GG hat er aber institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen, die es fähigen
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Informelle Beratungs- und Entscheidungsgremien
Plebiszitäre Komponenten der Kanzlerdemokratie
Beschränkungen der Kanzlerdemokratie
Mischtyp des „primeministerialgovernment“
und/oder charismatischen Führungsfiguren ermöglichen, eine quasipräsidentielle Rolle zu spielen, zumal, wenn es ihnen gelingt, mehr als eine Legislaturperiode im Amt zu bleiben. Die Massenmedien spielen hierbei eine entscheidende, wachsende und vor allem demokratisch nicht kontrollierte Rolle. Obwohl der Regierungschef nicht direkt vom Volke gewählt wird, obwohl es bei den Bundestagswahlen um die Wahl von einzelnen Abgeordneten und Parteien geht und obwohl die neue Regierung in aller Regel nicht „souverän“ von einer mit einer absoluten Mehrheit ausgestatteten Partei, sondern nach langwierigen Koalitionsverhandlungen gebildet wird, ist die Wahl im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu einem faktischen Plebiszit über den Kanzler degeneriert. Über Stärken und Schwächen des Kanzlers und der Regierung entscheiden neben dem institutionellen Zuschnitt des Amtes und personellen Komponenten auch andere Faktoren, die in Rechnung zu stellen sind, wenn man nach den Ursachen von Stabilität und Dauer im Regierungssystem der Bundesrepublik fragt. Von einer Ausnahme abgesehen hat keine Partei über eine absolute Mehrheit im Bundestag verfügt. Jeder Kanzler benötigte Koalitionspartner, die, wenn es die Mehrheitsverhältnisse zulassen, damit drohen können, die Koalition zu verlassen. Kanzler und Regierungsmehrheit haben mit dem Bundesrat zu rechnen, der häufig eine andere politische Konstellation aufweist, da in den Ländern verschiedenartige Koalitionen regieren. Aber auch dann, wenn die Regierungsparteien auch dort eine Mehrheit besitzen, sind die Entscheidungen der Länderregierungen häufig mehr von Länderinteressen, als von Parteiräson bestimmt. Gleiches gilt auch für die Opposition und ihre Versuche, den Bundesrat in ein Instrument zur Bekämpfung der Regierungspolitik umzuformen. Die komplizierten Gesetzgebungsverfahren und die Struktur der öffentlichen Verwaltung machen eine permanente Zusammenarbeit und Abstimmung der Bundesregierung mit den Ländern erforderlich („Kooperativer Föderalismus“) und schränken die Handlungsoptionen der Regierung ein. Und schließlich werden die Handlungsspielräume aller Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union immer enger, je mehr europäisches Recht und die Entscheidungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates an Bedeutung gewinnen. Nimmt man alle diese Faktoren zusammen, lässt sich feststellen, dass in der Bundesrepublik ein Mischtyp des „prime ministerial government“ entstanden ist: eine parlamentarische Demokratie mit einem konstitutionell starken Bundeskanzler als Regierungschef, der seine Handlungsspielräume unter den Bedingungen einer Koalitionsregierung und des starken Mitspracheanspruchs der eigenen Partei bestimmen muss.
8.5 Max Webers Definition von Verwaltung
Regieren und die öffentliche Verwaltung
Die Rechtswissenschaft und die Politik- und Verwaltungswissenschaft tun sich schwer mit einer positiven Bestimmung dessen, was Verwaltung sei. Für Max Weber war Verwaltung „Herrschaft im Alltag“ und „Dienstleistung“. Verwaltung in modernen Gesellschaften kann nach Weber „private Verwaltung“, etwa des eigenen Haushalts oder eines Erwerbsbetriebs und öffentliche, d.h. durch die
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„Anstaltsorgane des Staats“ oder anderer, dazu legitimierter öffentlicher Anstalten geführte Verwaltung sein (Weber, 1972: 389). Der Bereich der öffentlichen Verwaltung umfasst nach Weber im weitesten Sinne die Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und das, was an „öffentlicher Anstaltstätigkeit übrig bleibt“, dies nennt Weber „Regierung“ (etwa i. S. des englischen „government“). Der Legitimitätsgrund ihrer Zuständigkeit liegt für Weber in ihrer „Kompetenz“, die juristisch auf der Ermächtigung durch Verfassungsnormen beruht, die zugleich Schranken ihrer Bewegung markieren. Der Staat ist bei Weber „ein politischer Anstaltsbetrieb“, dessen „Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (Weber, 1972: 29). Er ist ein, auf das Mittel der als legitim angesehenen „Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ (Weber, 1972: 822). Dazu benötigt er Personal (Beamte), finanzielle Mittel und Machtmittel. „Der staatliche Herrschaftsbetrieb als Verwaltung“ (Weber, 1972: 825) funktioniert als rational organisierter „Betrieb“. Diese Sicht des klassischen Bürokraten und der Funktion der Verwaltung hat sich seit Max Weber erheblich verändert. Eingebürgert hat sich eine auf Georg Jellinek zurückgehende Begriffsbestimmung, die unter Verwaltung alle Staatstätigkeit kennzeichnet, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist (Stichwort Verwaltung in: Staatslexikon, 1995 Bd. 5: 732) und alle Einrichtungen umfasst, die vom Bund, den Ländern, den Gemeinden und den von ihnen geschaffenen öffentlich-rechtlichen Körperschaften geschaffen worden sind um öffentlicher Aufgaben zu erledigen. Verwaltungshandeln ist in modernen Wohlfahrtsstaaten hochgradig ausdifferenziert. Soweit es die öffentliche Verwaltung betrifft, hat sie neben den klassischen Aufgaben der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im Inneren immer mehr Dienstleistungsaufgaben für die Gesellschaft übertragen bekommen. Insofern kann zwischen Hoheits- und Ordnungsverwaltung und Dienstleistungsverwaltung unterschieden werden. Soweit die Verwaltung mit der Vorbereitung von Entscheidungen der politischen Führungsspitze eines Landes befasst ist, wird sie als politische Verwaltung gekennzeichnet. Hierzu zählen die Ministerialverwaltung auf Bundes- und Länderebene und die den Parlamenten zur Verfügung stehenden Verwaltungen. Schließlich haben alle Verwaltungen eine eigene „Organisationsverwaltung“, die die Binnenabläufe in großen Verwaltungen oder Verwaltungseinheiten organisiert und kontrolliert und für die Finanzen und das Personal zuständig sind (Bogumil/Jann, 2005: 69). Verwaltung im Sinne von „Regieren“ ist zum einen hoheitliches Handeln. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist Aufgabe jeder staatlichen Verwaltung. Dazu stehen ihr Gebote, Verbote, Erlaubnisse und besondere Institutionen und Gewaltmittel zur Verfügung. In einem Rechtsstaat bedürfen sie einer gesetzlichen Grundlage und Legitimation. Die Ausübung hoheitlicher Funktionen bleibt in der Bundesrepublik nach Art. 33 Abs. 4 GG einer bestimmten Berufsgruppe, den Beamten, vorbehalten. Allerdings sind im Zuge der Verwaltungsmodernisierung Tendenzen erkennbar, vormals hoheitliche Aufgaben aus der staatlichen Zuständigkeit heraus zu verlagern. Zum anderen ist in modernen Wohlfahrtsdemokratien ein weites Spektrum an staatlichen Leistungen für die Gesellschaft hinzugekommen: Die hoheitlich-
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Neuere Definition der öffentlichen Verwaltung
Funktionen der öffentlichen Verwaltung
ordnende Funktion der öffentlichen Verwaltung wurde durch eine Leistungsfunktion ergänzt. Staatliche Institutionen wurden „Leistungsträger“, die für die Bereitstellung öffentlicher Güter und für die Daseinsvorsorge zuständig sind. Staatliche Schulen und Universitäten, Staatstheater, staatliche oder kommunale Krankenhäuser, Einrichtungen der sozialen Fürsorge stellen lebenswichtige Güter oder Dienstleistungen zur Verfügung. Trotz weitgehender Privatisierung in den letzten Jahrzehnten verbleibt eine Vielzahl von öffentlichen Leistungsaufgaben, die von Verwaltungen zu bearbeiten sind. Als dritte Dimension kann eine prozesssteuernde Funktion öffentlicher Verwaltung angeführt werden. Staatliche Verwaltung übernimmt die Aufgabe, auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung steuernd Einfluss zu gewinnen. Hierzu ist vor allem in den frühen 1970er-Jahren eine Reihe von verfassungsmäßigen Voraussetzungen geschaffen worden, die, heftig in die Kritik geraten, im Kontext der Föderalismusreform z.T. wieder rückgängig gemacht werden. Dazu zählen u.a. das Institut des Länderfinanzausgleichs (Art. 107 GG), mit dem Disparitäten in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Bundesländern vermieden werden sollen, Finanzhilfen des Bundes für die Länder und Kommunen bei besonders wichtigen Investitionsvorhaben (Art. 104 Abs. 4 GG) oder Absprachen bei der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern (Art. 109 GG). Als besonderes Spezifikum öffentlicher Verwaltung in der Bundesrepublik kommt hinzu, dass öffentliche Verwaltung in Deutschland im überwiegenden Umfang Landesverwaltung im Auftrag des Bundes (Bundesauftragsverwaltung Art. 85 GG) und kommunale Verwaltung ist. Der Bund verfügt nur in einem sehr eingeschränkten Sinne über eine eigene Verwaltung. Dazu gehören u.a. der Auswärtige Dienst, die Bundesfinanzverwaltung, und Sicherheitsbehörden wie der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) oder die Bundespolizei, der frühere Bundesgrenzschutz (Art 87 Abs. 1 GG). Hinzu kommt die Bundeswehrverwaltung (Art. 87 a GG). Der Bund kann ferner „bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes“ einrichten, deren Tätigkeit sich, wie z.B. bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) als „sozialer Versicherungsträger“ über das Gebiet mehrerer Länder oder des gesamten Bundesgebietes erstreckt (Art. 87 Abs. 2 GG). Ein dritter Bereich bundeseigener Verwaltung sind selbständige Bundesoberbehörden und bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die durch Bundesgesetz eingerichtet werden (Art. 87 Abs. 3). Gesetzmäßigkeit der Die Gemeinsamkeit, die alle Bereiche der Verwaltung miteinander verbinVerwaltung det, ist die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes besagt, dass die Exekutive an die geltenden Gesetze gebunden ist und sich nicht über sie hinwegsetzen darf. Wegen des Vorbehalts des Gesetzes darf die Exekutive nur auf Grund ausdrücklicher Ermächtigung in die Sphäre des Bürgers, insbesondere in seine Grundrechte eingreifen. Damit ist Verwaltungshandeln an die vom Parlament verabschiedeten Gesetze gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Exekutivgewalt ist also begrenzt durch den Gesetzgeber. Soweit sie in Grundrechte eingreift, z.B. im Falle der Überwachung des Telefons oder des Postverkehrs nach Art. 10 Abs. 2 GG, bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes sind die wesentlichen Handlungsrestriktionen des Verwaltungshandelns.
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Die öffentliche Verwaltung hat drei gemeinsame Elemente. Erstens ihre Zweckbestimmung durch die übertragenen öffentlichen Aufgaben. Zweitens in Bezug auf die politische Verfassung des Gemeinwesens. So gehören in der deutschen Tradition viele Verwaltungsaufgaben zum politischen Organisationsbestand, die in anderen Ländern privatrechtlich organisiert werden. Dies kommt insbesondere im Bereich der Hoheitsverwaltung und bei der Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols zum Tragen. Allerdings kommt auch im Bereich der Hoheitsverwaltung ein Paradigmenwechsel zum Tragen, der zur Folge hat, dass immer mehr vormals staatliche Aufgaben an Private übertragen werden. So ist z.B. in den letzten Jahrzehnten nicht nur ein erheblicher Zuwachs an privaten Sicherheitsleistungen in rechtlich privaten, faktisch aber öffentlichen Räumen, wie Bahnen, U-Bahnen oder Shopping Malls zu beobachten, inzwischen werden auch Kernbereiche des staatlichen Gewaltmonopols, wie die Führung von Gefängnissen, wie in Hessen geschehen, privaten Unternehmen übertragen. Gemeinsam ist allen öffentlichen Verwaltungen, dass sie einem hierarchischen Prinzip gehorchen (Herzog, 1971: 190). Das hierarchische Prinzip der Verwaltung soll die Geschlossenheit des Staatsapparates im Handeln und die Lenkbarkeit der öffentlichen Verwaltung von Seiten der Staatsspitze sichern. Dies kann über strikte Befehlsgebundenheit der untergeordneten Amtsträger gegenüber dem Vorgesetzten und des nachgeordneten Staatsorgans (z.B. einer Landesmittelbehörde) gegenüber dem vorgeordneten (einer obersten Landesbehörde), oder durch personalpolitische Befugnisse der politischen Führungsspitze geschehen. Insbesondere die Möglichkeit „politische Beamte“ auszuwechseln, gibt der politischen Führungsspitze ein Instrument in die Hand, ihr genehme Spitzenbeamte zu bestellen. Die deutsche Tradition der „berufsmäßigen Verwaltung“ hat eine Reihe von Vorteilen. Dazu zählen vor allem die durch dauerhafte Beschäftigung des Verwaltungspersonals als öffentlich bedienstete Beamte erworbene Fachkompetenz und die Fähigkeit, im Prinzip permanent entscheidungsfähig zu sein, z.B. auch vor oder kurz nach Wahlen, wenn es keine funktionsfähige politische Spitze gibt. Ebenso offenkundig sind die Nachteile, nämlich eine gewisse Unbeweglichkeit (Stichwort „Verwaltungstrott“) geringe Entscheidungsfreude vor allem durch das „Laufbahnrecht“ bedingt, ein Übergewicht der Juristen in der öffentlichen Verwaltung („Juristenmonopol“) und die Herausbildung eines Eigenlebens der Verwaltung, welches eine politische Kontrolle außerordentlich erschwert, selbst dann, wenn besondere Kontrollinstanzen, wie z.B. der Wehrbeauftragte, die G10-Kommission des Bundestages oder das Parlamentarische Kontrollgremium zur Kontrolle der Geheimdienste eingesetzt werden. Die 2006 in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss verhandelte Verquickung des BND und die in diesem Kontext praktizierte Informationspolitik der Regierung belegen, dass einer wirksamen begleitenden Kontrolle sicherheitssensibler Verwaltungsbereiche enge Grenzen gesetzt sind. Öffentliche Verwaltung findet in Deutschland auf drei Ebenen statt: der Bundes-, Landes- und kommunalen Ebene. Die drei Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände) arbeiten in vielfältiger Weise zusammen. Ihr Verhältnis ist kein ausschließlich hierarchisches, sondern ein funktional gegliedertes.
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Hierarchisches Prinzip und Berufsmäßigkeit der Verwaltung
Institutionelle Gliederung der öffentlichen Verwaltung
Abbildung 10: Gliederung der öffentlichen Verwaltung in der Bundesrepublik
Quelle: Bogumil/Jann 2005: 68
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Entsprechend der spezifischen Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verteilt sich der Anteil der ungefähr 5 Mio. Beschäftigten in den öffentlichen Verwaltungen. Mehr als 45 % sind in den Landesverwaltungen, mehr als 30 % in den Kommunalverwaltungen tätig. Etwa 10 % arbeiten in der mittelbaren Verwaltung und der Bund beschäftigt etwa 12 %. Im Jahre 1960 waren noch 42 % der Beschäftige des Bundes. Die erhebliche Differenz zu heute erklärt sich wesentlich aus der in den 1990er-Jahren vorgenommenen Privatisierung von Post und Bahn, aber auch am überproportionalen Anwachsen der (Landes) Beschäftigten im Bildungssektor (Bogumil/Jann, 2005: 92). Der Hauptpersonalaufwand der öffentlichen Verwaltung liegt in den Ländern als Bundesauftragsverwaltung nach Art. 85 GG. Hinzu kommen eigene Zuständigkeiten vor allem im Bereich von Bildung und Wissenschaft sowie bei der Polizei. Dies bedeutet, dass die meisten Landesbeamten nicht mit „Verwalten“ im engeren Sinne, sondern mit staatlichen Ordnungs- und Dienstleistungsaufgaben beschäftigt sind. Anders als im Bund (ausschließliche Verwaltung des Bundes) verfügt fast jedes Landesministerium über einen Unterbau, wobei den Regierungspräsidien – soweit vorhanden – eine Koordinationsfunktion zukommt. Die dritte Verwaltungsebene, die Gemeinden und Gemeindeverbände sind vor allem als Leistungsverwaltung tätig. Dazu zählt der Betrieb von kulturellen Einrichtungen, wie Bibliotheken, Theatern, Museen, Volkshochschulen oder Sportstätten und der große Bereich sozialer Einrichtungen, des öffentlichen Personennahverkehrs, der regionalen Wirtschaftsförderung oder anderer lokaler Dienstleistungen. Allein die Sozial- und Gesundheitsverwaltung beschäftigt etwa ein Drittel der kommunalen Bediensteten (vgl. Roth/Wollmann, 1993) Neben den drei Gebietskörperschaften bilden die Körperschaften des öffent- Körperschaften des lichen Rechts einen bedeutenden Teil öffentlicher Verwaltung. Neben den öffentlichen Rechts rechtsfähigen Anstalten und Stiftungen sind sie die wichtigste Untergruppe der juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Dazu zählen die Einrichtungen der Sozialversicherung, wie die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und die Landesversicherungsanstalten, die Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitsverwaltung, Berufsgenossenschaften, kommunale Zweckverbände, Schulverbände, Hochschulen u.a.m. Diese Institutionen erfüllen staatliche Aufgaben im Auftrag, stellen also eine spezifische Form von „Auftragsverwaltung“ dar. In der Verwaltungswissenschaft besteht seit langem Übereinstimmung dar- Verwaltungsreform über, dass die Verwaltung in der Bundesrepublik dringend einer Reform und Modernisierung bedarf. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden elaborierte Konzepte entwickelt, die jedoch nach 1990 angesichts der Notwendigkeit, in Ostdeutschland möglichst schnell funktionierende Verwaltungen aufzubauen, vorübergehend ad acta gelegt worden sind. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen geben jedoch gewisse Grenzen für eine Verwaltungsreform vor. So gelang es den Vertretern der ständischen Interessen des Berufsbeamtentums 1948/49 in Art. 33 GG festzuschreiben, dass das Recht des öffentlichen Dienstes „unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln“ sei. Nicht zuletzt hieran scheiterten Anfang der 1970er-Jahre Bemühungen, ein einheitliches öffentliches Dienstrecht einzuführen.
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Vorschläge zur Verwaltungsreform konzentrierten sich auf die Frage eines Aufgabenabbaus der öffentlichen Verwaltung im Sinne einer Verminderung der Regelungsdichte. Dazu bedürfte es der Rechtsvereinfachung (v. a. im Steuerrecht), einer Verfahrensbeschleunigung (z.B. kürzere Genehmigungspflichten, Einschränkung von Bewilligungsbescheiden) und eines modernen Personalmanagements. Weiterreichende Ansätze zielen auf eine Deregulierung und schließliche Privatisierung öffentlicher Leistungen.
8.6
Verfassungsrecht und Politik
Das Bundesverfassungsgericht: „Hüter der Verfassung“ oder politischer Akteur?
Moderne Verfassungsstaaten unterscheiden sich von absolutistischen Regimen und modernen Diktaturen dadurch, dass in ihnen die Politik der Gesellschaft zwar das Recht vorgibt, sie ihrerseits aber an das Recht gebunden ist. Dabei handelt es sich um Verfahrensregeln, die eingehalten werden müssen, soll eine politische Entscheidung als legitim gelten. Zugleich werden mit den Grundrechten bestimmte Normen aufgerichtet, die den inhaltlichen Handlungsrahmen der Politik normieren und begrenzen. Um diese Verfassungsgrundsätze zu verändern, bedarf es höherer Anforderungen, nämlich der Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften, als bei inhaltlichen Entscheidungen, die in der Regel auf dem Wege des Gesetzesrechts getroffen werden können, sich aber an den Normen der Verfassung, vor allem der Grundrechte zu orientieren haben. In Zweifelsfällen ist es Aufgabe der Verfassungsgerichte, politische Entscheidungen am Maßstab der Verfassung zu überprüfen. Politik und Die Verfassungsgerichtsbarkeit unterscheidet sich von allen anderen GerichVerfassungsgerichts- ten dadurch, dass sie unmittelbar „in den Bereich des Politischen hineinragt“ barkeit (Leibholz, 1971: 6). Daher sind Entscheidungen von Verfassungsgerichten „im spezifischen Sinne des Wortes politisches Recht“ (Leibholz, 1971: 35). Da sie über keine eigenen Machtmittel verfügen, ihre Entscheidungen auch gegen Widerstand durchzusetzen, können sie die ihnen vorgetragenen Problem nur solange und insoweit lösen, als die Politik bereit ist, ihrem Urteil zu folgen. Andererseits wird die Politik sich nur solange dem Spruch des Verfassungsgerichts unterwerfen, als dieses sich in seinen Entscheidungen eine gewisse Selbstbeschränkung („judicial self-restraint“) auferlegt und der Versuchung widersteht, unter dem Deckmantel der Verfassungsauslegung selbst Politik zu betreiben. Die dem Supreme Court in den USA gegebene Möglichkeit, Gegenstände zurückzuweisen, weil sie zu sehr politisch aufgeladen sind („political questions“-Doktrin) steht dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Verfügung, es muss sich an seinen präzise formulierten Zuständigkeitskatalog halten (Limbach, 1995: 20) und gerät so häufig in politische Auseinandersetzungen hinein. Konflikte zwischen dem Verfassungsgericht und der Politik sind daher unvermeidlich und sie treten unter wechselnden Konstellationen immer wieder auf.
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Unter politischen Aspekten ist vor allem die Frage von Bedeutung, welche konstitutionelle und tatsächliche Rolle das Bundesverfassungsgericht bei der Formulierung von Politik spielt. Ist es „Mitregent“ in einem ausbalancierten System von Kompetenzzuweisungen und gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten und insofern Teil des politischen Entscheidungsprozesses, oder tendiert es in der Tat dazu, seine Kompetenzen soweit auszudehnen, dass von einer Art Neben- oder gar Gegenregierung gesprochen werden kann (Abendroth, 1973; Däubler/Küsel, 1979) ? Rechtsgrundlage der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts sind die Art. 92 und 94 GG und das „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht“ von 1951 i. d. F. vom 11. August 1993 (BVerfGG). Art. 93 GG formuliert die Zuständigkeiten des BVerfG, die in § 13 BVerfGG spezifiziert werden: x x x x x x x x
x x x x x x x
Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG); Verfassungswidrigkeit von Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG); Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundestages, die die Gültigkeit einer Wahl oder den Erwerb oder Verlust der Mitgliedschaft eines Abgeordneten im Bundestag betreffen (Art. 41 Abs. 2 GG); Anklagen des Bundestages oder des Bundesrates gegen den Bundespräsidenten (Art. 61 GG); Auslegung des Grundgesetzes bei Streitigkeiten über Rechte und Pflichten zwischen obersten Bundesorganen (Art. 93 Abs. 1 GG); bei Meinungsverschiedenheiten über die sachliche Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz und Landesrecht mit dem Bundesrecht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG); bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und der Bundesaufsicht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG); in anderen öffentlich-rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit kein anderer Rechtsweg offen steht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG); über Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b GG; eingefügt 1969); über Richteranklagen gegen Bundes- und Landesrichter (Art. 98 Abs. 2 und 5 GG); über Verfassungsstreitigkeiten, wenn die Entscheidung darüber durch Landesgesetz dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen wird (Art. 99 GG); die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesgesetzen mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Bundesrecht auf Antrag eines Gerichts (Art. 100 Abs. 1 GG); bei Zweifeln darüber, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den einzelnen erzeugt, auf Antrag eines Gerichts (Art. 100 Abs. 2 GG); auf Antrag eines Verfassungsgerichts eines Landes, wenn dieses von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder eines anderen Landesverfassungsgerichts abweichen will (Art. 100 Abs. 3 GG); bei Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht (Art. 126 GG); 421
Das Bundesverfassungsgericht als Mitregent oder Nebenregierung?
Rechtsgrundlagen der Tätigkeit und Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts
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Bundesrechtliche Streitigkeiten Organstreitigkeiten
Normenkontrollen
Verfassungsbeschwerden
darüber hinaus können dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 2 GG durch Bundesrecht weitere Entscheidungskompetenzen zugewiesen werden.
Dieser Aufgabenkatalog beinhaltet vier unterschiedliche Aufgabenbereiche verfassungsgerichtlicher Prüfung und Entscheidung. In bundesrechtlichen Streitigkeiten, die Fragen der föderalen Ordnung betreffen, tritt das Bundesverfassungsgericht als oberste Schlichtungsinstanz auf. Die Entscheidung bei Organstreitigkeiten zwischen obersten Bundesorganen oder mit eigenen Rechten ausgestatteten anderen Beteiligten über ihre Rechte und Pflichten geht über den klassischen Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen hinaus (K. Hesse, 1991: Rdnr. 679). Die Normenkontrolle ist die Prüfung einer Norm auf ihre Vereinbarkeit mit einer höherrangigen Norm. Hier obliegt dem Bundesverfassungsgericht insbesondere die Prüfung, ob und inwieweit Gesetze mit der Verfassung vereinbar sind. Im Bereich der Normenkontrolle stellt sich das „heikelste staatstheoretische Problem“ (v. Arnim, 1984: 380). Das Gericht muss zwar das Grundgesetz zur Grundlage seiner Auslegung machen, da aber viele Bestimmungen der Verfassung vage gehalten sind, besteht ein weiter Interpretationsspielraum. Das wohl bekannteste Beispiel einer solchen Prüfung sind die Urteile zum § 218 StGB, dem „Abtreibungsparagraphen“ und seine Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 2 GG: „Jeder“, auch der Embryo im Mutterleib, „hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Im Rahmen der Notstandsgesetzgebung und aus Furcht, deren Anwendung könne zu einer massiven Einschränkung der Bürgerrechte führen, ist das bereits bestehende Institut der Verfassungsbeschwerde auch in der Verfassung verankert worden. Die Verfassungsbeschwerde steht „jedermann“ offen, ermöglicht also einen direkten Zugang des einzelnen (nicht nur der deutschen Staatsbürger) zum Bundesverfassungsgericht. Verfassungsbeschwerden stellen den bei weitem größten Anteil der anhängigen Verfahren dar. Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 GG kann „jedermann“ mit der „Behauptung“ erheben, er sei durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner Rechte nach Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht), Art. 33 GG (staatsbürgerliche Rechte und Pflichten, Beamte), Art. 38 GG (Wahlgrundsätze), Art. 101 GG (gesetzlicher Richter), Art. 103 GG (rechtliches Gehör) und Art. 104 GG (Freiheitsentzug) verletzt worden. Gegenstände der Verfassungsbeschwerde sind demnach Verletzungen der Grundrechte des Einzelnen, des Demokratieprinzips des Grundgesetzes, der staatsbürgerlichen Gleichstellung, der Wahlrechtsgrundsätze und des freien Mandats, des Anspruchs auf einen gesetzlichen Richter und rechtliches Gehör und der Garantie von Rechten bei Freiheitsentzug. Diese Bestimmungen konstituieren keine „Popular-Klage“, d.h. es kann sich nicht jedermann gegen jeden vermeintlichen verfassungswidrigen Akt wenden. Klagebefugt ist nur, wer durch einen Hoheitsakt persönlich betroffen ist. So kann z.B. gegen ein Gesetz im Allgemeinen keine Verfassungsbeschwerde eingelegt werden, wohl aber gegen seine Anwendung. In der Klage wird dann auch das Gesetz selbst auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft. Gegen den Erlass eines Gesetzes kann geklagt werden, wenn bereits der Erlass des Gesetzes „unmittel422
bar und gegenwärtig“ (BVerfGE 10, 59: 65f.) jemanden in seinen verfassungsmäßigen Rechten tangiert. Eine Klage ist auch zulässig, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil ein solcher nicht vorgesehen ist oder er über bestimmte Maßnahmen nicht informiert wird. Das hat es drei prominenten FDP-Politikern, Sabine LeuthäuserSchnarrenberger, Burckhardt Hirsch und Gerhard Baum ermöglicht, gegen die Änderung des Grundgesetzartikels 13 vorzugehen, mit der der grundrechtlich geschützte Raum der Wohnung dem so genannten „Großen Lauschangriff“ mit elektronischen Mitteln geöffnet werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil (BVerfGE 109: 120), ausgeführt, dass es einen grundrechtlich geschützten „Kernbereich privater Lebensführung“ gebe, der durch staatliche Maßnahmen nicht verletzt werden dürfe.
8.6.1 Organisation des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern, de- Zwei Senate ren Amtszeit 12 Jahre (längstens bis zur Altersgrenze) beträgt, also nicht lebenslang wie beim amerikanischen Supreme Court. Eine Wiederwahl ist nicht möglich (§ 4 BVerfGG). Drei Richter jedes Senats werden aus der Gruppe der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes gewählt (§ 2 Abs. 3 BVerfGG). Die Richter werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat (§ 5 Abs. 1 BVerfGG) gewählt. Im Bundestag werden die Richter von einem zwölfköpfigen, nach der Stärke der Fraktionen zusammengesetzten Wahlmännergremium gewählt, wobei sie mindestens acht Stimmen (2/3 Mehrheit) auf sich vereinigen müssen (§ 6 BVerfGG). Die Wahl im Bundesrat erfolgt mit 2/3 Mehrheit im Plenum (§ 7 BVerfGG). Dieses Verfahren, das die Mitwirkung der jeweiligen Opposition nötig macht, hat den Vorteil, dass die jeweilige Mehrheit ihre Wunschkandidaten nicht gegen die Opposition durchsetzen kann, hat aber in der Konsequenz zu einer problematischen Proporzregelung und zu Absprachen und „Paketlösungen“ bei der Richterwahl geführt. Bestimmte Richterpositionen betrachten die Parteien als ihre Erbhöfe. Die einzige Möglichkeit, eine gegenseitige Blockade der Parteien aufzubrechen, ist das dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts zustehende Recht, beim Scheitern des Wahlverfahrens nach § 6 BVerfGG innerhalb von zwei Monaten mit einfacher Mehrheit Kandidaten zu präsentieren (§ 7a BVerfGG). Der Erste Senat ist zuständig für Normenkontrollverfahren, in denen über- Zuständigkeiten wiegend die Unvereinbarkeit einer Vorschrift mit den Grundrechten oder Rech- der Senate ten aus den Artikeln 33 GG (staatsbürgerliche Rechte und Pflichten), 101 GG (gesetzlicher Richter), 103 GG (rechtliches Gehör) und 104 GG (Freiheitsentzug) geltend gemacht werden. Ferner für Verfassungsbeschwerden außer in Fragen des Wahlrechts und bei Verfassungsbeschwerden der Gemeinden und Gemeindeverbände (§ 14 Abs. 1 BVerfGG). Der Zweite Senat ist zuständig für die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG), das Parteienverbot (Art. 21 Abs. 2 GG), die Wahlprüfung (Art. 41 Abs.
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2 GG), Anklagen des Bundestages oder Bundesrates gegen den Bundespräsidenten (Art. 61 GG), Auslegung des Grundgesetzes (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), Meinungsverschiedenheiten über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundes- und Landesrecht, Bund-Länder-Kompetenzstreitigkeiten (Art. 93 Abs. 1; 84 Abs. 4 GG) und anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen Ländern und innerhalb eines Landes, soweit kein anderer Rechtsweg gegeben ist, Verfassungsbeschwerden von Individuen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) oder Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG) soweit sie nicht dem Ersten Senat zugewiesen sind, Richteranklagen (Art. 98 Abs. 2 GG), Vereinbarkeit von Bundesrecht und Völkerrecht (Art. 100 Abs. 2 GG) und bei sonstigen, dem Bundesverfassungsgericht durch Bundesrecht übertragenen Aufgaben (§ 14 Abs. 2 BVerfGG). Bei Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes (wenn diese durch Landesgesetz dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen ist) oder bei Anrufung des Bundesverfassungsgerichts durch ein Verfassungsgericht eines Landes entscheidet einer der beiden Senate (§ 14 Abs. 3 BVerfGG). Trotz dieser präzisen Kompetenzregeln sind Streitigkeiten über die Zuständigkeit zwischen den beiden Senaten nicht auszuschließen, da viele Rechtsmaterien übergreifend sind und in die Zuständigkeitsbereiche beider Senate hineinreichen.
8.6.2 Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Verfassungsgerichte sind ein „politischer Machtfaktor“ (Limbach, 1995). Ihre Urteile beeinflussen die Politik. Sie können politische Weichenstellungen ermöglichen oder behindern. Mit der Auslegung des Grundgesetzes entscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht nur über die Kompetenzgrenzen anderer Verfassungsorgane, sondern auch – wenngleich rechtlich nicht überprüfbar – de facto auch über die eigenen. Doch bewegt sich die Auslegung und Interpretation des Grundgesetzes nicht im herrschaftsfreien, unpolitischen Raum. Konflikte zwischen Bereits kurz nach Gründung des Gerichts, das damals noch in das Ressort Verfassungsgericht des Bundesjustizministers gehörte und dessen Position noch keineswegs gesiund Politik chert war, kam es zu einem massiven Konflikt zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung über die Wiederaufrüstungspläne Adenauers. Andere folgten. Besonders hervorzuheben ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Pläne der Regierung Adenauer, mit der „Deutschland-Fernsehen GmbH“ ein regierungsloyales Rundfunk- und Fernsehprogramm zu installieren. Das „1. Rundfunk-Urteil“ von 1961 verteidigte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, indem es Art. 5 GG dahingehend interpretiert, dass der Bereich der elektronischen Medien so organisiert werden müsse, „dass alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluss haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich machen, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten“ (BVerfGE 12, 205: 206).
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Gerade bei besonders kontroversen oder konfliktträchtigen Entscheidungen zeigen sich aber auch die immanenten Schranken verfassungsgerichtlicher Entscheidungskompetenz. Bei Entscheidungen von nationaler oder internationaler Bedeutung sind die Spielräume häufig sehr eng. Wäre das Bundesverfassungsgericht wirklich in der Lage gewesen, den Grundlagenvertrag mit der DDR zu „kippen“ und damit unabsehbare Folgen für das deutsch-deutsche und Ost-WestVerhältnis heraufzubeschwören? Hätte es nach der verfassungsrechtlich äußerst problematischen Entscheidung für Neuwahlen 1983 und 2005 wirklich die bereits anberaumten Bundestagswahlen stoppen können? Oder wäre es in der Lage gewesen, den Vertrag von Maastricht zu Fall zu bringen? In diesen besonders herausragenden, aber auch in anderen Fällen musste das Bundesverfassungsgericht die politischen Folgen seiner Urteilsfindung in die Waagschale werfen und letztlich „politisch“ entscheiden. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht für „judicial activism“, sondern für eine gegenüber der Initiativ- und Primärentscheidung des Gesetzgebers zurückhaltende Position („judicial self-restraint“) entschieden. Eine Überbeanspruchung der Rechtsschöpfungskompetenz würde nicht der Konzeption des Grundgesetzes entsprechen, das die Organe der Gesetzgebung (Abschnitt VII Art. 70–82) deutlich von der Rechtsprechung (Abschnitt IX Art. 93-104) unterscheidet. Gleichwohl ist das Bundesverfassungsgericht in erheblichem Maße auch Rechtsquelle – durch die Interpretation und Auslegung und durch die faktische Fortbildung der Verfassung. Durch seine Rechtsprechung hat sich das Gericht allgemeine Achtung und Vertrauen erworben. Dies schließt periodische Kritik nicht aus. Rechtstheoretisch ist durch die Idee des Vorrangs der Verfassung als dauerhafter, auf dem Grundkonsens eines Gemeinwesens basierender normativer Ordnung die Distanz des Gerichts zum politischen Tageskampf abgesichert. Gegen die Gefahr eines Machtmissbrauchs des Verfassungsgerichts helfen eingebaute Bremsen, die umso bedeutsamer sind, je mehr politisch zu entscheidende Fragen auf Grund mangelnder Kompromissbereitschaft der politischen Akteure dem Verfassungsgericht zur Entscheidung aufgenötigt werden, in der Hoffnung, es könne auf diesem Wege doch noch einer Minderheitsposition im Prozess der Gesetzgebung zum Sieg verhelfen. Eine grundsätzliche Ausweitung der Grenzen des Interpretationsspielraums zu eigenen Gunsten und zu Lasten des Gesetzgebers würde seine Stellung dauerhaft untergraben. Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Unterstützung und Akzeptanz der Öffentlichkeit angewiesen, es hat keine eigenen organisierten Sanktionsmöglichkeiten und seine Kompetenzen hängen wesentlich von der Ausgestaltung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ab, welches durch einfaches Gesetz zur Disposition des Gesetzgebers steht. Wenn das Bundesverfassungsgericht gleichwohl über eine bemerkenswerte Machtfülle verfügt, so hat dies prima vista historische Gründe. Als Reaktion auf die systematische Beugung der Verfassung von Weimar wurde der Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz eine starke Stellung eingeräumt; dies allerdings erst, nachdem im Parlamentarischen Rat gegen ein reines Zweikammersystem und gegen einen über dem Parlament angesiedelten Präsidenten entschieden worden war. Strittig waren vor allem die Einflussmöglichkeiten des Gerichts auf
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Das Bundesverfassungsgericht als Schöpfer vom Recht
Vom Verfassungsgeber gewollte starke Stellung des Bundesverfassungsge richts
die Politik, die Rekrutierung der Richterschaft und die Einordnung des Verfassungsgerichts in die Hierarchie der Gerichtsbarkeit. Im Parlamentarischen Rat war auch die Frage diskutiert worden, ob es günstiger sei, ein selbständiges Verfassungsgericht einzurichten, oder dessen Funktion einem Senat beim Obersten Gericht zu übertragen (Lietzmann, 1988: 30ff.; Soergel, 1985:145ff.). Im Grundgesetz von 1949 war in Artikel 92 an die Einrichtung eines Obersten Bundesgerichts neben dem Bundesverfassungsgericht gedacht. Erst 1968 wurde die entsprechende Passage gestrichen. Das Bundesverfassungsgericht ist eine Institution, in der sich die verfassungsmäßig gewollte „strukturelle Kopplung von Recht und Politik“ widerspiegelt (Gawron/Rogowski, 1991: 341). Die konkreten Bedingungen dieser Kopplung werden wesentlich von der Politik bestimmt. In dem Maße, in dem sie das Gericht in Anspruch nimmt, erweitert sich folgerichtig dessen Gestaltungsspielraum und die Versuchung, Politik inhaltlich zu gestalten. Das Bundesverfassungsgericht kann Gesetze verfassungsrechtlich beanstanden, sie für nichtig erklären oder Gesetzesaufträge erteilen und damit steuernd in den Politikprozess eingreifen. Es hat bisher von diesem Recht moderat Gebrauch gemacht. „Politische“ Urteile Das Bundesverfassungsgericht hat sich, trotz immer wieder geäußerter Krides Bundesver- tik der einen oder anderen Seite des politischen Spektrums, eine hohe Anerkenfassungsgerichts nung erworben, weil es ihm grosso modo gelungen ist, mit seiner Rechtsprechung auftretende Konflikte zu „befrieden“. In den Anfangsjahren seiner Tätigkeit hat das Gericht einen wichtigen gestaltenden Einfluss auf die politische Ordnung der Bundesrepublik ausgeübt. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hatten einen wesentlichen Anteil daran, die Grundlagen einer demokratischen Bürgergesellschaft zu festigen. So wurden im Richtung weisenden „Elfes-Urteil“ von 1957 (BVerfGE 6, 32) die Prinzipien der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ nach Art. 2 Abs. 1 GG und der Freizügigkeit gegen staatliche Eingriffe geschützt. „Neben der allgemeinen Handlungsfreiheit, die Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet, hat das Grundgesetz die Freiheit menschlicher Betätigung für bestimmte Lebensbereiche, die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind, durch besondere Grundrechtsbestimmungen geschützt; bei ihnen hat die Verfassung durch abgestufte Gesetzesvorbehalte abgegrenzt, in welchem Umfang in den jeweiligen Grundrechtsbereich eingegriffen werden kann. Soweit nicht solche besonderen Lebensbereiche grundrechtlich geschützt sind, kann sich der Einzelne bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seine Freiheit auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen.“ (BVerfGE 6, 32: 37)
Im „Lüth-Urteil“ 1958, in dem es um das Prinzip der Meinungsfreiheit ging, bekräftigte das Gericht seine Auffassung, dass die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat seien. In den Grundrechtsbestimmungen sei aber auch „eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt“ verkörpert (BVerfGE 7, 198). Im „Apotheken-Urteil“ (BVerfGE 7, 377) im gleichen Jahr verhalf das Gericht dem Prinzip der Berufsfreiheit gegen staatliche Reglementierung zum Durchbruch und griff mit der in diesem Zusammenhang entwickelten „Stufentheorie“ erstmals fein steuernd in das wirtschaftliche und soziale Leben ein.
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In den 1970er-Jahren haben die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den Mitbestimmungsregelungen an den Hochschulen 1973 (BVerfGE 35, 79), zur Reform des § 218 StGB, von 1975, der die „Fristenlösung“ einführte (BVerfGE 39, 1; siehe auch 88, 203), oder zur Wehrdienstverweigerungsnovelle von 1977 (BVerfGE 48, 127) heftige Kritik ausgelöst. Äußerst kontrovers waren auch das „Abhörurteil“ von 1970 (BVerfGE 30,1), das Urteil zum „Radikalenerlass“ der Ministerpräsidenten von 1975 (BVerfGE 39, 334) oder der Beschluss zum „Kontaktsperregesetz“ im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung (BVerfGE 49, 24) aus dem Jahre 1977. Dem Bundesverfassungsgericht wurde eine Blockade der Reformpolitik der sozial-liberalen Regierungspolitik vorgeworfen. Das Gericht tendiere dazu, seine Kompetenzen sehr weit auszulegen und damit staatliches Handeln „in den Wirkungskreis seiner Entscheidungskompetenz“ zu verbringen (Lange, 1979: 14). Eine systematische Analyse der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in der sozial-liberalen Ära ergibt aber ein wesentlich differenzierteres Bild (Biehler, 1990). Kam die Kritik in den 1970er-Jahren eher von „links“, gab es in den 1990erJahren eine massive Kritik am Bundesverfassungsgericht von konservativer Seite. Sie entzündete sich zum einen an der Rechtsprechung zu den Vermögens- und Enteignungsfragen in der SBZ/DDR (BVerfGE 84, 90; 94, 12). Vor allem das „Soldaten sind Mörder“ Urteil von 1994 (BVerfGE 93, 266), in dem es um die Frage ging, ob die Verwendung dieses Zitats von Kurt Tucholsky aus den 1920er-Jahren eine Beleidigung der Bundeswehr und ihrer Angehörigen darstelle, oder das „Kruzifixurteil“ von 1995 (BVerfGE 85, 94; 93, 1), in dem Regelungen des bayerischen Schulgesetzes als unvereinbar mit dem Toleranzgebot des Artikels 4 des Grundgesetzes erklärt worden sind. Diesen kontroversen Urteilen stehen solche entgegen, die in einer aufgeheizten politischen Debatte wesentlich dazu beigetragen haben, Integration und Konsensstiftung zu befördern, gelegentlich, wie im Falle des Urteils zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR (BVerfGE 36, 1) oder beim Urteil über die Bundestagswahlen von 1983 und 2005 (BVerfGE 62, 1; 2 BvE 4/05) auf Kosten einer stringenten juristischen und/oder politischen Argumentation. Eine herausragende Stellung nimmt in diesem Zusammenhang das „Volkszählungsurteil“ von 1983 ein (BVerfGE 65, 1). Es stoppte nicht nur ein äußerst aufwendiges und umstrittenes Vorhaben, sondern konstituierte mit seiner Kreation des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“ auch einen Damm gegenüber allzu weit gehender Ausforschung der Bürger durch staatliche Institutionen. Am 12. März 2003 hat sich das Gericht auf Grund einer Verfassungsbeschwerde zweier Journalisten erneut mit dem Problem befassen müssen. Es ging um die Frage, ob die Behörden von Telekommunikationsgesellschaften Verbindungsdaten abfragen dürfen. Hier hat das Gericht, im Lichte der neuen Sicherheitsgefährdungen nach dem 11. September 2001, den Rahmen weiter gefasst und geurteilt, dass solche Maßnahmen zu rechtfertigen seien, wenn zur Verfolgung einer Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich seien, ein konkreter Tatverdacht bestehe und wenn eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme spreche, dass der Betroffene mit dem Tatverdächtigen auf diesem Wege in Verbindung stehe (1 BvR 330/96).
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Kritik an Entscheidungen des Bundesverfassungsge richts
Konsensstiftung durch Verfassungsgerichtsurteile
Urteil zum Luftsicherheitsgesetz
Eine eindeutige Haltung nahm das Gericht im Falle des von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Luftsicherheitsgesetzes ein. Hier war zu entscheiden, ob eine Güterabwägung zwischen dem Recht auf Leben von Insassen eines Flugzeuges, das wie am 11. September in den USA, von Terroristen gekapert und als Waffe gegen andere eingesetzt werden soll, und der potenziell durch einen solchen Angriff an Leib und Leben gefährdeten Personen zulässig sei. „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“ (1 BvR 357/05: Leitsatz 3)
Urteil zur Rasterfahndung
Eine ebenso eindeutige Stellungnahme zu Gunsten individueller Freiheitsräume hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 4. April 2006 abgegeben, als es über eine Verfassungsklage gegen die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eingeleitete Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen zu urteilen hatte. Das Gericht hat solchen Maßnahmen eindeutige Grenzen gesetzt. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung ist nach Auffassung des Gerichts mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann vereinbar, wenn zumindest eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. „Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus“ (1 BvR 518/02: Leitsatz 1). Und dann schreibt das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Satz ins Stammbuch, der an den Kern des seit dem 11. September 2001 weltweit im Mittelpunkt der politischen Kontroverse stehenden Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit geht: „Das Grundgesetz enthält einen Auftrag zur Abwehr von Beeinträchtigungen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung unter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaats ... Daran, dass er auch den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden Grundsätzen unterwirft, zeigt sich gerade die Kraft dieses Rechtsstaats.“ (1 BvR 518/02: 127).
