Weg in die Verdammnis
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 173 von Jason Dark, erschienen am 29.08.1995, Titelbild: Móni...
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Weg in die Verdammnis
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 173 von Jason Dark, erschienen am 29.08.1995, Titelbild: Mónica Pasamón
Sie nannten sich die schwarzen Apostel. Vor einigen hundert Jahren folgten sie ihrem Herrn Santerre blind. Der Reihe nach gingen sie den Weg ins Verderben und stürzten sich in die Tiefe einer Schlucht. Santerre überlebte. Er hatte der Hölle ein Opfer gebracht. Doch der Teufel wollte mehr. Später, viel später fand er neue Diener, die für ihn den Weg in die Verdammnis gehen wollten. Diesmal war es keine einsame Bergschlucht, die zum Massengrab werden sollte. Sie hatten sich als Ort des Todes den Wiener Prater ausgesucht. Aus den Gondeln des Riesenrads sollten sie sich in die Tiefe stürzen und dabei einen ihrer Feinde mitnehmen. Dieser Mann war ich!
Es war die Nacht des Todes, des Blutes und die der grausamen Jagd auf Menschen. Diejenigen, die es betraf, wußten, daß sie sterben sollten. Und wenn es nicht mehr anders zu regeln war, dann wollten sie sich jedenfalls auf ihre Art und Weise von der Welt verabschieden, und nur deshalb hatten sie in dieser Nacht ihre Behausung verlassen, ohne zu wissen, daß ihnen die Soldaten auf den Fersen waren. Eine Kavalkade aus zwölf Männern strebte von einer Einsamkeit in eine andere. Es war der große Weg, der letzte Weg, den sie gemeinsam gehen würden, und sie hatten sich nichts mehr zu sagen, deshalb schwiegen sie auf ihrem Todesmarsch. Es war eine klare Nacht. Die Berge warfen im Mondlicht Schatten. Glitzernde Sterne schmückten den Himmel. Der eisige Wind brachte den Geruch von Schnee mit. Die Männer froren trotz der langen Mäntel. Ihre Gesichter wirkten bleich und verwittert, manche Haut erinnerte an Rinde, aber das Leben lag in ihren Augen. Die Blicke sprachen von einem wahren Fanatismus, der in ihnen steckte und auch davon, daß sich diese Gruppe von zwölf Männern auf keinen Fall freiwillig in die Hände ihrer Jäger begeben würde. Der Tod schien für sie unausweichlich. Man hatte sie gefunden, und der König, der mit der Kirche zusammenarbeitete, würde seinen Spaß daran haben, wenn er sie verbrennen und foltern könnte. Zwölf Männer. Zwölf Schwarze Apostel! So hatten sie sich genannt. Die Berge boten ihnen in diesem Fall keinen Schutz. Noch immer marschierten die Männer hintereinander über den felsigen Boden. Es war eine rauhe Gegend, und es war bitterkalt. Sie keuchten vor Anstrengung. Ihr Schuhwerk klapperte und rutschte über das glatte Gestein, und der Schall wurde vom Wind fortgetragen. Aber auch ein anderes Geräusch. Ein scharfes, böses und brutal klingendes Bellen. Es hörte sich zugleich hungrig an, und die zwölf Männer wußten genau, wer da gebellt hatte. Es waren die Hunde der Häscher gewesen, die ihre Spuren aufgenommen hatten. Bluthunde, die sie in Stücke reißen würden. Die zwölf Männer blieben für einen Moment stehen, als sie das Bellen vernahmen. Sie bildeten so etwas wie einen Kreis, schauten sich an, und ein jeder wartete nach dem langen Schweigen auf die Frage des anderen. »Werden wir es schaffen?« fragte jemand. »Es wird schwer werden.« »Wir müssen es trotzdem versuchen.« »Und dann werden wir sterben.« »Ja, aber nicht so, wie die anderen es wollen.«
»Gut!« »Ihr seid bereit?« Die Männer nickten. »Dann werden wir jetzt den anderen Weg gehen! Wir haben lange darüber gesprochen. Niemand wird sagen können, er hätte nichts gewußt. Es ist alles so eingetroffen, wie wir es uns gedacht haben. Zum Glück waren wir gut vorbereitet!« Sie nickten dem Sprecher zu. Danach schauten sie sich gegenseitig an. Obwohl sich das scharfe Bellen der Hunde verstärkt hatte, blieben sie noch für einen Moment zusammen. Der Kreis war geblieben, nur faßten sie sich jetzt gegenseitig an. »Für ihn in den Tod!« murmelten sie. Und dann. »Für ihn bei unserer Rückkehr!« Der Worte waren genug gewechselt. Die Hände lösten sich, die Männer konnten sich wieder frei bewegen. Genau in diesem Augenblick trug ihnen der Wind nicht nur das Bellen der Hunde zu, sondern auch den scharfen Klang der herrischen Stimmen. Eine war sogar herauszuhören. Sie prophezeite, daß es nicht mehr weit war und die Bluthunde bald ihre Beute kriegen würden. »Werden sie nicht kriegen!« flüsterte gestikulierend der Anführer der Schwarzen Apostel und mahnte zur Eile. Die Männer liefen nun schneller. Der steile Weg führte sie durch die Berge. Sie mußten ihr Ziel erreichen, bevor die Bluthunde sie erwischt hatten. Geduckt und keuchend hasteten sie bergauf. Allmählich traten die Schatten der Berge zurück. Einmal blieben die Männer sogar noch stehen und schauten sich um. Hinter ihnen war die Nacht längst nicht mehr so dunkel wie vor ihnen. Da wurde sie vom zuckenden Schein der Fackeln erhellt, die ihre Häscher bei sich trugen. Sie waren schon nah, und das Bellen der Bluthunde klang immer bedrohlicher und auch wütender. »Kommt!« peitschte der Anführer sie voran. »Ihr müßt schneller gehen! Noch halten sie die Hunde zurück, aber wehe, sie lassen sie los!« Die elf dunkel gekleideten Gestalten folgten den Worten ihres Anführers. Sie liefen tatsächlich schneller, denn die letzten Worte hatten ihnen die nötige Kraft gegeben. Doch nun rutschten sie häufiger aus. Sie stiegen über große Steine hinweg und hatten das Ziel endlich erreicht. Keuchend blieben sie auf dem kleinen Plateau stehen. Ihre Blicke schwenkten nach Norden, dorthin, wo die Berge eine gewaltige, zackige Mauer bildeten. Für die zwölf Personen sah es so aus, als wäre die Mauer zu Fuß zu erreichen, doch dazwischen lag eine tiefe Schlucht. Die Männer konnten nicht mehr zurück. Springen konnten sie nicht über die Schlucht, die überwanden sie nur, wenn sie flogen. Der Anführer ging einige Schritte zurück und blieb mit dem Rücken zum Spalt hin stehen.
Er schaute zu den auf ihren Pferden sitzenden Jägern hin. Die Flammen der Fackeln tanzten unruhig durch die Finsternis. Sie rissen helle Inseln in die graue Schwärze. Die Hufe der Pferde klirrten auf dem blanken Gestein. Das scharfe Bellen der Hunde ließ die Apostel zusammenzucken. Im Licht der Fackeln erkannten sie ihre Verfolger. Die Stimmen der Verfolger überschlugen sich. Wahrscheinlich deshalb, weil die Häscher aufgeholt hatten. Und dann ließen sie die Hunde frei. Die Köter brüllten ihren Frust hinaus. Sie bellten, sie keuchten, sie schnappten nach Beute. Vor ihren weit geöffneten Mäulern dampfte der heiße Atem. Ihre kräftigen Läufe hieben wuchtig gegen den Boden. Und das Plateau, somit die Beute, war in greifbare Nähe gerückt. Der Anführer der zwölf Schwarzen Apostel wußte, was zu tun war. Einige Zeit blieb ihm noch. In dieser Spanne konnte das Ritual erfüllt werden. Er drehte sich nach links und lächelte zufrieden, als er sah, daß sich seine Freunde schon aufgestellt hatten und eine Reihe bildeten. Hintereinander standen sie, so war es auch besprochen worden. Der Weg in die Verdammnis lag offen vor ihnen. Weit war das Tor geöffnet worden. Und die Hunde jagten auf ihre Beute zu. Selbst in der Dunkelheit waren ihre Körper zu sehen, wie sie sich zackig bewegten, mal auf dem glatten Felsen ausrutschten, sich aber immer wieder fingen und sich mit mächtigen Sprüngen voranwuchteten. Sie wollten Fleisch, sie wollten Blut, sie wollten ihre Zähne in die Körper schlagen; sie wollten ihren Hunger stillen. Menschen kamen ihnen da gerade recht! »Jetzt!« rief der Anführer der zwölf Schwarzen Apostel. Und seine Freunde gehorchten. Der erste in der Reihe machte einen großen Schritt nach vorn, dann hatte er den Boden unter den Füßen verloren. Wie ein Stein flog er in die Tiefe, und der Wind ließ seinen langen Mantel flattern. Der Anführer zischte einen Befehl, und der nächste sprang. Dann der dritte. Und so ging es weiter. Die Männer stürzten sich der Reihe nach in die Schlucht. Sie würden den Aufprall nicht überleben, das wußten sie, doch keiner schrie. Die Männer stürzten sich schweigend über den Rand und fielen auch schweigend in die Schlucht. Der Tod schreckte sie ebensowenig wie die Art des Sterbens. Nur hatten sie nicht gerade in die Hände ihrer Häscher fallen wollen, die sahen, daß ihnen eine Beute entging. Obwohl sie Pferde und Bluthunde noch schärfer anspornten, um wenigstens den einen oder anderen noch zu erhaschen, würden sie es nicht schaffen. Das wußte auch der Führer der Schwarzen Apostel. Er nahm es mit einem kalten Lächeln zur Kenntnis, schaute kurz zum Rand der
Schlucht. Nur noch drei Mitbrüder standen am Abgrund. Eine Sekunde später waren es nur noch zwei. Und die sprangen gemeinsam. Zuvor hatten sie sich noch die Hände entgegengestreckt. Sie hielten sich fest, und es waren die einzigen, die sich nicht schweigend in die Tiefe stürzten, sondern laut lachten. Ihr Lachen peitschte als Echo wieder zurück. Dann war auch von ihnen nichts mehr zu hören. Der Aufprall wurde von den anderen Geräuschen überdeckt. Es war eine schaurige Szene, die der Anführer der Apostel zu sehen bekam. Auch die Bluthunde hatten die Nähe des letzten Opfers gewittert, und die vier Tiere waren noch wütender geworden. Ihre Rasse konnte der Anführer nicht erkennen. Sie hechelten, die Pferde wieherten schrill. Die Männer mit den Waffen und Fackeln brüllten durcheinander, und das Inferno rückte immer näher an den letzten Mann heran. Der wartete noch ab, bevor er sich mit einer gelassenen Bewegung umdrehte, seinen Feinden den Rücken zuwandte und dann rasch die letzten beiden Schritte bis zum Rand der Schlucht zurücklegte. Nun >sprang< auch er! Eigentlich ließ er sich mehr über den Rand hinweggleiten, hatte sich zuvor auch auf die Knie fallen lassen, drehte sich noch einmal – und war im nächsten Moment verschwunden. Es war genau der Zeitpunkt, als die ersten beiden Hunde den Rand der Schlucht erreicht hatten. Sie waren wild, vor ihren Mäulern klebte der Schaum. Sie knurrten und bellten zugleich. Einem von ihnen war es nicht mehr möglich, rechtzeitig genug zu stoppen. Er übersah den Rand – und fiel in die Schlucht! Wenn es möglich war, daß sich ein Bluthund erschreckte, dann war es bei ihm der Fall, denn kein Laut war von ihm mehr zu hören. Der Hund sauste in die Tiefe und prallte gegen die Körper, die bereits in der Schlucht lagen. Stimmen gellten durch die Nacht. Die Häscher waren wütend und frustriert, daß ihnen die Beute genommen worden war. Nur mühsam gelang es ihnen, die Pferde unter Kontrolle zu bekommen, sonst wären sie nebst ihren Reitern ebenfalls in die Schlucht gestürzt. Einen Hund hatten sie verloren. Es war ihnen egal. Die anderen drei Tiere wieselten am Rand der Schlucht entlang, hatten die Köpfe vorgestreckt und bellten ihre Botschaft in die Tiefe hinein. Auch sie kehrte als Echo wieder zurück und war für die Jäger zugleich die höhnische Botschaft, verloren zu haben. Ihr Anführer war ein großer Mann mit hellblonden Haaren, der von seinem Gaul stieg und die lange Flut auf seinem Kopf zurückstrich. Sein Gesicht zeigte einen schaurigen Ausdruck, denn ein Schwerthieb hatte vor Monaten seine linke Wange gestreift, und die Wunde war noch nicht
richtig verheilt. Wie ein dunkelrotes und nässendes Mal zeichnete sie sein Gesicht. Die anderen Männer blieben auf den Pferden sitzen. Sie schauten zu, wie ihr Anführer Philipp am Rand der Schlucht entlangging und in die Tiefe starrte. Er sah nichts und machte dies auch deutlich. Seine Flüche gellten über die Schlucht hinweg. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und schlug damit nach irgendwelchen unsichtbaren Feinden. Seinen Auftrag hatte er nicht erfüllt, und das hatte er zu verantworten. Er schrie seine Wut hinaus, er brüllte in die Tiefe, er beschimpfte die Toten als Bastarde, Teufelsanbeter und Satansjünger. Die Hunde verhielten sich ungewöhnlich. Da sie keine Beute mehr sahen, hätten sie eigentlich ruhig sein müssen, was bei ihnen nicht der Fall war. Sie knurrten, sie bellten, sie stemmten die Vorderpfoten dicht an den Rand der Schlucht und starrten in die Tiefe, als gäbe es dort doch etwas für sie zu holen. Von seinem Pferd stieg derjenige Mann ab, dem die Hunde gehörten. Er sah aus wie ein Zwerg und stank nach ranzigem Fett. »Die Tiere sind mir zu unruhig, Philipp!« »Ich sehe es.« »Da ist doch was…!« »Sie liegen alle am Grund der Schlucht. Sie können nicht überlebt haben. Sie sind tot, verdammt noch mal! Sie sind tot. Es gibt keine Möglichkeit mehr.« Der Hundehalter hob die Schultern. »Du glaubst mir nicht, oder?« Der Zwerg spie aus. »Ich kann es dir nicht sagen. Sie können tot sein, aber denk daran, daß sie sich die Schwarzen Apostel nannten. Sie können durchaus mit dem Satan im Bunde gestanden haben.« »Und der soll sie am Leben gelassen haben?« Der Zwerg bekreuzigte sich. »Ich weiß es nicht, Philipp, ich kann es dir nicht sagen.« »Dann sei auch ruhig.« »Bitte.« Der Zwerg wandte sich ab. Geschickt fing er mit beiden Händen zwei seiner Tiere ein. Er zerrte sie zurück, und sie folgten nur widerwillig. Das dritte Tier trottete hinter seinen Artgenossen her. Der blonde Philipp aber blieb nachdenklich am Rand der Schlucht stehen. Sein Gesicht zeigte einen wütenden Ausdruck, und er dachte daran, daß es wohl besser für ihn war, wenn er die Gegend verließ. Daß diese Männer nicht auf der Folterbank gelandet waren, um von den Vertretern der Kirche und des Königs verhört werden zu können, lag an ihm. Es war allein seine Schuld, denn er hatte großmäulig versprochen, daß alles in Ordnung gehen würde.
Seine Leute kümmerte das nicht. Sie waren zwar um ihren Spaß gekommen, doch als Söldner würden sie sich sehr bald einem neuen Herrn verdingen und bei dem vielleicht mehr Spaß haben. Philipp drehte sich um. Er schaute zu seinen Männern hin, die bewegungslos auf den Pferden saßen. Der scharfe Pechgeruch der Fackeln drang in seine Nase und ließ ihn niesen. »Wir reiten!« Er ging auf sein Tier zu. »Den Lohn bekommt ihr noch heute nacht ausbezahlt.« »Alles?« fragte jemand. »Ja.« Philipp zog sein Tier um die Hand. Er würde ihnen alles geben müssen, und dann würde er für sich selbst sorgen, noch in dieser Zeit, denn Zeit genug hatte er. Bevor er anritt, warf er noch einen Blick zurück. Die Schlucht schwieg. Kein Geräusch drang aus der Tiefe nach oben, und auch der Wind war eingeschlafen. Es war die Stille des Todes, die sich über diese Gegend gelegt hatte. Waren wirklich alle tot? Es hatte den Anschein gehabt. So recht glauben wollte Philipp nicht daran. Den Grund dafür kannte er selbst nicht. Es war einfach ein Gefühl, und das hatte ihn selten getrogen. Dann ritt er an. Die Söldner folgten ihm und ließen die Schlucht des Todes ebenfalls hinter sich… *** Es waren eine Nacht und ein Tag vergangen, bevor Philipp seinen Vorsatz in die Tat umsetzen konnte. Keinen anderen hatte er in seine Pläne eingeweiht. Es war ihm gelungen, das Nötigste zu packen, es in Säcke zu stopfen, die er auf dem Rücken seines Pferdes befestigt hatte, das ihn über die Berge tragen sollte. Nach Norden hin, ins Heilige Reich Deutscher Nation. Bei Anbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg und ließ die Festung hinter sich. Er hatte keinem Bescheid gesagt und sich bei Nacht und Nebel davongeschlichen. Sogar die Hufe des Pferdes hatte er mit Tüchern umwickelt, um nicht aufzufallen. Sosehr ihm daran gelegen war, das Land zu verlassen, zuvor mußte er noch etwas anderes durchziehen. Er glaubte nicht daran, daß andere denselben Gedanken gehabt hatten wie er, und wenn, dann waren sie bestimmt nicht so schnell. Sein Plan stand schon lange fest, und jetzt, da die Mauern hinter ihm von der Dunkelheit verschluckt wurden, ging es ihm besser. Da saß er auf seinem Tier und konnte wieder tief durchatmen. Ja, es ging ihm gut. Es würde ihm bessergehen, je weiter er sich von der Festung entfernte.
Das Pferd lief ruhig. Es war ausgeruht, hatte Wasser und zu fressen bekommen. Die Einsamkeit der Berge verschluckte den Mann, und er dachte mit Schaudern daran, daß er die eisige Paßhöhe würde überqueren müssen. Um sich vor der Kälte zu schützen, hatte er das Fell mitgenommen und es sich über die Schultern gehängt. Den Helm trug er nicht. Bewaffnet war er nur mit seinem Schwert. Auf den Morgenstern und die Lanze hatte er verzichtet. Sie wären nur Ballast gewesen. Er dirigierte das Tier dorthin, wo die zwölf Schwarzen Apostel einmal gelebt hatten. Ein schmales Hochtal, umgeben von Wänden aus Fels, im Sommer mit grünen Matten bedeckt, doch jetzt lag dort noch Schnee. Die wenigen Hütten standen im Kreis. Sie waren aus Stein und Holz errichtet worden und standen dort, wo sich der kleine See mit dem eiskalten Wasser befand. Damit er im Winter nicht völlig zufror, hatten die Männer an einer bestimmten Stelle Stroh hineingestopft. Die Einsamkeit wartete auf den Reiter. Philipp hatte die Lappen längst von den Füßen seines Pferdes gelöst. Nun lauschte er auf dem steinigen Weg dem leisen Klirren der Hufe. Der Mann mit den langen, blonden Haaren ritt bis an das Ufer des Sees. Hier befand er sich in unmittelbarer Nähe der vier Hütten. Je drei dieser verfluchten Hundesöhne hatten jeweils in einer Hütte gelebt. Philipp zügelte sein Tier, das sofort stand. Dann schwang er sich hinab und blieb für einen Moment neben seinem Pferd stehen. Er wollte sich umschauen und runzelte dabei die Stirn. Er fror trotz des Fells auf seinen Schultern. Aber dieses Frieren hatte auch einen anderen Grund. Es gefiel ihm überhaupt nicht, daß er hier allein stand und die Hütten durchsuchen würde. Der Gedanke war ihm plötzlich gekommen. Er dachte daran, einen Fehler begangen zu haben. Alles war nicht in Ordnung. Er hatte die Gegend zwar verlassen vorgefunden, und trotzdem glaubte er, von irgendwoher beobachtet zu werden. Aber wer? Klar, er hatte Feinde, doch niemand hatte von seinem Plan gewußt, kein Freund und erst recht kein Feind. Er war nicht zum Spaß noch vor seiner Flucht hergeritten. Philipp ging einfach davon aus, daß diese Männer, die jetzt als Leichen in der tiefen Schlucht lagen, etwas besaßen, das er gebrauchen konnte. Wenn sie tatsächlich mit dem Teufel im Bunde standen, hatten sie bestimmt versucht, Vermögen zu scheffeln, und dabei dachte er besonders an Gold. Aus Lehm Gold zu machen. Der große Traum aller Menschen. Die Schwarzen Apostel konnten es geschafft haben. Vielleicht gab es auch noch etwas anderes in den Hütten zu entdecken. Juwelen, Geschmeide, Perlen, kostbare Dinge, die sie irgendwo gestohlen hatten. Diese Mär hatte sich schon immer gehalten, nur er wollte herausfinden, ob sie auch den Tatsachen entsprach.
