Von Rache getrieben von Jo Zybell Kalskroona, Dezember 2516 Plötzlich und unerwartet donnerte und grollte es hinter ihm...
11 downloads
302 Views
468KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Von Rache getrieben von Jo Zybell Kalskroona, Dezember 2516 Plötzlich und unerwartet donnerte und grollte es hinter ihm. Bebte die Erde? Brach das Eis? Er fuhr herum; alle fuhren sie herum. Ein Schatten flog aus dem Dunst mitten unter sie: groß, weißgrau, pelzig. Ein gewaltiges Tier - es fauchte und brüllte! Er schlug lang hin. Sein Gewehr schlitterte davon. Das Tier stürzte sich auf einen seiner Begleiter. Ein Sprung nur, und die schwarz vermummte, dürre Gestalt versank unter den Pranken der Bestie im Schnee. Aufstehen! Weg hier! Und dann Schreie, entsetzliche Schreie! Sie gellten durch die Morgendämmerung, stachen in seine Trommelfelle, füllten sein Hirn aus. Weg hier, nur weg!
Er rannte. Wohin? Gleichgültig. Nur weg von diesem Tier, von dieser Bestie, diesem weißpelzigen Monstrum! Rennen, rennen - sein Körper schien nie etwas anderes gelernt zu haben. Er stolperte, stürzte erneut, riss sich an einem Fels die Hand auf. Blut spritzte, der Sender entglitt seiner Hand - egal, nur weg hier! Er sprang wieder auf, rannte weiter. Ins Wasser, durch die Brandung, den Strand entlang, bloß nicht hinauf in die Dünung, wo der Schnee hüfthoch lag! Wo keine schnelle Flucht mehr möglich war, wo er stecken bleiben und eine leichte Beute des Izeekepirs werden würde. Über die Schulter sah er zurück. Einer seiner Gefährten zappelte im Rachen des EisbärMutanten. Die Bestie schleuderte ihn hin und her. Wie er schrie! Wie er sich in den spitzen Fängen wand! Auf den zweiten schwarz Vermummten hatte sie ihre Vorderpranken gesetzt - er rührte sich nicht mehr. Seine anderen beiden Begleiter aber rannten hinter ihm. Der letzte, vielleicht dreißig Schritte entfernt, hinkte. Doch er hielt noch sein Gewehr in den Händen - als Einziger! »Schieß doch!«, brüllte Jacob Smythe. »Schieß, verdammter Hohlkopf!« Der Vermummte drehte sich um, legte das Gewehr an. Smythe rannte weiter. Dicht hinter sich hörte er den vierten Nosfera keuchen. In weiten Sprüngen spurtete er durch die flache Brandung. Eiskaltes Wasser drang ihm durch die Hosenbeine, spritzte auf Hände und Gesicht. Gleichgültig! Weiter, immer nur weiter! Warum hörte er nicht endlich den Schuss? Ladehemmung! Das Gewehr ist nass geworden, oder...? Wieder ein Blick zurück. Fast dreihundert Meter trennten sie jetzt von der Bestie. Sie stemmte sich mit den Vorderläufen in den Schnee, schleuderte ihren stumpfen Schädel hin und her, riss ganze Teile aus dem Leichnam zwischen ihren Fängen und verschlang sie. Der Nosfera kniete im Wasser, schwankte, zielte auf das Tier, hantierte an seinem Gewehr herum, zielte erneut. Das Biest wird ihn packen; er ist der Nächste. Nach ihm erst wir... wenn es dann noch Hunger hat... Jähe Hoffnung loderte in Smythe auf. Sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Sein letzter Gefährte hielt sich immer noch dicht hinter ihm. Angst verzerrte sein Mumiengesicht zu einer Fratze des Entsetzens. Angst presste ihm ein Wimmern und Stöhnen aus der Kehle und trieb ihn vorwärts. Er rannte an Smythe vorbei. In diesem Augenblick hallte ein Schuss durch die Morgendämmerung. Professor Dr. Smythe blickte zurück. Der Schütze lag rücklings in der Brandung. Der Rückstoß hatte ihn umgeworfen. »Idiot! Dämliche Rosinenvisage!«, wütete Smythe. Der Izeekepir mit seiner Beute in den Fängen warf sich herum, beäugte das schwarze Bündel, das sich in der Brandung wälzte und schleuderte den zerfetzten Leichnam weit von sich. Donnerndes Gebrüll ertönte. Die Bestie pflügte durch den Schnee, galoppierte durch die Brandung. Wasserfontänen spritzten rechts und links von ihr hoch. Der Nosfera versuchte sich auf das Gewehr zu stützen, wollte sich aus dem Wasser stemmen. Doch er strauchelte, fiel zurück, versank unter einer Woge, schrie, prustete, ruderte mit beiden Armen. Er war verloren, und er wusste es. Schon war der Pelzgigant über ihm. Er brüllte; seine Reißzähne schlugen in den Hals des Nosfera. Dessen Geschrei erstarb, als seine Knochen brachen. Schon wieder Zeit gewonnen, dachte Smythe. Vielleicht hat er jetzt genug, vielleicht ist 2
er jetzt satt... Eine vergebliche Hoffnung. Hätte die Beste nur ihren Hunger stillen wollen, hätten ihr zwei oder drei Menschen gereicht. Sie wollte töten! Der letzte überlebende Nosfera rannte schon zwanzig Schritte vor ihm durch die Brandung. Eine Idee blitzte in Smythes Hirn auf. Er wandte sich der Küste zu und verließ das Wasser. Das dünne Ufereis brach unter seinen Sohlen. Er erreichte die Schneedecke, versank fast bis zu den Knien. Hinauf auf die Dünung! Das Tier mochte schnell, stark und unberechenbar sein - aber zwei Fährten auf einmal konnte es nicht verfolgen. Und im Zweifelsfall wurde es die leichtere Beute wählen. Keuchend erreichte er die Spitze der flachen Schneehügel. Sein Kombi klebte ihm schwer und nass am Körper. Kälte kroch in seine Muskulatur. Wie schwer seine Beine sich anfühlten, fast leblos! Er sah zurück. Der Eisbär-Mutant war noch immer mit dem Leichnam in der Brandung beschäftigt. Seine Schnauze stieß ins Wasser, riss an der Beute, tauchte mit Fleisch- und Stofffetzen zwischen den Fängen wieder auf. Und der letzte seiner Begleiter? Vielleicht zweihundert Schritte entfernt stand er. Ja, er stand da und blickte zurück, anstatt weiter zu rennen. »Lauf doch, Idiot!« Die Chancen standen vielleicht sechzig zu vierzig, dass die Bestie nicht ihn, sondern den schwarz Vermummten verfolgen würde. Doch Smythes Rechnung ging nicht auf: Der Nosfera entdeckte Smythe oberhalb der Schneedünen, und statt weiter entlang der Brandung zu laufen, verließ er das Wasser und stapfte durch den Schnee in seine Richtung. »Verdammter Hohlkopf!« Alles Gezeter nützte nichts: Die Bestie hob den Kopf, ließ von ihrem letzten Opfer ab und galoppierte durch Brandung und Schnee dem Vermummten hinterher. »Shit!« Smythe drehte sich um und sprang den Schneehang hinab... Atlantischer Ozean, 49° Nord, 28° West Oktober 2517 »... ich sehe Schnee, höre, wie er unter Stiefelsohlen knirscht, ich spüre Angst und auch Hoffnung...! Er glaubt nicht wirklich an sein Ende...« Die Frau murmelte leise vor sich hin. Unter den Planken des Kajütenbodens stampfte die Maschine, das Schaufelrad an Steuerbord quietschte und das Schaufelrad an Backbord knarrte - Merlin musste sich konzentrieren, um jedes Wort zu verstehen. Wenigstens sprach sie einwandfreies Meerakanisch. Satz für Satz tippte er in die Tastatur seines kleinen Computers. »... jetzt ein Schrei, bei Wudan, was für ein Geschrei! Die Schritte werden schneller. Angst; er sieht Spuren im Schnee, Spuren von Menschen, darunter seine eigenen...« Die Frau kniete auf Merlins Lager. Die Handflächen gegen Wangen und Schläfen gepresst, bohrte sie die Stirn zwischen ihre Knie. Meistens jedenfalls. Manchmal schnellte ihr Oberkörper nach oben, dann legte sie den Kopf in den Nacken und riss den Mund auf. Manchmal richtete sie sich auch nur halb auf, wiegte ihren Oberkörper wie in Trance hin und her und biss sich auf die Unterlippe. Das gefiel Merlin, denn es erinnerte ihn an so viele Stunden, in denen er mit ihr geschlafen hatte. Ja, bei solchen Gelegenheiten bewegte sie sich ähnlich, nur trug sie dann 3
keinen weißen Pelz und auch keinen dunkelbraunen Wildlederanzug wie jetzt. »... er denkt an ein Haus, er rennt und rennt... nein, kein Haus, eine Höhle...« Ihr Rücken wölbte sich, sie zog die Schultern hoch und schüttelte sich. »... nein, auch keine Höhle ein Bunker, ja, ich sehe unterirdische Räume, Monitore, einen Sarkophag, grüne Kristallsplitter... dort will er hin, in den Bunker...« Nur eine Holzwand trennte die Telepathin und den Mann, dessen Geist sie belauschte. Merlin hatte dafür gesorgt, dass man seinem rätselhaften Passagier die Nachbarkabine zugewiesen hatte. Jacob Smythes Bett stand direkt an der Wand. Von Zeit zu Zeit, wenn die Telepathin unter der Flut der Bilder und Gedanken verstummte, konnte Merlin den Mann trotz des Maschinenlärms und der Schaufelräder schnarchen hören. Karyaana hatte ihm ein Psychopharmakon ins Bier geträufelt. Das Tor zum Labyrinth seiner Erinnerungen stand weit offen. Karyaana richtete sich auf. »Da ist ein Mann!«, rief sie. »Blond, groß, jünger als er selbst - er kann fliegen!« Das lange graue Haar klebte ihr in der Stirn, am Hals, in den Mundwinkeln. Ihr bronzefarbenes Gesicht glänzte von Schweiß. Merlin sah, dass ihre Hände zitterten. Den Fremden zu belauschen strengte sie an. Seit fast einer Stunde kniete sie schon hier auf Merlins Koje. »... er spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben; ich glaube, er sucht den jüngeren Mann... und er hasst ihn, abgrundtief. ..ich sehe, wie er ihn würgt, wie er ihn tritt, auf ihn Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Riss im Raum/ Zeit-Kontinuum ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird Matt Drax von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... WAS BISHER GESCHAH In den ehemaligen USA regiert der sogenannte Weltrat (WCA). Dessen Ziele, sein Vorgehen gegen Rebellen und die Verbindung zu den brutalen Nordmännern sind Matt suspekt. Er zieht westwärts, doch die WCA bleibt ihm in Gestalt von Lynne Crow, Tochter des WCA-Militärchefs, auf den Fersen. Als Professor McKenzie -in Wahrheit ein getarnter Rebell, ein Running Man mit dem Gedächtnis des echten McKenzie - den Prototyp eines Space Shuttle auf Cape Canaveral instand gesetzt hat, holt man Matt und Aruula zurück zur Ostküste. Die WCA braucht Matthew als Piloten, um zur ISS zu gelangen. Er willigt ein - und rettet die in 500 Jahren gesammelten Daten vor dem Weltrat. Mit Aruula und dem falschen McKenzie setzt er sich nach Amarillo ab, wo er eine Enklave verbündeter Cyborgs weiß. Da startet eine japanische Invasion durch lebende Tote bei Los Angeles. Zusammen mit dem Androiden Miki Takeo und seinem Sohn Aiko nehmen Matt und Aruula den Kampf auf. Währenddessen kann der falsche McKenzie mit einem Gleiter entkommen. Die untoten Kämpfer sind fast unbesiegbar. Das Blatt wendet sich, als der japanische Befehlshaber gefangengenommen wird. Als Aruula in General Fudohs Geist lauschen soll, sperrt er sich. Eine Droge der WCA, die ihre Fähigkeiten verstärkt, durchbricht die Barriere. Dabei erfährt Aruula den Grund für die Invasion: Weil Japan von Barbaren, hinter denen sie den Weltrat vermuten, überfallen wird, blieb ihnen gar keine andere Wahl! Die Japaner werden mit Hilfe eines tödlichen Pilzes, den Matt aus der ISS mitbrachte, zurückgeschlagen; ein Friedensvertrag wird ausgehandelt. El'ay bleibt in der Gewalt der Japaner. Doch Aruula büßt ihre telepathischen Kräfte ein...
4
einprügelt... o Wudan, dieser Hass...! Jetzt wacht er auf...!« »Wie heißt der Blonde?« »Ich konnte es nicht genau erlauschen.« Karyaana lehnte sich mit Schulter und Kopf gegen die Kajütenwand und schloss die Augen. »Trecks? Oder Drax?! Sie war erschöpft. »Ja, Drax. Ein Mann, der fliegen kann.« Merlin hörte die Koje in der Nachbarkajüte knarren, dann Schritte, dann öffnete sich eine Tür. »Ruh dich aus.« Merlin speicherte seinen Text und stand auf. »Ich weiß nicht, wie lange das Mittel noch wirkt.« Er küsste Karyaana auf die Stirn, drückte sie auf die Koje und zog ein Fell über sie. »Wenn er wieder schläft, versuchen wir es noch einmal. Ich will wissen, woher er kommt und wohin er will.« Er ging zur Kajütentür. »Ich schau mal nach ihm.« Angeblich stammte der Mann von den britanischen Inseln, und angeblich war er auf der Suche nach seinen Kindern, die mit einem Luftkissenboot über den Atlantik nach Westen gefahren waren. Merlin kannte Luftkissenboote nur aus den Datenbanken des Pentagon und der Lokiraaburg. Er neigte dazu, dem Professor zu glauben. Gleichzeitig warnte ihn aber eine innere Stimme, darin allzu eilfertig zu sein. Da war es gut, dass er mit Hilfe Karyaanas und des Neuromorphans dem Fremden in die Karten schauen konnte. Er schloss die Kajütentür hinter sich und stieg die schmale Stiege zum Außendeck hinauf. Es war kalt, eiskalt. Die Luft roch nach Holzfeuer und Meer. Ein Mann namens Drax, der fliegen kann... warum denkt er nicht an seine Kinder, die angeblich Richtung Meeraka unterwegs sind? Das Quietschen und Knarren der Schaufelräder und das Rauschen des aufgewühlten Wassers waren lauter hier draußen, dafür klang das Stampfen der Maschine gedämpfter. Matter Lichtschein warf den Schatten der oberen Balustrade auf die Stufen. Sie bewegten sich, denn die Öllampen an den Unterständen der vorderen Decksaufbauten pendelten im Wind hin und her. Die Stufen waren feucht, teilweise sogar mit Raureif überzogen. Merlin hielt sich am kalten Geländer fest, während er hinauf aufs Oberdeck ging. Der Mann stand an der Reling und pinkelte ins Meer. Er schwankte. Sein weißer Pelz flatterte im Wind. Merlin lehnte gegen die Balustrade und beobachtete ihn. Smythe drehte sich um, während er die Hose schloss. »Was für ein Gesöff geben Sie ihren Kretins da zu trinken, Roots?!« Er raffte den weißen Pelz um seinen dürren Körper zusammen. Die Arme vor der Brust verschränkt, wankte er auf Merlin zu. »Kein Wunder, dass die Burschen in jedes Feuer rennen - ich fühl mich, als hätte ich einen Mahlstrom im Schädel!« Er sprach laut, um sich trotz des Rauschens und Knarrens verständlich zu machen. »Tut mir Leid, Sir.« Auch Merlin hob die Stimme. »Das Zeug ist gewöhnungsbedürftig. Aber es macht satt, und es betäubt Schmerzen und Kälte. Wir nennen es Bier.« Der seltsame Mann - er schätzte es, mit »Professor« angesprochen zu werden - blieb vor Merlin stehen. Nur die Balustrade trennte sie. Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. »Bier... nun ja, alles hat sich also nicht verändert«, murmelte er wie zu sich selbst. Der Wind riss an seinem blonden Haarzöpfchen. Mit linkischen Bewegungen zerrte er die Kapuze des Pelzes über seinen knochigen Schädel, bis ihm der Rachen des Izeekepirs tief in die Stirn rutschte und der ausgestopfte Schädel Merlin anglotzte. Smythe schwankte wie die Öllampen an den Unterständen. Die Droge, ein Mohn5