In gesinnungsethisch aufgeladenen Konflikten, wie sie sich beim Schwangerschaftsabbruch, bei der Kennzeichnung von Soldaten als Mörder oder im Zusammenhang mit der Anbringung von Kruzifixen in bayerischen Schulen oder in jüngerer Zeit zu Sicherheitsfragen herausgebildet hatten, waren und sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zwangsläufig Missverständnissen und Anfeindungen ausgesetzt. Zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung der Frau, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, Toleranzgebot und christlichen Grundlagen der politischen Ordnung, Sicherheit und Freiheit, sind nur dann für alle erträgliche Kompromisse herzustellen, wenn die jeweilige Position nicht absolut gesetzt wird. Der verfassungspolitische Basiskonsens der alten Bundesrepublik bot dafür eine solide Basis, verliert aber angesichts sich verändernder gesellschaftlicher, politischer und kultureller Rahmenbedingungen und neuer, diffuser Bedrohungen seine Kohäsionskraft. In einer solchen Situation kommt dem Gericht eine noch größere Bedeutung zu, nämlich als „Hüter der Verfassung“ gegen Angriffe oder Infragestellung seitens der Politik aber auch der Gesell428
schaft, die, wie in Sicherheitsfragen immer wieder zu beobachten, durchaus übereinstimmend einer Aufweichung der Grundrechte das Wort reden können. Betrachtet man die mehr als fünfzigjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang, so kann die Formel vom „Mitregenten“ insofern als eine adäquate Umschreibung seiner institutionellen Stellung bezeichnet werden, als das Bundesverfassungsgericht vielfach korrigierend und in Einzelfällen auch mit eigenen Zielvorgaben in den Gesetzgebungsprozess eingegriffen oder politische Entscheidungen sanktioniert hat. Da es nicht im Sinne der „Selbstbefassung“ tätig werden kann, hängen Umfang und Ausmaß dieser Eingriffe aber davon ab, inwieweit andere Verfassungsorgane bereit und in der Lage sind, Konflikte auch ohne Anrufung des Verfassungsgerichts zu schlichten und politisch zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht ist „Mitregent per Aufforderung“, eine Gegenregierung ist es nie gewesen, auch wenn es zu verschiedenen Zeiten dem Regierungshandeln Schranken gesetzt hat.
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Das Bundesverfassungsgericht als „Mitregent per Aufforderung“
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Parteien und organisierte Interessen
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Parteien sind die wesentlichen Akteure auf der politischen Bühne. Das Parteiensystem in der Bundesrepublik hat sich – nach einer eher unübersichtlichen Anfangsphase – als bemerkenswert stabil erwiesen. Um dies zu verstehen, bedarf es eines historischen Rückblicks auf die Traditionslinien deutscher Parteientwicklung und der Erläuterung des normativ-rechtlichen Rahmens, in dem die Parteien agieren. Zuvor aber soll der Frage nachgegangen werden, warum sich die Politikwissenschaft und die politische Soziologie noch heute schwer tun, sich auf eine allseits akzeptierte Parteiendefinition und Modelle der Parteientwicklung zu verständigen.
Hoher Konzentrationsgrad des bundesdeutschen Parteiensystems
9.1 Parteien und Parteiensystem – einige begriffliche Klärungen Am Ende der 1920er-Jahre hat der Staatsrechtler Hans Kelsen den Parteien eine Definition von zentrale, unverzichtbare Bedeutung für eine demokratische politische Ordnung Parteien im Parteiengesetz zugewiesen: „Die moderne Demokratie beruht geradezu auf den politischen Parteien, deren Bedeutung um so größer ist, je stärker das demokratische Prinzip verwirklicht ist.“ (Kelsen, 1963: 19)
Umso bemerkenswerter ist, dass sich Parteienforscher noch heute schwer tun, sich auf eine allseits akzeptierte Definition von Parteien zu verständigen und sich noch am ehesten darauf einigen können, die aus dem Art. 21 des Grundgesetzes abgeleitete Legaldefinition des Parteiengesetzes von 1967 (i.d.F. vom 8. Oktober 1990 – BGBl I: 2141) als Arbeitsgrundlage zu akzeptieren. Paragraph 2 Abs. 1 des Parteiengesetzes definiert politische Parteien als „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und
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nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.“
Das Parteiengesetz stellt auf die dauerhafte Teilnahme an der politischen Willensbildung ab, die in der Beteiligung an Wahlen gipfelt. Wenn eine Partei sechs Jahre lang in Bund oder Ländern nicht bei Wahlen kandidiert hat, verliert sie ihren Parteistatus (§ 2 Abs. 2 Part.G). Was macht das Wesen von Parteien aus und wodurch unterscheiden sie sich von anderen Verbänden? Soziologische Definition von Parteien
1. Parteien sind Verbände neben anderen Verbänden, aber mit einer besonderen Aufgabenstellung, nämlich gesellschaftliche Interessen im staatlichen Bereich zu vertreten. Hier konkurrieren sie mit organisierten Interessenverbänden, sind ihnen aber durch ihren besonderen, über das Parlament vermittelten Zugang zur Gesetzgebung und Verwaltung überlegen, weil sie Teil der Staatsorganisation sind. Dies verleiht ihnen eine besondere Stellung im „intermediären Sektor“ der zwischen „dem Staat“ und „den Bürgern“ angesiedelt ist und dessen Aufgabe es ist, die Trennung von Gesellschaft und staatlicher Politik durch vielfältige Vermittlungsleistungen aufzuheben. 2. Parteien verfügen über politische und ideologisch motivierte Zielvorstellungen, die sie unter Berufung auf von ihr repräsentierte Gruppen der Bevölkerung vertreten – z.B. die Interessen der Bauern, der Rentner, des Mittelstandes, der „Besserverdienenden“, der „sozial Benachteiligten“ usw. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat allerdings eine abnehmende ideologische Bindekraft der Parteien mit sich gebracht, die zu neuen Erscheinungen wie schwindende Parteibindung von sozialen Gruppen und häufigerem Wechsel in den Partei- und Wahlpräferenzen der Bürger geführt hat. 3. Parteien entfalten ihre Wirksamkeit im Rahmen eines Parteiensystems, dessen Struktur und mögliche Veränderungen ihre politischen Möglichkeiten wesentlich beeinflussen. Grad und Umfang ihrer Beteiligung an der politischen Willensbildung werden nicht nur durch die Größe der Partei und die Anzahl ihrer Vertreter in den Parlamenten, sondern entscheidend auch von ihrer strategischen Stellung im Parteiensystem bestimmt. Ist das Parteiensystem auf wenige Parteien konzentriert und hochgradig polarisiert, sodass es in der Regel zu „Blockbildungen“ kommt und sind durch das Wahlsystem zugleich absolute Mehrheiten faktisch ausgeschlossen, dann kann eine kleine Partei – wie lange Zeit die FDP in der Bundesrepublik – eine weit über ihre zahlenmäßige Bedeutung hinausgehende Schlüsselrolle wahrnehmen. 4. Parteien nehmen – mit unterschiedlichen Chancen – an der politischen Willensbildung teil. Der Kampf um Wählerstimmen ist eine Auseinandersetzung um Anteile auf dem „Wählermarkt“, bei der es um die Mobilisierung der Wählerschaft für die eigenen Ziele geht. Er ist partiell aber auch ein „Nullsummenspiel“, bei dem, in etwa gleiche Wahlbeteiligungen vorausgesetzt, Gewinne der einen Partei zu Lasten einer anderen gehen. Insofern haben Veränderungen im Parteiensystem, z.B. das Entstehen neuer Parteien, denen es gelingt, in die Parlamente einzuziehen, weit reichende Folgen für Politik und Programmatik der existierenden „etablierten“ Parteien. Gleiches gilt für Bündnis- und Koalitionsmöglichkeiten.
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5. Parteien sind Interessengruppen in eigener Sache und stellen wesentlich das politische Führungspersonal. § 1 Abs. 1 des Parteiengesetzes definiert die verfassungsrechtliche Stellung und die Aufgaben der Parteien als „verfassungsrechtlich notwendige(n) Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen in ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.“ Es folgt eine detaillierte Auflistung der Bereiche, in denen die Parteien mitwirken. Sie geht deutlich über die eher zurückhaltende Formulierung des Grundgesetzes von der „Mitwirkung“ der Parteien an der politischen Willensbildung hinaus und weitet ihren Gestaltungsraum auf „alle Gebiete des öffentlichen Lebens“ aus (§ 1 Abs. 2 PartG). Im Einzelnen werden genannt: der Einfluss auf die „Gestaltung der öffentlichen Meinung“, Beteiligung an der politischen Bildung, die Förderung der aktiven Teilnahme der Bürger am politischen Leben, die Heranbildung „befähigter Bürger“ für die Übernahme öffentlicher Verantwortung, Aufstellung von Bewerbern für die Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden, Einflussnahme auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung. Parteien führen ihre politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung ein und sie sorgen „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen“. Diese Liste spiegelt die seit der Gründung der Bundesrepublik von den Parteien eroberten Positionen in Staat und Gesellschaft wider, stellt also mehr als eine bloße rechtliche Ausgestaltung des Art. 21 GG dar. Die Bestimmungen des Parteiengesetzes offenbaren zugleich ein Parteienverständnis, das den Strukturwandel der Massendemokratien reflektiert und Parteien als multifunktionale intermediäre Institutionen zwischen Staat und Bürger begreift. Es unterscheidet sich damit deutlich von elitären Konzepten der Honoratiorenpartei, populistischen Massenbewegungsparteien und von Kaderparteien. Keinen Parteienstatus genießen politische Vereinigungen, deren Mitglieder oder Vorstände in der Mehrheit Ausländer sind, die ihren Sitz außerhalb des Geltungsbereiches des Parteiengesetzes haben (§ 2 Abs. 3 PartG), Vereine und Verbände nach Art. 9 GG und politische Vereinigungen auf lokaler Ebene wie z.B. Wählervereinigungen, die nur an kommunalen Wahlen teilnehmen, also die so genannten „Rathausparteien“. Nur Parteien im Sinne des Parteiengesetzes genießen das „Parteienprivileg“ des Art. 21 GG. Dieses Privileg wurde ihnen im Grundgesetz zugewiesen, weil auch hier eine (in diesem Fall notwendige und positive) Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen werden sollte, die, wie die negative Konnotation des Begriffs „Parteiungen“ belegt, in Parteien Fremdkörper in der politischen Willensbildung sah. Für die Bundesrepublik kommt allerdings noch ein weiterer bedeutender Faktor hinzu: Die erfolgreiche Etablierung der Parteien wurde gefördert durch das Abschleifen ideologischer Unterschiede, die an der Wiege der europäischen Parteiensysteme standen und deren Entwicklung über Jahrzehnte wesentlich bestimmt hatten. Nach einem verbreiteten Erklärungsmodell von Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset (Lipset/Rokkan, 1967) lässt sich die Entstehung der westeuropäischen Parteien auf die Existenz von vier Konfliktlinien zurückführen: 1. Der 433
Funktionen von Parteien
Politische Vereinigungen ohne Parteistatus
„Parteienprivileg“ des Art. 21 GG
Modell der Entstehung von Parteien in Europa
Organisationsvorstellungen und Binnenstruktur der Parteien
Rahmenbedingungen der Parteigründungen nach dem II. Weltkrieg Die CDU/CSU
Konflikt zwischen dominanter und unterworfener Kultur ließ regionale Parteien wie die Welfenpartei in Niedersachsen oder die Bayernpartei entstehen. 2. Der Konflikt zwischen Kirche und Staat, der sich im „Kulturkampf“ in PreußenDeutschland in der zweiten Hälfte des 19 Jh. niederschlug, führte zur Entstehung des politischen Katholizismus und zur Gründung christlicher, genauer konfessioneller Parteien wie dem Zentrum. 3. Auch der Gegensatz zwischen Agrar- und Industrieinteressen führte zur Parteibildung. Konservative und Agrarparteien konkurrierten mit liberalen Parteien, die das aufstrebende Unternehmertum und die Interessen der städtischen Bourgeoisie vertraten. 4. Aus dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit entstanden die Arbeiterparteien mit ihren weit gefächerten gesellschaftlichen und kulturellen „Vorfeldorganisationen“, vor allem den Gewerkschaften. Die tiefen, die Gesellschaft spaltenden Konflikte (cross-cutting cleavages) haben nach Auffassung von Lipset/Rokkan die europäischen Parteiensysteme bis in die Zeit ihrer Untersuchung Mitte der 1960er-Jahre geprägt. Die partielle Einebnung und Auflösung alter und das Entstehen neuer Konflikte tangierte auch die Entwicklung der Parteien und Parteiensysteme. Dies zeigte sich in den 30erJahren mit dem Aufstieg der faschistischen Parteien oder in den letzten Jahrzehnten bei der Entstehung neuer Protestparteien und ökologisch ausgerichteten Parteien. Auch die Überwindung des konfessionellen Gegensatzes in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist ein Beispiel für eine Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien, die sich in der Struktur der Parteiensysteme niederschlugen. Die soziale Herkunft der Parteien hatte nicht nur auf ihre ideologische und programmatische Ausrichtung entscheidenden Einfluss, sondern auch auf ihre Organisationsvorstellungen und ihre Binnenstruktur, wie Robert Michels in seiner klassischen Studie über die SPD von 1903 gezeigt hat. Die Parteien, die ihre Wurzeln im Parlament haben, tendierten traditionell zu eher geringer Zentralisation und schwacher formaler organisatorischer Verankerung vor Ort, während die Parteien, die im außerparlamentarischen Bereich entstanden sind, einen hohen formalen Organisationsgrad und eine straffe lokale Parteiorganisation auswiesen (Duverger, 1959). Die exzeptionelle Situation im Nachkriegsdeutschland hat eine Reihe tradierter Konfliktlinien, welche die Entwicklung des deutschen Parteiensystems im Kaiserreich und in der Weimarer Republik bestimmt hatten, eingeebnet, andere (vorübergehend) neu entstehen lassen. 1. An erster Stelle ist die Gründung einer überkonfessionellen Partei, der „Christlich-Demokratischen Union Deutschlands“ (CDU), und, mit Einschränkungen, der „Christlich-Sozialen Union“ (CSU) in Bayern zu nennen. Die CDU nahm den politischen Katholizismus des Zentrums in sich auf und konnte im Laufe der Zeit auch in der Weimarer Republik oft zur politischen Rechten neigende protestantische Wähler an sich binden. Mit dem Verlust der Ostgebiete waren auch die Bastionen des konservativen bis reaktionären Protestantismus „Ostelbiens“ verloren. Der bemerkenswerte Erfolg der CDU ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass Krieg, Vertreibung und Teilung des Landes die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 eingehegten konfessionellen Grenzen weitgehend aufgehoben hatten – sieht man von einigen Enklaven des politischen Katholizismus in Westfalen oder den vom
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politischen Regionalismus geprägten Teilen Altbayerns, die später zu Hochburgen der CSU mutierten, ab. Das neu entstandene Parteiensystem spiegelte den von Lipset/Rokkan beschriebenen Konflikt Kapital-Arbeit nicht mehr eindeutig ab. Zwar war die wiedererstehende Sozialdemokratie in ihrem Selbstverständnis bis zum Godesberger Programm von 1959 die genuine Partei der Arbeiterschaft, aber sie hatte sich bereits in der Weimarer Republik auch zu einer Partei der kleinen Angestellten und des öffentlichen Dienstes gewandelt, Tendenzen, die sich angesichts der starken Stellung der SPD auf kommunaler Ebene verstärkten. Als „Arbeiterpartei“ konkurrierte sie zudem mit dem Zentrum und später dem erfolgreichen Arbeitnehmerflügel der CDU. Hinzu kam, dass sie in den Anfangsjahren nur eine Minderheit der Arbeiter aus dem Kreis der Vertriebenen und Flüchtlinge an sich binden konnte – diese bevorzugten anfangs Flüchtlingsparteien, die Mitte der 1950er-Jahre erfolgreich von der CDU aufgesogen wurden. Entscheidend für die Einebnung des Konfliktes von Kapital und Arbeit waren aber das „Wirtschaftswunder“ der 1950erJahre und die wohlfahrtsstaatliche Politik der „sozialen Marktwirtschaft“. Die massiven regionalen Konflikte, die das deutsche Reich und die Weimarer Republik belastet hatten, verloren an Bedeutung. Durch die Abtrennung der Ostgebiete und die Zerschlagung Preußens wurde das Ungleichgewicht im föderalen Gefüge beseitigt. Der agrarischen Basis des deutschen Konservativismus und Antirepublikanismus in den preußischen Kernlanden war durch die Abtrennung der Ostgebiete und die Teilung Deutschlands der Boden entzogen. Dem altbayerischen Regionalismus und Separatismus wurde durch die überaus erfolgreiche, auf bayerische Eigenständigkeit pochende Politik der CSU ebenfalls der Boden entzogen. Die von schwierigen Geburtswehen begleitete Gründung des Süd-West-Staates Baden-Württemberg ließ dem südwestdeutschen Regionalismus wenig Raum. Auch hier gelang die Integration in die ihre regionalen Besonderheiten pflegende Union. Als größtes Problem im Nachkriegsdeutschland stellte sich die Integration der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen dar. Hier brach eine völlig neue Konfliktlinie auf, die als potentiell gefährlich, sozial und politisch destabilisierend angesehen wurde. Eine ganze Reihe von politischen Splittergruppen und Kleinparteien, meist rechten Zuschnitts, bemühten sich um die Unterstützung der Flüchtlinge und Vertriebenen (Stöss, 1984, Bd. II: 1424ff.). In den Anfangsjahren der Bundesrepublik gelang es dem 1950 nach der Aufhebung des Lizenzierungszwanges der Alliierten gegründeten „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), der sich seit 1952 Gesamtdeutscher Block/ BHE nannte, einen erheblichen Teil der Vertriebenen und Flüchtlinge an sich zu binden. Er erzielte bei den Bundestagswahlen 1953 5,9% und 1957 4,6%. Seine Beteiligung an der Bundesregierung verschaffte ihm eine gewichtige Position, legte zugleich jedoch auch die Basis für seine erfolgreiche Absorption durch die Union in der zweiten Hälfte der 1950erJahre. Durch die Lizenzierungspolitik der Alliierten hatten extremistische Parteien in den Jahren vor Gründung der Bundesrepublik kaum Chancen, sich zu entfalten. Dies ermöglichte es den demokratischen Parteien, vagabundierendes
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Parteiensystem und Arbeiterschaft
Regionale Konfliktlinien
Das Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen
Extreme Parteien
Protestpotential im Laufe der Zeit an sich zu binden. Gleichwohl ging von extremen Parteien in den frühen Jahren der Bundesrepublik eine destabilisierende Wirkung aus. Aus dem diffusen rechten Spektrum waren einige kleinere Parteien im ersten Deutschen Bundestag vertreten. Der KPD gelang es bei den ersten Bundestagswahlen bundesweit 5,7% der Stimmen zu erlangen. Sie erreichte aber schon bei den zweiten Bundestagswahlen von 1953, den letzten, an denen sie teilnehmen konnte, nur noch 2,2%. Extreme Parteien Rechtskonservative und rechtsradikale Parteien der Nachkriegszeit
Verbot der KPD
Konzentration des Parteiensystems in der politischen Mitte
Während es auf Grund der verschärften Ost-West-Konfrontation für dezidiert linke Gruppierungen, insbesondere für Kommunisten, wenig Chancen gab, war die Lage im rechtskonservativen und rechtsextremen Spektrum wesentlich komplizierter und potentiell gefährlicher. Hier entstanden eine Vielzahl von Parteien, denen es aber wegen permanenter innerer Konflikte nicht gelang, sich als schlagkräftige Rechtspartei zu etablieren. Dass es ein diesbezüglich ansprechbares Wählerpotential gab, zeigen die Wählerstimmen für diese Parteien in den ersten Wahlen, vor allem aber regionale Erfolge. Besonders stark waren sie in Niedersachsen vertreten. Das Verbot der 1950 gegründeten neonazistischen „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) durch das Bundesverfassungsgericht (sie hatte trotz der Verbotsdrohung bei den Landtagswahlen in Niedersachsen vom Mai 1951 immerhin 11,0% der Stimmen und 16 Mandate erobert und erreichte in bestimmten Regionen sogar etwa 30% der Stimmen) sandte 1952 ein deutliches Signal aus. Spätere Gründungen im rechtsradikalen Spektrum hatten, wenn überhaupt, nur temporär Erfolg. Das zweite Signal, das Verbot der KPD im Jahre 1956, traf eine Partei, die im Begriff war, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Auf der extremen Linken hatten kommunistische Splittergruppen nie mehr eine ernsthafte Chance. Die 1969 gegründete, von der DDR gelenkte und finanzierte „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP), die sich angesichts des KPD-Verbotes einen streng legalistischen Mantel umlegte, konnte nur in einigen Universitätsstädten regionale Bedeutung erlangen, musste sich aber im Übrigen bei den Bundestagswahlen mit einem Stimmenanteil von weniger als 0,3% begnügen. Die Einebnung tradierter und die Befriedung neuer gesellschaftlicher Konflikte kann nicht nur als Grund für die seit dem Beginn der 1950er-Jahre einsetzende Konzentration des bundesdeutschen Parteiensystems, sondern auch als Erklärung für die relativ geringen programmatischen Unterschiede der Parteien herhalten. Die Cleavage-Theorie von Lipset/Rokkan erklärt das Entstehen der (zentraleuropäischen) Parteiensysteme mit gesellschaftlichen Großkonflikten, die relativ klare Konfrontationen schufen. Für die Analyse der gegenwärtigen Parteienentwicklung ist sie nur noch von begrenztem analytischen Wert. Die Situation hat sich grundsätzlich geändert. Die politischen Weltanschauungen des 19. Jhs., der Liberalismus und der Sozialismus haben gesiegt. Die Begriffe „liberal“ und „sozial“ werden heute von fast allen Parteien reklamiert. Eine Differenzierung des Parteienspektrums entlang der tradierten Rechts-Links-Skala und die klare Einteilung in konservative, liberale und sozialistische Parteien verliert immer mehr an Erklärungswert. Die Volksparteien repräsentieren keine eindeutig bestimmbaren Wählerschichten, da grundsätzliche, dauerhafte Konfrontationslinien nicht mehr bestehen.
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Die großen Konflikte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben sich abgeschliffen. Die „nationale Frage“ stellte sich nach dem Nationalsozialismus, der bedingungslosen Kapitulation 1945, während der Zeit der Spaltung Deutschlands und nach 1989 auf neue Weise. Die „soziale Frage“ ist zwar nicht gelöst, hat aber im Zuge ökonomischen und sozialen Wandels völlig neue und vor allem sich schnell verändernde Dimensionen erhalten. Konfessionelle Konflikte haben an Bedeutung verloren. Harte Konfrontationen, die gleichwohl, vor allem in Wahlkämpfen, die politische Auseinandersetzung prägen, wie z.B. die Parole „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ 1957, die Gegenüberstellung von „Freiheit oder Sozialismus“ 1980, oder die „Rote-Socken-Kampagne“ des Bundestagswahlkampfes 1994, sind nicht auf fundamentale programmatische Unterschiede und Interessen zurückzuführen, sondern primär politische Strategie, Kampfmittel um die Wählergunst.
9.2 Parteienverständnis des Grundgesetzes Das Grundgesetz hat – anders als die Weimarer Reichsverfassung – den Parteien einen verfassungsrechtlichen Rang gegeben und sie zu integralen Institutionen des politischen Systems erklärt. Die Ausgestaltung dieser von der Verfassung vorgesehenen Stellung der Parteien erfolgte im Zeitraum von zwei Jahrzehnten, auf das Engste begleitet und beeinflusst durch das Bundesverfassungsgericht. Erst das Parteiengesetz von 1967 schuf eine dauerhafte rechtliche Grundlage für die Tätigkeit der Parteien. Spätere Veränderungen des Gesetzes sind durch die vom Verfassungsgericht in mehreren Urteilen erfolgte Rechtsprechung erzwungen worden, bei der es in erster Linie um die Parteienfinanzierung ging (Landfried 1990). Die Schlüsselrolle der Parteien in der politischen Ordnung der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Parteienurteil zum schleswig-holsteinischen Wahlgesetz vom 5. April 1952 und in seiner ständigen Rechtsprechung immer wieder unterstrichen. Der Zweck der Bestimmung des Art. 21 Abs. 1 GG, dass die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, ist es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts,
Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Rolle der Parteien
„die in der Weimarer Verfassung zwischen der politischen Wirklichkeit und dem geschriebenen Verfassungsrecht bestehenden Spannungen zu beheben. Dadurch ist von Bundes wegen der moderne demokratische Parteienstaat legalisiert; die Parteien sind in die Verfassung eingebaut. Ein solcher Einbau enthält die Anerkennung, dass die Parteien nicht nur politisch und soziologisch, sondern auch rechtlich relevante Organisationen sind. Sie sind zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens geworden. (BVerfGE 1, 208: 225)
Das Verfassungsgericht hat seinerzeit auch zum Verhältnis von Parteien und Par- Verhältnis der lament, also indirekt zur Frage der Repräsentation und der politischen Willens- Parteien zum Parlament bildung des Volkes Stellung genommen. Diese Willensbildung finde ihren besonderen Ausdruck in den Wahlen zu den parlamentarischen Körperschaften. Die Wahlgesetze des Bundestages und der Landtage hätten die politischen Par437
teien mit vielfältigen Befugnissen ausgestattet, wie z.B. Einreichung der Wahlvorschläge, Mitwirkung bei der Überwachung des Wahlvorgangs, Bestimmung der aus Ergänzungslisten zu nehmenden Abgeordneten. „Die politischen Parteien nehmen in der heutigen Form der Demokratie eine Sonderstellung ein. Sie können und müssen als Faktoren des Verfassungslebens anerkannt werden, da sie in dessen innerem Bereich stehen, während das gleiche für Gemeinden, Kirchen usw., die dem Staate allenfalls mit verfassungsmäßig gesicherten Rechten gegenüberstehen können, nicht behauptet werden kann. Die politischen Parteien können auch nur insoweit in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis beteiligt sein, als ihre Stellung als Faktoren des Verfassungslebens reicht.“ (BVerfGE, 1, 208: 226f.)
Freiheitliche demokratische Grundordung und Parteien Gerhard Leibholz' Theorie des Parteienstaates
Die Stellung der Parteien fasst das Bundesverfassungsgericht in seinem SRPUrteil von 1952 wie folgt zusammen: Das Grundgesetz weist den Parteien die Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, „und hebt sie damit aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution“ (BVerfGE 2, 1: 73). Bei der positiven Bewertung des „Parteienstaates“ durch das Bundesverfassungsgericht spielte der Einfluss des Staatsrechtlers und Verfassungsrichters Gerhard Leibholz eine entscheidende Rolle. Für Leibholz war der moderne Parteienstaat ein „Surrogat der direkten Demokratie“. Er sei „seinem Wesen wie seiner Form nach nichts anderes wie eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie im modernen Flächenstaat“. Diese Auffassung stellte eine radikale Absage an die klassische liberale Idee des repräsentativen Parlamentarismus dar, der einem fundamentalen Strukturwandel unterworfen und geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden sei, nämlich in eine „parteistaatliche Demokratie“. Das Parlament sei nicht länger Stätte der politischen Auseinandersetzung zwischen Repräsentanten des ganzen Volkes, sondern hier agierten „Parteibeauftragte“, die Entscheidungen träfen, die bereits an anderer Stelle, z.B. auf Parteitagen oder in Ausschüssen, gefällt worden seien und hier nur noch ratifiziert würden (Leibholz, 1967: 93ff.). In seiner ebenso zutreffenden wie schonungslosen Analyse vernachlässigte Leibholz allerdings die vielfältigen alternativen Formen der politischen Organisation und Interessenvertretung, die den Bürgern zur Verfügung stehen, vor allem die Rolle von Vereinen und Verbänden. Aus dieser Situationsbeschreibung leitete Leibholz seine Forderung ab, dass, solle die Demokratie unter diesen Bedingungen nicht pervertieren, die innere Ordnung der Parteien strengen demokratischen Grundsätzen zu entsprechen habe. Nur innerparteiliche Demokratie könne verhindern, „dass die Parteien in der Demokratie zum Selbstzweck und damit zu Fremdkörpern mit eigenen selbständigen Zielen und Interessen innerhalb des Volksganzen und zu einem Staat im Staate werden“ (Leibholz, 1967: 124). Das Bundesverfassungsgericht hat sich viele der Argumente von Leibholz in seiner Rechtsprechung zu eigen gemacht. Die von ihm diagnostizierte Realität und die vom Grundgesetzgeber intendierte herausgehobene Stellung der Parteien in Rechnung stellend, kam der Frage nach ihrem Demokratieverständnis eine herausragende Stellung zu. Der Parlamentarische Rat hatte sich – gleichsam als Gegengewicht zur privilegierten staatsrechtlichen Stellung der Parteien – darauf 438
verständigt, dass es möglich sein müsse, demokratiefeindliche Parteien zu verbieten. Ein kompliziertes Verfahren, das dem Bundesverfassungsgericht eine zentrale Rolle einräumt, soll einen den Umständen angemessenen Umgang mit dem Instrument Parteienverbot ermöglichen. Die frühe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes konzentrierte sich im Rahmen der Parteistaatsvorstellung sehr stark auf die Ausgestaltung der staatlichen Aufgaben und Funktionen der Parteien. Seit den 1960er-Jahren aber traten die Parteien mehr und mehr auch als soziale Organisationen in Erscheinung. Demokratie als politisches Prinzip erfordert Teilnahme nicht nur im engeren Bereich der politischen Willensbildung, sondern auch im Bereich der Gesellschaft. Darüber, wie weit die Forderung nach einer „Demokratisierung der Gesellschaft“ legitimerweise gehen dürfe, hat immer Streit geherrscht und dieser Zustand wird sich auch nicht ändern, da die Vorstellungen über die demokratische Teilnahme der Bürger in Staat und Gesellschaft einem permanenten Wandel unterworfen sind. Das Grundgesetz und die Gesetze können nur den normativen Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich unterschiedliche Vorstellungen und Interessen artikulieren können. In Bezug auf die politische Willensbildung hat das Grundgesetz mit der Einfügung des „Parteienprivilegs“ Neuland betreten. Ähnliches gilt für die Organisation der in der Gesellschaft bestehenden unterschiedlichen Interessen. Das Parteienverständnis des Grundgesetzes nimmt Abschied vom konstitutionellen Dualismus von Staat und Gesellschaft, es nimmt den Anspruch demokratischer Partizipation ernst („wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“), es etabliert sie als intermediäre Institutionen, die zwischen Politik und Gesellschaft vermitteln und es weist ihnen die Funktion zu, demokratische Legitimität herzustellen. Das strukturelle Problem ist ihre Doppelrolle als Organisationen, die in der Gesellschaft wurzeln und zugleich Institutionen der Staatssphäre sind. In neuerer Zeit kommt ein drittes, ebenfalls nicht passfähiges Element hinzu: Parteien sind Anbieter auf einem politischen Markt, auf dem sowohl eine Produktvielfalt als auch rascher „Modell- und Typenwechsel“ gefordert wird. Der Versuch, das „Parteiwesen“ verfassungsrechtlich zu regeln, hat eine zweifache Problematik. Zum einen fordern die Idee der Volkssouveränität und das Demokratieprinzip, dass sich jedwede politische Richtung frei und ungehindert entfalten kann. Selbst politische Richtungen, die die Demokratie ablehnen, können nicht von vornherein aus dem politischen Willensbildungsprozess ausgeschaltet werden. Die vom Volke ausgehende Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2; 38 Abs. 1 GG), der freie Zusammenschluss in politischen Vereinigungen ist grundrechtlich garantiert (Art. 9 Abs. 1 GG). Der deutsche Verfassungsgeber hat 1948/49 vor der Frage gestanden, ob er, belehrt durch die Erfahrungen in der Weimarer Republik, diese Möglichkeiten ohne Einschränkungen akzeptieren könne, oder ob er Grenzen für die politische Betätigung von Parteien, Verbänden, aber auch Individuen ziehen solle. Er hat sich für das Konzept einer „wehrhaften Demokratie“ entschieden, wohl wissend, dass
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Die Stellung der Parteien in der Gesellschaft
Doppelrolle der Parteien
Wehrhaftigkeit und Demokratieprinzip in einem letztlich nicht auflösbaren Konflikt stehen. Die Parteien und der Eine ähnliche Spannung existiert auf der parlamentarischen Ebene: zwischen Art. 38 Abs. 1 GG dem Prinzip des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG) und der Verpflichtung auf ein konkretes Parteiprogramm, die Unterstützung der Regierung oder Koalitionsvereinbarungen. Dieser von Leibholz drastisch geschilderte Konflikt dient vielen naiven Demokratiekritiken als Folie ihrer Ablehnung des gegenwärtigen Parteienstaates und des Parlamentarismus. Auch er ist nicht auflösbar.
9.3 Das Parteiensystem der Bundesrepublik Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems wird oft als die eines Dualismus mit wechselnden Akteuren beschrieben. Das Fehlen parlamentarisch-repräsentativer Elemente hatte in der Frühphase der Entwicklung des Parteiensystems eine Konfrontation zwischen Konservativen und Liberalen zur Folge gehabt. Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 und der Bismarckschen Reichsgründung 1871 schliff sich dieser Gegensatz ab. An seine Stelle trat für kurze Zeit die Frontstellung gegenüber dem katholischen Zentrum, später dann der Konflikt mit der Sozialdemokratie. In der ersten demokratischen Republik von Weimar war das Parteiensystem zersplittert und die republiktreuen demokratischen Parteien zu zerstritten, um gemeinsam gegen die Republik- und Demokratiefeinde vorzugehen. Aus diesen Erfahrungen galt es nach 1945 die Lehren zu ziehen.
9.3.1 Traditionslinien und Neugründung des deutschen Parteiensystems Das deutsche Parteiensystem im Kaiserreich und der Weimarer Republik
Das deutsche Parteiensystem hat sich in seinen Grundzügen im Kaiserreich herausgebildet und in der Weimarer Republik verfestigt. Im Kaiserreich waren es vor allem fünf Gruppierungen, die in unterschiedlichen organisatorischen Formen zu Parteien wurden: Sozialdemokraten, Linksliberale, Rechtsliberale, katholisches Zentrum und Konservative. Hinzu kamen regionale, völkische, agrarische u.a. Kleingruppierungen. Diese Grundstruktur des Parteiensystems hat sich in der Weimarer Republik erhalten, wurde jedoch durch zwei Parteien „neuen Typs“ mit wachsender Anhängerschaft ergänzt – die KPD, die im Januar 1919 aus der während des I. Weltkrieges von der SPD abgespaltenen USPD und dem „Spartakusbund“ von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entstanden war, und die NSDAP, die zu einer Sammlungsbewegung völkischer, nationalistischer und rechtsextremistischer Gruppierungen wurde. Das Parteiensystem von Weimar war durch einen neuen Dualismus von „republiktreuen“ oder „systemloyalen“ Parteien und Republikfeinden gekennzeichnet. Dies bedeutete aber nicht, dass die systemloyalen Parteien zu einer gemeinsamen Abwehr der Republikfeinde in der Lage gewesen wären. Sie waren nur
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bedingt zur Zusammenarbeit fähig. Systemoppositionelle oder -feindliche „Bewegungen“ erhielten Zulauf – vor allem nach Einsetzen der Wirtschaftskrise 1929. Nach 1933 wurde der „Dualismus“ der Zeit von Weimar durch den Monismus des Nationalsozialismus ersetzt. Sigmund Neumann hatte 1932 zwischen absolutistischen Integrationsparteien (NSDAP, KPD), demokratischen Integrationsparteien (SPD, Zentrum) und liberalen Repräsentationsparteien unterschieden. Die Situation am Ende der Weimarer Republik sah Neumann durch eine Hinwendung zu den Integrationsparteien gekennzeichnet (S. Neumann, 1973). Das Jahr 1933 brachte „Das Ende der Parteien“ (Matthias/Morsey, 1960) und die Herrschaft eines Einparteistaates. Der demokratische Parteienstaat konnte sich in Weimar nicht durchsetzen. Ein relevanter Teil politischer Aktivität fand nicht in den Parteien, sondern ihren „Vorfeldorganisationen“ oder in ihnen attachierten, militärisch organisierten „Bünden“, dem Reichsbanner, dem Stahlhelm, der SA und dem Rotfrontkämpferbund statt. Auf den ersten Blick hat die Struktur des sich herausbildenden Parteiensystems in den Westzonen nur auf der politischen Linken Parallelen zu historischen Vorläufern in der Weimarer Republik. Bei näherem Hinsehen lässt sich aber erkennen, dass die beiden neuen „bürgerlichen Parteien“ Vorläufer im Weimarer Parteienspektrum haben. (Dies gilt auch für spätere Gründungen auf der politischen Rechten, wie die 1952 verbotenen SRP oder die NPD.) Bei der folgenden Aufstellung ist zu berücksichtigen, dass die Zuordnung zu „Parteifamilien“ bei einigen Parteien nicht methodisch sauber vorzunehmen ist, da das Spektrum mancher Parteien sich partiell einer solchen Klassifizierung entzieht und im Zeitverlauf Veränderungen unterworfen war. Aufgenommen worden sind – mit Ausnahme der SRP, die stellvertretend für mehrere Rechtsparteien steht – die Parteien, die ihre Zulassung auf eine alliierte Lizenz zurückführen können und die, nicht zuletzt wegen ihrer Tradition und/oder der frühen Lizenzierung, einen entscheidenden Startvorteil hatten, der sie zu den wesentlichen politischen Akteuren in den Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik werden ließ. (Ähnliches gilt, wenngleich unter ganz anderen politischen Rahmenbedingungen, für die SBZ/DDR.) Die Alliierten hatten sich auf der Potsdamer Konferenz für die Umgestaltung des politischen Lebens in Deutschland „auf demokratischer Grundlage“ ausgesprochen – die Vorstellungen darüber, was „demokratisch“ sei, gingen allerdings weit auseinander. In Bezug auf Parteien hatte die Konferenz beschlossen, dass „in ganz Deutschland alle demokratischen politischen Parteien bei Gewährung des Rechts, Versammlungen einzuberufen und öffentliche Diskussionen durchzuführen, zu erlauben und zu fördern“ seien (Die Sowjetunion, Bd. 6, 1986: 387).
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Sigmund Neumanns Konzept der Integrationsparteien
Parteien in den Westzonen und ihre Traditionslinien
Wiedergründung von Parteien nach 1945 auf Grund von Lizenzen der Besatzungsbehörden
Abbildung 11: Traditionslinien der deutschen Parteien Kaiserreich Weimarer Republik Extreme Rechte antisemitische und „christlich- NSDAP (DNVP „Harzburger-Front“ soziale“ Parteien 1932) Christliche und konservative Deutsche Zentrumspartei Deutsche Zentrumspartei Deutschnationale Volkspartei DNVP (DNVP) Deutsche Volkspartei (DVP) Konservative Parteien Bayerische Volkspartei (BVP) (DDP/ 1930 DSP) Liberale (DVP) National-Liberale Partei Deutsche Demokratische Fortschrittspartei/Deutsche Partei (DDP) – seit 1930 Freisinnige Partei Deutsche Staatspartei Linke SPD (MSPD und USPD bis SPD 1920) USPD (seit 1916) Spartakus (seit 1916)
KPD (USPD bis 1920)
Westzonen SRP (verboten 1952) (spätere Gründungen: NPD 1964; DVU 1971)) (Zentrum bis 1953) CDU CSU
FDP
SPD KPD (bis 1956; seit 1969 DKP) PDS
Zuvor allerdings hatte die SMAD mit ihrem Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 schon vollendete Tatsachen geschaffen. Der Befehl erlaubte die Bildung antifaschistischer Parteien und Vereinigungen in der sowjetischen Besatzungszone. Bereits einen Tag später trat die KPD mit einem in Moskau formulierten Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit. Demgegenüber waren die westlichen Alliierten wesentlich zurückhaltender gegenüber schnellen Partei- und Vereinsgründungen. Die Amerikaner erlaubten für ihre Zone am 13. August, die Briten am 15. September und die Franzosen erst am 29. November 1945 die Gründung von Parteien, für deren Zulassung ein Lizenzzwang bis zum Jahre 1950 bestand. Anders als in der sowjetischen Zone, in der die Parteigründungen von oben nach unten (siehe KPD-Aufruf) erfolgten, sollte in den Westzonen der Aufbau von unten nach oben erfolgen, von den Gemeinden, Kreisen und Ländern schließlich zur zonenweiten Organisation. Jede örtliche Gründung musste sich lizenzieren lassen. Die Besatzungsbehörden, insbesondere die französischen, erteilten die Lizenz oft erst nach längerem Zögern. In den Westzonen entstanden in den ersten Jahren vier „Lizenzparteien“: x x x x
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Christlich-Demokratische Union (CDU) mit ihrer regionalen Variante der CSU in Bayern Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) Freie Demokratische Partei (FDP).
Bis zur Aufhebung des Lizenzierungszwangs wurden noch zehn Parteien zugelassen, darunter die Bayernpartei, die Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei, die Deutsche Zentrumspartei und die Wirtschaftliche AufbauVereinigung (WAV). Am Beginn standen bei allen Parteien sehr unterschiedliche programmatische Vorstellungen und Ansprüche von Führungspersönlichkeiten. Da es keine Möglichkeit einer „reichsweiten“, z.T. nicht einmal einer die gesamte Besatzungszone umfassenden Parteigründung gab, spielten regionale Bedingungen und persönliche Ambitionen eine ebenso große Rolle, wie die Auseinandersetzungen zwischen politischen Führungsgruppen in Berlin und regionalen Ansprüchen, sowie zwischen Vertretern aus den westlichen Besatzungszonen und der SBZ. In der SPD wurde dieser Konflikt zwischen dem in Hannover residierenden Kurt Schumacher, der im August 1945 von 14 der 19 Bezirksorganisationen als Leitfigur anerkannt wurde (der Exilvorstand der SPD residierte noch in London), und dem „Zentralausschuss“ in Berlin unter der Leitung des späteren DDRMinisterpräsidenten Otto Grotewohl ausgetragen. Hinter dem Konflikt um Führungspositionen verbarg sich ein doppelter politisch-programmatischer Konflikt. Kurt Schumacher zeichnete ein dezidierter Antitotalitarismus aus. Er agierte mit gleicher Verve gegen die Nationalsozialisten, seine Peiniger von gestern, die ihn in jahrelanger KZ-Haft gehalten hatten, wie gegen die Kommunisten, in denen er nichts anderes zu erkennen vermochte als „rotlackierte Nazis“. Otto Grotewohl ging es nicht nur darum, seine Position als Vorsitzender des Zentralausschusses in Berlin gegenüber Schumacher und dem Exilvorstand in London zu behaupten, er musste sich auch mit der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren deutschen Gefolgsleuten, der KPD von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht auseinandersetzen. Beide waren unmittelbar nach dem Krieg mit einer verbreiteten Stimmung zu Gunsten einer „Einheit der Arbeiterklasse“ und einer einheitlichen Arbeiterpartei konfrontiert, die zuerst von der Sowjetischen Besatzungsmacht und der KPD abgelehnt wurde. Als sie dann 1946 in der SBZ mit der Gründung der SED unter Zwang vollzogen wurde, bedeutete dies das Ende einer unabhängigen und freien Sozialdemokratie. Ein Initiativkreis um den ehemaligen Reichsminister Andreas Hermes, den christlichen Gewerkschafter und späteren Gesamtdeutschen Minister und Gegenspieler Adenauers, Jakob Kaiser, und den aus der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftsbewegung kommenden späteren Vertriebenenminister, Ernst Lemmer, hatte am 20. Juni 1945 in Berlin einen Aufruf für die Gründung einer „ChristlichDemokratischen Union“ (CDUD) veröffentlicht. Vergleichbare Bestrebungen gab es in Frankfurt a. M., im Rheinland, vor allem in Köln, wo es besonders starke Tendenzen gab, das Zentrum wiederzugründen. Konrad Adenauer, Oberbürgermeister von Köln bis 1933 und erneut vom Mai 1945 bis zu seiner Absetzung durch die britische Militärregierung am 6. Oktober 1945, hielt sich zuerst abseits. Er war sich nicht schlüssig, ob er sich für das Zentrum oder eine neue überkonfessionelle Partei entscheiden sollte, deren Zukunftsaussichten höchst ungewiss waren. In Düsseldorf wurde unter der Führung des christlichen Gewerkschafters und späteren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, Karl Arnold, im
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Neugründungen nach Aufhebung der Lizenzierung Neuaufbau und Rekonstruktion
Gründungskonflikte in der SPD
Restrukturierung christlicher Parteien
Der bayerische Sonderweg: Gründung der CSU
Diffuse Situation bei den Liberalen
Herbst 1945 eine „Christlich-Demokratische Partei“ gegründet, deren rheinischer Landesvorsitzender Anfang 1946 Konrad Adenauer wurde. In der Union spielten regionale Gegensätze, etwa die zwischen der rheinischen und westfälischen Union und dem Anspruch der Berliner, Nukleus einer künftigen reichsweiten Parteiorganisation zu sein, sowie programmatische Differenzen, vor allem über die Frage der zukünftigen Wirtschaftsordnung und das Problem der Sozialisierung, eine erhebliche Rolle. Spezifisch gewendet sind diese Kontroversen auch bei der Entstehung der bayerischen Schwesterpartei CSU zu beobachten. Hier war es vor allem die Frage des Umgangs mit der Bayerischen Volkspartei und dem alt-bayerischen Partikularismus und Separatismus. Die Gruppe um den amtierenden Ministerpräsidenten und späteren Bundesfinanzminister, Fritz Schäffer, und den vormaligen stellvertretenden Generalsekretär des Bayerischen Christlichen Bauernvereins und späteren Kultusminister, Alois Hundhammer, vertrat eine katholisch konservative und staats-bayerische Position mit partikularistischen Elementen und einem massiven Antisozialismus. Bayern sollte zu einem christlichen Bollwerk in einer „europäischen Staats- und Kulturgemeinschaft“ werden. Deutlich unterschieden davon präferierte die Gruppe um den im Mai 1946 zum Vorsitzenden der CSU gewählten Rechtsanwalt Josef Müller („Ochsensepp“) die Vorstellung einer auf christlichen Werten ruhenden Massenpartei und ging auf Distanz zum Konzept einer Honoratiorenpartei nach dem Muster der Bayerischen Volkspartei. Deren Reichsvorbehalt lehnten sie ab. Vielmehr sollte die CSU als eigenständiger bayerischer Verband Teil einer späteren reichsweiten Union sein. Diese Gruppe repräsentierte liberal-konservative und interkonfessionelle Vorstellungen, die sich deutlich von denen der altbayerisch, katholischetatistischen Gruppe um Schäffer und Hundhammer unterschieden. Die Differenzen zwischen diesen beiden Flügeln ließen die CSU wesentlich gefährdeter erscheinen, als die CDU. Erst nach einer schweren Parteikrise, die 1949 zur Ablösung des ersten Landesvorsitzenden Josef Müller führte, konnten die Gegensätze eingeebnet werden. Ungesichert erschien die Stellung der Union in den Anfangsjahren nicht nur wegen ihrer Binnendifferenzierung und programmatischen Differenz, sondern auch, weil ihr mit der wieder gegründeten Deutschen Zentrumspartei eine gefährliche Konkurrentin erwachsen war. Für die CSU in Bayern entstand mit der im März 1948 von der Militärregierung auf Landesebene lizenzierten Bayernpartei eine Konkurrenz, die potentiell in der Lage war, die Traditionalisten in der CSU zu sich herüberzuziehen. Noch verworrener und komplizierter stellte sich die Situation bei den Liberalen dar. Vor der Gründung der FDP im Dezember 1948 auf dem „GesamtVertretertag der liberalen, demokratischen Parteien aus den nicht sowjetisch besetzten Teilen Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin“ in Heppenheim an der Bergstraße waren mehrere liberale Gruppierungen neu- oder wiedererstanden. Im Südwesten (Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden) und in den Hansestädten Hamburg und Bremen etablierten sich liberal-demokratische Parteien in der Tradition der Deutschen Demokratischen Partei der Weimarer Republik, die sich als Parteien der Mitte in einer sich andeutenden, zwischen Union und SPD polarisierten Parteienlandschaft verstanden. Führender Kopf der
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„Demokratischen Volkspartei“ war der von den Amerikanern eingesetzte Ministerpräsident von Württemberg-Baden, Reinhold Maier. Der spätere Bundespräsident, Theodor Heuss, der die Gründung einer großen bürgerlich-liberalen Partei anstrebte, war anfangs einer liberalen Parteigründung gegenüber sehr zurückhaltend, scheiterte aber mit dieser Vorstellung. Er wurde im Dezember 1946 in Heppenheim zum Parteivorsitzenden der drei Westzonen gewählt. Auch bei den Liberalen existierte das Problem Berlin. Hier hatte sich unter dem Vorsitz des ehemaligen Reichsministers Wilhelm Külz bereits im Juni 1945 die „Liberal-Demokratische Partei Deutschlands“ (LDPD) gegründet. Sie insistierte auf der Gründung einer Reichspartei unter Berliner Führung. Als Mitglied des „Demokratischen Blocks der Parteien und Massenorganisationen“ in der Sowjetischen Besatzungszone war die LDPD aber kein Partner für die westdeutschen Liberalen – gleich welcher Couleur. Schließlich ist die Gründung der aus der Welfenpartei erwachsenen „Niedersächsischen Landespartei“, der späteren „Deutschen Partei“ als Norddeutsche Regionalpartei mit einem starken Flüchtlingsanteil zu erwähnen. Nach der Aufhebung des Lizenzierungszwanges gesellten sich der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) und andere, vorwiegend rechtsorientierte kleinere Parteien hinzu. Diese diffuse Landschaft ließ eine verlässliche Prognose über die zukünftige Struktur des Parteiensystems kaum zu (vgl. zu diesem Gesamtkomplex die Einzelbeiträge in: Mintzel/Oberreuter, 1992).