Er brauchte Beute, um sich das Leben zu erleichtern. Sicher, er konnte sich auch holen, was er benötigte, doch er wollte nicht auffallen. Für eine Weile blieb Philipp neben seinem Pferd stehen. Er wollte eins mit der Natur werden, wollte sich an sie gewöhnen und seine Sinne dabei schärfen. Unter Umständen war es nötig, denn mit einem plötzlich auftauchenden Feind mußte er immer rechnen. Es tat sich nichts. Die Umgebung blieb still. Selbst die Tiere hatten sich verkrochen, als wollten sie nicht gesehen werden. Die vier Hütten schwiegen ihn an. Krumme Bauten, die keinesfalls wetterfest zu sein schienen. Philipp ging auf die erste Hütte zu. Wie die anderen war auch sie so niedrig gebaut, daß er den Kopf einziehen mußte, wenn er sie betreten wollte. Er hatte sicherheitshalber sein Schwert gezogen und hielt den Griff mit der rechten Hand umklammert. Es war keine lange Waffe, die Schneide war eher kurz und kompakt. Philipp gehörte zu den Menschen, die damit perfekt umzugehen wußten. Er trat die schmale Tür auf, wobei er sich über das dabei entstehende Geräusch ärgerte. Es war zu laut. Geduckt ging er in das Dunkel der Hütte hinein. Er spürte, wie es durch die Ritzen zog. Es roch nach kaltem Rauch, nach altem Stroh und Feuchtigkeit. Er brauchte Licht, denn das Lager und auch den kleinen Kamin sah er nur schattenhaft. Zündsteine fand er am Kamin, Holz ebenfalls. Es würde sehr lange dauern, bis in den Hütten die Feuer brannten, und für einen Moment dachte er daran, alle niederzubrennen, wenn er nichts fand. Sein Mund verzog sich. Ein Zeichen seiner Wut. Er trat gegen einen Schemel, der dumpf gegen die Wand polterte. Dann hörte er das Wiehern seines Pferdes. Schrill und alarmierend. Philipp kannte das Tier genau. Er ritt es jetzt seit zwei Jahren, und er wußte auch, wann ihn das Pferd vor einer Gefahr warnen wollte. Dann klang das Wiehern so wie jetzt! Der Mann fuhr herum, und noch in der Bewegung verstummte das schrille Geräusch. Es war wieder still, was Philipp keineswegs freute, denn dieses plötzliche Verstummen seines vierbeinigen Begleiters war auch nicht normal gewesen. So etwas konnte passieren, wenn jemand dem Pferd mit einem Schlag den Kopf abhackte. Philipp fröstelte. Er hatte sich so gedreht, daß er zur Tür schauen konnte, die noch offenstand. Viel sehen konnte er allerdings nicht. Der Mann wußte nicht, was er unternehmen sollte. Er war unsicher geworden. Ging er nach draußen, lief er womöglich in eine Falle, blieb er in der Hütte, war das auch nicht gut. Egal, was er tat, es konnte unter
Umständen immer das Falsche sein. Er wußte allerdings auch, daß er die Stunden der Nacht nicht unbedingt in dieser Hütte verbringen mußte, und so gab er sich einen Ruck, um auf die Tür zuzugehen. Zwischen seiner rechten Handfläche und dem Schwertgriff hatte sich Schweiß angesammelt. Wenn er kämpfen mußte, würde er die Waffe wohl mit beiden Händen führen müssen. Er würde sich auf seinem Weg in die Freiheit von nichts und niemandem aufhalten lassen. An der Tür stoppte er noch einmal und schaute nach draußen. Leere und Dunkelheit hatten sich vereinigt. Er sah auch nichts von seinem Tier, nicht mal einen Schatten, und dies wiederum sorgte bei ihm für eine weitere Unsicherheit. Mit dem Schwert drückte er die Tür weiter auf, damit er ins Freie gehen konnte. Sehr vorsichtig ging er die ersten Schritte. Die kühle Luft erwischte ihn wieder, sie puderte sein Gesicht, sie roch nach Schnee und ließ ihn schaudern. Wenig später – er stand jetzt direkt vor der Hütte – schauderte der Mann noch mehr. Philipp sah sein Pferd. Es lag auf dem Boden wie hingeworfen. Aber es schlief nicht, es war tot, denn jemand hatte dem Tier brutal den Kopf abgehackt! *** Philipp hörte nichts, ausgenommen seinen eigenen Atem, der scharf und zischend aus seinem Mund drang. Er war traurig über den Tod des Tieres, doch er mußte nun mehr an sich selbst denken. Irgend jemand mußte sich in der Nähe aufgehalten und ihn beobachtet haben. Es gab also einen Feind, der zuerst seinem Tier das Leben genommen hatte und sicherlich auch versuchen würde, ihn zu töten. Philipp fühlte sich allein. Es war so kalt geworden. Seine Augen funkelten wie dunkles Glas. Der Kopf des Tieres lag in einem ungewöhnlichen Winkel vom Körper entfernt, und unter ihm breitete sich eine dunkle Lache aus, über der Dampf schwebte. Das warme Blut des Tieres, das penetrant roch. Der Mann mit dem Schwert, das er jetzt mit beiden Händen hielt, schaute nach links, auch nach rechts, nur war es ihm nicht möglich, den einen oder anderen Feind auszumachen. Er sah nur die Schatten der Hänge und die anderen Hütten. Wer immer sein Pferd umgebracht hatte, er mußte sich gut versteckt haben, und an Verstecken mangelte es hier nicht. Es hatte auch keinen Sinn, wenn Philipp versuchte, von diesem Ort zu fliehen. Zu Fuß kam er nicht weit, und sicherlich war der heimtückische
Pferdetöter selbst beritten. Da konnte er ihn immer wieder einholen. Philipps Gedanken drehten sich plötzlich um die vergangene Nacht. Ihm fiel ein, daß er da bereits ein so verflucht ungutes Gefühl gehabt hatte. Da war er sich schon sicher gewesen, daß mit dem Selbstmord der zwölf Schwarzen Apostel nicht alles beendet war. Es gab noch ein Nachspiel, und genau dies erlebte er nun hier. Was tun? Wachen, bis die Sonne aufging? Nein, das wollte er auch nicht. Philipp war eine Kämpfernatur, und auch in dieser vertrackten Lage wollte er nicht kneifen und aufgeben. Er mußte nur sehr vorsichtig sein, was er auch durchhielt, als er sich dem toten Tier näherte. Wer immer auf ihn lauerte, er ließ Philipp gehen, kümmerte sich nicht um ihn und griff auch nicht aus dem Hinterhalt an. Noch nicht. Neben dem Tier blieb er stehen. Sein Magen zog sich zusammen, als ihn der Geruch des dampfenden und frischen Blutes erreichte. Er bekam einen Wutanfall, hielt ihn allerdings unter Kontrolle, und nur der Atem verstärkte sich hörbar. Es war ein glatter Schnitt gewesen. Wahrscheinlich hatte der andere nur einmal zugeschlagen. Wenn es tatsächlich stimmte, dann war dieser Feind ein Könner, der es verstand, seine Waffe zu führen. Tief in seinem Innern fürchtete sich Philipp davor, denn er dachte daran, daß ihm dieser Mensch im Kampf überlegen war. Noch hatte er ihn nicht gesehen. Philipp entfernte sich einen kleinen Schritt von dem Kadaver. Er wollte nicht unbedingt den Blutgeruch einatmen, saugte die frische Luft in die Lungen und hatte mit diesem Atemstoß zusammen einen Entschluß gefaßt. Wenn der andere sich nicht freiwillig zeigte, wollte er ihn locken, denn irgend etwas mußte geschehen, an dieser Stelle und in dieser Nacht. »Wer immer du bist, wo immer du dich verborgen hältst, du Pferdemörder, verlasse dein Versteck und zeige dich mir! Kämpfe mit mir. Beweise mir, daß du nicht nur gegen wehrlose Tiere stark bist, sondern auch gegen Menschen kämpfen kannst. Ich warte auf dich! Komm raus aus deiner Höhle, sei endlich ein Mann und kein heimtückischer Mörder!« Eine Antwort erhielt Philipp nicht, was ihn noch wütender machte. Er hob sein Schwert an und drehte sich im Kreis. Dabei schwang er die Waffe durch die Luft, als wollte er einen unsichtbaren Gegner killen. Er hielt die Augen weit offen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war ja nicht stockfinster. Von den Gestirnen des Himmels sickerte genügend Licht dem Erdboden entgegen, so daß dieser einen matten Glanz bekommen hatte. In seiner sichtbaren Umgebung regte sich nichts. Sein Feind und Gegner hielt sich verborgen. Er wollte ihn zappeln lassen. Philipp wußte nicht,
wieviel Zeit verstrichen war, als er noch einmal versuchte, den Unbekannten zu reizen, dieser aber ließ ihn diesmal nicht aussprechen, denn seine Worte unterbrachen Philipp. Sie waren nicht laut gesprochen, mehr geflüstert, aber durch das Echo sehr gut zu verstehen. »Ich bin hier, Philipp. Ich habe auf dich gewartet. Ich wußte, daß du zurückkehren würdest…« Der Angesprochene zitterte plötzlich. Er war so unruhig geworden. Nicht allein wegen der Stimme, da gab es noch einen anderen Grund, denn er hatte nicht sehen können, wo sich sein Feind aufhielt. Die Stimme war aus allen Richtungen an seine Ohren gedrungen, das zumindest glaubte er, denn hier sorgte ein Echo für die Verzerrungen. Wieder drehte er sich und schaute dabei sogar in die Höhe, als säße sein Feind hoch über ihm. Auch das stimmte nicht. Er sah die dunkle Fläche, die kaum von einem Wolkenstreifen durchbrochen wurde. »Wer bist du? Hast du keinen Namen?« »Du kennst mich, Philipp!« »Ach ja? Woher denn?« »Gestern noch hast du mich gesehen.« »Gestern? Wieso…?« »In der Nacht, als du mit deinen Leuten losgeritten bist, um die zwölf Schwarzen Apostel zu töten. Ja, so ist es gewesen, in der letzten dunklen Nacht.« Der Angesprochene schwieg. Hatte er vorhin noch die Kälte gespürt und gefroren, so änderte sich dies schlagartig. Auf einmal brach ihm der Schweiß aus, den er auch roch. Wer war der andere? Philipp und seine Männer hatten gedacht, allein zu sein, das stimmte wohl nicht. Anscheinend waren sie von der Person beobachtet worden, die ihn auch jetzt belauerte. Und er dachte wieder an sein Gefühl, das ihn nicht getrogen hatte. »Was hast du denn gesehen?« rief er in die Dunkelheit hinein. »Alles.« »Wieso?« »Ich sagte dir, daß ich eben alles gesehen habe. Den Mord der Männer, wie sie sich in die Tiefe stürzten und ihren Tod in der Tiefe der Schlucht fanden.« »Damit haben wir nichts zu tun gehabt. Du hast es selbst gesagt. Die Männer sind es gewesen, die über den Rand der Schlucht in die Tiefe fielen. Es gab keinen von uns, der den einen oder anderen angestoßen hätte. Wenn du alles gesehen hast, wüßtest du auch, daß ich die Wahrheit spreche.« »Ja, das ist richtig.«
»Dann kannst du mich nicht als einen Schuldigen hinstellen und mein Pferd schon gar nicht. Außerdem haben die zwölf Schwarzen Apostel den Tod verdient, denn sie haben sich dem Satan und seinem Reich verschrieben. Sie wandten sich von den Lehren der Kirche ab, sie wollten einzig und allein dem Teufel dienen und an seiner verfluchten Macht teilhaben. So ist es doch gewesen.« »Das stimmt!« antwortete die Stimme, und ihr Klang erschreckte den einsamen Mann. Philipp fing an zu zittern. Wenn jemand es so offen zugab, dann wußte er sicherlich mehr, und die Kälte auf seinem Nacken und im Rücken verstärkte sich, während das Gesicht nach wie vor heiß blieb. Es war ein Zeuge dort gewesen, den er und seine Männer nicht gesehen hatten. Einer, der mit den anderen im Bunde gestanden hatte. Ja, so hatte es einfach sein müssen, aber wer war diese Person? Philipp faßte sich ein Herz und schrie in die finstere Umgebung hinein. »Verdammt noch mal, wer bist du denn? Meinetwegen auch im Namen der Hölle, nenn mir deinen Namen! Sprich ihn laut und deutlich aus! Ich will ihn hören!« »Das sollst du auch«, erhielt Philipp als Antwort. »Jeder Mensch, der zum Tode verurteilt worden ist, hat das Recht, einen letzten Wunsch erfüllt zu bekommen. Auch du, Philipp. Ich werde dir deshalb meinen Namen nennen. Ich bin Santerre!« Beinahe hätte Philipp geschrieen. Er war wirklich gespannt darauf gewesen, den Namen zu erfahren, doch nun, wo er ihn kannte, da hatte er das Gefühl, von glühenden Lanzen durchbohrt zu werden, deren Spitzen ihn mitten ins Herz trafen. Das mußte er verkraften. Er wankte zurück, ohne es eigentlich zu wollen. Diese Antwort hatte ihm den Rest gegeben. Er merkte, wie ihn schwindelte, und er hörte den Atem stoßweise aus seinem offenen Mund fließen. Er glitt wie ein warmer Strom an seinem Gesicht entlang, und als er sich wieder körperlich gefangen hatte, fühlte er sich trotzdem noch benommen. »Hast du ihn verstanden?« drang die Stimme wieder aus der Finsternis. »Ja, das habe ich!« »Es hat dir nicht gefallen, wie?« Philipp fing an zu lachen. Er wollte sagen, wie hätte es mir auch gefallen können, aber er schwieg, und er überlegte, ob der andere ihn nicht doch belogen hatte. »Warum sagst du nichts?« Philipp überlegte. Er rang nach den Worten und suchte den Gegner, um sicher zu sein, auch wirklich mit Santerre gesprochen zu haben. Die Worte, die er sagte, wollte er nicht in dem ängstlichen und überraschten Tonfall
sprechen, doch er konnte nicht anders, auch wenn er sich darüber ärgerte. »Aber… aber… du bist doch tot…« »Wieso soll ich tot sein?« Philipps verwüstetes Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. »Weil ich selbst gesehen habe, wie du über den Rand der Schlucht in die Tiefe gestürzt bist. So und nicht anders ist es auch mit den anderen deiner Sorte geschehen. Ich weiß das, ich bin mir sicher, und ich bin wirklich nicht blind.« »Das bist du bestimmt nicht.« »Hast du es getan?« Als Antwort erhielt er zuerst ein Lachen. Als es verstummt war, sprach der andere wieder. »Hast du nicht selbst behauptet, daß wir alle mit dem Satan im Bunde gestanden hätten?« »Ja, das habe ich.« »Und du hast recht behalten, mein Freund. Der eine stand mehr, der andere weniger mit dem Satan im Bunde. Ich bin Santerre, ich bin der Beste gewesen, der Anführer, denn ich habe die Gruppe gegründet, und ich habe überlebt.« »Den… den Sturz?« »Als Günstling der Hölle ist man unsterblich. Der Weg in die Verdammnis war für mich der Weg in die Freiheit. Ich habe die anderen dem Teufel geopfert, bin selbst am Leben geblieben und werde auch leben, um meiner Aufgabe nachzugehen. Als ersten habe ich mir dich vorgenommen. Du wirst dafür bezahlen müssen, was du uns hast antun wollen, du Knecht der Geistlichkeit. Du hast dich kaufen lassen. Du wolltest im Namen des großen Todfeindes des Teufels morden, aber das wird dir nicht gut bekommen, ich schwöre es dir. Schon jetzt bist du tot, richtig tot. Du weißt es nur nicht.« »Ich werde kämpfen. Ich werde gegen dich antreten, wenn du dich zeigst!« Philipp riß sein Schwert hoch, um anzudeuten, daß er kampfbereit war. »Los, verlasse dein Versteck!« Santerre lachte. Dann reagierte er. Die Antwort erfolgte anders, als Philipp es sich vorgestellt hatte. Etwas sirrte aus der Dunkelheit auf ihn zu. Er hörte noch das Geräusch und wußte in dem Augenblick, als er getroffen wurde, daß es ein von einem Bogen abgeschossener Pfeil gewesen war. Der Pfeil erwischte ihn wuchtig in den rechten Oberschenkel, und der harte Mann konnte einen Schrei nicht vermeiden, als er mit dem rechten Bein wegknickte. Er fiel zu Boden. Der Pfeil steckte noch im Fleisch. Fast armlang ragte der Schaft hervor. Philipp zog sein zuckendes Bein an den Körper und preßte beide Hände um den Pfeil. Sein Gesicht war wie ein Spiegel, auf
dem sich die Schmerzen zeigten, die er spürte. Bitter und scharf zuckten sie durch sein Bein. Er traute sich nicht, den Pfeil aus der Wunde hervorzuzerren. Sollte die Spitze mit Widerhaken versetzt sein, wäre dies grausam und schlimm gewesen, dann hätte er nur noch mehr Schaden anrichten können. Er wußte auch, daß er verletzt erst recht nicht über die Berge fliehen konnte. Und niemand war da, der sich um seine Wunde kümmerte. Philipp versuchte, das Bein zu strecken. Es war unmöglich, der Schmerz brannte zu stark. Er würde entweder auf dem Boden liegenbleiben müssen oder mußte versuchen, den nahen Stein zu erreichen, der hoch genug war, um ihm als Stütze zu dienen. Er entschloß sich zu dieser Möglichkeit und kroch wie ein Wurm über den Boden. Auf der Erde war es kalt wie in einem Grab. Sein Schwert zog Philipp mit der rechten Hand nach. Er dachte daran, wie wehrlos er war. Sein Feind brauchte ihm nur einen zweiten Pfeil in den Rücken zu schießen, damit war dann alles vorbei. Das tat Santerre nicht. Er wartete ab, und er war auch nicht zu hören, denn der kriechende Philipp vernahm keine Tritte. Ein wenig Hoffnung kam auf, als er den Stein erreichte. Sein Bein schmerzte zwar noch, aber nicht mehr überall. Genau dort, wo ihn das Geschoß getroffen hatte, war es taub geworden. Philipp zog sich mit der linken Hand am Stein hoch. In der rechten hielt er noch seine Waffe. Er würde sie noch brauchen, er würde sich nicht kampflos ergeben, und selbst auf die Oberfläche des Steins kroch er langsam zu. Auf dem Bauch blieb er liegen, bevor er sich langsam drehte und es dann tatsächlich schaffte, sich hinzusetzen. Sein rechtes Bein hielt er ausgestreckt. Es war ihm auch nicht mehr möglich, es anzuziehen, es war steif geworden, und die Wunde hatte sich bestimmt schon entzündet. Er würde Fieber bekommen, dann würde sein Körper verseucht werden, und er würde sterben. Er gab trotzdem nicht auf. Sein Schwert holte er mühsam heran und hob es so weit hoch, daß er es quer und über sein Knie legen konnte. So war er wenigstens etwas kampfbereit. Gekrümmt blieb er hocken, schaute nach vorn, während ihm der Schweiß in die Augen rann und ein Sehen beinahe unmöglich machte. Mit einer müden Bewegung wischte er seine Augen wieder klar, doch er sah den Feind nicht, denn der stand in seinem Rücken! Philipp vereiste, als er das leise Lachen hörte. Der andere hatte ihn kriechen lassen und hatte nur einen kleinen Bogen zu schlagen brauchen, um in Philipps Rücken zu gelangen. Dort stand er und drückte dem sitzenden Mann die kalte Schwertklinge gegen den Nacken. »Spürst du es? Spürst du die Kälte des Todes, die von meiner Waffe ausgeht? Sie hält dich schon umfangen, sie wird auch weiterhin dein
Begleiter sein. Du wirst vor Angst vergehen, denn du weißt nicht, wann ich dir den Kopf abschlagen werde.« Philipp atmete schwer. Er jammerte. Er wollte noch immer nicht aufgeben. »Dann stell dich zum Kampf!« »Du willst mich tatsächlich sehen?« »Ja, Auge in Auge!« »Gut, ich werde mich dir zeigen!« Die kalte Berührung des Metalls verschwand aus Philipps Nacken, dafür kehrte die Gänsehaut zurück. Darauf achtete der sitzende Mann nicht, denn er lauschte einzig und allein den Tritten, die ihn umgingen. Santerre wollte sich ihm zeigen. Philipp schielte zu Boden. Er sah keinen Schatten, war irritiert, dann hob er den Kopf an und vergaß auch sein verletztes Bein, denn einen Moment später stand Santerre vor ihm! Um in sein Gesicht schauen zu können, mußte Philipp den Kopf heben. Ja, es war einer der zwölf Schwarzen Apostel. Er schien sich auch nicht verkleidet zu haben, sogar die Kapuze hatte er über den Kopf gestreift, und nur das Gesicht blieb frei. Ein Gesicht? Nein, das war kein Gesicht, das war das Antlitz des Todes. Es war eine hölzern wirkende, verzerrte Fratze mit einer Haut, die an brüchiges Holz erinnerte, als hätte jemand das Gesicht in den Ausschnitt der Kapuze hineingeschnitzt. »O Gott!« stöhnte Philipp. »Dein Gott wird dir nicht helfen. Aber mir hat der Satan geholfen. Das ist der Unterschied!« Philipp wollte den Kopf schütteln, zugleich etwas sagen, auch das schaffte er nicht. Aus kalten, sehr bösen Augen starrte der andere auf ihn nieder. Dann nickte er. Zugleich hob er auch sein Schwert an, auf das er sich gestützt hatte, denn die Spitze der Klinge berührte den Boden. Es war ein anderes Schwert als das, das Philipp bei sich trug. Viel länger, sicherlich auch schärfer. Immerhin mit einem Hieb hatte der Unheimliche das Pferd geköpft! Nun war der Mensch an der Reihe! Philipps Gesicht zeigte plötzlich Todesangst. Er brüllte in die Stille der Nacht hinein. Er wollte auch seine Waffe anheben, um den Schlag des anderen abzuwehren. Dessen Klinge befand sich bereits auf dem Weg. Sie war schneller, viel schneller. Plötzlich wurde der Schrei zu einer regelrechten Sinfonie aus Angst und Schmerzen. Die Klinge hatte die rechte Schulter des Mannes erwischt und war tief hineingehackt. Philipp war nicht mehr in der Lage, seine
eigene Waffe zu halten. Sie rutschte ihm aus den Fingern und glitt kratzend über den Stein. Der zweite Schlag war bereits unterwegs. Und nun erwischte Santerre den Mann so, wie er es gewollt hatte. Philipp wurde auf der Stelle geköpft. Santerre aber blieb noch stehen. Er schaute auf sein Opfer nieder, er lächelte, er fühlte sich gut und dachte an seine zwölf Schwarzen Apostel. Sie lagen in der Schlucht, er hatte sie geopfert. Er war der eigentliche Verräter gewesen, aber er hatte tun müssen, was man von ihm verlangt hatte. Darüber dachte er nicht nach. Er würde sich neue Helfer suchen. Er hatte Zeit, viel Zeit. Und er würde sie finden. Irgendwann einmal war die Zeit dafür reif. Irgendwann… *** Das Haus in der Wiener Innenstadt war noch im letzten Jahrhundert in die Höhe gezogen worden und stark renovierungsbedürftig. Zur Zeit, das wußte ich, stand es leer. Father Ignatius hatte es mir gesagt, und er hatte mich gebeten, es mir einmal anzuschauen. Ich war nach Wien geflogen und hatte mich dort mit Father Ignatius getroffen. Wir hatten dann eigentlich weniger über das Haus geredet, sondern über eine Person, die sich angeblich darin aufhielt. Ich wußte, daß sie gefährlich war, daß sie zur anderen Seite zählte und schon zahlreiche Leben auf dem Gewissen hatte, wobei selbst zwei Mitglieder der Weißen Macht, des Geheimdienstes des Vatikans, zu dem auch Father Ignatius zählte, umgekommen waren. Nicht bekannt waren mir die Ziele dieser Person, darüber hatte ich mit meinem Freund noch nicht reden können, weil die Zeit drängte. Nun aber sollte sich diese Person, um die sich alles drehte, in diesem alten, leeren Haus in der Wiener Innenstadt aufhalten. Ich hatte es noch nicht betreten, weil ich mir zunächst einen Eindruck von außen her verschaffen wollte. Nicht nur innen mußte der Bau renoviert werden. Auch die äußere Fassade hatte es nötig, denn die Zähne der Zeit hatten stark an ihr genagt. Taubenkot, saurer Regen und andere Umweltgifte hatten ihre Spuren an der mit Vorsprüngen, Erkern und stuckbeladenen Fassade hinterlassen. Mir fiel die breite Eingangstür auf, für die mancher Antiquitätenhändler sicherlich einiges auf den Tisch geblättert hätte. Auch wenn die Tür ebenfalls während der langen Zeit gelitten hatte, denn an einigen Stellen sah die Tür aus, als wäre sie von Axthieben beschädigt worden. Das Haus war nicht verschlossen, wie mir Father Ignatius versichert hatte, und darüber wunderte ich mich. Auch wenn es renoviert werden
sollte, man ließ es nicht einfach offen, es sei denn Santerre, unser Feind, hatte es geöffnet. Ich ging die letzten Schritte auf die Tür zu und legte meine Hand auf den Knauf, den ich mit einer Hand nicht umfassen konnte, weil er einfach zu groß war. Er ließ sich nicht drehen, aber ich konnte die Tür aufziehen. Bevor ich das Haus betrat, warf ich noch einen Blick zurück. Wien im Schein der Frühlingssonne ist bestimmt wunderbar, doch ich erlebte einen sehr kalten Tag, der vor allen Dingen windig war. Genau dieser Wind drang auch in die Gasse hinein, in der ich mich befand. Sie war von parkenden Autos zugestellt worden. Wenn sich hier zwei Lastwagen begegneten, mußte einer zurückfahren. Tauben segelten durch die Gasse und ließen sich vom Wind treiben. Ob ich beobachtet wurde, war nicht festzustellen. In irgendeinem der parkenden Fahrzeuge konnte bestimmt jemand sitzen, der über die Frontscheibe hinweglugte. Ich hatte Zeit genug vertrödelt, zog die Tür weit auf und betrat endlich das Haus. Sehr schnell ging ich weit genug vor, um nicht von der wieder zufallenden Tür im Rücken erwischt zu werden. Relativ sachte fiel sie hinter mir zu, und ich stand in einem dieser gewaltigen Treppenhäuser, wie man sie in Wien, Budapest und vielleicht auch noch in Prag findet, wenn man eine bestimmte Art von Häusern betritt. Da steht man als Fremder dann unten im Flur und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich staunte über die mächtige Treppe, die bis in den sechsten Stock hinaufführte. In der Mitte war ein gewaltiger Schacht, durch den ich in die Höhe schauen konnte. Die gewölbte Glaskuppel, die dem Himmel einen Gruß zuschickte, war beeindruckend. So weit, so gut. Auf dem Boden verteilte sich nicht nur der Schmutz in großen, dunklen Hocken. Auch Papier und Holzstücke lagen herum. Außerdem wimmelte es vor Ungeziefer. Daß ich keine Ratten sah, wunderte mich. Die aber würden sicherlich in den Kellerräumen lauern. Wo sollte ich diesen Santerre finden? Auch Father Ignatius hatte mir keinen Hinweis geben können. Er war nur davon überzeugt, daß er sich in diesem sechsstöckigen Gebäude aufhielt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als es von unten bis oben zu durchsuchen, in der Hoffnung, den anderen zu entdecken. Er hieß Santerre! Ich machte mir über den Namen Gedanken, der sich französisch anhörte, aber Ignatius hatte mir berichtet, daß er schon vor einigen
Jahrhunderten so etwas wie ein Kosmopolit in Schwarzer Magie gewesen war. Er hatte sich als der Vertreter des Teufels verstanden und hatte es auch geschafft, zwölf Schwarze Apostel um sich zu versammeln, mit denen zusammen er sein mörderisches Reich aufbauen wollte. Mehr wußte ich nicht. Dafür bekam ich einen ersten Eindruck über die eigentlichen Bewohner des Hauses geliefert, denn zuerst hörte ich das Rascheln des Papieres, dann sah ich den Schatten nahe der Treppe entlanghuschen. Dieser Schatten entpuppte sich als fette Ratte, die trotz ihrer Leibesfülle blitzartig verschwand. Ratten, Mäuse, Kakerlaken, Küchenschaben, Blutegel – man hatte gedacht, sie in der Stadt ausgerottet zu haben. Das allerdings war ein Irrtum. Die Plage war zurückgekehrt oder nie verschwunden, denn in vielen Häusern, wo durch die permanente Wärme auch im Winter ideale Lebensbedingungen entstanden waren, hatte sich das Ungeziefer vermehren können und zugleich dafür gesorgt, daß ein alter Berufsstand, der Kammerjäger, wieder voll im Trend lag. Das Phänomen beschränkte sich nicht auf Wien allein. Ob Paris, London, Berlin oder New York, überall breitete sich die Plage aus, und aus Übersee wurden immer mehr Arten nach Europa eingeschleppt. Trotzdem, dieses Haus war es wert, erhalten zu werden. Da brauchte ich mir nur das prächtige Geländer der Treppe anzusehen, das von einem wahren Meister seines Fachs geschaffen worden war. Ebenso die Treppe, die aus edlem Holz bestand und ebenfalls dringend aufgearbeitet werden mußte. Auf keinen Fall sollte das Kunstwerk Treppe entfernt werden. Die Türen gab es noch, nur waren sie nicht verschlossen, höchstens geschlossen. Schon beim Betreten der ersten Wohnung, zwei gab es auf jeder Etage, wurde ich wieder daran erinnert, daß der Mensch doch das größte Schwein ist. Wer hier gehaust hatte, der hatte weniger Kultur gehabt als die Höhlenbewohner, denn überall in den Zimmern lag Dreck. Es war widerlich. Man hatte die Räume sogar als Toilette benutzt und überhaupt nichts weggeräumt. Ein ekliger Gestank wehte mir entgegen, dem ich mich nicht entziehen konnte. Der verschmutzte Holzboden schrie dringend nach einer Reinigung. Anschließend sah er sicherlich wunderbar aus. Große Zimmer, die sowohl als Geschäfts- als auch als Wohnräume benutzt werden konnten. Father Ignatius hatte mir geraten, das Haus von unten bis oben zu durchsuchen, und das wollte ich auch tun. Auf jeder Etage lagen sich zwei Wohnungen gegenüber. Ich wollte zuerst die auf der rechten Seite durchsuchen und später, beim Zurückgehen, die auf der linken. Durch die gläserne Kuppeldecke war es
nie dunkel in dem hohen Hausflur. Ich kam ohne Lampe aus, sah allerdings auch die an die Wände geschmierten Parolen, wobei nur die wenigsten unter ihnen originell waren. Die meisten Sprüche strotzten vor Haß und Dummheit. Meine innere Spannung hatte etwas nachgelassen, als ich mich der dritten Etage näherte. Ich stieg über leere Plastikbecher hinweg, die seltsamerweise auf den Treppen ihren Platz gefunden hatten, sah auch, daß jemand in das wunderbare Geländer irgendwelche Botschaften hineingeritzt hatte, und wollte auf die offenstehende Tür zugehen, als ich plötzlich ein Geräusch aus der Wohnung hörte. Sofort blieb ich stehen, denn ich wußte genau, daß dieses Geräusch nicht von einer Ratte oder einer Maus stammte, denn diese Laute kannte ich mittlerweile. Ich wartete ab. Das Geräusch wiederholte sich. Ich wußte auch, daß sich ein Mensch in der Wohnung aufhielt, denn er ging hörbar hin und her. Santerre? Ich wußte es nicht, und meine Hand glitt wie von selbst in Richtung Beretta. Ich zog die Waffe und behielt sie auch in der Hand, als ich an die Wohnungstür herantrat und durch den Spalt nach innen schaute. Da hatte sich jemand bewegt, aber ich hatte die Gestalt nicht erkennen können. Sie war schnell wie ein Schatten durch die Diele gehuscht und in einem der Zimmer verschwunden. Wer? Mit der freien Hand umfaßte ich die Türecke. Nun konnte ich nur darauf hoffen, daß sich die Tür auch leise aufziehen ließ, was allerdings nicht der Fall war, denn die Angeln gaben schon gewisse Geräusche ab, die auch in der Wohnung zu hören sein mußten. Ich ging das Risiko ein, und mit einem schnellen Schritt betrat ich die geräumige Diele, in der so viel Platz war, daß darin mehrere Paare tanzen konnten. »He…« Mein Kopf ruckte nach links. Zwei offene Türen sah ich dort, und aus einem der Zimmer hatte ich die Stimme vernommen. Im nächsten Moment verließ ein Mann den Raum, entdeckte mich, erschrak und blieb steif stehen. Dieser Mann konnte alles sein, er war nur nicht derjenige, den ich hier im Haus vermutet hatte. Er sah aus wie ein Handwerker, trug einen blauen Kittel, einen gelben Helm auf dem Kopf, hielt eine Taschenlampe in der Rechten, und da der Kittel nicht geschlossen war, sah ich, daß er an seinem breiten Gürtel eine Atemmaske befestigt hatte. Durch das Zimmerfenster hinter ihm traf ihn der Schein eines verirrten Sonnenstrahls und zauberte einen Reflex auf seinen Helm. Der Mann war ebenso überrascht wie ich, aber auch