Derivat mit neuroleptischer Komponente, beeinträchtige auch seine Motorik. Das war der Grund, warum Merlin ihm aufs Oberdeck gefolgt war. Er wollte nicht, dass der Professor über Bord ging. Jedenfalls nicht, bevor er ihm sein Geheimnis entlockt hatte. »Was treiben Sie eigentlich hier mitten in der Nacht, Roots?« Misstrauisch musterten die durch eine Schilddrüsenüberfunktion hervorquellenden Augen den schwarzen Merlin. »Warum schlafen Sie nicht?« »Ich hörte Ihre Kajütentür und Ihre Schritte auf der Treppe. Es ist nicht ungefährlich, sich bei Dunkelheit an Deck zu bewegen. Die Planken sind glatt.« Smythe winkte ab. »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Er ging um die Balustrade herum und schob sich an Merlin vorbei auf die Treppe. »Nicht um mich, und so lange ich bei Ihnen bin, auch nicht um sich selbst.« Behutsam tastete er sich am Geländer entlang Stufe um Stufe hinab. »Die Vorsehung hat noch viel vor mit mir, wissen Sie?« Das war es, was Merlin von Anfang an faszinierte hatte an diesem Mann: diese atemberaubende Selbstsicherheit, diese selbstverständliche und über jeden Zweifel erhabene Art zu reden, sich zu bewegen, seine Umgebung zu taxieren. Das war es, was Merlin sofort beeindruckt hatte, als er ihm zum ersten Mal begegnete. Die Schlächter hatten dem Professor vor etwas weniger als zwei Monaten den Weg zur Lokiraaburg gewiesen, und statt vor Angst zu zittern, wollte er ihren Herrn sprechen und hatte verlangt, dass man ihm die Festung zeigte. Anfangs dachte Merlin, das unterwürfige Verhalten der Schlächter Smythe gegenüber rührte daher, dass er die gleiche Sprache wie die meerakanische Besatzung der Lokiraaburg sprach. Gut, das mochte eine Rolle spielen - der eigentliche Grund ihrer Ehrfurcht aber war die Aura des Unbedingten, die den Professor umgab: Das überirdische Flackern in seinen Glubschaugen, die Gesten und die Stimme, die Widerspruch nicht einmal denkbar erscheinen ließen. Merlin vermutete, dass die Schlächter den Professor für einen Sohn der Götter hielten. So wie sie auch ihn und die anderen Meerakaner in der Basis für Göttersöhne hielten. Smythe selbst - daran zweifelte Merlin keinen Augenblick - hielt sich auf alle Fälle für etwas ganz Besonderes. Vielleicht war er das sogar. Vielleicht war er auch einfach nur übergeschnappt. Merlin würde es herausfinden. Die Hand schon an der Klinke, drehte Smythe sich noch einmal um und sah zu ihm hinauf. »Morgen sind wir eine Woche unterwegs!« Er rief gegen das Rauschen und Rattern an. »Noch vier Wochen bis zum amerikanischen Kontinent, das haben Sie doch gesagt, oder?« Merlin nickte. »Wenn nichts dazwischen kommt.« Er wunderte sich einmal mehr, weil Smythe den antiken Namen für Meeraka benutzte. Kein Mensch redete so, schon seit zwei Jahrhunderten nicht mehr. Die ältesten Quellen, die »Amerika«, statt »Meeraka« schrieben, und »amerikanisch« statt »meerakanisch«, stammten aus der Regierungszeit des Präsidenten Christopher Iron Roots. Die ältesten Quellen jedenfalls, die Merlin bekannt waren. Aber als Historiker hatte er einen sehr präzisen Überblick über die Quellenlage. Smythe am unteren Treppenabsatz schüttelte den Kopf. »Fast vierzig Tage...!« Er schüttelte den Kopf. »Fast vierzig Tage, nur um eine Leiche auf die andere Seite des Großen Teiches zu schaffen ...« Smythe kicherte und drückte die Tür auf. »Ihr seid mir 6
schon ein ulkiges Völkchen.« Die Tür fiel ins Schloss. Großer Teich... Auch einer dieser altertümlichen Begriffe, die der Fremde benutzte. Merlin sah hinauf zur Kommandobrücke auf den Decksaufbauten. Licht fiel aus den Fenstern des Ruderhauses. Dort oben hatten sie den Sarg mit der eingefrorenen Leiche befestigt, auf dem Ruderhaus, unter dem Mast mit dem Ausguck. Natürlich gab es noch andere Gründe für die Reise als nur die Leiche. Sogenannte offizielle Gründe, und - für Merlin - sehr persönliche Gründe. Warum sollte man sie einem Mann auf die Nase binden, von dem man nur wusste, dass er aus Britana kam und nach Meeraka wollte? Einzelne Schneeflocken schwebten aus dem Nachthimmel; der Wind hatte sich gelegt. Täuschte Merlin sich oder schaukelte der kleine Dampfer nicht mehr so stark wie vor einer Stunde noch? Er stieg die Treppe hinunter und ging zurück in seine Kajüte. Karyaana kniete wieder auf der Koje. Die Ellenbogen auf die Oberschenkel und den Kopf zwischen die Hände gestützt, öffnete sie kurz die Augen, als Merlin die Tür hinter sich schloss. »Er ahnt, dass wir ihm etwas in das Bier getan haben«, flüsterte sie. »Er traut dir nicht und glaubt auch nicht, dass wir nur wegen der Toten nach Meeraka fahren.« »Liegt er wieder im Bett?« Merlin zog eine Zigarre aus dem schwarzen Fellmantel, den er über seinem Thermokombi trug. Ein uralter Mantel, eine Leihgabe seines Vorgängers. Karyaana nickte. Er zündete sich seine Zigarre an, langte nach einer der großen Muscheln im Regal und stellte sie als Aschenbecher neben seinen Rechner. »Was beschäftigt ihn?« »Der blonde Mann, der fliegen kann. Drax. Er sucht ihn seit vielen Monaten.« Merlin setzte sich auf die Bank vor dem Tisch und zog die Tastatur heran. »Seinetwegen will er nach Meeraka. Von wegen ›Kinder‹! Rache treibt ihn, sonst nichts. Wie langweilig!« Er blies den Rauch gegen das kaum buchdeckelgroße Display. Sein schwarzes Gesicht wirkte plötzlich hart und ernst. Er schwankte zwischen Enttäuschung und Neugierde. »Ich glaube, auch alles andere, was er uns erzählt hat, ist gelogen.« Er sah zu Karyaana hinüber. Sie kauerte in den Fellen und lauschte. »Worum kreisen seine Gedanken jetzt?« »Um einen Mann mit hellem, fast weißen Haar und eine Frau. Sie sieht aus wie eine Frau meines Volkes. Sie war seine Gefangene. Er hatte ihr ein Gerät unter die Haut genäht - ein Gerät, mit dem er ihr Schmerzen zufügten konnte, ohne sie zu berühren, selbst aus großer Entfernung. . .« »Der Professor oder der Weißhaarige?« »Der Professor. In Britana. Der Weißhaarige hat sie befreit. Sie sind nach Kalskroona geflohen, der Herr der Welt hat sie verfolgt. Er hasst auch dieses Paar...« »Der Herr der Welt?« Merlin hatte sich die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt und tippte Karyaanas Worte in seinen mobilen Rechner. »Wer soll das sein?« »So nennt sich der Professor in Gedanken selbst... Das Paar hat ihn in eine Falle gelockt; ich kann nicht erkennen, in welche... es hängt mit dem Izeekepir zusammen... Jetzt schläft er gleich ein... er springt durch den Schnee... hört seinen Begleiter weit hinter sich schreien und die Bestie brüllen... Er sieht die Konturen der Ruinen über dem Bunker... Jetzt steigt er hinunter... schiebt ein schweres Tor zu... Kalskroona, Dezember 2516 Ruhig bleiben, ganz ruhig. Essen, nachdenken, essen, ruhig bleiben, essen... Einen 7
braunen Riegel nach dem anderen schob sich Jacob Smythe in den Mund. Kaum ließ er sich Zeit zum Kauen. Der herbe Brei in Mund und Hals war seine Zuflucht vor dem Scharren und Knurren auf der anderen Seite des Schotts. Kalter Schweiß klebte ihm auf der Stirn. Er zitterte, sein Herz raste, die dreckigen Leuchten an der Decke verschwammen vor seinen Augen. Genauso die zerstörten Monitore, Tastaturen, Schaltkonsolen, die Möbel, die Metallschränke, das Schott. Er war vollkommen unterzuckert; verdammte Schilddrüse! Sein Stoffwechsel war ein 8-Zylinder-Motor bei durchgetretenem Gaspedal und im Leerlauf. Er hätte drei Steaks und eine Schüssel Himbeerpudding in sich hinein schlingen können. Ihm war heiß, so unglaublich heiß. Und hinter dem Schott tobte das Pelzvieh. Smythe konnte den Eisbär-Mutanten - oder was auch immer die Bestie sein mochte - nicht sehen, aber er hörte ihn fauchen und knurren, hörte das Schaben seiner Pranken auf dem Metall der Tür und im Beton des Bodens vor der Tür. Er zog den nächsten Riegel aus der Brusttasche seiner Pilotenkombi, den fünften, und riss das Papier ab. Seine Gedanken ordneten sich. Er biss in das braune Zeug. Es bestand aus Trockenbeeren, geriebenen Nüssen, Honig und Fett. Fett von Wisaaun, wie sie die Wildschweine in dieser verdrehten Zeit nannten. Seine Handlanger hatten es nach seinen Anweisungen zubereitet, in Riegel gegossen und getrocknet. Seine Handlanger, die Nosfera. Wenn er sich nicht irrte, waren sie tot, alle, hatten sich erschießen oder fressen lassen, diese hirnlosen Blutsauger. Selbst Schuld. »Was denn, was denn - das kann einen wie mich nicht aus der Bahn werfen, o nein! Nicht mich!« Er kaute die trockene Kalorienbombe, lauschte, hielt von Zeit zu Zeit inne, um seinem langsamer werdenden Herzschlag zu lauschen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Nichts und niemand kann mich stoppen! Ich werde dieses Mistvieh in den Orkus jagen! Und ich werde dich finden, Drax! Ich werde dich finden und erledigen, Commander Matthew Drax!« Er hatte die Trümmer von einem der Tische gewischt und hockte nun mit gekreuzten Beinen in Splittern und Staub, vor sich zwei aus vielen Einzelteilen zusammengeflickte Gewehre. Dieser Bunker musste einmal von Leuten bewohnt worden sein, die sich auf Waffentechnik verstanden hatten. Ein halbes Dutzend solcher Eigenbauten hatte er unter dem Gerumpel in Schränken und Stauräumen gefunden. Dazu Munition. Alle hatte er ausprobiert - diese zwei dort vor seinen Knien funktionierten. Der Eisbär-Mutant brüllte. Es krachte, das Schott zitterte. Wahrscheinlich warf sich das Biest von außen dagegen. »Weißt du nicht, wer ich bin?!«, schrie Smythe. »Der Herr der Welt bin ich! Also auch dein Herr! Du wirst es noch kapieren ! Das schwör ich dir!« Er schluckte die letzten Krümel der Trockennahrung herunter. Jetzt ein Schluck Wasser, o Gott, nur ein einziger Schluck Wasser! Der Spurt, der Stress, und die Unterzuckerung hatten ihn eine Menge Flüssigkeit gekostet. Jetzt ein Schluck Wasser, das wärs! An sich sollte Wasser in dieser Winteridylle mit Bestie und Temperaturen unter Null nicht das Problem sein: Ein paar Meter über ihm lag der Schnee kniehoch, Neuschnee sogar. Ein Feuerzeug steckte in seinem Lederrucksack, eine Blechtasse ebenfalls, und Brennmaterial würde sich finden. Nur: Das blutdurstige Raubtier trennte ihn von der Welt 8
außerhalb des Bunkers. Also auch von Schnee und Eis. Und damit von Flüssigkeit. »Nicht mehr lange.« Er dachte nach. »Ich finde eine Lösung. Schließlich bin ich Professor Dr. Jacob Smythe, der Herr der Welt!« Das war der alles entscheidende Punkt, der Schnittpunkt seines geistigen Koordinatensystems, wenn man so wollte: Er war, der er war, und er lebte. »Und ich werde weiter leben.« Er atmete tief ein und schrie seine Überzeugung hinaus. »Ich werde leben, und du wirst sterben, Mistvieh!« Drei Tage ohne Flüssigkeit, erträglich für einen normalen Menschen. Zwei Tage die Höchstgrenze für den Herrn der Welt, dessen Schilddrüse kochte, dessen Stoffwechsel wie ein Motor mit Vollgas lief. Höchstens zwei Tage! »In spätestens achtundvierzig Stunden hab ich Wasser.« Ausgestreckter Arm und Zeigefinger stachen Richtung Schott. »In achtundvierzig Stunden bist du erledigt!« Er klopfte sämtliche Taschen ab, die seiner schwarzen Lederkutte und die seiner Pilotenkombi. Jeden Nahrungsriegel, den er ertastete, zog er hervor. Dreizehn Riegel häuften sich schließlich zwischen seinen Beinen. Auch seinen Lederrucksack leerte er aus: Kombiwerkzeuge, ein Instrumentenset, Medikamente, Lampe, Feuerzeug, Blechnapf, und so weiter. Und noch einmal acht Riegel. Machte insgesamt zweiundzwanzig. Damit konnte sein Stoffwechsel drei Tage lang arbeiten, notfalls auch vier. Wenn er Wasser hatte. »Achtundvierzig Stunden also. Denk nach, Professor, denk ganz ruhig nach...« Warum nicht den einfachsten Weg? Eine Barrikade aus Trümmern und Tischen vor dem Schott errichten, bis in Brusthöhe etwa, dann den Schalter umlegen, warten bis das Biest seinen Schädel durch den entstehenden Spalt steckte, undPeng! Aber langsam, vielleicht gab es noch eine bessere Möglichkeit. Nachdenken, nachdenken, nachdenken. Die wesentlichen Fakten waren klar: Die Vorsehung hatte ihn dem Rachen dieses Monstrums entrissen, und nichts und niemand würde ihn aufhalten, und noch mindestens siebenundvierzig Stunden Zeit. An welchem Punkt hatte die Sache begonnen schief zu laufen? Genau an diesem Punkt, das spürte er mit jeder Faser seines aufgepeitschten Körpers, lag der Schlüssel zu einer noch besseren Lösung. Die Frau. Diese Schlampe Aruula. Ihr hatte er das Kombigerät aus Peilsender und Elektroschocker unter die Haut verpflanzt. Der Albino hatte sie befreit. Verfluchter Dieb! In seinem Hubschrauber hatte er das Weib hierher an den Arsch der Welt geflogen! »Und das Biest spielte verrückt, als ich den Impulsgeber drückte. Warum?« Er starrte auf den Haufen Nahrungsriegel zwischen seinen Schenkeln, als wäre darunter die Antwort verborgen. »Ich drück den Knopf und das Biest fängt an zu toben...« Auch jetzt tobte es. Brüllte, warf sich von außen gegen das Schott und bearbeitete das Metall mit Krallen und Zähnen. Es gierte nach ihm. Smythes Lider verengten sich; die plötzliche Erkenntnis verdunkelte sein Gesicht. Der Albino - er musste dem Pelzvieh die Strompeitsche unter das Fell gesetzt haben! »Du Mistkerl...«, flüsterte Smythe. »Du hast mich mit meiner eigenen Waffe bekämpft!« Er verfluchte sich, weil er so kopflos geflohen war, und weil er den 9
Impulsgeber unterwegs verloren hatte. »Kühl bleiben, Professor.« Er sah sich um. »Ganz kühl bleiben. Liegt nicht in jedem Fehler eine Chance?« Er fingerte sein Kombiwerkzeug aus dem Rucksack und kletterte vom Tisch. Systematisch begann er die Trümmer und Schränke zu durchsuchen, stand sinnierend vor Armaturen und Schaltkonsolen, schraubte Verblendungen von Funkempfängern und alten Rechnern auf. Stunden vergingen. Das Gebrüll und Gescharre auf der anderen Seite des Schotts hatte nachgelassen. Manchmal presste Smythe sein Ohr gegen das kalte Metall. Dann hörte er die schnaubenden Atemzüge des Tieres. Es wartete. Wartete auf ihn. Auf sein Fleisch, auf sein Blut. »Warte du nur.« Smythe blickte auf seine Uhr. »In spätestens fünfunddreißig Stunden komme ich hinaus zu dir.« Auf dem Tisch im Eingangsbereich des Bunkers häuften sich Schaltelemente, Schrauben, Drähte, Einzelteile zweier Mikroskope, Kondensatoren, Magnetspulen, Widerstände, Zielfernrohre und sogar ein fast leerer Trilithium-Kristall. Ein Konglomerat von Möglichkeiten neben den Gewehren und den Nahrungsriegeln. Drei davon schlang Smythe hinunter, bevor er sich an die eigentliche Arbeit machte. Sechs Stunden später hatte er einen funktionstüchtigen Sender zusammengebaut. Mit ein paar Schrauben befestigte er das Gewirr aus Schaltelementen und Chips in der Verkleidung einer Computermaus. Sein Mund war trocken, der Durst meldete sich. Er widerstand der Versuchung, noch weitere Nahrungsriegel in sich hinein zu stopfen. Das Gerät in der Rechten, stellte er sich vor das Schott und lauschte den Atemzügen der Bestie. Schlief sie? O ja, sie schlief tief und fest. Nicht mehr lange... Er druckte die linke Taste der Maus, um einen elektromagnetischen Impuls auszulösen. Und war enttäuscht, als keinerlei Gebrüll das gleichmäßige Schnauben auf der anderen Seite des Schotts unterbrach. Nicht einmal die Atemfrequenz des Eisbär-Mutanten veränderte sich. Zurück an den Tisch, weitermachen. Er arbeitete konzentriert, integrierte einen weiteren Chip in die Schaltfläche, verfeinerte den Ampere-Regler, erweiterte die Frequenzwahl. Drei Stunden später der nächste Versuch. Hinter dem Schott der gleichmäßige Atem des Tieres. Es schlief noch immer. Ideale Versuchsbedingungen. Er stellte sein Gerät auf die niedrigste Impulsstufe und drückte auf die Taste. Das Schnaufen auf der anderen Seite des Schotts verstummte. Knurren und Fauchen erklangen stattdessen. »Wir kommen uns näher, mein pelziger Untertan!« Smythe kicherte. Hoch mit dem Regler auf Stufe drei und wieder die Taste gedrückt! Das Tier schrie auf. »Recht so! Brüll für den Herrn der Welt, den Genius der neuen Zeit!« Er schob den Regler auf Stufe fünf, die vorletzte Stufe, und hielt die Taste sekundenlang gedrückt. Lautes Brüllen erhob sich; das Schott erbebte unter den Anläufen des zentnerschweren Körpers. Smythe lachte. »Der erste Schritt wäre getan!« Er kletterte auf seinen Tisch, nahm inmitten von Bauteilen, Okularen, Drähten und Waffen Platz und schälte sich einen Nahrungsriegel aus der Verpackung. Ein Blick auf die Uhr: noch mindestens zweiunddreißig Stunden Zeit. »Aber warum soll mich der Durst länger quälen? Hab ich das nötig?« Während er aß, traktierte er das Raubtier mit Stromstößen. Draußen vor dem Schott brüllte und fauchte 10