9.3.2 Konzentration und Polarisierung Bemerkenswert an der Nachkriegsentwicklung des Parteiensystems ist, dass „Kanalisierung“ zwar an traditionelle Muster angeknüpft wurde, zugleich aber einige fundamen- und Sammlungstendenzen tale Veränderungen eintraten. Erneut trat die Gegnerschaft zwischen den beiden Linksparteien SPD und KPD deutlich zu Tage. Den bürgerlichen Parteien gelang es hingegen, die Zersplitterung innerhalb des eigenen Lagers zu beenden. Hier war die Notwendigkeit zur Sammlung besonders dringlich. In der Heterogenität und Uneinigkeit und dem nahezu bruchlosen Übergang der DNVP als bedeutsamster konservativer Partei in das rechtsradikale Lager (besiegelt in der „Harzburger Front“ von 1932) wurde einer der wesentlichen Gründe dafür gesehen, dass es den Nationalsozialisten gelungen war, so erfolgreich in das bürgerlichkonservative Lager einzubrechen. Innerhalb des liberalen Spektrums, wo zunächst mehrere Parteien entstandenen waren – Deutsche Volkspartei (DVP), Liberal-Demokratische Partei (LDP) und Freie Demokratische Partei (FDP) – erfolgte Ende 1948 der Zusammenschluss zur FDP. Noch bedeutsamer war die mit der Gründung der CDU (und in geringerem Maße der CSU) erfolgte Aufhebung der konfessionellen Trennung und das damit verbundene Ende des politischen Katholizismus als eigenständiger politischer Bewegung. Das Zentrum verlor binnen kürzester Frist an politischer Bedeutung. Durch die Teilung Deutschlands, die Abtrennung „Ostelbiens“, in dem die konservativ protestantischen Parteien großen Zulauf gehabt hatten, durch die Abtrennung der protestantischen preußischen Kernlande und die erfolgreiche Inte-
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Spaltung der politischen Linken
Konzentration und Polarisierung
Neugründung von Parteien
gration regionaler, katholisch-konservativer Strömungen im Süden (Bayernpartei) verlor der traditionell in Süd- und Westdeutschland beheimatete politische Katholizismus seine Minderheitenrolle. Er wurde, als dominierende Kraft innerhalb der CDU/CSU, zu einem bedeutenden Faktor in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Erst als die SPD mit ihrem Godesberger Parteitag von 1959 das Ghetto der Arbeiterpartei verließ, gelang es ihr, zu einer ernstzunehmenden Konkurrentin im Kampf um die politische Hegemonie in Westdeutschland zu werden. Sammlungsbedarf bestand auch auf der Linken. Hier war es die Spaltung in den sozialdemokratischen und kommunistischen Zweig der Arbeiterbewegung und vor allem die aggressive Demokratiefeindlichkeit der KPD, die nach verbreiteter Auffassung den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigt hatte. Beiden traditionell zersplitterten oder gespaltenen politischen Lagern, dem „bürgerlichen“ und dem „linken“, war also nach 1945 daran gelegen, diesen Zustand zu überwinden. Dies kam den Intentionen der Alliierten entgegen. Alf Mintzel hat von einer frühzeitigen „Kanalisierung“ gesprochen, die vor allem auf die Lizenzierungspolitik der Besatzungsmächte zurückzuführen sei. Die von den Westalliierten lizenzierten vier Parteien könnten als „besatzungspolitisch verordnete Integrationsparteien“ bezeichnet werden, wobei aber nicht übersehen werden dürfe, „dass diese Kanalisierung weitgehend im Einklang mit den deutschen politischen Sammlungsbestrebungen stand“ (Mintzel, in: Staritz, 1980: 80). Ein Blick auf die Kräfteverhältnisse der Parteien über längere Zeiträume zeigt, dass es in der Bundesrepublik einen deutlichen Konzentrationsprozess im Parteiensystem gegeben hat. Die Parteienentwicklung hatte, im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien oder auch Italien, zu einer Konzentration auf drei staatstragende Parteien geführt, die ihre programmatischen Aussagen auf eine imaginäre politische Mitte ausrichteten, was dazu führte, dass die Grenzen des „rechten“ und des „linken“ Lagers nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind. Die frühen Konzentrationserscheinungen im Parteiensystem der Bundesrepublik begünstigten die strategische Mehrheit der bürgerlichen Parteien, die bis Mitte der 1960er-Jahre unangefochten die Bundesrepublik regierten. Die absolute Mehrheit der Union 1957 förderte einen weiteren Konzentrationsprozess. Seit der Bundestagswahl von 1961 bestimmten nur noch die CDU/CSU, die SPD und die FDP das parlamentarische Geschehen auf Bundesebene. Trotz der sehr früh einsetzenden Konzentrationstendenzen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder Parteigründungen gegeben. Richard Stöss (1983, Bd. 1: 194ff.) konnte Anfang der 1980er-Jahre mehr als 130 solcher Parteigründungen dokumentieren, die sich an Landes- oder Bundestagswahlen beteiligten. Die einzige dauerhaft erfolgreiche Gründung der alten Bundesrepublik waren Die Grünen im Jahre 1980. Ein Gründungsboom von Parteien setzte 1989/90 in der untergehenden DDR ein. Einzig die PDS überlebte als ostdeutsche Regionalpartei. Der Konzentrationsprozess im Parteiensystem der Bundesrepublik hat sich vor allem zu Gunsten der beiden großen „Volksparteien“ niedergeschlagen. Bis Mitte der 1970er-Jahre konnten sie ihren Anteil an Stimmen bei den Bundestagswahlen stetig erhöhen. Seither ist der Trend rückläufig. Ihre Integrationsfähigkeit
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und -bereitschaft hat es immer wieder erlaubt, Parteibildungen an den Rändern des politischen Mainstream klein zuhalten und mittelfristig an sich zu binden. Dies gelang der CDU/CSU mit den Wählern rechter Parteien, wie der NPD oder den Republikanern, der SPD – weniger erfolgreich – mit den Anhängern der verstreuten linkssozialistischen und kommunistischen Gruppierungen in den 1970er-Jahren. Die Integrationsbereitschaft beider Volksparteien war allerdings zu gering, um die neu entstehenden Umweltbewegungen einzubinden; das Ergebnis war die Etablierung der Grünen als vierter Partei auf Landes- und Bundesebene. Ähnliches gilt für die PDS. Hier hat die SPD es nach 1989 aus Furcht vor politischer Verdächtigung versäumt, sich für Reformkräfte aus der ehemaligen SED zu öffnen.
9.4 Entwicklung der Parteien 9.4.1 CDU Gründung und Entwicklung der CDU und der CSU können als die bedeutsamste Die CDU als politische Innovation in der jüngeren deutschen Parteiengeschichte betrachtet überkonfessionelle Sammlungspartei werden. Die Union ist mit Recht als „eine Art Sammelbecken für politisch, sozial und konfessionell höchst heterogene Schichten und Gruppen“ bezeichnet worden und zugleich als Partei, die einen Bruch mit den Traditionen konservativer und christlicher Parteien der Weimarer Republik und des Kaiserreichs vollzog (Lösche, 1993: 112). Der CDU (und in geringerem Maße der CSU) gelang es, politische Gruppierungen sehr unterschiedlicher Herkunft und weltanschaulichpolitischer Orientierung einzubinden. Die dadurch erreichte Stärke machte sie schließlich zu einem Magneten für eine Vielzahl von Nachkriegsparteien, vor allem für politische Gruppierungen der Vertriebenen und Flüchtlinge, die in der Nachkriegszeit als „single-issue-Parteien“ entstanden waren. Trotz ihres Charakters als Sammlungspartei ist aber festzuhalten, dass es die Verankerung der CDU im katholischen Milieu und in den alten Hochburgen des Zentrums war, die ihr die entscheidende Mitglieder- und Wählerbasis lieferte. Wichtige Grundlage dafür war die Unterstützung der katholischen Kirche (Birke, 1994: 106). Der katholische Episkopat hatte durch seine Unterstützung des „Experiments“ CDU einen erheblichen Einfluss auf den Niedergang der traditionellen Partei des politischen Katholizismus, des Zentrums, das bei den ersten Bundestagswahlen immerhin noch 3,1% der Stimmen und 10 Mandate erhalten hatte. Vor allem in Teilen Nordrhein-Westfalens war die CDU bis spät in die 1950er-Jahre eine reine katholische Milieupartei. Im Gegensatz zur SPD war die CDU bis Mitte der 1970er-Jahre eine eher locker gefügte Organisation, in der Landesverbände, Gruppen wie der Wirtschaftsflügel, die Mittelstandsvereinigung oder die Sozialausschüsse und einzelne Personen Politik und Programmatik der Partei bestimmten. Einen erheblichen Einfluss hatten auch die der Union nahe stehenden Verbände der Wirtschaft und der Landwirtschaft und – nach dem Ende der „Flüchtlingsparteien“ – die Vertriebenenverbände. Über allem aber stand als erstes Gebot die Sicherung der Re447
Politische Programmatik der CDU
Programmatische Erneuerung
gierungsfähigkeit, was der Union in den 1950er-Jahren und erneut in den 1980er- und 1990er-Jahren den Ruf eintrug, ein „Kanzlerwahlverein“ zu sein. Dieses simplifizierende Etikett ging – trotz der bedeutsamen Stellung des Kanzlers und Parteivorsitzenden – in beiden Fällen an der Wirklichkeit vorbei. Auch wenn die CDU nie eine Programmpartei nach dem Muster der SPD war, bedeutet dies nicht, dass sie nicht über dezidierte politisch-programmatische Vorstellungen verfügte, die sie erkennbar von anderen Parteien unterschied. In der Nachkriegszeit waren dies, nach dem Verblassen christlich-sozialistischer Konzepte, wie sie noch 1947 das „Ahlener Programm“ der CDU in NordrheinWestfalen geprägt hatten, das Konzept der sozialen Marktwirtschaft und das Bekenntnis zur Westintegration. Die grundlegenden programmatischen Aussagen zur sozialen Marktwirtschaft wurden noch vor Gründung der Bundesrepublik in den „Düsseldorfer Leitsätzen“ von 1949 formuliert. Sie blieben Orientierungsrahmen für die nächsten Jahre und wurden politisch-praktisch durch die jeweils ad hoc begründete Politik der Westintegration ergänzt. Die CDU wurde zur Partei der sozialen Marktwirtschaft und der Integration in den Westen und baute darauf ihre Wahlerfolge in den 1950er-Jahren auf. Erst mit dem Einschwenken der Sozialdemokratie auf diese politischen Optionen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre ergab sich für die CDU ein programmatisches Dilemma, das sie aber bis zum Verlust der Regierungsmacht leidlich verschleiern konnte. Ihr Versuch Anfang der 1970er-Jahre, sich ausschließlich negativ zu profilieren – gegen die Politik der inneren Reformen der Regierung Brandt und vor allem gegen die neue Ostpolitik – endete bei den Bundestagswahlen von 1972 in einem Fiasko. Bei ihrer programmatischen Profilierung musste die CDU die tradierten Elemente ihrer Politik bewahren und neue, „moderne“ Themen aufgreifen. Neben überkommenen Vorstellungen von Familienpolitik, zu den Problemen von „law and order“ oder in der Frage des Staatsbürgerschaftsrechts standen moderne Aussagen zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, neue Überlegungen zur Energieund Technologiepolitik oder zur Anpassung der Arbeitsstrukturen an die neuen Bedingungen internationaler Arbeitsteilung. Eine ähnliche programmatische Breite lässt sich im Spannungsfeld „rechter“ und „linker“ Politik ausmachen: Während die Sozialausschüsse viele Positionen mit dem Gewerkschaftsflügel der SPD teilen, präferiert der Wirtschaftsflügel neoliberale Konzepte von Deregulierung und des Abbaus des Staatsinterventionismus, wie sie auch der wirtschaftsliberale Flügel der FDP vertritt. Diese programmatischen Spannungen waren für die CDU, anders als für die Sozialdemokratie, deswegen weniger problematisch, weil diese Programmvielfalt keine erkennbaren negativen Effekte auf dem Wählermarkt hatte, sondern den Charakter der CDU als „Volkspartei“ unterstrich. Daher sind auch Versuche von „radikalen“ Reformern im Konrad-Adenauer-Haus Ende der 1980er-Jahre gescheitert, die CDU als moderne Programmpartei der Mitte zu profilieren. Nach langen Jahren der programmatischen „Funkstille“ wurde mit dem wesentlich von Wolfgang Schäuble formulierten und in der Folge heftig kritisierten „Zukunftsprogramm“ vom Frühjahr 1998 erstmals wieder der Versuch unternommen, der CDU ein modernes programmatisches Profil zu verleihen.
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Bereits Ende der 1950er-Jahre setzte eine Debatte über die Modernisierung der Partei ein. Aber erst nach dem Verlust der Macht 1969 und nach dem gescheiterten Misstrauensvotum von 1972 waren die innerparteilichen Voraussetzungen für eine grundlegende Reform der Partei und ihrer Organisation gegeben. Unter dem 1976 ins Amt gewählten Vorsitzenden, dem damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten, Helmut Kohl, und seinen Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler wurde die Union zu einer modernen Mitglieder- und Apparatpartei umgeformt (Schönbohm, 1985). Die Parteizentrale wurde zu einem Organisations- und Führungszentrum umgestaltet, das sich vor allem in den Wahlkämpfen bewährte. Als Generalsekretär forcierte Heiner Geißler in der Mitte der 1980er-Jahre die Programmdiskussion in der CDU in der Absicht, neue Themen zu „besetzen“ und programmatisch mit den neuen politischen Entwicklungen Schritt zu halten, die durch den „Wertewandel“ seit den 1970er-Jahren in Gang gesetzt worden waren. In den 1980er-Jahren entwickelte sich die Bundesgeschäftsstelle unter der Leitung des Generalsekretärs, Heiner Geißler, zu einem eigenständigen Steuerungszentrum und zu einer Ideenschmiede der Partei. Gleichwohl blieb die CDU in ihrer Binnenstruktur ein komplexes Gebilde, in dem die einzelnen Landesverbände, unterschiedliche Vereinigungen und Interessen einen bedeutenden Einfluss haben (J. Schmid, 1990). Beide erfolgreichen Unternehmungen waren nicht selbstverständlich in einer Partei, die sich nie als „Programmpartei“ gesehen hatte, sondern als politischer Zusammenschluss, der auf der Grundlage gemeinsamer christlicher und bürgerlich-konservativer Werte praktische Politik betrieb. Der Tradition einer regional stark gegliederten politischen Sammlungsbewegung widersprach auch die Vorstellung, dass es unter den gewandelten Bedingungen des Verlustes der Macht in Bonn notwendig sei, eine schlagkräftige zentrale Organisation im Bonner Konrad-Adenauer-Haus zu etablieren, die zwangsläufig die Macht der „Provinzfürsten“, vor allem aber den Einfluss der Bundestagsfraktion einschränken musste. Mit den Bundesparteitagen 1988 und 1989, vor allem mit der Abwahl von Heiner Geißler als Generalsekretär und der im Vorfeld gescheiterten Kandidatur von Lothar Späth zum Parteivorsitz, begann eine Entwicklung, die als Weg der CDU zu einem Kanzlerwahlverein neuen Typs bezeichnet worden ist (Perger, 1992). Die Parteizentrale wurde auf die Bedürfnisse der Regierungsarbeit und des Kanzlers zugeschnitten, der Generalsekretär war eher der Hausmeier des Kanzlers und Parteivorsitzenden, als eigenständiger Manager und programmatischer „Vordenker“. Diese Zentralisierung hatte insoweit ihre Vorteile, als sie in einer Zeit erheblicher politischer Veränderungen nach der deutschen Einheit Macht konzentrierte und innerparteiliche Auseinandersetzungen unterdrückt hat. Sie hat jedoch zugleich lähmend auf die Parteiorganisation in den Ländern und auf der kommunalen Ebene gewirkt. Das programmatische Defizit trug dazu bei, mittelfristig die soziale Verankerung der CDU in der Gesellschaft zu gefährden. Diese Probleme werden durch die bislang noch nicht gelungene Verankerung der CDU als Mitgliederpartei in den neuen Bundesländern eher verschärft. Obwohl die CDU der Bundesrepublik der DDR-CDU anfangs mit großer Distanz gegenüberstand – sie hatte Anfang 1990 mit der bei den Volkskammer-
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Modernisierung und Organisationsreform in der CDU der 1970er- und 1980erJahre
Misslungene Anpassung der Parteiorganisation an veränderte Rahmenbedingungen
Integration der CDU der DDR
wahlen erfolgreichen „Allianz für Deutschland“ versucht, die Blockpartei als Organisation weitgehend auszuschalten – gab sie ihre Zurückhaltung nach den Wahlen vom 18. März 1990 auf: Die CDU war mit 40,9% der Stimmen eindeutig stärkste Partei in der Allianz geworden, an ihr konnte man nicht mehr vorbeigehen. Die Zeichen wurden auf Integration gestellt, zugleich aber peinlich darauf geachtet, dass die CDU der DDR keinen erkennbaren personellen oder programmatischen Einfluss auf die am 1. Oktober 1990 gebildete gesamtdeutsche Partei haben werde, obwohl diese zum Zeitpunkt der Vereinigung fast ein Drittel der Mitglieder stellte. Die Integration der DDR-CDU war eine der wesentlichen Ursachen für die Erfolge der CDU bei den Bundestagswahlen 1990 und 1994. Weder wurde die Vereinigung für die allfällige programmatische Erneuerung genutzt noch wurde die notwendige Modernisierung der Organisation vorangetrieben. Die gesamtdeutsche CDU blieb auf die Erfordernisse der Regierungsarbeit und die Unterstützung des Kanzlers ausgerichtet. Diese Konstellation war nur solange aufrechtzuerhalten, wie sich die Partei und der Parteivorsitzende an der Macht befanden. Der Verlust der Macht im Bund bedeutet das Ende dieser Konstellation. Der Weg zur programmatischen Erneuerung und zur Anpassung der Organisationsstrukturen und politischen Strategien an die völlig veränderten Bedingungen nach dem Desaster bei den Bundestagswahlen 1998 war ein langer, konfliktreicher Prozess im Zeichen einer existenziellen Krise. Sie wurde durch eine Parteispendenaffäre ausgelöst, in der es um Millionenbeträge ging, die der ehemalige Bundeskanzler und Parteivorsitzende, Helmut Kohl, unter Umgehung der Meldpflicht des Parteiengesetzes erhalten hatte und um „schwarze Konten“ der hessischen CDU in der Schweiz. Sie kostete Helmut Kohl und seinen kurzzeitigen Nachfolger, Wolfgang Schäuble, den Parteivorsitz und bescherte der CDU einen erheblichen Vertrauensverlust. Einer der bleibenden Effekte ist der Aufstieg von Angela Merkel, die sich in dieser Krise als machtbewusste und strategisch begabte Politikerin erwies. Als Parteivorsitzende hat sie bei dem Versuch einer programmatischen Erneuerung die CDU auf einem Parteitag in Leipzig erfolgreich auf einen neoliberalen Kurs eingeschworen. Es war, neben einer Reihe anderer Faktoren, vor allem diese neo-liberale Wende, die den Volksparteien CDU und CSU den Sieg bei der Bundestagswahl 2005 gekostet hat. Seither ist eine Rückbesinnung auf ihren Charakter einer Partei des „mitfühlenden Konservativismus“ erkennbar.
9.4.2 CSU Determinanten des politischen Erfolgs der CSU
Die erfolgreichste Neugründung und die in vielerlei Hinsicht faszinierendste politische Gruppierung der Bundesrepublik stellt die bayerische CSU dar. Im Norden oft als politischer Traditions- und Trachtenverein missverstanden, hat sie es wie keine andere politische Partei vermocht, politische und kulturelle Hegemonie über mehr als vier Jahrzehnte zu behaupten, Traditionalismus und Modernisierung, autoritäre politische Orientierungen und libertäre, volksverbundene Traditionen zu vereinen (Mintzel, 1977; 1978). Die CSU vereinte unterschiedliche Regionalismen (Altbayern, Franken, Schwaben), politisch-kulturelle Traditionen
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und Konfessionen und verband sie mit einem erfolgreichen Modernisierungskonzept, das keineswegs über den freien Markt, sondern durch staatliche Eingriffe und Subventionen gesteuert und finanziert wurde und das Bayern von einem agrarisch geprägten Nachzügler in der wirtschaftlichen Entwicklung neben Baden-Württemberg und Hessen zu einem der drei Spitzenreiter in der Bundesrepublik gemacht hat. Ist die CSU nur die „CDU Bayerns“, wie Sontheimer schreibt (Sontheimer, 1993: 189) oder ist sie etwas anderes und mehr als das? Mintzels Charakterisierung der CSU als Partei, die eine „Doppelrolle als autonome Landespartei mit besonderem Bundescharakter“ spielt (Mintzel, 1992: 257), erscheint zutreffender. Als autonome Landespartei, die seit 1970 mit absoluten Mehrheiten bei den Landtagswahlen ausgestattet ist, und weit über den Freistaat hinaus als der politische Repräsentant Bayerns wahrgenommen wird, hat sie ein anderes Gewicht als selbst größere Landesverbände der CDU. Die seit der Gründung der CDU als Bundesorganisation 1950 beibehaltene Parteiautonomie und die seither praktizierte und nur einmal, nach den legendären Kreuther Beschlüssen von 1976 in Frage gestellte Fraktionsgemeinschaft der CSU-Landesgruppe mit der CDU im Deutschen Bundestag, sicherten der CSU einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Politik. Früher als die CDU wandelte sich die CSU zu einer modernen Programmund Apparatpartei. 1954 als stärkste Partei im Lande für drei Jahre in die Opposition verwiesen und bedrängt vom Traditionalismus der Bayernpartei begann sie, ihre Organisation zu modernisieren, ihre Mitgliederzahlen, die sich seit der Gründung fast halbiert hatten, innerhalb von zehn Jahren zu vervierfachen und sich politisch-programmatisch als konservative bayerische Staats- und Volkspartei zu profilieren. Anders als die CDU hat sie ihr programmatisches Profil, beginnend mit dem Politische Jahre 1946, in jedem Jahrzehnt in die Form eines Grundsatzprogramms gegos- Programmatik der CSU sen. Durchgängig werden die normativen Grundlagen der staatlichen und politischen Ordnung, die soziale Marktwirtschaft, die besondere bayerische Vorstellung des Föderalismus und, seit den 1970er-Jahren, die Grundlagen einer staatlich geförderten Modernisierungspolitik betont. Durch eine erfolgreiche, subventionsgestützte Industrialisierungs- und Agrarpolitik und ein betont sozialstaatliches Profil gelang es ihr, zur hegemonialen Partei in Bayern aufzusteigen. In der Bundesrepublik konturierte sie sich als eigenständige politische Kraft auch und gerade im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik und in der Deutschlandpolitik. Als „Gaullisten“ fochten führende CSU-Politiker, an der Spitze Franz Josef Strauß, Anfang der 1960er für eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik und kritisierten den CDU-Außenminister und „Atlantiker“, Gerhard Schröder, wegen seiner, nach ihrer Meinung zu amerikafreundlichen Politik. Es war die Bayerische Staatsregierung, die 1972 mit einer Klage beim Bundesverfassungsgericht eine Verabschiedung des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR verhindern wollte, und es war der CSU-Vorsitzende, Franz Josef Strauß, der in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre eine eigene Deutschlandpolitik ohne Absprache mit der CDU und dem Kanzler führte, die zum umstrittenen „Milliardenkredit“ für die DDR führte.
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Kompliziertes Binnenverhältnis von CDU und CSU
Bundespolitischer Anspruch der CSU und reale Kräfteverhältnisse
Programmatik und Politik der CSU bestätigen den Anspruch, „im Sinne eines historisch begründeten staatsbayerischen Mitspracheanspruches und Gestaltungsauftrages an der deutschen und europäischen Politik mitzuwirken“ (Mintzel, 1992: 229). Deutlichster Ausdruck des bundesweiten Anspruchs war die gegen den CDU-Vorsitzenden und erfolglosen Kanzlerkandidaten von 1976, Helmut Kohl, durchgesetzte Kandidatur von Franz Josef Strauß für das Kanzleramt in den Bundestagswahlen von 1980. Ähnliches wiederholte sich 2002 mit der Kandidatur des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber als gemeinsamer Kanzlerkandidat der Union. Der nicht realisierte Trennungsbeschluss von Kreuth und die verlorene Wahl von 1980 können als Wende im Verhältnis von CSU und CDU angesehen werden. Beide haben die bundespolitischen Grenzen der CSU deutlich werden lassen, Grenzen, die nach 1989 deutlich enger gezogen sind. Durch die Erweiterung des Wahlgebietes verlor die CSU ihre Stellung als zweitstärkste Partei der Regierungskoalition vor der FDP. Trotz der Veränderung der Stimmenanteile im Bundesrat zu Gunsten der großen Länder ist sie auch dort proportional schwächer vertreten. 1990/91 angestellte Überlegungen, sich bundesweit auszudehnen, wurden sehr schnell wieder begraben. All dies deutet auf einen Gewichtsverlust, nicht aber auf ein Ende der Sonderrolle der CSU im deutschen Parteiensystem hin. Der besondere Anspruch wurde sowohl im Jahre 2002 mit der der CDU abgetrotzten Kandidatur Edmund Stoibers als auch nach der Bundestagswahl 2005 deutlich, als die Regierungsbildung durch die dann letztlich nicht wahrgenommenen Ansprüche des CSU-Vorsitzenden erheblich beeinträchtigt wurde.
9.4.3 SPD Die einzigen Parteien, die nach 1945 organisatorisch und politisch programmatisch unmittelbar an die Weimarer Republik anknüpften, waren die SPD und die KPD. Dies war durchaus nicht selbstverständlich, hatte sich doch in der Illegalität, der Emigration und in den Konzentrationslagern eine starke Überzeugung herausgebildet, dass die als verhängnisvoll angesehene Spaltung der Arbeiterbewegung überwunden werden müsse. Das Projekt einer Das Projekt einer Einheitspartei scheiterte vor allem an der Sowjetunion, die Einheitspartei mit ihrem SMAD-Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 und der von ihr gelenkten Wiedergründung der KPD deutlich andere Ziele verfolgte. Die dann doch erfolgte Vereinigung von KPD und SPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone im April 1946 entsprang einem veränderten Kalkül der UdSSR und geschah unter massivem Druck der Besatzungsmacht. Damit war die SPD von Anbeginn mit einem doppelten Dilemma belastet. Durch die Politik der sowjetischen Besatzungsbehörden in der SBZ und die Einflussnahme der KPdSU auf ihre Parteigänger in den Westzonen war das Projekt einer einheitlichen Arbeiterpartei ohne Erfolgsaussicht, es sei denn unter Verzicht auf die eigene sozialdemokratische Identität.
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Überlegungen, nach dem Vorbild der britischen Labour Party eine Partei zu gründen, die christliche, liberale und freie, nicht jedoch kommunistische Gewerkschafter vereinen sollte, stießen allerdings auf Ablehnung führender SPDPolitiker, vor allem Kurt Schumachers, der sich sehr früh als die unumstrittene Führungsfigur der westdeutschen Sozialdemokratie durchsetzte. Trotz der Forderung Schumachers nach einem Neuanfang war die SPD in den Westzonen keine Neugründung, sondern eine Wiedergründung. Alternativen scheiterten an der Absicht, die alte, große deutsche Sozialdemokratie, die von den Nazis zerschlagen und verfolgt worden war, wiedererstehen zu lassen. Die Option, eine breite linke Sammlungsbewegung zu gründen, die, wie die Union, über den Bereich der traditionellen Anhänger und Wähler hinaus auch attraktiv für das linksliberale Bürgertum und den Mittelstand gewesen wäre, wurden nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Damit wurde nicht nur die Chance vertan, auf der Linken ebenfalls eine „Sammlungsbewegung“ zu schaffen, sondern auch nahtlos an Politikvorstellungen angeknüpft, die auf ein soziales und politisches Milieu, die Arbeiterschaft, zielten, das schon am Ende der Weimarer Republik im Wandel begriffen, durch den Nationalsozialismus weitgehend zerstört und in der alten Form nicht regenerierbar war. Zwar wurde die SPD schnell zur mitgliederstärksten Partei (1947 – 875.000 Mitglieder) und konnte in den Ländern auf Erfolge verweisen, sich an Landesregierungen beteiligen, Ministerpräsidenten stellen und viele ihrer Vorstellungen im Gesetzgebungsprozess durchsetzen, es gelang ihr aber bis Mitte der 1960erJahre nicht, direkten Einfluss auf die Regierungspolitik in Bonn zu gewinnen. Sie war jedoch stets auf kommunaler Ebene und in den Ländern stark präsent und prägte mit ihrem „Oberbürgermeisterflügel“ (Ernst Reuter, Max Brauer, Wilhelm Kaisen) und mit starken Ministerpräsidenten und Politikerpersönlichkeiten auf Landesebene (Wilhelm Högner, Georg-August Zinn) die politische Entwicklung des bundesdeutschen föderalen Systems entscheidend mit. Die Sozialdemokratie beanspruchte im Neuaufbau Deutschlands eine Führungsrolle, da sie sich als einzige demokratische Partei nicht mit dem Nationalsozialismus arrangiert habe. Ein Zusammengehen mit den bürgerlichen Parteien kam für sie nicht in Frage. Andererseits grenzte sie sich scharf von der KPD ab. Da eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht möglich sei, gelte es in Westdeutschland demokratische Verhältnisse zu schaffen, die eine „Magnetwirkung“ auf die Sowjetische Besatzungszone hätten. Die Wiedervereinigung sei ein politisches Nahziel. In ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik war die SPD unter Kurt Schumacher, der 1952 starb, an den tradierten wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der Weimarer SPD orientiert, die sie mit der Forderung nach weit reichenden Sozialisierungen verband. Sie stand in scharfem Gegensatz zur von Ludwig Erhard propagierten Idee einer sozialen Marktwirtschaft. Der Erfolg der Erhardschen Wirtschaftspolitik entzog ihren Sozialisierungsforderungen aber schon bald den Boden und ließ sie als Angriff auf den gerade gewonnenen bescheidenen Wohlstand erscheinen. Der nationalistische Grundton der Forderungen Schumachers war nicht nur für die SPD neu. Der von ihm vertretenen Politik einer dezidierten, ja oft aggressiven Vertretung nationaler Interessen fehlte in einer Zeit, in der deutsche Politik
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Wiedergründung der SPD nach dem Krieg
Starke Stellung der SPD auf Landesebene
Programmatische Vorstellungen der Nachkriegs-SPD
Programmatische Erneuerung des Godesberger Programms von 1959
Weitere allmähliche programmatische Erneuerung
fremdbestimmt war, jede Basis. Die SPD lehnte alles ab, was nach ihrer Meinung die Spaltung Deutschlands vertiefen werde, insbesondere die sich sehr früh abzeichnende Integration der westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik in die entstehenden europäischen und transatlantischen Institutionen. In beiden Bereichen geriet sie in eine Minderheitsposition. Die Folgen dieser Politik der SPD deuteten sich bereits mit dem Misserfolg bei den Bundestagswahlen 1949 an, wo sie entgegen verbreiteter Erwartung mit 29,2% der Stimmen nur zweitstärkste Partei wurde. Sie zeigten sich aber unübersehbar bei den zweiten Bundestagswahlen von 1953, als die SPD nur 28,8% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, während die CDU/CSU mit 45,2% fast die absolute Mehrheit der Mandate eroberte. Diese zweite, noch schwerere Niederlage führte unter dem biederen Vorsitzenden Erich Ollenhauer aber noch nicht zu einer Kurskorrektur. Die Vorstellungswelt großer Teile der Mitgliedschaft und des Funktionärskörpers war von traditionellen reformistisch-antikapitalistischen Überzeugungen geprägt. Modernisierungskonzepte, wie sie vor allem von ethischen Sozialisten und Sozialreformern ausgingen, die am Ende der Weimarer Republik und während der Emigration eine Existenz am Rande der Sozialdemokratie gefristet hatten – z.B. die Gruppe „Neu Beginnen“ – erhielten erst nach den Bundestagswahlen von 1957, als mit der absoluten Mehrheit der Union das Scheitern der bisherigen Politik nicht mehr zu leugnen war, eine Chance. Angesichts der erneuten Niederlage war eine programmatische Neuorientierung unausweichlich geworden. Der Durchbruch zu einer programmatischen Neuorientierung der SPD als linke Volkspartei gelang auf dem Godesberger Parteitag von 1959. Das „Godesberger Programm“ vollzog programmatisch den in der Praxis schon längst vollzogenen Abschied vom Marxismus, der nur noch als eine von mehreren geistigen Traditionslinien der Sozialdemokratie neben dem Humanismus, der klassischen Philosophie und der christlichen Ethik genannt wurde. Die entscheidenden Aussagen zu den Zielen des „demokratischen Sozialismus“ finden sich im Abschnitt „Wirtschafts- und Sozialordnung“, der eine marktwirtschaftliche Ordnung mit staatlicher Intervention und Kontrolle der Wirtschaftsordnung propagierte. Der Weg der Sozialdemokratie von der Arbeiterpartei zu einer „Partei des Volkes“ sei durch den Willen bestimmt, sowohl die „alten Kräfte“ des Kapitalismus zu überwinden als auch der kommunistischen Herausforderung zu begegnen. Das Godesberger Programm überwand die noch in der Weimarer Republik virulente Vorstellung, dass die liberale Demokratie nur eine unvollständige, durch den Sozialismus abzulösende politische Ordnung sei. Allerdings blieb noch immer ein Vorbehalt eingebaut, wenn es hieß, dass „die Demokratie nur durch den Sozialismus erfüllt“ werde (Programme der deutschen Sozialdemokratie, 1963: 188). Eine Revision der außenpolitischen Orientierung enthielt das Programm noch nicht – sie erfolgte öffentlich erst mit einer Rede Herbert Wehners im Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960. Allerdings wurde ein Bekenntnis zur Landesverteidigung und zur „Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik abgelegt.
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Damit waren wichtige Schritte in Richtung einer Modernisierung der Programmatik und der Öffnung gegenüber neuen Wählerschichten getan, die Anfang der 1960er-Jahre durch eine Reihe von „Richtlinien“ und „Leitsätzen“ der SPD zu wichtigen Politikfeldern wie der Familien-, Gesundheits-, Rechts- und Bildungspolitik und zur Ost- und Deutschlandpolitik ergänzt wurden. Diese allmählichen Erneuerungsversuche hatten zur Folge, dass die SPD bei ihrem Eintritt in die Regierung der Großen Koalition 1966 nicht nur über ein modernisiertes Parteiprogramm, sondern auch über reformpolitische Konzepte in den wichtigsten Bereichen der Innen- und Wirtschaftspolitik verfügte. Wesentlich vorsichtiger agierte sie im Bereich der Ost- und Deutschlandpolitik, die emotional hoch besetzt war. Es war kein Zufall, sondern bewusste Symbolik, dass über dem Podium des Karlsruher Parteitages von 1964 eine Karte Deutschlands in den Grenzen von 1937 mit der Parole „Erbe und Auftrag“ prangte – man fürchtete, erneut in die Ecke der nationalen Unzuverlässigkeit gestellt zu werden und versuchte möglichen Angriffen von vornherein zu entgehen. Die SPD war am Beginn der 1980er-Jahre nicht nur innerlich zerrissen, sondern auch so demoralisiert, dass sie gar nicht in der Lage war, kurzfristig aus der Krise herauszukommen (Paterson, 1986). Programmatisch schwankte sie zwischen der Godesberger Tradition, dem Modernisierungsansatz der Reformpolitik vom Ende der 1960er-Jahre, vor allem mit ihrem Festhalten an keynesianischen Modellen der Wirtschaftssteuerung, reaktivierten altsozialistischen Modellen der „Vor-Godesberg-Zeit“ und dem Anpassen an „grüne“ Positionen. Weniger erfolgreich war die organisatorische Modernisierung der SPD. Zwar gelang es dem jungen Kanzlerkandidaten von 1961, Willy Brandt, einen Wahlkampf nach usamerikanischem Muster zu führen und damit Maßstäbe für die Wahlkampforganisation zu setzen, aber die notwendige Strukturreform des Parteiapparates blieb weitgehend auf der Strecke. Positiv machten sich zwar in den 1980er-Jahren die Integrationsbestrebungen Hans Jochen Vogels bemerkbar, der nach dem vorzeitigen Rücktritt Willy Brandts zum Parteivorsitzenden gewählt worden war und erheblich zur inneren Konsolidierung der Partei beitrug, das entscheidende Problem einer politischprogrammatischen und organisatorischen Modernisierung nach dem erfolgreichen Vorbild der CDU konnte auch er nicht lösen. Vielmehr war ein weiteres Abrutschen in die programmatische Beliebigkeit zu verzeichnen, die auch nicht durch einen erkennbaren politischen Gestaltungs- und Machtwillen kompensiert wurde, sodass sich die Wahlchancen auf der Bundesebene immer weiter verschlechterten. Politische Fehleinschätzungen im Zuge der deutschen Einheit taten ein Übriges, um die Chancen der SPD auf dem gesamtdeutschen Wählermarkt bei den Bundestagswahlen 1990 zu schmälern. Für die SPD entstand die paradoxe Situation, dass sie einerseits als erste Partei den entscheidenden Schritt zur Vereinigung der beiden Parteiorganisationen vollzogen hat – Willy Brandt war bereits im Februar zum Ehrenvorsitzenden der neu gegründeten SPD der DDR gewählt worden – andererseits aber wegen der erkennbaren Zurückhaltung der Parteiführung in Bonn und des Kanzlerkandidaten, Oskar Lafontaine, gegenüber einer schnellen staatlichen Vereinigung als Einheitsgegner wahrgenommen wurde. Anders als bei der CDU und den Liberalen war die Gründung der gesamtdeutschen Sozialdemokratie nicht mit der Vergangenheit einer Blockpartei be-
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Konflikte um ein neues Parteiprogramm Krise der SPD in den 1980er-Jahren
Vereinigung mit der SPD der DDR 1990
Regeneration der SPD in der zweiten Hälfte der 1990erJahre
lastet. Die SPD konnte aber auch nicht, wie ihre Konkurrenten, eine funktionierende Parteiorganisation und breite Mitgliedschaft in Ostdeutschland übernehmen. Das strukturelle Gefälle zwischen West und Ost war erheblich. Angesichts der Kluft in den Mitgliederzahlen (mehr als 800.000 im Westen, ca. 25.000 im Osten) war es nahezu ausgeschlossen, eine stärkere Repräsentanz der Vertreter aus Ostdeutschland durchzusetzen. Daher vollzog sich die Vereinigung der beiden Parteien eher als Anschluss der SPD der DDR an die West-SPD. Das auf dem ersten gesamtdeutschen Parteitag verabschiedete Regierungsprogramm der SPD mit dem Titel „Der neue Weg – ökologisch, sozial, wirtschaftlich stark“ ließ nahezu jede Perspektive einer gesamtdeutschen Entwicklung vermissen. Beschworen wurden auch hier die Themen der alten Bundesrepublik. Nur fehlte, wie bei der CDU, das emphatische Bekenntnis zur Einheit. Stattdessen wurden die Risiken des Vereinigungsprozesses betont (Protokoll Parteitag von Berlin, 1990: 229ff.). Diese Zurückhaltung hat wesentlich zur erneuten Niederlage der SPD bei den Bundestagswahlen im Herbst 1990 beigetragen. Im Jahre 1983 hatte Ralf Dahrendorf seine provozierende These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts formuliert (Dahrendorf, 1983). Er hatte damit eine kontroverse Debatte darüber ausgelöst, ob sich die zentralen Themen der Sozialdemokratie erschöpft hätten und ihre politischen Strategien überholt seien (Paterson/Thomas, 1986; Merkel, 1993). Bis Mitte der 1990er-Jahre sah es so aus, als ob Dahrendorf Recht behalten würde, zumal die SPD eine Antwort auf diese Frage und ihre möglichen Konsequenzen schuldig geblieben war. Nach der 1994 erneut verlorenen Bundestagswahl wurde der Parteivorsitzende, Rudolph Scharping, durch eine Art innerparteilichen „Putsch“ von Oskar Lafontaine abgelöst. Nach dem Parteitag gelang es dem neuen Parteivorsitzenden in den drei Jahren bis zu den Bundestagswahlen 1998 die Partei zu einen und sie als eine politische Kraft zu profilieren, die bereit und in der Lage war, eine zunehmend als verbraucht wahrgenommene Regierungskoalition abzulösen. Zu Gunsten des vorrangigen Ziels wurden programmatische Debatten eher zurückhaltend geführt, die notwendige Strukturreform vertragt und durch die Herausverlagerung der Verantwortung für die Wahlkampfführung auf eine spezielle „task-force“ (die „Kampa“) die Politik- und Strategiedefizite der Parteiorganisation umgangen. Anders als Mitte der 1960er-Jahre verfügte die SPD bei ihrem Regierungsantritt 1998 nach sechzehn Jahren Opposition nicht über eine kohärente politische Reformstrategie. Vielmehr waren Meinungsverschiedenheiten über wichtige Politikfelder – die in großen Volksparteien immer vorhanden sind – zu Gunsten einer Machteroberungsstrategie zurückgestellt worden. Das „Berliner Programm“ von 1989 war bereits zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung von der völlig veränderten politischen Wirklichkeit überholt. Seither sind mehrere vergebliche Anläufe gemacht worden, zu einem zeitgemäßen Programm zu kommen. Mehrere Kommissionen und in schneller Folge wechselnde Parteivorsitzende sind bislang an dieser Aufgabe gescheitert. In der Regierungszeit Gerhard Schröders gelang es der Partei weder, ein erkennbares programmatisches Profil zu gewinnen noch eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Anmutungen der Regierungspolitik zu bewahren. Sie mutierte in atemberaubendem Tempo zu einer „Kanzlerpartei“. Durch den 2005
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vollzogenen Übergang in die Große Koalition und angesichts eines erheblichen Verschleißes von Parteivorsitzenden seit 1999 (Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck) und nicht zuletzt angesichts des dramatischen Verlustes von Mitgliedern steht die SPD vor der Herausforderung, sich in gewisser Weise neu erfinden zu müssen.