hypnotisiert, denn er starrte unentwegt auf meine Beretta und wurde dabei immer blasser. »Keine Sorge«, sprach ich ihn an. »Ich tue Ihnen nichts.« Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, steckte ich die Waffe weg. Der Mann nickte nur, beruhigte sich aber und schaffte es auch, Atem zu holen. Er war schon älter, hatte buschige Augenbrauen und eine schmale Nase. Unter dem Helm ragten die grauen Koteletten hervor. »Wer sind Sie?« fragte er mich. »Ein Besucher«, erwiderte ich. Der Handwerker runzelte die Stirn. »Sie sind kein Österreicher und auch kein Deutscher.« »Nein, ich komme aus London.« »Aha.« Er schaute sich um und kratzte mit der freien Hand über den Nacken. »Wollen Sie sich hier eine Wohnung ansehen und einziehen?« Da er mir die goldene Brücke gebaut hatte, stieg ich darüber hinweg. »Das ist möglich.« »Ich sage Ihnen, daß Sie zumindest ein Jahr warten müssen, wenn nicht sogar zwei.« »Und warum?« Beinahe mitleidig schaute er mich an. »Hören Sie, Mann. Haben Sie sich schon hier im Haus umgeschaut?« »Ein wenig.« »Ist Ihnen nichts aufgefallen?« »Doch, eine wunderschöne Bausubstanz. Ein Treppenhaus, wie es phantastischer nicht sein kann und…« Er winkte ab. »Vergessen Sie das alles, denn das Wichtigste haben Sie nicht erwähnt.« »Was wäre das?« »Ungeziefer«, flüsterte der Mann und knurrte den Ausdruck zugleich. »Verdammtes Ungeziefer. Es hat sich hier im Laufe der Zeit einnisten können. Und ich soll es vernichten.« Mein Mund zeigte plötzlich ein Lächeln. »Dann sind Sie der Kammerjäger.« »Ja, ich bin Paul Jurec, einer von vielen Kammerjägern bei uns hier in Wien. Über mangelnde Arbeit können wir uns nicht beklagen.« »Dann werden Sie bestimmt nicht verhungern«, sagte ich. »Darauf können Sie Gift nehmen. Was glauben Sie, warum ich vor vier Jahren meinen Job bei einer Bank aufgegeben habe? Weil der Verdienst hier besser ist. Ich habe mich umschulen lassen, und ab ging die Post.« Er fing an zu lachen. »Nur muß man immer damit rechnen, daß die meisten Menschen das Gesicht verziehen, wenn Sie einen Kammerjäger bestellen. Oft komme ich heimlich, zumindest in die Villen, bei den Wohnsilos sieht es anders aus.« Er deutete zur Decke hoch. »Da schaffen es die Schaben sogar bis in den zehnten Stock oder noch
höher. Ratten steigen aus den Toiletten. Sie sind einfach nicht aufzuhalten.« Er hob die Schultern. »Tja, dann werden eben wir geholt.« »Und Sie bereinigen die Sache.« »Ja, wenn man uns Zeit läßt. Man braucht manchmal Monate, dieses Haus ist dafür das beste Beispiel.« »Wenn Sie das sagen…« Er schob seinen Helm zurück und zog die Nase hoch. »Ich will ja nicht neugierig sein, mein Herr, aber Sie tragen eine Waffe bei sich? Sind Sie ein Detektiv, ein Agent oder so? Ich meine, Wien war ja schon immer eine Drehscheibe für Agenten.« »Ich bin weder das eine noch das andere, sondern ein ganz schlichter Polizist.« »Ach.« »Ja, Scotland Yard…« »Hoi«, sagte er, »so berühmt. Hat dort nicht der gute alte Sherlock Holmes gearbeitet?« »Nein, der war selbständig.« Er winkte ab. »Da sieht man wieder, wie man sich irren kann. Ich bin noch immer neugierig. Wen oder was haben Sie denn in diesem leeren Bau gesucht?« »Einen Mann«, erwiderte ich. »Aber nicht mich?« »Nein, bestimmt nicht.« »Wen denn?« Einweihen konnte ich ihn nicht. Außerdem wußte ich selbst nicht genug. Deshalb fragte ich. »Sie haben nicht zufällig hier jemanden gesehen, Herr Jurec?« Er runzelte die Stirn. »Wen sollte ich denn gesehen haben? Den Mann, den Sie suchen?« »Ja.« Er schüttelte den Kopf. »Außer uns beiden ist wohl niemand hier, das kann ich Ihnen versichern. Zumindest habe ich keinen gesehen, und ich bin etwa seit einer Stunde hier.« »Waren Sie überall?« »Noch nicht oben. Es fehlen noch einige Etagen. Aber da wird es nicht anders aussehen als auch hier und weiter unten. Überall nur Ungeziefer.« »Na ja, das habe ich nicht gerade gemeint, aber wenn Sie auch niemanden gesehen haben, ist das schon okay.« Paul Jurec war neugierig geworden. »Sagen Sie mal ehrlich, Herr…« »Ich heiße John Sinclair.« »Gut, Herr Sinclair. Wen suchen Sie hier eigentlich? Einen Gangster aus Ihrer Heimat, der sich nach Wien abgesetzt hat?«
»Nicht direkt aus meiner Heimat. Er agiert mehr im internationalen Geschäft.« »Hoi – sagen Sie nur. Ein Verbrecher, wie?« »Im großen Stil.« »Und der soll hier sein?« »Ich habe ihn hier vermutet. Aber wie es aussieht, bin ich wohl einem Irrtum erlegen.« Jurec hielt einen Finger an die Lippen. »Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher. Sie müssen bedenken, daß dieses Haus oft genug als Unterschlupf gedient hat. Den Dreck haben nicht die Ratten hereingetragen, das waren die Menschen. Durch ihr unverantwortliches Handeln haben sie es dem Ungeziefer erst ermöglicht, sich hier heimisch zu fühlen.« »Das stimmt wohl.« »Darauf können Sie sich sogar verlassen.« »Okay, Herr Jurec, dann werde ich mich mal wieder zurückziehen.« »Wollen Sie das Haus verlassen?« »Das nun nicht. Ich hatte vor, mich noch in den oberen Etagen umzuschauen. Außerdem möchte ich die Wohnungen an der gegenüberliegenden Seite durchsuchen.« Paul Jurec hob die Schultern. »Das ist Ihr Problem und Ihr Job. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie begleite?« »Nein, ganz und gar nicht.« »Okay, dann wollen wir. Warten Sie, ich hole nur eben meinen kleinen Bruder.« Bruder? Ich runzelte die Stirn und sah, wie der Mann in einem Zimmer verschwand. Er kehrte schnell zurück. Was er als seinen kleinen Bruder bezeichnet hatte, war ein hellblau angestrichener Holzkoffer. »In ihm bewahre ich das auf, was ich brauche«, erklärte er mir. »Hier ist so einiges vorhanden, was meinen Freunden nicht gerade schmeckt.« »Also Gift!« »Erraten.« Wir verließen die Wohnung und blieben im breiten Flur und nicht weit vom Geländer stehen. Es war heller geworden. Die Wolkendecke über Wien hatte Löcher bekommen. So konnte auch die Sonne hervorkommen und ihre Strahlen durch die Glaskuppel ins Treppenhaus schicken. In diesem weichen Strahl flimmerten und tanzten unzählige Staubkörper, und erst jetzt war richtig zu sehen, wie schmutzig auch das Geländer war. »Wenn das hier alles in Ordnung ist, Herr Sinclair, sieht das Haus einfach Top aus. Beste Citylage, da können Sie dicke Mieten einfahren, aber es muß zuerst entwanzt und gesäubert werden.« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust. »Und das wird mir einige Schillinge einbringen, darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich gönne es Ihnen, doch tauschen möchte ich mit Ihnen nicht, Herr Jurec.« »Ob Sie es glauben oder nicht, Herr Sinclair. Mein Job ist bestimmt weniger gefährlich als der Ihrige.« »Da können Sie sogar recht haben.« Wir hatten uns abwenden wollen, um auf die Treppe zuzugehen, in diesem Augenblick jedoch veränderte sich einiges. Ein Schatten durchwanderte den hellen Strahl, der durch die Glaskuppel eindrang. Mein Blick ruckte in die Höhe. Plötzlich schlug mein Herz schneller. Auf der Kuppel, direkt in der Mitte, stand hochaufgerichtet eine dunkle, bösartig wirkende Gestalt – Santerre! *** Das mußte er sein, es gab keine andere Möglichkeit. Ein Gänsehautschauer rollte über meinen Rücken, was nichts Gutes verhieß. Ich bewegte mich nicht vom Fleck, schaute nur in die Höhe und sah, daß sich die Gestalt auf dem Glasdach nicht rührte. Sie hielt den Kopf gesenkt, stand im Schein der Sonne, der ihr nichts ausmachte, glotzte in die Tiefe, und ich erkannte auch, daß der Unbekannte eine Kapuze über seinen Kopf gestreift hatte. Auf das Gesicht konzentrierte ich mich. Es war leider nicht deutlich zu erkennen. Die Kapuze war sicherlich zu weit nach vorn gezogen worden, so daß die vorstehenden Ränder Schatten warfen und die Züge somit verschwammen. Oder funkelten die Augen? Für einen Moment hatte ich den Eindruck, in zwei Karfunkelaugen zu schauen und dachte an den Dämon Baphomet, dann riß mich die Stimme des Kammerjägers aus meinen Gedanken. »He, was ist denn los?« Ich gab keine Antwort, sondern deutete mit dem ausgestreckten Daumen nur in die Höhe. Auch Jurec blickte hin. Sein Gesicht wurde bleich und nahm zugleich einen staunenden Ausdruck an. Er ging zwei, drei kleine Schritte zurück und stellte seinen kleinen Bruder ab. »Das ist doch nicht möglich, verflucht! Wo kommt der her?« »Vielleicht kann er fliegen«, murmelte ich. »Unsinn!« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Er ist wahrscheinlich derjenige, den ich suche.« »Das denke ich auch.« Jurec senkte den Blick, dann drehte er den Kopf und schaute mich an. »Ich will ja nichts sagen, mein Herr, aber unheimlich ist mir das Ganze schon. Oder finden Sie nicht?«
»Zumindest ungewöhnlich.« »Und was wollen Sie jetzt tun? Ihn fragen, wie er auf die Kuppel gekommen ist?« »Würde ich sehr gern. Da ich das nicht kann, muß ich mich an Sie wenden.« »Ich kenne mich nur im Haus aus. Kann sein, daß an der Rückseite des Hauses eine alte Feuerleiter in die Höhe führt. Wenn nicht, muß der Kerl vom Nachbardach gekommen oder doch geflogen sein. Außerdem – wie sieht der überhaupt aus? Das ist ja furchtbar. Wie einer aus einem der zahlreichen Gruselfilme, die abends im Fernsehen laufen.« »Da gebe ich Ihnen recht. Nur ist das hier leider kein Film, sondern Wirklichkeit.« »Den wollten Sie also haben?« »Ja.« »Und wie wollen Sie ihn vom Dach weglocken?« Jurec lachte etwas unsicher. »Sie können ja ein Loch hineinschießen.« »Das werde ich nicht tun. Ich kann mir allerdings vorstellen, daß er von ganz allein seinen Platz dort oben verlassen wird.« Jurec grinste nur schief. »Dann müßte er ja außen herumgehen, denke ich mal.« »Oder die Kuppel einschlagen.« »Was?« Der Kammerjäger war nervös geworden. Er sah aus wie jemand, der nicht wußte, ob er seinem Gesprächspartner trauen sollte oder nicht. Die Sache wurde ihm zu mulmig, und er sprach mich mit vorsichtiger Stimme an. »Hören Sie, Herr Sinclair, haben Sie vielleicht etwas dagegen, wenn ich abhaue?« »Sie wollen das Haus verlassen?« Er strich über seinen Helm. »Auch wenn er auf meinem Kopf sitzt, möchte ich nicht gerade von irgendwelchen Splittern erwischt werden. Ich hoffe, Sie verstehen das.« »Ist schon okay«, sagte ich, schaute wieder hoch und hatte genau die richtige Ahnung gehabt, denn die Gestalt auf dem Dach bewegte sich. Unter dem Umhang hatte sie etwas hervorgeholt, das im Licht der Sonne wie eine lange Spiegelscherbe blitzte. Nur war es kein Spiegel, sondern eher etwas, das zu ihm paßte. Er hatte ein Schwert mit langer Klinge gezogen, hielt den Griff mit beiden Händen fest und hob die Waffe hoch über seinen Kopf. Er hatte nur ausgeholt, wollte nichts demonstrieren, denn einen Moment später raste die Klinge nach unten. Und sie war so hart und scharf, daß sie das Glasdach der Kuppel zerstörte… Paul Jurec und ich hörten noch einen gewaltigen Knall, und dann ging es los. Da wurde die Welt um uns herum zu einer völlig anderen. Wir erlebten das, was mit dem Begriff Inferno zu umschreiben ist.
Die Gestalt hatte durch einen einzigen Schwertstreich das harte Glas der Kuppel zerstört, und die einzelnen Scherbenstücke fielen in die Tiefe. Sie waren dabei zu gefährlichen Waffen geworden, die auch uns erwischen konnten. Gläserne Schwerter, Säbel und Beile, die beim Aufschlagen klirrten und vorher die Wirkung einer tödlichen Gardine hatten. Ich zumindest war nur für kurze Zeit geschockt, im Gegensatz zu Paul Jurec, der zur berühmten Salzsäule geworden war, bis ich ihn packte, mitriß und wir beide das Glück hatten, daß die Tür der Wohnung nicht verschlossen war. Wir rutschten hinein, das Inferno hinter uns zurücklassend, und wir hörten beide, wie die mächtigen Glasstücke mit immenser Wucht gegen den Steinboden hämmerten und dort zu weiteren Figuren zerbrachen. Sie würden mit großer Geschwindigkeit über die glatte Fläche hinwegrutschen, gegen die Wände hämmern und dort weiter zerbröseln. Wir befanden uns in vorläufiger Sicherheit. Durch die schnelle Reaktion hatte es kein Splitter geschafft, uns zu erwischen, und trotzdem zitterte der neben mir liegende Jurec. Er hatte den Kopf gedreht, sein Helm saß schief, und er schaute mich aus großen Augen an. »Da ist doch jemand gewesen, nicht?« »So ist es.« »Und der hat auch das Glasdach zerstört.« »Stimmt.« »Scheiße, bei Ihnen ist es verdammt gefährlich.« »Nicht immer.« Ich war mittlerweile wieder aufgestanden. Auch mir ging der Angriff noch nach, falls es denn wirklich einer gewesen war. Das leichte Zittern in den Knien war deutlich zu spüren, darauf durfte ich keine Rücksicht nehmen. Ich mußte schauen, was sich dort im Hausflur verändert hatte. Die Tür stand noch offen. Ich beging nicht den Fehler, auf sie zuzustürzen, sondern näherte mich ihr vorsichtig, mit dem Rücken an der Wand schleifend. Dabei wollte mir das Bild der düsteren Gestalt nicht aus dem Kopf. Ich hatte sie auf der Glaskuppel stehen sehen, ganz in Schwarz gekleidet, mächtig, gewaltig, als wäre sie aus einer anderen Welt gekommen. Das also war Santerre, vor dem mich Father Ignatius gewarnt hatte. Mit einem Monstrum wie ihm war nicht gut Kirschen essen. Daß er sein Schwert verdammt gut zu führen verstand, hatte er Jurec und mir bewiesen. Ich schaute nach draußen ins Treppenhaus. Der Wind pfiff durch die Lücke im Dach. Es war auch kälter geworden. Ich überstürzte nichts. Wer immer auch hinter Santerre stand, er würde ihn mit soviel Kraft ausgestattet haben, daß ein zerstörtes Dach diese Person nicht von anderen Aktivitäten abhalten würde. Auch er mußte in
die Tiefe gefallen sein, nur konnte ich mir nicht vorstellen, daß er mit gebrochenen Knochen und als dunkler Klumpen unten zwischen den Scherben lag. Der hatte sicherlich einen anderen Weg gefunden, um einer Vernichtung zu entgehen. Zudem war er es gewesen, der dieses Vorkommnis überhaupt inszeniert hatte, und er würde die Fäden der Regie auch weiterhin nicht aus den Händen geben, da war ich mir sicher. Ich hatte mich wieder an die Stille gewöhnt und lauerte darauf, daß sie von irgendwelchen fremden Geräuschen unterbrochen wurde, doch da tat sich nichts. Die Stille blieb. Das Glas war zersplittert, ich hörte keine weiteren Geräusche und traute mich dann nach einem langen Schritt hinaus in den Hur. Der blitzschnell wechselnde Blick zeigte mir, daß ich selbst nicht in einer unmittelbaren Gefahr schwebte, aber die unheimliche Gestalt hatte sich nicht zurückgezogen. Ich war bis an das Treppengeländer vorgetreten und schaute in den Schacht hinein. Sie stand unter mir. Um sie herum hatten sich die Scherben verteilt und schimmerten wie flache Eisstücke. Der Mann schaute nicht nach oben, er blickte geradeaus, ich konnte ihm auf den Kopf sehen und erkannte das dunkle Tuch der Kapuze. Meine Hand zuckte. Ich hätte die Beretta ziehen und schießen können, aber er bewegte sich plötzlich, drückte den Kopf zurück und schaute in die Höhe. Unsere Blicke trafen sich. Auch mit guten Augen war es für mich nicht möglich, Einzelheiten zu erkennen. Das Gesicht blieb für mich verschwommen, und zugleich huschte ein anderer Gedanke durch meinen Kopf. Santerre hatte die Kuppel zerstört, auf der er gestanden hatte. Er mußte demnach zusammen mit den Scherben in die Tiefe gefallen sein. Verletzt sah er nicht aus. Auch seinem Schwert war nichts geschehen. Er benutzte es als Stock und hatte sich auf die Klinge gestützt. »Santerre!« rief ich ihm zu. »Du bist Santerre, nicht wahr!« Er lachte nur. Das Gelächter rollte mir wie ein Donnerschlag entgegen. An den kahlen Wänden vervielfältigte sich das Echo. Er tat nichts, er bewegte sich nur zur Seite, geriet nach wenigen Schritten aus meinem Blickfeld und blieb verschwunden. Zur Tür jedenfalls war er nicht gegangen. Das hätte ich gesehen oder auch gehört. Demnach mußte es für ihn ein anderes Versteck geben, in das er sich zurückgezogen hatte. Oder er wartete darauf, daß ich ihm folgte, was ich auch tat.
Ich hatte schon die erste Stufe betreten, als ich hinter mir Jurecs Stimme hörte. »He, wo wollen Sie hin?« »Nach unten!« »Ich komme mit!« Sein Wunsch war zwar verständlich, nur konnte ich ihm nicht zustimmen. »Das ist zu gefährlich!« warnte ich ihn. »Bleiben Sie hier oben, da sind Sie…« »Nein, nein, nein!« Er ließ mich nicht ausreden. Ich konnte ihm auch keine Befehle erteilen, sorgte aber dafür, daß er hinter mir blieb, und damit war er einverstanden. Seinen Koffer hatte er nicht vergessen. Hin und wieder polterte er mit der Kante gegen die eine oder andere Stufe. Ich hörte Jurec auch sprechen, ohne verstehen zu können, was er sagte. Seine Stimme klang keuchend und hastig. Die Stufen waren breit genug, um immer einen sicheren Tritt zu finden. Ich nahm zwei auf einmal, kriegte auch keinen Drehwurm und wurde erst langsamer, als der letzte Teil der langen Wendeltreppe vor mir lag. Mein Blick fiel in den Flur, der leer war. Nicht leer von Glasscherben, denn die hatten sich dort verteilt. Sie schimmerten im einfallenden Licht. Große, kleine, manche spitz, andere einfach nur kantig, so bedeckten sie den Boden, und das nach oben hin offene Treppenhaus wirkte jetzt wie ein Schacht, durch den der Wind blies. Wo steckte Santerre? Jurec hatte sich mit derselben Frage beschäftigt, denn er sagte hinter mir: »Ich glaube, der… der ist jetzt weg.« »Sieht so aus.« Nach dieser Antwort brachte ich auch den Rest der Stufen hinter mich und war gleichzeitig von einem starken Ärger erfüllt, daß sich die Gestalt so schnell zurückgezogen hatte. Ich hätte sie gern gestellt. Wegen des Glases erwies sich das Gehen im Flur als äußerst schwierig. Wir mußten auf jeden Tritt achtgeben, denn auf diesen Glasstücken konnte man tatsächlich ausrutschen wie auf Eis. Und die Landung hätte verheerende Auswirkungen haben können. »Der ist draußen, Herr Sinclair!« sagte Paul Jurec. »Oder glauben Sie etwas anderes?« Ich hob die Schultern leicht an. »In Luft aufgelöst haben kann der sich wohl nicht.« »Sie haben ihn doch gesehen.« »Das stimmt allerdings.« »Sie schauten auch in die Tiefe. Da müssen Sie doch erkannt haben, wie er verschwand.« »Leider nicht.« »Wieso?«
»Ich sah nicht, wie er die Tür öffnete. Ich hörte auch nichts. Deshalb kann ich mir vorstellen, daß er sich noch in der Nähe aufhält. Allerdings gibt es hier kaum Verstecke.« »Bis auf den Keller.« Ich drehte mich hastig. »Was sagten Sie? Es gibt einen Keller hier unter dem Haus?« »Klar. Die Häuser sind voll unterkellert, und viele von ihnen haben noch Zugang zur Kanalisation. Denken Sie nur an den Film >Der dritte MannverfingWurstel-Prater< genannt.
Die Biergärten hatten noch geschlossen, und auch die Lokale, zu denen die Gärten gehörten. Sie sahen zumeist aus wie Baracken mit zahlreichen Fenstern. Natürlich drehte sich das Riesenrad, das Wahrzeichen des Praters. Aber nur wenige Besucher zeichneten sich hinter den Scheiben der Gondeln ab. Father Ignatius, aus Rom gekommen, befand sich zum erstenmal in Wien. Er blieb stehen und ließ sich für eine Weile vom Anblick dieses großen Rads verzaubern, das eine lange Geschichte hinter sich hatte und zu Wien gehörte wie der Petersdom zu Rom. Ignatius fror plötzlich, obwohl es keinen Grund gab. Es lag seltsamerweise am Anblick des großen Rads, und für einen Moment überkam ihn eine düstere Vision. Er sah die zahlreichen Gondeln in Flammen stehen und durch die Dunkelheit fahren. Und in den Flammen, gewissermaßen als ihr Herrscher, stand eine mächtige Gestalt, die sich Santerre nannte. Sie schaute auf die schreienden und flüchtenden Menschen am Boden nieder, griff dann nach den brennenden Gondeln und schleuderte sie der Reihe nach den flüchtenden Menschen entgegen. Es gab Verletzte, es gab Tote. Menschen brannten wie Zunder, und Father Ignatius wischte über sein Gesicht, als wollte er die Tränen aus den Augen holen. Die Vision verschwand. Er sah das Riesenrad wieder völlig normal vor sich, aber die Bilder vergaß er nicht. Sie waren ein Omen für das, was noch auf diese Stadt zukommen konnte. Zwar nicht so, wie er es gesehen hatte, vielleicht im übertragenen Sinne, aber die Gestalt des Santerre gab es wieder. Es hatte sie schon einmal gegeben, was allerdings einige hundert Jahre zurücklag. Ignatius schüttelte den Kopf und ging weiter. Er wollte sich nur einen Eindruck verschaffen, Wege erkunden, sich auch nach Verstecken umsehen, wo sich seine Feinde verbergen konnten. Daß es sie gab, stand fest. Die Auskünfte waren gut gewesen, und daß die Weiße Macht, der er angehörte, zwei Mitglieder verloren hatte, war auch eine Tatsache. In ihrer letzten Meldung hatten sie vom Prater gesprochen und davon, daß das Grauen die Berge verlassen und in die große Stadt gekommen war. Das Grauen mit dem Namen Santerre! Wer er genau war, wußte auch Father Ignatius nicht. Da mußte er sich schon auf alte Schriften und Legenden verlassen, die er im Archiv des Vatikans gefunden hatte. Jedenfalls war Santerre ein Schwarzer Apostel gewesen. Und nicht nur das. Er hatte auch der Gruppe der zwölf Abtrünnigen und dem Satan zugeführten Menschen als Anführer gedient, wobei die Legende ihm gleichzeitig die Rolle des Verräters, des Judas, zuschrieb. Die elf
Menschen waren den Weg in die Verdammnis gegangen, und nur einer hatte überlebt, eben Santerre. Er hatte seine Freunde geopfert, um dem Allerhöchsten zu dienen, eben dem Teufel. Und er war zurückgekehrt. Stimmten die alten Geschichten, und es sah danach aus, dann war Santerre wieder dabei, elf Getreue um sich zu versammeln, um sie wieder auf den Weg in die Verdammnis zu schicken, denn die Hölle verlangte von ihren Dienern immer wieder neue Gegenleistungen, das wußte Ignatius. Die ersten elf waren in eine Schlucht gestürzt. Man hatte irgendwann ihre Gebeine gefunden. Knochenhaufen, die kreuz und quer übereinanderlagen, und wenn sich wieder eine solche Gruppe in die Tiefe stürzte, dann… Ignatius dachte nicht mehr weiter. Er blickte nach rechts, wo sich das Riesenrad als Wunder alter Jugendstiltechnik vor dem grauen Wiener Himmel abhob. Er wußte, daß man die Fenster der Gondeln hochschieben konnte, und sein Gesicht mit der straff gespannten Haut zuckte. Wieder überkam ihn ein Frösteln. Er brauchte nicht weiter durch den Prater zu laufen. Das Riesenrad war ein wichtiger Fixpunkt, wenn nicht der wichtigste überhaupt, und so lenkte er seine Schritte auf dieses phantastische Bauwerk zu. Das Rad drehte sich langsam und behäbig. Es war ein Stück Nostalgie, verglichen mit den modernen Fahrgeschäften, die es umstanden. Da gab es die Geisterbahnen, die Achterbahnen, die zahlreichen Karussells, die immer schneller und höher fuhren, um die Menschen in einen Rausch zu entlassen. Aber das Rad hatte stets Saison. Es drehte sich, während die anderen Fahrgeschäfte ruhten und auch so mit ihrem manchmal futuristischen Aussehen nicht gegen den Charme des alten Rads ankamen. In der Nähe gab es ein kleines Restaurant, das aber geschlossen war. Auch einen Minigolfplatz sah Ignatius, auf dessen Betonbahnen niemand spielte. Nur die alten Blätter vom letzten Herbst klebten dort noch. Wer zur Kasse wollte, mußte durch eine starre Schlange aus Gitterstäben laufen. Im Sommer war es sicherlich voll, jetzt im Winter hätte Ignatius sofort eine Karte lösen können. Der Father schlenderte weiter. Er hörte das Lachen der beiden Kinder in seiner Nähe. Eine Familie freute sich auf die Fahrt mit dem Rad, und die Kinder konnten es kaum erwarten. Sie zogen ihre Eltern auf den Eingang zu. Ignatius ließ sie vorbei. Das Mädchen drehte sich noch einmal zu ihm um. »Bist du ein Priester?« rief es. »Ja.« »Dann kann uns ja nichts passieren.« »Ich hoffe es für euch.«
»Nun hör doch auf, Sandra!« schimpfte die Mutter und schüttelte den Kopf. »Lassen Sie nur, Ihre Sandra hat recht.« Der Father lächelte ihnen nach und winkte dem Nachwuchs zu, bevor er sich abwandte. Er hatte erst vorgehabt, eine Runde zu drehen, es sich aber anders überlegt, denn es war auch wichtig, sich die Umgebung anzuschauen. Wie wichtig, das merkte er wenig später, denn hinter einer Buschgruppe hervor traten plötzlich einige Gestalten, die ihm überhaupt nicht gefielen. Nun war Ignatius keiner, der einen Menschen nach seinem Aussehen einstufte. Ihm war es egal, wie die Leute aussahen, welche Hautfarbe sie hatten und welche Kleidung sie trugen. Ihn interessierten eher die Gesichter seiner Gegenüber, und diese hier gefielen ihm nicht. Es ging um den Ausdruck in den Augen. Er war böse, er war hinterlistig und gemein. Tückisch und abschätzend wurde der Father von denen angeschaut, die sich wie eine Mauer aus Leibern vor ihm aufgebaut hatten und klarmachten, daß sein Weg an dieser Stelle beendet war. Noch zwei Typen lösten sich aus der Deckung des Buschwerks, und dann waren sie vollzählig. Genau elf. Father Ignatius mußte sich beherrschen, um sein Erschrecken nicht zu zeigen. Es war die Zahl, es war die verfluchte Zahl. Der Gedanke raste durch seinen Kopf und ließ ihn leicht schwanken. Fehlte nur der letzte noch, der zwölfte, er aber würde später hinzustoßen, wenn der Weg in die Verdammnis betreten wurde. Die Typen paßten zu ihm, wie wahrscheinlich die anderen auch zu Santerre gepaßt hatten. Diese hier waren düster gekleidet, sie glichen den Grufties, auch wenn sie um einige Jahre älter waren als die. Dunkel gekleidet, behängt mit Schmuck, der die Kirche verspottete, das Böse im Blick, und auf mancher Haut glänzten Tätowierungen mit dämonischem Aussehen. Sie schauten ihn an. Ihre Augen waren kalt. Der Father spürte nicht nur den Widerwillen, der ihm entgegenschlug, es war etwas anderes, das ihm unter die Haut ging. Der reine Haß! Ja, sie haßten ihn, weil sie sahen, daß er auf der direkten Gegenseite stand, und einige von ihnen sahen aus, als würden sie ihn gern auf der Stelle töten. Einer sprach ihn an. Seine Haare waren hell gefärbt und standen aufrecht wie überlange Streichhölzer. Der Mann war ungefähr fünfundzwanzig, sein Gesicht mit der blassen Haut zeigte unter den Augen dunkle Ränder, als wäre dort Schminke verlaufen. Ketten mit silbernen oder schwarzen Totenköpfen umrahmten seinen Hals und klimperten vor der Brust. Die Lederjacke stand offen, deshalb sah Ignatius auch das T-Shirt mit der Aufschrift >Der Satan kehrt zurückFreunde< waren nicht mehr zu sehen. Sie hatten sich wieder in ihr Versteck zurückgezogen. Ignatius hatte es jetzt eilig, das Taxi zu erreichen. Zum Glück stand er nicht allein, denn in der Stadt befand sich bereits John Sinclair. Und einen anderen Freund würde er noch an diesem frühen Nachmittag vom Flughafen Schwechat abholen. Es war Suko, John Sinclairs Freund und Kollege. Wenn sie an seiner Seite waren, fühlte er sich nicht mehr so schwach. Doch ihre Feinde waren in der Überzahl, und sie wurden von jemandem angeführt, in dessen verrotteten Körper die Macht des Teufels steckte, und die war nicht zu unterschätzen… ***
Ein Bild erschien für den Bruchteil einer Sekunde, aber dennoch sehr deutlich vor meinen Augen. Ich sah einen am Boden liegenden Mann, auf dessen Körper unzählige Ratten tummelten und mit ihren starken Zähnen die Kleidung bereits durchnagt hatten und jetzt dabei waren, sie wie kleine Messer in die Haut zu hacken, wobei das Blut spritzte und die ersten Knochen bereits freilagen. Und dieser Mann unter den Ratten war ich! Dazu aber sollte und durfte es nicht kommen. Aus diesem Grunde mußte ich schneller sein als die verdammte Rattenbrut. Ob es mir gelang, stand in den Sternen, denn das Wasser floß sicherlich schneller, als ich auf diesen Wegen laufen konnte. Zudem bewegte ich mich auf einem schmalen Rand, der zudem noch ziemlich glitschig war und ich immer in Gefahr lief, abzurutschen und in dieser dreckigen, mit Fäkalien bestückten Brühe zu landen. Die Ratten fühlten sich darin wohl. Sie standen unter dem Kommando dieses verfluchten Santerre. Ich wußte nicht, wie er es geschafft hatte, aber er war auch von der Glaskuppel zu Boden geschwebt, ohne sich zu verletzen. Ich hatte mich längst gedreht, eilte so rasch wie möglich den Weg wieder zurück und bewegte dabei meine rechte Hand an der schmierigen Wand entlang, um eine Stütze zu haben. Der Boden war uneben, ich hatte die Lampe nicht gelöscht und ließ den Kegel deshalb über das nasse Gestein tanzen, das mit all seinen Beulen und Rissen vor mir lag. Ein falscher Tritt, und ich landete in der stinkenden Brühe. Hinter mir hörte ich das Schmatzen und Schäumen des Wassers. Es brauste auf, es gurgelte. Die Ratten wurden von einer wilden Gier nach Menschenfleisch getrieben, als hätten sie wochenlang nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Wie viele hinter mir her waren, darüber konnte ich nur spekulieren. Zu viele jedenfalls. Einige von ihnen hätte ich vernichten können, der Rest aber würde über mich herfallen und an mir seinen Hunger stillen. Ich verfluchte sie, während mein Atem als keuchender Fluß aus meinem Mund drang. Der Kegel tanzte vor mir her, als wäre er irre geworden, denn jede meiner Bewegungen übertrug sich auf ihn, und der Weg kam mir jetzt meilenweit vor. Die breite Rinne befand sich links von mir. Wenn mich der brodelnde Schaum erreichte, befanden sich auch die Ratten auf meiner Höhe, und dann war es vorbei. Noch kam ich gut voran. Zwar manchmal schwankend, zweimal war ich auch ausgerutscht, aber ich hatte mich halten können, was mir wiederum Hoffnung gab.