die Bestie. Der Riegel schmeckte so trocken, dass Smythe nur die Hälfte davon herunter würgte. Er schob den Regler auf Stufe sechs. In 30-Sekunden-Intervallen drückte er die Taste. Zum Schluss hielt er sie fast eine Minute lang fest. Das Gebrüll draußen vor dem Schott ging erst in jämmerliches Jaulen, dann in Gewimmer, dann in Winseln und Röcheln über. Smythe ließ sich vom Tisch gleiten und nahm den Sender in die Linke. Mit der Rechten legte er das leichteste und handlichste der Gewehre an. Er wankte, als er zum Schott ging. Ein Weilchen lauschte er noch dem Gewinsel auf der anderen Seite. Es war kaum noch wahrnehmbar. Und das gefiel ihm. Er erhöhte Taktfrequenz und Ampere bis zum Anschlag, drückte aber die Maustaste nicht, sondern öffnete das Schott. Das matte Licht aus dem Bunker sickerte in die Dunkelheit des großen Vorraums. Betonsäulen, Feuerstellen, Geröll überall. Die Bestie lag an der Leiter unter dem Einstieg. Tageslicht fiel durch den quadratischen Schacht in der Decke auf einen weißen, zuckenden Pelzhaufen. Gewehr und Impulsgeber auf sie gerichtet, näherte sich Smythe der waidwunden Kreatur. Ihr Schädel lag in einer blutigen Schleimpfütze mit Knochenteilen und Fleischfetzen ihrer letzten Mahlzeit. Die Zunge hing geschwollen und violett zwischen den Reißzähnen, die Augen waren weit aus den Höhlen getreten. Sie hechelte. »Willkommen im Kreis der Erleuchteten«, höhnte Smythe. Er ging zurück in den Bunker, stöberte in Stauräumen und Truhen herum, durchwühlte Schränke und Regale. Mit einer Rolle Kupferdraht und einem Knäuel Gummiband kehrte er zu dem Izeekepir zurück. Das Tier verdrehte die Augen nach ihm, zuckte mit den Pranken, versuchte den Schädel zu heben, ließ ihn aber kraftlos in die Pfütze seines Erbrochenen klatschen. Smythe fesselte Vorder- und Hinterläufe mit Kupferdraht und verschnürte die Schnauze mit dem Gummiband. Mit der Drahtzange seines Kombiwerkzeugs knipste er der Bestie anschließend die Krallenspitzen ihrer Pranken ab. Danach stieg er die Leiter hinauf ins Freie. Es war inzwischen Nacht geworden. Und kalt war es. Gefrorenes Quecksilber schien ihm durch Kehle und Luftröhre zu sickern, als er tief einatmete. Die Schneefläche zwischen den Ruinen erinnerte ihn an das Rollfeld der Air Base in Berlin Köpenick. Ein halbes Jahrtausend her. Bäuchlings warf er sich in das nasskalte Pulver und aß Schnee. Stunden später kramte er in dem Wust aus Einzelteilen auf dem Tisch vor dem Schott. Eine Idee krallte sich in sein Hirn. Den Eisbär-Mutanten töten? Sicher, für den Herrn der Welt war das ein Leichtes. Aber er wollte mehr! Viel mehr! Vielleicht lag ja noch ein langer Weg vor ihm. Und vielleicht hatte dieser Schweinehund von Albino sich längst sein Luftkissenboot, die Twilight of the Gods unter den Nagel gerissen, dieser lächerliche Parzival-Verschnitt mit seinem weißen Köter! »Elender Mistbock!« Smythe hasste ihn. Zu gern hätte er seinen Namen gewusst. »Wenn du mein Schiff anrührst, wenn du es wagst...« Vor ihm lagen die Einzelteile der Mikroskope und des Feldstechers - Fassungen, Linsen, Objektive. Jede Linse probierte er aus, kombinierte einzelne Gläser miteinander, sah hindurch. Dabei trat er jedes Mal ein paar Schritte vom Tisch zurück bis in den Vorraum mit den Betonsäulen hinaus und richtete sein Glas auf den Haufen der elf verbliebenen Nahrungsriegel. Nach vielen Versuchen war er endlich zufrieden: Die Nahrungsriegel auf 11
dem Tisch türmten sich vor seinem Auge auf wie ein Gebirge aus braunem Fels. »Perfekt!« Die Bestie an der Leiter unter dem Einstieg knurrte schon wieder. Knurrte, fauchte, warf den Schädel hin und her und versuchte sich auf den Rücken zu wälzen. Smythe setzte die Linsenkombination ab und richtete den Impulsgeber auf das Tier. »Du wirst die Welt mit neuen Augen sehen!« Er drückte auf die Taste, der Pelzhaufen bebte, winselte, bäumte sich auf. »Mit einem neuen Auge, um es präziser auszudrücken!« Er schloss das Schott, schob in einer Ecke ein paar Decken und Felle zusammen, die er im Vorraum gefunden hatte, und schlief etwa drei Stunden lang. Anschließend holte er Schnee von der Erdoberfläche und sah sich im Vorraum um. Er fand ein Gefäß mit getrockneten Beeren und unter Eisbrocken in einem Erdloch einen Korb voller gefrorener Fische. »Prächtig, prächtig!« Er lachte meckernd, während er seinen Fund in den Bunker schleppte. »Wie einst um Elia, kümmert sich der Engel des Herrn um mich! Wie einst Mose und die Kinder Israel verpflegen die himmlischen Heerscharen den Herrn der Welt!« Auf der Schwelle des Schotts wandte er sich nach dem gebrochenen Tier um. »Und du sollst der feurige Streitwagen sein, auf dem ich durch Wüste und Meer presche!« Er breitete ein paar Fische auf der zerstörten Instrumentenkonsole aus, um sie aufzutauen. Dann schmolz er Schnee, aß drei Riegel Trockennahrung und trank Wasser. Danach wickelte er die Linse in einen Lederfetzen, schnitt auf beiden Seiten ein kreisrundes Lederstück heraus, so dass über eine uhrglasgroße Fläche kein Leder mehr die Linse bedeckte. Zum Schluss kramte er einen starken Nylonfaden und eine chirurgische Nadel aus seinem Rucksack. Damit nähte er das kleine Lederkissen über das rechte Auge des Izeekepirs. Er musste der Mutation ein paar Mal die Höchstdosis an Strom geben, um ihn ruhig zu halten. Ganz zuletzt stach er dem Tier das linke Auge aus. Es winselte erbärmlich, war aber viel zu geschwächt, um nennenswerten Widerstand leisten zu können. Das blutverschmierte Kombiwerkzeug in der Hand, stand Smythe auf der Flanke der Bestie. Zufrieden blickte er auf den besiegten und gedemütigten Gegner hinab. »Ich bin Professor Dr. Jacob Smythe und du bist mein Werkzeug! Ohne mich wirst du verhungern! Aber mach dir keine Sorgen - ich beschütze dich!« Er krähte vor Vergnügen. »Ja, wenn du gehorsam bist, beschützt dich der Herr der Welt! Aber wenn du nicht folgst, dann wird er dich bestrafen...!« Er ließ das Raubtier zu Kräften kommen, fütterte es sogar mit einem Fisch. Bald wollte der Izeekepir sich hochstemmen. Smythe wagte es und löste die Drahtfesseln um die Pranken. Gewehr und Impulsgeber im Anschlag, wartete er im halb geöffneten Schott. Der Eisbär-Mutant knurrte, fauchte und wälzte sich ein paar Mal hin und her, bis er endlich auf allen vier Läufen stand. Sein linkes Auge war ein blutverkrustetes Loch. Er brüllte, spähte zum Einstiegsschacht hinauf, witterte, brüllte lauter und sah sich nach Smythe um. Augenblicklich ging sein Gebrüll in Fauchen über. Sein Rückenfell sträubte sich, er jaulte. Dabei drehte er den Kopf hin und her, als wollte er den Menschen im Bunkertor aus einer anderen Perspektive betrachten. Als Smythe auf ihn zu ging, wich er zurück, winselte und drückte sich an die Wand hinter der Leiter. Der Professor kicherte. »Es klappt, o ja, es klappt!« Bis ihn nur noch die Leiter von dem 12
riesigen Pelzkörper trennte, wagte er sich an das Tier heran. Das winselte und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Die Furcht vor dem in seinem Auge gut zehn Mal größeren Menschen lähmte ihn. Smythe ging zurück in den Bunker und holte einen Fisch. Auf der Schwelle des Schotts stand er breitbeinig und hob ihn hoch. »Her mit dir, Deadrax!« Der Name war ihm ganz spontan eingefallen; er symbolisierte sein Wunschdenken: Commander Matthew Drax endlich tot vor sich zu sehen. Der Mutant lugte hinter der Leiter hervor, wagte sich aber nicht aus seiner Deckung. »Na los! Sonst mach ich dir Beine!« Er malträtierte die Bestie mit einem Stromschlag mittlerer Stärke. »Her mit dir, Deadrax! Hol dir den Fisch...!« Drei Wochen verbrachte er damit, den Eisbär-Mutanten zu dressieren. Es bereitete ihm eine höllische Freude. Sein Genius triumphierte über die dumpfe Kreatur: War das nicht ein Vorschatten dessen, was das Schicksal ihm zugedacht hatte? O ja, das war es: Wie er die Relikte der Technik einer untergegangenen Welt, wie er die Nosfera beherrscht hatte und einst die Welt beherrschen würde, so beherrschte er jetzt das weißpelzige Untier. Am zwanzigsten Tag tauchten Menschen in den Ruinen über dem Bunker auf; Männer und Frauen mit Schwertern und Bögen bewaffnet und in Felle gehüllt. Offenbar wollten sie die Vorräte an Trockenbeeren und gefrorenem Fisch abholen. Smythe hetzte den Eisbär-Mutanten auf sie. Nur einer überlebte schwer verletzt. Von ihm erfuhr er, dass der Albino - der Sterbende nannte ihn Rulfan - und das Miststück Aruula mit seinem Luftkissenboot Richtung Nordamerika in See gestochen waren. Smythe tobte. Atlantischer Ozean, 48° Nord, 29° West Oktober 2517 »Er beherrscht den Izeekepir... Er gebot ihm, alle zu töten, vier Männer und drei Frauen... Er nennt ihn ›Deadrax‹... Bei Wudan, ein Mann, der den Izeekepir beherrscht...« Karyaanas Stimme brach. Lang ausgestreckt lag sie auf der Matratze, die Hände im Nacken gefaltet. Merlin sah, dass sie zitterte. Sie flüsterte nur noch. »... er baut einen Sattel aus den Kleidern der Toten... reitet auf dem Izeekepir... Er will nach Westen, an die Küste... er sucht einen Weg nach Meeraka...« Sie seufzte, atmete ein paar Mal schwer und verstummte schließlich. Nur noch das Stampfen der Maschine und das Rattern und Quietschen der Schaufelräder erfüllte den Raum. Die Telepathin war eingeschlafen. Merlin schämte sich ein wenig, sie über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus getrieben zu haben. Aber er musste um jeden Preis wissen, wen er da mit an Bord genommen hatte. Er tippte die letzten Worte in seine Datei, speicherte den Text und fuhr den kleinen Quantenrechner herunter. In der Muschel neben der Tastatur lag eine angerauchte, erloschene Zigarre. Er zündete sie an und ließ die Flamme des Feuerzeugs brennen. Deren Schein fiel auf eine Indianerstatue. Nicht ganz dreißig Zentimeter hoch stand sie neben seinem Computer. Ein halbes Jahrtausend alt. Älter noch wahrscheinlich. Die Farbe an Gesicht, Federschmuck und Kriegsbeil war verblichen. Die Kraft, die von ihr ausging, nicht. Im Gegenteil: Seit Merlins Vorgänger sie ihm überreicht hatte, fühlte er sich ihrem wachsenden Einfluss ausgesetzt. Ja, es war, als würde sie magische Energien verströmen. 13
Das war natürlich Blödsinn und Merlin wusste das - oder versuchte es sich einzureden. Ein Stück Holz konnte keine Kraft ausüben. Er führte seine ihm selbst unerklärlichen Empfindungen auf die Geschichte zurück, die ihm sein Vorgänger erzählt hatte. Die Geschichte der Skulptur, die Geschichte der Familien Roots und Watonga. Die Flamme des Feuerzeugs erlosch. Merlin blies den Rauch gegen die Statue und stand auf. Er wusste nun, warum die Schlächter Smythe für einen Göttersohn hielten: Weil er größenwahnsinnig und gleichzeitig genial war. Eine gefährliche, aber unwiderstehliche Mischung. Er ging zur Koje, beugte sich hinunter und küsste Karyaana auf den Hinterkopf. Ihr graues Haar roch nach Schlick und war feucht. Mit zwei Fellen deckte er sie zu. »Was für ein kluger Mann«, murmelte er. »Was für ein gefährlicher Mann...« Nachdenklich und rauchend schritt er in seiner Kajüte auf und ab. Die Indianerstatue auf dem Tisch schien ihn mit ihren Augen zu verfolgen, Augen, in denen die gespannte Erwartung seiner Vorfahren lag. »Ein kluger und gefährlicher Mann...« Merlin schüttelte den Eindruck, beobachtet zu werden, ab, so gut er eben konnte. »So klug, dass man mit ihm zusammen arbeiten sollte. Und so gefährlich, dass man ihn töten sollte, wenn er die Zusammenarbeit verweigert...« Er löschte die Öllampen an den Wandlüstern und verließ die Kajüte. Vor Smythes Tür blieb er stehen und lauschte. Der Professor brabbelte unverständliches Zeug; im Schlaf, wie Merlin vermutete. Er versuchte die in altertümlichem Englisch hervorgestoßenen, verwaschenen Satzfetzen zu verstehen. Nur einzelne Worte hörte er deutlich, und mit denen konnte er nicht viel anfangen: Schlampe, Twilight of the Gods, Feuerfaust, und immer wieder der Name Drax. Behutsam öffnete Merlin die Tür zur Außentreppe. Er hatte geahnt, dass Smythe ihn belog. Jetzt wusste er es. Von wegen Kinder - diesen Drax verfolgte er. Den Mann, der fliegen konnte. Merlin war nicht sicher, wie er diesen Satz Karyaanas interpretieren sollte. Aus irgendeinem Grund hasste Smythe den Mann namens Drax. So sehr, dass er ihm mit dem gequälten und gezähmten Izeekepir den Tod wünschte. Und auch jene Frau namens Aruula hasste er. Und den Weißhaarigen, den der Sterbende Rulfan genannt hatte. Den vermutlich deswegen, weil er ihm den Izeekepir auf den Hals gehetzt und sein Schiff gestohlen hatte. War dieses Paar ebenfalls hinter Drax her gewesen? Nachdenklich nahm Merlin Stufe um Stufe. Es musste sich um einen wichtigen Mann handeln, wenn gleich drei Menschen die Strapazen einer Atlantiküberquerung auf sich nahmen, um ihn zu finden. Die Stufen waren glatt. Es hatte gefroren. Drax, der Mann, der fliegen kann... Auf Deck angekommen, stellte er sich an die Reling und blickte zurück nach Osten. Ein Streifen roten Nebels leuchtete am Horizont. Der neue Tag kündigte sich an. Es roch nach Feuer und Rauch. Und nach Meer. Ruhig war sie, die See. Erstaunlich ruhig. Die Schaufelräder pflügten durchs Wasser, die Rauchwolke über dem Schornstein zeichnete sich schon deutlich vom Anthrazithimmel ab. In flachem Winkel stieg sie in die Dämmerung hinauf. Eine leichte Brise ließ Merlins Zigarre aufglühen. Haben wir also etwas gemeinsam, dachte er. Smythe lügt, und ich lüge auch. Ein müdes Lächeln flog über sein schwarzes Gesicht, als er sich das bewusst machte. Smythe will 14
nicht nach Meeraka, um seine Kinder zu suchen, und ich will nicht nach Meeraka, um Bericht zu erstatten und eine Leiche abzuliefern. Das nämlich hatte er Smythe gegenüber als Grund seiner Reise angegeben. Nun, offiziell stimmte es sogar: Seit drei Jahren arbeitete Merlin Roots in Malmee; alle drei Jahre stand jedem Besatzungsmitglied der eureeschen Basis ein Heimaturlaub zu, und der Kommandant hatte ihn gebeten, anlässlich seiner Reise die Tote zu begleiten. Dass er bei der Gelegenheit eine Menge Datensätze und einen Bericht in Waashton abliefern würde, verstand sich von selbst. Tatsächlich aber waren der Bericht, die Tote und sogar sein Heimaturlaub Merlin so gleichgültig wie die Rauchfahne über dem Schiffskamin. Was ihn wirklich nach Waashton trieb, wusste niemand. Niemand in der Basis und niemand hier auf dem Dampfer. Abgesehen von Karyaana. Smythe fühlte sich, als hätte er auf einem Nagelbett geschlafen. Jeder Knochen tat ihm weh. Verdammtes Gesöff! Er hüllte sich in seinen weißen Pelz und verließ die Kajüte. Fast fünf Stunden hatte er geschlafen. Sonst kam er mit drei aus. Verdammtes Gesöff! Er schwor sich, es nie mehr anzurühren. In dem schmalen Gang vor der Außentür blieb er stehen und lauschte. Aus der Nachbarkajüte drang Schnarchen. Der schwarze Mann schlief also noch. Smythe stieg zum Außendeck hinauf. Es war kalt aber windstill. Und der Himmel war eine Bleiplatte. An Steuerbord trat er an die Reling. Er fluchte, weil er ausglitt und fast das Gleichgewicht verlor. Eine dünne Eisschicht überzog auch die Reling selbst. Das Schaufelrad machte einen Höllenlärm. Schaumig brodelte das Wasser, wo es eintauchte. Ansonsten war das Meer ruhig. Und seltsam dunkel wirkte es, ein bisschen wie eine schwappende Teersuppe, als wollte es das Licht des neuen Tages abweisen. Er sah auf, weil er kleinere Detonationen aus dem allgegenwärtigen Stampfen, Quietschen, Rauschen und Knarren herauszuhören meinte. Am Schaufelrad vorbei tastete er sich der Reling entlang ein Stück heckwärts. Die wuchtige Gestalt des schwarzen Roots stand dort hinten zwischen den Beibooten im Morgendunst. Also war es seine Konkubine, die er unten in der Kajüte schnarchen gehört hatte. Jedenfalls hielt er die Graumähnige für Merlins Privatnutte. Dass sie keine freie Frau sein konnte, hatte Smythe schon in den ersten Tagen an Bord begriffen. Nicht einmal diese brutalen Kretins mit den verkrüppelten Gesichtern gehörten sich selbst. Jämmerliches Dasein! Merlin Roots zielte mit einer Waffe auf einen Schwarm Möwen, der das Schiff backbords begleitete. Ein Lichtblitz, eine Detonation - diesmal deutlicher -, und mitten im Vogelschwarm explodierte eine Möwe. Ja, es zerriss sie förmlich: Nach allen Seiten spritzten ihre Körperteile davon, Federn segelten durch den Dunst auf die Wogen hinunter. Die anderen Möwen kreischten, flatterten auseinander, sammelten sich weit abseits des Schiffes wieder und drehten ab. Smythe hielt sich am Geländer der Außentreppe zur Kommandobrücke fest. Der Schwarze wandte sich nicht nach ihm um. Vermutlich wartete er, bis der nächste Möwenschwarm sich bis auf Schussweite dem Dampfer näherte. Vorsichtig stieg Smythe die vereisten Stufen hinauf. Es war bereits das dritte Mal, dass er Roots bei morgendlichen Schießübungen beobachtete. Offensichtlich ein Mann, der in Form bleiben wollte. Oder ein Mann, der 15