9.4.4 FDP Im liberalen Lager gestaltete sich die Sammlung wesentlich schwieriger. Dies Linksliberale versus hängt vor allem mit der traditionellen Teilung des liberalen Spektrums in Links- Nationalliberale liberale und Nationalliberale seit der Mitte des 19. Jhs. zusammen, die zur Schwäche der republiktreuen Kräfte in Weimar beigetragen hat. Diese beiden Strömungen entstanden in verschiedenen Konstellationen neu und es bedurfte eines längeren konfliktreichen politischen und organisatorischen Prozesses, bis sie in einer Partei, der FDP, vereint werden konnten. Ähnlich wie die CDU/CSU ist die liberale Partei aus einer Vielzahl lokaler Initiativen in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden. Gemeinsamer Nenner waren Antikollektivismus und Antisozialismus. Ersterer richtete sich nicht nur gegen die SPD (und die KPD), sondern auch gegen politische Vorstellungen in der Tradition der katholischen Soziallehre, die in der CDU eine große Bedeutung hatten. In den Anfangsjahren kamen der FDP eine Reihe von Faktoren zugute. Durch die Trennung der Besatzungszonen konnten sich liberale politisch-kulturelle Milieus in Südwestdeutschland wieder formieren, ohne einem Uniformitätsdruck von außen ausgesetzt zu sein. Eine gewisse Begünstigung erfuhren die Liberalen durch die alliierte Lizenzierungspolitik, die eine liberale Partei als festen Faktor im Parteiensystem vorsah. Angesichts der bürgerlichen Sammlungsbestrebungen unter christlichen Vorzeichen in der CDU konnten sie die Teile des Bürgertums an sich binden, die aus einer laizistischen oder antiklerikalen Tradition kamen oder Vorbehalte gegen eine Instrumentalisierung christlicher Werte in der Politik hatten. Sie stützten sich ferner auf antikommunistische Einstellungen im liberalen Bürgertum und starke regionale, nationalliberale und konservative Traditionen, welche die FDP dank fehlender „Rechtsparteien“ an sich binden konnte. In der FDP dominierte anfangs der nationalliberale Flügel. In einigen Landesverbänden kamen eher rechtskonservative als liberale Positionen zum Zuge. Auch nach Selbstreinigungsversuchen blieb ein konservativer, teils reaktionärer Nationalliberalismus einflussreich. Die traditionelle Spaltung des liberalen Lagers in Deutschland wurde nach Regionale Vielfalt 1945 zwar organisatorisch beendet, aber nicht überwunden – sie wurde vielmehr in die FDP hineinverlagert. Das Ergebnis war eine lokale und regionale Vielfalt und eine weitgehende Autonomie der Landesverbände, die mit konkurrierenden, ja sogar einander ausschließenden programmatischen Vorstellungen unter einem organisatorischen Dach koexistierten. In Baden, Württemberg und den Hansestädten Bremen und Hamburg entstanden liberaldemokratische Landesverbände, die auch bereit waren, mit den So-
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Konfliktreiches Verhältnis FDPCDU/CSU
Programmatische Erneuerung der FDP
zialdemokraten zu kooperieren. In Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen dominierten antisozialistische und nationalistische Ideen. Diese Landesverbände verstanden sich als Teil eines Bürgerblocks mit scharfer Gegnerschaft zur SPD. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ging die Entwicklung zeitweilig so weit, dass die FDP zu einem Sammelbecken rechtsradikaler Elemente und ehemaliger Nationalsozialisten wurde, sodass die FDP dort zeitweilig eher dem rechtsradikalen, als dem liberalen Spektrum zugeschlagen werden musste. Mitte der 1960er-Jahre, als die FDP begann, sich als liberale Reformpartei zu profilieren, führte dies u.a. dazu, dass es der NPD gelang, in ehemals nationalliberale Hochburgen der FDP einzubrechen – z.B. bei der Hessenwahl 1966. In der Anfangsphase der sozial-liberalen Koalition bewog die neue Ostpolitik konservative FDP-Repräsentanten, einschließlich des ehemaligen Vorsitzenden, Erich Mende, zum Parteiwechsel zur CDU/CSU. Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Flügeln der FDP gab es in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Nur mit einer gewissen Reserve war man bereit, das Bekenntnis zur Marktwirtschaft durch das Adjektiv „sozial“ zu ergänzen. Die tief greifenden Differenzen innerhalb des liberalen Lagers konnten durch die frühzeitige Einbeziehung der FDP in die von Adenauer 1949 gebildete bürgerliche Koalition zwar überbrückt, aber nicht beseitigt werden. Die Regierungsbeteiligung warf zudem schon damals das Problem auf, wie sich die FDP als eigenständige Partei profilieren könne. Mit einer Strategie des koalitionsinternen Konflikts gelang es letztendlich nicht, eine ernste Existenzkrise der Partei zu verhindern. Vielmehr führte sie 1956 zum Koalitionsbruch. Gegenstand der Auseinandersetzung war ein für die Nationalliberalen hochbrisantes Problem, nämlich das „Saarstatut“. In der Wahlrechtsfrage, die vom Verfassungsgeber nicht geregelt worden war, drohte Adenauer der FDP für den Fall einer Ablehnung des Saarstatuts mit dem Mehrheitswahlrecht. Die FDP ihrerseits drohte der CDU mit der Ablehnung der Wiederbewaffnung und einer rechnerisch denkbaren Koalition mit der SPD. Dass diese Drohung nicht völlig aus der Luft gegriffen war, zeigten die Ereignisse in Nordrhein-Westfalen, wo der christlich-demokratische Ministerpräsident, Karl Arnold, durch ein von SPD und FDP getragenes konstruktives Misstrauensvotum gestürzt worden war. Dieser „Putsch“ der so genannten „Jungtürken“ in der FDP, unter ihnen die späteren Parteivorsitzenden Erich Mende und Walter Scheel, durch den die CDU/CSU ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat verlor, besiegelte das Ende der Koalition in Bonn, führte zur Abspaltung des Ministerflügels und zur Gründung einer kurzlebigen „Freien Volkspartei“, die eine Fraktionsgemeinschaft mit der „Deutschen Partei“ bildete und dann sehr schnell von der CDU aufgesogen wurde. Nach 1961 konnte die FDP zwar wieder in die Regierung zurückkehren, aber sie war – da sie im Wahlkampf eine Beteiligung an einer weiteren Regierung Adenauer ausgeschlossen hatte – mit dem Odium der „Umfallerpartei“ versehen. Ihre programmatische Erneuerung war stecken geblieben. Als sie 1966 erneut in die Opposition geriet, war eine politische und programmatische Erneuerung überfällig.
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Mehrere Faktoren kamen zusammen. Mitgliedschaft und Wählerschaft der FDP hatten sich stark verändert. Der neue Mittelstand wurde zu einer wichtigen Klientel und forderte einen reformierten und innovativen Liberalismus. Auf dem rechten nationalliberalen Flügel geriet die FDP unter massiven Druck durch die kometenhaft aufsteigende neonazistische NPD, die 1966/67 in sechs Landtage einzog (Bayern, 7,4%; Bremen, 8,8%; Hessen, 7,9%; Niedersachsen, 7%; Rheinland-Pfalz 6,9%; Schleswig-Holstein, 5,8%) und bei den Landtagswahlen im Stammland des Liberalismus, Baden-Württemberg, 1968 sogar 9,8% der Stimmen erreichte. Ihre besten Ergebnisse konnte die NPD in früheren Hochburgen des nationalliberalen FDP-Flügels erzielen. Mit dem „Hannoveraner Aktionsprogramm“ von 1967 leitete der erstarkende linksliberale Parteiflügel eine programmatische Erneuerung ein, die die FDP im Bereich der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und der Ost- und Deutschlandpolitik als moderne Reformpartei profilierte. Diese programmatische Entwicklung fand mit den „Freiburger Thesen“ ihren Abschluss (Flach/Maihofer/ Scheel, 1972). In diesen Thesen beschrieb sich die FDP als Partei, die sich in der Tradition der demokratischen Revolutionen des späten 18. Jhs. für eine „Demokratisierung und zugleich Liberalisierung des Staates aus dem Gedanken der Menschenwürde und Selbstbestimmung“ einsetzt und zugleich als moderne liberale Partei für eine „Demokratisierung der Gesellschaft“ eintrat. Sie sprach von einem „gewandelten Verständnis der Freiheit, das dem modernen Liberalismus die neue politische Dimension eines nicht nur Demokratischen, sondern zugleich Sozialen Liberalismus erschließt“ (Flach/Maihofer/Scheel, 1972: 58). In der 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition bemühte sich die FDP vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik um ein eigenständiges Profil – und es sind diese Bereiche gewesen, die dann Anfang der 1980er-Jahre wesentliche Ursache für den Bruch der Koalition und die „Wende“ der FDP zur CDU/CSU waren. Trotz der mehrmaligen Abspaltungen nationalliberaler und rechter Teile der Partei hat sich die FDP nicht, wie vielfach zu Beginn der sozial-liberalen Koalition gemutmaßt, von einer Partei des bürgerlichen Lagers zum natürlichen Verbündeten der Sozialdemokratie entwickelt. Im wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Bereich, z.B. in der Frage der Mitbestimmung, waren und sind die Unterschiede stets manifest gewesen und kulminierten, nachdem die Gemeinsamkeiten in der Rechts- und Innenpolitik und in der Ost- und Deutschlandpolitik aufgebraucht waren, im Bruch der sozial-liberalen Koalition. Nach dem Regierungswechsel von 1982 profilierte sich die FDP in erster Linie als wirtschaftsliberale Partei. Prominente Vertreter des sozial-liberalen Flügels hatten die Partei verlassen oder wurden an den Rand gedrängt. Dass auch das Problem eines nationalliberalen Flügels nicht endgültig gelöst war, zeigen die Auseinandersetzungen, die in den 1990er-Jahre ausbrachen, als eine Gruppe um den ehemaligen Generalbundesanwalt, Alexander von Stahl, eine betont nationale Politik der FDP forderte. Trotz anfänglicher Erfolge konnte die FDP aus der deutschen Einheit und der Übernahme der Liberalen Partei der DDR dauerhaft keinen Gewinn erzielen. Auf einem Parteitag am 11./12. August 1990 in Hannover hatte die FDP drei li-
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Von der sozialliberalen zur neoliberalen Partei
Vereinigung mit liberalen Parteien der DDR 1990
berale Gruppierungen der DDR übernommen: den Bund Freier Demokraten mit seinen ca. 135.000 Mitgliedern, die kleine FDP der DDR mit nur 2.000 Mitgliedern und die Forumspartei (die Schätzungen schwanken von ca. 3.000 bis zu nur 500 Mitgliedern). Der Mitgliederzuwachs war aber auch für die West-FDP nicht ohne Probleme, die selbst nur ca. 67.000 Mitglieder zählte. Durch einen komplizierten Delegiertenschlüssel für den Parteitag musste dafür gesorgt werden, dass die östlichen Landesverbände kein Übergewicht erhielten. Trotz anfänglicher Mitgliederstärke ist die FDP in Ostdeutschland fast von der politischen Bühne verschwunden – wie Bündnis 90/Die Grünen blieb sie eine reine West-Partei. Kampf um die Das Dilemma der FDP bleibt, dass zwischen den beiden Großparteien liberale Mitte CDU/CSU und SPD in der Mitte des politischen Spektrums wenig Platz ist. Dieser Raum wird noch enger, je mehr die Grünen sich als alternative Partei des Mittelstandes etablieren. Der „eigentliche“ politische Gegner der FDP sind inzwischen die Grünen. Hinzu kamen Machtkämpfe innerhalb der Parteiführung, fehlgesteuerte Wahlkämpfe, der Eindruck, die FDP entwickele sich zu einer single-issue-Partei (Steuersenkung) und vernachlässige ihr liberales, freiheitliches Profil und schließlich unappetitliche Kampagnen des lange Zeit einflussreichen Jürgen Möllemann. Sie führten zu einem Vertrauensverlust für die FDP bei ihrer klassischen Klientel, dem Bürgertum, der erst allmählich wieder gut gemacht werden konnte. Die Verbindung eher linksliberaler Vorstellungen in der Rechts- und Innenpolitik mit einem neoliberalen Wirtschaftskurs führte immer wieder zu Konflikten in der Partei. Das Selbstverständnis als „liberales Korrektiv“ in denkbar unterschiedlichen Koalitionen beantwortet die Frage nach dem eigenen Profil der FDP nur ex negativo.
9.4.5 Die Grünen Öffnung des politischen Spektrums durch die Erfolge der Grünen
Der Einzug der Grünen in den Bundestag bei den vorgezogenen Neuwahlen 1983 markierte einen tiefen Einschnitt in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik. Das seit Anfang der 1960er-Jahre konsolidierte Parteiensystem entwickelte sich zu einem Vier-Parteien System, das, wie die alsbald einsetzende Diskussion über denkbare „rot-grüne“ Bündnisse und die Bildung einer ersten Koalition von SPD und Grünen in Hessen im Jahre 1983 zeigten, perspektivisch völlig neue Bündnis- und Koalitionsmöglichkeiten eröffnete. Erstmals war es seit den frühen 1950er-Jahren einer neuen Partei, die erst drei Jahre zuvor formal gegründet worden war, gelungen, in den Bundestag (und die meisten Länderparlamente) einzuziehen. Nur die NPD war in den Wahlen 1969 nahe an die 5%Hürde herangerückt und war Ende der 1960er-Jahre in mehreren Landtagen vertreten. Bewegungspartei Die Grünen waren keine Parteineugründung im hergebrachten Sinne, die neuen Typs entweder durch Abspaltung von einer existierenden Partei oder durch die Aktivität einzelner politisch engagierter Bürger ins Leben gerufen wurde, sondern eine Bewegungspartei neuen Typs. Sie entstand unter sehr differenzierten regionalen
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Bedingungen als Partei von Bürgerinitiativen und kommunalen Wählervereinigungen mit unterschiedlichen, oft unvereinbaren ideologischen Positionen und politischen Zielen, die in einem Punkt übereinstimmten: Inhaltlicher Fokus waren die Abwendung von der bisherigen, auf der Ausbeutung und Verschwendung der Naturressourcen basierenden Wachstumspolitik, die in der einflussreichen Studie des „Club of Rome“ kritisch analysiert worden war und die grundsätzliche Ablehnung der friedlichen (und militärischen) Nutzung der Atomkraft. Hierin trafen sich Vertreter des klassischen Naturschutzgedankens, protestantische und pietistische Pazifisten, Umweltschützer aus dem ländlichen Milieu, Anthroposophen aus den bürgerlichen Mittelschichten, Konservative, wie der aus der CDU kommende Mitgründer der Grünen, Herbert Gruhl, versprengte Veteranen der Studentenbewegung, Mitglieder verschiedener K-Gruppen und kommunistischer Splitterparteien, „Spontis“ mit libertären und anarchistischen Neigungen und Ökobauern, deren ideologische Wurzeln gelegentlich in den „Blut-undBoden“ Ideen der völkischen Bewegungen der 20er- und 30er-Jahre zu finden waren. Dieses Konglomerat unterschiedlicher und unvereinbarer Vorstellungen macht verständlich, warum der Konstituierungs- und Konsolidierungsprozess als Partei von inneren Konflikten begleitet war, die sich über mehr als ein Jahrzehnt hinzogen. Dass es den Grünen gleichwohl in relativ kurzer Zeit gelang, einen festen Platz im Parteiensystem zu erobern, hängt damit zusammen, dass sie mit der Umweltproblematik und der seit Anfang der 1980er-Jahre ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins rückende Frage, ob die bisherige, auf atomarer Abschreckung beruhende Militärpolitik den Frieden sichern könne, zwei Themenfelder besetzte, in denen die „etablierten“ Parteien keine überzeugenden Antworten anzubieten hatten. Programmatisch legten sich die Grünen in ihrem Bundesprogramm von 1980 Programmatische auf vier Kernpunkte fest, die ihre politische Identität bestimmen sollten: gegen Aussagen unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum und die Verschleuderung und Plünderung natürlicher Ressourcen, gegen eine „ungezügelte“ Marktwirtschaft, die eine Bedrohung für die menschliche Lebensbasis darstelle, für eine basisdemokratisch orientierte Politik mit permanenter personeller Rotation des politischen Führungspersonals. Die programmatische Orientierung der Grünen griff klassische Vorstellungen des Naturschutzes und der Beseitigung negativer Folgen der Industrialisierung ebenso auf wie pazifistische Traditionen, Ideen der Rätebewegung und linke bündnispolitische Konzepte, in denen die Gewerkschaften immer eine herausragende Rolle gespielt hatten. Das spezifische und den Erfolg der Grünen begründende Element war die Prioritätensetzung zu Gunsten der Ökologie, die mehr als traditionellen Naturschutz meinte, nämlich einen neuen Lebensstil, eine neue, grundsätzlich andere Wirtschaftsweise und die Wiedergewinnung des politischen Raums durch die Bürger. Die Unterordnung der Ökonomie unter die Ökologie und die Forderung nach einer Umgestaltung des politischen Systems im Sinne der Basisdemokratie stellten den entscheidenden Unterschied und die wichtigste programmatische Innovation der Grünen in der deutschen Politik dar und unterschied sie lange Zeit, trotz
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aller zwischenzeitlich erfolgten Anpassung an die realpolitischen und institutionellen Gegebenheiten, von den anderen Parteien. Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte hatten die Grünen anfangs eine größere Nähe zur SPD, als zu anderen Parteien. Das Gros der Führungsfiguren der Partei kam aus linken Gruppierungen und war in der Zeit der Studentenbewegung politisch sozialisiert worden. Viele ihrer Aktivisten und Wähler waren zuvor Anhänger oder Mitglieder der Sozialdemokratie. Bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen, aber auch bezüglich neuer politischer Strategien der Friedenssicherung, gab es Berührungspunkte zu Teilen der SPD. Das gleiche galt für Ideen über eine Erweiterung politischer Partizipationsmöglichkeiten und die Auflockerung des streng parlamentarisch-repräsentativen politischen Systems der Bundesrepublik. Verortung der Darüber blieb zunächst verborgen, dass der anti-etatistische Grundzug grüGrünen im ner Politik durchaus auch Affinitäten zu liberalen Vorstellungen aufweist – man Parteiensystem denke an die Skepsis gegenüber überbordender Staatstätigkeit und die Frage der Sicherung individueller Freiheitsrechte. Auch zur Union gibt es Berührungspunkte. Hier sind bei vielen grünen Politikern christliche oder anthroposophische, stark normativ geprägte ganzheitliche Politikvorstellungen zu nennen. Vor allem gibt es eine Nähe zu Ideen der christlichen Soziallehre und des von ihr entwickelten „Subsidiaritätsprinzips“, das die Regelung sozialer Vorsorge nicht per se dem Staat, sondern der freiwilligen Solidargemeinschaft der Bürger zuweist. Demgegenüber sind die Vertreter extrem linker Positionen, die zum Anfang die Szene beherrschten, entweder durch die Notwendigkeiten der „Realpolitik“ domestiziert oder haben in einer der vielen Abspaltungen die Partei verlassen. Der Dauerkonflikt zwischen linken und ökologisch-fundamentalistischen Prinzipien und den Notwendigkeiten der Realpolitik hat die zur Parlamentspartei gewordenen Grünen durch die 1980er-Jahre hindurch begleitet und nahe an den Punkt des Scheiterns gebracht. Hätte ihnen nicht paradoxerweise die von ihnen seinerzeit noch heftig kritisierte staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung eine solide finanzielle Grundlage verschafft, wäre ihre Existenz ernsthaft gefährdet gewesen. Der öffentliche Dauerstreit und eine völlige Verschiebung der politischen Prioritäten im deutschen Einigungsprozess, dem die Grünen mit erkennbarer Distanz gegenüber standen, ließ sie bei der Bundestagswahl 1990 an der 5%Hürde scheitern. Ihr parlamentarisches Überleben wurde nur durch das mit ihr verbundene Wahlbündnis von Grünen und Bündnis 90 gesichert, das im ostdeutschen Wahlgebiet, in dem für diese Wahlen eine eigene Sperrklausel galt, mit 5,9% der Stimmen den Einzug in den Bundestag schaffte. Die Grünen waren dem deutschen Vereinigungsprozess mit demonstrativer Abneigung begegnet. Ihre Begeisterung für das Volk, das im Herbst 1989 in der DDR auf die Straße gegangen war, schlug in Aversionen um, als die Demonstranten riefen: „Wir sind ein Volk“. Die Grünen sprachen von „Wiedervereinigungsrausch“ und der Gefahr eines neuen „Großdeutschland“. Parolen wie „Nie wieder Deutschland“ und die Warnung vor einem „Vierten Reich“ machten im grün-alternativen Milieu der Bundesrepublik die Runde.
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Nach der Bundestagswahl waren es die acht ostdeutschen Bundestagsabgeordneten des nur nach großen Mühen zu Stande gekommenen Wahlbündnisses von Bündnis 90/Die Grünen aus Ostdeutschland, die für eine Kontinuität parlamentarischer Repräsentanz zu sorgen hatten. Sie standen dabei vor einem doppelten Dilemma: Als Interessenvertreter der ehemaligen DDR-Bürger, die in ihrer Mehrheit unmittelbar materielle Interessen nach wirtschaftlichem Wachstum, sicheren Arbeitsplätzen, langlebigen Konsumgütern und westlicher Lebensweise präferierten und postmateriellen Werten, wie sie die Wählerklientel der Grünen im Westen vertrat, geringe Priorität einräumten, hatten sie andere Schwerpunkte zu setzen als ihre westlichen Partner. Als „Statthalter“ des West-Grünen im Bundestag mussten sie aber zugleich die Tradition der jungen Ökologiebewegung vertreten, ohne deren Erfahrungen zu teilen. Von der westdeutschen Wählerschaft der Grünen und der Grünen Partei wurden sie zudem mit einem gewissen Misstrauen beobachtet, weil sie sich nicht auf „linke“ Positionen festlegen ließen. Die Niederlage vom Herbst 1990 zwang die Grünen in Westdeutschland zu einem Revirement der politischen Programmatik und Strategie und zur Beendigung der abschreckenden Dauerkämpfe zwischen Ideologen und Realpolitikern. Gefördert wurde dieser Klärungsprozess durch das Selbstbewusstsein der Vertreter von Bündnis 90, die den von linksradikalen Traditionen geprägten ideologischen Debatten der westdeutschen Grünen wenig abgewinnen konnten und durch ihre sachorientierte Politik im Deutschen Bundestag Maßstäbe setzten. Viele Beobachter waren sich nach 1990 nicht sicher, ob es den Grünen im Westen gelingen werde, diese Niederlage zu überleben. Nicht nur die aktuellen Fehleinschätzungen ließen eine skeptische Prognose zu, sondern vor allem der Umstand, dass die anderen Parteien in unterschiedlicher Weise Themenfelder der Grünen besetzten und in ihre eigene Programmatik und Politik aufnahmen. Die Einrichtung eines Bundesministeriums für Umweltschutz nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 war nicht nur ein geschickter Akt symbolischer Politik, sondern verwies auf eine vorsichtige politische Kursänderung. Die Anfang der 1980er-Jahre so attraktiv erscheinende enge Verkopplung der Prinzipien ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei, und den damit verbundenen Anspruch einer grundsätzlich neuen Politik, haben die Grünen im Laufe ihrer realpolitischen Wende nicht aufrechterhalten können. In ihrer Zeit als Regierungspartei von 1998 bis 2005 hat sich der Anpassungsprozess der Grünen an die Imperative der Realpolitik mit atemberaubendem Tempo beschleunigt. Als eines neben vielen Beispielen dieser Wandlung kann die Unterstützung und aktive Propagierung eines „moralischen Interventionismus“ 1999 im Kosovo und nach 2001 in Afghanistan angeführt werden – für eine Partei, die eine ihrer Wurzeln im Pazifismus hat, ein bemerkenswerter Wandel. Geblieben ist eine Partei, die als inzwischen etabliertes Mitglied des Parteiensystems, ebenso wie die anderen Parteien den Bürgern und Wählern eine bestimmte politisch-programmatische Produktpalette anbietet. Die Erwartungen der Mehrheit der Wähler der Grünen unterscheiden sich heute nicht mehr grundsätzlich von denen der Wähler anderer Parteien. Es geht neben inhaltlichen politischen Präferenzen in entscheidendem Maße um die Frage, ob und in welchen
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Scheitern der Grünen bei der Bundestagswahl 1990
Realpolitische Wende der Grünen
denkbaren Bündniskonstellationen sich die Ziele der Grünen politisch umsetzen lassen. Aus einer Partei des Systemprotestes und einer normativ begründeten neuen Politik ist nach sieben Jahren Regierungstätigkeit im Bund ein Mitspieler neben anderen im Kampf um politische Macht geworden.
9.4.6 PDS-Die Linke
Die KPD in der frühen Bundesrepublik
Gründung der DKP 1969
Mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) entstand im vereinten Deutschland erstmals seit der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Partei links von der SPD, die auch auf Bundesebene Wahlerfolge verzeichnen konnte, obwohl sie im Kern eine ostdeutsche Partei geblieben ist. Als Partei, die aus der SED der DDR hervorgegangen ist, hat sie, auch wenn sie sich dezidiert als demokratische Partei begreift, in der alten Bundesrepublik zwei durchaus unterschiedliche Vorgänger: die KPD und die DKP. KPD und DKP waren aber besondere Parteien – sie waren quasi die Statthalter der DDR im politischen Spektrum der alten Bundesrepublik. Die KPD, Ziehkind der Sowjetunion, war die erste, durch den Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration vom Juni 1945 zugelassene Partei im Nachkriegsdeutschland. Nach der erzwungenen Vereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der Sowjetischen Besatzungszone im April 1946 existierte sie nur noch in den westlichen Besatzungszonen. Die KPD war nie viel mehr als die westdeutsche Sektion des von der KPdSU gelenkten „internationalen Kommunismus“ unter politischer Anleitung der SED. Sie hatte in den Westzonen traditionell einige Hochburgen, vor allem in Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet oder in Hamburg, verlor aber im sich entwickelnden Kalten Krieg und im Zeichen des „Wirtschaftswunders“ sehr schnell an Einfluss. Auch ohne das Verbot durch das Bundesverfassungsgericht 1956 wäre die KPD zu einer zu vernachlässigenden politischen Größe in der Bundesrepublik geworden. Es war also bereits bei Klageerhebung deutlich, dass die KPD und ihre Vorfeldorganisation keinen nennenswerten Einfluss auf die Entwicklung in der Bundesrepublik ausüben konnten. 1956 spielte die KPD als politische Partei keine Rolle mehr. Eine neue Situation entstand, als in den 1960er-Jahren im Kontext des sich ausweitenden Jugendprotestes und einer erkennbaren Entschärfung der OstWest-Konfrontation die Möglichkeiten einer Wieder- oder Neugründung der KPD in der Bundesrepublik getestet wurden und damit die Frage nach der weiteren Geltung der Verbotsverfügung des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfen wurde. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), eine von der SED personell und finanziell unterstützte Gruppierung, der es in den Jahren bis 1989 nur in einigen Universitätsstädten gelang, in Kommunalparlamente einzuziehen, gründete sich im September 1968 als Initiativausschuss und im April 1969 auf einem Parteitag in Essen als Partei. Vorausgegangen waren „Wiederzulassungskampagnen“, die vom illegalen KPD-Apparat in der Bundesrepublik und aus der DDR gesteuert wurden und die Aufhebung des KPD-Verbotes zum Ziel hatten. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens führte schließlich zur „Neukonstituierung“ einer kommunistischen
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Partei, die sich – die Begründungen des Bundesverfassungsgerichts über die Unvereinbarkeit der Diktatur des Proletariats mit einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung im Blick – formal zum Grundgesetz und zugleich zur „sozialistischen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft“ in der Bundesrepublik bekannte (Bärwald, 1970: 43). Bis zum Ende der DDR fristete sie, obwohl von der SED finanziell großzügig ausgestattet, ein Leben als Splitterpartei, der es allerdings zeitweise gelang, auf dem Wege kommunistischer Bündnispolitik und der Beteiligung ihrer Mitglieder an der Friedensbewegung und in Bürgerinitiativen einen Einfluss auf das außerparlamentarische politische Spektrum auszuüben. Dieser Einfluss blieb freilich immer begrenzt und hat, von wenigen unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, nicht zu einer Steuerung durch die Kader der DKP geführt. Mit der PDS trat nach 1989 ein neuer Typus von Partei auf, der in den Transformationsländern gemeinhin als „reformkommunistisch“ etikettiert wird. Aus der SED hervorgegangen, hat sie sich in mehreren Etappen zu einer linkssozialistischen Partei entwickelt, die in ihrer Programmatik die Normen und Regeln des demokratischen Wettbewerbs anerkennt und ihre weiter reichenden Ziele mit demokratischen und parlamentarischen Mitteln zu erreichen sucht. Obwohl sie bei den Bundestagswahlen entweder die 5-%-Hürde überschreiten konnte oder, wie von 2002 bis 2005 durch Direktmandate im Bundestag vertreten ist, blieb die PDS eine ostdeutsche Partei. Als solche aber ist sie die einzige „Volkspartei“ in Ostdeutschland. Nur sie verfügt über eine solide, wenngleich vom ökonomischen, sozialen, demographischen und kulturellen Wandel nicht unbeeinflusste soziale Verankerung in der Bevölkerung. Sie ist die Partei mit der stärksten und am besten organisierten Mitgliedschaft. In vielen Landesparlamenten ist sie zweitstärkste Partei. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Juniorpartner in einer Koalition mit der SPD. In vielen Kommunalparlamenten ist die PDS stärkste oder zweitstärkste Partei. Zudem verfügt sie über eine Reihe von Vorfeldorganisationen, die ihre soziale Verankerung in Ostdeutschland verstärken. Im Dezember 1989 als Auffangbecken für eine gescheiterte Kaderpartei gegründet, startete die PDS als eine spezifische Mischung zwischen Protest- und Weltanschauungspartei (Neugebauer/Stöss, 1996: 238 f.). Inzwischen hat sie sich zunehmend zu einer regionalen Milieupartei mit breiter Wählerschaft entwickelt. Es gelingt ihr erfolgreich, den Anspruch, die Interessenvertreterin der Ostdeutschen zu sein, in Wählerstimmen umzumünzen. Ihre Wählerschaft weist zugleich ein relativ klares Sozialprofil aus. Es sind vor allem Angestellte und Beamte, sowie kirchenferne Wähler, die die PDS wählen; sie findet aber auch Zuspruch bei neuen Selbständigen, Landwirten und Arbeitern. Ihre Existenz hängt am Fortbestand der gegenwärtigen, als strukturelle Benachteiligung der Ostdeutschen wahrgenommenen Situation. Ob es ihr gelingen wird, ihre regionale Verankerung dauerhaft zu behaupten und damit ihre Existenz zu sichern, quasi als ostdeutsche CSU, erscheint langfristig zumindest fraglich. Offen ist auch noch das Ergebnis des Versuchs der „Westausdehnung“. Nachdem es der PDS in fünfzehn Jahren nicht gelungen war, in der westdeutschen politischen Landschaft Fuß zu fassen, bot sich im Jahre 2005 mit der Neu-
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gründung der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) eine Alternative. Der WASG, von unzufriedenen SPD-Anhängern und Gewerkschaftern der mittleren Funktionärsebene gegründet, gelang es im Wahlkampf genügend Wähler im Westen zu mobilisieren, um der gemeinsamen Wahlliste mit der PDS 8,7 % der Wählerstimmen (gegenüber 4 % im Jahre 2002) zu verhelfen. Eine nicht unwesentliche Rolle hat dabei die Tatsache gespielt, dass der ehemalige Parteivorsitzende der SPD, Oskar Lafontaine, als ausgewiesener Kritiker der Regierungspolitik die WASG anführte. Die anschließenden Bemühungen aus PDS (die bereits mit dem neuen Namen PDS-Die Linke in den Wahlkampf gezogen war) und WASG eine neue Linkspartei zu schaffen, standen von Anbeginn unter keinem günstigen Stern. Zu tief sind die politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Anhängern dieser beiden Gruppierungen.
9.4.7 Rechtsradikale und rechtsextreme Parteien Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus
Seit dem Jahre 1990 beobachtet der Verfassungsschutz eine deutliche Zunahme rechtsextremer und neonazistischer Aktivitäten, ihre generalstabsmäßig geplante und organisierte Ausdehnung nach Ostdeutschland und zunehmende nationale und internationale Vernetzung (Verfassungsschutzbericht 2005: 45 ff.). Als gemeinsame ideologische Grundlage der in sich nicht homogenen rechtsextremistischen Gruppierungen macht das Bundesamt für Verfassungsschutz überzogenen Nationalismus und Rassismus aus. Auf den ersten Blick erscheint diese Entwicklung keinen Anlass zur Sorge zu geben, denn es hat in der Bundesrepublik zu verschiedenen Zeiten „Konjunkturen“ für rechtsradikale und rechtsextreme Parteien gegeben, die sich auch in Wahlerfolgen niederschlugen. Diese Konjunkturen haben sich aber zumeist als temporär erwiesen. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist aber ein deutlicher Wandel in der rechtsradikalen und rechtsextremen politischen Szene zu beobachten, wobei die drei wichtigsten Parteien in diesem Spektrum, die „Republikaner“ (REP), die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) und die „Deutsche Volksunion“ (DVU) eine wichtige Rolle spielen. In der politischen Auseinandersetzung mit diesen Parteien geht es prima vista um ihre Einordnung als „rechtspopulistisch“, „rechtsradikal“ oder „rechtsextrem“. Welche Kriterien heranzuziehen sind, um eine Partei oder Gruppierung einer dieser Richtungen zuzuordnen, ist strittig (Druwe, 1996; Gessenharter, 1998; Grumke, 2002). Die Begriffe werden mit einer gewissen Beliebigkeit verwandt und sind oft wenig präzise. Streit gibt es auch darüber, ob es sich beim Rechtsextremismus oder bestimmten seiner Ausdrucksformen um eine „soziale Bewegung“ handelt (Koopmans/Rucht, 1996). Zuordnungskriterien Die grobe Unterscheidung zwischen „altrechtem Extremismus“, der „neuen Rechten“ und einem „Rechtspopulismus“ (Lenk, 1998: 13) erscheint zwar nicht befriedigend, erlaubt aber in Bezug auf die rechte Parteienszene eine hinreichend genaue Zuordnung, wenn sie um solche Gruppierungen ergänzt wird, die offen oder versteckt die nicht eindeutig markierbare Grenze zum „Neonazismus“ überschreiten: 1. Der rechte Radikalismus alter Prägung hat seine ideologischen Wurzeln in völkischen, nationalistischen und chauvinistischen Ideologien und hat meist 466
eine mehr oder weniger enge Affinität zu nationalsozialistischem Gedankengut. Die Zahl dieser Gruppierungen und Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik ist Legion. Nur einige wenige erlangten eine gewisse Bedeutung und konnten sich in Wahlen behaupten. Zu nennen sind neben einer Reihe anderer Gründungen in der Frühzeit der Bundesrepublik vor allem die 1952 vom Bundesverfassungsgericht verbotene „Sozialistische Reichspartei“ (SRP), die 1964 gegründete und kurze Zeit sehr erfolgreiche „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) und die 1971 als Auffangbecken für enttäuschte NPD-Wähler gegründete „Deutsche Volksunion“ (DVU) des Verlegers rechtsextremen Schrifttums, Gerhard Frey, oder die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP). Fließend sind bei einigen dieser Gruppierungen die Grenzen zum offenen Nationalsozialismus und rechten Terrorismus. Beispiele sind die vom Bundesinnenministerium 1992 verbotene „Nationale Front“ (NF) oder die im gleichen Jahr verbotene „Nationale Sammlung“ (NS). 2. Als rechtspopulistisch lassen sich Parteien bezeichnen, die unter Rückgriff auf extrem nationalistische und chauvinistische Ideen und bei unklarer Abgrenzung gegenüber dem Rechtsradikalismus unter populären Parolen Unzufriedenheit mit dem politischen System oder den Parteien auf ihre Mühlen zu lenken suchen. In einigen Nachbarländern sind solche Parteien sehr erfolgreich. Erfolgreichste Partei dieses Typus waren Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre die „Republikaner“. Festzuhalten ist, dass es den rechtspopulistischen Gruppen in Deutschland in vergleichender Sicht nicht einmal ansatzweise gelungen ist, ähnliche Erfolge zu erringen, wie etwa in Frankreich, Italien oder Österreich. 3. Unter dem Begriff Neue Rechte werden in jüngerer Zeit eine Reihe kleinerer Gruppierungen und intellektueller Zirkel zusammengefasst, die in der Tradition der „Konservativen Revolution“ der Weimarer Republik (Moeller van den Bruck) nach dem Ende des „Sonderweges Bundesrepublik“ die Rolle Deutschlands als mitteleuropäischer Hegemonialstaat betonen und der „Verwestlichung“ entgegentreten (Lenk, 1998: 14). Bezüge sowohl zum Rechtsextremismus und -populismus als auch zu etablierten Parteien lassen diese Neue Rechte bislang als eine diffuse, führerlose Sammlungsbewegung erscheinen, die offenkundig auf eine „Haiderisierung“ als Perspektive setzt. 4. Mit Besorgnis registrieren die Sicherheitsbehörden einen Pradigmenwechsel im rechtsextremen Lager, der dazu führt, dass die z.B. von der NPD lange Zeit zumindest nach außen aufrecht erhaltene Abgrenzung gegenüber neonazistischen und offen gewaltbereiten Gruppen aufgegeben wird. Insbesondere in Ostdeutschland, entsteht ein neues rechtsextremes Milieu, das in bestimmten Regionen, vor allem in Sachsen und Brandenburg, politische und kulturelle Spuren hinterlässt. Besorgnis erregend ist auch die von den Sicherheitsbehörden beobachtete zu- Internationale nehmende europäische und internationale Vernetzung, nicht zuletzt unter aktiver Vernetzung Nutzung des Internet. Rechtsextreme Parteien und Gruppierungen verstärken ihre Vernetzung im europäischen Raum, wobei sie die gemeinsame Ablehnung des europäischen Einigungsprozesses und der „Kampf gegen staatliche Repression“, angebliche 467
„kulturelle Überfremdung“ und meist auch, wenngleich nicht offen formuliert ein aggressiver Antisemitismus eint (Verfassungsschutzbericht, 2005: 122). Rechtsextremistische In der Geschichte der Bundesrepublik waren mehrere Phasen relativer ErfolParteien in den ge rechter Parteien zu konstatieren. Seit den frühen 1950er-Jahren entstand eine Parlamenten Vielzahl von rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien, von denen einige in kommunale und Landesparlamente einziehen konnten. Erfolgreich um Parlamentsmandate auf Landesebene bewarben sich die „Republikaner“, NPD und die DVU. Tabelle 8: Rechtsextremistische Parteien in den Länderparlamenten Bundesland 1960er- und 1970er-Jahre: Hessen Bayern Schleswig-Holstein Rheinland-Pfalz Niedersachsen Bremen Baden-Württemberg 1980er- und 1990er-Jahre: Bremen Berlin (West) Bremen Baden-Württemberg Schleswig-Holstein Baden-Württemberg Sachsen-Anhalt Brandenburg Seit 2000Brandenburg Sachsen*
Jahr der Wahl
Anteil in %
Partei
1966 1966 1967 1967 1967 1967 1968
7,9 7,4 5,8 6,9 7,0 8,8 9,8
NPD NPD NPD NPD NPD NPD NPD
1987 1989 1991 1992 1992 1996 1998 1999
3,4 7,5 6,2 10,9 6,3 9, 12,9 5,3
DVU Rep. DVU Rep. DVU Rep. DVU DVU
2004 9,2
6,1 NPD
DVU NPD
* Bundestagswahl 2005: 4,8 %
Rechtskonservatives Gedankengut war auch in vielen vorübergehenden Parteigründungen der Nachkriegszeit, wie der „Wirtschaftlichen Wiederaufbau Vereinigung“ (WAV) oder der vor allem in Niedersachsen beheimateten „Deutschen Partei“, präsent. Der von ehemaligen Nationalsozialisten gegründeten SRP gelang es 1951 mit 11% der Stimmen in den niedersächsischen Landtag und mit 7,7% in die bremische Bürgerschaft einzuziehen, bevor sie 1952 verboten wurde. Mitte der 1960er-Jahre sorgten die Erfolge der NPD für Aufregung. Sie war zeitweise in sieben Landtagen vertreten und verfehlte 1969 mit 4,3% der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag. DVU und In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren waren es vor allem zwei Republikaner Parteien, die auf der Rechten temporäre Erfolge erzielten: die DVU und die Republikaner. Beide schöpften im Wesentlichen aus dem gleichen Wählerpotential. Die DVU ist eine straff geführte Kaderorganisation des rechtsradikalen Verlegers Gerhard Frey aus München. Sie erzielte 1991 bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen 6,2%, ein Jahr später in Schleswig-Holstein 6,3% und 1997 in Hamburg 4,9% der Stimmen. In den Großstädten konnte sie ihre Erfolge vor allem in den „sozialen Brennpunktgebieten“ erzielen. Den sensationellen Wahlerfolg bei 468
der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni 1998 mit 12,9% konnte sie entgegen verbreiteten Befürchtungen nicht wiederholen. Der Aufstieg der Republikaner begann bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin im Jahre 1989, wo sie einen Stimmenanteil von 7,5% erringen konnten. Besonders hohe Stimmenanteile erzielten sie in den Arbeiterbezirken und früheren SPD-Hochburgen wie Wedding und Neukölln. Internationale Aufmerksamkeit erregten die Republikaner 1991 durch ihr Abschneiden bei den Europawahlen (7,1%). Regionaler Schwerpunkt ihrer Erfolge ist Baden-Württemberg, wo sie 1992 mit 10,9% und 1996 mit 9,1% in den Landtag einzogen, im Jahre 2001 und 2006 aber an der 5 %-Sperrklausel scheiterten. Für DVU und REP gilt, dass sie ihre Wähler vor allem aus dem Kreis der objektiven oder subjektiven Modernisierungsverlierer rekrutieren. Erfolge von DVU oder REP bedeuten nicht unbedingt, dass es ein gefestigtes rechtsradikales Wählerpotential gibt, die Wählerschaft dieser Parteien ist nach wie vor fluide. Sie ist jedoch für Parolen und Ideologeme anfällig, sodass es bei einer Verschärfung der ökonomischen und sozialen Krise und dem Auftauchen einer charismatischen Führungsperson durchaus vorstellbar ist, dass nach dem Vorbild der FPÖ unter Jörg Haider, der Lega Nord des Umberto Bossi oder des Front National von Jean-Marie le Pen eine rechtspopulistische Sammlungspartei mit deutlich rechtsradikalen Tendenzen entstehen könnte. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist festzustellen, dass sich das rechte politische Lager radikalisiert und die Grenzen zwischen den Parteien, insbesondere der NPD und neonazistischen und gewaltbereiten Gruppierungen und Skinheads fließend werden. Die NPD setzt nach einer existenziellen Krise in den frühen 1990er-Jahren verstärkt auf einen Schulterschluss des „nationalen Lagers“. Zudem ist eine Art Doppelstrategie auszumachen: Ausnutzung des Parlaments als Tribüne für politische Agitation und unverhohlene Provokation, wie im sächsischen Landtag und zugleich Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppen und der Versuch, eine kulturelle Hegemonie unter Jugendlichen zu erobern (McGowan, 2002: 173 ff.; Pfahl-Traughber, 2002: 43) In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, ausgelöst durch eine Welle rechtsgerichteter Gewalttaten gegen Migranten und jüdische Einrichtungen war eine Anzahl von rechtsextremistischen und neonazistischen Vereinigungen nach Maßgabe des Vereinsgesetzes verboten worden. Als Ergebnis dieser Verbote hat sich ein Netzwerk von informellen „Kameradschaften“, militanten Neonazis, gewaltbereiten Skinheads und Musikgruppen herausgebildet (Röpke/Speit 2004), die enge Kontakte mit der NPD pflegen und von dieser unterstützt werden. Die NPD hat in diesen Jahren eine neue Strategie entwickelt, das so genannte "DreiSäulen-Konzept" ("Kampf um die Straße", "Kampf um die Köpfe" und "Kampf um die Parlamente"). Sie argumentiert (u.a. vor dem Bundesverfassungsgericht, diese Strategie sei entwickelt worden, „um ihre gesellschaftliche Ächtung und Isolation“ zu durchbrechen (2 BvB 1/01: 16). Dieser Strategiewechsel im rechtsextremistischen Lager und eine Welle von politisch motivierten Gewalttaten im Jahre 2000 führten Anfang 2001 zum Antrag der Bundesregierung, des Bundestages und des Bundesrates, die NPD zu verbieten.
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Radikalisierung des rechten Lagers
Verbotsantrag gegen die NPD
Es kam nicht zu einem Verfahren in der Hauptsache, weil das Gericht nur mit einer Mehrheit von 4:3 (erforderlich wäre eine qualifizierte Mehrheit gewesen – § 15 Abs. 4 BVerfGG) verneinte, dass auf Grund der extensiven Durchsetzung der Führungsspitze der NPD mit V-Leuten des Verfassungsschutzes und der Weigerung der Bundesregierung, ihre Quellen offen zu legen, einem weiteren Gang des Verfahrens formale und rechtliche Hindernisse im Wege stünden. Den politischen und rechtlichen Kern haben die Richter Broß, Hassemer und Osterloh in ihrer Stellungnahme präzise benannt: Die „rechtsstaatlichen Anforderungen an das Parteiverbotsverfahren … [gebieten] strikte Staatsfreiheit im Sinne unbeobachteter selbstbestimmter Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei vor dem Bundesverfassungsgericht. Das verfassungsgerichtliche Parteiverbot, die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde, braucht ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfahrens.“ (2 BvB 1/01: 86)
Die Absicht, ein politisches Problem, nämlich die Erfolge des rechten Extremismus auf juristischem Wege zu „lösen“ hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Da nicht zu erwarten ist, dass die Sicherheitsbehörden ihre Politik gegenüber extremistischen Gruppen grundsätzlich ändern werden, kann dieses Urteil nicht nur als Erfolg für die NPD gewertet werden, es hat auch die Hürden für denkbare zukünftige Parteienverbotsanträge noch höher geschraubt, als sie sowieso schon waren. Die als scharfe Waffe gegen Feinde der Demokratie gedachte Möglichkeit des Parteiverbots hat sich als stumpf erwiesen.
9.5 Organisierte Interessen Neben den staatlichen Institutionen und den Wahlbürgern haben die Institutionen des „intermediären Sektors“ einen wichtigen Anteil an der politischen Willensbildung. Neben den Parteien sind dies vor allem die Verbände oder organisierten Interessen. Verbände als Verbände sind Organisationen, die in modernen, ausdifferenzierten Gesell„intermediäre schaften spezifische Anliegen gesellschaftlicher Gruppen gegenüber anderen Institutionen“ Gruppen mit abweichenden oder entgegengesetzten Interessen zur Geltung bringen und/oder die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Politik (Parlament, Regierung, Parteien) und der Öffentlichkeit vertreten. Anders als politische Parteien, die ebenso wie organisierte Interessengruppen als „intermediäre Institutionen“ bezeichnet werden, streben sie keine unmittelbare Übernahme der oder Beteiligung an der Macht an. Macht üben sie indirekt aus, durch ihre Organisationsund Mobilisierungsfähigkeit, ihre finanziellen Möglichkeiten, gezielte Einflussnahme auf die Politik durch „lobbying“, mediengerechte Kampagnen oder ihre Vertreter in den Parteien und Parlamenten. Sie unterscheiden sich aber auch von „Vereinen“, die keine direkte Einflussnahme auf die Politik suchen, es sei denn, die eigenen Handlungsmöglichkeiten werden durch politische Entscheidungen massiv eingeschränkt oder in Frage gestellt.
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Verbände vertreten Interessen sozialer Gruppen, die um Einfluss und Ressourcen streiten. Für das Verständnis der Verbände sind also die Begriffe „Interesse“ und „Konflikt“ zentral.