Etwas prallte gegen meine Hacken. Es war nicht hart, sondern relativ weich und nachgiebig. Ob die Ratte schon zugebissen hatte, wußte ich nicht. Wenn, dann hatte sie ihre Zähne nur in das Leder geschlagen, und das störte mich nicht. Ich hetzte weiter. Der Gang war noch immer nicht zu Ende. Das Licht zitterte wie ein Geist, und dann schäumte plötzlich dreckiges Wasser über den Rand hinweg und auch über meine Füße. Die ersten Ratten hatten mich erreicht. Noch waren sie zu ungestüm und behinderten sich gegenseitig, als sie sich aus dem Wasser wuchteten und versuchten, ihre Zähne in meine Hosenbeine zu hämmern. Sie rutschten ab, sie bissen sich sogar gegenseitig, was mich für Sekunden rettete. Und dann sah ich die Lücke. Nicht mehr weit von mir entfernt, auf der rechten Seite. In dieser Lücke befand sich auch die Öffnung, durch die ich in den Keller gelangen konnte. In meiner Vorfreude machte ich einen zu großen Schritt, und plötzlich tanzte der Schein noch wilder, denn ich war auf dem glatten Boden ausgerutscht und gefallen. Bäuchlings rutschte ich durch den Schmier. Ich dachte daran, daß der Portier des vornehmen Bristol-Hotels große Augen bekommen würde, wenn ich so bei ihm auftauchte, aber die Ratten waren jetzt wichtiger, denn die drängten sich aus dem Wasser, um an ihre Beute heranzukommen. Endlich kam ich wieder auf die Beine und leuchtete in die Höhe. Das war der Ausstieg, und er war nicht geschlossen. Wieder steckte ich die Taschenlampe weg, um beide Hände freizuhaben. Der kurze Blick nach oben, ein leichtes Einsinken in den Knien, dann sprang ich hoch. Meine Arme schnellten dem Lukenrand entgegen, die Hände waren bereits gekrümmt und faßten zu. Aber auch die Ratten sprangen. Einige rutschten ab, doch zwei oder drei, so genau war es nicht zu spüren, hatten es geschafft, sich am Stoff der Hosenbeine festzubeißen, und sie nahm ich mit in den Keller. Ich konnte mich nicht um die Nager kümmern, hatte mit mir selbst zu tun und wollte auch nicht, daß noch weitere Ratten durch die Öffnung hoch in den Keller sprangen. Noch auf dem Boden liegend holte ich die Lampe aus der Tasche und drosch mit ihr zu. Ich ignorierte das Kratzen der kleinen Rattenfüße auf meiner Haut, was durch den Stoff kaum zu spüren war. Und ich traf die wilden Nager voll. Bei einer freilich mußte ich noch mit einem Tritt nachhelfen. Dann war noch eine von den dreien übrig, die sich an mir festgebissen hatten.
Unter mir tobte die Rattenmasse. Ich wußte, daß die Biester durch Sprünge versuchen würden, mich zu erreichen. Die Höhe war jedoch nicht so leicht zu überwinden. Außerdem behinderten sie sich wieder gegenseitig. Die letzte Ratte erwischte ich abermals mit einem Tritt. Sie klatschte gegen die Wand, war aber nicht tot. Ich sorgte für ein rasches Ende, als ich die Eisenplatte anhob und sie dann auf den Körper wuchtete. Mit einem weiteren Tritt beförderte ich sie zu ihren Artgenossen in die Tiefe. Das war erledigt. Zum erstenmal atmete ich durch. Ich nahm mir ein wenig Zeit, die Öffnung wieder zu verschließen. Dann schüttelte ich mich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam. Die Verfolgung durch die Ratten hatte bei mir schon weiche Knie hinterlassen. Auch mein Herz schlug schneller als gewöhnlich, als ich den Rückweg antrat. Erst am Beginn der alten Steintreppe fühlte ich mich besser. Im zugigen Flur kam mir die Luft vor wie die beste der Welt. Paul Jurec hatte auf mich gewartet, trat aber zurück, als er mich aus dem Keller kommen sah, er tat so, als wäre ich ein Gespenst. »Gütiger Himmel, wie sehen Sie denn aus?« »Stark, nicht?« »Sind Sie gefallen?« »Ja, und ich habe noch Glück gehabt, daß ich dabei nicht in den Kanal gerutscht bin. Sie werden bestimmt noch viel Arbeit bekommen, mein Bester.« »Ahm – wie meinen Sie das denn?« »Ratten, Paul. Dort unten halten sich jede Menge Ratten auf!« »Im… im… Keller?« »Nein, noch tiefer.« Ich sah es ihm an, daß er Einzelheiten hören wollte, und ich hielt damit auch nicht hinter dem Berg. So erfuhr Paul Jurec, was mir widerfahren war, womit er nicht zurechtkam. Er stand vor mir und schüttelte den Kopf. »Ich begreife das nicht. Als Kammerjäger kenne ich mich mit Ratten aus. Deshalb wundere ich mich darüber, daß Sie so von ihnen gejagt wurden. Die Tiere sind nicht ausgehungert, sie fressen zwar viel, aber an Menschen wagen sie sich nur in extremen Situationen heran.« »Sie standen unter dem Einfluß der Gestalt, die wir oben auf dem Kuppeldach gesehen haben. Sie hatte den Befehl über die Ratten bekommen. Und nun sind Sie an der Reihe. Was sagen Sie dazu, Jurec?« »Nichts.« »Auch nicht als Kammerjäger?«
»Nein, Herr Sinclair. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Ratten so zu trainieren, daß sie sich sofort auf Menschen stürzen. Vielleicht in einem Zirkus, doch sonst habe ich davon noch nichts gehört.« »Seien Sie froh, sagte ich, ohne eine nähere Erläuterung zu geben. In der Vergangenheit hatte ich meine Erfahrungen mit Ratten gemacht und so manchen Tanz mit ihnen erlebt.« Hier würden sie mich sicherlich nicht mehr stören, es ging jetzt darum, daß wir es schafften, Santerre zu stellen. Wir, das waren Suko und ich, denn er würde noch heute in Schwechat landen. Ich war gewissermaßen als Vorhut geflogen. Die Erzählungen des Father Ignatius hatten mich veranlaßt, Suko nachzuholen. Paul Jurec schaute in die Höhe, dann blickte er auf die Scherben und fragte: »Wie geht es denn jetzt weiter? Haben Sie irgendeinen Vorschlag, Herr Sinclair?« »Für Sie läuft alles normal. Sie tun Ihren Job und räumen in diesem Haus kräftig auf.« »Das wird dauern.« »Ich fahre in mein Hotel.« »Haben Sie denn ein Auto?« »Nein, ich werde mir ein Taxi…« Er unterbrach mich. »Das brauchen Sie nicht. Ich nehme Sie mit.« Ich deutete an meinem Körper herab nach unten. »So stinkend wie ich bin? Wollen Sie sich das antun?« »In meiner Karre stinkt es auch. Nach Gift und Desinfektionsmitteln.« »Wenn Sie meinen, Herr Jurec, dann bin ich so frei.« Er rückte mit einer heftigen Bewegung seinen Helm zurecht und nickte wie jemand, der sich nicht mehr von seinem Vorhaben abbringen ließ. »Kommen Sie mit, wir fahren.« Draußen drehte ich mich noch einmal um und schaute an der vorderen Hausfront hoch. Niemandem war die Zerstörung der Glaskuppel aufgefallen, und das fand ich gut. Neugierige Fragen, womöglich noch von meinen Wiener Kollegen, konnte ich jetzt nicht brauchen. Viel wichtiger war die Jagd auf Santerre und seine elf Schwarzen Apostel… *** Eine Dusche zu nehmen, empfinde ich persönlich immer als eine Wohltat. In diesem speziellen Fall aber verdoppelte sich das Feeling noch, und ich hatte den Eindruck, als würde jeder Tropfen ein Stück Erinnerung von dem abspülen, was ich erlebt hatte. Die perfekte Umgebung dieses Hotels machte es mir zudem leicht, die Dinge zu vergessen, und ich würde auch noch Zeit haben, um mich ein wenig
auszuruhen. Nein, ich wollte mich nicht ins Bett legen, denn in dem Hotel gab es eine gemütliche Bar. Die schmutzige Kleidung hatte ich in die Schnellreinigung gegeben, auch darum kümmerte man sich in diesem Hotel. Am Abend würde sie frisch und gebügelt wieder in meinem Zimmer liegen. Ich streifte die Ersatzklamotten über und schaute dabei aus dem Fenster. Mein Blick fiel auf die berühmte Wiener Staatsoper. Wenn ich nach rechts schaute, konnte ich fast die Kärntner Straße erkennen, an deren Beginn das Hotel Sacher die Passanten mit seiner altehrwürdigen Fassade begrüßte. Wien ist geschäftig wie London. Es gab eigentlich nie direkt ruhige Zeiten. Auf der Kreuzung vor der Oper herrschte Trubel. Straßenbahnen, Autos, Menschen und Ampeln diktierten diesen Verkehr, von dessen Lärm ich nichts mitbekam, weil die schallsicheren Scheiben ihn abhielten. Auf eine Krawatte verzichtete ich; das dunkelblaue Cordhemd und die Jeans mußten reichen. Eine Ersatzjacke hatte ich mitgenommen und streifte sie über. Es war hoher Mittag, als ich nach unten ging. Ja, ich ging, ich fuhr nicht mit dem Lift, denn das Treppenhaus des Hotels war einmalig. Hier konnte man die Vergangenheit der Donau-Monarchie an den Wänden ablesen, denn die prunkvollen Gemälde zeigten Szenen aus zahlreichen Epochen, zu denen sich noch die wertvollen Möbel gesellten, die an exponierten Stellen ihren Platz gefunden hatten und auch mein Herz höher schlagen ließen. Eine Nachricht war für mich noch nicht hinterlassen worden, doch darüber machte ich mir keine Sorgen. Father Ignatius oder Suko würden sich schon melden. So war es auch verabredet worden. Eine Frage allerdings brannte mir auf der Zunge. Ich wußte noch immer nicht, weshalb mich Father Ignatius auf dieses Haus aufmerksam gemacht hatte. Die Antwort sollte er mir auf jeden Fall geben. In der Halle unten bekam ich große Augen. Da war die Bar plötzlich vergessen. In einem der Räume war ein kleines Büffet aufgebaut worden, und die diversen Kleinigkeiten unter der Glashaube strahlten mich an. Zwei junge Mädchen warteten darauf, die Gäste zu bedienen. Ich hatte beschlossen, mir nach diesem verdammten Rattenabenteuer etwas zu gönnen und ließ meine Blicke suchend über die Köstlichkeiten gleiten. Die Salate sahen toll aus. Sie waren so herrlich frisch, aber ich entschied mich für ein Stück Fleisch. Filet Wellington mit Cumberland-Soße. Als Getränk bestellte ich mir einen Rotwein aus Österreich. Nur eine kleine Karaffe. An einem der Tische nah ich Platz und stellte fest, wie bequem manche Sessel doch sein können. Plötzlich fühlte ich mich nicht nur wohl, sondern wie auf Wolken getragen.
Das Bestellte wurde serviert. Ich bedankte mich und wunderte mich wenig später über die Zartheit des Filets. Auch die Kräuterkruste schmeckte, und die Soße war ein Gedicht! Alles paßte hervorragend zusammen. Ich war mehr als zufrieden, denn auch der Wein ließ sich genießen. Ich wäre hier wirklich gern als Privatmann geblieben, wenn es da nicht eine Person namens Santerre gegeben hätte. Sie schwebte wie ein düsterer Schatten über allem. Ich wußte zumindest jetzt, wozu dieser Mensch – falls er noch einer war – fähig war. Einmal hatte ich ihn getroffen, wobei sich automatisch die Frage stellte, wann und wo wir das nächste Mal zusammentrafen. Leider wußte ich nichts, aber Father Ignatius hatte angedeutet, daß es noch weitere Spuren gäbe, denen er nachgehen wollte, und so rechnete ich mit ihm. Der Teller war leer, sogar die Salatgarnierung hatte mir geschmeckt, und ich wollte mich dem Rest des Weines widmen und auch eine Verdauungszigarette rauchen. Das kam nicht oft vor, in diesem Fall hatte ich einfach das Bedürfnis, und kleine Schwächen sollte man jedem Menschen zugestehen. Der Wein war ausgezeichnet und mit einem langen Abgang, wie man immer so schön sagt. Er mußte in kleinen Schlucken getrunken werden, um ihn richtig genießen zu können. Entspannung war wichtig, denn vor mir lag einiger Streß, das war mir auch ohne weitere Erläuterungen klar. Wenn Suko und Father Ignatius erschienen, würde es zur Sache gehen, und ich hoffte darauf, endlich mehr über die Hintergründe des Falls zu erfahren, die tief in der Vergangenheit lagen. Es herrschte nur wenig Betrieb in meiner Umgebung. Einige wenige Paare verteilten sich an den Tischen, am größten hatten vier Geschäftsleute ihre Plätze gefunden. Die Männer redeten während des Essens nur von Kursen und Aktien. Das war nicht mein Gebiet. Mein Platz hatte noch einen Vorteil. Ich konnte auch die Rezeption überblicken und würde es sofort bemerken, wenn Suko und Ignatius das Hotel betraten. Wenn möglich, übernachtete ich immer hier, wenn ich mich in Wien aufhielt. Es war nett, wenn sich das gut geschulte Personal noch erinnerte und man auch mit dem eigenen Namen begrüßt wurde, ohne sich erst groß vorstellen zu müssen. Gegen den Durst bestellte ich mir noch ein Wasser. Es war gerade gebracht worden, als sich zwei Männer durch die Eingangstür schoben. Der eine dunkel gekleidet -Father Ignatius – der andere trug eine lockere Kleidung, Suko, und er hatte mein Winken gesehen, denn er winkte sofort zurück.
Die Formalitäten waren rasch erledigt, das Gepäck wurde auf die beiden Zimmer verteilt, dann konnte ich meine Freunde endlich begrüßen. »Das ist ja superpünktlich gewesen«, sagte ich. »Entsprechend der Ladung«, sagte Suko. Er schaute sich um. »Wenn ich das hier so sehe, kriege ich Hunger. Soll ich dir auch etwas bestellen, Ignatius?« »Nein, danke. Mir ist der Appetit vergangen.« Ich horchte auf. »Ärger?« »Und nicht zu knapp.« Er ließ sich mir gegenüber nieder. Suko wußte bereits Bescheid. Er stand an der Vitrine, suchte seine kleine Mahlzeit aus, und ich war ganz Ohr, denn Ignatius hatte einiges zu berichten. Seine Erlebnisse im Prater deuteten darauf hin, daß Santerre schon inmitten der Vorbereitungen steckte. »Und du gehst davon aus, daß es in der folgenden Nacht oder am Abend passieren wird?« »Ja.« »Was macht dich so sicher?« »Sie werden den Weg in die Verdammnis gehen müssen, denn in der nächsten Nacht ist es genau siebenhundert Jahre her, daß sich die elf Schwarzen Apostel in die Schlucht gestürzt haben. Jetzt braucht er neue Opfer, und die hat er gefunden. Ich habe elf Personen gezählt, John, das sollte dir auch zu denken geben.« »Gibt es auch«, bestätigte ich. »Kannst du sie denn beschreiben?« Ignatius lachte. »Im Prinzip ist es ja so geblieben. Die Menschen sind nicht anders geworden, nur die Äußerlichkeiten haben sich verändert. Wenn damals die Männer in Kutten oder in was weiß ich für welcher Kleidung den Weg ins Verderben angetreten haben, so kleiden sie sich heute anders. Ich möchte die elf Verblendeten nicht als Grufties bezeichnen, aber so ähnlich haben sie schon ausgesehen. Sie passen demnach in die Szenerie hinein.« Dem konnte ich nur zustimmen und sagte dann: »Einige Fragen stehen trotzdem offen.« »Ich weiß.« »Du wirst mir auch antworten, denke ich.« Zunächst einmal mußte Ignatius mit seinem Stuhl etwas zur Seite rücken, weil Suko erschien. Er hatte sich einen Fischteller zurechtmachen lassen, mit Lachs, Garnelen und Heilbutt. Diese drei Köstlichkeiten Umlagen ein dünnes Stück Rindfleischsülze, zu der eine weiße Soße gehörte. »Dann mal guten Hunger«, sagte ich. »Das habe ich mir auch verdient.« Ich griente. »Kann ich verstehen. Ich habe schon gegessen. Es war eine Belohnung. Schließlich bin ich einer Kompanie von Ratten entwischt.«
Jetzt staunten beide und wollten natürlich wissen, was geschehen war. Suko hatte auch nichts dagegen, daß ich es während des Essens erzählte, und so spulte ich meinen Bericht ab. Und damit kam ich auch auf den Kernpunkt zu sprechen. »Dieses Haus, Ignatius, weshalb hast du mich hingeschickt? Wußtest du Bescheid?« Er senkte den Kopf. »Nicht genau, John, wirklich nicht, aber ich habe es mir gedacht.« »Was wollte Santerre dort?« »Er hat einen Unterschlupf gesucht. Meine beiden Späher, die leider tot sind, haben mir davon berichtet. Er hatte vor, sich in diesem Haus einzunisten. Daß er dabei das Dach zerstört hat, kann ich nur seiner Wut zuschreiben.« »Möglicherweise fühlte er sich entdeckt«, sagte Suko kauend. »Ja, das kann sein. Und wir haben ihn ja auch gesehen. Er hat mich als Verfolger erkannt. Er hat mir die Ratten geschickt. Denkt darüber nach. Er ist in der Lage, Ratten auf Menschen zu hetzen. Das allein muß uns vorsichtig werden lassen.« Ignatius nickte. »In ihm steckt das Böse, das abgrundtief Böse. Er hat sich der Hölle und seinem Herrscher schon vor siebenhundert Jahren verschrieben, er hat durch die Macht des Teufels überlebt und muß nun sein nächstes Soll erfüllen.« »Elf Menschen opfern«, sagte ich. Ignatius nickte. »Er hat sie auch gefunden. Gestrandete, Menschen, die ihr Gewissen unterdrückt haben, die für diese Botschaften empfänglich sind. Die nur danach trachten, daß es ihnen persönlich gutgeht und nicht daran denken, welches Elend sie über andere bringen. Das genau sind seine Opfer. Für ihn ist es heute ebenso leicht wie damals gewesen, Menschen in den Dunstkreis der Hölle zu ziehen. Wir müssen sie davor bewahren, sich in den Tod zu stürzen.« Ich klopfte mit dem Finger auf den Tisch. »Da bringst du mich auf etwas, Ignatius. Kannst du dir vorstellen, wo und wie sie sich in den Tod stürzen werden?« »Ja.« »Das klang sehr sicher«, sagte Suko. »Ich bin es auch. Hört zu, es wird im Prater geschehen, und das historische Riesenrad wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Ich habe euch vorhin von meiner kurzen Vision berichtet. Darauf kann man sich natürlich nicht verlassen, daß brennende Gondeln in die Tiefe stürzen, und ich will es auch nicht hoffen, aber diese elf Schwarzen Apostel haben sich bereits um das Riesenrad herum versammelt. Sie halten es unter Beobachtung, sonst hätten sie mich nicht daran gehindert, weiterzugehen. All dies sind Hinweise darauf, daß es dort geschehen wird. Wir können leider auch nicht hingehen und die elf jungen Männer
festnehmen. Das ist nicht möglich. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Da werden uns die Wiener Polizisten auslachen. Und daß ich von ihnen zu Boden geworfen wurde, ist auch kein Grund.« Wir gaben ihm recht. »Also stehen wir allein«, sagte Suko. »So ist es.« »Wann sollen wir losgehen?« fragte ich. Father Ignatius winkte ab. »Erst bei Einbruch der Dunkelheit, denke ich. Der Weg in die Verdammnis, den sie gehen, er wird nicht bei Tageslicht vollzogen, sondern in der Nacht.« Keiner von uns konnte widersprechen. Ich fragte noch: »Santerre hast du im Prater nicht gesehen?« »Nein.« »Er war ja auch bei mir. Aber er wird sich ausrechnen können, daß wir ihm auf den Fersen sind, und er wird möglicherweise etwas dagegen unternehmen.« »Denkst du an eine Falle?« fragte Suko, bevor er sich das letzte Stück Sülze in den Mund schob. »So ähnlich. Es kann durchaus sein, daß er seinen elf Helfern rät, auf uns zu achten. Sie werden versuchen, uns abzufangen, und deshalb möchte ich von dir, Ignatius, eine Beschreibung haben, die so gut wie möglich ist.« Der Father lächelte. »Elf Personen zu beschreiben. Verlangst du nicht etwas viel, John?« »Klar. Aber ich kenne dich, und ich weiß auch, daß du um den berühmten Tick besser bist als andere.« »Schließt du dich damit ein?« »Selbstverständlich. Wie könnte ich denjenigen anlügen, der meine Silberkugeln herstellt und weiht?« »Gut, daß du mich darauf ansprichst. Ich habe dir wieder welche mitgebracht.« »Danke, das war nötig.« »Und wie verbringen wir den Rest der Zeit?« fragte Suko. »Mach du einen Vorschlag.« Er grinste mir zu. »Ich bin dafür, daß wir uns noch etwas aufs Ohr legen.« Damit konnten wir sehr gut leben… *** Sie warteten auf ihren Meister! Elf Personen, elf Männer, elf Schwarze Apostel der Neuzeit, die von den Ideen des zwölften begeistert gewesen waren. Er war ihr Anführer, ihr großer Leader, denn er hatte sie gefüttert und aus der Gosse geholt. Er