sich vorbereitete? Smythes wachen Sinnen war es nicht entgangen, dass Roots innerlich unter Hochspannung stand. Nun gut, sein Problem. Die Waffe interessierte Smythe, allein die Waffe. Eine Faustfeuerwaffe, die Explosivgeschosse abfeuert. Wenn sie mir gehört, gehört mir das Schiff... Er zog die Tür zum Ruderhaus auf. Zwei Männer in Wildledermänteln hielten sich drinnen auf. Doch hier oben gab es mehr als nur einen Kapitän und einen Steuermann. Und mehr als einen Sarg mit einer Leiche. Smythe wusste noch nicht, was. Einer der Männer hockte in einem Holzsessel vor einem Tisch mit Seekarten. Er hantierte mit einem Sextanten herum. Roots nannte ihn Schiffsmeister. Smythe wusste zufällig, dass er Braukas hieß. Der zweite stand am Steuerruder. Sie wandten sich gleichzeitig nach ihm um. Und sofort flog jene Scheu über ihre entstellten Gesichter, die Smythe immer wieder aufs Neue erstaunte. Hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, mit welcher Todesverachtung diese Kretins -Roots nannte sie Schlächter - kämpften, mit welcher Brutalität sie ihre Gegner und Gefangenen vernichteten oder misshandelten. Was sich ihnen in den Weg stellte, traten sie nieder. Sie waren wilde Tiere, keine Frage, und dennoch: Roots und den anderen halbwegs zivilisierten Gestalten in jener Ringfestung fraßen sie aus der Hand. Und ihm selbst auch. Ja, wie dressierte Hunde kuschten sie, wenn man sie anfuhr, folgten aufs Wort, wenn man ihnen Anweisungen gab. Als hätte man jedem Einzelnen von ihnen eine Strompeitsche unter die Haut genäht. Smythe fragte sich, was Roots und seinesgleichen mit diesen Barbaren angestellt hatten. Und er fragte sich, wie viele Leute vom Schlage Roots' sich noch in der Festung aufhielten. Außer dem Schwarzen hatte er nur eine Frau im Schutzanzug und einen zweiten Mann zu Gesicht bekommen: Frederic DeLano, ein Major - fragte sich nur, von welcher Armee. Ein schlechter Geschmack kroch Smythe auf die Zunge, wenn er an den Kerl dachte. Der hatte sich aufgeführt wie eine Inkarnation Napoleon Bonapartes. »Ich will den Sarg sehen.« Die Kretins machten begriffsstutzige Gesichter. Sie verstanden kein Englisch; Roots verständigte sich in einer harten, Smythe unbekannten Sprache mit ihnen. Braukas, der Schiffsmeister zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Lippen und dafür ein Pferdegebiss. Smythe hätte sich nicht gewundert, wenn sich unter der schwarzen Klappe über seiner linken Augenhöhle ein Facettenauge verbarg, oder ein Stielauge ähnlich dem der Schnecken. Und dem Mann am Steuer baumelte ein knotiger Hautlappen an der Stelle, wo bei normalen Menschen die Nase aus dem Gesicht ragte. Hinzu kam der viel zu kleine, schnabelartige Mund: Jedes Mal, wenn Smythe ihm auf Deck begegnete, musste er an einen Truthahn denken. Er deutete zur Decke. »Da hinauf. Sarg. Kapiert ihr nicht, ihr Hirnkrüppel? Zum Sarg will ich!« Ob er nun verstand oder nicht, jedenfalls sprang Braukas auf, kletterte die schmale Stiege zur Dachluke hinauf und öffnete sie. Er stemmte sich aufs Dach des Ruderhauses hinaus. Smythe folgte ihm. In zwei Nächten hatte er Roots beobachtet, wie der sich hier oben am Sarg zu schaffen machte. Eine hüfthohe Holzbalustrade friedete das Dach ein. Das war auch nötig, denn das Eis lag hier teilweise fingerdick. Braukas zog auch gleich sein Kurzschwert und begann es 16
abzukratzen. Der Sarg aus geteertem Holz war mit Eisenwinkeln in den Dachbohlen verschraubt. »Mach auf«, befahl Smythe. Wieder dieser hilflose Blick. Smythe schlitterte zum Sarg und klopfte auf den Deckel. »Weg damit, los!« Braukas nickte hastig. Er steckte sein Schwert weg. Mit bloßen Händen löste er die Flügelschrauben am Deckelrand. Er schob den Deckel zur Seite, so dass er diagonal über dem Sarg lag und Kopf und Schultern der Toten sichtbar wurden. Eisgeröll bedeckte sie, Eisbrocken rahmten sie ein. Eine Frau, eindeutig eine uralte Frau. Ihre welke Haut hatte die Farbe nasser Holzasche und ihr bläulicher Mund war ein Strich. Das Haar konnte Smythe nicht sehen; man hatte ihr ein rotes Tuch um den Kopf gebunden. Nichts Friedliches lag auf dem grauen Pergamentgesicht. Durch den schmalen Mund, die spitze Nase und den in den Nacken zurückgebogenen Schädel wirkte es stolz, fast triumphierend. »Wie sympathisch«, murmelte Smythe, und er meinte es ernst. Den Schiffsmeister jedoch zwang der Anblick der Toten in die Knie. Sein Kinn zitterte, er presste die haarigen Hände gegen die Brust und stammelte unverständliche Worte hervor. Eines wiederholte er ständig, so dass Smythe es wenigstens phonetisch heraushören konnte: Lokiraadaukter. Es sagte ihm nichts. Unter ihnen, auf der Leiter wurden Schritte laut. Merlin Roots' schwarzes junges Gesicht erschien in der Luke. »Was beim Kometen haben Sie hier zu suchen, Smythe?!« Er kletterte aufs Dach hinaus, scheuchte den Schiffsmeister ins Ruderhaus hinunter und stellte sich breitbeinig vor Smythe auf. »Was haben Sie hier zu suchen?!«, wiederholte er, und zwar ziemlich barsch, wie Smythe fand. Er sah eine Ader an Roots' Schläfe schwellen, und auch in ihm regte sich der Ärger. »Vorsicht, Roots, Sie wissen nicht, wen Sie vor sich haben.« Der Jüngere taxierte ihn aus schmalen Augen. Seine Kaumuskeln arbeiteten, als würden sich tausend Worte hinter seinen Zähnen stauen. Doch dann sagte er nur: »Jedenfalls einen Gast. Und ein Gast schnüffelt nicht in den intimen Räumen seines Gastgebers herum. »Intime Räume...« Smythe blickte in den Sarg und kicherte. »Verstehe.« Er deutete auf die eisgarnierte Tote. »Wer ist das?« Merlin antwortete nicht. »Eine bedeutende Person, vermute ich.« Merlin schwieg. Unter dem offenen Pelz trug er einen grauen Thermokombi und einen Waffengurt. Smythe schielte nach dem geschwungenem Kolben seiner exotischen Faustfeuerwaffe. »Was bedeutet ›Lokiraadaukter‹?« Merlin zögerte, antwortete dann aber doch. »Tochter der Lokiraa. Lokiraa nennen die Schlächter ihre Hauptgöttin.« »Die Tochter einer Göttin? Wie witzig.« Smythe kaute auf seiner Unterlippe herum, während er in Merlins Miene zu lesen versuchte. Doch die schien in diesen Minuten aus Basalt. »Fressen sie euch aus der Hand, weil sie euch für Göttersöhne halten, he?« Er kicherte. »Prächtige Idee, wirklich prächtig. Aber kann eine Göttertochter sterben?« »Mitunter.« »Soso.« In Smythes Glubschaugen glitzerte ein Licht, das Merlin unheimlich vorkam. Aber er hielt seinem Blick stand. »Und woran ist Lokiraas Tochter gestorben?« »Sie war hundertneun Jahre alt.« Merlin bückte sich zum Sarg hinunter und schob den Deckel wieder zurecht. 17
»Sie stirbt also an hundertneun Jahren, aha.« Smythe spürte, dass er ein Geheimnis anrührte, er spürte die Wunde unter seinem Finger, es machte ihm Spaß, in ihr zu bohren. »Was wird da eigentlich gespielt in dieser gigantischen Festung, Roots? Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie zu dritt Hunderte dieser wilden Kerle in Schach halten?« »Wir sind zu zwölft.« Merlin drehte die Flügelschrauben zu. »Wir waren zu zwölft. Aber wenn Waashton eine neue Molekularbiologin über den Ozean schickt, werden wir wieder vollständig sein.« »Eine neue Tochter Lokiraas?« Smythe lauerte auf jedes Wort des Jüngeren. Der richtete sich auf und sah ihm ins Gesicht. »Sie sind ein schlauer Fuchs, Professor.« »Das weiß ich selbst, Roots. Tragen Sie auch den Namen eines göttlichen Sprösslings?« »Ja. Die Schlächter nennen mich Meister Brakizon. Bragi ist in der nordischen Mythologie der Gott der Weisheit und der Dichtkunst.« »Oha!« Smythe verneigte sich. »Ich stehe einem Gottessohn gegenüber!« Er kicherte. »Was für eine Ehre!« Er schlug Merlin gönnerhaft auf die Schulter. »Ihr seid mir schon ein gerissenes Völkchen, alle Achtung!« Merlin deutete auf die Luke, und Smythe kletterte als Erster hinunter. »Auch zwölf noch so gerissene Schlauberger halten keine Tausendschaft dieser Barbaren in Schach! Was wird gespielt, junger Mann? Erzählen Sie es mir. Was treiben Sie und die anderen Götter an der schwedischen Küste?« »Sie kennen den antiken Namen des Landes?« Merlin staunte. Was für ein seltsamer Mann! Er schloss die Luke über sich und verriegelte sie. »Erzählen Sie schon.« Smythe wartete am Fuß der Leiter. »Warum benehmen sich diese herrlich grausamen Kreaturen wie kastrierte Schoßhunde, sobald wir in ihrer Nähe sind? Nur weil sie uns für Göttersöhne halten?« Von halber Höhe der Leiter sprang Merlin in das Ruderhaus hinunter. In ihrer Sprache befahl er dem Schiffsmeister und dem Steuermann von Smythe keine Anweisungen mehr entgegen zu nehmen. Dann verließ er die Kommandobrücke. »Ich kriegs sowieso raus, Roots, verlassen Sie sich drauf. Ich krieg alles raus, was ich rauskriegen will!« Smythe hatte Mühe, Merlin zu folgen. Der drehte sich am Fuß der Treppe nach ihm um. »Hören Sie zu, Professor.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Es störte ihn, zu Smythe aufsehen zu müssen. »Die Ringfestung und ihre Umgebung sind Territorium der World Council Agency. Auch hier auf diesem Schiff befinden Sie sich auf Hoheitsgebiet des Weltrats...« Zwei Stufen über Merlin blieb Smythe stehen. Der Begriff Weltrat elektrisierte ihn geradezu. »... und wenn Sie es wünschen, werde ich Sie unserem Präsidenten Victor Hymes vorstellen. Vielleicht lässt er sich herab, Ihre Neugier zu stillen. Von mir erfahren Sie kein Wort. Es sei denn...« Smythe grinste. Er zog sich den Izeekepir-Schädel über den Kopf und stieg die vorletzte Stufe zu Merlin hinab. »Du weißt nicht, mit wem du sprichst, Junge.« Beide Hände legte er dem schwarzen Mann auf die Schulter. Sein Blick bohrte sich in dessen Augen. Merlin wäre gern einen Schritt zurück gewichen, aber Smythe hielt ihn fest. »Du hast ja keine Ahnung, wer vor dir steht. Keine Ahnung hast du, wem du hier glaubst Bedingungen stellen zu können.« Er lachte laut. »Nenn sie mir trotzdem.« »Es sei denn, Sie sagen mir die Wahrheit.« »Die Wahrheit«, kicherte Smythe. »Ich will wissen, wer Sie sind, woher Sie kommen und was Sie vorhaben.« 18
Von einer Sekunde zur anderen verschwand jede Spur von Spott und Heiterkeit aus Smythes knochigem Gesicht. »Ich will, was mir zusteht, Junge. Ich will die Weltherrschaft.« Fast feierlich waren seine Miene und Stimme. Seine Finger krallten sich in Merlins schwarzem Pelz fest. »Und ich bin ein Zeitreisender, ein Marco Polo der Zeiten, ja, das bin ich.« Einen Augenblick lang spürte Merlin, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten. Eine Gänsehaut zog über seine Schultern. Doch sofort fasste er sich wieder. Er schob Smythes Arme von sich weg und trat einen Schritt zur Seite. »Was Sie nicht sagen, Professor.« Seine Rechte fuhr in die Brusttasche seines Thermokombis und tauchte mit einer Zigarre wieder auf. »Aber verarschen kann ich mich selbst.« Atlantischer Ozean, 45° Nord, 51° West November 2517 Die Tage schlichen dahin. Ereignislos und quälend langsam. Dennoch wuchs Merlins Unruhe mit jedem Sonnenaufgang. Manchmal glaubte er es sicher zu wissen: Das Schicksal hielt nur noch eine begrenzte Anzahl von Sonnenaufgängen für ihn bereit. Dann brach ihm der Schweiß aus und er übte Schießen, oder er schlief mit Karyaana oder trank einfach nur Bier. Es wurde Ende Oktober, es wurde Mitte November. Merlin stand neben Braukas auf der Kommandobrücke. Den Feldstecher an die Augen gepresst, beobachtete er die weißen Punkte, Linien und Flächen am westlichen Horizont. Immer häufiger mussten sie Eisschollenfeldern ausweichen. Die Ankunft an der meerakanischen Küste würde sich verzögern. Um mindestens eine Woche. Merlin wusste nicht, ob er das begrüßen oder bedauern sollte. Braukas jedenfalls lag ihm mit seinen Sorgen um den schwindenden Holz- und Kohlevorrat in den Ohren. Oft hielt Merlin sich hier oben im Ruderhaus auf der Kommandobrücke auf. Mit der Leiche im Sarg beschäftigte er sich ausschließlich nachts. Von der Kommandobrücke aus konnte er jeden Schritt des Professors beobachten. Vorausgesetzt er hielt sich auf dem Außendeck auf. Und das tat er häufig: Unruhig wanderte er dann um die Decksaufbauten zwischen Bug und Heck des kleinen Dampfers herum. Manchmal sah er zur Kommandobrücke hinauf und winkte. Merlin nickte nur verdrossen zurück. Er spielte mit dem Gedanken, den Professor in Ketten legen zu lassen und ihm die Droge gewaltsam zu verabreichen. Smythe weigerte sich nämlich hartnäckig, einen Bierkrug auch nur anzurühren. Merlin machte sich nichts vor: Der seltsame Mann hatte Verdacht geschöpft. Das wachsende Misstrauen beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit. Der Professor fing sogar an, sich seinen Fisch selbst zu angeln und dessen Zubereitung in der Kombüse zu überwachen. Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedachte, wie viel Nahrung der Mann in sich hinein stopfte. Er litt unter einer Schilddrüsenüberfunktion; eine Diagnose, die Merlin auch ohne medizinische Kenntnisse hätte stellen können. Die hervorquellenden Augen, die wenigen Stunden Schlaf, mit denen Smythe auskam, die Hektik in seiner Stimme und seinen Bewegungen - der Stoffwechsel des Mannes musste eine Unmenge an Energie produzieren und verbrauchen. »Wir umschiffen das Treibeis Richtung Norden«, sagte Merlin in der Sprache der Schlächter. 19
»Warum nicht in südlicher Richtung?«, wunderte sich der Schiffsmeister. »Auf Nordkurs laufen wir Gefahr, noch größeren Feldern zu begegnen!« »Wir weichen nördlich aus. Wenn wir den Kurs ständig in südlicher Richtung korrigieren, überqueren wir irgendwann den dreiundvierzigsten Breitengrad und erreichen die Küste viel zu weit südlich. Und man erwartet uns in Boosten.« Boosten lag etwa auf dem 43. Breitengrad Nord. Dort unterhielt der Weltrat seine nördlichste Basis. Und dort gingen gewöhnlich die Schlächterschiffe vor Anker. Von Boosten aus brachten dann Panzer die Gesandten der eureeschen Basis üblicherweise nach Waashton. Die Zentralbasis direkt anzulaufen verbot sich der Geheimhaltung wegen. Backbords, zwischen Bug und Schaufelrad, warf Smythe eine Angelleine aus. Schon wieder fing er sich sein Mittagessen selbst. Dieser Fuchs! Merlin hatte viel über ihn nachgedacht in den letzten Wochen. Dass er wahnsinnig war, stand für ihn fest. Ausgeschlossen, einen Verrückten als Bundesgenossen zu rekrutieren. Ausgeschlossen erst recht, einen Verrückten in seine Pläne einzuweihen. Die waren so schon unkalkulierbar genug. Und lebensgefährlich dazu. Aber der Professor war eben auch ungewöhnlich klug. Vielleicht gab es einen Weg, sich beides zunutze zu machen: Smythes Intelligenz und Größenwahn? Doch dazu musste er mehr über ihn erfahren. Nur sah Merlin im Augenblick keinen Weg, ihm die Droge zu verabreichen, ohne dass er es merkte. Sicher: Karyaana belauschte ihn so oft sie konnte - und so weit ihre Kraft es erlaubte. Als schroff, ja stachelig beschrieb sie die Empfindungen, die sie überfielen, wenn sie den Geist des Professors berührte. Ihn zu belauschen strengte sie weit heftiger an als in den Gedanken Gefangener zu lesen. Merlin stellte sich diese Arbeit ein bisschen vor, wie Schächte unter Tage zu bohren, wie Kohle aus dem Fels zu hacken, wie Eisen zu schürfen. Als Nicht-Telepath musste er sich mit unzureichenden Bildern behelfen, um wenigstens andeutungsweise zu ahnen, was für eine mentale Anstrengung das Lauschen tatsächlich bedeutete. Smythe lehnte über der Reling und beäugte den Tanz des Schwimmers auf dem Wasser. Ein Schlächter hielt für ihn die Angelrute, einer der Heizer. Er hatte gerade eine Freischicht und sollte eigentlich schlafen. Merlin ärgerte sich: Wie oft hatte er den dreizehn Seeleuten schon eingeschärft, von Smythe keine Befehle mehr entgegen zu nehmen! Auf unbegreifliche Weise gelang es dem Professor immer wieder, einen der Schlächter um den Finger zu wickeln. Was für ein gefährlicher, geradezu diabolischer Mann! Ich sollte ihn in Ketten legen, dachte Merlin. Von Karyaana wusste er, dass Smythe ihn in Verdacht hatte, Meisterin Lokiraadaukter ermordet zu haben. Jedes Mal, wenn er daran dachte, fröstelte ihn. Karyaana hatte weiter herausgefunden, dass er sich in Gedanken oft mit dem Weltrat und dem Präsidenten beschäftigte. Das gefiel Merlin. Allerdings dachte Smythe genauso oft an seinen Driller. Das gefiel Merlin keineswegs. Es beunruhigte ihn sogar mehr als die vielen Bilder und Gedankenfetzen, die Karyaana darüber hinaus Tag für Tag aus Smythes Geist fischte. Meist Allmachtsfantasien, in denen er sich selbst in den unterschiedlichsten Posen eines Weltherrschers sah: In einem prachtvollen ovalen Raum hinter einem antiken Schreibtisch voller Telefone und Monitore; in einem länglichen Raum hoch über den Wolken; auf einem Thronsessel umjubelt von Massen, und so weiter. Häufig schilderte Karyaana Bilder und Szenen, von denen Merlin nicht sicher sagen konnte, ob sie Smythes Allmachtsfantasien entsprangen oder zu seinem Erinnerungsschatz 20