9.5.1 Organisierte Interessen und das Gemeinwohl Der Begriff Interesse ist integraler Bestandteil der liberalen Gesellschafts- und Staatsauffassung. Bei Adam Smith werden die Menschen durch das Verlangen, ihre materielle Situation zu verbessern, geleitet. Alle Leidenschaften münden in den Trieb nach Vermehrung des Reichtums. Das eigennützige „utilitaristische“ Handeln – vor allem rationales Wirtschaften – ist gesellschaftlich erwünscht, weil es die Individuen auf bestimmte Verfahren und Verhaltensweisen festlegt, die auch für das gesellschaftliche Ganze nutzbringend sind. Gesellschaftliches Handeln wird nicht danach bewertet, aus welchen normativen Motiven es entspringt, sondern daran gemessen, welche Folgewirkungen es hat. Diese deutschem politischen Denken weitgehend fremde Vorstellung ist im „Utilitarismus“ (Jeremy Bentham) in der Formel vom „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl“ kodiert. Das Interesse der Gesellschaft besteht in der Summe des Interesses ihrer Mitglieder. Für konservatives Denken war und ist der Begriff Interesse zum Teil noch immer problematisch. Es sieht in der freien Organisation von Interessen eine Bedrohung der Autoritätsstruktur des Staates. Interessen sind potentiell gegen das „Gemeinwohl“ oder gegen die „Gemeinschaft“ gerichtet. Der deutsche Konservativismus sah in den sich organisierenden Interessen nur einen Störfaktor. Gegen die „partikularistischen Einzelinteressen“, die den „Gemeinschaftswillen des Volkskörpers“ zersetzten, stellte er die korporative Vorstellung einer, dem Gesamt der „Staatsinteressen“ dienenden Verbandsstruktur. Auch heute noch ist das Verhältnis von legitimer Vertretung von Eigeninteressen und den Voraussetzungen für eine gemeinwohlorientierte Politik umstritten. Kontrovers ist auch die Frage, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang verbindliche gemeinsame Normen und Wertüberzeugungen haben. Weitgehend unbestritten ist, dass ein politisches Gemeinwesen über ein Mindestmaß an Übereinstimmung verfügen muss, weil es sonst auf Dauer nicht lebens- und überlebensfähig ist. Zugleich aber ist, um mit Ernst Fraenkel zu sprechen, eine „kollektive Geltendmachung von partikulären Interessen unerlässlich erforderlich“ (Fraenkel, 1991: 301). Weniger eindeutig ist die mit der Anerkennung von Interessen unlösbar verbundene Bereitschaft, aus Interessenunterschieden erwachsende Konflikte anzuerkennen. Häufig werden das Gemeinwesen und der „Grundkonsens“, den es zu wahren gelte, beschworen, wenn soziale oder politische Konflikte aufbrechen. So wird z.B. bei drohenden Streiks nicht nur der zu erwartende ökonomische Schaden ins Feld geführt, sondern auch der „Arbeitsfriede“ als Errungenschaft des deutschen Tarifvertragssystems. Diese normativen Argumente, denen nicht grundsätzlich widersprochen werden kann, übersehen oft die positive Rolle sozialer Konflikte in modernen Gesellschaften.
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Definition und Geschichte des Begriffs Interesse
Partikularinteressen und gemeinwohlorientierte Politik
Ralf Dahrendorfs Theorie sozialer Konflikte
Handlungsrahmen von Interessenpolitik
Gemeinwohl und Interessen bei Ernst Fraenkel
Für Ralf Dahrendorf sind Konflikte das Ergebnis sozialer Ungleichheit und aus ihr erwachsener Herrschaft. Konflikte bilden aber zugleich „die Quelle des Fortschritts einschließlich der Ausweitung menschlicher Lebenschancen“ (Dahrendorf, 1992: 48). Diese Konflikte können außer Kontrolle geraten, vor allem dann, wenn die Lebenschancen extrem ungleich verteilt sind. Ähnlich wie die Parteien, entwickelten sich die klassischen Interessengruppen wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, regionale, oder konfessionelle Interessenorganisationen entlang der Konfliktlinien, die sich in der Zeit der Industrialisierung und der modernen Nationalstaatsbildung herauskristallisiert hatten. Moderne Interessengruppen sind nicht mehr ohne weiteres dem Gegensatz Kapital – Arbeit, Stadt – Land, Zentrum – Peripherie oder Staat – Kirche (Lipset/ Rokkan, 1967) zuzuordnen. Konfliktlinien und ihre institutionelle Entsprechung in den Verbänden (und Parteien) ist diffuser und unübersichtlicher geworden, gleichwohl spiegeln die Verbandssysteme in gewisser Weise historische Konflikte und cleavages auch dann noch wieder, wenn sich diese historisch „erledigt“ haben oder ihre Brisanz verloren haben. Die Gründe dafür sind das Selbstbeharrungsvermögen von Organisationen und Institutionen und ein über längere Zeiträume angesammeltes Kollektivgut: Gemeinschaft, auf die Verbandsmitglieder nicht verzichten möchten. Das einschlägige Beispiel in der Bundesrepublik sind die Vertriebenenverbände. Verändert hat sich auch das Verhältnis Verbände-Parteien-Staat. Eindeutige Zuordnungen bestimmter Verbände zu bestimmten Parteien und bestimmten Regierungskonstellationen verbieten sich – zumal in einer föderalen Ordnung – auch wenn, wie sich stets vor Wahlen zeigt, bestimmte tradierte Loyalitäten der Großverbände zu bestimmten politischen Gruppierungen unübersehbar sind. Dieses Beziehungsgefüge kann unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Für die Frage nach den Funktionsbedingungen demokratischer Politik in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften sind vor allem zwei Aspekte von Bedeutung: die Frage nach dem Wechselverhältnis von (organisierter) Interessenvertretung und Gemeinwohl und die nach den Möglichkeiten rationaler politischer Entscheidungen in einem durch verschiedene Machtgruppen und Interessen gestalteten politischen Raum. Die Frage nach dem Gemeinwohl lässt sich am besten mit Ernst Fraenkel (Fraenkel, 1991: 271 ff.) beantworten. Es gibt keinen exklusiven Vertreter des Gemeinwohls. Auch der Staat kann und darf sich in einer demokratischen Gesellschaft dieses Recht nicht anmaßen. Er hat eine ordnende Rolle, die ihn von den gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und Interessen abhebt, er ist aber kein von der Gesellschaft getrennter Vertreter eines vorgegebenen Gemeinwohls. 1. Das Gemeinwohl ist a priori nicht festzustellen, es bildet sich in Konflikten von gesellschaftlichen Gruppen, im Prozess des Verhandelns und der Kompromissbildung a posteriori heraus. Die Heterogenität moderner Gesellschaften kann nur akzeptiert und reguliert werden. Beseitigen ließe sie sich nur durch Homogenisierung und Gewalt. 2. Diese Bestimmung des Gemeinwohls wird aber nur möglich sein, wenn es unter den Beteiligten einen Grundkonsens über Minimalanforderungen einer nicht in Frage gestellten Werteordnung gibt. Es muss einen „nicht-kontroversen Sektor“ geben, der die Verfahrensregeln des pluralistischen Spiels 472
bestimmt und notfalls Abweichungen sanktioniert – z.B. durch Ausschluss aus der politischen Willensbildung, wie ihn die Regelungen des Art. 9 Abs. 2 GG für das Vereinswesen und der Art. 21 Abs. 2 GG für die Parteien vorsehen. Das Grundgesetz geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht in Art. 18 die Verwirkung einzelner Grundrechte vor, wenn sie „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“ werden. 3. Der Staat ist Ort des pluralistischen Interessenausgleichs und hat für die Einhaltung der Spielregeln zu sorgen. Er hat ferner darüber zu wachen, dass einzelne Interessen nicht zu mächtig werden oder Macht monopolisieren können. Machtakkumulation und Machtmissbrauch drohen nicht nur von Seiten der Politik, sie sind auch im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich möglich. Daher werden Kontrollinstanzen institutionalisiert, die, wie z.B. das Bundeskartellamt und in neuerer Zeit die europäischen Kartellbehörde, unzulässige und freiheitsgefährdende Machtzusammenballungen verhindern sollen. Eine solche Konzeption griffe allerdings zu kurz, wenn sie nicht zwei Strukturelemente moderner demokratischer Gesellschaften in die Überlegungen einbezöge. Erstens ist der Staat nicht nur Schiedsrichter. Er vertritt auch legitime Eigeninteressen und greift als interventionistischer Wohlfahrtsstaat weit in den gesellschaftlichen und individuellen Bereich ein. Zweitens gibt es ungleiche Chancen und Machtressourcen, die es bestimmten Interessen erlauben, sich erfolgreich durchzusetzen, während dies anderen nicht gelingt, oder sie sogar unfähig zur kollektiven Aktion und Organisation sind. In beiden Fällen wird die Schiedsrichterrolle des Staates problematisch; im ersten Fall, weil er selbst Akteur und mächtiger Interessenvertreter ist, im zweiten, weil eine Beseitigung ungleicher Machtressourcen und Organisationsfähigkeit massive ordnungspolitische Interventionen erfordern würde, die mit demokratischen Mitteln kaum realisierbar erscheinen. Pluralismustheoretische Überlegungen müssen sich mit der Hoffnung zufriedengeben, dass eine durch Ungleichheit gekennzeichnete Gesellschaft gleichwohl in der Lage und bereit ist, eine regulative Wertidee als bindende Richtschnur gesellschaftlichen und politischen Handelns und den Staat als Garanten des demokratischen Verfahrens zu akzeptieren. Während die Pluralismustheorie das Wirken von Verbänden als notwendiges Kritik an den und positives Element moderner Massendemokratien interpretiert, setzt die Kri- Verbänden tik an der Wirkung der Verbände, soweit sie nicht ausschließlich normativ argumentiert („Herrschaft der Verbände“), an ihrer angeblichen Rolle als beharrende, Innovationen behindernde Institutionen an. Diese Argumentationsfigur ist nicht nur in politischen Debatten über die „zweite Modernisierung“ des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems der Bundesrepublik zu finden, sondern hat seit längerem prononcierte Vertreter in der Politikwissenschaft und Ökonomie. Mancur Olson bestreitet die Grundannahme der Pluralismustheorie und weist darauf hin, dass es unterschiedliche Chancen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen gibt, sich zu organisieren und ihre Interessen durchzusetzen. Er hat in seinem Buch „The Rise and Decline of Nations“ (1982) die These formuliert, dass ein wesentlicher Teil der Ineffizienz staatlicher Intervention in die Wirtschaft auf die Art der Interessenvermittlung in den modernen Demokratien zurückzuführen sei. Die verschiedenen sozio-ökonomischen Interessen seien 473
in ihrer Organisations- und Konfliktfähigkeit höchst unterschiedlich, schwache oder gar fehlende Konkurrenz zwischen den Interessengruppen begünstige die Durchsetzung partikularer, aber organisationsfähiger Interessen in modernen Demokratien. Dies habe zur Folge, dass der Staat häufig protektionistisch in den Markt interveniere und damit wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt eher behindere als fördere (Olson, 1982). Argumente für ein Demgegenüber argumentieren die Anhänger eines konsensdemokratischen konsensdemokra- Modells, dass es bestimmter, auf Kooperation, Verhandlung und Konsens zietisches Modell lender integrierender Mechanismen bedürfe, um eine Gesellschaft und politische Ordnung zusammenzuhalten. In der Bundesrepublik hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein Modell der Einbindung von Interessen in den politischen Entscheidungsprozess herausgebildet, das in hohem Maße verregelt ist und dazu geführt hat, dass die Aggregation der verschiedenen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Interessen nicht mehr ausschließlich kompetitiv, sondern interdependent und kooperativ ist. „Je stärker die Konflikte in der Bundesrepublik aufbrachen, umso mehr wurden immer integrativere Modelle der institutionalisierten Konfliktregelung diskutiert“ (v. Beyme, 2004: 214) und in unterschiedlichen Varianten implementiert. Die Formen der Einbeziehung von Interessen in die politische Entscheidungsfindung sind, neben den normativen Vorgaben des Grundgesetzes Hauptursache dafür, dass die Verbände im intermediären System der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle spielen und erheblichen Einfluss auf die Politik ausüben können.
9.5.2 Neopluralismus oder liberaler Korporatismus Die starke Stellung der Verbände ist Ausfluss ihrer normativen Verankerung im Grundgesetz und ihrer gestaltenden Kraft in der Zeit der Entstehung des Grundgesetzes und in den ersten Jahren der Bundesrepublik. Die Verankerung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit und Art. 9 GG und die besondere Hervorhebung jener Verbände, die „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ (Art. 9 Abs. 3 GG) gebildet werden, haben Verbänden insgesamt, besonders aber den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine starke Stellung verschafft. Ihr Einfluss auf politische Entscheidungen, ihre organisatorische Nähe und personelle Verflechtung mit den Parteien und ihre personelle Repräsentanz in den Parlamenten haben die Grundthese gleicher Organisations-, Einfluss- und Durchsetzungsfähigkeit, die pluralismustheoretischen Verbandstheorien unterliegt, nachhaltig empirisch erschüttert. Der privilegierte Zugang einiger Verbände zur Politik und ihre systematische Einbeziehung in politische Entscheidungen haben in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem Perspektivenwechsel geführt. Prägend für das Verbandssystem sei nicht ein pluralistischer Wettbewerb, sondern ein neuer Korporatismus oder Neokorporatismus, der sich in der Einbindung der Spitzenverbände der Interessenorganisationen – insbesondere der Tarifpartner – in ein kartelliertes Netzwerk politischer Willensbildung manifestiere.
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Als korporativ galten früher ständisch gegliederte Gesellschaften. In den 1920er-Jahren hat der italienische (und später spanische) Faschismus diese Ideen wieder aufgegriffen, um eine politisch gegliederte, durch Zwangsverbände bestimmte hierarchische Ordnung, den „stato corporativo“ an die Stelle einer durch organisierte Interessen und freie Konfliktaustragung gekennzeichneten bürgerlichen Gesellschaft und liberalen Demokratie zu setzen. Auch der frühe Nationalsozialismus (Gregor Strasser) liebäugelte mit diesen Ideen. Dazu gehörten vor allem Zwangssyndikate von Arbeitnehmern und Unternehmern, wie die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) in Deutschland nach 1933. Es gab durchaus Berührungspunkte mit Vorstellungen eines ständisch organisierten, autoritären Staates, wie sie, unterstützt von der katholischen Kirche, das Regime Dollfuß im Österreich der 30er-Jahre verwirklichte. Dieser Korporatismus war als Abwehrinstrument gegen eine moderne, offene Gesellschaft konzipiert.1 Ständische Vorstellungen wollen gesellschaftliche Konflikte durch Zwangskorporation widerstreitender Interessen lösen. Das Modell eines „liberalen Korporatismus“, mit dem häufig die politische Rolle der Verbände in der Bundesrepublik erklärt wird, ist durch eine Zentralisierung und Monopolisierung der Interessenvermittlung, eine Einbindung der organisierten Interessen in übergreifende Verhandlungssysteme und durch eine starke Verflechtung von organisierten Interessen und staatlichen Instanzen gekennzeichnet. Eine begrenzte Zahl von privilegierten Verbänden gestaltet in einem Verbund mit dem Staat wesentliche Bereiche der Gesellschaft wie die Arbeitsbeziehungen, das Gesundheitswesen oder die sozialen Sicherungssysteme. Diese Zusammenarbeit ist sowohl für den Staat als auch für die Verbände vorteilhaft, ersterer gewinnt, wenngleich interessengesteuerten Sachverstand hinzu und kann Konflikte bereits im Vorfeld regeln oder ausschalten, die Verbände ihrerseits verfügen über einen privilegierten Zugang zu Politik und Verwaltung, der es ihnen erlaubt, ihre Anliegen wirkungsstark zu vertreten. Ihre Vertreter sind als Experten im Gesetzgebungsprozess unverzichtbar. Zudem sind sie in den Parlamenten, in den Parteien und auch in der Exekutive personell vertreten und in ein enges Netz von institutionellen und persönlichen Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern eingebunden. Dies bedeutet nicht „Herrschaft der Verbände“, so der mit einem Fragezeichen versehene Titel eines Buches von Theodor Eschenburg aus dem Jahre 1955, sondern institutionalisierte Arbeitsteilung, partielle Entlastung des Staates und Zuweisung von politisch delegierten Regelungskompetenzen – z.B. im Bereich der Tarifauseinandersetzung. In diesem Kontext ist oft von „Tripartismus“ (Staat – Kapital – Arbeit) die Rede. Das Problem ist die mögliche Herausbildung von festen, geschlossenen Kartellen der Kooperation und eines „begrenzten Pluralismus“ (v. Beyme, 1993: 210), wie sie die Korporatismustheorie als Merkmal der Verbandsbeziehungen in der Bundesrepublik ausmacht. Verbandsvertreter sind Mitglieder informeller Policy-Netzwerke, die in wichtigen Bereichen der Politik entstehen und über längere Zeiträume hinweg in den verschiedensten personellen Konstellationen in einer Beziehung stehen. Ein 1
Verwiesen sei auch auf korporative Elemente in der katholischen Soziallehre die, wie in der Enzyklika "Quadrogesimo anno" von 1931, berufsständische Repräsentationsformen befürwortete.
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Traditioneller Korporatismus
Das Modell eines „liberalen Korporatismus“
Policy Netzwerke
Kritik an der Korporatismustheorie
Verbände als eigenständige politische Akteure
Dritter Sektor
solches Netzwerk ist definiert durch „relativ dauerhafte, nicht formal organisierte wechselseitige Abhängigkeiten, gemeinsame Verhaltenserwartungen, Orientierungen, Vertrauensbeziehungen, stabilisierte Kommunikationsstrukturen, kurze Kommunikationswege und den Informationsaustausch zwischen Organisationen und Individuen“ (Sebaldt/Straßner, 2004: 54). Solche Netzwerke sind exklusiv, sie sichern Herrschaftswissen und stabilisieren sowohl die individuelle Position der Teilnehmer an Beratungen, Anhörungen, Fachgesprächen- und Konferenzen usw. als auch die privilegierte Stellung der beteiligten Verbände. Wie wenige Bereiche demonstriert das Gesundheitssystem auch die negativen Folgen: Die Verbände wirken als Kartell, gegen das gestaltende Politik seitens der demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen nicht oder nur mit äußerster Mühe ankommt. Will sie keine unangenehmen Überraschungen erleben, muss sie die Verbände von einem sehr frühen Zeitpunkt an aktiv einbeziehen und alles unternehmen, um Gesetzesvorhaben „verbandsfest“ zu machen. Die Kritik an der Korporatismustheorie betont, dass deren Annahmen insofern auf einer falschen Voraussetzung beruhten, als sie ein Bild des klassischen Parlamentarismus reproduzierten, das mehr den Idealvorstellungen als der Realität entspräche, die Vorstellung nämlich, dass es eine von außen relativ unbeeinflusste Sphäre parlamentarischer Tätigkeit gegeben habe. Parlamente hätten immer bestimmten Restriktionen ihrer Handlungsmöglichkeiten unterlegen. Die Effektivität und Autorität repräsentativer Institutionen habe nicht ernsthaft gelitten. Nur wenige Bereiche außerhalb makroökonomischer Politiken seien (wie die Tarifautonomie) Gegenstand tripartistischer Vereinbarungen und blieben fragil, weil diese Vereinbarungen nur unter bestimmten Bedingungen erreichbar seien (Held, 1987: 217f.). Diese institutionelle Einbindung der Verbände, die der Regulierung von Interessengegensätzen in der Gesellschaft dient, bedarf bestimmter institutioneller Voraussetzungen. Dazu gehört, neben der Geltung des Rechtsstaatsprinzips und der Teilung und öffentlichen Kontrolle der Gewalten, die Möglichkeit, individuelle oder Gruppeninteressen im öffentlichen Raum zu artikulieren, Organisationen zu ihrer kollektiven Vertretung zu bilden und Übereinkünfte über die Art und Weise, wie die Interessenorganisationen in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden. Der neokorporatistische Ansatz der Verbändeforschung hat sich vor allem auf solche Verbände konzentriert, die in einer auf Dauer gestellten strukturierten Beziehung zu staatlichen Akteuren stehen. Seit den 1980er-Jahren ist das System der Interessenvermittlung durch Verbände und Vereine um einen Aspekt erweitert worden, der an Bedeutung gewann, weil die überkommene Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat sich grundlegend zu verändern begann. Dem monetaristisch geprägten Konzept des schlanken Staates, der nur noch in eingeschränktem Maße regulierender und intervenierender Wohlfahrtsstaat sein sollte, wurde die Vorstellung entgegengestellt, dass es um ein ausgewogenes Verhältnis von Markt, Staat und einem „Dritten Sektor“ geben müsse, um die gemeinnützigen und karitativen Aufgaben, die eine Gesellschaft, zumal, wenn sie sich auf die normative Idee einer „sozialen“ Marktwirtschaft und des „sozialen Rechtsstaats“ berufe, zu erbringen habe. Als Dritter Sektor wird der Bereich organisierter Interessen verstanden, der weder dem Markt noch dem Staat zuzurechnen ist (Se-
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baldt/Straßner 2004, 50 ff.). Er umfasst die Mehrzahl der Vereine, gemeinnützige und karitative Einrichtungen und Interessengruppen wie Bürgerinitiativen, Frauenverbände, Umweltschutzgruppen u.s.w. Eine bedeutende Rolle in diesem Bereich spielen die Wohlfahrtsverbände, die einen erheblichen Anteil an wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben wie der Gesundheitsversorgung, der Jugendoder Altenhilfe haben. Der Blick auf die unbestreitbar problematischen Aspekte des modernen Ver- Funktionen von bandswesens, Teil eines Machtkartells zu sein, versperrt häufig den Blick auf die Verbänden Integrationsleistungen, die Verbände in modernen Gesellschaften vollbringen (Sebaldt/Straßner, 2004, 59 ff.). Als intermediäre Organisationen bündeln heterogene gesellschaftliche Interessen zu verbandspolitischen Zielen. Mit dieser Aggregationsfunktion verhelfen sie diesen Interessen dazu, sich im politischen Aushandlungsprozess besser durchsetzen zu können. Verbände selektieren und artikulieren die Vielzahl denkbarer Forderungen unter dem Aspekt, welche Aussicht haben, durchgesetzt zu werden. Insoweit filtern sie aus der tendenziell unendlichen Vielfalt von Themen diejenigen heraus, die von besonderer Bedeutung sind und der politischen Regelung bedürfen. Interessenverbände blenden bestimmte Interessen aus und machen sich für andere stark. Die Auswahl ist durch mehrere Faktoren bestimmt: das Mobilisierungspotenzial, das ein bestimmtes Thema hat, die Durchsetzungschance, die Folgen für das Binnenleben des Verbandes, die öffentliche Wirkung und die Konsequenzen, die eine Vertretung bestimmter Interessen und Themen für die Stellung des Verbandes in der Zukunft haben kann. Verbände haben eine integrative Funktion, wenn es ihnen gelingt, eine größere Zahl von Individuen für ihre Ziele zu gewinnen und sie in ihre Verbandsstruktur und die Aktivitäten des Verbandes einzubinden. Sie sind, neben den und häufig auch in Konkurrenz zu den Parteien, bevorzugter Ort politischer und sozialer Partizipation von Bürgern. Verbände haben schließlich eine Vermittlungsfunktion zwischen Politik und Gesellschaft und der Lebenswelt der Bürger und leisten insoweit einen Beitrag zur Legitimation des politischen und sozialen Systems.
9.5.3 Verfassungsrechtliche Stellung der Verbände in der Bundesrepublik Die Entfaltung eines freien und pluralistischen Verbandswesens war in Deutschland durch die obrigkeitsstaatlichen Traditionen behindert und der Nationalsozialismus hat schließlich alle autonomen Interessenvertretungen, die in der Weimarer Republik existierten, zerschlagen oder „gleichgeschaltet“. An die Stelle pluralistischer Interessen und geregelter Interessenvermittlung trat das korporatistische Modell einer „Volksgemeinschaft“ als Notgemeinschaft, in der es eine „organische Gesamtführung der Wirtschaft durch den Staat“ geben sollte, die sich sehr schnell als Gesamtführung zum Zwecke der Kriegsvorbereitung entpuppte. Nicht soziale Antagonismen und politische Gegensätze sollten die Gesellschaft prägen, sondern organische Beziehungen zwischen Volk und Staat, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, der er zugehört.
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Tradierte Abneigung gegenüber sozialen Konflikten
Neugründung von Verbänden nach 1945
Einfluss der Verbände auf die Formulierung des Grundgesetzes
Diese organizistische und harmonisierende Sicht ökonomischer und sozialer Interessengegensätze konnte sich auf tradierte Abneigungen gegenüber sozialen Konflikten berufen und diente als Scheinalternative gegenüber den dualistischen Klassenkampfkonzepten. Entscheidend war aber, dass mit der Zerschlagung oder Gleichschaltung autonomer Interessenorganisationen die Gesellschaft jenes intermediären Elements bewusst beraubt wurde, das eine, wie im Einzelnen auch immer gestaltete, Beteiligung der Bürger am politischen und sozialen Leben ermöglicht. Angesichts dieser hier nur grob skizzierten Erfahrung lag es nach 1945 nahe, dem Wiederaufbau des Verbandswesens große Aufmerksamkeit zu widmen. Bei der Neugründung von Verbänden und Interessenorganisationen konnte nur bedingt an die Weimarer Republik angeknüpft werden. Dagegen standen die historischen Erfahrungen und die Neuordnungsvorstellungen der Alliierten. Die Besatzungsbehörden hatten je unterschiedliche, auf ihren eigenen politischen Traditionen und Erfahrungen beruhende Vorstellungen über die Bedeutung und die Gestaltung des intermediären Sektors, insbesondere der Interessengruppen – dies wurde besonders in der Gewerkschaftsfrage deutlich. Die Alliierten bestanden auf der Entflechtung und einer Neuordnung der Wirtschaft. Die Arbeitnehmerorganisationen waren, wenn sie ihren Einfluss geltend machen wollten, auf neue, die alte Spaltung in sozialistische, christliche und liberale Organisationen überwindende Organisationsformen verwiesen – die Antwort war die Einheitsgewerkschaft. Die Unternehmer hatten aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, dem Scheitern korporatistischer Modelle, der Regelung der Arbeitsbeziehungen und ihrer Indienstnahme durch den Nationalsozialismus Konsequenzen zu ziehen. Nur die Kirchen konnten, nach der Abgabe von „Schuldbekenntnissen“, scheinbar nahtlos an die Zeit vor 1933 anknüpfen und sich auf die Kontinuität der „bekennenden Kirche“ und den Widerstand katholischer Geistlicher im Nationalsozialismus berufen. Ähnlich, wie für die Wirtschaftsordnung gilt auch für das Verbandswesen, dass die wesentlichen Richtungsentscheidungen bereits vor der Gründung der Bundesrepublik – unter deutlichem Einfluss und Mithilfe der jeweiligen Alliierten – getroffen worden waren und die Verbände bereits als externe Akteure Einfluss auf die Gestaltung der Regelungen des Grundgesetzes nehmen konnten, die ihre eigene Stellung in der Gesellschaft berührten. Das Grundgesetz hat die repräsentative Seite der Staatsorganisation stark gemacht und – mit Ausnahme der Parteien – die aktive, direkte Einflussnahme der Bürger und der organisierten Interessen auf die Politik eher beiläufig erwähnt. Die distanzierte Haltung des Verfassungsgebers gegenüber direkter politischer Beteiligung der Bürger und dem Einfluss organisierter Interessen steht in deutlichem Kontrast zum bereits vor Gründung der Bundesrepublik erkennbaren Einfluss einiger Interessengruppen, vor allem der Gewerkschaften und der Kirchen, deren Durchsetzungsfähigkeit u.a. die erwähnte Verankerung der Koalitionsfreiheit und Formulierungen über die Rolle der Familie und den Religionsunterricht in den Schulen zu verdanken waren (Sörgel, 1985: 89ff.).
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In den 1950er-Jahren hat Theodor Eschenburg das Schlagwort von der „Herrschaft der Verbände“ geprägt (Eschenburg, 1955). Er hatte diesen Begriff aber in seinem Buchtitel mit einem Fragezeichen versehen. Seither ist immer wieder darüber gestritten worden, ob sich die Verbände eine Machtposition erobert haben, die mit den Vorstellungen einer parlamentarischen Demokratie nicht oder nur schwer zu vereinbaren ist und diese gefährdet. Begriffe wie „Verbandsherrschaft“ suggerieren, dass sich die organisierten Interessen den Staat und die Politik gefügig gemacht haben. Die starke Stellung von Verbänden kann aber auch als Beleg für eine funktionierende pluralistische Ordnung gewertet werden, in der es gelingt, eine möglichst große Zahl von sozialen Gruppen – über ihre Verbandsvertreter – in den politischen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Verbände sind eine allgemeine Erscheinung moderner Massendemokratien. Dies bedeutet jedoch – ähnlich wie bei den Parteien – nicht, dass ihnen im allgemeinen Bewusstsein eine ihrer Bedeutung entsprechende Wertschätzung zuteil würde. Verbände wurden lange Zeit als Störfaktoren wahrgenommen, die die prästabilisierte Harmonie der Gesellschaftsordnung in Frage stellen. Insofern sind die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Vereinigungsfreiheit eine verfassungsrechtliche Innovation von Bedeutung. Auf den ersten Blick geht das Grundgesetz in Art. 9 Abs. 1 nicht über vergleichbare Regelungen der Weimarer Reichsverfassung hinaus, die ebenfalls die Vereinsfreiheit garantierte (Art. 124 WRV). Das Grundgesetz führt aber bedeutsame Neuerungen ein: 1. Es baut in Art. 9 Abs. 2 GG Sicherungen ein. Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen sind, wie auch in der Weimarer Verfassung (Art. 124 Abs. 1 WRV), verboten. Neu war die Ausweitung der Verbotsmöglichkeiten auf diejenigen Vereinigungen, die sich gegen „die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten“. 2. Die zweite Neuerung ist die gesonderte Erwähnung der Vereinigungen, die der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ dienen. Dazu zählen in erster Linie die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, aber auch die Bauernverbände, Ärzteverbände wie der „Marburger Bund“, oder Vereinigungen der Selbstständigen. Die Gründung solcher Vereinigungen ist „für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig (Art. 9 Abs. 3 GG). 3. Im Zuge der Notstandsgesetzgebung ist 1968 – als zusätzliche Sicherung – dem Absatz 3 des Artikels 9 des Grundgesetzes ein dritter Satz angefügt worden: Notstandsmaßnahmen „dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“ Dieser Zusatz sollte verhindern, dass mit Verweis auf einen Notstand die Bundeswehr oder der Bundesgrenzschutz in Arbeitskämpfen eingesetzt werden können. Arbeitskämpfe konstituieren also keinen „Notstand“.
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Theodor Eschenburgs These von der Herrschaft der Verbände
Bestimmungen des Grundgesetzes zur Vereinigungsfreiheit
9.5.4 Typologie der Verbände Der Begriff „Vereinigung“
Definition des Verbandsbegriffs
Andere Begriffe
Kriterien für eine Typologisierung der Verbände
Den Vereinigungen wird in Art. 9 GG keine öffentlich-rechtliche Qualität und damit auch keine Teilhabe an der staatlichen Willensbildung eingeräumt. Das unterscheidet sie von Parteien. Der Begriff des Interessenverbandes sollte, damit seine Konturen nicht verschwimmen, auf Organisationen nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Interessen beschränkt bleiben (Steinberg, 1989: 222). In der politischen Wirklichkeit aber sind mächtige Großverbände, wie die Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände als eine Art „halbkonstitutionelle Entscheidungsträger“ zu kennzeichnen, weil sie einen entscheidenden Einfluss auf staatliches Handeln in ihrem Interessenbereich nehmen. Verbände sind Zusammenschlüsse von natürlichen oder juristischen Personen oder Personengruppen, die nicht als politische Parteien, sondern als eingetragene Vereine (e.V.), Bürgerinitiativen oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts dauerhaft Einfluss auf staatliche Entscheidungen nehmen. Mitglieder von Verbänden können Individuen oder Korporationen sein. Die Mitgliedschaft kann freiwillig oder durch Gesetz verbindlich geregelt sein (z.B. die Mitgliedschaft in den Kammern). Die Vereinigungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland hat eine Vielfalt von Verbänden hervorgebracht. Viele große Verbände sind Multifunktionsverbände: Die Gewerkschaften sind nicht nur Tarifpartner, sondern auch Lobby, Rechtsberatungsunternehmen für ihre Mitglieder und jahrzehntelang – in der Regel wenig erfolgreiche – Unternehmer. Der mächtige ADAC hat ebenfalls eine Vielzahl von Funktionen: er ist Autolobby, Service-Organisation, Autosportclub, Verbraucherverband und Reiseunternehmen. Die Verbände sind in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens präsent und üben einen erheblichen Einfluss aus. Eine Politik gegen die Absichten verbandlich organisierter Interessengruppen ist nur schwer durchzusetzen. Andere in diesem Kontext benutzte Begriffe sind: Verein, Interessengruppe, Pressure Gruop, oder Lobby. Vereine sind vor allem im Bereich der Freizeit, der Kultur und des Sport tätig. Sie sind nicht politisch motiviert, was aber nicht ausschließt, dass sie sich zu bestimmten, sie betreffenden Problemen auch politisch äußern. Der Begriff Interessengruppe ist dem der angelsächsischen Raum übernommen worden und nimmt vor allem gemeinsame Ziele einer Gruppe von Menschen, weniger die organisationssoziologischen Aspekte in den Blick. Der nur bedingt aus dem angelsächsischen Kontext herauslösbare Begriff Pressure Group betont in allgemeinerer Form die Konfliktdimension und die Vorgehensweise bei der Durchsetzung von Interessen, während mit Lobby oder Lobbyismus das institutionalisierte Verhältnis von Verbänden und politischen Entscheidungsträgern im Parlament oder der Regierung und nicht zuletzt auch die Repräsentanz von Verbandsvertretern in diesen Bereichen gemeint ist (Sebaldt/Straßner, 2004: 23). Um die Vielfalt ihrer Aufgaben zu klassifizieren und eine gewisse Ordnung in das „Organisationschaos“ zu bringen, bietet sich der Versuch einer Typologisierung an. Kriterien der Zuordnung können der Rechtsstatus, die Organisationsstufe (Dachverband, Mitgliedervereine), die Art des Interesses (wirtschaftliche 480
oder ideelle Interessen) oder der Strukturtypus (traditionelle Verbände, unkonventionelle Initiativen/Bewegungen) sein. Dieses Unterfangen stößt jedoch auf erhebliche theoretische und praktische Probleme. Die verfügbaren Typologien unterscheiden sich daher nicht unerheblich (v. Alemann, 1987: 71; Gabriel/Holtmann 1997: 539f.; Sebaldt/Straßner, 2004: 25.). Neben allgemeinen Problemen der Zuordnung bei multifunktionalen Verbänden ist insbesondere strittig, ob Vereinigungen der öffentlichen Gebietskörperschaften, wie der „Deutsche Städte- und Gemeindebund“, der „Deutsche Städtetag“ und der „Deutsche Landkreistag“ als Interessenorganisationen zu behandeln sind. Sie sind Vereinigungen von politischen Körperschaften des öffentlichen Rechts und als solche ein Sonderfall (Hesse/Ellwein, 1992: 151). Im Folgenden soll eine Typologie benutzt werden (v. Alemann, 1987: 71; Reutter 2001: 83 ff.; Sebaldt/Straßner, 2004: 25), die fünf Gruppen von organisierten Interessen unterscheidet: 1. 2. 3. 4. 5.
Organisierte Interessen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt Organisierte Interessen im Bereich des Sozial- und Wohlfahrtsstaats Organisierte Interessen im Bereich der Freizeit und Erholung Vereinigungen im kulturellen, wissenschaftlichen und religiösen Bereich politische Vereinigungen und neue soziale Bewegungen
1. Organisierte Interessen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Hierzu zählen Unternehmerverbände und Selbständigenverbände, Gewerkschaften und die durchsetzungsschwachen Konsumentenverbände. Bei den Unternehmer- und Selbständigenverbänden lassen sich Arbeitgeberverbände, Branchenverbände und Kammern unterscheiden. Die Interessenvertretung im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Tarifpolitik von Unternehmen wird von mehreren Verbänden und Kammern vertreten. Auf der Arbeitgeberseite entwickelte sich eine differenzierte, fein gegliederte und arbeitsteilige Struktur von Interessenverbänden: x x x x x x x
„Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände“ (BDA) als Dachverband von mehr als 50 Fachspitzenverbänden und Landesverbänden; „Bundesverband der Deutschen Industrie“ (BDI) mit mehr als dreißig Mitgliedsverbänden und über 300 Fachvereinigungen und Arbeitsgemeinschaften; „Deutscher Industrie- und Handelkammerstag“ (DIHK); er vertritt als Dachorganisation mehr als 80 regionale Industrie- und Handelskammern ; Zentralverband des Deutschen Handwerks als Dachverband der Handwerkskammern und von mehr als 40 Branchenverbänden; Deutscher Bauernverband mit seinen assoziierten Fachverbänden und ca. 600.000 Mitgliedern als Gastverband; „Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels“ mit einer Vielzahl von Einzelverbänden; Deutscher Sparkassen und Giro Verband.
Die im „Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft“ zusammengeschlossenen Verbände umfassen eine Vielzahl von Wirtschaftsberei481
Organisierte Interessen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt
Organisationsgrad der Unternehmen
Kammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
chen. Neben den bereits genannten gehören dazu: Bundesverband Deutscher Banken, Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels, Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, Deutscher Hotel- und Gaststättenverband, Centralvereinigung Deutscher Handelsvertreter- und Handelsmaklerverbände, Verband Deutscher Reeder, Zentralverband Gewerblicher Verbundgruppen, Zentralverband der Deutschen Seehafenbetriebe. Der Organisationsgrad der Unternehmen ist traditionell sehr hoch (J. Weber 1987). Allerdings sind nach der deutschen Einheit zum einen Organisationsschwächen im Arbeitgeberlager festzustellen, die mit der wesentlich geringeren Bereitschaft ostdeutscher Unternehmen zu tun haben, einem Arbeitgeberverband beizutreten, zum anderen mit aufbrechenden Differenzen zwischen Dachverbänden und Mitgliedsverbänden über Strategiefragen zu erklären sind. Eine besondere Stellung nehmen Kammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts ein, denen kraft Gesetz alle gewerblichen Unternehmen, Handwerksbetriebe oder selbständige Berufe wie Ärzte oder Rechtsanwälte angehören. Die Industrie- und Handelskammern (IHK), Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern und Berufskammern der Ärzte, Zahnärzte, Notare und Rechtsanwälte haben weitreichende Aufgaben quasi-hoheitlichen Charakters, wie die Entscheidung über die Zulassung als Kassenarzt oder Rechtsanwalt, oder die Prüfungskompetenz der Handwerkskammern. Auf Arbeitnehmerseite sind vor allem die Gewerkschaften des „Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (DGB) zu nennen. Der DGB ist der Dachverband eines Zusammenschlusses von ursprünglich 16 Industrie- und Branchengewerkschaften. Er verfügt über keine eigenen individuellen Mitglieder. Seine Mitglieder sind die organisatorisch und in Lohnfragen unabhängigen Einzelgewerkschaften, die an den Dachverband gewisse Aufgaben und Zuständigkeiten delegieren und ihm einen Teil ihrer Einnahmen übertragen. Tabelle 9: Gewerkschaften des DGB Industrie- und Branchengewerkschaften des DGB IG Bauen, Agrar, Umwelt IG Bergbau, Chemie, Energie Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft IG Metall IG Nahrung, Genuss, Gaststätten Gewerkschaft der Polizei TRANSNET Ver.di DGB-Gesamt
Mitglieder (Stand 3 1 .1 2 .2 0 0 4 4 2 4 .8 0 8 7 7 0 .5 8 2 2 5 4 .6 7 3 2 .4 2 5 .0 0 5 2 2 5 .3 2 8 1 7 7 .9 1 0 2 7 0 .2 2 1 2 .4 6 4 .5 1 0 7 .0 1 3 .0 3 7
(Quelle: DGB) Konflikte um die Strukturreform des DGB
In den 1990er-Jahren fand eine langwierige und kontroverse Diskussion eine Strukturreform statt. Die Organisationsstruktur des DGB sollte gestrafft, modernisiert und für Arbeitnehmer attraktiver gemacht werden. Zentrales Element dieser Organisationsreform war die Fusion von Einzelgewerkschaften zu mitglie-
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derstarken und schlagkräftigen, branchenübergreifenden Verbänden. Das Überlebensinteresse der Einzelgewerkschaften und die geringe politische Macht der DGB-Zentrale in Düsseldorf haben aber eine durchgreifende Reorganisation verhindert. Insofern zeigt die heutige Struktur des DGB nach wie vor erhebliche Unterschiede in der Größe und Durchsetzungskraft ihrer nunmehr acht Einzelgewerkschaften. Die beiden größten Einzelgewerkschaften, IG Metall und ver.di haben jeweils ca. 2,5 Mio. Mitglieder, mehr als zehnmal so viel wie die GEW oder die Gewerkschaft der Polizei. Die bedeutsamste Veränderung stellt die 2001 neu gegründete Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dar, die aus ÖTV, HBV, Postgewerkschaft und IG-Medien – unter Einschluss der bislang mit der ÖTV konkurrierenden, nicht dem DGB angehörenden „Deutschen Angestelltengewerkschaft“ (DAG) entstanden ist. Bereits 1997 fusionierten drei Industriegewerkschaften zur IG Bergbau, Chemie, Energie mit seinerzeit etwa 1 Mio., heute 770.000 Mitgliedern. Da sich nach dem Krieg die Idee der Einheitsgewerkschaft nicht völlig durchsetzen ließ, existieren mit der „Deutschen Angestelltengewerkschaft“ (DAG) mit 16 Unterverbänden und etwa 500.000 Mitgliedern und dem „Christlichen Gewerkschaftsbund“ (CGB) mit etwa 300.000 Mitgliedern zwei weitere Gewerkschaftsverbände. Als Interessenorganisation der Beamten vertritt der „Deutsche Beamtenbund“ über eine Million Mitglieder. Schließlich wären andere Arbeitnehmerverbände, wie z.B. der „Deutsche Journalistenverband“ oder die „Katholische Arbeitnehmer-Bewegung“ zu nennen. 2. Organisierte Interessen im Bereich des Sozial- und Wohlfahrtsstaats. Verbände in diesem Bereich werden dem so genannten „Dritten Sektor“ zugeordnet. Hierzu sind Sozialanspruchsvereinigungen (z.B. Behindertenverbände; Kriegsopferverbände) und Sozialleistungsvereinigungen wie die Wohlfahrtsverbände und Selbsthilfegruppen zu rechnen. Die sozialen Wohlfahrtsverbände als Verbände der Freien Wohlfahrtspflege gehen auf Gründungen Ende des 19., Anfang des 20. Jhs. zurück. Sie haben einen wesentlichen Anteil an der Selbstregulierung der Gesellschaft und sind eine tragende Säule des Sozialstaates. Sie „Sozialleistungsvereinigungen“ (Olk/Pabst, 1996: 358), die mit ihren Diensten und in ihren Einrichtungen eine Vielzahl von Leistungen für Dritte erbringen. Sie sind aber nicht nur Dienstleister, sondern auch Mitgliedsverbände, die auf der Basis einer freiwilligen Mitgliedschaft wertgebundene oder religiös motivierte Hilfeleistungen für Andere erbringen. Neben diesen Aufgaben fungieren sie auch als einflussreiche Interessenorganisationen, die einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen und der Sozial- und Gesundheitspolitik im Besonderen haben. Anders als staatliche und kommunale Wohlfahrtseinrichtungen haben die „freien Träger“, die meist in privatrechtlicher Form als eingetragener Verein, Stiftung oder gemeinnützige GmbH organisiert sind, religiöse oder andere normativ begründete Motive der Zuwendung zu Notleidenden, Kranken oder Hilfsbedürftigen. Bereits in der Zwischenkriegszeit waren die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege an der Formulierung und Umsetzung staatlicher Entscheidungen im Bereich der Sozialpolitik maßgeblich beteiligt. Nach 1949 wurde in der Bundesrepublik ein kooperatives System „öffentlicher“ und „freier“
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Andere Gewerkschaften
Organisierte Interessen im sozialen Bereich
Funktion der Wohlfahrtsverbände
Wohlfahrtspflege etabliert, wobei die Freien Wohlfahrtsverbände im Sinne des aus der katholischen Soziallehre entlehnten, und in den einschlägigen Gesetzen formulierten Subsidiaritätsprinzips einen „bedingten Vorrang“ vor den öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen haben. In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG) sind sechs Spitzenverbände zusammengeschlossen: Mitgliedsverbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG)
1. Die 1919 im Umfeld der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gegründete „Arbeiterwohlfahrt“, 2. der „Deutsche Caritas-Verband“ (DCV) der katholischen Kirche, 3. das „Diakonische Werk“ der Evangelischen Kirche Deutschlands (DW), 1957 aus verschiedenen Diakonie-Vereinigungen entstanden, 4. die 1917 gegründete und 1951 wiedererstandene „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“ (ZWST), 5. das „Deutsche Rote Kreuz“ (DRK), 6. der 1924 als konfessionell und politisch ungebundener Dachverband der „freigesellschaftlichen“ Wohlfahrtspflege gegründete „Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband“ (DPWV), mit etwa sehr unterschiedlichen Mitgliedsorganisationen wie dem „Arbeiter Samariterbund“, „Pro Familia“, der „Volkssolidarität“ oder dem „Deutschen Jugendherbergswerk“.
Diese Verbände sind nicht nur bedeutende Dienstleistungsunternehmen im Bereich der sozialen Sicherheit und Fürsorge, mit Hunderttausenden von festangestellten und weit über 1. Mio. ehrenamtlichen Mitarbeitern, sondern mächtige und einflussreiche Interessenvertretungen, gegen die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik kaum zu realisieren ist. Selbsthilfegruppen Häufig im Umfeld dieser Verbände und/oder von ihnen organisiert und gestützt, sind seit den 191980er-Jahren immer mehr Selbsthilfegruppen entstanden, in denen individuelle oder soziale Probleme von Gruppen – Alkoholikern, Drogensüchtigen, psychisch Kranken, misshandelten Frauen usw. – bearbeitet werden. Selbsthilfegruppen und -einrichtungen sind keine neue Erscheinung. Selbsthilfevereine und Genossenschaften sind bereits im 19. Jh. als Antwort auf materielles Elend und die Verweigerung von sozialen Chancen gegründet worden. Sie waren Teil der „alten“ sozialen Bewegungen. Mit dem Entstehen der „neuen sozialen Bewegungen“ in den 1970er-Jahren sind Vereinigungen der Selbsthilfe in Anzahl und Bedeutung sprunghaft angewachsen und haben sich neue Felder erobert. Die neue Selbsthilfebewegung hat ihre Schwerpunkte vor allem im psycho-sozialen Bereich und hat mit den neuen sozialen Bewegungen ein politischkulturelles Umfeld gefunden, das die Durchsetzung von Interessen im politischen Raum erleichtert. Verbandsbildungen Verbandsbildung ist, historisch gesehen, meist die Antwort auf neue Probder Nachkriegszeit leme in einer Gesellschaft gewesen. In diesem Zusammenhang sind Verbandsgründungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die auf die durch Krieg und Kriegsfolgen hervorgerufene soziale Benachteiligung und andere kollektive Problemlagen reagierten, von besonderem Interesse. Einflussreiche Verbände, die ihren Gründungsanlass überlebt haben sind u.a. der „Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen“ mit fast 500.000 Mitgliedern und die Vertriebenenverbände.