hatte sich umgesehen, er hatte lange genug gesucht und jeden einzelnen von ihnen genau überprüft. Auch in Wien gab es genügend Menschen, die in der Großstadt verloren waren. Die es einfach nicht schafften, sich gegen diesen Apparat durchzusetzen, die es oftmals auch nicht wollten. Sie hingen tagsüber herum, und sie wachten erst auf, wenn der Abend den Tag abgelöst hatte. Dann gingen sie auf Tour, gemeinsam mit anderen Gestrandeten, die Wien als ihre Heimat ausgesucht hatten. Da war die Moral dann ins Abseits gestellt worden, denn es ging um all die kleinen, bösen Geschäfte, von denen sich die Gestrandeten ernährten und über Wasser hielten. Der Haß auf die Gesellschaft bohrte in ihnen. Sie wollten ebenfalls an die Sonne und ihre Schatten verlassen, und so waren sie immer auf der Suche nach dem großen Sprung, der sie in die andere Welt hineinbrachte. Und Santerre hatte sie nicht nur gesucht und gefunden, er hatte ihnen auch seine Philosophie nähergebracht. Vermischt mit ihrer Art zu leben, war ihm bei ihnen die ideale Symbiose gelungen. Sie sahen das Ziel, sie sahen wieder einen Sinn in ihrer Existenz, aber sie übersahen den Sinn hinter dem Sinn, wo das Böse lauerte. Ihre Heimat war der Prater und dessen Umgebung. Dort fielen sie nicht so auf, denn es trieben sich noch zahlreiche Gestalten herum, die auf der großen Suche waren, doch dabei immer im Kreis liefen, ohne zu einem Erfolg gelangen zu können, aber immer mit offenen Augen auf der Suche nach dem schnellen Schnappschuß, nach dem Quentchen Glück, der raschen Mark, dem Dollar oder dem Schilling. Ihr Feind war die Polizei. Es waren in der letzten Zeit die Streifen verstärkt worden, denn immer wieder kam es zu Übergriffen. Die Besucher aus aller Welt hatten sich beschwert, doch das Gelände war einfach zu groß. Man konnte in den Praterauen untertauchen oder sich einfach ruhig verhalten, wie der Meister es von seinen elf Dienern verlangt hatte. Er hatte für sie gesorgt. Lachend und tanzend hatte er ihnen das Geld gezeigt und die Scheine zwischen seinen Fingern gefächert, bevor er sie verteilte. Geld stimmte sie friedlich. Durch Geld konnten sie ihrem Leben einen anderen Sinn geben. Sie konnten sich etwas leisten. Essen, trinken, sich waschen, einfach besser leben, und sie hatten sich sogar Zimmer in verschiedenen Hotels nehmen können. Der äußere Rahmen war ein anderer geworden, der Kern aber hatte sich nicht verändert, und die Nächte gehörten ihrem Gebiet, denn auch dafür hatte Santerre gesorgt. Im Winter waren zahlreiche Lokale geschlossen. Erst im Frühjahr würden sie wieder geöffnet werden, und in einem dieser geschlossenen Lokale, das mehr einer Baracke glich, hatten sich die elf ihr Hautquartier
eingerichtet. Einige der Tische und Stühle hatten sie wieder aufgestellt und die Ketten durchtrennt, mit denen das Mobiliar zusammengehalten wurde. Sie zogen sich immer dann in ihr Home zurück, wenn Santerre sie treffen oder sie selbst ihre Ruhe haben wollten. Und sie verhielten sich ruhig. Kein Geschrei, keine Aggressionen, nicht zuviel Alkohol, sie wirkten sehr wachsam, als wären sie immer auf dem Sprung. Auch an diesem Abend hatten sie sich wieder zurückgezogen. Sehr früh sogar, denn die Dunkelheit hielt den Prater noch nicht in ihren Fesseln. Da die Fenster des Lokals jedoch mit Blendläden verschlossen waren und die elf jungen Männer sie auch so ließen, leuchteten auf den verschiedenen Tischen die Kerzen, deren Licht eine geheimnisvolle Atmosphäre zauberte und die Versammelten wie Schatten aussehen ließen. Die folgende Nacht würde entscheidend werden, das hatte ihnen Santerre berichtet und auch eine gewisse Enthaltsamkeit von ihnen verlangt. Vor allen Dingen keinen Alkohol. Wenn sie trinken wollten, dann Wasser oder Säfte. Jeder hatte sich daran gehalten, denn jeder wußte, was auf dem Spiel stand. Stellten sie sich gegen ihren Meister, waren sie verloren, denn vor seiner Stärke fürchteten sich die jungen Männer. Für ihn schienen die irdischen Gesetze nicht zu gelten. Er war, wie er selbst gesagt hatte, den Tiefen der Hölle entstiegen, und der Teufel persönlich hatte ihm die Botschaft für die Menschen mit auf den Weg gegeben. Sie waren seine Schwarzen Apostel, und das hatten sie ihm geglaubt. Keiner kannte sich besonders gut aus, niemand wußte, daß es unter den zwölf Aposteln einen Verräter gegeben hatte… Sie wollten nur, daß sich ihr Leben endlich änderte, und der Anfang war gemacht worden. Ein jeder brauchte nur in seine Hosentasche zu fassen, um die knisternden Geldscheine zu spüren. Diese Nacht war entscheidend. Sie sollte die elf Männer ans Ziel führen, denn mit ihm wollten sie den Weg in die Verdammnis gehen. Alles andere war überflüssig geworden. Er würde kommen, das stand fest. Eine Zeit hatte er nicht genannt. Er würde plötzlich da sein und sie für die Nacht der Nächte vorbereiten, denn sie führte hinein in die Verdammnis, was immer sie auch sein mochte. Von ihnen hatte keiner eine genaue Ahnung, aber sie waren bereit, dem anderen zu vertrauen. Und sie würden ihre gewohnte Umgebung nicht mal verlassen müssen. Der Prater war ausgesucht worden. Der Prater bei Dunkelheit, wenn dort nichts mehr lief. Sie warteten und hatten sich im Raum verteilt. Alle saßen, bis auf einen. Das war ihr Anführer Daniel. Ob er tatsächlich so hieß, wußten sie nicht, sie jedenfalls kannten ihn nur unter diesem Namen. Sein Haar war schon immer so hell gewesen und auch struppig geschnitten worden. Er fühlte
sich mit dieser Frisur wohl, sie war für ihn so etwas wie ein Markenzeichen, er würde von ihr nicht lassen. Unruhig durchquerte er den Raum. Hin und wieder saugte er an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und hüllte sein Gesicht in Wolken. Er war selten so nervös gewesen. Immer wieder unterbrach er seinen Lauf durch kurze Stopps, runzelte die Stirn zum Zeichen, daß er über ein bestimmtes Problem nachdenken mußte, dabei blieb er für längere Zeit stehen, so daß die anderen aufmerksam wurden. Es lag auf der Hand, daß er ihnen etwas sagen wollte, und er sah zehn Augenpaare auf sich gerichtet. »Was ist denn?« Daniel schüttelte den Kopf. »Nicht viel, und doch ist etwas passiert, das mir Sorgen bereitet.« »Und was?« »Ihr seid dabeigewesen.« »Was meinst du?« »Heute mittag, als dieser Mann kam.« Sie schwiegen, und so sah sich Daniel genötigt, in seiner Rede fortzufahren. »Dieser Mann ist kein normaler Mann gewesen, für uns zumindest nicht. Er war ein Pfaffe, ein Priester, auch wenn er es nicht zugegeben hat. Ich aber spürte seine Aura, und die hat mir ganz und gar nicht gefallen. Ich sage euch noch etwas.« Seine Stimme wurde zu einem Zischen. »Dieser Mann ist nicht grundlos bei uns erschienen. Der hat genau gewußt, weshalb er durch den Park ging. Er war auf der Suche. Er wird von uns gehört haben. Ich mache mir jetzt Vorwürfe. Wir hätten ihn töten sollen.« Die anderen schwiegen. »Töten?« wiederholte jemand aus dem Hintergrund. »Nein, das wäre nicht gut gewesen.« »Warum nicht?« »Du weißt doch, was uns Santerre aufgetragen hat.« »Das ist richtig«, bestätigte Daniel. »Ich habe nichts, aber auch gar nichts vergessen, aber ich denke zudem noch einen Schritt weiter. Wir hätten ihn heimlich verschwinden lassen können. Einfach so, verstehst du? Er wäre nicht mehr aufzufinden gewesen, das ist es, was ich meine.« »Man hätte ihn gesucht.« »So schnell nicht!« hielt Daniel dagegen. »Er ist verschwunden, Freunde, verschwunden.« Daniel drohte mit dem Finger und schaute seine Kumpane fixierend an. Er sah nur die starren Gesichter, von denen manche fratzenhaft wirkten, weil der Widerschein der Kerzen über sie hinwegtanzte. »Ich werde auf jeden Fall mit Santerre darüber sprechen. Er muß Bescheid wissen. Ich werde ihm diesen Mann auch sehr genau beschreiben. Es ist ja möglich, daß er ihn kennt. Oder was meint ihr?« »Ja, kann sein.« »Glaube ich nicht.«
»Das war kein normaler Pfaffe«, verteidigte sich Daniel. »Das war er nicht. Der hat genau gewußt, was er wollte. Der ist heimtückisch. Wir werden uns schon sehr vorsehen müssen, und es kann sein, daß wir ihm in der Nacht wieder begegnen. Ich zumindest rechne damit.« Seine Freunde schwiegen. Sie hingen den eigenen Gedanken nach, denn Daniels Worte hatten sie aufgewühlt. An eine Gefahr hatten sie auch deshalb nicht gedacht, weil ihnen Santerre so stark vorgekommen war. Für sie war er ein mächtiger Götze. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, daß er besiegt werden könnte. »Und wenn wir ihn dann finden? Was machen wir mit ihm?« fragte jemand aus der Runde. »Das wird der Meister entscheiden.« Damit waren alle einverstanden, denn ihm allein hatten sie zu gehorchen, ihm hatten sie ihr Vertrauen geschenkt, denn er verkörperte für sie eine neue Ära. Daniel ließ seine Freunde mit ihren Gedanken allein. Sehr dicht trat er an eines der geschlossenen Fenster heran, blieb dort stehen und zündete sich eine Zigarette an. Das alte Holz der Blendläden zeigte Verwitterungserscheinungen. Ritzen waren entstanden. Daniel lugte durch einen nach draußen. Nur sehen konnte er nicht viel. Hier und da im Ausschnitt einen kahlen Baum, über dessen Geäst das bunte Reklamelicht der geöffneten Fahrgeschäfte schimmerte. Ansonsten war nicht viel zu sehen, denn das kleine Lokal lag abseits und ziemlich am Rand des Geländes. Es dunkelte bereits. Santerre hatte ihnen versprochen, bei Anbruch der Nacht zu erscheinen, eine genaue Zeit aber hatte er ihnen nicht genannt. So mußten sie warten, und ihre Nervosität wuchs. In seinem Rücken hörte Daniel das Flüstern der anderen. Über was sie sich unterhielten, bekam er nicht mit. Sicherlich ging es um die Sache und auch darum, daß sie irgendwann zu einem großen Geldsegen kommen würden. Sie lebten in der Vorfreude, denn das Geld bedeutete auch für sie die Macht, und Santerre hatte ihnen bei den geheimen Treffen viel über Macht berichtet. Auch über die Einflußnahme durch die Macht auf die Menschen, die dann nach ihrer Pfeife tanzten. Auch Daniel dachte daran, und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Doch es sah nicht echt aus, denn tief in seinem Innern breitete sich etwas anderes aus. Eine tiefe Besorgnis darüber, daß Santerre auch nur mit ihnen spielte. Er hatte diesen Gedanken bisher bewußt zurückgedrängt, aber in diesen Momenten, als er nach draußen schaute, wurde er wieder daran erinnert. Er wollte sie führen. Sie alle sollten einen bestimmten Weg gehen, den Weg in die Verdammnis. Aber was oder wer war diese Verdammnis? Dieses Wort hörte sich nach Hölle an, nach Feuer, nach Verbrennen,
auch nach Seelenqual. Hätte man ihm das vor zwei Jahren gesagt, dann hätte er es verflucht, so aber dachte er nach, und er wußte nicht, ob die Verdammnis so gut für ihn war. Dieser Gedanke war ihm plötzlich gekommen. Er dachte auch an eine Falle oder daran, daß ihnen Santerre den falschen Weg weisen würde. Denn sein Weg mußte nicht auch unbedingt der ihre sein. Zweifel stiegen hoch. Was wußten sie überhaupt von diesem Santerre? Im Prinzip nichts. Sie kannten nur seinen Namen, aber sie wußten nicht, woher er gekommen war. Wirklich aus der Hölle? Daniel hatte da seine Zweifel. Aber er war darüber beunruhigt, wenn er hörte, was ihm dieser Mensch alles erzählte. Er kannte sich aus, er wußte Bescheid über vergangene Zeiten, denn er hatte ihnen mehr als einmal erklärt, daß er den Weg in die Verdammnis schon selbst einmal gegangen war. Das Ergebnis hatte vor ihnen gestanden. Eine mächtige Person, gereinigt und geläutert, den Flammen entkommen, die ihn als Schutzmantel erwischt hatten. Alles war wunderbar gelaufen für den anderen, und so sollte es auch bei ihnen sein. Daniel schluckte. Er mußte einfach seinen trüben Gedanken zur Seite drängen. Schlimmer konnte es nicht kommen. Wenn er daran dachte, wie sie sich bisher durchs Leben geschlagen hatten, wurde ihm ganz anders. An seine Kindheit wollte er erst gar nicht denken, die hatte er verdrängt, und alles andere konnte man auch vergessen. Ein Klopfen unterbrach seine Gedanken. Nicht nur Daniel zuckte zusammen, auch seine Freunde. Und jemand flüsterte in den Raum hinein: »Das ist er!« Die Hintertür wurde geöffnet. Elf Köpfe drehten sich. Die Spannung wuchs. Und dann trat er ein! *** Ja, er hatte sie nicht enttäuscht, er hatte sein Versprechen tatsächlich gehalten und war erschienen, um die nächste Nacht einzuläuten. Er sah aus wie immer, trug den Mantel mit der Kapuze, die er über seinen Kopf gestreift hatte. Einige von ihnen waren der Meinung, daß er seinen Körper bewußt nicht zeigen wollte und sich die Blicke der anderen allein auf sein Gesicht konzentrieren sollten. Er stand im Ausschnitt der Tür und hatte sich ducken müssen. Mit dem nächsten Schritt richtete sich Santerre zu seiner vollen Größe auf, ließ seinen Blick über die Versammelten hinwegstreifen, ohne allerdings ein Wort zu sagen. Mit einer langen Hand tippte er an die Tür, die wieder zufiel.
Jeder hatte den Eindruck, vom Blick der Augen ganz besonders stark getroffen zu werden. Für alle waren es Augen, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Augen, die lebten und trotzdem wie tot wirkten. Ähnlich wie Glas, verschieden schimmernd, mal grünlich, mal gelb, aber in der Hauptsache grau. Die Augen unterschieden sich in ihrer Mischfarbe auch nicht vom Gesicht des Mannes. Die Haut wies schon auf das Alter hin, denn sie zeigte ein Muster aus Furchen und Falten. Beides hatte sich tief hineingegraben. Die Männer hatten nie erlebt, daß sich das Gesicht des Mannes beim Sprechen großartig bewegte, es blieb rindenhaft starr, und sein Mund unter der dicken Nase erinnerte an eine breite und auch wuchtige Kerbe. Er ging langsam näher, und die Kerzen schienen einen Teil ihrer Leuchtkraft zu verlieren, denn seit seinem Eintritt war es dunkler im Raum geworden. Da hatten sich die Schatten verdichtet. Da lagen sie wie starre Gebilde in den Ecken, wobei sie sich an anderer Stelle bewegten, als wäre eine Hand hindurchgehuscht. Unter dem Saum der Kapuze schaute das Haar des Ankömmlings hervor. Es waren im Prinzip graue Strähnen, aber auch zwischen ihnen wiederum schimmerte es gelblich und grün, als wären die Haare von irgendwelchen Fäden durchzogen. Auch Daniel hatte seinen Platz am Fenster verlassen und war in die Mitte gegangen. Er wollte in der Nähe des anderen sein, der seinen Blick auf ihn richtete, bevor er sprach. »Ich sehe, daß ihr auf mich gewartet habt«, sagte er und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. »Ja, du hast es uns gesagt.« »Ich bin gekommen.« »Wir waren nur ein wenig besorgt.« Daniel sprach für die anderen gleich mit. »Auf mich kann man sich verlassen!« Mit dieser Bemerkung hatte Santerre alles andere weggewischt, und auch seine Stimme hatte sich um keinen Deut verändert. Sie war so kalt, flüsternd und zugleich drohend geblieben. So wie er konnte einfach kein Mensch sprechen. Das war die Stimme einer Person, die aus der Tiefe eines Grabs drang, nicht dumpf, aber sehr, sehr kalt. Daniel befürchtete, etwas Schlimmes gesagt zu haben. Sehr schnell korrigierte er sich. »Du kannst dich auch auf uns verlassen. Wir werden tun, was du willst.« »Das müßt ihr auch«, flüsterte Santerre den anderen zu. »Es gibt kein Zurück mehr. Diese Nacht ist entscheidend. Der Weg in die Verdammnis ist vorgezeichnet, und ihr werdet aus ihm als die großen Sieger hervorgehen. Aber nur dann, wenn ihr es schafft.« »Wir werden ihn gehen!« flüsterten mehrere Personen zugleich. »Das will ich auch hoffen.«
»Und wohin werden wir gehen müssen?« fragte jemand. »Der Weg in die Verdammnis wird nie vorgezeichnet. Er ist überall, er ist hier. Er befindet sich in dieser Welt, versteht ihr?« »Nein…« »Man findet ihn überall, man muß nur die Augen offenhalten, das ist alles.« Die elf Schwarzen Apostel nahmen es hin, obwohl sie sicherlich noch zahlreiche Fragen hatten, aber sie kamen sich vor wie die Lehrlinge, die bei ihrem Chef standen und zu ihm hochblickten, als wäre er für sie der große Gott. Er drehte sich um. Durch den Luftzug begannen die Flammen zu tanzen, und Schatten huschten wie kleine Geister durch den Raum. Auch Daniel hatte den Mann genau beobachtet. Ihm lagen einige Worte auf der Zunge, er mußte Santerre noch etwas sagen, nur wußte er nicht, wie er damit beginnen sollte. Zudem hatte er Furcht davor, sich lächerlich zu machen. »Was willst du?« Daniel schrak zusammen, als Santerre ihn ansprach. Für einen Moment durcheilte ihn ein Strom der Furcht, denn der andere hatte es tatsächlich geschafft, seine Gedanken zu erraten. Daniel trat einen Schritt zurück. Er stöhnte leise und nickte. »Ja, ich muß mit dir sprechen. Ich habe es mir schon lange vorgenommen, und die anderen wissen auch Bescheid. Und es ist auch keine Lüge, was ich dir berichten werde. Es ist alles so passiert, wie…« »Rede schon!« Daniel nickte heftig. »Da ist jemand gewesen, heute mittag…« »Wer?« »Ein Pfaffe!« Santerre verzog das Gesicht wie jemand, der Zitrone getrunken hat. »Ein Pfaffe…?« »So ist es.« »Was wollte er?« Der Sprecher holte tief Luft. Er war ja schon froh, daß ihn Santerre nicht auslachte oder fertigmachte. Santerre schien ihm zu glauben, und so faßte er sich ein Herz und übersprang den Graben. »Der Pfaffe ist zu uns gekommen. Er hat sich an das Rad geschlichen, als hätte er genau gewußt, wo wir uns aufhalten.« »Wie sah er aus? Beschreibe ihn mir!« Daniel nickte heftig. »Mach ich, werde ich machen. Ich habe mir sein Aussehen eingeprägt. Er war wirklich schlimm, nein, er war normal.« Daniel geriet aus dem Konzept. Erst nachdem ihn Santerre angefahren hatte, konnte er normal reden. Der Besucher hörte aufmerksam zu. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich dabei nicht, aber er schüttelte einige Male den Kopf, und das wunderte die elf Männer.
»Er war es nicht!« sagte Santerre. »Wen meinst du?« »Es ist nicht derjenige gewesen, den ich gemeint habe«, flüsterte der Unheimliche. »Es war nicht der Blonde, den ich in unserem Haus sah. Es ist ein anderer gewesen. War er wirklich älter?« Daniel nickte heftig. Er war froh, daß ihm der andere seine Worte abnahm und ihn nicht einfach als Lügner hinstellte. Trotzdem fühlte sich Daniel nicht locker. Die Spannung blieb einfach in seinem Magen oder in seiner Brust hocken. Sie war wie ein Netz, dessen Maschen dicht um seinen Körper gewoben waren. Der Blick des anderen traf ihn, und Daniel spürte ihn wie ein böses Brennen, zugleich auch eine Kälte in seinem Innern. »Was schließt du daraus?« wurde gefragt. Die anderen schwiegen. Santerre wollte von ihm allein die Antwort haben. »Los, rede!« »Man ist uns auf der Spur!« flüsterte er. »Genau, man ist uns auf der Spur!« »Aber uns trifft keine Schuld. Wir haben uns an das gehalten, was du uns gesagt hast! Das mußt du uns einfach glauben!« Daniel hatte mit schriller Stimme gesprochen. »Ich habe auch nichts gesagt. Wäre es anders gewesen und hättet ihr euch nicht an meine Richtlinien gehalten, würdet ihr schon nicht mehr leben!« Er hatte es so gesagt, daß ihm jeder glaubte. Santerre drehte sich, bevor er wieder das Wort ergriff. »Es kann durchaus sein, daß man mir auf die Spur gekommen ist. Mir und keinem anderen. Mich trifft also die Schuld daran, daß uns dieser Pfaffe verfolgt hat. Und ich sage euch, daß es noch andere Verfolger gibt.« »Wie viele denn?« fragte jemand aus dem Kreis. Santerre schaute den jungen Mann an, der sich unter dem Blick duckte. »Nur einer.« »Du kennst ihn?« fragte Daniel. »Ja, ich habe ihn gesehen. Und ich denke, daß er ein Freund des Pfaffen ist.« »Dann kann er auch hier sein.« »Wir müssen damit rechnen.« Santerre lächelte eisig. »Aber das sollte uns nicht stören. Wir werden ihn ebenso ausradieren wie den Pfaffen.« Nach diesen Worten wartete er ab und freute sich über die allgemeine Zustimmung, die die elf jungen Männer durch ihr Nicken kundtaten: »Es wird alles seinen geregelten Weg gehen. Nichts und niemand kann unseren Plan stören. Der Weg in die Verdammnis ist seit Urzeiten vorgezeichnet. Der Teufel selbst hat ihn angelegt, um diejenigen, die auf seiner Seite stehen, zu belohnen.« Seine Begleiter nickten. Sie hingen mit ihren Augen wie gebannt an seinen Lippen.