gehörten: Smythe in einem kuppelartigen düsteren Raum, erhellt nur von vielen Monitoren und einer riesigen Projektionsfläche, auf der Sterne funkelten; Smythe in einer Art Thermokombi und mit Helm unter einer Klarsichthaube in einem sehr engen Raum voller Instrumente; Smythe, wie er über der Wolkendecke in jenem engen Raum dahin raste und eine Faust aus Feuer und Glut bestaunte; Smythe umgeben von schwarz vermummten Gestalten, deren Gesichter Karyaana nicht anders denn als Gesichter von Toten zu beschreiben wusste; Smythe auf einer Art Schiff, das über den Wellen schwebte; Smythe, der eine Frau misshandelte, von der Karyaana behauptete, es sei eine Frau ihres Volkes ... Bilder- und Gedankenfetzen jedenfalls, auf die Merlin sich keinen Reim machen konnte. Er ging vorläufig davon aus, dass es in einem kranken Hirn eben so und nicht anders auszusehen hatte. Unter ihnen an der Reling zerrten Smythe und der Heizer gemeinsam an der Angelrute. Die bog sich zu einem Halbkreis. Andererseits schienen Merlin diese exotischen Bilder auch ein Beleg für die Genialität des Professors zu sein. Und der einzige Grund, warum er noch zögerte, ihn unter Deck in Ketten legen zu lassen, war die Hoffnung, ihn vielleicht doch noch als wirkungsvolle Waffe für seine eigenen Pläne einsetzen zu können. Er beobachtete, wie zwei weitere Schlächter zu den Anglern liefen. Zu viert versuchten sie die Angelleine einzuholen. Zwei hielten die Rute, Smythe hatte sich Handschuhe übergestreift und kurbelte an der Leinentrommel. Und der dritte Schlächter zerrte an der Leine und schwenkte einen großen Käscher. Die Eilfertigkeit, mit der die Schlächter dem Mann im Izeekepirpelz zur Hand gingen, beunruhigte Merlin nicht nur, sie machte ihm Angst. Ich spreche heute noch einmal mit ihm, dachte er. Drei Tage Zeit gebe ich ihm, dann redet er, oder ich lasse ihn fesseln. Sonst kommt er mir noch zuvor... Die Schlächter winkten und brüllten über die Schulter, bis wieder drei Seeleute herbei eilten: ein Heizer, der eigentlich die Kessel bewachen sollte, ein Maschinist auf Freischicht und eine Küchenhilfe, die gleichzeitig das wichtige Amt der Bordhure bekleidete, eine Gefangene aus Zentral-Euree. Sie hieß Karnien. Merlin trat an Backbord ans Seitenfenster und setzte seinen Feldstecher an die Augen. Mit vereinten Kräften zogen sie einen Fisch so lang wie ein Männerbein an die Bordwand. Einer der Schlächter holte eine kleine Streitaxt, kletterte an einer Strickleiter über die Reling und schlug ihn tot. Ein paar Minuten später lag die Beute auf den Decksplanken in ihrem Blut, ein Katzenhai von mindestens vierzig Pfund. Die Schlächter, die Küchenhilfe und Smythe standen um den Fisch herum, und zumindest die Schlächter schienen ziemlich beeindruckt zu sein. Smythe sah über die Schulter zurück zur Kommandobrücke hinauf. »Hey, Roots!« Er winkte. »Ich lade Sie zum Essen ein, und Sie lassen Ihre Lady im Gegenzug ein paar Krüge Bier zapfen, was halten Sie davon?« Merlin - er traute seinen Ohren nicht - hätte nicht sagen können, was er lieber täte. »Er schläft.« Karyaana lag bäuchlings auf Merlins Koje. Zu laut dröhnten die Maschinen und Schaufelräder, als dass man irgendein Geräusch aus der Nachbarkajüte hätte hören können. Aber Merlin wusste, dass Smythe längst schlief - er hatte ihn gestützt auf dem Weg hinab ins Unterdeck und ihn persönlich in seiner Koje abgelegt. 21
»Dann los. Wir haben wenig Zeit. Selbst mit vier Krügen Bier braucht er nicht viel Schlaf.« Er zog die Muschel heran, drückte seinen Zigarrenstummel aus, fuhr seinen Quantenrechner hoch und lud die Datei. Drei Stunden lang hatten sie an der Tafel im Gemeinschaftsraum unter Deck gesessen, hatten geschmorten Fisch verspeist und Bier getrunken. Für Karyaana war es ein Kinderspiel gewesen, das Neuromorphan gleich in Smythes zweiten Krug zu träufeln. Selten gut gelaunt war er gewesen, der Professor. Merlin führte es auf die fette Beute zurück, und die unverhohlene Bewunderung, die Smythe von den Schlächtern entgegengebracht wurde. Höchste Zeit zu handeln. Aber erst einmal stand sein Bewusstsein offen wie eine Stadt ohne Mauern. Karyaana barg den Kopf zwischen ihren Armen. Ein paar Minuten verstrichen. Dann flüsterte sie: »Er kommt aus der Vergangenheit.« Merlin zuckte zusammen. Er sprang auf und lief zur Koje. »Ich sehe ihn mit einem Blechwagen durch Straßen fahren, die voll von anderen Wagen sind, und von Häusern gesäumt, so hoch und so hell erleuchtet wie die Häuser, von denen du mir erzählt hast.« Merlin nickte stumm. Karyaana war begierig gewesen, möglichst viel über die Zeit vor »Christopher-Floyd« zu erfahren, und er hatte ihr alles berichtet, was er aus den Datenbanken und Videoaufzeichnungen wusste. »Ich seh ihn in einem Eisenvogel fliegen, nahe den Sternen. Vor ihm sitzt der blonde Mann, den er ›Drax‹ nennt...« Merlin lief zurück zum Tisch, zog die Tastatur heran und begann niederzuschreiben, was Karyaana sagte. »... sie starren ein Licht an, das aus dem All kommt; es gleicht einer Keule aus Feuer und rast der Erde entgegen... Kristofluu! Sie sehen Kristofluu...! Jetzt fällt der Eisenvogel aus dem Himmel, er rast über zerklüftete Eisgipfel. Der Professor wird aus dem Vogelkörper geschleudert, er schwebt an einer Stoffblase den Eisgipfeln entgegen...!« Die Worte sprudelten aus ihr heraus. Merlin kam kaum hinterher, alles zu dokumentieren, was Karyaana im Geist des Wahnsinnigen sah: wildes Viehzeug, Blut saugende Mutanten in schwarzen Umhängen, Menschen in einer Hafenstadt Britanas, die seine Hilfe als Arzt suchten, und wieder das schwebende Schiff, den Kalten Sund, die Südküste des Nordlandes, den Izeekepir. »... er reitet auf dem Izeekepir, Wochen ... Monate lang. Das Tier fängt ihm Fische und Reenas. Schneestürme halten ihn auf, kriegerische Barbaren; er hetzt die Bestie auf sie. Er schläft in den Iglus der Fischer an den Seeufern im Norden, nimmt sich Frauen, raubt Fleisch und Felle und zieht weiter nach Westen. Er will zur Küste... und da! Was ist das?! Ein Wurm? Eine Schlange, eine dicke Schlange aus Eisen...?« Ehemaliges Mittelschweden, April 2517 Viel zu lange war er schon unterwegs, hungrig, müde, missgelaunt. Und er hatte keinen Schimmer, wo genau er sich befand. Niemals hatte er sich mit der Geographie Skandinaviens beschäftigt, warum auch? Skandinavien! Keinen vernünftigen Nordamerikaner hatte das interessiert. Okay - Stockholm oder Oslo, in etwa wusste man, wo das lag. Wenn der Nobelpreis anstand, hatte man schon mal einen Blick auf die Landkarte riskiert. Damals in den guten alten Zeiten, anderthalb Jahre her oder auch fünfhundert. 22
Nur dass er sich westlich halten musste, um zur Küste des Skagerraks zu gelangen, das wusste er. Und als er das Ufer des großen Sees erreicht hatte, glaubte er schon, endlich am Ziel zu sein. Aber dann schmeckte das Wasser süß, und dem Gefasel der Eingeborenen entnahm er, dass die Meeresküste sich hundertvierzig Kilometer weiter südwestlich befand. Der Westen lag also im Südwesten - alles klar. Ein paar Tage hatte es schon gedauert, bis Smythe begriff. Sein Kompass funktionierte zwar noch, aber der Nordpol lag nicht mehr im Norden. Der Komet, dieser göttliche Kreator, hatte die Erdachse verschoben. Herzlichen Glückwunsch! Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen? Oder war es das und er hatte es wieder vergessen? Wenigstens gab es in dieser kalten Gegend so etwas wie Frühling: Der Schnee war bis auf wenige Flächen in Wäldern und im Schatten von Hügel oder großer Eichen und Kiefern weggetaut. Gras spross, Birken und Eichen schlugen aus, und Wild, das Smythe an Rentiere erinnerte, paarte sich. Mit der Strompeitsche zwang er den Eisbär-Mutanten, sich hin und wieder einen leichtsinnigen Liebenden zu greifen. Brennmaterial für seinen Stoffwechsel war also nicht das Problem. Als er vom Seeufer Richtung Küste aufbrechen wollte, kehrte der Winter zurück. Am Abend noch knospende Bäume, rötliches Heidekraut und zaghaft keimendes Gras in der Uferböschung und zwischen den Hütten - am Morgen alles weiß und gefroren und eine Kälte, die den Atem des Izeekepirs in Eiszapfen unter seinem Rachen verwandelte. Smythe wartete ab: einen Tag, zwei Tage, drei Tage, eine Woche. Die Wetterlage änderte sich nicht. Nichts sprach dafür, dass der Frühling sich in absehbarer Zeit wieder gegen den plötzlichen Kälteeinbruch durchsetzen würde. Also packte er Proviant, Felle und seine wenigen Habseligkeiten zusammen, sattelte die gezähmte Bestie und ritt nach Südwesten. Es geschah an einem Abend drei Tage nach dem Aufbruch von jenem großen See. Smythe hatte einen Unterstand aus Fellen und Rundhölzern errichtet; Material, das er den Wilden am See abgenommen hatte. Er wollte ein Feuer entzünden, um Fleischreste vom Morgen aufzuwärmen, als die Bestie plötzlich ein jämmerliches Gewinsel anstimmte. Das Tier tänzelte hin und her, warf den Kopf in den Nacken, heulte und zerrte am Lederband, mit dem Smythe es an eine Eiche gebunden hatte. Der Schnee stäubte unter seinen Pranken und drohte das mühsam entzündete Feuer zu ersticken. »Was geht dir durchs Hirn, Deadrax?« Smythe angelte den Impulsgeber aus der Tasche und verpasste dem Tier einen leichten Stromschlag. »Gib Ruhe!« Das Raubtier winselte und jaulte, und auf einmal nahm auch Smythe es wahr: Ein leises Summen lag in der Luft, als würden Stromaggregate im Wurzelwerk des Eichenhains arbeiten. Er kramte sein Fernglas aus dem Gepäck und suchte den Horizont in allen Himmelsrichtungen ab. Es kam aus dem Osten. Oder nein: aus dem ehemaligen Osten, aus dem Nordosten also. Es sah aus wie ein Hochgeschwindigkeitszug - stumpfschnauzig, spindelförmig, nur kürzer und irgendwie klobiger. Das Ding war schwarz. Auf breiten Kettenschuhen pflügte es durch den Schnee auf seinen Lagerplatz zu. »Besuch, würd ich sagen. Schauen wir mal.« Smythe fürchtete sich nicht. Wovor auch? Er war ja der Herr der Welt. Vorsichtshalber band er den Eisbär-Mutanten los und kletterte in den Sattel. »Los, Deadrax - reiten wir ihnen entgegen.« Das alte Gewehr in die Hüfte gestemmt und den 23
Impulsgeber in der Rechten, lenkte er das Tier auf Konfrontationskurs zu dem fremdartigen Gefährt. Postapokalyptische Barbaren steuerten es nicht, so viel schien sicher zu sein. Die Konturen des schwarzen Kettenfahrzeugs zeichneten sich überdeutlich im Schnee ab. Es rollte bis auf knapp dreihundert Meter heran. Dann stoppte es. Das Summen verstummte. Der Izeekepir scheute und winselte. Mit der Strompeitsche zwang Smythe ihn, weiter zu laufen. »Wir fürchten niemanden, ist das klar?!« Für einen Moment wurde ihm die Komik der Situation bewusst: Ein einzelner Mann in einem Ledercape und in verschlissenem Kombi der US Air Force ritt auf einem EisbärMutanten mit einer Eigenbauwaffe einer Art Hightech-Panzer entgegen. Er kicherte. In der Karosserie des schwarzen Kettenfahrzeugs spiegelte sich kein Tageslicht. Nicht einmal in der Kuppel, die sich kurz vor der stumpfen Schnauze aus dem ansonsten stromlinienförmigen Rumpf erhob. Alles an der Maschine war von einem matten Schwarz, selbst die Ketten, als hätten seine Erbauer sie mit einer Hülle aus Samt überzogen. Es war etwa fünfundzwanzig Meter lang, gut vier Meter breit und genauso hoch. Seitlich öffnete sich eine Luke im vorderen Drittel. Eine Gestalt glitt aus dem Rumpf. Eine merkwürdig starre Gestalt; sie erinnerte Smythe an einen Hydranten. Auch sie war schwarz und bewegte sich auf Ketten voran. Der Eisbär-Mutant senkte den Schädel und stemmte seine Vorderläufe in den Schnee. Er fauchte, und die niedrig dosierten Stromschläge konnten ihn nicht mehr zum Weitergehen bewegen. Smythe verzichtete darauf, die Amperezahl zu erhöhen. »Also gut«, sagte er. »Soll er zu uns kommen. Warum auch nicht? Schließlich wollen die was von uns und nicht wir von ihnen.« Die schwarze Gestalt rollte näher. Ihr Kettenfahrwerk machte ein Geräusch, als bestände es aus Kunststoff. Es war kein Mensch, der ihm da entgegenkam, kein lebendes Wesen. Smythe zog eine Augenbraue hoch. »Ein Roboter, wie interessant. Man wagt sich nicht persönlich in unsere Nähe, man schickt einen mobilen Automat.« Er verstand das als Geste des Respekts und der Furcht, und diese Geste schmeichelte ihm. Sein Körper straffte sich, er hob den Kopf und stemmte die Faust mit dem Impulsgeber in die Hüfte. Die Robotraupe hielt fünf oder sechs Schritte vor dem Izeekepir. Vielleicht war sie achtzig Zentimeter hoch, vielleicht auch weniger. Ein lächerliches Ding jedenfalls. Metallstummel bekränzten seine eiförmige Spitze. Antennen, vermutete Smythe. Der Izeekepir warf den Kopf hin und her und fauchte das Gerät an. Eine blecherne Stimme drang aus dem Inneren. Knackende, zischende Laute. Sie erinnerten Smythe an die Sprache, in der die Barbaren am Seeufer sich unterhielten. Er reagierte nicht, sondern beäugte den Apparat neugierig. Was würde geschehen? Er war gespannt. Wieder löste sich eine Wortkaskade aus dem Kopfteil der Maschine. Diesmal erkannte Smythe einzelne Worte, die eindeutig russisch klangen. Russisch hatte er nie gelernt. »Wenn ich dieses Theater richtig verstehe, wollt ihr Kontakt mit mir aufnehmen«, sagte er auf Englisch. »Dann wählt eine zivilisierte Sprache, wenn ich bitten darf. Und kriecht endlich aus eurer Blechröhre. Ein Mann wie ich wird persönlich begrüßt!« Sekundenlang blieb das schwarze Gerät stumm. Dann erklang eine Stimme in lupenreinem Englisch: »Identifizieren Sie sich bitte, Sir.« 24