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Der Reichsbund ist ein Beispiel für eine Organisation, die sich zur Erhaltung des Verbandes erfolgreich neue Aufgabenfelder erschlossen hat. Als Vereinigung von Kriegsopfern gegründet, vertritt der Reichsbund heute auch andere sozial bedürftige Gruppen. Sehr erfolgreich haben auch der „Bund der Vertriebenen“ und seine Landsmannschaften die Ansprüche ihrer Mitglieder vertreten, denen fast 2,5 Millionen Vertriebene und ihre Nachkommen angehören. Die Vertriebenenverbände sind nicht nur ein Beispiel für effektive Interessenvertretung, sondern auch für die Fähigkeit großer Verbände, über ihren eigentlichen Organisationsauftrag hinaus erhebliche politische Macht auszuüben. 3. Organisierte Interessen im Bereich der Freizeit und Erholung. Sportvereine und Sportverbände und Geselligkeitsvereine stellen zahlenmäßig den größten Anteil aller Vereinigungen dar, verstehen sich aber in aller Regel nicht als Verbände, die Einfluss auf die Politik nehmen wollen. Ausnahmen sind Dachverbände, wie der „Deutsche Sportbund“, die vor allem für die Bereitstellung finanzieller Ressourcen für ihre Mitgliedsverbände eintreten, aber auch darauf achten, dass ihre Interessen in der Agenda der Politik einen angemessenen Raum einnehmen. 4. Vereinigungen im kulturellen, wissenschaftlichen und religiösen Bereich. Hierzu zählen kulturelle Vereinigungen, Bildungswerke und Kunstvereine, wissenschaftliche Vereinigungen und religiöse Gemeinschaften und Sekten. Häufig werden auch die beiden großen Kirchen (Katholische Kirche und Evangelische Kirche Deutschlands) zu den Vereinigungen gezählt (Gabriel/Holtmann, 1997: 543). Obwohl sie als mächtige Pressure Groups wirken, erscheint diese Zuordnung wegen ihres besonderen und privilegierten öffentlich-rechtlichen Status problematisch. Sieht man von den Religionsgemeinschaften ab, so handelt es sich im Wesentlichen um kulturelle und wissenschaftliche Verbände mit relativ geringer Mitgliedschaft, aber häufig großer öffentlicher Wirkung, vor allem im kulturellen Bereich. 5. Politische Vereinigungen und neue soziale Bewegungen. Hierunter können organisierte Interessen subsumiert werden, die in gesellschaftlichen Querschnittsbereichen tätig sind. Es handelt sich um ideelle Vereinigungen oder gesellschaftspolitische Vereinigungen. Ideelle Vereinigungen verfolgen keine Eigeninteressen, sondern setzen sich für andere ein, seien es Kinder in der „Dritten Welt“ (terre des hommes), politische Gefangene (amnesty international) oder Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen (médicen sans frontière). Auf Grund ihres uneigennützigen Engagements verfügen sie, wenn sie ihre Arbeit solide betreiben, über hohes öffentliches Ansehen und große Wirkung, man denke nur an die Arbeit von „amnesty international“. Gesellschaftspolitische Interessen, die häufig aus den neuen sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre hervorgegangen sind, und nicht unbedingt in Vereinsform in Erscheinung treten müssen, sondern sich auch ad hoc in loser Form oder als Bürgerinitiative formieren können, nehmen sich bestimmter gesellschaftlicher Querschnittsbereiche an, wie dem Umweltschutz (Greenpeace, Robin Wood) oder den negativen Folgen der Globalisierung (attac).
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Organisierte Interessen im Bereich der Freizeit und Erholung
Vereinigungen im Bereich von Religion, Kultur und Wissenschaft
Ideelle und gesellschaftspolitische Vereinigungen
9.5.5 Politische Einflussnahme der Verbände Mittel und Adressaten des Verbandseinflusses
Die Frage nach den konkreten Formen und Methoden der Einflussnahme der Verbände ist schwieriger zu beantworten als bei den Parteien, weil sich Verbandshandeln weitgehend im informellen Bereich bewegt. Selbstverständlich sind sie in der politischen Öffentlichkeit präsent, versorgen die Medien mit ihren Themen, haben eigene Publikationsorgane und starten politische Kampagnen, wie z.B. die Gewerkschaften Mitte der 1970er-Jahre für die Einführung der 35Stunden-Woche. Doch wie sie gegenüber der Politik ihren Einfluss geltend machen, ist empirisch nur schwer auszumachen – die Verbände lassen sich ungern „in die Karten schauen“. Abbildung 12: Mittel und Adressaten der Einflussnahme der Verbände Mi t t e l : Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Informationen und Öffentlichkeitsarbeit (öffentliche Kampagnen, Zusammenarbeit mit und Information der Massenmedien, eigene Publikationsorgane) Lobbying (Geschäftsstellen in der Bundeshauptstadt, in Landeshauptstädten und zunehmend in Brüssel, Einflussnahme auf Parlament und Regierung) Direkter Zugang zur Ministerialbürokratie (Beiräte, Konsultationen, Expertenanhörungen, Informationen und Vorschläge) Personelle Repräsentanz in Parlamenten (durch verbandszugehörige Abgeordnete, Mitarbeit in Parlamentsausschüssen und Fraktionsarbeitskreisen, Verbandsexperten in öffentlichen Parlamentsanhörungen, Enquête Kommissionen) Einfluss auf Parteien (Mitgliedschaft oder Funktionen von Verbandsvertretern in Parteien, Mitgliedschaft in Arbeitskreisen oder anderen Untergliederungen, Spenden) Mitgliedermobilisierung (Streiks, Demonstrationen, Menschenketten) Adressaten: Politische Öffentlichkeit Parteien Parlamente Regierung und Ministerialbürokratie supranationale Organisationen Konkurrenzverbände
Die „Konzertierte Aktion“ in den 1960er-Jahren
In den 1960er-Jahren ist in der „Konzertierten Aktion“ eine regulierte und halböffentliche Form des Verbandseinflusses institutionalisiert worden. Diese Form der Institutionalisierung des Verbandseinflusses bewegte sich zwischen dem Modell eines „Wirtschafts- und Sozialrates“ und Beiräten, die zu bestimmten Fragen eingerichtet werden. Die Konzertierte Aktion sollte in institutionalisierter Form Konflikte zwischen Staat und konkurrierenden Verbänden regulieren und eingrenzen und zugleich den Sachverstand der Verbände nutzen. Vorstellungen einer von Sachverstand, nicht von politisch-ideologischen Gegensätzen bestimmten Politik standen dabei Pate.
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In Krisensituationen gibt es immer wieder ad hoc Versuche einer formalisierten Beteiligung der Verbände an Entscheidungsprozessen, sei es zur Vorbereitung der Gesundheitsreform, das 1997 gescheiterte „Bündnis für Arbeit“ der Regierung Kohl oder das unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders reaktivierte, nunmehrige „Bündnis für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“, das ebenfalls keine praktischen Ergebnisse zeitigte. Zu beiden Gesprächsrunden hatten die Kanzler die wichtigsten Verbände eingeladen. Diese Aktionen gehen mit großem öffentlichen Echo einher und sind Versuche, bei kontroversen und weitreichenden Entscheidungen einen möglichst breiten Konsens im Vorfeld der parlamentarischen Debatte und Entscheidung zu erreichen. Der „Alltag“ der Verbandstätigkeit ist weniger spektakulär aber umso wirksamer. Es gibt eine enge personelle Verflechtung von Verbänden mit Parteien. Verbände sind präsent in den Untergliederungen der Parteien, seien es Gewerkschafter in den Sozialausschüssen der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und der „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen“ (AfA) der SPD, Mitglieder von Mittelstandsvereinigungen in der „Arbeitsgemeinschaft Selbständige“ (AGS) der SPD oder Mitglieder von Vertriebenenverbänden in der „Union der Vertriebenen und Flüchtlinge in der CDU/CSU“. In den Kleinparteien ist der formalisierte Zugang der Verbände wegen fehlender organisatorischer Binnendifferenzierung geringer. Die Verbandsrepräsentanz ist, neben dem überproportionalen Anteil von Beamten und öffentlich Bediensteten, in der Literatur und politischen Diskussion häufig als ein Zeichen für die mangelnde Repräsentativität des Parlaments gewertet worden. In allen Parlamentsfraktionen, insbesondere aber bei den beiden großen Volksparteien, sind Verbandsmitglieder und Funktionsträger prominent vertreten. Wesentlich geringer ist sie bei der FDP. Bei den Grünen spielte dieser Aspekt in den ersten Jahren ihrer Existenz als Parlamentspartei nur eine geringe Rolle. Auf Grund ihrer Entstehungsgeschichte fühlten sie sich eher den fluiden Bewegungen, als den tradierten Großverbänden verbunden. Inzwischen hat sich aber ein Netz neuartiger Interessenverbände mit vielfältigen Querverbindungen zur Grünen Partei entwickelt und die Verbandspräsenz hat etwa den gleichen Stand wie bei den Volksparteien erreicht. Es sind vor allem Vertreter der „klassischen“ Verbände, die im Bundestag vertreten sind. Neue Interessengruppen, wie Umweltverbände, Frauengruppen oder Bürgerinitiativen sind insgesamt unterrepräsentiert und nahezu ausschließlich bei den Grünen zu finden. Die große Anzahl von Ausschussmitgliedern mit Verbandsfunktionen deutet darauf hin, dass Verbandsvertreter vor allem den „Arbeitsgremien“ des Parlaments, in denen die konkrete Gesetzgebungsarbeit geleistet wird, Bedeutung zumessen. Hier können sie, soweit das noch nicht in der Vorphase der parlamentarischen Beratungen geschehen ist, konkrete Formulierungen im Interesse der Verbände durchsetzen. Fast alle größeren Verbände unterhalten Geschäftsstellen oder Verbindungsbüros in der Bundeshauptstadt, den Landeshauptstädten und in wachsendem Umfang auch in Brüssel. Sie pflegen gute Verbindungen zu Parlamentariern, Regierungsmitgliedern, Verwaltungsbeamten und den Medienvertretern. Empirische Untersuchungen über die Kontakte zwischen Abgeordneten und Verbandsvertre-
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Verbandsrepräsentanz in Parteien und Parlamenten
Lobbying
tern zeigen ein intensives Beziehungsgeflecht, wobei zwischen den einzelnen Verbänden erhebliche Unterschiede bei den bevorzugten Adressaten bestehen. Es verwundert nicht, dass die Unternehmer- und Mittelstandsvereinigungen die intensivsten Kontakte zur CDU/CSU und FDP haben, während die Kontakte zwischen Gewerkschaften und SPD und zwischen Bürgerinitiativen und Grünen besonders intensiv sind (Hirner, 1993). Einfluss der Die Kontakte von Verbandsvertretern beschränken sich nicht auf das ParlaVerbände auf die ment. Wichtiger noch sind die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Gesetzgebung Einflussmöglichkeiten im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen. Verbandsvertreter haben direkten Zugang zu den Ministerien und nehmen auf diesem Wege bereits auf die Formulierung von Gesetzentwürfen Einfluss. In zahlreichen Arbeitskreisen und Beiräten, in denen Verbandsvertreter sitzen, werden von der Bürokratie Gesetzesinitiativen unterbreitet und mit den Verbandsvertretern diskutiert. § 23 des besonderen Teils der „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien“ regelt den Zugang der beteiligten Fachkreise und Verbände, zu denen auch die Spitzenverbände der Gemeinden und Gemeindeverbände gehören. „Bei der Vorbereitung von Gesetzen können Vertretungen der beteiligten Fachkreise oder Verbände unterrichtet und um Überlassung von Unterlagen gebeten werden sowie Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Zeitpunkt, Umfang und Auswahl bleiben, wenn nicht Sondervorschriften bestehen, dem Ermessen überlassen. Soll der Entwurf vertraulich behandelt werden, ist es zu vermerken.“ (§ 24 GGO II i.d.F. vom 18.6.1991 GMBl. S. 570)
Problematische Aspekte des Verbandseinflusses auf die Gesetzgebung
Diese frühzeitige Einbindung hat einen doppelten Effekt. Sie ermöglicht es organisierten gesellschaftlichen Interessen, indirekt aber höchst effektiv die Richtung des Gesetzgebungsprozesses zu beeinflussen. Häufig sind sie es und nicht die Ministerialbeamten oder Parlamentarier, die die konkreten Auswirkungen verschiedener Gesetzesvarianten am besten einschätzen können. Sie und nicht der Gesetzgeber sind die „Experten“. Ein zweiter wichtiger Effekt ist darin zu sehen, dass bereits frühzeitig mögliche Konflikte bereinigt werden können, sodass sie nicht während des Gesetzgebungsprozesses auftreten und zu öffentlichen Kontroversen führen, deren Dynamik nur schwer berechenbar ist. Ein solches Verfahren hat auch eine Reihe von negativen Konsequenzen. Sind Entwürfe bereits im Vorstadium der parlamentarischen Beratung mit den Verbänden abgestimmt, so bleiben dem Parlament nur noch wenige Möglichkeiten, einen einmal erreichten Kompromiss zu sanktionieren oder aufzukündigen. Die Möglichkeiten parlamentarischer Gestaltung werden erheblich eingeschränkt. Der zweite, folgenreichere Effekt der Beteiligung der Verbände an der Gesetzgebung ist der durch das Verfahren wenn nicht erzwungene, so doch nahezu unausweichliche Zwang zum Kompromiss. Dies mag im Sinne politischer und sozialer Befriedung hingenommen werden, trägt aber dazu bei, gerade in kritischen Situationen, in denen neue Lösungen erforderlich wären, strukturkonservativ zu wirken. Verbände neigen, wenn Gewinne nicht erzielbar sind, zur Verteidigung des status quo.
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Die auf diese Weise etablierten Formen des „bargaining“ finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Da Verbände aber im Wesentlichen Interessen von Gruppen der Gesellschaft wahrnehmen, wird auf diesem Wege eine öffentliche Aufgabe nicht nur der Kontrolle der Verbandsmitglieder und der politischen Öffentlichkeit, sondern z.T. auch der des Parlaments entzogen. Die staatliche Ordnung ist, um es mit den Worten des Abschlussberichts der EnquêteKommission des Bundestages zur Verfassungsreform aus den 1970er-Jahren zu formulieren, „verbandsimprägniert“ (BT-Drs. 7/5924: 120). Die Öffentlichkeit erfährt nichts vom reibungslosen Funktionieren der "Gesetzgebungsmaschine“ und die Wahrscheinlichkeit, dass die Presse sich eines in dieser Form verhandelten Themas annimmt ist eher gering, da sie in aller Regel dann aufmerksam wird, wenn Konflikte zwischen politischen Akteuren öffentlich ausgetragen oder an die Öffentlichkeit lanciert werden. Ist also doch von einer Herrschaft der Verbände zu reden? Ernst Benda, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat 1983 in einem Vortrag unter dem Titel „Staatsverfassung oder Bürgerverfassung“ auf den merkwürdigen Widerspruch hingewiesen, dass der Staat in gewisser Weise allgegenwärtig sei, dass ihm aber auf der anderen Seite außerstaatliche Kräfte den Rang ablaufen.
Kontrolle des Verbandseinflusses aus der Sicht der Enquête-Kommission des Bundestages zur Verfassungsreform
Wen vertreten die Verbände?
„Die Verbände sind immer mächtiger geworden, der Interessen- und Verteilungskampf ist weitgehend in ihre Hände gefallen. In der Tätigkeit der Verbände liegt zweifellos ein großer Bereich legitimer Freiheitsausübung. Aber es wird zum Problem, wenn der Staat nur noch zur Reparaturwerkstatt wird, der die Auswirkungen von Verbandsentscheidungen ausgleichen muß.“ (Benda, 1983: 14)
Diese Wahrnehmung drängt sich auf, wenn man die wichtigen wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten seit den 1990er-Jahren in den Blick nimmt, seien es die Reform der sozialen Sicherungssysteme, des Arbeitsmarktes oder des Gesundheitssystems, in allen Fällen ist ein entscheidender Einfluss der Verbände auf die Gesetzgebung und das Regierungshandeln unverkennbar. Wie mächtig Verbände sein und welchen Einfluss sie auf die Politik haben können, zeigen wenige Bereich so drastisch, wie das Gesundheitswesen, wo die Pharmaindustrie, die Kassenvereinigungen und die Standesverbände der Ärzte seit Jahrzehnten eine grundlegende Reform und Modernisierung blockieren und die Politik nur in kleinen Schritten Veränderungen vornehmen kann. Um ein Mindestmaß an Kontrolle des Verbandseinflusses zu garantieren, Versuche der veröffentlicht der Deutsche Bundestages (GOBT § 70 Abs. 1) seit 1972 regel- Kontrolle des Verbandseinflusses mäßig eine „Bekanntmachung der öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern“, die sogenannte „Lobbyliste“. Im Jahre 2006 waren knapp 2000 Vereinigungen aufgeführt (gegenüber etwa 600 zu Beginn der Registrierung), wovon inzwischen viele eine Geschäftsstelle in der Bundeshauptstadt besitzen. Dies bedeutet dies zweierlei: Zum einen haben nicht nur finanzstarke und mitgliedermächtige Organisationen, sondern auch kleine Verbände die Bedeutung des „Lobbying“ erkannt. Auch sie sind auf einen geregelten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern angewiesen. Zum anderen zeigt die Liste aber auch, dass es nahezu keinen Bereich der Politik mehr gibt, der von Verbandseinfluss frei wäre.
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Verbände in Europa
Verbände sind traditionell national oder regional und lokal orientiert und organisiert. Mit der europäischen Einigung und vor allem mit dem europäischen Binnenmarkt sind aber viele wirtschaftliche oder soziale, in wachsendem Maße auch politische und kulturelle Bereich europäischer Gesetzgebung oder anderweitiger Regelung unterworfen, sodass es für Verbände immer bedeutsamer wird, auch auf dieser Ebene Einfluss zu nehmen. Besonders die großen Verbände praktizieren einen extensiven Lobbyismus in Brüssel. Anzumerken ist aber auch, dass durch die veränderten Schwerpunktsetzung europäischer gegenüber nationaler Politik, bestimmte Verbände eher „aufgewertet“ werden. Verbraucherverbände haben z.B. eine größere Bedeutung erlangt, als sie allein in der nationalen Arena erlangen konnten, da sie dort, nicht nur in der Bundesrepublik, gegen die übermächtige Bauernlobby wenig auszurichten vermochten. Wen vertreten die Es ist durchaus zweifelhaft, wessen Interessen einige Verbände vertreten. Verbände? Große Verbände treten mit dem Anspruch auf, die Interessen breiter Schichten der Bevölkerung und großer Gruppen zu vertreten: Der Arbeitnehmer, der Landwirte, der Frauen, der Kriegsopfer und Kriegshinterbliebenen u.a.m. Vertritt der „Bund der Steuerzahler“ die Steuerzahler in ihrer Gesamtheit oder der ADAC die Autofahrer? Ist der „Deutsche Bauernverband“ der Vertreter der Interessen aller Bauern oder eher bestimmter mächtiger Gruppen innerhalb der Bauernschaft? Haben die Vertriebenenverbände wirklich die Interessen der Flüchtlinge und ihrer Nachfahren im Sinn oder sind sie inzwischen zu Organisationen mit einem selbst zugeschriebenen allgemeinpolitischen Mandat mutiert? Zweifel an der behaupteten Identität von Verbands- und Mitgliederinteressen sind angebracht. Rücksichtnahmen auf Verbandsinteressen bestimmen in vielen Politikfeldern das Handeln und erschweren häufig politische Entscheidungen. Ohne oder gar gegen die Verbände lässt sich kaum regieren. Hierin liegt unter demokratietheoretischen Aspekten auch dann eine Gefahr, wenn man den Verbänden in einer pluralistischen Gesellschaft eine wichtige Rolle zuerkennt. Es geht um die Frage der Handlungsfähigkeit der demokratisch legitimierten staatlichen Institutionen, vor allem des Parlaments und der Regierung. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, dass Rücksichtnahme auf die organisierten Interessen eine auf Konsens angelegte Politik begünstigt. Dieser Zwang zum Konsens mag die Entscheidungsfähigkeit der politischen Institutionen schwächen und dazu tendieren, notwendigen konfliktträchtigen Entscheidungen auszuweichen, auf der anderen Seite aber trägt er dazu bei, größere, das soziale und politische Gefüge gefährdende Konflikte zu vermeiden. Dies hat die Geschichte der Bundesrepublik eindrucksvoll bewiesen.
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Die demokratische Bürgergesellschaft
Als Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969 davon sprach, man wolle „mehr Demokratie wagen“, die Demokratie sei nicht am Ende, sondern stehe erst an ihrem Anfang, drückte er die weit verbreitete Überzeugung aus, dass Demokratie mehr bedeute, als das reibungslose Funktionieren des parlamentarischen Alltagsgeschäfts und periodisch wiederkehrende Wahlen. Zieht man ältere sozialwissenschaftliche Untersuchungen über den Stand der Demokratie (Almond/Verba 1963; 1989; Dahrendorf 1965) oder neuere Studien zur Geschichte der Bundesrepublik (Wolfrum 2006) zu Rate, dann wird deutlich, dass die Bundesrepublik am Ende der 1960er-Jahre zwar als institutionell konsolidierte Demokratie mit einer eindeutig „westlichen“ Ausrichtung bezeichnet werden konnte, dass aber im Hinblick auf die mentale Verankerung demokratischer Normen und Werthaltungen noch Defizite zu vermerken waren. Auch wenn man das US-amerikanische Ideal der „civic society“, einer auf die community bezogenen, dem Staat eher mit Distanz gegenüber stehenden Vorstellung von Politik, wie sie der Studie von Almond und Verba zu Grunde liegt, nicht ohne weiteres auf Europa und Deutschland übertragen kann, war doch unverkennbar, dass das bürgerschaftliche Engagement sich erst in den 1960er-Jahren breiter zu entfalten begann. Die Gründergeneration der Nachkriegszeit hatte mit ihrer politischen Weichenstellung zu Gunsten einer westlichen Demokratie gegen tradierte Vorstellungen eines deutschen „Sonderweges“ die normativen und institutionellen Voraussetzungen geschaffen, auf denen sich Ideen einer aktiven demokratischen Bürgergesellschaft Bahn brechen konnten. Es war dieses Element einer, auf der aktiven Teilnahme der Bürger, der citoyen, beruhenden Demokratie, das Willy Brandt 1969 beschwor. Legt man die Intentionen des Grundgesetzgebers zu Grunde, dann erscheint Politische diese Aussage zumindest auf den ersten Blick problematisch und die Empörung, Beteiligung im Grundgesetz die diese Passage der Regierungserklärung bei der Opposition im Deutschen Bundestag hervorgerufen hat, verständlich, denn es war 1969 offenkundig, dass die Bundesrepublik eine nicht ernsthaft in Frage gestellte oder gar gefährdete demokratische politische Ordnung war. Bei näherem Hinsehen jedoch verweist diese Aussage auf ein noch weit gehend uneingelöstes Versprechen der Verfassung. Das Grundgesetz hatte 1949 zwar ein repräsentatives parlamentarisches System etabliert und – mit Ausnahme einer Neugliederung des Bundesgebietes – keine unmittelbare Einflussnahme der Bürger auf aktuelle politische Entscheidungen vorgesehen. Ihrer Beteiligung am politischen Prozess aber wurde ein weiter Raum geöffnet. Insofern wäre es ein Missverständnis, dem Parlamentarischen Rat zu unterstellen, er sei einem altliberalen Modell der Politik im Geiste 491
des 19. Jhs. gefolgt. Dagegen spricht neben der Tatsache, dass er den Parteien eine prominente Rolle bei der Staatswillensbildung zugeschrieben hat auch die grundrechtliche Erwähnung der Verbände und der Koalitionsfreiheit. Allerdings war es im Grundgesetzt nicht der ungeordnete Volkswille, der – außer bei Wahlen – zum Tragen kommen sollte, sondern der institutionell geordnete, in Parteien, Vereinigungen und Verbänden organisierte Wille des Volkes bzw. wichtiger Gruppen, den das Grundgesetz im Auge hatte. Wenn Parteien und Vereinigungen von Verfassungs wegen als integraler Bestandteil des politischen Gemeinwesens anerkennt werden, wird neben dem Repräsentationsprinzip auch das Element der Partizipation in institutionalisierter Form verfassungsrechtlich verankert.
10.1
Politische Willensbildung und politische Beteiligung
Seit Max Weber wissen wir, dass Politik ein Beruf ist, der besondere Qualifikationen, Kenntnisse, Routinen und Verhaltensweisen erfordert und produziert. Der altliberalen Vorstellung, Politik sei die Sache von „Gentleman“ oder „Honorationen“, die für die Politik leben, setzte er die Beobachtung entgegen, dass Politik immer mehr eine Sache von Fachleuten und Experten war, die mit und von der Politik leben. Der „Berufspolitiker“ war zum prägenden Typus geworden. Zugleich aber hat Max Weber bereits 1910 auf dem ersten deutschen Soziologentag, angeregt, sich auch mit jenen „Gebilden“ näher zu befassen, „welche man konventionell als 'gesellschaftlich' bezeichnet, d.h. alles das, was zwischen den politisch organisierten oder anerkannten Gewalten – Staat, Gemeinde und offizieller Kirche – auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft der Familie auf der anderen Seite in der Mitte liegt. Also vor allem: eine Soziologie des Vereinswesens im weiten Sinne des Wortes, vom Kegelclub – sagen wir es ganz drastisch! – angefangen bis zur politischen Partei und zur religiösen oder künstlerischen oder literarischen Sekte.“ (Weber, 1988: 441 f.)
Damit nahm er neben den Institutionen des Staates mit ihren hierarchischen und bürokratischen Strukturen auch jene Organisationen in den Blick, die, wie Parteien, Verbände, Kirchen oder kulturelle Einrichtungen, auch eine wichtige politische Funktion haben. Was in diesem Bild noch fehlt, sind, die Staatsbürger, die citoyen. Welche Rolle spielen die politischen Individuen in der Politik und welche Bedeutung wird ihrer direkten oder indirekten Beteiligung am politischen Prozess zugemessen? Partizipatorische Im Hinblick auf die Bewertung politischer Beteiligung für moderne liberale versus „realistische“ Demokratien stehen sich drei Denkschulen gegenüber. Eine sich als „realistisch“ Demokratietheorie und empirisch verstehende Denkrichtung knüpft an das Konzept „demokratischer Elitenherrschaft“ bei Joseph Schumpeter an, in dem der Beteiligung der Bürger allenfalls eine untergeordnete Bedeutung zugemessen wird, weil sie wenig direktes Interesse an der Politik haben und nicht über die notwendige Sachkenntnis verfügen, um die immer komplexer werdenden Probleme moderner Gesellschaften lösen zu können (Schumpeter, 1987; Sartori, 1992).
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Demgegenüber spielt für pluralismustheoretisch beeinflusste Demokratievorstellungen der freie Ausgleich unterschiedlicher Interessen eine wichtige Rolle. Politische Entscheidungen sind das Ergebnis eines Prozesses, in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Vereinigungen ihre Interessen artikulieren, organisieren und in freier Konkurrenz miteinander vertreten und durchsetzen können. Das Verfahren politischer Entscheidungsfindung ist auf Ausgleich und Kompromissbildung ausgerichtet. Der Staat hat die Rahmenbedingungen für den pluralen Interessenausgleich bereitzustellen und zu sichern. Ernst Fraenkels klassische Definition des Repräsentationsprinzips als „rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eine Staates oder sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen“ (Fraenkel, 1990: 113) wendet sich – um mit Otto Kirchheimer zu sprechen – gegen die „Fata Morgana einer Gesellschaft ..., die ohne zwischengeschaltete öffentliche Organisationen auskommt, die zwischen Gruppen und Einzelnen und zwischen verschiedenen Gruppen vermitteln“ (Kirchheimer, 1967: 129). Nicht berücksichtigt ist allerdings ein zentrales Problem moderner Demokratien: die Durchsetzungsfähigkeit organisationsfähiger minoritärer Interessen durch ihren direkten oder indirekten Zugang zur Politik und die Nichtberücksichtigung nicht organisationsfähiger Interessen. Problematisch ist aus heutiger Sicht auch die Überbetonung des Repräsentationsprinzips gegenüber der Möglichkeit unmittelbarer Partizipation der Bürger. Die Theorie „demokratischer Elitenherrschaft“ konzentriert sich auf die Ausgestaltung politischer Herrschaftsverhältnisse unter demokratischen Bedingungen. Die Pluralismustheorie weist den organisierten Interessengruppen eine zentrale Bedeutung zu. Beide widmen den direkten Beteiligungsmöglichkeiten und -wünschen der Bürger aber nur eine geringe Aufmerksamkeit. Wenn man die Demokratie aber nicht nur als ein in bestimmter Weise organisiertes politisches System und einen gegen Machtmissbrauch geschützten Prozess der Generierung politischer Entscheidungen, sondern mit Carl Joachim Friedrich (1959) als „Herrschafts- und Lebensform“ begreift, dann kann sie nicht auf den engeren Bereich der Staatsorganisation begrenzt werden, sondern ist ein Gestaltungsprinzip, das alle Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Ordnung prägt und strukturiert. Es gelte, „die Verfassung nicht formalistisch, sondern lebendigorganisch aufzufassen, als eine Gesamtheit menschlicher Beziehungen, die auf genossenschaftlicher Zusammenarbeit beruhen“ (Friedrich, 1959: 9). Friedrich greift damit auf die Unterscheidung zwischen herrschaftlichen und genossenschaftlichen Sozialverhältnissen zurück, wie sie in der Staatsrechtslehre und der Soziologie am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. verbreitet waren (v. Gierke, 1954; Preuss 1964; Vierkandt, 1928). Demokratische Elitenherrschaft degeneriert, wenn sie sich nicht den Partizipationswünschen der Bürger öffnet und Verfahren und institutionelle Strukturen zur Verfügung stellt, die eine Beteiligung der Bürger fördern und unterstützen. Es stellt sich die Frage, ob die ererbten und erprobten Verfahren der parlamenta-
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Defizite pluralismustheoretischer Demokratievorstellungen
Demokratie als Herrschafts- und Lebensform
„civic culture“
Vereinigungen als Gradmesser für eine freiheitliche soziale und politische Ordnung
„secondary associations“
risch-repräsentativen Demokratie allein noch ausreichen, um in einer veränderten Welt, die durch umfassende Information und Kommunikation, zugleich aber durch wachsende Verflechtung von Problemen und Entscheidungsebenen gekennzeichnet ist, den Anspruch der Demokratie, Herrschaft des Volkes zu sein, aufrechterhalten zu können, ohne die Bürger stärker in Vorbereitung politischer Entscheidungen und die Entscheidungsfindung selbst einzubeziehen. Dies stellt sowohl die Frage nach einer institutioneller Reform als auch nach Möglichkeiten, die Rolle des Souveräns, des Bürgers, in einer auf dem Repräsentationsprinzip beruhenden politischen Ordnung neu zu justieren (Fishkin, 1991: 42ff.; Birch, 1993; Budge, 1996; Wright, 1995). In Abgrenzung von elitetheoretischen und pluralistischen Demokratievorstellungen vertreten die Protagonisten partizipatorischer Demokratie die Auffassung, dass eine möglichst aktive Beteiligung der Bürger an der Politik nicht nur wünschenswert sei, sondern auch als empirischer Maßstab für den Entwicklungsgrad einer bürgerschaftlichen politischen Kultur (civic culture) herangezogen werden müsse (Almond/Verba, 1989; Held, 1995; Hirst, 1994). Es wird ein untrennbarer Zusammenhang und eine positive Korrelation zwischen dem demokratischen Gehalt einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung und der Anzahl, Bedeutung und dem Einfluss von Vereinigungen als sichtbarem Ausdruck der Teilnahme der Bürger an den öffentlichen Dingen und den Problemen des Gemeinwesens hergestellt. Die Existenz freiwilliger Vereinigungen erweitert das demokratische Potenzial einer Gesellschaft (Almond/Verba, 1963: 262). Es stellte einen historischer Fortschritt im deutschen Verfassungsdenken dar, als das Grundgesetz die Rolle der politischen Parteien – und mit einem gewissen Abstand auch der Vereinigungen und Verbände – als wesentliches Element der Staatswillensbildung und der politischen Gemeinschaft anerkannte. Es vollzog mit dieser Anerkenntnis nach, was sich historisch seit dem Ende des 19. Jhs. herausgebildet hatte: Die moderne Demokratie ist eine politische Ordnung, in der Parteien eine zentrale Rolle bei der Staatswillensbildung spielen und auf Freiwilligkeit beruhende Vereinigungen als Gradmesser für eine freiheitliche soziale und politische Ordnung gelten können. Diese Vorstellungen sind in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik auf Parteien und große, durchsetzungsfähige Verbände begrenzt worden. Traditionelle, von Friedrich und anderen als „genossenschaftlich“ bezeichnete Formen politischer, sozialer oder kultureller Gemeinschaftsbildung wurden eher als Relikte aus einer vergangenen Zeit betrachtet. Dies hat sich in den letzten drei Jahrzehnten erkennbar verändert. Die Grenzen formaler politischer Vereinigungen wurden deutlicher erkennbar und die Bürger selbst und ihre unmittelbaren und häufig spontanen Vergemeinschaftungsformen traten wieder stärker in den Mittelpunkt demokratietheoretischer Überlegungen. In diesem Kontext ist eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht worden, die allerdings bisher nur ansatzweise Eingang in die politische Praxis gefunden haben. Joshua Cohen und Joel Rogers, setzen bei den Vereinigungen und Verbänden an. Sie werden als „secondary associations“, als Organisationen bezeichnen, die zwischen den Bürgern oder Unternehmungen einerseits und dem Staat andererseits vermitteln und damit eine elementar wichtige Rolle im politischen Leben moderner demokratischer Gesellschaften spielen. Sie sind beteiligt an der Bestimmung der politischen Agenda und den allfälligen politischen Entscheidun-
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gen, sie formen Überzeugungen, Präferenzen, Selbstverständnis und Denkmuster, die das Handeln und die Verhaltensweisen von Individuen in den verschiedenen politischen Arenen bestimmen. Cohen/Rogers sehen das Problem einseitiger Interessendurchsetzung (problem of faction) und die immer wieder beschworene und empirisch belegte Gefahr, dass Vereinigungen und Verbände sozial erfolgreichere Gruppen begünstigen und unzulässig Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu Gunsten dieser Gruppen nehmen, halten dem aber entgegen, dass es darauf ankäme, in einem umfassenden Konzept assoziativer Demokratie Regularien für eine gleichberechtigte demokratische Diskussion zwischen solchen Assoziationen zu schaffen – wenn nötig durch den gezielten Einsatz öffentlicher Gewalt (Cohen/Rogers, 1995: 7 f.). Dieser Position ist von verschiedenen Seiten deutlich widersprochen worden (Wright, 1995). Insbesondere ist die Übertragung eines halböffentlichen Status an die Verbände kritisch zu sehen. Positiver Kern der Überlegungen ist die Vorstellung einer „aktiven Assoziationspolitik“, welche die Basis demokratischer Politik verbreitern soll, indem sie Voraussetzungen schafft, Formen „kooperativer Regulierung“ (Schuppert, 1997: 127) zu schaffen, die dazu führen, dass nicht nur mächtige Großorganisationen an politischen Entscheidungen beteiligt werden, sondern das öffentliche Engagement und die Bereitschaft unterschiedlichster Gruppen und Vereinigungen befördert wird, aktiv am politischen Prozess teilzunehmen. Seit den 1980er-Jahren hat die Frage, ob es sinnvoll und geboten sei, die repräsentative Ordnung des Grundgesetzes durch direkt demokratische Elemente anzureichern eine wichtige Rolle in der politischen Debatte gespielt. Ein vergleichender Blick auf moderne demokratische Systeme zeigt, dass die verbreiteten Vorbehalte gegen eine Öffnung der Ordnung des Grundgesetzes zumindest zu relativieren sind. Obwohl die Frage berechtigt ist, ob und inwieweit die Prinzipien von Repräsentation und Partizipation miteinander vereinbar sind, ist eine dichotomische Gegenüberstellung von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie problematisch. Vielmehr ist zu fragen, welche konkreten Wirkungen und Ergebnisse von einer Einführung partizipatorischer Elemente in das Grundgesetz zu erwarten wären und welche Vorbilder es in anderen modernen Demokratien gibt, auf die man zurückgreifen könnte oder die man vermeiden sollte. In Anlehung an die Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung demokratischer Staaten, die Arend Lijphart in den 1980er-Jahren vorgenommen und inzwischen erweitert hat Lijphart, 1984; 1999) können verschiedene Methoden zur Stärkung des Einflusses der Wahlbürger in demokratischen Systemen jenseits der reinen Repräsentation ausgemacht werden: 1. Als auf den ersten Blick nahe liegende Variante einer Demokratisierung des parlamentarischen Modells erscheint die Möglichkeit einer direkten Wahl der Exekutive durch die Wähler, anstelle ihrer Wahl durch die Legislative. Die Volkswahl der Exekutive ist aber inkompatibel mit einem System, in dem die Exekutive vom Vertrauen der Legislative abhängig ist. Die Einführung der direkten Wahl der Exekutive bedeutet also, das Regierungssystem vom parlamentarischen zum präsidentiellen Typus zu verschieben. Dies würde das Verhältnis Exekutive – Legislative fundamental verändern.
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Politische Partizipation in vergleichender Perspektive
2. Das zweite Element einer stärkeren Verschiebung in Richtung einer direkten Demokratie ist das Referendum. Dabei kann es sowohl um die Ergänzung der allgemeinen Gesetzgebung bei regulären Gesetzen oder bei Verfassungsänderungen als auch bei Fragen von nationaler Bedeutung gehen. Das Institut des Referendums ist umso stärker, je größer die Chance der Bürger ist, Fragen, über die im Referendum entschieden wird, selbst zu bestimmen. 3. Eines der wesentlichen Monita an der repräsentativen Demokratie ist seit Jean-Jacques Rousseau, dass die Repräsentanten, einmal gewählt, nicht mehr durch die Wähler kontrolliert und abberufen werden können. Die Möglichkeit des Rückrufs („Recall“) oder die in rätetheoretischen Modellen favorisierte Verbindung von imperativem Mandat und jederzeitiger Abberufbarkeit von Repräsentanten, könnte dieses Problem zumindest formal lösen. Wenn eine bestimmte Mindestanzahl der Wähler es will, kann eine spezielle Abstimmung initiiert werden, mit welcher die Repräsentanten ersetzt werden können. Recall kann allerdings nur in Mehrheitswahlsystemen mit Einpersonenwahlkreisen praktiziert werden, weil es erfordert, dass die Wählerschaft jedes Repräsentanten eindeutig identifizierbar ist. Gleiches gilt für das imperative Mandat. Beide Instrumente sind daher inkompatibel mit dem Verhältniswahlrecht oder einem gemischten Wahlsystem wie in der Bundesrepublik. 4. Direkte Vorwahlen („Primaries“) umgehen die politischen Parteien als Mediatoren des Wahlprozesses. Sie nehmen den Selektionsprozess aus den Händen der Parteiorganisation heraus und übertragen sie entweder an die Parteimitglieder oder an das gesamte Elektorat. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, würde dies bedeuten, entweder den jeweiligen Parteimitgliedern oder den Wählern das Recht zur Auswahl der Wahlkreiskandidaten zu übertragen. Die Folge wäre eine fundamentale Veränderung der Rolle der Parteien. Auch dieses Verfahren wäre kaum mit einem gemischten Wahlsystem vereinbar. Die meisten dieser Instrumente sind international außerordentlich selten anzutreffen. Die Ergebnisse sind durchaus zwiespältig. Nur das Referendum wurde in einer Mehrzahl der Demokratien eingeführt, aber zumeist selten benutzt. Abgesehen von der Schweiz, ist die Zahl der Referenda in anderen Ländern äußerst gering. Nicht verfasste Politische Partizipation hat auch eine Zeitdimension. Dies bedeutet, dass sie Formen der sich nicht unbedingt in institutionalisierter und auf Dauer gestellter Form abspiePartizipation len muss. Neben die institutionalisierten Formen politischer Vergemeinschaftung können auch vielfältige Möglichkeiten nicht institutionell verfasster Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen treten, die häufig spontan und/oder situationsbezogen entstehen, wenn sich ein neues Problem auftut oder Konflikte zwischen Amtsträgern und Bürgern entstehen. Können sie nicht gelöst werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass neue Vereinigungen oder Verbände, unter Umständen, wie das Beispiel der Grünen zeigt, auch Parteien entstehen können, die sich zur Aufgabe machen, die von ihnen als bedeutsam erachteten Probleme dauerhaft in die politische Agenda einzuspeisen.
496
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf ältere Formen politischer und gesellschaftlicher Vergemeinschaftung, wie Genossenschaften oder weltanschauliche und politische Gemeinschaften, die durch eigene Formen der Lebensgestaltung oder mit ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten Alternativen zu den Anschauungen und Verhaltensweisen der Mehrheitsgesellschaft entwickeln und die mit ihrem ganzheitlichen Anspruch in den politischen und sozialen Raum hinein ausstrahlen. Diese im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreiteten gemeinschaftlichen und genossenschaftlichen Lebensformen waren im Zuge der Modernisierung nahezu verschwunden, erlebten aber mit der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen in den späten 1970er-Jahren eine Renaissance. Auch wenn sich ihr Anspruch auf eine radikale Veränderung des politischen und sozialen Lebens und der Entwicklung einer neuen Kultur nicht durchhalten ließ, haben die Themen dieser neuen Bewegungen doch die politische Diskussion in modernen Gesellschaften nachhaltig beeinflusst und verändert. Je mehr zentrale Probleme moderner Gesellschaften den nationalen Rahmen sprengen und national nicht mehr lösbar sind, umso mehr entstehen auch supranationale und internationale Verbindungen von Gruppen und Vereinigungen, die einen intensiven Erfahrungsaustausch über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg pflegen und sich mehr und mehr als europäische und internationale Netzwerke etablieren. An die Stelle traditioneller, verbandsmäßig organisierten Vereinigungen entstehen lose, problemorientierte und flexible Strukturen der Zusammenarbeit, die einen wachsenden Einfluss auf politische Entscheidungen jenseits der nationalen Politik erlangen. Einer verbreiteten Unzufriedenheit mit dem als geschlossen empfundenen repräsentativ-parlamentarischen System, mit der „Verstaatlichung“ der Parteien und der Entfernung der Verbände von den Interessen ihrer Mitglieder ist es wesentlich zuzuschreiben, dass es seit den 1970er-Jahren zu einer intensiven, äußerst kontroversen und noch anhaltenden Debatte über die Erweiterung von politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger und um die Frage einer partizipatorischen und plebiszitären Öffnung der politischen Ordnung der Bundesrepublik gekommen ist. Zwei Positionen standen sich unversöhnlich gegenüber: Die einen wandten sich gegen vermeintliche Versuche, die repräsentative politische Ordnung des Grundgesetzes aufzuweichen und sahen in Forderungen nach direkter Bürgerbeteiligung einen Angriff auf die Grundfesten des Staates. Vor allem bei der klassischen politischen Linken und später bei Gruppen, die aus den neuen sozialen Bewegungen entstanden, war die Auffassung verbreitet, dass es zu einer Demokratisierung weiter Bereiche der Gesellschaft kommen müsse, seien dies wirtschaftliche Unternehmungen, die öffentliche Verwaltung oder Hochschulen. Mit den neuen sozialen Bewegungen kamen zudem basisdemokratische Ideen ins Spiel, die mit den Forderungen nach einem imperativen Mandat und nach einer Entprofessionalisierung von Politik Positionen vertraten, die an syndikalistische, anarchistische und rätedemokratische Vorläufer anknüpften. Auch wenn einige politische Gruppierungen einer Abschaffung des demokratischen Systems und einem revolutionären Umsturz das Wort redeten, ging es in dem verfassungspolitischen und demokratietheoretischen Streit im Wesentli-
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Ältere Formen politischer und gesellschaftlicher Vergemeinschaftung
Neue Netzwerkstrukturen
Argumente für und gegen plebiszitäre Elemente in der Demokratie
chen um die Frage, ob und in welchem Umfang die repräsentative Demokratie Elemente direkter Demokratie zulassen könne und dürfe oder ob dies mit ihren Grundprinzipien unvereinbar sei.
10.2
Politische Willensbildung als funktional gegliederter Prozess
Repräsentation und Partizipation in der politischen Ordnung des Grundgesetzes
Politische Willensbildung ist in liberalen Demokratien ein funktional gegliederter Prozess, an dem Parlament und Regierung, Parteien und gesellschaftliche Interessenorganisationen, Institutionen der öffentlichen Meinungsbildung und Bürger beteiligt sind. Eine ausschließlich auf staatliche Institutionen beschränkte politische Willensbildung würde den Vorstellungen einer Bürgergesellschaft nicht genügen. Sie erfordert politische Beteiligung auf verschiedenen Ebenen, durch verschiedene Akteure und in verschiedenen Feldern der Politik. Das Grundgesetz sieht das Verhältnis Politik Bürger als eine institutionell verregelte Beziehung. Die Bürger legitimieren politisches Handeln durch „Wahlen und Abstimmungen“ und statten damit die „besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ mit der notwendigen Legitimität aus, in ihrem Namen und Auftrag handeln zu können. Im Verständnis des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1) geht alle Staatsgewalt vom Volke als einheitlich gedachtem Staatsvolk aus (Schuppert 1997:142), wird aber nicht direkt von ihm ausgeübt. Bürger und Damit erschöpft sich das Demokratieverständnis des Grundgesetzes keinesintermediäre wegs. Zwischen den Staat und die Bürger schieben sich intermediäre InstitutioInstitutionen nen, die zwischen den Bürgern und den Institutionen des Staates stehen und als solche eine Vermittlungs- und Aktivierungsfunktion haben, die auf das politische Ganze, auf die Mitgestaltung des Gemeinwesens zielen. Vor allem die mit einem grundgesetzlichen Auftrag versehenen Parteien sind hier zu nennen. Eine bedeutsame Rolle im intermediären Bereich spielen ferner die Vereinigungen und Verbände. Beiden widmet das Grundgesetz besondere Aufmerksamkeit. In ihnen und mit ihnen treten die Bürger, wenn sie es denn wollen, in eine institutionell vermittelte direkte Beziehung zur Politik. Auch hier bedeutet dies nicht direkte Einflussnahme auf die staatliche Willensbildung, aber sehr wohl direkte Einflussnahme auf die vorstaatliche Willensbildung, deren Ergebnisse einen prägenden, wenn nicht gar bestimmenden Einfluss auf erstere hat. Der Wille von Partei- oder Verbandsmitgliedern, über mehrere interne Filtermechanismen auf Parteitagen oder Verbandskonferenzen geäußert, bestimmt, je nach Einfluss und Stärke der Organisation, in erheblichem Maße die Richtlinien der Politik. Dem Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung weist das Bundesverfassungsgericht in seinem Mitbestimmungsurteil eine zentrale Rolle zu. Das politische Gemeinwesen, welches das Grundgesetzes meine, solle weder in ständischkorporativen Formen, wie sie älteren Sozialordnungen eigen waren, noch in der planmäßigen Formung und Organisation durch den Staat und „eines von herrschenden Gruppen diktierten Wertsystems“ Gestalt gewinnen. Das Bild des 498
Menschen, welches die Verfassung in ihrem ersten Artikel formuliere, sei nicht das eines „isolierten und selbstherrlichen Individuums, sondern das der gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person“, die auf vielfältige zwischenmenschliche Bezüge angewiesen sei, Bezüge, die sich zu einem wesentlichen Teil durch Vereinigungen unterschiedlicher Natur herstellten (BVerfGE 50, 290: 353 f.). Das Grundgesetz verankert die rechtlichen und politischen Voraussetzungen für die Beteiligung der Bürger an der Politik als Bestandteil der Grundrechte in Art. 4 GG (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit und Prinzip der freien Religionsausübung), in Art. 5 GG (Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit), in Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) und in Art. 17 GG (Petitionsrecht). Damit werden Rechte und Chancen bestimmt, die die einzelnen Bürger oder Gruppen von Bürgern nutzen oder auch ausschlagen können. Das Grundgesetz akzeptiert Interessen als Element moderner Demokratien, ist allerdings skeptisch gegenüber dem permanenten und direkten Einfluss von unorganisierten oder ungegliederten, diffusen Interessen und hält die politischen Entscheidungsstrukturen weitgehend von ihnen frei. Diese Abstinenz spiegelt sich auch in der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten problematischen Unterscheidung von „Staatswillensbildung“ und „Volkswillensbildung“ wider, wonach „öffentliche Meinung und Willensbildung des Volkes“ nicht mit der „Äußerung der Meinung oder des Willens eines Staatsorgans in amtlicher Form“ identifiziert werden könne (BVerfGE 8, 104; ferner BVerfGE 20, 56; 44, 125). Umso auffallender sind die beiden Ausnahmen: Art. 9 Abs. 3 GG entzieht mit der besonderen Hervorhebung von Vereinigungen „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ und der grundrechtlichen Festschreibung des Instituts der Tarifautonomie gerade einen, seit der Industrialisierung politisch-ideologisch am heftigsten umstrittenen Bereich weitgehend dem staatlichen Einfluss und öffnet ihn dezidiert dem Verbandseinfluss. Die zweite Ausnahme ist die Funktion der Parteien, denen eine spezifische Mittlerfunktion, gleichsam als Filter zwischen Meinungen und Stimmungen des Alltags und den Notwendigkeiten gemeinwohlorientierten Handelns zugewiesen wird. Den institutionellen Rahmen für politische Beteiligung normiert das Grundgesetz in drei Bereichen: der Stellung der Bürger bei der Bildung des Staatswillens in Art. 20 Abs. 2 GG, in der Hervorhebung der politischen Parteien in Art. 21 Abs. 1 GG und in der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des Art. 9 GG. 1. Die Formulierung in Art. 20, Abs. 2 GG, dass alle staatliche Gewalt vom Volke ausgehe und vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt werde, bedeutet nach der übereinstimmenden Interpretation der Verfassungsrechtler, dass neben den Wahlen auch andere Formen der Beteiligung an der Staatsgewalt wie Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide durch das Grundgesetz gedeckt sind. Einigkeit besteht auch darüber, dass die Schöpfer des Grundgesetzes einem eindeutig repräsentativen System den Vorzug gegeben haben. In den Länderverfassungen, vor allem denen jüngeren Datums, sind plebiszitäre Elemente eingebaut.