»Angst?« fragte er. »Nein!« Eine Antwort nur, aber aus mehreren Mündern. »Das ist gut, denn ihr braucht keine Angst zu haben. Das Leben ist mit scharfen Stacheln gespickt, das wißt ihr selbst, doch wir sind in der Lage, diese Stacheln zur Seite zu räumen, und in der heutigen Nacht werden wir damit beginnen. Den Pfaffen kennt ihr, den habt ihr gesehen, den werdet ihr auch in der Dunkelheit nicht verfehlen können, aber es gibt da noch jemanden, und der ist gefährlicher, da nehme ich kein Blatt vor den Mund. Es ist der Blonde, der zu Hilfe geholt wurde. Er trägt etwas bei sich, das ich und auch der Teufel hassen. Es ist ein Kreuz. Ihr werdet die Aufgabe haben, diesen Blonden zu finden und ihm das Kreuz abzunehmen. Werft es dann fort!« keuchte Santerre. »Zerstört es! Macht mit ihm, was immer ihr wollt, aber laßt es ihm auf keinen Fall, denn ohne Kreuz ist dieser Mann wehrlos. Ihr wißt selbst, daß auch ich nicht unbesiegbar bin, so ehrlich bin ich euch gegenüber gewesen. Das Kreuz ist unser Feind, die Menschen sind es ebenso, die nicht auf unserer Seite stehen. Denkt immer daran, und jetzt werde ich euch die Beschreibung des Mannes geben, auf den es ankommt. Ich hatte die Chance, ihn mir genau anzuschauen. Hört gut zu.« Santerre gab die Beschreibung seines Feindes sehr detailliert weiter. Er traf dabei auf aufmerksame Zuhörer, die jedes Wort, das über seine Lippen drang, aufsaugten. Einige von ihnen machten sich sogar Notizen. Sie schrieben die Worte kurzerhand mit dem Kugelschreiber auf ihre Handflächen. »Reicht es?« fragte Santerre nach einer Weile. Er sah das Nicken. Er war sehr zufrieden, und wieder verzog sich sein Mund zu einem Lächeln. »So«, sagte er, »damit wäre alles geklärt. Ihr werdet jetzt ausschwärmen und ihn suchen.« Daniel hatte noch eine Frage. »Was geschieht, wenn wir ihn gefunden haben?« Santerre rieb seine Hände. Schon ein Beweis seiner großen Vorfreude. »Wenn ihr ihn gefunden habt, werdet ihr ihn nicht töten, sondern ihn mir bringen. Schafft ihn zu mir, denn ich will mich mit ihm beschäftigen.« »Und unser Weg? Was ist mit ihm?« fragte Daniel. »Wir werden ihn gemeinsam gehen.« Santerres Augen funkelten in wilder Vorfreude, auch deshalb, weil alle seiner Meinung waren und nickten. Sie hätten wohl nicht genickt, wäre ihnen klargewesen, daß es in der Geschichte der Bibel, die sich mit den zwölf Aposteln beschäftigte, noch ein Kapitel über einen Verräter gegeben hätte. Nein, daran dachten sie nicht. Und so konnte das Unheil seinen Lauf nehmen… ***
Wir waren mit einem Taxi zum Prater gefahren. Obwohl wir davon ausgehen konnten, daß eine Hölle vor uns lag, ging es uns recht gut, denn wir hatten es tatsächlich noch geschafft, uns hinzulegen und auch zu schlafen. Sogar Father Ignatius war eingeschlafen, wohl auch deshalb, weil er wußte, daß er nun nicht mehr allein war und zwei Helfer an seiner Seite hatte. So gut wie möglich hatte er uns noch einmal die Typen beschrieben, mit denen er aneinandergeraten war, und wir gingen knallhart davon aus, daß sie auf Santerres Seite standen, einem Monstrum, dem es gelungen war, die Jahrhunderte zu überleben, weil er seinem Mentor, dem Teufel, Menschen geopfert hatte. Wir zahlten und verließen den Wagen. Als der alte Diesel-Benz abfuhr, wehte uns noch eine Qualmwolke gegen die Gesichter, als wäre der Fahrer froh darüber, uns loszuwerden. Der Tag hatte sich verabschiedet, über Wien lagen die grauen Schatten der Dunkelheit und ließen auch den Prater nicht aus. Aber hier war es irgendwie anders, oder es kam mir nur so vor. Das Gelände selbst war von der Finsternis umschlungen worden, doch auf ihm hatten sich zahlreiche Lichter ausgebreitet, die wie eine Insel wirkten. Bunte Lichter, abgegeben von den optischen Lockungen der Reklamen, die einige Karussells und Buden umhüllten. Viel Betrieb herrschte nicht. Es war einfach zu kalt. Die Temperaturen schwebten knapp über dem Gefrierpunkt, der Wind biß in unsere Gesichter, es roch nach Schnee, nach Regen, aber auch nach dem Angebot der zahlreichen Imbißbuden. Da vermischte sich der Duft von Gebratenem mit dem des Knoblauchs, denn hier wurden auch die berühmten Langos verkauft, dünne Pfannkuchen, mit einer öligen Knoblauchsoße bestrichen. »Tja, jetzt sind wir also da!« sagte Father Ignatius, »und alles sieht so normal aus.« Beinahe entschuldigend hob er die Schultern. »Ich kann euch auch keinen Beweis liefern.« »Das war auch nicht nötig«, sagte ich. »Wir wissen schließlich, daß es zwölf Gegner sind.« »Ja, die sich auch verteilen können, John.« »Was meinst du genau damit?« Ignatius räusperte sich. »Noch bin ich mir nicht sicher, denn ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie so reagieren wie am Nachmittag.« Er schaute für einen Moment zu Boden. »Ich glaube nicht daran, daß sie zusammengeblieben sind. Sie würden auffallen, und das will dieser Santerre bestimmt nicht.« Suko, der bisher noch nicht gesprochen hatte, fragte: »Worauf willst du hinaus?«
»Das kann ich dir sagen. Wäre es nicht besser, wenn wir uns trennen und erst mal das Gelände nach ihnen absuchen? Ich weiß, daß es viel verlangt ist. Wir haben auch keine Funkgeräte, über die wir uns verständigen könnten, und meine Beschreibung der Personen war auch nicht perfekt, aber immerhin so, daß diese einem von euch sicherlich auffallen, wenn ihr sie seht. Oder liege ich da falsch?« »Nein, sicherlich nicht.« »Was sagst du, John?« »Eine Trennung wäre nicht schlecht.« »Gut«, sagte Ignatius und nickte. »Das ist sogar sehr gut, wie ich finde. Wie machen wir es genau?« Suko schaute mich an. »Was meinst du, John? Soll ich mit Ignatius losziehen, während du dich allein umschaust?« »Damit könnte ich mich anfreunden.« Ignatius lächelte. Suko nickte. »Du bleibst also bei mir. Und wo treffen wir uns dann?« »Moment mal!« mischte ich mich ein. »Wir sollten zuvor festmachen, daß niemand, falls er nicht dazu gezwungen wird, auf eigene Faust handelt. Wenn einer von uns den einen oder anderen entdeckt, ist das okay. Er kann es für sich behalten, sich den Mann merken und dem anderen eine entsprechende Nachricht geben. Ist das so in Ordnung?« Suko und Ignatius schauten sich an. Beide stimmten zu. »Okay, aber wir werden uns nicht am Riesenrad treffen. Es könnte zu auffällig sein.« Ich deutete auf eine große, von außen verglaste Spielhalle. »Wir treffen uns vor dem Eingang. Was haltet ihr davon?« Beide waren einverstanden, aber Suko gab auch seine Bedenken preis. »Gesetzt den Fall, der eine oder andere erscheint nicht am vereinbarten Treffpunkt. Was ist dann?« »Ist das Riesenrad das Ziel.« Suko nickte, Ignatius war ebenfalls einverstanden, strich über sein Gesicht und flüsterte: »Das Riesenrad, ausgerechnet das Riesenrad.« Er wagte nicht, in diese Richtung zu schauen, wo es sich wie ein Lichtkreis gegen den Nachthimmel abhob. »Ich habe euch von meiner Vision berichtet und kann nur hoffen, daß sie nicht eintrifft. Alles andere wäre furchtbar und…« »Eine Vision, Father«, unterbrach ich ihn. »Es ist nur eine Vision, mehr nicht.« »Ich weiß.« »Und wer sagt dir, daß eine Vision immer eintreffen muß?« Ignatius ließ sich Zeit mit der Antwort. »Niemand, John, aber es kann mir auch keiner sagen, daß sie nicht eintrifft. Dieser Prater ist für viele eine Stätte des Vergnügens, für uns aber wird er zu einer Falle werden, das steht fest.«
»Wir werden sehen«, sagte ich und warf einen Blick auf meine Uhr. »In einer Stunde also?« »Gut.« Danach trennen wir uns… *** Suko und Ignatius waren nach rechts gegangen, ich hatte die linke Seite genommen, und wenn ich ehrlich sein sollte, fühlte ich mich überhaupt nicht locker oder cool. In meinem Magen hatte sich ein Klumpen zusammengeballt, ich kam mir manchmal vor, als würde ich neben mir selbst hergehen oder wie auf schwankenden Brettern wandern. Bei jedem Atemzug verstärkte sich der Druck in meiner Brust, und manchmal bewegte sich auch die Welt vor meinen Augen, aber anders, als es die normalen Bewegungen waren. Das Gelände war groß und trotz der Dunkelheit übersichtlich, dennoch fühlte ich mich wie ein Gefangener. Entsprechend langsam bewegte ich mich auch voran, immer auf der Suche nach irgendwelchen Verdächtigen oder nach einem aus dem Rahmen fallenden Vorfall. Zudem dachte ich darüber nach, gegen wen wir ankämpften. Ich hatte diesen Santerre einmal gesehen. Ich stellte mir die Frage, ob er ein Mensch war oder schon die Grenze zu einem Dämon überschritten hatte. Von Ignatius wußte ich, daß er bereits seit einigen hundert Jahren lebte, das war sogar schriftlich verbürgt worden. Wenn ich an seine Reaktion dachte, als er die Glaskuppel durchschlagen hatte, da bekam ich noch immer Magenschmerzen, denn eigentlich hätte er zerschmettert auf dem Boden des Hauses liegen müssen, was bei ihm jedoch nicht der Fall gewesen war. Er hatte alles überstanden, selbst die Splitter hatten ihn nicht verletzt, und diese Tatsache ließ mich schon nachdenken. Santerre war mächtig. Er hatte sich mit dem Teufel verbündet, und der Satan, das wußte ich aus zahlreichen Fällen, tat nichts umsonst. Er gab, aber er nahm auch, und er nahm oft mehr, als er gab. Damit kannte ich mich ebenfalls aus. Schon einmal hatte er das Tor zum Weg in die Verdammnis geöffnet. Und er würde es auch ein zweites Mal tun. Es kam immer darauf an, was von ihm verlangt wurde. Dabei würde er im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehen. Ich wollte nicht derjenige sein, der letztendlich vor elf Toten stand. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden. Düstere Zukunftsaussichten, und der Druck verringerte sich nicht, je tiefer ich in das Gelände des Praters hineinschritt. Obwohl das Wetter nicht eben zu einem Besuch einlud, gab es genügend Unverdrossene, die sich nicht davon abhalten ließen, an den zahlreichen Karussells vorbeizuschlendern, dem Riesenrad zuschauten, sich vom Geheul der Geisterbahnen angelockt fühlten, einen Blick auf die neue Achterbahn
warfen, die nur von Wagemutigen betreten wurde, denn es ging nicht nur hoch und tief, sondern auch – abgesehen von den Kreiseln – in eine Röhre hinein, aus der die Besucher rückwärts und sich dabei drehend wieder hervorschossen. Ich blieb an diesem Fahrgeschäft stehen und beobachtete es mit einer gewissen Skepsis. Nicht, weil ich Furcht davor gehabt hätte, mitzufahren, ich dachte daran, daß Santerre und seine Helfer auch eine derartige Bahn besetzen und Entsetzen verbreiten konnten. Nur mühsam lenkte ich meine Gedanken ab und konzentrierte mich auf die Wirklichkeit. Einige Meter entfernt stand ich bereits im Schatten. Es war wie im richtigen Leben. Dunkelheit und Licht lagen dicht beieinander, und auch ich verschmolz mit den Schatten, so daß er mich regelrecht aufgesaugt hatte. Ein relativ guter Ort für eine Beobachtung, aber auch andere Typen waren auf den Gedanken gekommen. In meiner Nähe standen die zweibeinigen Prater-Hyänen und schauten sich um. Männer unterschiedlichen Alters, die kein Zuhause hatten, gierig an ihren Zigaretten sogen. Viele von ihnen waren auf der Suche nach der schnellen Beute. In der Nacht war der Prater nicht eben die sicherste Ecke von Wien, das hatte sich herumgesprochen, und wer allein das Gelände betrat, lief Gefahr, angemacht zu werden. Mir erging es nicht anders. Als die Gestalt vor mir stehenblieb, roch ich zunächst den Schnapsatem. Es war eine junge Frau, schon ziemlich angetörnt, die einen langen Mantel trug, den sie blitzschnell öffnete und mich dabei angrinste. Unter dem Mantel war sie fast nackt. Zumindest trug sie kein Oberteil. »Na, gefällt es dir?« »Nein«, sagte ich und ging weg. Sie schlug ihren Mantel zu und schimpfte hinter mir her. Ich drehte mich nicht mehr um. Irgendwann kam ich mir ebenfalls vor wie einer dieser Müßiggänger auf der Suche nach irgendwas. Aber was es genau war, das wußte ich auch nicht. Es stimmte auch, daß ich auf der Suche war. Ich suchte die Typen, von denen Father Ignatius gesprochen hatte. Bisher war mir noch niemand aufgefallen. Zwar hielten sich genügend junge Leute auf, aber sie paßten eigentlich nicht zu dem, was mir Ignatius mitgeteilt hatte. Ohne es bewußt zu wollen, hatte ich meine Schritte aus dem Bereich der grellbunten Vergnügungsstätten weggelenkt und gelangte nun in den dunkleren Teil des Praters. Hier wuchsen sogar noch Bäume. An den Ästen hingen kaum Blätter. Sie standen auf dem Gelände wie stumme Wächter. Im Sommer sorgten sie für Schatten, denn um die Bäume herum waren kleine Biergärten
eingerichtet worden. Sie gehörten zumeist zu den in unmittelbarer Nähe stehenden Lokalen, die allesamt irgendwie barackenartig aussahen und nicht gerade zu einem Bier einluden. Das mochte in der warmen Jahreszeit anders aussehen. Jetzt aber waren die Eingänge verrammelt und die Fenster geschlossen. Der Februar gehörte eben nicht zu den >guten< Monaten. Auch hier hielten sich Menschen auf. Allerdings welche, die das Licht absolut scheuten, um ihren nicht immer gesetzlichen Beschäftigungen nachzugehen. Es wurde gedealt, es wurden Geschäfte erledigt, es wurde geflüstert, und man sprach auch über andere. Man sah auch mich. Wenn ich dicht an irgendwelchen Leuten vorbeiging, spannte sich deren Haltung. Die Typen kamen wir wie sprungbereit vor, als warteten sie darauf, ihre Messer ziehen zu können. Sie taten es nicht, und ich ging weiter. In der Ferne, jenseits der Bäume drang das Knattern der benzingetriebenen Karts auf, die ihre Runden auf Asphaltbahnen drehten. Ab und zu huschten Lichtreflexe durch die Finsternis, die mich allerdings nicht antörnten. Neben einem geschlossenen Videoladen blieb ich schließlich stehen. Das alte Schild an der Außenseite deutete darauf hin, daß nur Erwachsene Zugang hatten. Da konnte man sich ungefähr denken, was dort gezeigt wurde. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, stellte ich fest, daß noch keine halbe Stunde seit meiner Trennung von Suko und Ignatius vergangen war. Mir war die Zeit allerdings lang vorgekommen, vielleicht auch deshalb, weil nichts passiert war. Wirklich nichts? Ich griff in die Tasche und holte die Packung mit den Zigaretten hervor. Als das Stäbchen brannte, hielt ich es in der hohlen Hand, damit niemand die Glut sah. Außerdem wollte ich mich von den anderen Müßiggängern nicht zu stark abheben. Der Rauch sickerte aus meinen Nasenlöchern. In meiner unmittelbaren Umgebung gab es nichts, was mich gestört oder nicht hingepaßt hätte. Es lief alles normal ab, und doch schaffte ich es nicht, mich damit anzufreunden. Gerade in den letzten Minuten hatte ich den Eindruck gehabt, beobachtet zu werden. Aus der Dunkelheit heraus und von lichtscheuen Typen, die darin Deckung gefunden hatten. Es war schon seltsam, daß mir keiner der von Ignatius beschriebenen Personen aufgefallen war. Es herrschte eine gewisse Ruhe vor dem Sturm, und ich hoffte nur, daß der Orkan nicht eintreffen würde. Die Zigarette warf ich zu Boden und zermalmte sie mit dem Absatz. Ich wollte meinen Weg fortsetzen, löste mich aus der Deckung und schlenderte weiter.
Diesmal erreichte ich direkt den Rand des Praters. Das künstliche Licht blieb hinter mir zurück, dafür sah ich die Umrisse einiger geschlossener Lokale. Ein düsterer Flecken, eine Insel im Trubel, zugleich auch ein Versteck für zwölf Schwarze Apostel? Mein Herz schlug schneller. Es war die Ahnung, daß ich mich nicht mehr zu weit entfernt vom Ziel befand. Unruhig durchsuchte ich die Umgebung. An der linken Seite sah ich die mächtigen Stämme kahler Bäume. Dahinter den Schatten einer Baracke mit verdunkelten Fenstern, die allerdings nicht so dunkel waren, als daß sie die gesamte Helligkeit geschluckt hätten, die sich im Innern des stillgelegten Lokals ausbreitete. Durch die Ritzen der Läden schimmerte hier und da ein fahler Lichtschein. Er war weich, er bewegte sich sogar, das konnte ich gut erkennen. In diesem Lokal hielt sich jemand auf. Meine Neugierde war natürlich erwacht. Ich blieb stehen und schaute durch eine Lücke zwischen den Bäumen. Über meinen Rücken lief ein Kribbeln. Einen sechsten Sinn hatte ich natürlich nicht, aber ich konnte auf gewisse Erfahrungswerte zurückblicken. Sie hatten mich gelehrt, daß ich eine sich anbahnende Gefahr spürte, in diesem Fall verdeutlichte sie sich durch Tritte in meinem Rücken. Ich drehte mich um. Zwei Männer schauten mich an. Beide waren noch jung, beide trugen Lederkleidung, die mit irgendwelchen silbrig funkelnden Abzeichen verziert waren. Ich schaute genauer hin. Kalte Gesichter, das Grinsen auf den Lippen, und mir war klar, daß die beiden wußten, wen sie vor sich hatten. Das bekam ich Sekunden später bestätigt. »Da ist er ja«, sagte der Größere von ihnen und lachte… *** Ich wartete, bis das Lachen verklungen war und fragte dann: »Ihr habt mich gesucht?« »Sicher.« »Und warum?« »Man hat uns auf dich aufmerksam gemacht. Du bist jemand, den wir nicht haben wollen.« »Und warum nicht?« »Du störst uns.« Ich nickte. »Okay, dann weiß ich Bescheid. Ihr beide gehört also zu Santerre.«
Wenn ich sie durch meine Worte überrascht hatte, so zeigten sie es kaum. Nur ihr gemeinsames Lachen schallte mir entgegen, und wiederum übernahm der Größere das Wort. Er hatte ein rundes Gesicht mit einem breiten Mund. Die Haare lagen auf seinem Kopf, als wären sie eine vor Dreck starrende Kappe. Er kam auf mich zu und glotzte mich an, als wollte er mich hypnotisieren. Das schaffte er nicht. Demnach mußte es einen anderen Grund dafür geben, daß er mich nicht aus den Augen ließ, und diesen Grund ahnte ich, als ich mir seinen Kumpan anblickte. Er war sichtlich nervös geworden, bewegte seinen Mund, ohne zu kauen, und mit den starren Augen glotzte er an meiner Schulter vorbei. Das hatte seinen Grund! Blitzschnell trat ich einen Schritt nach rechts. Genau in diesem Augenblick hörte ich einen wütenden Laut, ein Wort oder wie auch immer. Der Schlag hätte mich treffen sollen, aber er erwischte mich nicht voll. Etwas schrammte an meinem Arm entlang. Ich rechnete mit einem dieser Totschläger, was jetzt zweitrangig war, denn ich hatte es mit drei Gegnern zu tun. Der Typ, der auf mich zugegangen war, um mich abzulenken, warf sich plötzlich vor. Er kreischte dabei, wollte mich zu Boden schicken, doch ich hatte mich auf der Stelle gedreht. Zugleich trat und schlug ich zu. Mein Ellbogen erwischte den Kerl am Hals, der Tritt irgendwo anders am Körper. Ich hörte ihn ächzen, dann fiel er zu Boden, und über ihn hinweg sprang der zweite. Das Messer funkelte in seiner rechten Hand. Er bewegte es in Kehlenhöhe an mir vorbei, wollte mich irritieren und achtete nicht auf meine Füße. Der Tritt hob ihn fast aus den Schuhen. Als er kippte, hörte ich hinter mir den Pfiff. Wieder fuhr ich herum. Für einen Moment stand ich unbeweglich. Es war der Schreck, der mich gelähmt hatte. Wahrscheinlich waren die Typen aus dieser stillgelegten Kneipe gekommen, und sie waren bestimmt nicht erschienen, um mich zu umarmen. Bisher hatte ich die Beretta nicht eingesetzt, das sollte sich nun ändern. Meine Hand rutschte hin, es war zu spät. Einer der Kerle hatte sich abgestoßen. Er war klein, aber kratzig und beweglich wie eine Katze. Er hängte sich an meinen rechten Arm. Ich schaute für einen Moment in sein verzerrtes Gesicht, und das zuckende Gewicht des Knaben ließ mich zur Seite taumeln. Den Stein sah ich fliegen, aber ich konnte ihm nicht mehr ausweichen. Er prallte neben dem Ohr gegen meinen Kopf. Siedende Schmerzstiche rasten durch meinen Schädel, und ich wußte genau, daß ich verloren
hatte. Ich wurde nicht bewußtlos, aber ich war schwach geworden. So schwach, daß ich mich nicht wehren konnte. Der kleine Kerl riß mich um. »Ja!« schrie jemand. Auf dem Boden liegend, riß ich die Augen auf. Ich sah einen blonden Typen mit langen Stehhaaren auf mich zukommen. Wieder vernahm ich den Schrei. Er brüllte etwas von einem verdammten Kreuz, sprang noch einmal auf und trat zu. Der Tritt erwischte mich am Kopf. Und diesmal löschte er mein Bewußtsein aus. Daß ich weggeschleift wurde, in die Dunkelheit unter den Bäumen, kriegte ich nicht mit. Für mich war erst einmal Sense… *** Neben einer Imbißbude, wo frierende Menschen standen und ihr Essen in sich hineinschlangen, blieb Father Ignatius stehen. Er schob den Ärmel des Mantels zurück, blickte auf die Armbanduhr und schaute dann Suko an. »Schon eine halbe Stunde vorbei…« »Ich weiß.« »Und wir haben noch immer keine Spur, Suko.« Der Inspektor konnte sich ein knappes Lächeln nicht verkneifen. »Hast du denn damit gerechnet?« »Wenn ich ehrlich sein soll, schon. Ich habe gedacht, sie würden zumindest mich zu sich holen. Da scheine ich wohl einem Irrtum erlegen zu sein.« »Wie man’s nimmt.« »Wie meinst du das?« »Es wäre doch möglich, daß man dich und mich bereits entdeckt hat. Nur haben wir davon nichts bemerkt. Die anderen sind zumindest von der Menge her im Vorteil. Sie können sich hier auf dem Gelände verteilen und sich gegenseitig Bericht erstatten. Rechne damit, daß sie uns gefunden haben.« »Okay, ich finde mich damit ab. Aber was ist mit Santerre? Glaubst du, daß er auch unterwegs ist?« »Möglich.« Ignatius schaute sich um. »Wenn ja, weiß er genau, wie er sich verhalten muß.« »Wie denn?« »Ich kann mir vorstellen, daß er sich bereits in der Nähe des Riesenrads aufhält.« Suko hatte begriffen. »Das heißt mit anderen Worten, daß du dorthin willst.« »Wir sollten es zumindest in Erwägung ziehen.«
»Aber nach unserem Treffen mit John.« »Das versteht sich.« Beide Männer standen nicht allein nahe der Imbißbude. Die anderen Esser schauten sie an, während sie kauten, denn ein Pfarrer und ein Chinese fielen selbst an einer Stelle wie dieser auf. Hinzu kam, daß sie nichts aßen. Beide fingen die Blicke auf, taten sie aber als normal ab. Sogar der Griller und Bräter der Bude warf ihnen hin und wieder einen Blick zu. Er trug eine weiße Jacke und um den Hals einen Schal. Die Mütze auf seinem Kopf sah aus wie ein kleines Schiff. »Laß uns weitergehen«, schlug Father Ignatius vor. »Hunger hast du nicht?« »Soll ich dir darauf eine Antwort geben?« Suko lächelte nur. Beide verließen im wahrsten Sinne des Wortes den Dunstkreis der Imbißbude und schlenderten weiter wie zwei Müßiggänger. Suko hatte dem Mann aus Rom die Führung überlassen. Ob bewußt oder nicht bewußt, irgendwo zog es den Father schon in Richtung Riesenrad, das den gesamten Prater beherrschte und seinem Namen als Wahrzeichen alle Ehre machte. Er drehte sich und brachte die Gondeln in ihren Kreisverkehr. Sie sahen aus wie gewaltige Lichtschaukeln, und jede Gondel wirkte wie eine kleine Welt für sich. Das Gestänge war mit unzähligen Glühbirnen bestückt und ähnelte einem leuchtendem Stern. Suko hielt die Augen offen. Es waren die unterschiedlichsten Typen unterwegs. Nicht alle gehörten zu den Sumpfblüten der Nacht. Zu dieser Stunde war der Prater auch noch von Touristen besucht. Ein Besuch auf diesem Jahrmarkt gehörte einfach zum Programm dazu. Viele waren auch mit Bussen hergebracht worden, denn mit dem Gang über den Prater endete so manche Stadtrundfahrt. Ignatius ballte beide Hände zu Fäusten und schlug damit durch die Luft. »Nichts«, sagte er, »keine Spur dieser elf Typen. Ich habe allmählich den Eindruck, als hielten sie sich bewußt versteckt. Vielleicht wissen sie auch, daß wir ihnen gefährlich werden können.« »Das wäre nicht schlecht.« »Meinst du, sie würden einen Rückzieher machen?« »Ja.« »Daran glaube ich nicht.« Sie gingen weiter, bis sie in den zuckenden Lichtschein einer Geisterbahn gerieten. Dort blieben sie wieder stehen und schauten sich die Menschen an. Es gab sie, und alle waren auch verschieden, aber sie sahen keinen dieser elf Apostel.
Suko atmete tief durch, was Ignatius hörte. »Jetzt fängst du auch an zu überlegen.« »Das tue ich schon die ganze Zeit über.« »Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« Der Inspektor hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich könnte mir vorstellen, daß wir beide gar nicht mehr so wichtig für sie sind.« »Dann bliebe John übrig.« »Genau.« Nach einer Schweigepause nickte Ignatius. »Irgendwo hast du schon recht, Suko. John bleibt übrig. Und ich könnte mir vorstellen, daß sie es bewußt auf ihn abgesehen haben, denn Santerre weiß von ihm. Er hat John in diesem Haus gesehen, das er sich als Schlupfwinkel für sich und seine Bande ausgesucht hatte. Er wird also genau wissen, wer sein eigentlicher Gegner ist.« »Um so besser für uns. Da können wir aus dem Hinterhalt kommen und zuschlagen.« »Stimmt auch wieder.« Ignatius lachte. »Alles Theorie, Suko, alles nur Theorie.« Er blieb stehen. »Wir sollten einen Bogen schlagen und zu dieser Spielhalle gehen.« »Einverstanden.« Ignatius warf dem Rad noch einen letzten Blick zu, als wollte er von ihm Abschied nehmen. Dann drehten ihm beide Männer den Rücken zu und näherten sich dem verabredeten Ziel. Eine Gruppe lachender Teenager schlenderte an ihnen vorbei. Die Mädchen hatten sich eingehakt und bildeten eine Schlange, als wollten sie sich so beschützen. Einige von ihnen aßen Zuckerwatte, andere kauten oder leckten an kandierten Äpfeln und anderem Obst, jedenfalls hatten die jungen Damen ihren Spaß. An der Sprache hörten beide, daß sie aus Holland stammten. Sie mußten noch einmal um die Ecke biegen, wo ein Kinderkarussell eingemottet stand, nun ein paar Schritte laufen, und dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Durch die Glaswände der Spielhalle drang das Licht nach draußen und ging in der grellen Außenbeleuchtung unter. Die Halle war recht gut gefüllt. Auch sogenannte Nichtspieler hielten sich dort auf, um zu schauen oder sich aufzuwärmen. Manche lehnten an den Wänden, qualmten, tranken aus irgendwelchen Flaschen oder Bechern oder glotzten stumpfsinnig ins Leere, als stünden sie unter Stoff. Andere wiederum hingen wie Klammeraffen vor den Automaten oder beschäftigten sich mit irgendwelchen Video-Spielen. Selbst die alten Kickerapparate waren noch vorhanden, und es wurde auch an ihnen gespielt. Den meisten Zulauf erhielten die Simulationsspiele, wo jemand als großer Held gegen irgendwelche Monstren aus dem Weltraum kämpfen konnte oder andere Menschen jagte.