Smythe runzelte die Stirn. »Wenn Sie Interesse daran haben, mich kennen zu lernen, stellen Sie sich gefälligst zuerst vor.« Wieder sekundenlange Stille. Smythe spähte hinüber zur schwarzen Raupe. Er machte sich klar, dass der Roboter seine Eindrücke wahrscheinlich nicht selbstständig verarbeitete, sondern alles zum Mutterschiff übertrug, was seine Mikrofone, Sensoren und Kameras aufnahmen. Und dort drüben, unter der Kuppel im Bug des Panzers saßen Leute, die den Metallstummel als Lautsprecher benutzten. »Moskwa neunzehn, zweites Expeditionsbataillon, Außenbasis Helsinki, Kommando Oberst Milanow.« Die Stimme klang rau und brüchig, und sie sprach ein hartes, etwas holpriges Englisch, aber sie wirkte so menschlich, dass Smythe zunächst die Worte fehlten. »,Und jetzt Sie, Sir«, tönte es aus dem Roboter. »Professor Dr. Jacob Smythe«, verkündete er. »Ehemaliger Leiter der US Air Force Astronomie Division, Astrophysiker, Forscher und Mediziner. Ich bin in eigener Mission unterwegs.« Dass er darüber hinaus vom Schicksal auserwählt war, die Herrschaft über diese Erde der Zukunft zu übernehmen, verschwieg er vorläufig. Er wollte ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen... Eine Zeitlang geschah überhaupt nichts. Außer dass der Izeekepir knurrte und seine Schnauze in die Luft hob. Das müsst ihr erst einmal verdauen, was?, dachte Smythe. Die vorderen Metallstummel am oberen Ende der Robotraupe neigten sich, bis sie in einem Winkel von etwa siebzig Grad von der schwarzen Metallhaut abstanden. Einige zeigten auf Smythe, einige auf den Eisbär-Mutanten. Dem Herrn der Welt blieb keine Zeit, eine Reaktion auch nur in Betracht zu ziehen - milchige Lichtstrahlen schossen ihm und seinem Reittier entgegen. Der Izeekepir sackte einfach zusammen, und Smythe schlug im gefrorenen Schnee auf. Er merkte noch, dass er keine Luft mehr bekam, spürte noch sein Herz rasen, registrierte, dass er keine Kontrolle über seine Glieder mehr hatte. Gleichzeitig wuchs ihm eine klebrige, dunkelrote Schicht unter der Haut, und als die sein Hirn überwucherte, versank sein Bewusstsein in einem Morast aus Schmerzen und Übelkeit. Er kam zu sich und glaubte, er befände sich im Jahre 2011 und säße in einer Talkshow in New York City, irgendwann im Dezember. Hunderte von Menschen meinte er um sich zu sehen, und es dauerte Minuten, bis er begriff, dass es nicht mehr als sechs oder sieben waren, die sich in dunkelroten Anzügen und mit durchsichtigen Kugelhelmen über den Köpfen vor überwiegend schwarzem Hintergrund bewegten. Zwei befanden sich rechts und links einer Art Trage, auf der er selbst lag. Zwei liefen hektisch zwischen dem Kopfende der Trage und einem chaotisch anmutendem Gestell hin und her, dessen Zentrum ein flacher Kasten bildete. Und zwei machten sich ein paar Schritte entfernt an einem weißen Pelzhaufen zu schaffen. Nirgendwo lag Schnee und relativ warm war es auch. Smythe war immerhin in der Lage, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass er sich nicht mehr im Freien befand. Die Einsicht beruhigte ihn nicht. Er verdrehte die Augen - den Kopf konnte er nicht bewegen -, um nach dem Izeekepir zu spähen. Um das Tier und die roten Gestalten genauer zu betrachten, musste er die Augäpfel so weit nach rechts drehen, dass sie schmerzten. Der Eisbär-Mutant lag reglos auf der Seite, aber seine Flanke hob und senkte sich. Der Pelzhaufen wurde für Augenblicke zum Mittelpunkt von Smythes Kosmos, und um ihn 25
herum ordnete sich Bruchstück um Bruchstück seiner Erinnerung. Deadrax, mein armer Deadrax... Wut stieg in ihm hoch. »Ihr Kretins!«, brüllte er. Die Einsicht, dass man ihn besiegt und zu einem hilflosen Opfer herabgewürdigt hatte, wollte ihm den Schädel sprengen. »Wisst ihr nicht, wen ihr vor euch habt?!« Er wollte toben, spucken, um sich schlagen, doch wie in Schraubstöcke gespannt blieben sein Rumpf, sein Kopf und seine Glieder vollkommen reglos. Er starrte nach oben. Dort hing eine Art Monitor, kaum zwei Meter über seinem Gesicht, und auf ihm sah Smythe tatsächlich Hunderte von Menschen. Männer und Frauen in Anzügen und Kostümen, Journalisten - und sich selbst auf einem Rednerpult flankiert von einem Regierungssprecher und vier Bodyguards. Dunkel erinnerte er sich an eine Pressekonferenz im Pentagon Ende November 2011. Wie zum Teufel gelangte die Erinnerung auf den Monitor? Grenzenlose Verwirrung mischte sich in seine Wut. »Was tut ihr mir an?!«, brüllte er. »Das ist meine Erinnerung! Das ist mein Hirn! Ich verurteile euch zum Tode, ihr nichtswürdigen Elemente!« Jetzt verblasste das Bild von der Pressekonferenz, und er sah sich selbst mit einem leichten Maschinengewehr in die Menge der glasbehelmten roten Gestalten schießen. Er hörte sich schreien, sah sich mit dem Kolben des Gewehr auf die Verwundeten einschlagen und nach ihnen treten. Er sah, was er sich zu tun wünschte. Um ihn herum waren hektische Stimmen. Sie bellten unverständliche Worte auf Russisch. Jemand tauchte neben ihm auf und stach mit einer Spritze in seine Ellenbeuge. Hinter dem glasklaren Material des Kugelhelms sah er ein Frauengesicht, schneeweiß und eingefallen. »Ganz ruhig, Sir«, sagte dieselbe Stimme, die zuletzt aus dem verdammten Roboter gesprochen hatte, »ganz ruhig, Professor Dr. Smythe, nur eine Routineuntersuchung ...« Der Frauenmund im Helm bewegte sich; Smythe wünschte sich nichts sehnlicher, als mit der Faust in ihn hinein zu schlagen. »Reine Routine, es ist gleich vorbei...« Süßlicher Geschmack kroch ihm auf die Zunge. Seine Wut verrauchte, seine Verwirrung wich dumpfer Gleichgültigkeit, öliger Dunst füllte sein Hirn. Er verdrehte die Augen und sah Drähte, die von seinem Kopf zu dem Kasten inmitten des Kunststoffgestells führten. Und aus der Oberfläche des Kastens führte ein Spiralkabel bis hoch zum Monitor und verschwand in dessen Rückseite. Smythe verstand und verstand doch nicht. »Ihr werdet noch weinen«, lallte er mit schwerer Zunge. »Weinen werdet ihr und mich um Gnade anwinseln«, und im gleichen Moment sah er sich selbst auf dem Monitor: In Feldherrenpose saß er auf dem Eisbär-Mutanten, und um ihn herum lagen Leute in roten Schutzanzügen auf Bäuchen oder Knien, weinten und streckten in flehender Geste die Arme zu ihn hoch... »Ich bin Oberst Swetlana Milanow, Professor Smythe. Es ist lediglich eine Routineuntersuchung, weiter nichts. Wir haben Sie aus hygienischen Gründen nicht an Bord unseres Tanks gebracht, sondern werden sie hier draußen im Laborzelt untersuchen. Ich persönlich verbürge mich für Ihre Gesundheit und Ihr Leben. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.« »Du kannst mich, Schlampe!« Er wollte sie anschreien, brachte aber nicht mehr als ein 26
Röcheln zustande. »Zu welcher Kolonie gehören Sie, oder zu welcher Organisation?« »Von mir erfährst du nichts«, krächzte Smythe. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Kein Sterbenswörtchen, es sei denn, du nimmst mir die Fesseln ab...« »Nennen Sie mir den Namen Ihrer Heimatbasis, Professor Dr. Smythe.« Seltsamerweise blickte sie nicht ihn an, während sie ihre Fragen stellte, sondern sah hoch zum Monitor. Alle um ihn herum blickten zum Monitor hinauf. Ein Flugzeug landete dort auf einem Rollfeld. US Air Force stand in schwarzen Lettern auf seinem Rumpf. Das Bild verschwamm und plötzlich wehte die amerikanische Flagge erst auf dem Capitol, dann an zwei Fahnenstangen vor dem Westeingang des Pentagon. »Wie heißt Ihr Kommandeur, Professor Dr. Smythe?« Auf dem Bildschirm erschien das quadratische Gesicht eines Mannes mit grau melierten Schläfen. Das CNN-Logo prangte am unteren Bildrand, und der Untertitel verriet: USPräsident Schwarzenegger ruft alle Amerikaner zu Ruhe und Disziplin auf. Ein Bild, das Smythe in den Monaten vor dem Kometeneinschlag Hunderte Male gesehen hatte. »Welche Position hatten sie in dieser Organisation inne, Professor Dr. Smythe?« Er sah sich im Observatorium der Chicago University auf dem Apachi Point in New Mexico. Gemeinsam mit Mitarbeitern der Astronomie Division starrte er auf einen Monitor. Rechts neben sich erkannte er seinen Stellvertreter Professor Dr. David McKenzie. Auf einer riesigen Projektionsfläche im Hintergrund strahlte der Komet »Christopher-Floyd«. Eine Frage nach der anderen schoss Oberst Milanow ab, sachlich, knapp, kühl. Smythe war schlicht überwältigt: Kein Wort sprach er mehr - seine Zunge war viel zu schwer und sein Mund viel zu trocken, um noch irgendetwas sagen zu können - und dennoch sah er die Antworten auf die Fragen der Russin in gestochen scharfen Bildern über den Monitor flimmern. Die Fragen nahmen kein Ende: Wann sind Sie geboren? Welche Ausbildung haben Sie? In welchen Jahren leiteten sie das militärisch-astronomische Institut? Wo hielten Sie sich während des Kometeneinschlags auf? Wie haben Sie ihn überlebt? Auf welche Weise gelangten Sie in diese Zeit und in diesen Teil der Welt? Die Bilder auf dem Monitor wechselten mit jeder der Fragen: Er selbst hinter dem Dozentenpult eines Hörsaales, er selbst im Gespräch mit dem Präsidenten, er selbst während der letzten NATO-Konferenz in Brüssel, im Jet mit Drax, im Schleudersitz zwischen vereisten Felswänden, in seinem Labor in Mailand, umgeben von Nosfera, während der Reparaturarbeiten am Luftkissenboot an der französischen Küste, als Arzt in den Überresten von Plymouth, im Kampf mit dem Eisbär-Mutanten... »Was ist Ihr Ziel, Professor Dr. Smythe?« So lautete die letzte Frage. Und Smythe sah sich über der Leiche von Matthew Drax stehen, sah die nackte Aruula um Gnade betteln, sah sich von einem Flugzeug aus eine Millionenarmee kommandieren, sah Feuerbälle und Rauchpilze über Städten und Küsten, Feuerbälle und Rauchpilze der letzten großen Schlacht auf Erden, der Mutter aller Schlachten... »Die Untersuchungen sind abgeschlossen, Professor Smythe.« Er hockte zusammengekauert in einem Haufen Felle, hinter ihm eine raue Kunststoffwand, rechts von ihm ein stumpfer Kegel auf vier Teleskopbeinen, der Wärme abstrahlte, und links von ihm, in Kunststoffstreifen eingeschnürt wie ein Rollbraten, der 27
Eisbär-Mutant. Er hatte keine Ahnung wie viele Tage vergangen waren seit der sogenannten Untersuchung. Seit etwa vier Stunden jedenfalls war er wieder bei Bewusstsein. Sein Rucksack lag neben ihm auf den Fellen. Sein Gewehr sah er nirgends. »Ich muss mich entschuldigen für die hohe Dosis an Beruhigungsmitteln, die wir Ihnen verabreichen mussten. Ihre Widerstandsschwelle lag um ein Vielfaches höher, als wir es von durchschnittlichen Individuen gewohnt sind. Entsprechend angemessen mussten wir das Medikament dosieren. Vermutlich fühlen Sie sich jetzt ein wenig erschöpft.« Er fühlte sich, als hätten sie ihn in seine Einzelteile zerlegt, um seine Knochen und Muskeln zu zählen, und anschließend wieder notdürftig zusammen gehämmert. Oberst Milanow stand vor ihm, das herbe Weib mit der rauen Stimme, und er hätte ihr gern in den Unterleib getreten oder sie wenigstens angespuckt, aber er war schon froh, Kraft genug zum Atmen zu haben. Neben ihr hatten sich zwei Männer postiert, schmalbrüstige Kerle, ebenfalls in roten Schutzanzügen. Die Gesichter hinter den Klarsichthelmen waren haarlos, blass und nichtssagend. Sie musterten ihn schweigend. Ein vierter kam dazu, ging vor ihm in die Hocke und reichte ihm einen klobigen Metallbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit. »Trinken Sie das, Sir«, sagte er in gebrochenem Englisch. »Ein hochkalorisches Getränk, angereichert mit Eiweißkonzentrat, Elektrolyten und Vitaminen. Das wird ihnen wieder auf die Beine helfen.« Smythe zögerte. Die Frau lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Sie kannte seine Geheimnisse. Smythe hasste sie. Schließlich siegte der Heißhunger über sein Misstrauen. Fast war es ihm gleichgültig, ob das Zeug im wirklich gut tun oder nur die nächste Schweinerei einläuten sollte. Mit einer verächtlichen Geste griff er nach dem Becher. Ich werde euch töten, schwor er sich im Stillen, meine Strafe wird entsetzlich sein... Er schlürfte die heiße Brühe. Sie schmeckte fett und nach Haifischsuppe. Ihre Wärme kroch aus dem Magen in seine Glieder, und mit der Wärme kam neue Kraft. Neben ihm knurrte der Eisbär-Mutant. Er warf den Kopf hin und her und zuckte mit den gefesselten Hinterläufen. »Sie sind ein interessanter Mann, Professor Smythe, ein höchst interessanter Mann.« Die Frau, die sich als Oberst Swetlana Milanow vorgestellt hatte, lächelte auf ihn herab. »Ich denke, wir könnten zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit finden.« Smythe schlürfte die Wunderbrühe und verzog keine Miene. »Es gibt in dieser Zeit nicht viele Menschen von derart hohem Bildungsniveau wie dem Ihren. Und erst recht keine Menschen mit einem solch großen Erfahrungsschatz.« Ihr Lächeln wirkte angestrengt. Sie begann ihn zu langweilen. Um ihn herum fingen sie damit an, Gerätschaften in Leichtmetallkisten zu verstauen und die schwarzen Kunststoffwände abzubauen und zusammen zu rollen. Die Sonne glitzerte auf strahlend weißer Schneedecke. Geblendet kniff er die Lider zusammen. »Wir sind im Begriff, eine septische Kabine im Heck von Moskwa neunzehn für Sie einzurichten. Leider kann ich Sie nicht als Gast im Cockpit begrüßen. Innerhalb des Tanks pflegen wir unsere Schutzanzüge abzulegen, und Sie müssen wissen, dass wir extrem infektionsanfällig sind.« Er schlürfte und schluckte und genoss es, wieder ohne Schmerzen durchatmen zu 28
können. Dem weiblichen Oberst schien es gleichgültig zu sein, ob er zuhörte oder nicht. Er nickte nicht, sprach nichts, er sah sie kaum an, und trotzdem redete sie, als hätte sie ein interessiertes Auditorium vor sich. Na, wenns ihr Spaß machte. »Ich habe bereits die Zentralbasis in Petersburg informiert. In diesen Stunden bricht von dort ein Wissenschaftsteam Richtung Helsinki auf. Wir werden die Außenbasis etwa zur gleichen Zeit erreichen. Die Kollegen werden sich dann ausführlich mit Ihnen auseinander setzen. Für Ihr Reittier bauen wir einen Wagen, den wir an den Tank koppeln werden. Ein höchst interessantes Tier. Uns war bisher nicht bekannt, dass sich diese Rasse zähmen lässt.« Sie wartete auf seine Reaktion, und da sie ausblieb, blickte sie auf ein Chronometer am Handgelenk ihres Schutzanzuges. »In etwa zehn Stunden brechen wir auf. Ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Meine Mitarbeiter werden Ihnen feste Nahrung bringen.« Bevor sie ging, griff sie in eine Brusttasche und zog seinen selbst gebauten Impulsgeber heraus. »Worum handelt es sich bei diesem Gerät, Professor Dr. Smythe?« Er zweifelte nicht daran, dass sie den Apparat genau untersucht hatten. Vermutlich hielten sie es für primitiv. »Ich trage einen Herzschrittmacher.« Zum ersten Mal antwortete er. »Den Impulsgeber brauche ich, um meine Herzfrequenz dem Leistungsbedarf anzupassen.« »Oh!« Sie schien noch bleicher zu werden. »Da bin ich aber froh, dass Ihr Schrittmacher die Schockwelle überstanden hat.« Sie sprach ohne Zweifel vom Angriff des verdammten Roboters. Smythe hoffte ihn bei Gelegenheit in tausend Einzelteile zertrümmern zu können. »Bitte.« Oberst Milanow beugte sich zu Smythe hinunter und reichte ihm den Impulsgeber. Dann drehte sie sich um und stapfte davon. Einer ihrer Begleiter setzte sich ein paar Schritte entfernt von Smythe auf eine Art Klapphocker und legte etwas auf seine Knie, das wie eine Schusswaffe aussah - ein kurzes, keulenartiges Ding, mit einem verdickten, leicht gebogenen Ende. Der zweite schnappte sich eine Kiste und trug sie aus dem Zelt. Smythe wunderte sich, weil sie einen Menschen statt des Roboters zu seiner Bewachung abstellten. Er dachte daran, dass es ihn unter anderen Umständen wahrscheinlich sogar interessiert hätte, mit einem Wissenschaftsteam des postapokalyptischen Zeitalters zu fachsimpeln. Immerhin hatte er große Pläne, und zu ihrer Verwirklichung benötigte er eine breite Basis aus Menschen und Material. Aber wer es wagte, einen Mann wie ihn zu demütigen, war sowieso aus dem Rennen. Diese Typen in ihren roten Anzügen und mit ihrer schwarzen Kettenfestung, dieses Kroppzeug, dieses arrogante Gesindel war in seinen Augen dem Tod geweiht. Zeltwand um Zeltwand bauten sie ab. Bald konnte Smythe ins Freie auf den schwarzen Tank sehen. Vier Luken an seiner Seite standen offen. Die Besatzung trug Kisten und Zeltmaterial hinein. Sein Bewacher saß die ganze Zeit auf dem Klappstuhl neben ihm. Manchmal spürte er seine verstohlenen Blicke von der Seite. Sie hatten ihm einen Plastikteller mit einem Brei aus Meeresfrüchten und undefinierbarem Grünzeug hingestellt. Tiefkühlkost, nahm er an; sie schmeckte metallen, aber annehmbar. Der Schmelzofen in seinem Hals fuhr langsam wieder zur Höchstleistung auf, und er verlangte eine zweite Portion. Dem Eisbär-Mutanten legten sie ein paar Fische vor den Rachen. Er schlang sie grummelnd hinunter. 29