499
Beteiligungsrechte der Bürger im Grundgesetz
Der institutionelle Rahmen politischer Beteiligung im Grundgesetz
2. Die herausragende Rolle der Parteien in Art. 21 GG als politische Organisationen, die „bei der politischen Willensbildung mitwirken“ und daher in ihrer Binnenstruktur demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen, etabliert sie als Mittler zwischen der Herrschaftsstruktur des Staates und den Bürgern. 3. Die Sicherung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Art. 9 GG stellt die freien Vereinigungen der Bürger unter Grundrechtsschutz und betont zusätzlich im Abs. 3 die besondere Bedeutung von Vereinigungen „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.
Begründungen für die partizipatorische Erweiterung des politischen Systems
Beteiligung an Wahlen, die Mitgliedschaft in Parteien, Verbänden und Vereinen sind die traditionellen, verfassungsrechtlich garantierten und im Laufe der Jahrzehnte rechtlich differenziert ausgestalteten Formen der politischen Beteiligung. Neuere Formen der Partizipation können sich auf die Grundrechte in Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 5 Abs. 1 GG Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit), Art. 8 Abs. 1 GG (Versammlungsfreiheit) und Art. 9 GG Abs. 1 GG (Vereinigungsfreiheit) berufen, solange sie die in diesen Grundrechtsartikeln formulierten Schranken und die Strafgesetze achten. Dass hier Grauzonen entstehen können, die dann die Gerichte beschäftigen, lässt sich mit vielen Beispielen belegen, man denke nur an die Urteile zu Sitzblockaden vor alliierten Kasernen und Waffendepots, in denen es um Nötigung und gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr ging. Seit den 1970er-Jahren wird mit unterschiedlichen Argumenten und Begründungen immer wieder eine Erweiterung und Öffnung des Grundgesetzes hin zu direkt demokratischen Verfahren politischer Willensbildung gefordert, ohne dass dabei die Grundlagen der repräsentativen Demokratie grundsätzlich in Frage gestellt würden (Fijalkowski, 1986). Für die partizipatorische Erweiterung des politischen Systems werden demokratietheoretische, funktionale und materielle Argumente angeführt: x
x
x
Das demokratietheoretische Argument lautet, dass das Repräsentationsprinzip den Partizipationswillen der Bürger missachte und sie auf ihre Rolle als Wahlbürger beschränke. Eine demokratische Ordnung könne die Bereitschaft zur Partizipation nicht einfach ignorieren. Die funktionale Begründung lautet, dass eine Erweiterung der Instrumente politischer Willensbildung einen reichhaltigeren „Instrumentenkasten“ für die Bearbeitung unterschiedlicher Probleme zur Verfügung stelle und auf diesem Wege getroffene Entscheidungen Konflikte minimierten. Das materielle Argument lautet, dass die Einbeziehung des in einer Gesellschaft vorhandenen Sachverstandes die Qualität der Entscheidungen verbessere, da „die Bürger ihre Probleme am besten kennen“.
Grundlage der Forderungen nach erweiterter politischer Beteiligung ist häufig ein basisdemokratisches Politikverständnis, das die Demokratie nicht in der periodischen Bestimmung von politischen Repräsentanten durch Wahlen erschöpft sieht, sondern die aktive Teilhabe des citoyen als Voraussetzung für die Verwirklichung von Demokratie begreift. Zugleich wird argumentiert, dass es ein gesteigertes Bedürfnis nach Partizipation gebe, dem der Gesetzgeber und die politischen In-
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stitutionen Rechnung tragen müssten. Angesichts der erkennbaren Abkopplung des politischen Institutionensystems von den Bürgern könne der Einbau direktdemokratischer Elemente in die politische Ordnung als Korrektiv wirken. Den vielfältigen Vorschlägen für eine Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten wird mit einer Reihe kritischer Argumente begegnet: x x
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Eine partizipatorische Öffnung gefährde das Gleichgewicht politischer Ent- Kritik an erweiterter Partizipation scheidungsverfahren im repräsentativen System. Jede andere Form der politischen Teilhabe außer an Wahlen sei mit einem erheblichen Aufwand verbunden und fordere deutlich höhere Kenntnisse komplizierter Zusammenhänge. Schon die bestehenden Partizipationsmöglichkeiten in Parteien und Verbänden zeigten deutlich, dass erweiterte Partizipation dazu tendiere, Bürger mit höherem sozio-ökonomischen Status zu begünstigen. Aus Gründen der Gleichheit von Einflusschancen, die bei Wahlen größer sei, als bei sozial ungleich verteilter erweiterter Partizipation, sei eine Erweiterung aufwendiger Formen direkter Bürgerbeteiligung problematisch.
10.3
Formen politischer Beteiligung
Politische Partizipation reicht von der Beteiligung an Wahlen, der passiven oder aktiven Mitgliedschaft in Parteien oder Interessenverbänden, der Beteiligung an Bürgerinitiativen oder sozialen Bewegungen, politischem Protest bis hin zur „direkten Aktion“. Ja, selbst bestimmte Formen des Terrorismus, man denke an Gruppen wie die ETA und die IRA, können als spezifische, wenngleich allgemein geächtete und mit kriminellen Mitteln operierende Formen der politischen Beteiligung gewertet werden. Im Hinblick auf diese große Varianz der Formen politisch motivierter Handlungen empfiehlt es sich, zwischen legaler, im Rahmen der Gesetze sich vollziehender und illegaler, die Gesetze missachtender oder übertretender Beteiligung zu unterscheiden. Auch ändern sich die in einer Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen darüber, was als allseits anerkannte und als legitim erachtete Form politischer Beteiligung zu gelten habe und welche Aktionen, Handlungen und Verhaltensweisen als illegitim angesehen werden. Bei der Frage, ob, in welchem Umfang und wie Bürger sich direkt an der Politik beteiligen und welche konkreten Formen eine solche Beteiligung annehmen kann, erscheint es zudem sinnvoll, zwischen dauerhafter und einmaliger oder kurzfristiger Beteiligung zu unterscheiden. Und schließlich entwickeln sich immer wieder neue Formen politischer Beteiligung, die zuerst unkonventionell sind und häufig auf Ablehnung stoßen, sich im Laufe der Zeit aber „einbürgern“ und in das Arsenal politischer Aktionsmuster aufgenommen werden (Kaase, 1992: 147f.). Mit dem Blick auf konkreten Formen politischer Beteiligung ergibt sich fol- Muster politischer gendes Muster (Parry/Moyser/Day, 1992: 51; Birch, 1993: 81): Die Teilnahme Beteiligung an Wahlen oder Referenda und die aktive oder passive Mitgliedschaft in Parteien und/oder Verbänden, die Mitarbeit in formellen oder informellen Gruppen oder 501
die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen sind die am meisten praktizierten und tradierten Formen politischer Beteiligung. Seit den Studentenprotesten der späten 1960er-Jahre und im Kontext der Entstehung neuer sozialer Bewegungen in den 1970er- und 1980er-Jahren haben sich neue Formen der Beteiligung und Einflussnahme herausgebildet – viele gehen zurück auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Dazu zählen vor allem verschiedene Formen von Demonstrationen, Protestmärsche, „sit-ins“, Verkehrsblockaden, oder auch spektakuläre Aktionen wie Boykottaufrufe gegen bestimmte Firmen oder Produkte, die Besetzung von Fabriken oder Universitäten und anderes. Schließlich nehmen manche Gruppen zur politisch motivierten Gewaltanwendung Zuflucht, wobei die Grenze zwischen politischer Aktion und krimineller Handlung häufig schwer zu ziehen ist. Zu nennen sind hier unter anderem so genannte Befreiungsbewegungen oder Gruppierungen, die den Anspruch erheben, die Rechte unterdrückter sozialer, ethnischer oder nationaler Minderheiten gegenüber einer ignoranten Mehrheitsgesellschaft oder ausländischen Okkupationsmächten zu vertreten. Plebiszitäre Während die erwähnten Beteiligungsformen auf Dauer oder zumindest eine Beteiligungsformen gewisse Zeit hin angelegt sind, fallen alle plebiszitären Beteiligungsformen unter die Rubrik einmalig und kurzfristig. Dies sind zum einen Bürgerbegehren auf lokaler Ebene, Verfahren der Volksgesetzgebung (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid), zum anderen die Volksbefragung und das Referendum, einschließlich des Verfassungsreferendums. Folgende Formen politischer Beteiligung können unterschieden werden: 1. 2. 3. 4.
Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen; Mitgliedschaft und Mitarbeit in Parteien; Mitgliedschaft und Mitarbeit in Verbänden; Bürgerbeteiligung (vorwiegend auf kommunaler Ebene) und Bürgerinitiativen; 5. Initiierung von und Teilnahme an Volksinitiativen und Volksbegehren; 6. neue Beteiligungsformen wie die Einführung deliberativer Elemente in den politischen Entscheidungsprozess und „e-democracy“; 7. politischer Protest.
Teilnahme an Wahlen als Grundlage demokratischer Legitimation von politischer Herrschaft
Grundlage eines liberalen Demokratieverständnisses ist es, dass Wahlen in modernen Flächenstaaten und Massengesellschaften politischer Herrschaft Legitimität verschaffen. In Wahlen nehmen die Bürger an der Staatswillensbildung teil. Die Beteiligung oder Nichtbeteiligung an Wahlen kann als ein Indikator für die Wahrnehmung politischer Beteiligungsrechte herangezogen werden. Wahlen legitimieren die Herrschaft politischer Eliten und binden sie an den periodisch geäußerten Volkswillen zurück. Wahlen haben schließlich auch eine wichtige partizipatorische Funktion – sie geben dem Bürger die Möglichkeit, die Träger von Herrschaft zu bestimmen. Veränderungen im Wahlstudien kommen zu dem Ergebnis, dass sich seit den 1980er-Jahren erWahlverhalten hebliche Veränderungen im Wählerverhalten erkennen lassen. Die Wähler sind weniger eng als früher an eine Partei gebunden („dealignment“), jahrzehntelange klassenspezifische Verhaltensweisen lösen sich auf, die individuellen Wahlentscheidungen sind flexibler und differenzierter, wie sich u.a. an der anwachsenden
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strategischen Nutzung des „splitting“ von Erst- und Zweitstimme zeigt. Diese Diversifizierung und Volatilität des Wählerverhaltens – und dazu gehört auch die Entscheidung, nicht zu wählen – ist eine wichtige Veränderung der Rahmenbedingungen der Politik. Die rückläufige Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik, wird oft einseitig auf „Politikverdrossenheit“ zurückgeführt. Diese Begründung erscheint aus mehrerer Sicht zumindest verkürzt. Zum einen ist die Wahlbeteiligung in Deutschland im internationalen Vergleich noch immer sehr hoch. Zum zweiten ist anzumerken, dass sich manifeste Unzufriedenheit mit der Politik sehr häufig in „Protestwahlen“ äußert. Wähler geben radikalen Parteien am Rande des politischen Spektrums ihre Stimme, um „der Politik“ eine Lektion zu erteilen. Ein solches Wahlverhalten ist zwar bei Landtagswahlen zu beobachten, man denke an die kurzzeitigen Erfolge der „Schill-Partei“ in Hamburg, der DVU in SachsenAnhalt oder die Wahl der NPD in den sächsischen Landtag, auf der Bundesebene aber sind die Stimmen für solche Parteien zu vernachlässigen. Und schließlich bedeutet Nichtwahl keineswegs generelle Politikverdrossenheit, sondern kann konkrete Hindergründe haben, wie z.B. die 2002 durchaus verbreitete Enttäuschung, dass sich die in die neue rot-grüne Regierung gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatten oder das Gefühl, dass eine Stimmabgabe am Gesamtergebnis sowieso nichts ändern werde (Wenzel/Rattinger, 2004: 35). Auch eine generelle Zufriedenheit mit der politischen Situation oder die Abwesenheit großer, emotional aufgeladener politischer Kontroversen, können als Ursache für den Verzicht auf die Stimmabgabe angeführt werden. Untersuchungen über die politische Kultur in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren haben gezeigt, dass die tradierten Beteiligungsformen, Teilnahme an Wahlen und Mitgliedschaft in Parteien und Verbänden, allein nur bedingt etwas über die Partizipationsbereitschaft und die demokratischen Überzeugungen einer Bürgerschaft aussagen (Almond/Verba, 1963). Gleichwohl liefern sie wichtige Daten über die Verankerung demokratischer Institutionen und Verfahren in einer politischen Ordnung. Veränderungen können Zustimmung, Distanz oder Ablehnung des politischen Systems oder seiner Institutionen belegen. Bis in die 1970er-Jahre hinein waren die Parteien und Verbände diejenigen Institutionen, denen sich Bürger zuwandten und deren Mitglieder sie wurden, wenn sie Einfluss auf die Politik nehmen oder ihre Interessen durchsetzen wollten. Mitarbeit in den Partei- und Verbandsgremien, die Wahl zum Delegierten auf Parteitagen, die Übernahme von Wahlfunktionen auf den verschiedenen Funktionsebenen waren wichtige Formen aktiver Teilnahme an der Politik. Die Mitgliedszahlen der Parteien zeigen ein interessantes, wenn auch nicht einheitliches Bild. In der Zeit der sozial-liberalen Koalition konnte die Sozialdemokratie ihre Mitgliedschaft um mehr als ein Viertel erhöhen – von 779.000 im Jahre 1969 auf etwas mehr als eine Million im Jahre 1976, den höchsten Stand ihrer Nachkriegsgeschichte. Danach fiel die Zahl der Mitglieder bis zum Jahre 1989 auf 911.430. Die CDU konnte ihre Mitgliedszahl von 1969 bis zum Jahre 1983 weit mehr als verdoppeln: von 304.000 auf 735.000. Bis 1989 sank die Anzahl der Mitglieder auf 662.598. Ein wenig anders ist das Bild bei der CSU die 1969 77.000 Mitglieder hatte und ihre Mitgliedschaft mit leichten Schwankungen bis 1989 auf 185.853 steigern konnte. Die CSU ist die einzige
503
Gründe für die Wahlenthaltung
Mitgliedschaft in Parteien
Partei, die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als bei allen Parteien bereits ein Rückgang der Mitglieder einsetzte, ihre Position noch weiter festigen konnte. Bei der FDP zeigte sich seit 1969 ebenfalls ein deutlicher Anstieg, der aber erst im Jahre 1981 seinen Höhepunkt erreichte: von 59.000 stieg die Mitgliedszahl auf 87.000. Danach setzte auch hier ein Mitgliederschwund auf 65.216 im Jahre 1989 ein. Nach der deutschen Einheit haben die Parteien zuerst einen unterschiedlich großen Mitgliederzuwachs durch die Übernahme von oder Fusion mit Parteien aus der DDR verzeichnen können. Sie konnten aber ihren Mitgliederstand nicht halten und haben seit Anfang der 1990er-Jahre massive Mitgliederverluste hinnehmen müssen. Am dramatischsten stellt sich dies für die PDS/Linkspartei dar. Sie hatte unmittelbar nach der „Wende“ 281.000 Mitglieder und hat seit ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag 1990 etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Zudem ist ihre Mitgliedschaft völlig überaltert. Der Zuwachs im Westen ist ausschließlich auf das 2005 geschlossene Bündnis mit der WASG zurückzuführen. Nicht ganz so massive, aber ebenfalls dramatische Einbußen hat die SPD zu verzeichnen, die noch unter ihren Stand von 1955 zurückgefallen ist. Die beiden Ausnahmen sind die CSU und die Grünen, bei denen nur leichter Rückgang der Mitgliedszahlen zu verzeichnen ist. Tabelle 10: Mitgliedschaft von Parteien 1946 1955 CDU 1947: 400.000 245.000 CSU 69.300 ca. 43.500 1947: 82.200 SPD 711.000 589.051 FDP + Grüne --PDS ---
+
-----
1975 590.000 132.593
1991 CDU/CSU 751.163
1995 675.600 179.650
2005 572.000 170.000*
998.000 1976: 1.022.000 74.000 -----
919.871
817.600
578.000*
137.557 38.873 172.579 (West 822)
80.000 46.410 114.900 (West 2.400)
65.000 45.000 62.000++ (West 6.000)
(Quellen: Angaben der Parteien, eigene Zusammenstellung; + eine zentrale Mitgliederdatei der FDP besteht erst seit 1968; * März 2006; ++ Die Linkspartei – PDS +WASG) Wachsende „Vereinsdichte“
Neben der Parteimitgliedschaft ist die Mitgliedschaft in Vereinigungen und Verbänden die wichtigste „konventionelle“ Form politischer Beteiligung. Im deutlichen Gegensatz zu den Parteien und traditionellen Verbänden wie den Gewerkschaften, ist die Mitgliedschaft in Vereinigungen verschiedenster Art in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen – die meisten von ihnen wählen die juristische Form eines eingetragenen Vereins. Im Jahre 2005 wurden in den Vereinsregistern ca. 594.000 eingetragene Vereine geführt. Nicht nur die Zahl, sondern auch die „Vereinsdichte“ hat zugenommen. Waren es im Jahre 1960 noch 160 Vereine je 100.000 Einwohner, so ist diese Zahl auf 725 pro 100.000 Einwohner im Jahre 2005 gewachsen (Priller/Zimmer, 2006: 23). Nur die wenigsten dieser Vereine sind implizit oder explizit „politisch“, sie umfassen alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens, von der freiwilligen Feuerwehr über Kulturvereine bis zum Naturschutzverein oder als Vereine registrierte Selbsthilfegruppen und karitative Vereinigungen jenseits der großen Verbände. Dies bedeutet aber nicht, dass sie 504
völlig „unpolitisch“ wären. Geht es um Fragen, die für sie von Bedeutung sind, entsteht häufig politisches Engagement, das über den eigentlichen Vereinszweck hinausgehen kann. Es ist nicht erkennbar, dass hier ein vergleichbarer Stillstand oder Rückgang eintreten wird, wie bei den explizit politisch oder wirtschaftlich orientierten Vereinigungen. Bürgerschaftliches Engagement, also die freiwillige aktive öffentliche Beteiligung in Gruppen, Vereinen, Verbänden oder andere Organisationen, die über die private, erwerbsbezogene Aktivitäten hinausgeht, die im internationalen Kontext als „volunteering“ bezeichnete aktive Mitwirkung an Aufgaben, die nicht der Politik oder wirtschaftlichen oder sonstigen großen Interessenorganisationen überlassen werden, ist ein wichtiger Aspekt sozialer Integration und eine wichtige Ressource für eine demokratische Bürgergesellschaft. In diesem Bereich ist eine deutlich gegenläufige Tendenz zur oft beschworenen „Politikverdrossenheit“ zu erkennen (Gensicke, 2006). Ganz anders stellt sich die Situation im traditionellen Verbandswesen dar, soweit diese Verbände nicht mit Leistungen für ihre Mitglieder aufwarten können, die es aus ökonomischem Kalkül sinnvoll erscheinen lassen, Mitglied zu werden oder zu bleiben – man denke an den ADAC oder vergleichbare Verbände. Hier muss Mitgliedschaft nicht unbedingt bedeuten, dass man die politischen Ziele des Verbandes teilt, allerdings gewinnt dieser den Vorteil, mit Hinweis auf seine breite Mitgliedschaft, vorgeben zu können, deren Wünsche und Interessen zu vertreten und damit Einfluss auf die Politik zu nehmen. Für eine Mehrheit der Bevölkerung, die in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen leben, waren die Gewerkschaften jahrzehntelang ein Organisationstypus, der sowohl individuelle Interessenvertretung als auch politische Einflussnahme auf den weiten Bereich der Arbeitsbeziehungen und die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme versprach. Die im DGB zusammengefassten Nachfolgegewerkschaften des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) der Weimarer Republik konnten bereits kurz nach Ende des Krieges als mitgliederstarke Verbände Einfluss auf die politische und soziale Entwicklung nehmen. Im Gründungsjahr der Bundesrepublik hatten sie bereits mehr als 4 Mio. Mitglieder. Bis zum Jahre 1990 konnten sie ihre Mitgliedschaft auf etwa 8 Mio. und nach der Vereinigung durch den Zuwachs an ostdeutschen Mitgliedern auf 10,3 Mio. im Jahre 1993 steigern. Seither ist die Mitgliederentwicklung deutlich rückläufig. Seit Anfang der 1990er-Jahre verloren die Gewerkschaften des DGB etwa ein Drittel ihrer Mitglieder. Dabei sind noch nicht die ca. 500.000 Mitglieder der Deutschen Angestelltengewerkschaft mitgezählt, die nicht Mitglied des DGB war und in der Gewerkschaft ver.di aufgegangen ist. Ein Ende dieses Trends ist nicht absehbar. Neben der hohen Arbeitslosigkeit ist vor allem die Umstrukturierung der Wirtschaft von der klassischen verarbeitenden Industrie zum Dienstleistungssektor ein entscheidender Grund für die nachlassende Attraktivität von Arbeitnehmerorganisationen. Hinzu kommt als Strukturproblem der z.T. erhebliche Anteil von Rentnern an der Mitgliedschaft insbesondere bei den klassischen Industriegewerkschaften und den Gewerkschaften privatisierter staatlicher Betriebe, wie Post und Bahn.
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Entwicklung der Verbandsmitgliedschaften
Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften des DGB
Tabelle 11: Mitgliedschaft in den Gewerkschaften des DGB 1996-2004 Industrie- und Branchengewerkschaften 31.12.1996 IG Bauen-Agrar-Umwelt 692.466 IG Bauen-AgrarUmwelt IG Bergbau, Chemie, Energie 1.052.143 IG Bergbau, Chemie, Energie Gew. der Eisenbahner Deutschlands 382.113 TRANSNET Gew. Erziehung und Wissenschaft 296.232 Gew. Erziehung und Wissenschaft Gew. der Polizei 199.421 Gew. der Polizei IG Metall IG Metall 2.752.226 Gew. Holz und Kunststoff 159.829 Gew. Textil-Bekleidung 199.166 Gew. Nahrung, Genuss, Gaststätten 310.891 Gew. Nahrung, Genuss, Gaststätten Gew. Öffentl. Dienste, Transport 1.712.149 und Verkehr ver.di Gew. Handel, Banken und Versiche505.405 rungen IG Medien 197.309 Deutsche Postgewerkschaft 513.322 DGB-Gesamt 8.972.672
31.12.2004 424.808 770.582 270.221 254.673 1787.910 2.425.005
225.328
2.464.510+ 7.013.037
(Quelle: DGB; + einschließlich ca. 500.000 Mitglieder der „Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), die nicht Mitglied des DGB war) Mitbestimmung in Unternehmen und im öffentlichen Dienst
Unter dem Aspekt der Partizipation sind nicht nur die innerverbandlichen Mitwirkungsmöglichkeiten der Gewerkschaftsmitglieder zu nennen, die angesichts der Funktionsbedingungen von Großorganisationen begrenzt sind, sondern auch die gesetzlich verankerte Mitbestimmung in den Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen. Je nach Größe des Unternehmens, Rechtsform und Wirtschaftszweig gelten das Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das Mitbestimmungsgesetz von 1976 oder das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951. Für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes regelt das Personalvertretungsgesetz die Mitwirkungsmöglichkeiten der Personalräte. Beteiligungsrechte Politische Beteiligung birgt vielfältige Möglichkeiten der Enttäuschung und auf lokaler Ebene der Erfolglosigkeit in sich. Die Entscheidungen sind meist komplex und äußerst langwierig, der Versuch, in großen Verbänden etwas zu bewegen und zu verändern, erweist sich häufig als aussichtslos. Am ehesten noch erscheint die Mitsprache der Bürger auf der kommunalen Ebene Erfolgschancen in sich zu bergen. Nach 1945 waren es die Gemeinden, die nach dem Willen der westlichen Alliierten, vor allem der Amerikaner, als „Schulen der Demokratie“ fungieren sollten. Vor Ort sollten die Bürger sich für ihr Gemeinwesen engagieren und demokratische Verfahren schätzen lernen. In den letzten Jahrzehnten ist – nicht zuletzt auf Grund der wachsenden Partizipationswünsche von Bürgern, Bürgerinitiativen und lokalen Interessengruppen – eine Vielzahl von Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger geschaffen worden, die zwei Interpretationen zulassen
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(Roth, 1993: 228f.). Der gewachsene Wunsch nach Beteiligung kann als Ausdruck einer entwickelten bürgerschaftlichen Kultur gewertet, sie kann aber auch als Zeichen der Kritik an der Arbeit der gewählten Vertreter interpretiert werden, deren Entscheidungen als ungenügend, an den Problemen der Bürger vorbeigehend, von Klientelinteressen dominiert usw. wahrgenommen werden. In der Praxis dürften sich beide Elemente vermischen. Anders als die streng repräsentativen Regelungen auf der Ebene des Bundes und die nur vorsichtig mit partizipatorischen Elementen angereicherten Verfassungsbestimmungen der Länder, sehen die Kommunalverfassungen vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger vor. Dazu gehören beispielsweise: 1. Beteiligungsmodelle auf lokaler Ebene: Die von einer Planung betroffenen Bürger können Einsprüche erheben, z. B. in Planfeststellungsverfahren, sie werden an Planungen beteiligt, beispielsweise bei Stadterneuerungen und Sanierungen. Planungsbeiräte oder Bürgerforen werden von der Verwaltung als Gesprächspartner in Planungsüberlegungen einbezogen. Die Beteiligung ist direkt. 2. Sicherheitspartnerschaften: In problematischen Stadtquartieren oder Regionen werden „Sicherheitspartnerschaften“ gebildet, in denen die Polizei, die öffentliche Verwaltung, Jugendhilfe u.a. Institutionen mit Bürgern zusammenarbeiten, um die öffentlicher Sicherheit zu verbessern und Einschränkungen der Lebensqualität in kriminellen Schwerpunktbereichen zu beseitigen. 3. „Korporative Modelle“: Hier werden die organisierten Interessengruppen in die Entscheidungsfindung eingebunden (z.B. regionale Wirtschaftsförderung, Sanierungskonzepte, Sozialpläne). Die Beteiligung ist indirekt, über verbandliche Strukturen vermittelt. 4. Bürgerentscheide: Hier handelt es sich um Initiativen, die durch Unterschriftensammlungen eine in den Gemeindeordnungen der Länder in unterschiedlicher Weise geregelte Abstimmung von Bürgern über kommunale Planvorhaben herbeiführen soll. 5. Öffentliche Kampagnen: Verschiedene verbandlich oder gemeinschaftlich organisierte Gruppen üben Druck und Einfluss auf die politischen Akteure aus. Dies geschieht in der Regel unter Nutzung lokaler oder überregionaler Medien. Die kommunale Ebene ist diejenige, die am ehesten eine direkte Beteiligung der Bürger zulässt. Sie kennen die örtlichen Verhältnisse, sie sind in der Lage, die Tragweite von Entscheidungen einzuschätzen, zumindest eher, als bei entfernteren politischen Entscheidungen auf Landes- oder Bundesebene. Sie sind aber zugleich eng in eine Gemeinschaft verwoben. Auf der anderen Seite stellt sich auch hier die Frage nach den möglicherweise ungleich verteilten realen Möglichkeiten der Interessenvertretung, die im Repräsentativsystem zumindest relativiert wird. Die Konfliktlinie in kommunalen Angelegenheiten verläuft in aller Regel Bürger und nicht zweidimensional zwischen Bürgern und gewählten Repräsentanten, son- öffentliche Verwaltung dern spielt sich im Dreieck zwischen diesen und der Verwaltung ab (Hill, 1998: 5). Verwaltungsentscheidungen sind oft intransparent und für die Mitglieder der
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Räte – mehr noch für die Bürger – nur schwer zu durchschauen. Betrachtet man das ungleichgewichtige Verhältnis von kommunaler Verwaltung und ehrenamtlicher Tätigkeit der gewählten Repräsentanten der Bürger, das erheblich größer ist, als zwischen Regierung und Parlament im Bund und den Ländern (den Parlamenten stehen immerhin gut ausgestattete Informationsmöglichkeiten und wissenschaftliche Hilfsdienste zur Verfügung), so kann man die Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene zumindest als ein wirksames Initiativ- und Kontrollinstrument gegenüber der Verwaltung bezeichnen. Bei Entscheidungen, die ihre Lebensumstände und Umwelt unmittelbar betreffen, können Bürger aktiv werden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Verwaltung an ihren Interessen vorbeiagiert. Zugleich können Bürgerinitiativen und in den Gemeindeordnungen verbriefte kommunale Mitgestaltungsmöglichkeiten aber auch zu einem wirksamen Instrument in den Händen jener zu werden, die, mit dem Verweis auf die angeblichen Interessen „der“ Bürger, ihre eigenen Interessen verfolgen. Es ist zudem kaum zu übersehen, dass viele Beteiligungsrechte zu Gunsten derer ausschlagen, die sowieso schon über bessere Möglichkeiten und soziale Ressourcen verfügen, um ihre Interessen durchzusetzen, vorrangig Angehörige des bürgerlichen Mittelstandes und Akademiker. Diesem Mittelstandsbias politischer Beteiligung wird versucht entgegen zu wirken, wenn, insbesondere in so genannten „sozialen Brennpunkten“, also Stadtvierteln mit einer problematischen Sozialstruktur, versucht wird, die Probleme eines Quartiers oder eines ganzen Stadtviertels zusammen mit den Bewohnern zu definieren und für Abhilfe zu sorgen. Demokratische Ein bislang erst in Ansätzen erkennbares Instrument bürgerschaftlicher BeBeteiligung und neue teiligung stellt die Nutzung moderner elektronischer Medien, insbesondere das Medien Internet dar. Auch wenn es noch ein weiter Weg sein dürfte, bis man von einer „e-democracy“ sprechen kann, ist doch erkennbar, dass Internetangebote etablierter Organisationen und Parteien, Internet-Foren, Chat-Groups eine wachsende Bedeutung haben. In einer Gesellschaft mit einem weit verbreiteten Zugang zum Internet und einem hohen Nutzungsgrad könnte das Netz als Medium sowohl der Deliberation als auch der gezielten Abfrage von Meinungen der Bürger genutzt werden. Damit könnten auch neue, bislang noch nicht praktizierte Verfahren einer öffentlichen Erörterung und Befragung eröffnet werden, wo sich repräsentativ ausgewählte Bürger an den Sachdiskussionen beteiligen und sich danach eine Meinung bilden („deliberative opinion polls“; Fishkin, 1991: 81ff.).
10.4
Plebiszite als Ergänzung repräsentativ-demokratischer Verfahren
In vielen modernen Verfassungen sind verschiedene Elemente einer direkten Beteiligung der Bürger an politischen und/oder Personalentscheidungen verankert. Wichtigste Formen einer solchen Beteiligung sind Verfahren der Volksgesetzgebung (Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheide), Referenda und Plebiszite. Hinzu können verschiedene Formen der direkten Einflussnahme auf die 508
Einsetzung oder Abberufung politischen Personals kommen. Diese Instrumente zielen auf verschiedene Gegenstände und lassen sich sowohl Abstimmungen über Personen als auch Sachabstimmungen zuordnen, sie können sich auf eine einmalige Entscheidung beziehen oder dauerhaft installiert sein, ihre Ergebnisse können bindend sein oder nur empfehlender Natur (Möckli, 1991: 31). Ernst Fraenkel hat, stellvertretend für die herrschende Meinung der 1950erund 1960er-Jahre eine prinzipielle „Strukturwidrigkeit von Direktgesetzgebung und parlamentarischem Regierungssystem“ konstatiert. Er machte aber auch darauf aufmerksam, dass in reiner Form „sowohl das repräsentative als auch das plebiszitäre System den Keim der Selbstvernichtung in sich tragen“. Der Ausweg lag für Fraenkel in einem „gemischten plebiszitär-repräsentativen, demokratischen“ Regierungssystem, in dem die auf dem Repräsentationsprinzip beruhende Demokratie den plebiszitären Kräften in den Parteien und Verbänden ausreichend Spielraum gewähre (Fraenkel, 1991: 159). Hier wird allerdings das plebiszitäre Element aus dem eigentlichen Bereich der staatlichen Willensbildung herausgehalten und den pluralistischen Gruppen zugewiesen. Fraenkels Argumentation war, wie bei den meisten seiner Zeitgenossen, durch eine spezifische Perzeption der Weimarer Erfahrung geprägt, die dem angeblichen Missbrauch plebiszitärer Politik eine empirisch nicht haltbare Bedeutung für den Niedergang der Demokratie zuwies (Jung, 1992; Gebhardt, 1991: 17). Vertreter direkt-demokratischer Verfahren hoffen, die erkennbaren Defizite und Fehlfunktionen des repräsentativen Systems, vor allem seine unterstellte Bürgerferne, durch eine plebiszitäre Öffnung der politischen Ordnung, wenn nicht zu beheben, so doch mindern zu können. Den Anhängern und Befürwortern direkt-demokratischer Verfahren geht es – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht um eine Ersetzung, sondern um eine Ergänzung parlamentarischer Verfahren. Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über die verschiedenen Varianten der unmittelbaren Beteiligung der Bürger an politischen und/oder personellen Entscheidungen. Die politische Debatte wird seit den 1980er-Jahren sehr stark von der Frage nach erweiterten plebiszitären Formen der Bürgerbeteiligung bestimmt. Die im Grundgesetz und den Landesverfassungen zur Verfügung gestellten Möglichkeiten direkter Einflussnahme der Bürger auf das politische Geschehen werden von vielen als unzureichend empfunden. Im Kern geht es um die Frage, ob durch eine plebiszitäre Öffnung ein neuer Konsens geschaffen und die Entfremdung zwischen den etablierten politischen Kräften und Eliten und breiten Teilen der Bevölkerung abgebaut werden kann (Fijalkowski, 1986; Seipel/Mayer, 1997). Die größte Aufmerksamkeit finden in diesem Zusammenhang Volks- oder Bürgerabstimmungen. Das wichtigste Instrument ist die Volksgesetzgebung. In den meisten Landesverfassungen (Hoof/Kempf, 1993; Klages/Paulus, 1996; Paterna, 1995) sind ausführlichere Regelungen über Volksabstimmungen unterschiedlicher Art enthalten.1 1
Es gibt unterschiedliche Typologisierungen. Möckli (1991: 32) unterscheidet, vom Schweizer Modell beeinflusst, zwischen Plebiszit, Volksbefragung, fakultativem Referendum, obligatorischem Referendum, Initiative und Anregung. Die hier vorgenommene Ty-
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Strukturwidrigkeit von Direktgesetzgebung und parlamentarischem Regierungssystem?
Abbildung 13: Formen direkter Demokratie
Für ein dreistufiges Verfahren (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid) hat die Verfassung von Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 ein Modell geliefert. Andere Verfassungen kennen ein zweistufiges Modell: Volksbegehren (mit höherem Quorum, als die Volksinitiative) und bei Erfolg einen Volksentscheid. In den neuen Bundesländern haben Brandenburg und Sachsen ein dreistufiges, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen ein zweistufiges Verfahren der Volksgesetzgebung eingeführt (Klages/Paulus, 1996: 149; 270; Denninger, 1993). Abbildung 14: Formen plebiszitärer Beteiligung der Bürger
Auslösung Antrag Bestimmung des Gegenstandes
Volksgesetzgebung
Volksbefragung
Bürger
Parlament Regierung Parlament oder Regierung
fakultativ Parlament Regierung Parlament oder Regierung
konsultativ hoch
verbindlich mittel
Bürger
Verbindlichkeit verbindlich Einfluss/Kontrolle niedrig durch die Regierung
Referendum obligatorisch Verfassung Text der Verfassungs- oder Gesetzesänderung verbindlich niedrig
pologisierung orientiert sich an den in der Bundesrepublik praktizierten Regelungen (Fijalkowski, 1986; Klages/Paulus, 1996).
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Die Volksinitiative oder Volksantrag: Damit ist das Recht einer bestimmten Anzahl von Bürgern gemeint, dem Parlament bestimmte Themen zur Befassung vorzulegen. Einschränkend kann dies Recht ausschließlich für Gesetzentwürfe gelten. Initiativen haben ein Anhörungsrecht im Parlament. Bei dreistufigen Verfahren der Volksgesetzgebung kann die Volksinitiative als erste Stufe vorgesehen werden. Volksbegehren: Das Volksbegehren bezeichnet eine vom Volk ausgehende Initiative zur Erreichung eines Volksentscheides. Damit wird ein plebiszitäres oder parlamentarisches Verfahren in Gang gesetzt. Das Volksbegehren ist an ein bestimmtes Quorum gebunden. Volksbegehren können auch auf Initiativen zur vorzeitigen Parlamentsauflösung oder andere Gegenstände der politischen Willensbildung erweitert werden. Ist das Begehren erfolgreich, kommt es zum Volksentscheid. Volksentscheid: Der Volksentscheid ist eine bindende Entscheidung des Volkes in einer Abstimmung über eine ihm vorgelegte Frage oder einen Gesetzentwurf. Volksbefragung: Eine Volksbefragung wird in der Regel vom Parlament oder von der Regierung veranlasst. Dem Volk wird eine bestimmt Frage zur Abstimmung vorgelegt. Im Unterschied zum Volksentscheid hat eine Volksbefragung keinen rechtlich verbindlichen Charakter. Referendum: Bei einem Referendum handelt es sich um eine Abstimmung über ein vom Parlament beschlossenes Gesetz, die auf Antrag der Regierung oder des Parlaments durchgeführt wird (fakultatives Referendum). Eine besondere Form sind die in einigen Verfassungen vorgesehenen obligatorischen Verfassungsreferenda. Ein Referendum steht meist auch am Ende einer Verfassungsdebatte. Die von einer Verfassungsgebenden Versammlung oder vom Parlament verabschiedete Verfassung muss, um in Kraft zu treten, vom Volk in einem Verfassungsreferendum akzeptiert werden. Auch Verfassungsänderungen können einem Referendum unterworfen werden. Das Ergebnis ist rechtlich verbindlich. Allerdings hat der Bürger keinen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung, sondern er ist aufgefordert, einen Beschluss des Parlaments zu ratifizieren oder abzulehnen. Das Grundgesetz sieht solche Abstimmungen nur für den Fall der Länderneugliederung vor, lässt aber mit dem in Art. 20 Abs. 2 GG verwendeten Begriff „Abstimmungen“ zumindest die Chance einer Ausweitung plebiszitärer Beteiligung offen..2 Aus Art. 20 Abs. 2 GG ist lange Zeit allgemein geschlossen worden, dass sich diese Formulierung nur auf die Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG und den speziellen Fall des obsoleten Art. 118 GG (Neugliederung des Südweststaates) beziehe (Ipsen, 1991: Rdnr. 94) Allerdings kann dieser Satz auch dahin gehend interpretiert werden, dass auch andere Formen der Abstimmung, wie z. B. in der Volksgesetzgebung grundsätzlich durch das Grundgesetz gedeckt sind. 2
Einen interessanten Weg, um den weitergehenden Willen des Verfassungsgebers trotz entgegenstehender bundesverfassungsrechtlicher Regelungen und des Homogenitätsgebotes des Art. 28 Abs. 1 GG (BVerfGE 83, 37) auszudrücken, hat Brandenburg beschritten: In Art. 22 Abs. 2 der Verfassung heißt es, dass ausländischen Einwohnern das Wahlrecht gewährt werden solle, "sobald und soweit das Grundgesetz dies zulässt".
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Volksgesetzgebung
Enthaltsamkeit des Grundgesetzes gegenüber direkten Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger
Potenzielle Konflikte
Direkt-demokratische Elemente in den Landesverfassungen
Das Grundgesetz nennt in Art. 29 im Zusammenhang mit der Länderneugliederung die Institute des Volksbegehrens, des Volksentscheides und der Volksbefragung. Hier wird in komplizierten Verfahren dafür gesorgt, dass Länderneugliederungen nicht gegen den Willen der beteiligten Bevölkerung durchgesetzt werden können. Die Ablehnung der Fusion von Berlin und Brandenburg durch die Brandenburger (und Ost-Berliner) 1996 hat gezeigt, dass wohlbegründete Entscheidungen der politischen Repräsentanten nicht unbedingt auch mehrheitsfähig sind, zumal, wenn Fragen einer diffusen „Identität“ involviert sind. Eine plebiszitäre Erweiterung und Ergänzung des Grundgesetzes wäre grundsätzlich durch die Formulierungen des Art. 20 Abs. 1 GG gedeckt und würde auch das „Ewigkeitsgebot“ des Art. 79 Abs. 3 nicht in Frage stellen. Allerdings würde die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene erhebliche Probleme in der Gesetzgebungssystematik zur Folge haben. Es geht um die Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung, die erhebliche verfassungspolitische Probleme aufwirft. Ziel der Volksgesetzgebung ist es, in bestimmten Fällen dem Volk die Möglichkeit zu eröffnen, direkt als Gesetzgeber zu fungieren. Faktisch bedeutet dies die Ausschaltung des Parlaments. In parlamentarischen Systemen mit einer Kammer entstehen dadurch keine grundsätzlichen Probleme, wohl aber in Zwei-Kammer-Systemen und in der Bundesrepublik, wo das Grundgesetz die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung als unveränderbaren und unumgehbaren Verfassungsgrundsatz festgeschrieben hat. Handelt es sich um ein Einspruchsgesetz, würde eine Zurückweisung durch den Bundesrat eine kaum lösbare Konfliktsituation zur Folge haben. Ein theoretisch denkbarer Ausweg wäre, neben der Gesamtbevölkerung auch den „Landesvölkern“ selbst die Zustimmung zu übertragen, wie dies in der Schweiz der Fall ist (Decker, 2006: 8). Dies würde aber die sorgsam austarierte Kompetenzordnung des bundesdeutschen Gesetzgebungsverfahrens außer Kraft setzen. Ähnliche, verfassungssystematisch möglicherweise noch gravierendere Probleme würde die Ablehnung eines auf diese Weise zu Stande gekommenen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht im Zuge eines Normenkontrollverfahrens aufwerfen. Ob angesichts dieser Probleme eine Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene praktisch möglich erscheint und vor allem, wirklich einen demokratischen Gewinn verspricht, kann füglich bezweifelt werden. Im Gegensatz zur Enthaltsamkeit des Grundgesetzes enthalten die Landesverfassungen inzwischen alle direkt-demokratische Elemente. Besonders ausgestaltet sind diese Instrumente in den neuen ostdeutschen Landesverfassungen (Klages/ Paulus, 1996: 268ff.; Kost, 2005). Sie haben die Möglichkeit des Volksentscheides und der Volksgesetzgebung geschaffen, meist auch verbunden mit dem Recht zur Gesetzesinitiative. Einige Verfassungen ermöglichen auf diesem Wege sogar eine vorzeitige Auflösung der Parlamente, andere sehen eine Beteiligung des Volkes bei Verfassungsänderungen vor. Die meisten Verfassungen errichten mit Quoren (Anteil der Abstimmenden an der Wahlbevölkerung) verschieden hohe Hürden für den Erfolg eines Volksbegehren und Volksentscheids. Zum Teil werden diese konkreten Regelungen der einfachen Gesetzgebung überlassen.