Da wurde mit Pistolen, Gewehren und Maschinenpistolen geschossen. Das Blitzen und Krachen törnte die Spieler an. Es sorgte dafür, daß sich jeder als Held fühlen konnte, und niemanden störte der fade Beigeschmack, den diese Art von Spielen mit sich brachte. Suko hatte jeden Winkel der Halle durchsucht. Als er sich wieder umdrehte, hob er die Schultern. »John ist auch in der Halle nicht zu sehen.« »Wie spät ist es eigentlich?« »Einundzwanzig Uhr genau!« »Dann hätte er längst hier auftauchen müssen.« Ignatius nickte ernst. »Sehr richtig.« Suko schaute sich in der Umgebung um. Er sah zahlreiche Besucher, denn hier hatte sich so etwas wie ein Zentrum herauskristallisiert. Von John Sinclair jedoch entdeckte er nichts. »Ich fange an, mir Sorgen zu machen«, sagte Ignatius. »Wie lange sollen wir ihm noch geben?« »Fünf Minuten.« »Und dann?« »Wolltest du nicht zum Rad?« »Ja, schon«, murmelte der Father, »dort wollte ich hin. Nur frage ich mich, wer uns garantiert, daß wir unseren Freund auch dort finden?« »Niemand, Ignatius. Es ist immerhin eine Möglichkeit. Wir können aber nicht den ganzen Prater nach ihm absuchen. Wenn sie ihn erwischt haben, werden sie ihn auch versteckt haben.« »Das stimmt auch wieder.« »Außerdem ist John jemand, der sich wehren kann. Er hat schließlich gewußt, was ihn erwartet. Er wird sich darauf eingestellt und auch gewehrt haben.« »Denkst du auch an die Übermacht?« »Sicher.« »Dann ist es gut.« Ignatius schaute zu Boden. Eine Hand hielt er in der Tasche seines Mantel vergraben. Wenn Suko genau hinhörte, vernahm er das leise Klicken der Perlen, und er wußte, daß Ignatius einen Rosenkranz in der Hand hielt. Vielleicht war es gut, wenn sie beteten, denn jemand wie Santerre würde kein Erbarmen kennen. Auch er hatte sich noch nicht gezeigt. Beide gingen sie davon aus, daß er sich auch nicht zu zeigen brauchte. Er war die Gestalt im Hintergrund, die die Fäden in den Händen hielt und nur daran zu ziehen brauchte, um irgendwelche Menschen wie Puppen tanzen zu lassen, zumindest diejenigen, die er sich als seine Helfer ausgesucht hatte. »Die zwölf Schwarzen Apostel«, murmelte Suko. »Wenn ich mich recht erinnere, heißt Apostel nichts anderes als Gesandter – oder?« »Das stimmt.«
»Dann sind auch unsere Feinde Gesandte.« »Aber die des Teufels«, flüsterte Ignatius und zog seine rechte Hand wieder aus der Tasche. »Ich denke, daß es keinen Sinn mehr hat, hier noch länger zu warten. Ich bleibe dabei, daß wir zum Riesenrad gehen sollten, und das weiß John ja auch.« »Gut.« Suko nickte. Father Ignatius schaute ihn an. Das Lachen, die Stimmen und der übrige Lärm um sie herum schien ihnen meilenweit entfernt zu sein. »Santerre ist stark, mein Freund. Wir sollten nie vergessen, daß er die Zeiten überlebt hat. Und es kann sein, daß er auch uns überleben wird. Ich fühle innerlich, daß es nicht gutgeht.« Suko schwieg, denn ein Wort des Trostes wäre kaum über seine Lippen gedrungen… *** Etwas Feuchtes klatschte links und rechts gegen mein Gesicht, als wäre ein Hund dabei, mich mit seiner Schnauze zu traktieren. Ich ekelte mich vor der Berührung, aber es war noch nicht so direkt zu merken, mehr ein tiefes Gefühl, ein Blitz im Kosmos der Erinnerung. Stimmen… Von weit her drangen sie an meine Ohren. Ich bekam nicht mit, was sie sprachen. Sie waren eben da, und ich hatte mich damit abzufinden. Wieder klatschte etwas in mein Gesicht, diesmal war es kein feuchter Lappen gewesen, sondern eine flache Hand, und ich merkte sehr schnell, wie meine Wangen anfingen zu brennen. So rücksichtslos diese Methode auch war, sie hatte Erfolg, und ich fing an, mich zu bewegen. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, es war nicht mehr als ein Flattern, aber die anderen bekamen es genau mit. Eine deutliche Stimme war zu hören. Worte, die mit einem Lachen unterlegt waren. »Er kommt zu sich.« »Klasse.« »Dann hat er doch…« »Halt dein Maul!« Die andern wurden still, und ich konnte mich wieder auf mich selbst konzentrieren. Noch immer lag ich da wie ein Sack, und mein Kopf schien stark angeschwollen zu sein. Zwei Treffer hatten mich erwischt, und mir fiel auch wieder ein, daß ich in eine Falle gelaufen war. Die Übermacht war einfach zu groß gewesen, ich war gegen diese Heimtücke nicht angekommen. »Am liebsten würde ich ihn zerhacken!« flüsterte jemand. »Dieses Schwein hat mich getreten und geschlagen. Eigentlich gehört er mir, Daniel. Du wirst ihn…«
»Du hältst dein Maul, verdammt! Er gehört Santerre und nicht dir. Verstanden?« »Schon gut.« Ich hatte alles mitbekommen und fühlte mich ziemlich unwohl. Wie hätte es auch anders sein können? Ich befand mich in der Gewalt dieses Schwarzen Apostels, und er würde nicht viel Aufhebens mit mir machen. »Gib mal eine Kerze!« verlangte Daniel. Daß er sie bekommen hatte, bemerkte ich sehr bald, denn hautnah strich die Flamme an meinem Gesicht entlang, als sollte sie mir die Augenbrauen abbrennen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen, und das Zucken auf meinem Gesicht fiel Daniel auf, denn er lachte und nahm die Hand mit der Kerze zurück. »Unser englischer Freund ist wach. Wahrscheinlich schon länger. Der hat uns nur verarscht, der Hundesohn. Wenn ich dir jetzt eine Frage stelle und ich keine Antwort von dir bekomme, zünde ich dir dein Haar an. Ist das klar?« »Ich habe verstanden.« Nach meiner Antwort hallte das Lachen durch den Raum, und ich öffnete die Augen zum erstenmal normal weit. Licht umgab mich, dafür sorgten einige Kerzen, deren Dochte von kleinen Flammen umhüllt waren. Sie standen auf den Tischen, ihr Geruch wehte durch einen Raum, den ich nur aus der Froschperspektive sah, wobei mir trotzdem auffiel, daß ich mich in einem Lokal oder einer Kneipe befand. Ich erinnerte mich trotz meiner Kopfschmerzen auch daran, daß ich durch die Ritzen der geschlossenen Läden die weichen Lichtschimmer gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte man mich in dieses im Winter leere Lokal geschafft, das so etwas wie ein Hauptquartier dieser Bande sein mußte. Ein Versteck für zwölf Schwarze Apostel, die mich auch umstanden, wobei sie allerdings einen etwas weiteren Kreis gezogen hatten, um ihrem Anführer, Daniel, genügend Platz zu lassen. Nein, das konnte nicht der eigentliche Anführer sein. Der war ein anderer, der hieß Santerre, aber ihn konnte ich bei allen Bemühungen nicht entdecken. Er war da, zumindest in der Nähe, davon ging ich einfach aus, und er würde sich zeigen, wenn es soweit war und er es für richtig hielt. Ich wußte auch nicht, wieviel Zeit seit dem Niederschlag vergangen war. Aber ich dachte an Ignatius und Suko, die sicherlich voller Sorge an dieser Spielhalle auf mich warteten. Daniel stand neben mir. Er hatte die Kerze wieder zur Seite gestellt. Das übrige Licht reichte allerdings aus, um ihn für mich gut sichtbar zu machen. Sein Gesicht zeigte Triumph. In den Augen schimmerte es. Sichtbar trug er keine Waffe an der Lederkluft, die mit silbernen Abzeichen übersät war, wobei mir keines
gefiel, denn sie alle standen auf der anderen Seite. Das fing bei dem kleinen Totenkopf an und hörte bei den Kreuzen auf, deren Spitzen nach unten wiesen. Daniel und seine Kumpane waren Verblendete, sie waren aber keine Dämonen. Man hatte sie eingefangen wie Ratten. Derartige Typen gehörten zu den Personen, die den falschen Propheten leicht auf den Leim gingen und immer wieder eine große Beute für sie waren. Ich wußte, daß es mir wohl kaum gelang, sie mit Worten zu überzeugen, dafür steckten sie bereits zu tief in diesem magischen Sumpf. Taten würden auch nicht helfen. Sie hatten sich einmal entschieden, und sie würden auf der anderen Seite bleiben. Daniel genoß seinen Triumph. Noch immer blieb er so vor mir stehen, daß ich an ihm hochschauen mußte. Sein Mund zeigte ein Grinsen, als er langsam unter seine Jacke griff und die Hand am Gürtel entlang nach links schob, weil er dort etwas hervorholen wollte. Es war eine Waffe. Im ersten Moment durchfuhr mich ein Hitzeschauer, denn ich erkannte meine eigene Beretta wieder. Klar, daß er sie an sich genommen hatte, hätte ich auch getan, und Daniel hatte die Veränderung an mir bemerkt. »Na, was sagst du?« »Nichts.« »Hatte ich mir gedacht.« Er wog die Waffe in der Hand. »Jetzt bist du wehrlos, Sinclair, so heißt du doch?« »Sicher.« »Sehr wehrlos sogar«, fuhr er fort, »denn die Pistole ist nicht alles, was ich dir abgenommen habe. Ich wußte, was ich noch nehmen mußte, man hat es mir gesagt, und hier ist es!« Er sprach die letzten Worte aus, als würde er sich davor ekeln. Seine Hand hatte er bereits in die Tasche geschoben. Rasch kam sie wieder zum Vorschein, und dann, als er sie senkte und die Faust öffnete, sah ich mein eigenes Kreuz, das auf der Handfläche lag. Daniel lachte. »Erkennst du es? Schau es dir an. Hat es nicht dir gehört?« »Ja.« »Und jetzt gehört es mir, Hundesohn. Aber ich werde es nicht lange behalten. Ich werde es irgendwann fortschleudern, einfach wegwerfen, damit du kein Unheil mehr anrichten kannst.« Sein Gesicht verzog sich, der Mund stand plötzlich schräg, als er zischte: »Ich mag es nicht! Ich hasse es! Es ist widerlich! Aber ich tue damit einem anderen einen großen Gefallen, und er wird sich dafür erkenntlich zeigen.« Mit seinem letzten Satz hatte er mich auf eine Idee gebracht. »Glaubst du das wirklich?« »Ja, das glaube ich.« »Ihr solltet nachdenken«, flüsterte ich und hätte gern einen Schluck Wasser getrunken, weil meine Kehle so aufgerauht war. »Ihr solltet
wirklich nachdenken, denn was immer ihr vorhabt, es ist der falsche Weg. Der Weg in die Verdammnis wird auch die Verdammnis bringen, verflucht noch mal! Alles, was euch versprochen worden ist, wird sich als eine Luftblase auflösen, denn derjenige, den ihr als euren Freund und Meister anseht, hat nur sich selbst im Auge. Er mußte dem Satan gegenüber sein Versprechen erfüllen, und dazu gehört auch der Weg in die Verdammnis. Er hat in euch dumme Opfer gefunden.« Der Triumph verschwand aus Daniels Gesicht. Er schuf Wut und Ärger Platz. Ich befürchtete schon, zuviel gesagt zu haben und rechnete mit einer bösen Reaktion, aber er tat nichts dergleichen. Er starrte mich nur an. »Du kannst keinen Keil zwischen uns treiben, du nicht! Wir wissen Bescheid, wir werden den Weg gehen, an dessen Ende der Ruhm allen anderen Glanz überstrahlen wird. Begreifst du das? Kannst du fassen, daß du auf das falsche Pferd gesetzt hast?« »Nein, ich sitze auf dem richtigen.« Er lachte mich aus, und die anderen stimmten in dieses Gelächter mit ein. »Wer bist du denn? Schau dich doch an! Du liegst hier auf dem Boden, du bist ein Nichts. Du bist nicht mehr als ein Wurm, der bald zertreten wird. Das ist alles. Du hast versucht, dich gegen Santerre zu stemmen, aber er ist zu stark. Er hat die Kraft der Hölle in sich, und er wird dich vernichten!« »Vielleicht«, gab ich zu. »Aber er wird auch euch nicht am Leben lassen. Damit er weiter existieren kann, wird er euch töten müssen. Der Weg in die Verdammnis ist nur eine Umschreibung für den Weg in den Tod. Begreift das doch! Ihr seid zu jung, um zu sterben. Ihr fühlt euch großartig, weil er euch als Schwarze Apostel bezeichnet hat. Aber das seid ihr nicht. Ihr seid zwar seine Begleiter, aber er wird es tun müssen, damit er überleben kann. Er hat es dem Teufel versprochen. Glaubt nur nicht, daß ihr die ersten seid, die diesen Weg gehen. Es gab schon einmal eine Gruppe von >ApostelnFutter< eingedeckt. Andere gingen schon voraus und kamen auf Suko zu. Waren Sie es? Benahmen sie sich wie Besucher, die zu einem Imbiß griffen, um ihren Hunger zu stillen? Es konnte sein, und deshalb ging Suko auch keinen Schritt zur Seite. Er hätte es tun sollen, so aber fiel er den Typen durch sein Stehenbleiben auf. Sehr schnell waren sie plötzlich bei ihm. Der Inspektor sah sofort, daß es nicht die Richtigen waren. Vor ihm hielt sich eine Horde angetrunkener Besucher auf, die der genossene Alkohol aggressiv gemacht hatte, ähnlich wie Hooligans bei einem Fußballspiel. Er wollte zurück. Leider aber hatte er den richtigen Zeitpunkt verpaßt, denn der war den anderen aufgefallen. »He, Schlitzauge, was treibst du dich hier in der Zivilisation herum. Hau ab nach Asien!« Suko ging zurück. »Okay, ihr habt recht. Ich werde auch gehen.« Er streckte seine Arme vor und spielte weiterhin den Ängstlichen. »Ja, ich werde verschwinden. Ihr könnt euch darauf verlassen. Ich ziehe mich zurück, es wird alles okay werden. Klar?« »Nichts ist klar, Chinese!« Sie wollten ihn fertigmachen. Sie hatten ein Opfer gesucht und es gefunden. Ihnen kam entgegen, daß Suko allein war, und gegen sechs Mann würde er nichts ausrichten können. Polizeistreifen befanden sich nicht in der Nähe. Zudem war es an diesem Ort ziemlich dunkel, und einer aus der Gruppe gab vor seinen Worten
ein hohes Kichern ab. »Wie wäre es, wenn wir den Chink so richtig aufmischen, Freunde?« »Prima Idee!« »Los, dann!« Suko hatte es nicht gewollt. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Er wußte, daß er wertvolle Minuten verlor, die entscheidend sein konnten, aber er mußte an diesem Ort eine Entscheidung treffen. Floh er, würden sie ihm auf den Fersen bleiben. Angetrunken waren alle. Die einen mehr, die anderen weniger. Aber auch diejenigen, die mehr getrunken hatten, durfte der Inspektor nicht unterschätzen. Einer versuchte es sofort. Es war ein Kerl mit langen, fettigen Haaren, der Suko ansprang. Im Kino hatte er wohl gesehen, wie es die Karatekämpfer taten, das versuchte er auch, nur wirkte es bei ihm lächerlich, als er in die Höhe sprang, um Suko ins Gesicht zu treten. Hoch genug kam er, aber er war zu langsam. Der Inspektor griff nahezu lässig hin. Plötzlich schrie der Kerl auf, als sein Fuß herumgedreht wurde, während er sich noch mitten im Sprung befand, sich in der Luft drehte, wobei die Arme umherwirbelten und dann mit einem satten Laut zu Boden klatschten. Er biß sich dabei noch auf die Zunge, schrie erst, dann jammerte er, aber für seine Kumpane war sein Schicksal keine Warnung. Suko ließ sie kommen. Sie waren es gewohnt, sich zu prügeln, aber sie waren keine ausgebildeten Kämpfer, sondern nur Typen, die in Stadien oder auf Straßen ihre Auseinandersetzungen führten. Bei Suko trafen sie auf einen ausgebildeten Spezialisten. Wenn einige von ihnen davon geträumt hatten, sich so zu bewegen wie Bruce Lee, so mußten sie jetzt erkennen, daß es Suko war, der diese Technik beherrschte, nicht sie. Einen zweiten säbelte er nieder, einen dritten packte und wuchtete er hoch, bevor sich der Kerl überhaupt versah, was da mit ihm passierte. Suko warf ihn sofort in den Pulk der anderen hinein, und dieses lebende Wurfgeschoß riß die drei um. Sie kamen wieder hoch. Sie fluchten. Zwei lagen am Boden, vier waren noch übrig, oder vielmehr dreieinhalb, denn das lebende Wurfgeschoß hatte arge Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Die anderen drei standen bereits, und Suko schickte ihnen eine letzte Warnung entgegen. »Laßt es lieber bleiben, es ist besser!« Sie wollten nicht hören. Sie kamen heran. Diesmal langsamer, schleichend, und sie wollten auch einen leichten Bogen schlagen, wobei sie von ihrem Kumpan, den Suko als ersten zu Boden geschickt hatte, noch angefeuert wurden. »Macht ihn fertig, das Schlitzauge! Stecht ihn zusammen!« Diese Aufforderung war wörtlich gemeint, und einer aus der Gruppe zog ein Messer.
Er war klein, sehr wendig, heimtückisch und kam wie eine Schlange auf Suko zu. Sein Mund stand offen, er keuchte. Auch die Augen waren weit geöffnet. Darin schimmerte das Weiße. Dieser Typ stand unter Strom, er würde killen und sich danach freuen. Suko fingierte. Der Messerheld schaute nach rechts. Da war Suko bereits bei hm. Nicht mit der Hand, mit dem Fuß machte er es. Der Schuh rammte in das Gesicht des jungen Mannes. Ein harter Tritt schleuderte ihn zurück, er fiel auf den Rücken, und Suko ließ nicht nach. Wie ein Unwetter kam es über die anderen beiden. Diesmal traten seine Handkanten in Aktion. Bevor die Kerle überhaupt wußten, wie ihnen geschah, lagen sie am Boden. Sie zuckten noch, dann fielen sie wie die Puppen, und der Messerheld hielt seine freie Hand auf das blutige Gesicht gepreßt. Er bekam kaum mit, wie Suko ihm die Waffe aus der Hand nahm und sie einsteckte. »Das hättest du dir sparen können!« Der Knabe heulte nur. Die anderen hatten genug. Suko erklärte ihnen, daß sie ihre Kumpane einsammeln und verschwinden konnten. Er drohte auch, daß die nächste Begegnung härter ausfallen würde. Dann ging er weg. Vor ihnen würde er Ruhe haben, das stand fest. Solchen Typen mußte man zeigen, wo es langging, dann hatte man auch Ruhe vor ihnen. Suko selbst würde keine Ruhe haben; das wußte er genau, denn ihm kam es darauf an, so schnell wie möglich sein Ziel zu erreichen, denn die Sorgen um John und auch Ignatius waren nicht kleiner geworden. Er eilte um das Riesenrad herum. Aufgehalten wurde er nicht, denn die Gegend war beinahe menschenleer. Und an der linken Seite wuchs das Riesenrad mit seinen schaukelnden Gondeln in die Höhe, die beleuchteten Käfigen ähnelten. Waren sie der neue Weg in die Verdammnis? Die Vorstellung daran ließ Suko schaudern. Er schaute unwillkürlich hoch zu den Gondeln, die sich ganz oben bewegten und genau in diesem Moment stehenblieben. So hatten die Fahrgäste einen herrlichen Blick über das nächtliche Wien, dessen Häusermeer vom Glanz der Lichter überstrahlt wurde. Daran dachte Suko nicht. Er hatte andere Sorgen, als er mit langen Schritten dorthin eilte, wo Ignatius auf ihn wartete. Aufgehalten wurde er nicht mehr. Es gab keine Gruppen, die es darauf abgesehen hatten, Ausländer niederzumachen. Der Weg war frei, und der Schatten des Riesenrads näherte sich ihm, als er wieder in dessen Nähe geriet. Wo stand Ignatius?
Suko schaute nicht zur Kasse hin, obwohl er von dort Stimmen hörte. Der Father war wichtiger. Er lief noch einige Meter weiter und blieb erst stehen, als er den Ort erreicht hatte, wo Ignatius auf ihn warten mußte. Suko fand ihn. Nur lag Father Ignatius am Boden, ohne sich zu rühren. Während Suko in die Knie sackte, schoß ihm durch den Kopf, daß Ignatius so aussah wie ein Toter. Santerre! Das mußte Santerre gewesen sein, der Suko überrascht hatte. Er stöhnte auf, als seine Finger am Hals des Bewegungslosen entlangglitten. Er fühlte nach der Schlagader, er drückte dem Father die Daumen – und konnte aufatmen, als er feststellte, daß Ignatius nur bewußtlos und nicht tot war. Jemand hatte ihn kurzerhand niedergeschlagen. Suko wollte nicht an Santerre glauben, der hätte einen Feind wie den Father eigentlich schnell und sicher getötet. Seine Helfer, die Schwarzen Apostel? Suko schnellte wieder hoch und drehte sich noch in der Bewegung. Sein Blick flog zum Eingang des Riesenrads hin, denn genau dort befand sich auch das Kassenhaus. Davor drängten sich die Besucher. Es waren die Schwarzen Apostel, der letzte von ihnen bestieg soeben eine Gondel. *** Wir standen uns gegenüber! Auf der einen Seite Santerre, der seinen Triumph nicht verleugnen konnte, auf der anderen ich, und ich mußte immer daran denken, daß ich gefesselt war. Die harten Ringe drückten gegen meine Hand. Ich war waffenlos, ich besaß auch das Kreuz nicht mehr, aber vor mir stand eine Unperson, die schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hatte und trotzdem noch lebte. Wobei man den Begriff Leben nicht wörtlich nehmen durfte, denn ich ging davon aus, daß diese Person nur mehr existierte. Er schaute mich an. Und das Licht reichte aus, um noch sein Gesicht erkennen zu können. Durch den Rand der Kapuze war es eingerahmt und sah für mich immer mehr aus wie ein altes Gemälde, in das der Maler alles hineingezeichnet hatte. Jede Furche, jede Mulde, Rinde wie von einem knorrigen Baumstamm, einfach schlimm. Die Furchen schimmerten grau, grünlich und auch leicht gelb. Der Mund bestand aus einer klaffenden Öffnung, und ich merkte auch, daß mir ein
Geruch entgegenströmte, der mich schaudern ließ. Er war einfach widerlich, so daß ein gewisser Ekel in mir hochstieg. Hinzu kamen die Augen! Keine menschlichen. Etwas anderes war da in seine Höhlen hineingedrückt worden. Glas oder vielleicht eine gallertartige Masse? Möglicherweise traf beides zu, aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich spürte nur den Triumph dieser alten Gestalt, und ich sah auch, wie er die Lippen bewegte. »Diesmal wirst du mir nicht entkommen. Ich weiß, daß du mich gejagt hast, das aber ist vorbei und vergessen. Ich bin derjenige, der dich vernichten wird, und ich werde dich mitnehmen auf den Weg in die Verdammnis. Was für meine Freunde zum Segen werden wird, das endet für dich mit dem Tod.« »Und deine Diener glauben daran?« »Ja, weil sie auch an die Kraft der Hölle glauben. Wer von den Menschen nur betrogen wird, der muß sich einen anderen Partner suchen, um zu überleben.« »Die Hölle?« höhnte ich. »So ist es.« »Niemals, Santerre, und das weißt du genau. Niemals ist die Hölle oder der Teufel ehrlich zu Menschen gewesen. Wer sich damit einläßt, muß wissen, daß er sein Leben, sein irdisches zumindest, verloren hat. Die Hölle ist anders, sie verlangt nur, aber sie gibt nicht. Das sollten deine Diener wissen. Auch die Schwarzen Apostel werden durch den Satan nicht das ewige Leben erhalten. Der Weg in die Verdammnis wird zu ihrem Ende werden, darauf kannst du dich verlassen!« Die Worte hatten Santerre nicht geschmeckt. Seine Hand zuckte in die Höhe. Ich rechnete mit einem Schlag. Tatsächlich aber faßte er nur nach der puddingartigen Haut in seinem Gesicht, drehte sie für einen Moment zwischen den Fingern und zog sie dann ab. Ich wollte ihn nicht noch mehr provozieren, deshalb fragte ich auch nicht, wer ihm diese Verletzung beigebracht hatte, statt dessen kam ich auf das Ereignis zu sprechen, über das mich Ignatius aufgeklärt hatte. »Wie ist es denn damals gewesen, Santerre, als schon einmal elf deiner Schwarzen Apostel den Weg in die Verdammnis beschritten haben? Kannst du dich daran noch erinnern, oder willst du es nicht? Soll ich deinen neuen Freunden die Wahrheit sagen?« »Du wirst gar nichts. Du wirst einsteigen!« Der Mann an der Kasse hatte mitgehört. Für ihn war wohl alles etwas befremdend, doch er sah keinen Grund, etwas zu unternehmen. Nur drängte er uns, endlich einzusteigen. »Ja, das ist gut«, sagte Daniel, der neben mir stand. »Laß uns endlich einsteigen!«
Auch Santerre hatte ihn gehört. Sein Mund zeigte plötzlich ein wissendes und zugleich böses Grinsen. Dann nickte er, riß die Tür zur Seite und betrat als erster die Gondel. Ich war der zweite. Fäuste drückten gegen meinen Rücken und schoben mich voran. Schon bald befand sich unter meinen Füßen der Holzboden. Ich sah in der Mitte der Gondel den Holztisch, ich sah auch die beiden Holzbänke an den Längsseiten und natürlich die breiten Scheiben, die sich öffnen ließen. Ich hatte mich unwillkürlich verkrampft und war dabei leicht ins Stocken geraten, was den Typen hinter mir nicht gefiel. Der nächste Tritt erwischte mich härter, und ich stolperte in die Gondel hinein. Aus der Bewegung heraus drehte ich mich und fiel auf einen der Sitze nieder. Die anderen elf drängten sich ebenfalls in diesen schwingenden Holzkasten hinein. Sie verteilten sich, aber sie blieben so stehen, daß sie mich im Auge behalten konnten. Das leichte Schaukeln verebbte. Der letzte knallte die Tür zu und legte den Riegel vor. Jetzt waren wir unter uns! Am Fenster stand Santerre. Nur der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. In sie war ein kalter Glanz getreten, als wäre irgendwelches Höllenwasser, vorausgesetzt, es gab so etwas, eingefroren. Sekunden wurden mir lang, und trotzdem verging die Zeit sehr schnell. Keiner sprach ein Wort. Jeder wartete darauf, daß sich die Gondel endlich in Bewegung setzte. Der Ruck. Wir schaukelten für einen Moment. Ich hatte mit meinen gefesselten Händen Mühe, das Gleichgewicht auf der schmalen Holzbank zu halten. Dann erwischte uns der nächste Ruck. Er war gleichzeitig der Start. Der Weg in die Verdammnis hatte begonnen!. *** Für Suko stand fest, was dort beim Stopp der Gondeln abgelaufen war. Sie hatten so lange warten müssen, um den neuen Fahrgästen die Gelegenheit zu geben, einzusteigen. Diese Fahrgäste waren die Schwarzen Apostel, die endlich ihren Weg in die Verdammnis gehen wollten. Auch Suko wußte von Father Ignatius’ Visionen. Plötzlich konnte er sich vorstellen, daß diese zu einer grausamen Wahrheit wurden. Flammende Gondeln, Leichen rund um das Riesenrad verteilt, eine mörderische Apokalypse auf dem Prater.