Stunden vergingen. Smythe rollte sich in seine Felle und döste. Er hatte sich damit abgefunden, in den schwarzen Tank steigen und nach Helsinki fahren zu müssen. Irgendwann würde seine Stunde kommen. Bisher war sie immer irgendwann gekommen. Wenn nicht jetzt, dann eben unterwegs oder in der Basis dieser Klugscheißer. Die Abenddämmerung dämpfte das Licht über der eisigen Seenlandschaft. Das Zelt war abgebaut, die Kisten waren verstaut, ein Spähtrupp aus zwei Männern und einer Frau kehrte aus dem Westen zurück. Sie fuhren auf Fahrzeugen, die ihn an Eissegler erinnerten. Sie waren für je einen Mann Besatzung konzipiert, verfügten über ausgestellte Kufen und einen Mast mit Segel. Doch im Gegensatz zu gewöhnlichen Eisseglern schwebten die gelben Cockpits dieser Gefährte eine Handbreit über dem gefrorenen Boden! Smythe hatte keine Ahnung, wie sie das machten. Der Wind mochte ausreichen, um sie voran zu treiben, aber damit war noch nicht erklärt, auf welche Weise sie der Schwerkraft trotzen. Die Kufen schienen nur für das Gleichgewicht bei Kurvenfahrt zu dienen. Eines der merkwürdigen Gefährte verschwand im Rumpf des Tanks. Das andere stellte sein Fahrer vor einer offenen Luke ab. Smythe schätzte die Besatzung des schwarzen Fahrzeugs inzwischen auf neun bis elf Mann. Drei Russen zogen einen Schlittenwagen aus Leichtmetall heran. Seine Kufen waren aus einem schwarzem Material, das wie Gummi aussah. Wahrscheinlich bestanden sie aber aus einem Smythe unbekanntem Kunststoff. Anderthalb Meter hohe Seitenwände aus Leichtmetallgittern rahmten den Wagen ein. Ketten und Schellen hingen an ihnen herab. Die Ladefläche war nicht größer als höchstens drei auf zwei Meter. Smythe war gespannt, wie sie den Eisbär-Mutanten hinauf schaffen würden. Explosionslärm riss ihn aus seiner Schläfrigkeit. Sein Bewacher sprang auf. Die unbewaffneten Männer am Gitterwagen warfen sich flach in den Schnee. Der Izeekepir hob den Kopf und fauchte. Und dann zwei Detonationen fast zeitgleich. Smythe sah eine Fontäne aus Schnee, Erde und Geröll einige hundert Meter hinter dem Tank aufsteigen. Schlagartig war er hellwach. Er reckte den Hals, spähte nach allen Seiten. Im Südwesten, ein, zwei Kilometer entfernt zwischen zwei weiß glitzernden Hügeln, mitten in vereisten Ginsterbüschen und am Rande eines Birkenwäldchens blitzte es kurz hintereinander an drei oder vier verschiedenen Stellen auf. Gleich darauf krachten Explosionen, und wieder gab es Schnee- und Dreckfontänen - zwei davon nicht weiter als höchstens achtzig Schritte hinter dem schwarzen Panzer. Eine Frauenstimme brüllte Befehle. Schutzanzugträger sprangen aus dem Tank, ein halbes Dutzend etwa. Einer von ihnen bestieg das Ding, das wie ein Eissegler aussah. Jemand warf den Unbewaffneten neben dem Gitterwagen drei keulenartige Gewehre zu. Sie fingen sie und standen auf. Sein Bewacher kniete im Schnee. Plötzlich ragte etwas wie eine Zieloptik aus der Oberseite seines Gewehrs. Er zielte in Richtung des Birkenwäldchens. Von dort näherte sich Geschrei. Smythe sah eine lange Kette von Menschen. Sie schwangen irgendwelche Waffen, die auf die Entfernung nicht zu erkennen waren. Sie brüllten, sie rannten, sie stürmten dem Panzer entgegen. Eine Schneewolke umgab sie. Auch aus dem schwarzen Rumpf ragten auf einmal Geschützrohre, schmal, schwarz und kurz. Vier Strahlen lösten sich aus ihnen. Gleißend weiße Strahlen; sie fuhren irgendwo 30
zwischen den Hügeln hinter der Angriffslinie des unbekannten Gegners in das Birkenwäldchen. Feuerkuppeln blähten sich dort auf und zerplatzten in Detonationen, die sich anhörten, als würden Riesen mit Vorschlaghämmern einen Steinbruch zertrümmern. Und gleichzeitig setzte sich der Tank in Bewegung. Achtzig, neunzig Kämpfer waren es, die dem Tank entgegen stürmten. Ihr Gebrüll ging Jacob Smythe durch Mark und Bein. Hinter ihnen, am Rand des eingeschneiten Birkenwäldchens züngelte schon wieder Mündungsfeuer. Geschosse explodierten, und eine ganze Kette von Fontänen aus Schnee und Erde stiegen gefährlich nahe vor dem Panzer empor. »Flach auf den Boden, Professor!«, schrie die Milanow. »Alle anderen im Schutz des Panzers gegen die Angriffswelle!« Neun Schutzanzüge hetzten in den Schatten des Kettenfahrzeugs. Das spie jetzt Lichtspeer um Lichtspeer aus. Eine Glutkugel nach der anderen zerplatzte zwischen Birken und Ginsterbüschen. Auch der kleine Einmann-Segler schwebte an der Seite des Tanks den Angreifern entgegen. Der Wind blähte sein Segel. Aus einem Geschütz am Bug zischten todbringende Strahlen. Ein Höllenlärm erfüllte die Luft; Flammen loderten in den Abendhimmel. Die Angreifer rückten näher und näher. Jetzt konnte Smythe schon die Waffen in ihren Fäusten erkennen: kurze Schwerter, Äxte und Spieße. Barbaren, weiter nichts als primitive Barbaren ! Die Lichtstrahlen aus den Geschützrohren des schwarzen Panzers und aus dem Segler fuhren jetzt unter sie. Überall Feuerkugeln, überall Explosionen. Menschen standen in Flammen, wälzten sich schreiend im Schnee. Und nun eröffneten auch die Russen das Feuer aus ihren seltsam geformten Waffen. Wieder Glutbälle, kleinere, wieder Explosionen und Flammen. Die Reihen der Angreifer lichteten sich. Smythe nahm all das wahr, als würde er einen Film sehen. Und irgendwie war dieser Film nach seinem Geschmack. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren, dachte zehn Gedanken gleichzeitig, erwog den Panzer zu entern, spielte die Möglichkeiten durch, an eine der Waffen zu gelangen, liebäugelte mit dem Eissegler, checkte die Chancen zur Flucht ab. Er begriff schnell, dass die Barbaren keine Chance hatten. Schon über die Hälfte der Kämpfer lag brennend oder zumindest in Rauch gehüllt am Boden. Obwohl sie kaum noch dreihundert Meter vom Panzer entfernt waren, kam ihre Angriffswelle ins Stocken. Kein Geschütz gab ihnen noch Rückendeckung. Aber die überlebenden Krieger schienen an Rückzug überhaupt nicht zu denken. Auch das gefiel Smythe, ja, es imponierte ihm gewaltig. Etwa zweihundert Meter trennten Angreifer und Panzer jetzt noch. Weiter und weiter rückten die Russen, ihre mobile Festung und der Segler vor. Ihrer Feuerkraft hatten die Barbaren nichts, aber auch gar nichts mehr entgegenzusetzen. Auch die übrig gebliebenen zwei oder drei Dutzend Kämpfer würden sterben, das lag auf der Hand. Unbegreiflich, dass sie den Sturmangriff nicht abbrachen. Bald trennten nur noch wenige Meter die Angriffsspitze vom Panzer und seiner Besatzung. Smythe bückte sich nach seinem Rucksack, öffnete ihn und leerte den Inhalt auf die Decken. Tatsächlich - sie hatten ihm sein Kombiwerkzeug gelassen! Er schnitt die Kunststoffriemen am Körper des Eisbär-Mutanten durch. »Los! Hol sie dir!« Das Tier stand auf und schüttelte sich. Smythe riss ihm das Lederpflaster mit der Linse 31
vom Auge. »Beweg dich, du Lahmarsch!« Er kramte den Impulsgeber aus der Tasche und ließ es die Strompeitsche spüren. »Hol sie dir!« Das Raubtier brüllte auf und setzte sich in Bewegung. In weiten Sprüngen galoppierte es dem Panzer hinterher. Was auch immer dem Izeekepir vor die Fänge gelangte: Er würde es zerreißen. Und die Schutzanzugträger waren ihm nun mal näher als die Angreifer. Smythe spurtete dem Tier hinterher. »Greif zu! Töte! Töte!« Die Männer und Frauen im Schatten des Panzers waren auf alles gefasst - nur nicht darauf, aus dem Hinterhalt von einem wilden Tier angegriffen zu werden. Sie reagierten erst, als der Eisbär-Mutant unter sie fuhr und schon zwei von ihnen mit Prankenhieben niedergestreckt hatte. Ihre Verwirrung war so vollkommen, dass es keinem von ihnen gelang, seine tödliche Waffe rechtzeitig gegen die Bestie zu richten. Zu groß war auch die Gefahr, die eigenen Leute zu treffen. Von jetzt auf gleich fanden sie sich in einer Falle wieder, aus der es kein Entrinnen gab: Von vorn fielen die überlebenden Angreifer mit Äxten und Kurzschwertern über sie her, von hinten schlug und biss sich der Eisbär-Mutant durch ihre kleine Truppe. Smythe erreichte den Kampfplatz. Der Panzer stoppte. Drei oder vier Angreifer Männer in Lederhelmen und Lederanzügen mit meist blonden Zöpfen - kletterten in die vordere Luke. Die Barbaren wüteten schlimmer unter der Panzerbesatzung als die Bestie. Erbarmungslos hieben sie auf die Männer und Frauen ein, zertrümmerten die Helme, spalteten ihnen die Schädel. Noch einmal hörte Smythe die raue Stimme der Milanow. Sie brüllte einen kurzen Satz auf Russisch. En Wort war darunter, das er instinktiv richtig verstand. Es klang wie AutoEliminierung. »Weg hier!« Smythe sprang auf den Schwebesegler, packte die zerrissene Leiche des Fahrers und stieß sie in den Schnee. Er deutete in Richtung der Hügel. »Rennt um euer Leben!« Gleichzeitig flogen die Finger seiner Rechten über die Armaturen des Gefährts. Es setzte sich in Bewegung. »Weg hier! Weg! Weg!« Er schrie und fuchtelte. Zunächst begriffen nur einige Barbaren. Sie versuchten seinem futuristischen Fahrzeug zu folgen, doch es gewann so rasch an Fahrt, dass die fremden Krieger zurückblieben. Unmöglich, dass allein Windkraft und Segelfläche für eine derartige Beschleunigung verantwortlich waren. Nur der Izeekepir hielt Schritt mit Smythe und dem Segler. Vielleicht witterte er die Gefahr, vielleicht suchte er auch einfach nur die Nähe seines Herrn. Jedenfalls galoppierte die Bestie Seite an Seite mit dem kleinen Gefährt dem Birkenwäldchen entgegen. Sie brüllte und fauchte den Segler an. Smythe begriff, dass sie ihn als Konkurrenten betrachtete. Weit hinter Tier und Maschine arbeiteten sich knapp zwei Dutzend Barbaren durch den Schnee. Minuten später lagen Smythe und sein Raubtier hinter einem der schneebedeckten Hügel zwischen Findlingen und eisstarrenden Ginsterbüschen. Die Erde vibrierte. Eine gewaltige Explosion erschütterte die Landschaft, eine Stichflamme fuhr in den dunklen Himmel. Die Barbaren - die ersten trennten vielleicht noch zweihundert Meter von Smythes Deckung wurden von einer Schneewolke eingehüllt. Einige wirbelten durch die Luft. Smythe wollte nicht mehr aufhören zu fluchen. Denn der Feuerball, in dem der Tank 32
explodierte, zerstörte auch sämtliche Laserwaffen. Jedenfalls nahm Smythe an, dass die Russen Lasergewehre benutzt hatten. Wie gern hatte er eines davon in seinen Besitz gebracht! Er war wütend. Die Glut erlosch, das Schneegestöber legte sich. Smythe spähte auf den Kampfplatz. Auf einer fast kreisrunden Flache von sicher neunhundert Metern sah er keine Spur von Schnee und Eis mehr. Dampf stieg aus der feuchten Erde. Und aus dem Dampf wankten sechs oder sieben überlebende Barbaren, verrußt ihre Gesichter, angesengt ihre Wildlederanzuge, verbrannt ihr Haar. Nach und nach kamen auch die Barbaren aus ihren Verstecken gekrochen, die hinter der Angriffslinie zwischen den Hügeln bei den Geschützen geblieben waren. Achtzehn verstörte Männer sammelten sich schließlich bei Smythe. Jetzt erst registrierte er, wie hässlich sie waren. Er sah Hasenscharten, verkrüppelte Nasen, Buckel, Blumenkohlohren. Niemand unter diesen Barbaren, der nicht auf irgendeine Weise entstellt war. »Heilige Jungfrau!«, rief er halb entsetzt, halb belustigt. »Was seid denn ihr für Figuren?!« Der Eisbar-Mutant knurrte und fauchte. Er sah die Welt und ihre Bewohner nun wieder in Originalgröße. Smythe verpasste ihm einen Stromschlag, um ihn zu bändigen. Doch das Tier sprang den nächstbesten Barbaren an und riss ihm mit einem Prankenhieb den Leib auf. Wie ein Mann schrien die Barbaren auf; ein einziger Angstschrei erfüllte die Abenddämmerung. Mit Äxten und Schwertern stürzten sie sich auf das Tier. »Zurück, Deadrax! Her zu mir!« Smythe griff nach seinem Impulsgeber und fuhr die Amperezahl hoch. »Kommst du wohl zu mir!« Es war vergeblich: Das Tier geriet außer Rand und Band, schlug und biss um sich. Es war, als wollte es sich für jede Demütigung wahrend der vergangenen Monate rächen. Drei weitere Barbaren fielen ihm zum Opfer, viele trugen grässliche Wunden davon. Endlich gelang es einem Kämpfer, dem Raubtier den Speer ins Auge zu rammen. Ein zweiter spaltete seine Schnauze mit einem Axthieb. Die Bestie brüllte und walzte sich im Schnee, wühlte sich in die Erde hinein, doch der Speer fuhr ihr nur noch tiefer ins Hirn. Schließlich kippte sie zur Seite, zuckte noch ein paar Mal und verendete. »Deadrax! Mein armer Deadrax...!« Smythe lief um den Kadaver herum. Er schimpfte und jammerte und drückte immer wieder den Knopf des Impulsgebers, doch mehr als ein paar Zuckungen waren dem Tier nicht mehr abzuringen. Es war tot, ein für alle Mal tot. Der Herr der Welt ballte die Fäuste, fuhr herum und schüttete derbe Fluche über die Barbaren aus. »Mein Reittier! Was glaubt ihr, was es mich gekostet hat, dieses Biest zu zähmen?!« Der Verlust schmerzte ihn fast mehr als der Diebstahl der Twilight of the Gods. »Ihr Krüppel! Ihr Kretins! Deadrax hat euch das Leben gerettet und ihr bringt ihn um! Nutzloses Pack!« Smythe schrie seinen Zorn hinaus und steigerte sich doch immer weiter hinein. Die Barbaren standen in einem Kreis um ihn herum. Jeden, den er angiftete oder auch nur ansah, zog die Schultern hoch, wich zurück oder senkte betreten den behelmten Schädel. Schließlich riss Smythe einem, der in seiner Nähe stand, das Schwert aus der Hand und schlug auf den Speerträger ein, der den tödlichen Stoß gesetzt hatte. Seltsamerweise wehrte sich der Mann nicht. Smythe wunderte sich, wie leicht es war, ihn zu töten. Jetzt wichen sämtliche Barbaren vor ihm zurück. Sie fürchteten ihn, ohne Zweifel. Sein 33
Eingriff in die Schlacht schien ihm einen fast göttlichen Status verschafft zu haben. Oder war es der Tobsuchtsanfall? Oder die Bestrafung des Tiermörders? Gleichgültig jedenfalls registrierte der Professor ihr geradezu hündisches Verhalten, und es versöhnte ihn. Sein Zorn legte sich etwas. Smythe lief noch zwei Mal den Kreis der verbliebenen siebzehn oder achtzehn Barbaren ab, schnaubte und spuckte aus. Doch nach und nach verrauchte sein Zorn. Sein Blick fiel auf den Schwebesegler, und je öfter er ihn ansah, desto genialer erschien ihm das Timing der Vorsehung: Sein Reittier war hinüber und ein weit besseres Transportmittel stand schon bereit. Der Gedanke bestätigte ihn. Wem außer dem Herrn der Welt konnte das Schicksal so zugetan sein? Warum also noch toben? Sein Gemüt kühlte ab. »Was steht ihr hier herum?!«, rief er schließlich. Er deutete auf das tote Raubtier. »Zieht ihm das Fell ab!« Smythe fuchtelte mit den Armen. »Los! Runter mit dem Pelz!« Er klopfte auf den Izeekepir und schrie so lange, bis sie verstanden. Ein paar der Barbaren machten sich daran, das Tier zu häuten. Smythe sah zu, wie sie den Eisbär-Mutanten aus seinem Fell schälten. Auf einmal erschien ihm der Tod des Tieres sogar recht sinnig zu sein - ja geradezu prophetisch. »Dead Drax...« Er kicherte. »Genauso werden sie dir eines Tages das Fell über die Ohren ziehen, Commander. Und ich werde persönlich Hand mit anlegen, verlass dich drauf!« Die Nacht verbrachten sie im Birkenwäldchen. Smythe wies sie an, das Fleisch des Eisbär-Mutanten zu zerlegen und zu braten. Er sah die scheue Dankbarkeit in ihren entstellten Gesichtern, als er ihnen gestattete, sich satt zu essen. Am nächsten Morgen fällten die Barbaren ein paar vereiste Birken. Unglaublich geschickt und mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit zimmerten sie eine Art Sänfte zusammen. Smythe kicherte in sich hinein, als er begriff: Die Sänfte war für ihn bestimmt. Ein Gedanke, der ihm ausgesprochen gut gefiel. Also bestieg er den Holzkasten und ließ sich von ihnen durch den Schnee nach Südwesten tragen. Vier Barbaren mussten den Segler ziehen. Nach drei Tagen erreichten sie die vereiste Küste. Dort lag ein kastenförmiger Raddampfer aus geteertem Holz vor Anker. Eisschollen umgaben ihn. Offenbar hatte der Kälteeinbruch die seefahrenden Barbaren überrascht. Doch das registrierte Smythe nur beiläufig. Das Schiff war es, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte... Ein mildes Lächeln legte sich auf die knochige Miene des Professors. Im Stillen pries er sein Genie und die Vorsehung. Sie ließen die Sänfte herunter und deuteten auf drei Ruderboote, die sich vom Dampfer entfernten und das Ufer ansteuerten. Smythe nickte. Samt der Sänfte ruderten sie ihn hinüber zu dem Schiff. Er brauchte nicht lange gestikulieren und palavern - für die Barbaren schien es selbstverständlich zu sein, dass der erbeutete Schwebesegler auf den Dampfer gebracht werden musste. Gestenreich und laut kommandierte der Professor die Verladung des Geräts. Von Zeit zu Zeit strich er sich fast zärtlich über sein blondes Zöpfchen. Der Anblick des klobigen Schiffes erfüllte ihn mit der Gewissheit, Nordamerika in nicht allzu ferner Zukunft erreichen zu können. Einer ihrer Obersten räumte seine Kabine für den Professor. Doch Smythe verbrachte in 34