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Abbildung 15: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksgesetzgebung und Zustimmung zu Verfassungsänderungen in den Länderverfassungen Volksinitiative Volksbegehren Volksgesetzgebung Verfassungs(Quorum) (Quorum) änderungen fakultativ/ obligatorisch Baden-Württemberg 10.000 1/6 1/3 Art. 60 50% fak. Art. 64; Bayern 25.0000 10% 50% Art. 74 -.- obl. Art. 75 Berlin 25.000 10% 1/3 oder 50%* von -.- fak. Art. 100 1/2 Art. 63 Brandenburg 20.000 80.000 50%* mind. 1/4 2/3* mind. 50% Art. 78 fak. Art. 79 Bremen 5.000 10%; bei 50%* Art. 72 50% obl. Art. 155 Verf.Änd.20% Hamburg 20.000 10% 50%* mind. 1/4 2/3* mind. 50% obl. + Art. 50 Art. 50 Hessen -.20% 50%* Art. 124 50%* obl. Art. 123 Mecklenburg15.000 140.000 50%* mind. 1/3 50%* Vorpommern Art. 60 obl. Art. 80 Niedersachsen 70.000 10% 50%* mind. 1/4 50% Art. 49 fak. Art. 46;49 Nordrhein3.000 20% 50% Art. 68 50% Westfalen fak. Art. 69 Rheinland-Pfalz 20.000 20% 50%* Art. 109 50% fak. Art. 129 Saarland 5.000 20% 50% Art. 100 -.Sachsen 40.000 450.000 50%* Art. 72 50% fak. Art. 74 Sachsen-Anhalt 10.000 250.000 50%* mind. 1/4 2/3* mind. 50% fak. Art. 81 Art. 81 Schleswig-Holstein 20.000 5% 50%* mind. 1/4 2/3* mind. 50% fak. Art. 42 Art. 40 Thüringen 5.000 14% 50%* mind. 1/3 50% Art. 82 fak. Art. 83 (Quelle: Verfassungen der Bundesländer; Weixner, 2006:20; eigene Zusammenstellung; das Quorum bezieht sich auf die Anzahl der Wahlberechtigten; * % der abgegebenen Stimmen; + bei Volksbegehren)
Die vor der Gründung der Bundesrepublik 1946/47 verabschiedeten Landesver- Einzelregelungen fassungen waren durchaus weniger zurückhaltend gegenüber einer direkten Be- in den Landesverfassungen teiligung der Bürger als das Grundgesetz, was darauf hindeutet, dass das „Weimar-Syndrom“ möglicherweise auch mit den Zeitumständen zu tun hatte – während der Beratungen des Parlamentarischen Rates befand sich der Kalte Krieg mit der Blockade Berlins auf einem ersten Höhepunkt und es bestand eine erhebliche Angst vor der Wirkung politischer Demagogie, die auch für den Untergang Weimars verantwortlich gemacht wurde. Aber auch die frühen Landesverfassungen beschränkten plebiszitäre Elemente auf begleitende und korrigierende Ausnahmeerscheinungen zur parlamentarischen Willensbildung und Gesetzgebung. Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide wurden als ergänzende, nicht als gleichwertige Formen der Gesetzgebung angesehen.
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Regelungen in ostdeutschen Landesverfassungen
In den neueren und nach 1989 veränderten Verfassungen spielt die Volksgesetzgebung eine größere Rolle, geht aber in ihrer Wirkung selten über das Gewohnte hinaus. So ermöglicht z.B. die Verfassung von Brandenburg in Art. 76 bis 78 die Volksinitiative, das Volksbegehren und den Volksentscheid für „bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung“ (Quorum: 20.000 Stimmen) und für eine Landtagsauflösung (Quorum: 150.000 Stimmen). In Art. 115 sieht die Brandenburgische Verfassung die Möglichkeit einer Totalrevision vor, die durch eine Volksinitiative eingeleitet werden kann. Durch ein von 10% der Stimmberechtigten unterstütztes Volksbegehren kann die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung verlangt werden. Diese muss eingerichtet werden, wenn zwei Drittel der Abstimmenden und mindestens die Hälfte der Stimmbürger diesem Antrag zustimmen. Die Verfassung des Freistaates Sachsen geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie Parlaments- und Volksgesetzgebung in einem Atem nennt. In Art. 3 heißt es: „Die Gesetzgebung steht dem Landtag oder unmittelbar dem Volk zu.“ Art. 70 lautet: „1. Gesetzesvorlagen werden von der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtages oder vom Volk durch Volksantrag eingebracht. 2. Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar durch Volksentscheid beschlossen.“ Diese weit reichenden Formulierungen ändern freilich nichts an der Tatsache, dass die Volksgesetzgebung die absolute Ausnahme bleibt. Erfahrungen mit entsprechenden Abstimmungen liegen für eine Reihe von Bundesländern vor. Vor allem die Höhe der Quoren und die Kompliziertheit der Verfahren hat den bestehenden Regelungen den Vorwurf eingetragen, eher Instrumente zur Verhinderung von Plebisziten darzustellen. Denninger spricht von „Volksgesetzverhinderungsverfahren“ (Denninger, 1993: 346; Weixner, 2006). Erfahrungen mit der Die Erfahrung mit der Volksgesetzgebung in den Ländern zeigt, dass ihre Volksgesetzgebung Einführung keine grundstürzende Veränderung der Politik zur Folge hatte. Weder das parlamentarische System noch die Parteiendemokratie sind ernsthaft in Frage gestellt worden. Fragt man nach den Gegenständen, mit denen sich Volksbegehren und Volksentscheide befassten, dann erstens fällt auf, dass der Bereich Schule, Bildung und Erziehung den prominentesten Platz einnimmt, mit deutlichem Abstand gefolgt kommunalen Problemen sozialen und wirtschaftpolitischen Fragen und Entscheidungen, die in die Struktur des politischen Systems eingreifen. Zweitens ist festzuhalten, dass die Bürger zum Teil Entscheidungen getroffen haben, die nicht unbedingt mit den Auffassungen der Parteien in Übereinstimmung zu bringen waren, denen sie sonst ihre Stimme zu geben pflegen, zum Teil sogar dann, wenn die Parteien eine eindeutige Stellungnahme abgegeben und ihre Wähler aufgefordert hatten, dieser Empfehlung zu folgen. So wurde in Nordrhein-Westfalen 1978 die von der SPD-Regierung geplante „Kooperative Schule“ durch einen Volksentscheid verhindert, den Eltern- und Lehrerverbände und die katholische Kirche initiiert hatten. Eine massive Niederlage erlitten Regierung und Parlamentsmehrheit in Bayern am 1. Oktober 1995, als eine große Mehrheit in einem Volksentscheid für den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines kommunalen Bürgerentscheids und gegen den Entwurf der CSU-Mehrheit des Landtages stimmte. Dieser Gesetzentwurf war von einer landesweiten Bürgerinitiative „Mehr Demokratie in Bayern“ initiiert und als Volksbegehren eingebracht worden. Hier wurde das In-
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strument des Volksentscheids auf Landesebene genutzt, um die Mitwirkungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene durch Volksgesetzgebung entscheidend zu verändern (Seipel/Mayer, 1997). Dass die Volksgesetzgebung auch Implikationen haben kann, die das Verfassungsgefüge selbst tangieren, hat ein 1997 von der im Parteienspektrum marginalen Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) initiiertes Referendum erwiesen, das zur Abschaffung der nur in Bayern auf Landesebene existierenden Zweiten Kammer, des Senats, geführt hat – erneut gegen den dezidierten Willen der mit absoluter Mehrheit regierenden CSU. Die Entscheide in NRW und Bayern zeigen zwei denkbare Muster: Verbände greifen die Unzufriedenheit von Bürgern mit einem bestimmten Gesetz oder Regierungsvorhaben auf und organisieren mit ihren apparativen Möglichkeiten ein Volksbegehren. Das bayerische Beispiel steht für den eher seltenen Fall, dass ein loser Verbund von Initiativen gemeinsam gegen eine, in diesem Falle übermächtig erscheinende, mit absoluter Mehrheit regierende Partei ein Gesetzesvorhaben auf den Weg bringt und erfolgreich ist. Dass in diesem Prozess, als der Erfolg möglich erschien, Verbände und Oppositionsparteien „auf den Zug aufsprangen“, mindert nicht den Erfolg der Initiativen. In jedem Falle aber handelt es sich um Ausnahmen vom „normalen“ parlamentarischen Alltag, nicht um eine gleichwertige Form der Gesetzgebung.
10.5
Politischer Protest
Politischer Protest ist eine Begleiterscheinung demokratischer Politik. In einer Ursachen politischen funktionierenden demokratischen Ordnung ist politischer Protest kein Dauerzu- Protests stand, sondern entsteht in bestimmten Konfliktsituationen und ist in aller Regel kaum prognostizierbar. Unter systematischen Aspekten lassen sich politische Proteste als Reaktion auf materielle oder ideelle Defizite in der Gesellschaft beschreiben, die von der Politik nicht oder nur unzureichend beachtet und bearbeitet worden sind. Sie sind häufig auch die Antwort auf als unbefriedigend wahrgenommene – ob erlebte, oder nur antizipierte – Beteiligungschancen im etablierten Institutionensystem. Er entzündet sich also an der tatsächlich oder vermeintlich unterentwickelten Verarbeitungs- und Entscheidungskapazität des politischen Institutionensystems. Erklärungsmodelle für das Entstehen politischen Protests sind weitgefächert. Erklärungsmodelle Sie reichen von der Behauptung, soziale Deprivation führe zu Unzufriedenheit, Handlungsbereitschaft oder Protest, Theorien der Ressourcenmobilisierung und politischer Chancenstrukturen bis hin zur Annahme bestimmter „Frames“ oder kollektiver Deutungsmuster, die als programmatische Stabilisatoren sozialer Kollektive und Bewegungen fungieren (Neidhardt/Rucht, 1993). Politischer oder sozialer Protest, zumal jede Form des Massenprotests, ist nicht in jedem Fall das Ergebnis einer wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Krise, er kann auch – wie in der Bundesrepublik in den 1960er- und 1970erJahren – in Zeiten relativer Wohlfahrt entstehen. In Krisenzeiten entstehen „movements of crisis“, denen es um materielle Verbesserungen und/oder die Beseiti-
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gung krasser Erscheinungen wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit geht. In Zeiten relativer Wohlfahrt sind die Ziele von „movements of affluence“ (Kerbo, 1982) primär an nicht- oder postmateriellen Zielen orientiert. In sozial gespaltenen Gesellschaften können Krisen- und Wohlfahrtsprotest nebeneinanderher existieren. Sie werden von verschiedenen sozialen Gruppen getragen. Verlaufsmuster Vereinfachend lassen sich vier Verlaufs- und Institutionalisierungsmuster politischen Protests politischen Protests in Demokratien herausarbeiten: 1. Die Politik und/oder die involvierten Institutionen der Gesellschaft nehmen den Protest zum Anlass, um Missstände zu beseitigen und überfällige Reformen vorzunehmen. Dies war der Fall bei der Reform des Bildungssystems in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren. 2. Die Ursachen des Protests lassen sich nicht von heute auf morgen durch einen politischen Willensakt oder Gesetzgebung beseitigen, oder der Widerstand gegen Veränderungen ist zu stark. In diesem Fall tendiert ein Teil der Protestbewegung dazu, sich zu institutionalisieren, um dauerhaft Einfluss auf die Politik auszuüben – sei es als Verband oder als Partei. Aus der Protestbewegung wird ein organisierter, professioneller Akteur auf der politischen Bühne. Protestbewegungen und soziale Bewegungen, die als Protestbewegungen entstanden sind, institutionalisieren sich zum einen, weil das anfangs präferierte Modell loser, nichthierarchischer und nichtprofessioneller Organisation nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten ist. Zum anderen versuchen sie, durch Institutionalisierung geregelten Zugang zu den Informationsmedien und den konventionellen Politikformen zu erlangen. Sie nutzen die Institutionalisierung zur Entwicklung neuer Formen der Mobilisierung ihrer Anhängerschaft und zugleich zur Kanalisierung des „Basisprotests“ (Raschke, 1985: 187ff.). Eine zwangsläufige Begleiterscheinung ist die Professionalisierung der „Protestpolitik“ in der Hand von Experten, bezahlten „Funktionären“ und Berufspolitikern. Die Mehrheit der Anhängerschaft der ursprünglichen Protestbewegung findet sich im Laufe der Zeit in einer ähnlichen Rolle wieder, wie „normale“ Partei- oder Verbandsmitglieder (Koopmans, 1993: 655). 3. Eine dritte Variante ist die Radikalisierung des Protests (Porta/Rucht, 1991) bis hin zur politischen Militanz und zum Terrorismus, wie ihn die Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren erlebt hat. 4. In den letzten Jahrzehnten bilden sich, angestoßen durch die wirtschaftliche Globalisierung und, im Kontext der Europäischen Union, die wachsende Europäisierung immer weiterer Bereiche von Politik und Gesellschaft neue Protestmuster heraus, die grenzüberschreitend und jenseits nationaler Politikarenen agieren und dabei häufig weltweit beachtete Ereignisse und Veranstaltungen oder Treffen führender Politiker als Foren für ihre Aktivitäten benutzen. Unter den angesprochenen Formen politischer Beteiligung ist der politische Protest diejenige, die am deutlichsten auf reale oder subjektiv empfundene Defizite in einer demokratischen Gesellschaft aufmerksam macht. Er ist zugleich die Form der Partizipation, der die geringste Legitimität zuerkannt wird. Als Indikator für Fehlentwicklungen ist er aber grundsätzlich ebenso wichtig, wie andere, allgemein anerkannte Formen politischer Beteiligung.
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In demokratischen politischen Ordnungen ist der Adressat zwar primär „der Staat“, aber nicht nur der Staat. Sowohl die Ursachen des Protests als auch Entscheidungen, die zu ihrer Beseitigung führen können, liegen nicht allein in den Händen der staatlichen Verwaltung oder der Parlamente. Hier sind in je unterschiedlicher Weise eine Vielzahl von Institutionen und Akteuren involviert: Sind es die Energieunternehmen, die auf die Nutzung der Atomkraft setzen, oder ist es die Politik, die durch ihre Entscheidungen und die Gesetzgebung eine bestimmte Art von Unternehmensentscheidungen beeinflusst oder determiniert? Ist es der Bundesgesetzgeber, der durch die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall politisch haftbar ist, oder die Unternehmen, die in Tarifvereinbarungen mit den Gewerkschaften die gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten nutzen oder darauf verzichten? Sind die Hochschulen für die schlechten Studienbedingungen und überlange Studienzeiten verantwortlich, oder die Politik, die ihnen nicht die nötigen Mittel zur Verfügung stellt und die staatliche Verwaltung, die ihre Handlungsfähigkeit bürokratisch beschneidet? Sind die Kommunen für die Verschlechterung kommunaler Leistungen verantwortlich zu machen, oder der Gesetzgeber, der ihnen immer mehr finanzielle Bürden auferlegt, ohne für eine finanzielle Kompensation Sorge zu tragen? Die Tarifpartner, private und öffentliche Unternehmungen, öffentlich rechtliche Einrichtungen, die verschiedenen Gebietskörperschaften, Verbände und Parteien, Parlamente und Regierungen, also all diejenigen, die das politische Institutionensystem einer demokratischen Gesellschaft ausmachen, sind involviert und es fällt meist schwer, eindeutig den Adressaten des Protests zu bestimmen. Die vielfältigen Formen des politischen Protestes lassen sich vereinfacht fünf Gruppen mit unterschiedlichen Interessen, Motivationen und Handlungsmustern zuordnen. 1. Ein parochialer Protest von Teilen der lokalen Bevölkerung zielt darauf ab, „vor ihrer Haustüre“ ein Großprojekt zu verhindern, das ihren normalen Lebensgang bedroht. Das „Nimby-Argument“ (not in my backyard) ist dominant, übergeordnete politische Überlegungen sind schwach oder nicht vorhanden. Diese Beobachtung steht nicht im Widerspruch zu einer im Laufe der Jahre immer besseren Verankerung dieser Protestbewegungen in übergreifende bundesweite „Netzwerke“. 2. Neue Mittelschichten und soziale Aufsteiger verbinden lokalen Protest mit einem generellen „Widerstand“ gegen Vorhaben der Regierung. Der lokale Protest ist zugleich allgemeine symbolische Widerstandshandlung. 3. Externe Akteure, wie organisierte Interessengruppen bis hin zu „Protesttouristen“ und pseudo-revolutionären politischen Aktivisten, unterstützen und/oder instrumentalisieren den Protest. 4. Neuere, auf europäischer Ebene oder international agierende Gruppen sorgen dafür, dass Proteste gegen bestimmte politische Entscheidungen oder Entwicklungen nicht national begrenzt bleiben, sondern sich über die Landesgrenzen hinweg vernetzen können. 5. Schließlich haben die Medien, vor allem das Fernsehen als Multiplikatoren, einen entscheidenden Einfluss auf Ablauf, Erfolg oder Misserfolg des Protestes. Dies bedeutet, dass politischer Protest wirkungslos bleibt, wenn es nicht gelingt, das Interesse der Medien zu finden und zu behalten. Nur so entsteht 517
Das Problem des Adressaten politischen Protests
Interessen, Motivationen und Handlungsmuster politischen Protests
ein ausreichender politischer Druck, einmal getroffene Entscheidungen zu revidieren oder anstehende Entscheidungen zu verhindern. Alle diese Faktoren treten in verschiedenen Varianten und Verknüpfungen auf. Politischer Protest, dem traditionell in einer demokratischen Gesellschaft eine deutlich geringere Legitimität zuerkannt wird als anderen Formen der Partizipation, hat sich einen festen Platz in der Bundesrepublik erobert. Jenseits parlamentarischer Verfahren, der Parteipolitik und der Verbandstätigkeit ist er zu einem Bestandteil der politischen Kultur geworden.
10.6
Politische Öffentlichkeit
Struktur des Mediensystems der Bundesrepublik
Politische Öffentlichkeit und die Rolle der Medien
Demokratische Politik bedarf der öffentlichen Erörterung und Kontroverse. Hieran sind eine Vielzahl von Akteuren beteiligt: Das Parlament und die Regierung, die Parteien, Verbände und Vereinigungen und andere kollektive und individuelle Akteure bis hin zu den viel geschmähten „Stammtischen“. Ein Großteil des Wissens jedes Einzelnen über die Welt der Politik, sei dies die regionale, nationale oder die internationale Ebene, beziehen die Bürger über die Medien: Zeitungen, Zeitschriften, das Radio und vor allem das Fernsehen. Als neues, in gewisser Weise „anarchisches“ Medium ist im letzten Jahrzehnt das Internet hinzugekommen. Die Art der Erörterung politischer Fragen ist gegenstands- und situationsabhängig. In welcher Form aber auch immer sie sich vollzieht, die politische Diskussion ist heute eine weit gehend medial vermittelte. Politische Öffentlichkeit ist ohne Medien nicht mehr vorstellbar. Medien sind eine entscheidender, aber nicht einziger Faktor demokratischer Öffentlichkeit. Insofern kommt der Presse, dem Rundfunk und dem Fernsehen (in jüngster Zeit auch dem Internet) ein entscheidendes Gewicht in der politischen Debatte und bei der Gestaltung der öffentlichen Meinung in einer demokratischen Gesellschaft zu. Durch die Medien und mit den Medien entsteht eine neue Form der Öffentlichkeit, die nicht mehr, wie in früheren Zeiten, von der physischen Präsenz und unmittelbaren Teilnahme abhängig ist, sondern sich weit gehend als individueller oder gemeinschaftlicher Konsum und Verarbeitung einer potenziell unendlichen Vielfalt von Informationen und medial vermittelten Eindrücken und Stimmungen darstellt. Erst in der Diskussion über das je individuell Wahrgenommene entstehen Meinungen, die Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben. „Öffentlichkeit ist nicht Politik und Ökonomie, sondern das (politisch und ökonomisch mitbestimmte) Forum der Kommunikation über Politik, Ökonomie (und viel sonstiges)“ (Neidhardt, 1994: 17). Angesichts dieser Aufgabenzuschreibung und der Indienstnahme der Medien, insbesondere auch der damals neuen Medien Rundfunk und Film durch den Nationalsozialismus, verwundert es nicht, dass die westlichen Alliierten nach dem II. Weltkrieg dem Aufbau eines Mediensystems große Bedeutung zumaßen, in dem die von ihnen lizenzierten Zeitungen und der Rundfunk einen bedeutenden Beitrag beim Aufbau einer demokratischen Ordnung leisten sollten. Nach dem Krieg hatten die Alliierten zunächst alle Zeitungen verboten um dann durch 518
eine gezielte Vergabe von Lizenzen an politisch unbelastete Personen den Grundstock für ein demokratishes Pressewesen zu legen. Alle großen deutschen Zeitungen wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“, die „Süddeutsche Zeitung“ oder „Die Zeit“ und Wochenmagazine wie „Der Spiegel“ und „Stern“ verdanken ihre Existenz einer Lizenz der Alliierten. Die Medien sollten als institutionelle Träger öffentlicher Meinung einen wichtigen Beitrag beim Aufbau einer Demokratie in Westdeutschland leisten. In dem entstehenden politischen Raum der deutschen Nachkriegsdemokratie spielten die Medien eine wichtige und stabilisierende Rolle. Dazu trug nicht zuletzt die Etablierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in erheblichem Umfang bei. Bei Gründung der Bundesrepublik bestanden bereits sechs öffentlichrechtliche, voneinander unabhängige und mit dem Recht der Selbstverwaltung ausgestatte Rundfunkanstalten. Später wurde das Erste Deutsche Fernsehen nach dem gleichen öffentlich-rechtlichen Muster organisiert. In den 1950er-Jahren kam es zu Konflikten mit dem Bund, der sich 1960 eigene Rundfunkanstalten zulegte – den Auslandsender „Deutsche Welle“ (DW) und den „Deutschlandfunk“ (DLF), die nach dem Modell der bereits bestehenden Anstalten einen öffentlich-rechtlichen Status erhielten. Die Pläne, eine bundeseigene Fernsehanstalt zu errichten scheiterten am Widerstand des Bundesrates. Anschließende Versuche, eine privatrechtliche „Deutschland-Fernsehen GmbH“ des Bundes einzurichten – in der öffentlichen Debatte als „Adenauer-Fernsehen“ apostrophiert – wurde schließlich durch ein (erstes) Fernseh-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert. Nach Auffassung des Gerichts sind die Massenmedien ein „eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung“. Rundfunk und Fernsehen seien mehr als nur ein im engeren Sinne politisches Medium öffentlicher Meinungsbildung. Mit allen ihren Angeboten bis hin zu literarischen Sendungen oder musikalischen Angeboten trügen sie zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Da bei den elektronischen Medien (aus damaliger Sicht) anders als bei der Presse nur eine begrenzte Anzahl von Anstalten tätig sein könne, müssten diese so organisiert sein, dass „alle in Betracht kommenden Kräften in ihren Organen Einfluss haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können“. Für den Inhalt des Programms müssten Leitsätze verbindlich sein, die „ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten“. Dies könne nur sichergestellt werden, wenn diese organisatorischen und sachlichen Grundsätze durch den Gesetzgeber verbindlich geregelt würden (BVerfGE 12: 205 ff.). Drei Monate nach dem Urteil wurde das „Zweite Deutsche Fernsehen“ durch einen Staatsvertrag der Bundesländer eingerichtet. Mit der Ausbreitung des privaten Rundfunks und Fernsehens, welche nicht zuletzt eine Folge der Liberalisierungspolitik der Europäischen Gemeinschaft war, hat sich die Struktur des Mediensystems grundlegend gewandelt. Die elektronischen Medien wurden einem Wettbewerb unterworfen, in dem öffentlichrechtliche und private Anbieter miteinander konkurrieren und erstere in ihrer Programmgestaltung in wachsendem Maße Kriterien des Marktes berücksichtigen müssen. Dies hat Auswirkungen auf ihre Programmphilosophie und ihre Stellung im gesellschaftlichen und politischen Raum.
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Frühe Konflikte über die Struktur der elektronischen Medien
Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts 1961
Verschiebung des Verhältnisses der Medien zum politischen System
In den Medienwissenschaften und der Politikwissenschaft herrscht heute weit gehende Einigkeit darüber, dass der Prozess der Herstellung von Öffentlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen nur in Ausnahmefällen ein unmittelbarer, in der Regel jedoch ein medial vermittelter ist und dass sich das Verhältnis von Politik und Medien in den vergangenen Jahrzehnten in erheblichem Maße verschoben hat. Die klassische Vorstellung des Verhältnisses von politischem System und Medien unterstellte unterschiedliche Funktionslogiken und sah beide als getrennte Handlungsbereiche an. Aufgabe der Politik war es, gemeinwohlorientierte Entscheidungen zu treffen, Aufgabe der politischen Öffentlichkeit hingegen, diese Entscheidungen kritisch und mit einer gewissen Distanz zu beobachten. Die Medien sollten dazu die nötigen Informationen liefern, dem Publikum die Zusammenhänge erklären und eigene Stellungnahmen deutlich als solche kennzeichnen (Meyer, 2000: 36 ff.). Für die staatliche Politik und für die verschiedenen gesellschaftlichen politischen Akteure war von Bedeutung, dass ihre Anliegen von den Medien verbreitet wurden, sie bedienten sich aber häufig auch eigener Medien, wie der Partei-, Verbands-, oder Vereinspresse, um ihren politischen Anliegen öffentliche Resonanz zu verschaffen. Die modernen Massenmedien haben dieses Verhältnis zur Politik in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verschoben. Für die Lebensfähigkeit einer freiheitlichen demokratischen Ordnung bedarf es der Herstellung demokratischer Legitimation staatlichen Handelns durch den in Wahlen ausgedrückten Volkswillen, der Mechanismen der Gewaltenteilung, der Beteiligung der intermediären Institutionen an der politischen Willensbildung und einer, wie auch immer im Einzelnen gestalteten aktiven Teilnahme der Öffentlichkeit an der Herausbildung der öffentlichen Meinung. Dieses Model wird zunehmend abgelöst durch ein „stimmungsdemokratisches Element quasi-plebiszitärer Legitimationsbeschaffung über die Medien“, das, nach Meinung vieler Beobachter, das Parlament und die anderen Verfassungsorgane ebenso wie das intermediäre System politischer Willensbildung und Interessenvermittlung an den Rand drängt (Sarcinelli, 2005: 94). Der Charakter der Politik ändere sich unter dem Einfluss ihrer „Kolonisierung“ durch das Mediensystem (Meyer, 2000, 40). „Mediendemokratie“ Über die Gründe, die Intensität und die Folgen dieser Entwicklung gehen die Meinungen auseinander (Meyer, 2001: 75 ff.), unstrittig aber ist, dass unter den Bedingungen der „Mediendemokratie“ (Sarcinelli) sich nicht nur die Art, sondern auch der Ort des politischen Diskurses verändert hat. Nicht mehr das Parlament ist die zentrale Bühne öffentlicher politischer Auseinandersetzung, sondern Diskussionsrunden, Talkshows oder andere Formen medialer Präsentation der eigenen politischen Überzeugungen oder Vorhaben. Der politische Stil der „Mediengesellschaft“ zeichnet sich zudem dadurch aus, dass die Politikdarstellung von den konkreten Entstehungsbedingungen politischer Entscheidungen und den ihnen zu Grunde liegenden wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Problemen abgekoppelt werden und sich den Bedingungen medialer Vermittlung unterwerfen. Die Debatte über politische Alternativen wird zudem überlagert durch das Ausmaß der Fähigkeit einzelner politischer Akteure, das Medium Fernsehen strategisch einzusetzen und eine medienvermitteltes Charisma zu ent-
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falten. „Darstellungspolitik“ und „Entscheidungspolitik“ fallen auseinander (Sarcinelli, 2005: 107 ff.). „Die Logik des Politischen in der Politik selbst wird mithin in all ihren Dimensionen überlagert durch neue, medien- und inszenierungsbezogene Faktoren ergänzend überformt, aber nicht annuliert.“ (Meyer, 2000:43)
Formen und Inhalte politischer Information und Kommunikation, die in modernen Gesellschaften vor allem von den Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen bestimmt werden, haben die Frage aufkommen lassen, ob es sich bei den Medien inzwischen um eine „vierte Gewalt“ handele, die aber – im Gegensatz zu den drei klassischen Gewalten – über keine demokratische Legitimation und Kontrolle verfügt. Strittig ist die Frage, ob und inwieweit die „Macht der Medien“ so überhand genommen hat, dass sie und ihre Anforderungen sowohl den Inhalt als auch die Regie des politischen Spiels determinieren. Die öffentlichen Auseinandersetzungen im Parlament, „Rededuelle“ zwischen Amtsinhabern und Herausforderern, von den Medien verbreitete „soundbites“ bei öffentlichen Auftritten oder Pressekonferenzen von Politikern, Politiker in Talkshows und Unterhaltungssendungen, selbst das „Machen“ von erfolgreichen Politikern durch intensive Medienunterstützung und „spin-doctors“, all dies sind Beispiele für den Einfluss der Medien. Medien sind aber auch zum bevorzugten Medium derer geworden, die über keinen institutionalisierten Zugang zur Politik verfügen. Die mediengerechte und medienunterstützte Formulierung politischen Protests, die einige Interessengruppen, wie „Greenpeace“ oder in jüngerer Zeit „attac“, zur Perfektion getrieben haben, ist die andere Seite dessen, was als „Macht der Medien“ benannt und häufig kritisiert wird. Ohne mediengerechte Darstellung und Resonanz bleibt politischer Protest wirkungslos. Faktisch wirken die Medien in modernen Massendemokratien als „Vierte Gewalt“, ohne allerdings einer anderen Gewalten vergleichbaren Kontrolle zu unterliegen.
10.7
Kritik an der „Macht der Medien“
Nutzung der Medien für die Durchsetzung einer politischen Agenda
Erneuerung des demokratischen Grundkonsenses
1989 begann der Weg in eine neue Republik. Die „alte“ Bundesrepublik überlebte in ihrer völkerrechtlichen, staatsrechtlichen und institutionellen Gestalt. Das politische Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland aber ist ein anderes, als in den vierzig Jahren zwischen 1949 und 1989. Es wird bestimmt und dominiert von der westdeutschen Teilgesellschaft, aber es erschöpft sich nicht in ihr. Die schmerzhaften Erfahrungen der Vereinigungskrise, die nur vordergründig eine ausschließlich wirtschaftliche Anpassungskrise war und deren Folgen noch immer nicht bewältigt werden konnten, haben erkennen lassen, dass die Bundesrepublik nach 1990 zwar im rechtlichen und institutionellen Sinne identisch mit der alten Bundesrepublik ist, dass sie aber eine neue soziale und politische Gemeinschaft darstellt, in der nicht nur längerfristig ein erhebliches wirtschaftliches und soziales Gefälle zwischen Ost und West erhalten bleibt, sondern auch eine
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Die Bundesrepublik ist seit 1990 eine neue soziale und politische Gemeinschaft
Rolle in der internationalen Gemeinschaft
Qualität des europäischen Einigungsprozesses
Ist ein neuer politischer Grundkonsens erforderlich?
Grundkonsens und Verfassungspatriotismus in der „alten“ Bundesrepublik
etablierte westdeutsche Mehrheitskultur mit einer sich neu formierenden ostdeutschen Minderheitskultur konfrontiert worden ist. Der historische Umbruch der Jahre 1989 und 1990 hat für die Bundesrepublik aber nicht nur eine innere Neuordnung zur Folge gehabt, sondern auch die äußeren Rahmenbedingungen ihrer Existenz fundamental verändert. Aus einem nur begrenzt souveränen Akteur wurde, forciert durch neue internationale Konflikte wie die Balkankriege der 1990er-Jahre oder den internationalen Terrorismus, ein wichtiger politischer und auch militärischer Akteur auf der internationalen Bühne. Die sicherheitspolitische Doktrin der alten Bundesrepublik war bereits wenige Jahre nach der Einheit obsolet geworden. Heute ist die Bundesrepublik als Mitglied der Vereinten Nationen und der NATO in vielen Krisenregionen der Welt politisch und zunehmend auch militärisch engagiert. Zudem hat die Dynamisierung des europäischen Einigungsprozesses seit dem Vertrag von Maastricht nicht nur die Rahmenbedingungen nationaler Politik erkennbar verändert, sondern sie zeitigt auch immer deutlicher Auswirkungen auf das Alltagsleben der Bürger aller Mitgliedstaaten der Union. Dies führt, wie die kontroverse Diskussion über den europäischen Verfassungsvertrag gezeigt hat, zu widersprüchlichen Reaktionen, die von einer positiven Erwartung an eine neue, europäische Bürgergesellschaft bis zur strikten Ablehnung jeder weiteren Vertiefung und Erweiterung der Union und einem Rückgriff auf vermeintliche nationale Identitäten reicht. Insofern war die Bundesrepublik in den letzten beiden Jahrzehnten durch drei zentrale Herausforderungen des status quo gekennzeichnet: Die Gestaltung der deutschen Einheit und der europäischen Einigung sowie die Neudefinition der Rolle Deutschlands in einem radikal veränderten internationalen System. Angesichts dieser bedeutsamen Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen erscheint die Frage nicht unangemessen, ob die Bundesrepublik eines neuen politischen und sozialen Grundkonsenses bedarf. Diese Frage hat zwei miteinander verwobene Dimensionen, eine normative und eine politischpraktische: Was ist wünschbar und was ist bei Lage der Dinge erreichbar? Normative Überlegungen sind, nachdem sie lange Zeit nur ein Schattendasein fristeten (Dahl, 1984: 126f.), wieder aktuell. Dies stellt eine Reaktion auf die in allen westlichen Demokratien in den beiden letzten Jahrzehnten zu beobachtende Zurückdrängung gemeinwohlorientierter Politik zu Gunsten von Klientelpolitik für politisch und sozial organisierte, organisationsfähige und organisationsbereite Interessengruppen dar, die eine Erosion des Wertegehalts der demokratischen Ordnungen zur Folge hatte. Die destruktiven Folgen dieser Konstellation hielten sich solange in Grenzen, wie ein über Jahrzehnte wirksames Element dominierte: die normativ begründete kollektive Abwehr gegen äußere Feinde (und ihre inneren Helfershelfer), sprich, gegen den Kommunismus. Der Kollaps des kommunistischen Systems warf die Demokratien des „Westens“ auf sich selbst zurück. Sie konnten sich nicht mehr gegen etwas definieren, sondern mussten sich aus sich selbst heraus bestimmen und legitimieren. Für eine historisch neue, in der Konfrontation des Kalten Krieges entstandene und an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts gelegene Demokratie wie die Bundesrepublik stellte dies eine besondere Herausforderung dar.
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Bei aller Gegnerschaft zum Kommunismus bestimmte sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik primär aus den im Grundgesetz normierten Wertvorstellungen, den Erfahrungen mit einer wohlfahrtsstaatlichen Wirtschaftsund Sozialordnung und der Demokratie. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich ein tragfähiger und krisenresistenter normativer Grundkonsens herausgebildet, den der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger als erster mit dem Begriff „Verfassungspatriotismus“ umschrieben hat. Die nationalstaatliche Komponente des modernen demokratischen Verfassungsstaates trat demgegenüber in den Hintergrund, auch wenn die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten und politischsoziale Ordnungen als Defizit empfunden wurde. Für das innere Selbstverständnis der Mehrheit der Bürger in der Bundesrepublik war sie nicht konstitutiv. Ganz anders in der DDR. Dort fand die politische Ordnung nie eine demokratisch legitimierte Unterstützung und die Spaltung des Landes blieb eine tägliche, das Alltagsleben und die Wünsche und Sehnsüchte vieler Menschen bestimmende schmerzhafte Erfahrung. Die Bundesrepublik war für viele, wenn nicht die Mehrheit der DDR-Bürger, unerreichbares Idealbild und schließlich im Jahre 1989 das Modell, an dem man sich orientierte und nach dem man die eigene Ordnung gestalten wollte. Solange die DDR ihre Bürger vom Westen isolierte, wurde nicht deutlich, wie sehr sie, ohne es zu wissen oder sich einzugestehen, durch die eigene soziale und politische Wirklichkeit geprägt waren. Diese unterschiedlichen politischen Erfahrungen und Wertorientierungen beeinflussen nach wie vor die Ausbildung eines gemeinsamen normativen Konsenses in Ost- und Westdeutschland. Ein solcher, allgemein akzeptierter normativer Grundkonsens bildet die Grundlage dafür, dass in der sozialen und politischen Praxis die Austragung von Konflikten nach bestimmten Regeln und mit für die Beteiligten vertretbaren Ergebnissen erfolgen kann. Es stellt sich also die Frage nach vermittelnden Positionen zwischen einem für eine liberale Demokratie problematischen einseitigen Normativismus, einem radikalen Individualismus, der allenfalls die Regeln eines „modus vivendi“ zwischen den Bürgern festschreiben will, und einem faktischen Wertrelativismus. Dazu hat Ernst Fraenkel in seinem Buch „Deutschland und die westlichen Demokratien“ von 1964 (Fraenkel, 1991) einige Hinweise gegeben. Er hat die allgemeine Akzeptanz eines Wertkodexes, der demokratisches „fair play“ ermöglicht und sichert, und ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit als entscheidende Grundlage der Demokratie bezeichnet. Nur wenn diese beiden Elemente nicht kontrovers seien, könnten die strittigen Probleme der Politik demokratisch gelöst werden. Seine Unterscheidung zwischen einem nicht-kontroversen Sektor der Politik, der bestimmte, allgemein akzeptierte Grundwerte umfasst, und einem strittigen Bereich, der alle Felder und Gegenstände konkreter Politik, aber auch Probleme institutioneller Regelungen und Verfahren einbezieht, erweist sich als äußerst nützlich. Für den nicht-kontroversen Bereich werden lediglich Mindestbedingungen formuliert. Der in Verfassungen normierte demokratische Grundkonsens besteht im Kern aus in Grundrechtskatalogen zusammengefassten normativen Grundpositionen und formalen Regelungen im Staatsorganisationsteil. Beide
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Fehlender Grundkonsens in der DDR
Unterschiedlichen politische Erfahrungen und Wertorientierungen
Ernst Fraenkels Unterscheidung zwischen nichtkontroversen und strittigen Sektoren der Politik
Die mentale und kulturelle Verankerung der Demokratie
Neue soziale Konflikte
Komponenten gehören zusammen und machen erst die konkrete Austragung politischer Konflikte möglich. Für das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies, dass zwar die normativen Grundlagen der Verfassung und die demokratischen Institutionen – von bedeutungslosen Randgruppen abgesehen – weder im Westen noch im Osten in Frage gestellt werden, dass aber die Vorstellungen darüber, was mit ihnen jeweils gemeint und intendiert ist, auseinanderfallen. Diese unterschiedliche Wahrnehmung, Funktionszuweisung und Wertschätzung gilt es im Auge zu behalten, wenn darüber nachgedacht wird, wie die Idee der Demokratie gegen antidemokratische Bestrebungen im Inneren, finanz- und organisationsmächtige, demokratisch nicht kontrollierbare Interessengruppen, aber auch gegen moderne Gefährdungen durch demokratisch nicht legitimierte transnationale Regime und supranationale Arrangements und global agierende Unternehmungen oder Medienkonglomerate verteidigt werden kann. Es geht um die Bestimmung dessen, was eine moderne Bürgergesellschaft ist. Dazu bestehen im Osten und im Westen Deutschlands noch immer unterschiedliche Vorstellungen, die mit der institutionellen Angleichung des Ostens an den Westen nicht hinfällig geworden sind. Auf Grund der miteinander nicht vergleichbaren Erfahrungen, Werthaltungen und Einstellungen zur Politik differieren auch die von den Bürgern an die Politik formulierten Anforderungen und Erwartungen. Die Vermutung, dass sich diese Unterschiede binnen weniger Jahre durch die Anpassung des Ostens an den Westen abschleifen würden, haben sich als irrig erwiesen. Eine solche Sichtweise vernachlässigte die Erfahrungen, die in anderen Ländern nach dem Sturz von Diktaturen und dem Aufbau einer neuen, demokratischen Gesellschaft gemacht worden sind. Allein ein (selbst)kritischer Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik hätte zeigen können, dass es mit der Etablierung eines demokratischen Institutionensystems nicht sein Bewenden hat. Die mentale und kulturelle Verankerung von Demokratie ist eine Sache von Generationen. Beim Zusammenprall der Grundnormen liberaler Demokratie mit autoritärer Staatsfixierung und obrigkeitsstaatlichen Prägungen entstehen Brüche und Konflikte, die, wie in der Weimarer Republik, den Keim der Zerstörung der demokratischen Ordnung in sich tragen oder aber, wie in den Jahren nach 1945, durch positive Erfahrungen abgeschliffen werden können. Die Entwicklung nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands bietet eine neue, trotz aller Widersprüchlichkeiten positive Variante dieses alten Problems. Von Randgruppen abgesehen, wird die Demokratie als politische Ordnung nicht in Frage gestellt. Gleichwohl bestehen deutliche wirtschaftliche und soziale Unterschiede und daraus erwachsende Chancen zwischen Ost und West, in wachsendem Maße aber auch in der Gesamtgesellschaft. Die seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltende Massenarbeitslosigkeit, sich verschlechternde Lebenschancen für eine ganze Generation und nicht zuletzt die Folgen Jahrzehnte langer Ignoranz gegenüber den Bevölkerungsgruppen, die seit den 1960er-Jahren als „Gastarbeiter“ oder als politische Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland kamen, bergen erheblichen sozialen und politischen Sprengstoff, wenn es nicht gelingt, das Auseinanderdriften der Gesellschaft wenn schon nicht aufzuhalten, so doch zumindest in Grenzen
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zu halten. Integration und Inklusion sind die politischen Leitlinien, um die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für eine auch in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen lebensfähigen Demokratie zu erhalten. Inklusion ist eine der zentralen Kategorien einer demokratischen Ordnung. Sie bedeutet nicht Gleichheit der Formen der Beteiligung und ihrer Effekte, sondern die umfassende Gleichheit von politischen und sozialen Teilnahmechancen. Weitergefasst kann von Inklusion bei der Wahrnehmung von Freiheitsrechten, politischen Rechten, sozialen Rechten und kulturellen Rechten gesprochen werden (Dahl, 1989: 119ff.; Münch, 1992: 300). Inklusion setzt voraus, dass die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen geschaffen werden, die eine volle Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen. Dies bedeutet auch, Bürgern durch Bildung Möglichkeiten zu eröffnen, staatsbürgerliche Kompetenz zu erwerben, welche Voraussetzung für eine erfolgreiche Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen im politischen Aushandlungsprozess ist. Dieser Problemaufriss lässt erkennen, dass die Fragen, welche die normative und die empirische Demokratietheorie seit Jahrzehnten stellt, keineswegs hinfällig geworden sind. Sie stellen sich eher verschärft. Der Befund ist eindeutig und zwiespältig zugleich. Die Bundesrepublik befindet sich seit 1990 in einem mehrfachen Dilemma. Zum einen wurden das politische Institutionensystem und die politischen Akteure mit Erwartungen und Aufgaben überfordert, die aus dem rapiden ökonomischen und sozialen Wandel im Inneren und den immer deutlicher dominierenden internationalen und globalen Einflüssen auf die nationale Ökonomie entstanden. Zum anderen wurde die Politik durch den Systemkollaps und die Inkorporation der DDR vor völlig neue Probleme gestellt. Das mühsam über Jahrzehnte austarierte Gleichgewicht in der westdeutschen Gesellschaft mit seinen eingespielten Verfahren und Mechanismen des Interessenausgleichs wurde durch den Beitritt der DDR und die Vereinigungskrise gestört. Die notwendige Umverteilung von materiellen und ideellen Ressourcen funktioniert nur mühsam und selbst da, wo die Ergebnisse beeindruckend sind, ist die subjektive Wahrnehmung höchst unterschiedlich. Für die Politik ergeben sich daraus nicht nur erhebliche Steuerungsprobleme, sondern auch Schwierigkeiten bei der Begründung von kontroversen Entscheidungen. Hinzu kommt die Vernachlässigung von sozialen Problemen, die aus der alten Bundesrepublik überkommen waren. Da ist zum einen die faktische Vertagung der angesichts der Alterstruktur der Bevölkerung und der zu erwartenden demographischen Entwicklung unabdingbaren grundlegenden Reform der sozialen Sicherungssysteme um mindestens ein Jahrzehnt. Zum anderen haben die aktuellen Probleme des Einigungsprozesses ebenso wie politische Ignoranz die unübersehbare Tatsache ausgeblendet, dass die Bundesrepublik, wie die meisten europäischen Staaten, eine ethnisch, kulturell und religiös gemischte Gesellschaft geworden war. Migration wurde als ein vorüber gehendes Problem gesehen, notwendige Anpassungen an die veränderte Situation, z. B. durch eine Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts auf die lange Bank geschoben und statt dessen eine (Schein)Debatte über Multikulturalismus geführt, wo es doch in Wirklichkeit um die Frage ging, wie es gelingen könne, die in Deutschland lebenden Migranten und ihre Nachkommen in diese Gesellschaft zu integrieren.
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Inklusion als zentrale Kategorie einer demokratischen Ordnung
Politische Dilemmata der Vereinigung
Vernachlässigung sozialer Probleme aus der „alten“ Bundesrepublik
Die Bundesrepublik hat in ihrer Geschichte bisher zwei große Integrationsleistungen vollbracht: die der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 und die der ostdeutschen Bevölkerung in die neue gesamtdeutsche Bundesrepublik. Im Hinblick auf Millionen Migranten und deren Nachkommen steht dies noch aus. Die angedeuteten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme, die schwindende Bindekraft sozialer Gruppen und des intermediären Institutionensystems und nicht zuletzt mangelnde Steuerungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik stellen Belastungen dar, welche die Frage nach den allseits akzeptierten normativen Grundlagen der Demokratie und nach ihrer Fähigkeit, gemeinwohlorientierte politische Zielvorstellungen zu entwickeln und zu verwirklichen mit neuer Schärfe stellen. Formale Regeln politischen Handelns, die Prinzipien des Rechtsstaates und der modernen Verfahrensdemokratie werden zu leeren Formeln, wenn sie nicht durch materielle Mindeststandards angereichert sind. Dazu gehören in modernen Demokratien individuelle Freiheiten und eine als gerecht empfundene Verteilung kollektiver Güter, Partizipationschancen und ein fairer Anteil an der allgemeinen Wohlfahrt. Ungleiche Beteiligungschancen und eine als ungerecht empfundene soziale Ordnung sind eine latente Bedrohung für eine demokratische Ordnung. Die Geschichte der Bundesrepublik liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass beide Aspekte zusammengehören. Der Grundkonsens des Grundgesetzes war ursprünglich ein Elitenkonsens. Er wurde zum Allgemeingut der politischen Gemeinschaft, weil die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung nicht nur Chancen (entitlements) und individuelle Entfaltungschancen eröffnete, sondern auch wirtschaftliche Prosperität und sozialen Ausgleich – nicht Gleichheit – zu sichern vermochte. Es waren also auch materielle Leistungen (provisions), welche die Grundlagen für eine stabile demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik geschaffen haben und nicht allein abstrakte Normen und Überzeugungen. Aber ohne diese Grundüberzeugungen und eine auf solidem institutionellen Grund gebaute politische Ordnung wären diese Leistungen nicht zu erbringen gewesen. Auch wenn es an der Zustimmung zu den tragenden Ideen der Demokratie in ganz Deutschland und in allen sozialen Schichten keine grundsätzlichen Zweifel gibt, gilt es doch, die Grundlagen dieses Konsenses in Takt zu halten. Eine als gerecht empfundene soziale und politische Ordnung und eine Bürgergesellschaft, die individuelle Freiheiten sichert und Chancen eröffnet, an ihrer Gestaltung mitzuwirken, bleibt tägliche Aufgabe der Politik in einer demokratischen Ordnung.
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