Bilder des Schreckens huschten vor seinem geistigen Auge umher, während er mit aller Kraft versuchte, die Gondel noch zu erreichen und die Fahrt mitzumachen. Es war nicht mehr zu schaffen! Suko eilte durch den Gittergang. Die Hälfte der Strecke hatte er hinter sich, als bereits die Tür der Kabine zugezogen wurde. In den folgenden Sekunden würden sie starten, das wußte Suko, und so entschloß er sich zu einem Akt der Verzweiflung. Er dachte auch nicht mehr normal darüber nach. In seinem Gehirn hatte sich ein bestimmter Gedanke festgefressen, und der wiederum deutete auch nur auf einen bestimmten Weg oder eine einzige Möglichkeit hin, denn eine andere gab es nicht. Suko wußte nicht, ob er sich an die Unterseite der Gondel hängen konnte. Ob es dort so etwas Ähnliches wie Griffe gab, die für einen Halt sorgten, deshalb blieb ihm nur die Möglichkeit, die nächste Gondel zu entern und so die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht konnte er unterwegs von einer zur anderen klettern, ein waghalsiges Unternehmen, aber er sah keine andere Möglichkeit. Der Mann an der Kasse saß vor Schreck starr, als Suko vor ihm auftauchte. »Die nächste Gondel!« rief er, warf einen Geldschein durch den Schlitz, sah das Nicken des Mannes, der das Rad dann stoppte, damit Suko einsteigen konnte. Auch die Gondel vor ihm hatte angehalten, wie Suko beim Einsteigen erkennen konnte. Sie war bis auf den letzten Platz besetzt, während er allein fuhr. Er hatte die Kabine kaum betreten und die Tür zugezogen, als er sich duckte, um durch die Fenster nicht gesehen zu werden. Das Holz gab ihm Deckung. Auch er spürte den Ruck. Danach den zweiten. Und dann erst ging die Fahrt los, von der Suko nicht wußte, wie sie enden würde… *** Das wußte ich auch nicht, war aber irgendwo froh, daß unsere Kabine noch einmal hielt. Wahrscheinlich wollte noch jemand in die folgende Gondel einsteigen. Ich mußte nach links schauen, um sie sehen zu können, entdeckte aber keinen Fahrgast, deshalb wunderte ich mich, daß wir überhaupt angehalten hatten. Um mich herum standen die Schwarzen Apostel. Von ihnen konnte ich alles erwarten, nur nichts Gutes, und ein jeder von ihnen schaute mich an, wenn auch aus verschiedenen Richtungen. Ich entdeckte in ihren Augen kein Mitleid. Sie waren begierig darauf, den Weg in die Verdammnis zu gehen, endlich am Ziel ihrer Wünsche zu sein. Daß für sie der endgültige Tod lauern konnte, daran dachten sie
nicht, es war nur wichtig für sie, daß Santerre sie endlich in die höllische Glückseligkeit führte, und sie hier alles vergessen konnten. Die Fahrt ging weiter. Nicht sehr glatt zunächst, immer wieder abgestoppt durch ruckartige Bewegungen. Aber wir schwebten langsam hoch, und allmählich verschwand die unmittelbare Nähe der Buden und Fahrgeschäfte. Wie gewaltige Wesen aus den Wolken schwebten wir über ihnen und schauten auf die Dächer hinab. Santerre hatte mir den Rücken zugedreht. Er schaute in die Tiefe, seinen Platz hatte er dicht am Fenster gefunden. Mich brauchte er nicht zu beobachten, er konnte sich voll und ganz auf seine Schwarzen Apostel verlassen, die alles im Stich lassen würden, nur ihn, ihren Herrn und Meister nicht. Ich spürte ihre Nervosität und konnte mir vorstellen, daß ihnen die Fahrt in die Höhe ebenfalls komisch vorkommen mußte. Schließlich wußte keiner von ihnen, was mit ihnen geschah und dieser Santerre noch alles vorhatte. Es gab nur den Weg in die Verdammnis, aber wie er gegangen werden sollte, wußte keiner von ihnen, bis auf eine Ausnahme. Die Unruhe äußerte sich nicht durch Worte. Die Schwarzen Apostel blieben stumm, aber ich merkte sehr genau, daß sie sich anschauten, wie sie die Blicke wechselten, und ich sah auch das Unverständnis in ihren Augen, bei manchen sogar mit einer Portion Furcht gepaart. Jetzt, wo der Weg in die Verdammnis dicht bevorstand, kriegten einige der jungen Männer schon Hosenflattern. Ich fing einen Blick ihres Anführers Daniel auf. Seine Augen blieben bewegungslos. Er wollte meinem Blick auch nicht ausweichen und starrte mich neutral an. Das Rad bewegte sich langsam. Für normale Besucher möglicherweise zu langsam, für mich aber immer noch zu schnell, und ich überlegte, was passieren würde, um den Weg in die Verdammnis zu öffnen. Mir kam es vor, als hätte Santerre meine Gedanken gelesen, denn in diesem Augenblick drehte er sich um. Das Fenster befand sich jetzt in seinem Rücken. An mir zeigte er kein Interesse, nur an seinen Schwarzen Aposteln. »Es wird nicht mehr lange dauern!« erklärte er. »Es wird die letzte Fahrt des Rads für diese Nacht sein. Das weiß ich, das habe ich abgesprochen, und ich habe noch mehr getan. Ich habe dem Mann an der Kasse viel Geld bezahlt, und er ist auf das Geschäft und auf meine Wünsche eingegangen. Er wird das Rad anhalten, wenn es sich an der höchsten Stelle befindet. Dann wird es soweit sein, dann werden wir es verlassen. Ja, wir werden einfach aussteigen und in die Tiefe gehen…« Eigentlich hätten seine zwölf Helfer mit einem derartigen Ende rechnen müssen. Mich wunderte es etwas, wie überrascht und auch ängstlich sie waren. Plötzlich kam ihnen zu Bewußtsein, auf was sie sich da
eingelassen hatten, und sie konnten es nicht nachvollziehen, selbst Daniel nicht, auf den sich alle Augen richteten. Von ihm erwartete man eine Antwort. Doch er konnte sie so schnell nicht geben, er mußte erst das verdauen, was man ihm gesagt hatte. Sein Blick zeigte zwar keine Panik, doch er stand dicht davor, durchzudrehen. Ich kannte mich bei derartigen Menschen aus, sie wirkten, als würden sie jeden Augenblick etwas Schreckliches tun, doch Daniel schaffte es, sich zusammenzureißen. »Aber… aber…«, begann er. »Wieso in die Tiefe?« Seine Hand zuckte vor und deutete gegen die Scheibe. »Ich… ich… meine… wir können doch nicht einfach springen, wir würden uns den Tod holen und mit zerschmetterten Knochen unten…« »Den Tod?« »Ja, den Tod!« Santerre schüttelte den Kopf. »Nicht den Tod, sondern das Leben. Der Weg in die Verdammnis bedeutet für euch einen Neuanfang. Das ist der Einstieg nicht nur in das Leben, sondern in das ewige Leben, wenn ihr versteht.« »Wir verstehen nichts«, flüsterte Daniel. »Überhaupt nichts. Es kann nicht…« »Doch, es kann!« widersprach Santerre heftig. »Alles wird so werden, wie ich es mir vorgestellt habe. Das ist der neue Anfang, denn ich bin ihn schon gegangen, und ich habe überlebt. Ich bin einige hundert Jahre alt damit geworden, ich bin…« »Aber wir doch nicht!« »Was habt ihr geschworen?« Daniel senkte den Blick. Sicherlich dachte er an seinen Schwur, aber er sprach ihn nicht aus. Er behielt die Dinge für sich, er wollte und konnte nicht reden. Sekundenlang breitete sich ein betretenes Schweigen aus. Ich hörte nur die Atemzüge der Schwarzen Apostel, und sie hatten sich stark verändert. Sie klangen nicht mehr so locker, sondern drangen oft schwer und seufzend über ihre Lippen. Wir stiegen noch immer. Ich war noch nicht aufgestanden, meine Position war ungünstig. So konnte ich nicht erkennen, wann wir den höchsten Punkt erreichen würden und die Gondel stoppte. Nur hielt ich es für meine Pflicht, auch als Gefesselter einzugreifen und den jungen Menschen zu erklären, daß sie auf keinen Fall diesem Santerre gehorchen durften. »Er lügt«, sagte ich leise, aber doch so laut, damit jeder meine Stimme verstehen konnte. »Er lügt euch an. Jedes Wort, das er sagt, entspricht der Unwahrheit, das kann ich euch versichern. Es gibt keine Chance für euch, kein ewiges Leben, für ihn ja, denn ihr seid seine Knechte, und ihr werdet dafür sorgen, daß er das ewige Leben bekommt. Durch euren Tod werden dem Satan Seelen zugeführt, denn
sie sind einzig und allein ein Zeichen der Verbundenheit, das Santerre dem Höllenherrscher setzen will. Laßt euch nicht einlullen, fangt endlich an zu denken, und kehrt um, bevor der Weg in die Verdammnis erreicht ist!« Ich hoffte, daß meine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Zunächst einmal erntete ich keine Reaktion. Ich rechnete zumindest damit, sie nachdenklich gemacht zu haben, was sicherlich auch der Fall war, denn keiner von ihnen wagte es, auch nur ein Wort zu sagen. Eine Ausnahme gab es trotzdem – Santerre. Er trat einen Schritt vor und ging dabei genau in meine Richtung. Der junge Mann, der in seiner Nähe stand, schuf ihm Platz, und ich rechnete damit, daß er mich angreifen würde, aber Santerre hielt sich zurück. Er schaute nur auf mich nieder, als er anfing zu sprechen. »Ihr habt seine Worte gehört. Ihr habt genau mitbekommen, was er sagte. So wie er kann nur einer reden, ein Verlierer. Er hat einsehen müssen, daß er es nicht schaffen kann, deshalb wird er auch die letzte Möglichkeit nutzen, um euch von mir zu trennen. Es sind Ausreden, nur Ausreden, und es stimmt, daß jemand in die Tiefe fallen und auf dem Boden zerschmettert werden wird, wenn er aus der Gondel steigt. Aber nicht ihr werdet es sein, sondern«, Santerre streckte mir seinen rechten Zeigefinger entgegen, »er – er allein!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Santerre nein, ich kenne dich. Du willst auch weiterhin am Leben bleiben. Schon einmal hast du die Menschen in die Schlucht geschickt, aber dein Kredit ist aufgebraucht. Der Teufel verlangt neue Opfer, und diese Menschen befinden sich in dieser Gondel. Du hast sie dir ausgesucht, weil sie zu denen gehören, mit denen das Leben nicht eben freundlich umgesprungen ist. Es war leicht für dich, sie für deine Ideen zu begeistern, aber ich wiederhole noch einmal.« Jetzt schaute ich mich um. »Der Weg in die Verdammnis wird euch in den Tod führen. Ihr habt nicht die Spur einer Chance!« Santerres Gesicht bewegte sich. Es sah aus, als wäre die Rinde plötzlich aus Gummi. Im Loch seiner zerstörten Haut leuchtete weißlich der Gesichtsknochen, und die Augen bildeten plötzlich schillernde Kreise. Er beugte sich zu mir herunter. »Bald, Freund, bald werde ich dich hinausstoßen. Wir sind schon sehr hoch, und du hast doch nicht vergessen, was ich mit dem Mann an der Kasse abgemacht habe?« »Das habe ich nicht.« »Wie schön«, flüsterte er. »Viele haben versucht, mich aufzuhalten, aber niemand hat es bisher geschafft, und auch du wirst darin keine Ausnahme sein.« Ich blieb gelassen, obwohl es mir schwerfiel, denn Superman war ich beileibe nicht. Dennoch erhielt er von mir eine Antwort. Ich sprach direkt in sein zerfurchtes Gesicht hinein. »Und viele haben mir schon geschworen, mich zu vernichten, aber keinem ist es bisher gelungen. Ich
bin allem entwischt. Selbst der Teufel schaffte es nicht, denn ich konnte ihm Paroli bieten. Wenn du einen so guten Draht zur Hölle hast, dann würde ich ihn an deiner Stelle mal fragen.« »Das werde ich auch, aber erst, wenn du tot bist und er mir deshalb einen Sonderbonus einräumt.« Ich drehte den Kopf nach rechts. »Habt ihr es gehört? Er will, daß ihm der Satan einen Sonderbonus einräumt. Er wird ihn bekommen, wenn ich nicht mehr bin, aber ich sage euch, daß er sich irrt. Noch habt ihr die Chance zur Umkehr, vor allen Dingen du, Daniel. Es liegt in deiner Hand, die Zukunftsweichen für euch alle zu stellen. Es gibt nur zwei Alternativen. Entweder Tod oder Leben!« Daniel fühlte sich sichtlich unwohl, daß ich ihn so direkt angesprochen hatte. Auf seinem Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus, die auch vor dem Gesicht nicht haltmachte. Er schaute mich an und wechselte seinen Blick zu Santerre. Mochte er ihm noch vor kurzem wie ein Gott vorgekommen sein, das hatte sich nun geändert. Ich erkannte es an seinem Blick. Er dachte nach, die anderen schwiegen. Wie nebenbei bemerkte ich den säuerlichen Schweißgeruch, mit dem sich die Kabine gefüllt hatte, und ich bekam auch mit, daß manche der Schwarzen Apostel ihre Hände zu Fäusten geballt hatten. »Du mußt dich entscheiden!« flüsterte ich. Dazu kam es nicht mehr. Wieder ruckte es. Und einen Augenblick später blieb die Gondel an der höchsten Stelle stehen… *** Suko kauerte noch immer an der Holzwand, und sein Atem hatte sich in den letzten Sekunden beruhigt. Die Reise führte weiter. Höher, immer höher, dem Zenit entgegen. Dort würde das Rad sicherlich anhalten, denn wenn der Weg in die Verdammnis tatsächlich gegangen werden mußte, dann gab es keinen anderen Moment. Er wartete, war selbst äußerlich ruhig, nur die Kabine schaukelte hin und wieder, denn in der Höhe herrschten ganz andere Windverhältnisse als unten am Boden. Wie lange noch? Ein erster, vorsichtiger Blick zeigte Suko, daß der Boden bereits tief unter ihm lag. Sehr weit entfernt kamen ihm die Lichter vor, beinahe wie Sterne, die er als Astronaut in den unendlichen Weiten des Alls funkeln sah. Um ihn herum breitete sich die Millionenstadt an der Donau aus. Sie bot dem menschlichen Auge ein phantastisches Panorama, denn die Nacht war klar.
Suko hatte dafür keinen Blick. Er mußte dorthin schauen, wo die vordere Gondel schaukelte, und er würde den Weg so weit verfolgen, bis das Rad stoppte. Weil die Gondeln auch von innen beleuchtet waren, gelang es ihm, einen Blick durch die Scheiben zu werfen, und er sah die in der Kabine versammelten Gestalten. Es war zwar genügend Platz für alle, trotzdem hatten sie sich zusammengedrängt, und er konnte als Umriß den fürchterlichen Santerre sehen. Nur John Sinclair entdeckte er nicht. Das machte Suko nicht mutlos. Er wußte, daß sich John in der Gondel vor ihm befinden mußte, und er sah auch, daß Santerre den Kopf gesenkt hielt, als wäre er dabei, auf jemand nieder zuschauen, der kleiner war als er. Auf eine sitzende Person, zum Beispiel. Suko rechnete nach. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatten sie die höchste Stelle erreicht. Bis es soweit war, mußte er zumindest alle Vorbereitungen getroffen haben. Geduckt bewegte er sich auf den Ausstieg zu. Auch er war mit einer Scheibe versehen. Die Tür konnte, wenn sie entriegelt war, zur Seite geschoben werden, und Suko hatte sie erst gar nicht verriegelt. Noch immer mit dem Boden in Kontakt, zerrte er die Tür auf und spürte augenblicklich den scharfen Wind, der durch die Lücke fegte und sein Gesicht erwischte. Durchatmen, nur nicht die Ruhe verlieren, geduckt bleiben, sich auf die weitere Fahrt konzentrieren. Allmählich wurde Suko die Zeit lang. Er hoffte, daß sie das Ende der Fahrt bald erreicht hatten und die Kabine endlich zur Ruhe kam. Dann erst konnte er eingreifen. Sekunden liefen davon. Suko wartete. Er schob die Tür noch weiter auf. Um seine Ohren herum erklang das Pfeifen. Ein Ruck. Und dann stand die Kabine. Suko hatte bereits festgestellt, daß die Schräglage nicht mehr vorhanden war. Es war perfekt, sie hatten die höchste Stelle erreicht. Wenn es passierte, dann hier. Suko wußte, daß er eingreifen mußte. Und er wußte auch, auf welches Risiko er sich einließ, als er den Ausstieg weiter öffnete und sich ins Freie schob. Es gab nur eine Möglichkeit für ihn. Er mußte auf das Dach der Gondel klettern und von dort aus auf das Dach der anderen springen. Ein Risiko, fürwahr, und zugleich eines, das mit seinem Tod enden konnte…
*** Das Rad stand! Das war genau der Moment, auf den Santerre gewartet hatte. Ein jeder konnte sehen, wie er die Arme leicht anhob, die Finger spreizte und sie dann zu Fäusten schloß, als hätte er sich endlich damit abgefunden, genau das Richtige zu tun. »So!« hörten alle sein Flüstern. »Jetzt haben wir zehn Minuten Zeit, um den Weg in die Verdammnis zu gehen, und wie ich es euch versprochen habe, wird der Fremde hier den Anfang machen.« Seine Augen schimmerten, er war drauf und dran, sich auf mich zu stürzen, aber er wollte seinen Plan durchführen. Mit einer eckigen Bewegung drehte er sich um. Einen Schritt brauchte er nur nach vorn zu gehen, um die Tür zu öffnen. Da sie nicht verriegelt war, konnte er sie ohne Schwierigkeiten öffnen, und er zerrte sie mit einem heftigen Ruck zur Seite. Wir alle bekamen den Wind zu spüren. Santerres Kapuze war nach hinten gerutscht. Aus seinem Kopf wuchs ein dünnes Gestrüpp aus grauen Haaren, die sich der Gesichtsfarbe angepaßt hatten. Und dieses Gesicht spiegelte all das Böse wider, das er empfand. Es zeigte den Willen zu töten, es zeigte seine Verwandtschaft zur Hölle. Der Mund war verzerrt, die Augen weit geöffnet, der Glanz des Grauens hatte sich darin festgesetzt, und jeder von uns spürte wohl den tödlichen Hauch, der jetzt von dieser unheimlichen Gestalt ausging. Er stand dicht vor der Schwelle. Nur einen Schritt brauchte er zu gehen, um den Weg in die Verdammnis zu vollführen. Und er wollte mich! »Schafft ihn her!« fuhr er seine Schwarzen Apostel an. »Schafft ihn zu mir. Ich will ihn hinausstoßen!« Sie gehörten zu ihm, sie würden ihm gehorchen. Dennoch versuchte ich es noch einmal. Meine Worte richtete ich an Daniel. »Es ist die letzte Chance«, flüsterte ich ihm zu. »Wirklich die allerletzte. Wenn du sie nicht nutzt, dann ist es vorbei!« Er schwieg. Ich sprach weiter, während der Wind durch den offenen Ausstieg kalt in mein Gesicht fuhr. »Du hast es in der Hand, ihn zu stoppen. Du hast mein Kreuz. Nimm es. Drück es mir in die gefesselten Hände. Es liegt wirklich an dir!« »Kann… kann nicht…«, stöhnte er. Es hatte nicht überzeugend geklungen, aber ich machte mir auch keine zu großen Hoffnungen. Daniel und seine Freunde standen einfach zu stark unter dem Einfluß dieser fragwürdigen und unheimlichen Person,
die es geschafft hatte, die Zeiten zu überwinden, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Keine Stimme war zu hören. Auch Santerre mischte sich nicht ein. Er überließ Daniel die Initiative, dessen Hand in meine Richtung zuckte, mich aber nicht berührte, denn die Finger zog er sehr schnell wieder weg. »Los jetzt!« »Ja, Santerre!« Diese Antwort hatte verdammt endgültig geklungen. Mir war zudem klar, daß meine Chance damit auf ein Minimum gesunken war, nein, es gab sie überhaupt nicht mehr, denn die Finger des Blonden gruben sich in meine rechte Schulter, während er zugleich einem seiner Freunde zunickte, daß dieser ebenfalls zufassen sollte. Das brauchte er nicht mehr, ich stand von allein auf. Sofort schuf man mir Platz. Die Schwarzen Apostel sagten kein Wort. Sie warteten darauf, daß ich, der Gefesselte, als erster den Weg in die Tiefe fand und auf dem Boden zerschmettert wurde. Es konnte auch sein, daß ich zuvor gegen das Gestänge prallte, um von dort wie eine Puppe weitergeschleudert zu werden. »Es ist für euch der Weg in den Tod!« sagte ich noch einmal und sah zu, wie sie meinen Blicken auswichen, denn wohl war ihnen bei dieser Aktion nicht. Santerre stand links von mir. Er schaute mich aus seinen funkelnden Augen an. Er sah ihm ins Gesicht. Da erfaßte mich die Angst. Sie kam wie ein plötzlicher Stoß, der mein Innerstes aufwühlte. Ich spürte überdeutlich das Zucken in meinem Leib. Hätte mich in diesem Augenblick jemand angesprochen, es wäre mir nicht möglich gewesen, ihm eine Antwort zu geben, weil meine Kehle von sichtbaren Ringen zugeschnürt war. Ich stand im wahrsten Sinne des Wortes vor meinem Ende. Ob meine Augen tränten, wußte ich nicht, jedenfalls sah ich die Welt vor der Gondel nur sehr verschwommen, und dann preßte mir jemand seine Hand in den Rücken. Es war kein starker Druck, nur sehr leicht, aber er reichte aus, um mich einen Schritt nach vorn gehen zu lassen. Wieder war ich dem Tod näher gekommen. Die anderen sah ich nicht mehr, sie hielten sich hinter mir auf. Vor mir war der offene Ausstieg, durch den der Wind in die Gondel hineinfuhr, als wollte er mich auf seinem Weg in den Tod begleiten. Das würde auch so sein, aber er würde mich nicht auffangen. Santerres nach Alter und Fäulnis stinkende Gestalt meldete sich wieder. Die Stimme klang dicht neben meinem linken Ohr auf. »Und jetzt den letzten Schritt, dann beginnt die Reise in den Tod…«
In diesem Augenblick hörte jeder von uns den dumpfen Aufprall auf dem Dach der Gondel. *** Suko hatte sich mit dem Rücken zum offenen Ausstieg hin aufgebaut, die Arme in die Höhe gerissen und die Hände um die Dachkante gekrallt. Noch berührten seine Füße den Boden, und noch hegte er die Hoffnung, daß die anderen aus der vorderen Gondel seine Bemühungen nicht mitbekamen und auf sich selbst konzentriert waren. Nicht einmal eine halbe Minute würde er brauchen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es sah sehr einfach aus, auch wenn die Durchführung alles andere als simpel war. Suko wollte auf das Dach seiner Gondel klettern und von dort aus auf das der Nachbarkabine springen. So und nicht anders würde es sein. Es war die einzige Möglichkeit. Ein Schuß aus der Beretta hätte zwar auch noch gepaßt, aber er war sich nicht sicher, ob er Santerre auch getroffen hätte und ob die geweihte Kugel bei ihm den nötigen Erfolg gebracht hätte. Er zog sich hoch. Suko war in Form, das bewies er auch jetzt. Wie ein Turner schwang er den Oberkörper in die Höhe, dann folgten die Beine, die er anzog, was auch unbedingt nötig war, denn er wollte die Kante des Dachs als Stütze für sein Knie verwenden. Es klappte gut, er kam hoch und schaffte es auch, sich auf das Dach der stehenden und doch leicht schwankenden Gondel zu rollen. Auf dem Bauch blieb er dort liegen, peilte schräg gegen die vordere Gondel und bekam mit, daß jemand den Ausstieg dort öffnete. Die Tür wurde aufgerissen. Er hörte das Geräusch, als sie einrastete. Da hatte er sich bereits aufgerichtet und stand jetzt geduckt auf dem Dach, um die Distanz zur anderen Gondel zu messen. Es war gut, daß beide in einer waagerechten Position standen. So brauchte er weder nach oben noch nach unten zu springen. Und in die Tiefe schaute Suko nicht. Er blieb geduckt, weil er dem Wind so wenig Widerstand wie möglich bieten wollte, und er bewegte sich mit kleinen Schritten auf den seitlichen Rand der Gondel zu. Erst als er ihn erreicht hatte, richtete er sich auf. Sofort spürte er den Wind stärker, der ihn gepackt hielt. Aber er hatte sich breitbeinig hingestellt und kämpfte dagegen an. Er sackte kurz in die Knie. Es war so etwas wie ein Atemholen im übertragenen Sinne. Dann stieß er sich ab. Suko hätte gern einen Schrei ausgestoßen, um seiner Spannung Luft zu verschaffen. Das aber ließ er bleiben. Er ärgerte sich schon darüber, daß
es ihm nicht gelingen würde, lautlos auf dem Dach der Nachbargondel zu landen. Suko segelte über den Abgrund hinweg. Er hoffte, nicht zu kurz gesprungen zu sein. Nein, er war es nicht. Er kam sogar beinahe in der Mitte der Gondel auf, und seine beiden Füße dröhnten gegen das Holz. Für einen Moment sackte er in die Knie, dann drehte er sich nach rechts dem Ausgang zu. »Jetzt wirst du springen!« hörte Suko den Schrei und wußte, daß ihm so gut wie keine Zeit mehr blieb. Er handelte trotzdem! *** Der Aufprall! Es mußte einfach ein Aufprall gewesen sein. Etwas hatte das Dach getroffen, und dieses Geräusch war von allen hier in der Kabine gehört worden. Es gab keinen, der nicht erschreckt zusammengezuckt wäre, und die Augen schielten hoch zur Decke, an der sich aber nichts bewegte. Da knirschte kein Holz, nichts brach durch, und keiner von uns kam damit zurecht. Ich hatte mir allerdings meine eigene Meinung gebildet, nur hielt ich die zurück. Selbst Santerre war der Aufprall nicht entgangen. Er kam damit nicht zurecht, schüttelte den Kopf und fragte mit rauher Stimme: »Was ist das gewesen?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Meine Angst war etwas gewichen und von einer gewissen Spannung abgelöst worden. »Egal«, flüsterte er. Und dann schrie er mit lauter Stimme: »Jetzt wirst du springen!« Und dann hob er bereits den Arm, um mich hinauszustoßen. Da hörte ich das Wort. Laut, deutlich – und wunderbar. »Topar!« *** Suko hatte zu diesem letzten, alles entscheidenden Mittel greifen müssen, um noch etwas zu retten. Fünf Sekunden Zeit blieben ihm, nachdem das magische Wort gesprochen worden war. Und in diesen fünf Sekunden konnte nur er sich bewegen, nicht die anderen Menschen, die das Wort gehört hatten. Er vertraute darauf, daß auch Santerre dieser >Magie< zum Opfer gefallen war, und Suko duckte sich am Rand des Gondeldaches, dicht oberhalb des Ausstiegs. Der Rest war für ihn ein Kinderspiel. Obwohl die Gondel schwankte, gelang es ihm, sich in das Innere zu schwingen, und zwar mit den Füßen zuerst.
Er befand sich noch in der Schräghaltung, als er sah, wie dicht sein Freund John Sinclair am Ausstieg schwang. Mit einem blitzschnell geführten Tritt schaffte er ihn zur Seite. Er sah, wie die starre Gestalt seines Freundes zurückfiel, noch drei andere mit von den Beinen riß und sie zu dritt rücklings über den Tisch in der Mitte der Gondel kippten, wo sie liegenblieben. Höchstens für die Dauer eines schnellen Atemzugs, denn plötzlich war die Zeit um. Alle bewegten sich wieder, natürlich auch Suko, und der hämmerte seine Handkante gegen den Hals des Kuttenträgers. Schmerzen verspürte Santerre nicht, die Wucht des Schlags ließ ihn trotzdem zusammensacken, und genau die Zeit brauchte Suko. Er zog seine Dämonenpeitsche. Alles andere war Routine. Blitzschnell schlug er den Kreis über den Boden, die drei Riemen rutschten hervor. Die Waffe war in dem Augenblick schlagbereit, als sich Santerre wieder in die Höhe stemmte. Er mußte gemerkt haben, daß etwas nicht stimmte, darauf zumindest deutete sein Schrei hin. Und er sah den neuen Feind, der zurückgesprungen war und die Peitsche schlagbereit hielt. Santerre fiel förmlich in die drei Riemen hinein. Er schaffte es nicht mehr, ihnen auszuweichen, obwohl er dabei zur Seite zuckte> und er mußte dieser mächtigen Magie Tribut zollen. Sein Körper zuckte noch einmal, als wollte er gegen das Dach der Gondel springen. Diese Kraft hatte er nicht mehr. Auf nicht mal halber Höhe sackte er wieder zusammen. Die Riemen der Dämonenpeitsche hatten Risse in die Gestalt hineingefurcht. Breite Streifen, aus denen es zuerst qualmte und plötzlich kleine Flammen tanzten, die sich blitzartig vermehrten. Santerre kam wieder hoch und schrie! Es waren die Schreie eines menschlich aussehenden Nichtmenschen. Die andere Kraft war dabei, ihn zu vernichten. Und er dachte in seiner Panik nur an Flucht. Santerre drehte sich auf der Stelle. Plötzlich brannten auch seine Arme, mit denen er durch die Luft schlug, aber immer wieder ins Leere griff, denn seine Diener, die Schwarzen Apostel, halfen ihm nicht. Sie hatten sich wie verängstigte Schafe in die Ecke gedrückt und schauten der brennenden Gestalt zu, die durch die Kabine torkelte. Auch von unten, von der Kasse her, mußte die Feuerinsel aufgefallen sein, denn unter der Decke schrillte eine Alarmsirene. Suko war bereit, noch einmal zuzuschlagen. Es erwies sich als unnötig. Wieder durchfuhr die Kabine ein Ruck, als sie sich in Bewegung setzte, und diese leichte Störung reichte aus, um die brennende Gestalt vom Ausstieg wegzutreiben. Er trat zurück – und hinein ins Leere.
Nicht seine Schwarzen Apostel und auch nicht sein Feind John Sinclair traten den Weg in die Verdammnis an, sondern er selbst. Santerre fiel wie eine brennende Fahne in die Tiefe. Er landete auch nicht sofort auf dem Boden, sondern tickte gegen einen Pfeiler, prallte gegen einen nächsten, wurde von einer heftigen Bö erfaßt, zur Seite geschleudert, wobei die Flammen auch auf seinen Mantel übergegriffen hatten und den alten Stoff auflodern ließen. Schließlich prallte er auf. Wir alle sahen, daß dies inmitten eines Regens aus Funkeln geschah, und wir alle wußten auch, daß es Santerre nicht mehr gab. Sein unheiliges Leben hatte ein Ende gefunden. *** Wir fuhren wieder nach unten, und ich nickte dabei, was bei Suko nur ein müdes Lächeln hinterließ, ihn aber doch zu der Bemerkung veranlaßte, da ich noch immer ein Kindermädchen benötigte und mich eben damit abfinden müßte, daß es ein Mann wäre. »Ist mir auch manchmal lieber«, gab ich zu, wobei ich mich drehte und Suko die gefesselten Hände hinhielt. Er schob zuerst die Tür zu, dann lachte er. »Wer hat das denn geschafft?« »Sag du es ihm, Daniel.« Der Angesprochene wollte nicht sprechen. Er duckte sich unter Sukos Blick, holte dann meine Beretta hervor und auch das Kreuz, das ich bekam, nachdem Suko mit seinem Ersatzschlüssel meine stählernen Ringe gelöst hatte. Ich nickte den Schwarzen Aposteln zu und rieb dabei meine Gelenke. »Ihr könnt nicht ermessen, welches Glück ihr hattet«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Ein wahnsinniges Glück, denn der Weg ins Verderben wäre für euch der Weg in den Tod geworden. Santerre brauchte Menschen, die er dem Teufel opfern konnte. Nur das garantierte ihm ein weiteres Dasein oder meinetwegen auch Leben.« Sie nickten, reden konnten oder wollten sie nicht. Außerdem war es mir egal. Ich hatte mit ihnen nichts am Hut. Dafür jedoch mit dem Mann, den wir nach dem Aussteigen im erhellten Kassenraum entdeckten. Es war Father Ignatius. Er hatte sich dort hingeschleppt und versucht, dem Mann an der Kasse die Zusammenhänge zu erklären. »Fragt nicht, wie es mir geht«, flüsterte uns Ignatius zu. »Ich habe ihn fallen sehen, das hat mir gereicht. Es wird ihn nicht mehr geben, denke ich.« »So ist es«, sagte Suko. Der Mitarbeiter regte sich auf. Er hatte einen hochroten Kopf bekommen. »Aber wir müssen die Polizei verständigen. Da in der Nähe liegt ein Toter.« »So?« fragte ich. »Liegt da einer?«
»Ja, ahm… ich… also ich…« »Sie werden keinen finden, guter Mann. Nicht mal Asche, denn die hat der Wind längst verweht.« »Ja«, murmelte der Mann, »so wird es wohl gewesen sein…«
ENDE