ihr nur die wenigen Stunden, die er schlief. Die meiste Zeit hielt er sich auf der Kommandobrücke oder im Maschinenraum auf, oder auf dem Oberdeck bei seiner neusten Errungenschaft: dem Schwebesegler. Er lernte einzelne Brocken der hart und kehlig klingenden Barbarensprache, er studierte die primitive Dampfmaschine und die Mechanik der Schaufelräder, und er suchte die weiße Küste nach bekannten Landschaftsformationen ab, um sich zu orientieren. Die Geografie Skandinaviens vor dem Kometeneinschlag war ein verwaschener Fleck in seiner Erinnerung, wie gesagt. Stundenlang beschäftigte er sich mit dem Eissegler, versuchte hinter das Rätsel seines Antriebs zu kommen. Das Armaturenbrett bestand aus nicht allzu vielen Schaltern und Kontrollinstrumenten. Es gelang Smythe relativ schnell, sich mit ihnen vertraut zu machen. Immer wieder schaltete er das Gerät ein, immer wieder untersuchte er Unterboden, Heck- und Bugraum nach dem Motor. Am Heck fand er unzählige kleine Düsen. Das Herzstück des Schwebeseglers schien das Segel zu sein. Smythe fand heraus, dass es nur in zweiter Linie die Windkraft nutzte. Ein feines Geflecht aus Drähten und Chips durchzog sein reißfestes und dennoch sehr geschmeidiges Material. Es diente vor allem als Lichtkollektor, war also der Energielieferant des Fahrzeugs. Auf welche Weise aber wurde die Energie in Bewegung umgesetzt? Und wie vor allem in die Überwindung der Schwerkraft? Smythe legte ein Ansammlung von Kleinstmotoren frei, ein Elektroantrieb also. Eine Turbine für die Erzeugung eines Luftkissens entdeckte er nirgends. Dafür bewegte sich der Schwebesegler auch viel zu leise. Die Russen mussten also eine Möglichkeit entdeckt haben, Energiefelder zu erzeugen, auf denen sich feste Körper fortbewegen ließen. Interessant, höchst interessant! Doch wie um alles in der Welt stellten sie das an? Smythe fand keine endgültige Antwort. Noch nicht. Selbstverständlich horchte er seine neuen Verehrer aus. Schließlich wollte er etwas über das Ziel ihrer gemeinsamen Reise erfahren. Er verstand nicht viel von dem, was die Barbaren ihm zu erklären versuchten. Aber er verstand immerhin, dass es da einen König gab und ein Zentrum der Macht, in deren Namen sie unterwegs waren und kämpften. Irgendeine Festung, irgendeine Burg. Und wo es einen König gab - oder wer immer die hässlichen Krieger auf die Seereise geschickt haben mochte - da würden sich auch noch weitere Schiffe finden. Größere vielleicht sogar. Smythe zweifelte nicht daran, dass am Ziel der Reise der Beginn seiner Fahrt nach Meeraka lag. Er musste dorthin - zu jener Festung, zu jenem König. Sie kamen von Tag zu Tag langsamer voran. Die Fahrrinne zwischen den Eisschollen verengte sich zusehends. Anfangs führte Smythe die Nervosität der Barbaren auf die drohende Manövrierunfähigkeit ihres Dampfers zurück. Das Eis an Backbord und Steuerbord, die schmale Fahrrinne, die frostigen Temperaturen, die weiße, schroffe Bedrohung durch die Natur - der hölzerne Kahn würde ihr nicht standhalten, wenn es hart auf hart kommen sollte. Die Lage spitzte sich zu. Grund genug für Pessimismus. Aber da war noch etwas: Manchmal verstummten die Gespräche der Barbaren plötzlich, und dann sahen sie einander an, als würden sie darauf warten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiel. Manche neigten die Köpfe und lauschten auf etwas, das Smythe nicht hören konnte. Sie 35
waren vertraut mit Landschaft und Klima in dieser Gegend der Welt, in diesen Gefilden der Zeit. Er dagegen war ein Fremder. Die Sprachbarriere stand zwischen ihnen. Er begriff nur, das Gefahr drohte, Gefahr aus dem Erdboden. Am dritten Tag der Fahrt hörte auch er es: Es klang, als würde irgendwo jenseits des Horizonts ein großer Gebäudekomplex gesprengt. Ein Grollen, ein dumpfes Donnern, weiter nichts. Aber es reichte, um die Wilden auf dem Schiff erblassen und sekundenlang erstarren zu lassen. Smythe dämmerte, dass die Barbaren sich wie Tiere verhielten, die eine Naturkatastrophe heraufziehen spürten. Natürlich: »Gefahr aus dem Erdboden« Berge sah er nirgends, ein Vulkan kam also nicht in Frage. Was blieb noch? Ein Erdbeben! Am Abend des vierten Tages - viel mehr als hundertfünfzig Kilometer hatte der Dampfer noch nicht zurückgelegt - versammelte sich fast die gesamte Besatzung am Bug des Schiffes. Als hätten sie sich verabredet, strömten sie innerhalb weniger Minuten dort zusammen. Smythe beobachtete es vom Ruderhaus aus. Der Steuermann hatte seinen Platz am Ruder und der Kapitän seinen Tisch mit den primitiven Navigationsgeräten verlassen, um bugwärts zu schauen. Am nordöstlichen Horizont zeichnete sich ein schwarzer Rauchpilz über der Schneelandschaft ab. »Ich glaubs nicht...« Smythe stand wie festgewachsen. Der Rauchpilz wuchs aus einer Feuerfontäne. Also doch ein Vulkanausbruch! Von dieser Stunde an tat niemand an Bord mehr ein Auge zu. Als am nächsten Tag der Morgen graute, sah man einen Berg fern im Nordosten, einen dunklen Kegel inmitten der weiten Schneelandschaft. Eine gewaltige Rauchsäule stand über ihm, und der Himmel glühte. Alle hatten sie sich am Bug des Dampfers versammelt, um den Berg anzustarren, der gestern noch nicht existiert hatte, die gesamte Besatzung, bis auf den Steuermann. Kaum ein Wort verstand Smythe von dem Palaver um ihn herum. Was er jedoch verstand, alarmierte ihn: Die Barbaren rechneten mit weiteren Vulkanausbrüchen. Er hatte zunächst nicht den Eindruck, in unmittelbarer Gefahr zu sein. Was konnten Lava-Eruptionen auf dem Festland einem Schiff schon anhaben? Gegen Mittag rammte der Dampfer ein geschlossenes Eisfeld. Wer nicht saß oder lag an Bord, wurde auf die Planken geschleudert oder prallte gegen Reling, Kajütenwand oder Heizkessel. Smythe fand sich nach dem Zusammenstoß auf dem Navigationstisch wieder. Eine Stunde später war klar: Das Schiff war vom Eis eingeschlossen. Nichts ging mehr. Und noch einmal zwei Stunden später zerriss eine ohrenbetäubende Detonation die Luft. Der Holzkahn vibrierte: Die Erschütterung des Festlandes übertrug sich über das Eis auf den Holzrumpf. Die Männer standen Backbords an der Reling und starrten hinüber an die Küste. Dort stieg eine Fontäne aus Gestein, Feuer und verdampfendem Schnee in den Himmel. Kilometer hoch. Der Donner war so allgegenwärtig und laut, dass Smythe an »Christopher-Floyd« denken musste. Wie ein Trommelwirbel klang es, als glühende Gesteinsbrocken nahe der Küste niederprasselten. Einige schlugen sogar auf dem Eis auf. Von einer Stunde auf die andere wurde es Nacht. Nur der brodelnde Glutstrom aus dem Schoß der Erde tauchte Küste, Himmel und vereiste See in gespenstisch rotes Leuchten. Smythe schätzte die Entfernung des Vulkanausbruchs auf dreißig, höchstens vierzig Kilometer. Zu nah, um den im Eis festsitzenden Dampfer in Sicherheit zu wähnen. »Hievt mir meinen Schlitten über Bord!« Er rannte zu dem kleinen Schwebesegler, 36
schlug auf die Karosserie und schrie immer wieder: »Aufs Eis damit! Aufs Eis aufs Eis!« So lange, bis sie verstanden. Es gab einen flaschenzugähnlichen Holzkran in der Nähe des Laderaums. Damit hatten sie das futuristische Gefährt an Bord genommen, damit luden sie es an Steuerbord auf das Eis. Smythe ließ sich Proviant und Wasser geben. Und er holte sich eine Karte aus dem Steuerhaus. Über eine Strickleiter kletterte er an der Bordwand hinab aufs Packeis. Er verzichtete auf Abschiedsworte und auf Erklärungen, die sie sowieso nicht verstanden hätten. Nur den Namen ihres Königs ließ er sich noch nennen. »Thorzon« hieß der Kerl, wenn er richtig verstanden hatte. Er stieg in das erbeutete Schwebefahrzeug und schaffte es irgendwie, es anzuwerfen. So dunkel, wie es geworden war, hatte Smythe damit gerechnet, dass die Sonnenkollektoren im Segel wertlos waren und er den heftigen Wind ausnutzen musste. Doch das Gerät glitt über das Eis hinweg aufs Festland. Vermutlich verfügte es über leistungsstarke Akkumulatoren. Auf der geschlossenen Eisdecke entlang der Küste fuhr Smythe nach Süden. Dort irgendwo lag die Basis dieser hässlichen Barbaren. Hinter ihm, im Nordwesten, verband eine Feuersäule Himmel und Erde. Smythe verlor jedes Zeitgefühl. Das lag nicht zuletzt an dem Feuer und Rauch spuckenden Vulkan hinter ihm. So oft sich der Professor umblickte: Die zu einem flachen Kegel angeschwollene Wunde in der Erde schien sich kaum zu entfernen. Nur selten hielt Smythe das Gefährt an, um getrocknetes Fleisch oder eine Art Fettpaste zu sich zu nehmen. Doch endlich, etwa anderthalb Tage und dreihundertfünfzig Kilometer später war der Vulkan nur noch ein rötlicher Lichtschein in der Ferne und das Gebrüll seiner Eruptionen ein dumpfes Grollen. Vor Smythe aber tat sich ein Ruinenfeld auf. Und bald schälten sich die Bögen einer gigantischen Brücke aus dem Morgendunst. So weit ragte die monumentale Konstruktion ins eisbedeckte Meer, dass ihr Ende sich in milchiger Bläue verlor. Smythe kramte in seinem Gedächtnis. Es musste die Öresund-Brücke sein. Endlich wusste er wieder, wo er sich befand. Über den Schnee an der Küste glitt er an der Brücke vorbei. Und dann sah er die Konturen eines ringförmigen Gebäudes im Morgendunst Gestalt annehmen. Vermutlich hatten Titanen es errichtet, denn es war von atemberaubender Größe. Gut dreißig Meter hoch ragte der äußere Ringbau in den Himmel. Smythe fühlte sich an eine Staumauer erinnert. Vor dieser Mauer gruppierten sich Häuser und Hütten, teils verfallen, teils bewohnt. Kleine Horden von Menschen hasteten über Schneepfade auf die Festung zu. Der Vulkan trieb sie aus ihren Ruinen und maroden Hütten in den Schutz des festen Gemäuers. Smythe schloss sich ihnen an. Inmitten einer vielleicht siebzigköpfigen Gruppe von Ruinenbewohnern erreichte er das Eingangsportal der Festung. Es bestand aus einem schwarzen, metallischen Material. Ein ihm unbekannter Kunststoff? Eine Titan-Teflon-Legierung? Ihm blieb keine Zeit, es herauszufinden. Bewaffnete umringten ihn plötzlich, Männer in Wildlederkleidung und mit entstellten Gesichtern. Drohend richteten sie Spieße und 37
Schwertspitzen auf ihn. Sie bellten ihn in jener hart und kehlig klingenden Sprache an, die Smythe auf dem Dampfer kennengelernt hatte. »Zurück, ihr Krüppel!«, brüllte er. »Ich bin ein Gast des Hauses! Außerdem habe ich ein paar von euren Kumpels gerettet.« Sein furchtloses Auftreten verunsicherte sie immerhin, und er schleuderte ihnen ein paar Brocken in ihrer Sprache entgegen. »Thorzon!«, verlangte er schließlich. »Bringt mich zu Thorzon!« Im Zentrum des kreisförmigen Komplexes erhob sich ein vielleicht achtzig bis hundert Meter hoher Rundturm. Den Durchmesser der Anlage schätzte Smythe auf gut zweieinhalb Kilometer. Eine grobe Schätzung, und man bot ihm nie die Gelegenheit, sie zu korrigieren oder zu bestätigen. Auch Thorzon lernte er nie persönlich kennen. Der Professor merkte schnell, dass die entstellten Barbaren nur Handlanger einer anderen Macht waren. Einer Frau namens Julie Miller-Garrett zum Beispiel. Ein sprödes Weib. Sie wies Smythe einen Raum im Erdgeschoss des äußeren Ringwalls zu. Durch Innentore konnte er manchmal einen Blick auf den zweiten, etwas niedrigeren Ringwall werfen. Doch die Herren der Festung hielten es nicht für nötig, ihm die inneren Bezirke ihrer Anlage zu zeigen. Dafür beschlagnahmten sie seinen Eissegler. Er beschwerte sich in der für ihn charakteristischen Art: laut, wort- und gestenreich und mit einem Fuß immer schon jenseits der Grenze zur Beleidigung. Die Miller-Garrett ließ ihn spüren, dass sie ihn für überspannt und größenwahnsinnig hielt. Die ersten zwei Wochen behandelte man ihn als Gefangenen. Das änderte sich erst, als die Barbaren, die er im Kampf gegen die russische Expedition unterstützt hatte, in die Festung zurückkehrten. Aus Furcht vor den Lavaströmen hatten sie ihr Schiff aufgegeben und den Weg zu Fuß zurückgelegt. Vermutlich erstatteten sie Bericht bei jenem ominösem Thorzon, denn die Miller-Garrett behandelte ihn nun wesentlich respektvoller und gewährte ihm einen größeren Bewegungsradius. In die Innenbezirke der Festung ließ man ihn trotzdem nicht. Nur drei der Festungsherren bekam Smythe zu Gesicht - die zickige Fuchtel namens Miller-Garrett, einen grässlich aufgeblähten Major, der sich als Frederic DeLano vorstellte, und einen schweigsamen und zeitweise bedrückt wirkenden Schwarzen: Merlin Roots. Sie trugen Uniformen mit einem Symbol, das Jacob Smythe kannte. Man hatte es damals im Vorfeld des Kometeneinschlags als offizielles Symbol der unzähligen Konferenzen entworfen: eine stilisierte Erdkugel, die von einem Keil geteilt wurde. Neu war nur, dass es auf eine US-Flagge gebettet war. Smythe fand heraus, dass das Symbol in dieser Form und in dieser Zeit für eine mächtige Vereinigung namens »Weltrat« stand. Alle drei Festungsherren sprachen Amerikanisch mit einem Akzent, den Smythe keinem Bundesstaat zuordnen konnte. Und keinem der drei behagte das fast ehrfürchtige Benehmen ihrer barbarischen Soldaten dem Professor gegenüber. Zwei Monate verbrachte Smythe im äußeren Ringwall der Festung. Die Barbaren nannten sie Lokiraaburg. Und DeLano und Miller-Garrett nannten die Barbaren Schlächter. Der Professor bekam Kasernen, Mannschaftsräume, Kanonen- und Dampfmaschinenfabriken zu sehen. Eine Abordnung der Schlächter begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Selbst bei den beiden 38
Verhören - sogenannte Gespräche - durch DeLano und Miller-Garrett wichen sie nicht von seiner Seite. Er erzählte ihnen, er sei auf der Suche nach seiner Familie und müsse so schnell wie möglich nach Amerika. Und er wurde nicht müde zu bekräftigen, dass er von der Vorsehung zu Höherem auserwählt sei. Und dass man ihn gefälligst mit Respekt zu behandeln habe. Dabei ging er wohl etwas zu weit; nach dem letzten Verhör verwiesen sie ihn der Festung. Smythe schäumte. Aber er gab nicht auf. Die Vulkantätigkeit im Nordwesten hatte nachgelassen. Die Luft war voller Ruß, der Schnee grau von Asche, und es wollte gar nicht mehr richtig hell werden. In den Ruinen richtete er sich zwei Zimmer in einem unbewohnten Haus ein. Über zwei Schlächter, die ihm ergeben waren, hielt er Kontakt mit der Festung. Die beiden gerbten ihm auch das Fell des Eisbär-Mutanten und ließen ihre Weiber einen Mantel daraus schneidern. Zwar konnte er sich nur bruchstückhaft mit ihnen verständigen, doch immerhin begriffen sie, dass er dringend ein Schiff brauchte. Er schrieb Botschaften an den Schwarzen, der ihm von den drei Herren der Schlächter, die er bisher kennen gelernt hatte, am zugänglichsten erschien. Eine Antwort blieb lange aus. Irgendwann erfuhr er von einem Todesfall in den Reihen der Festungsherren. Und irgendwann tauchte Merlin Roots in seiner Ruine auf... Atlantischer Ozean, 46° Nord, 53° West November 2517 Er schwamm in einer Flut von Bildern. Seine Füße tasteten nach Grund, seine Hände streckten sich nach Halt aus. Doch Woge um Woge an Eindrücken und Bildern rollte über ihn hinweg, spülte ihn tiefer hinein in den Strudel seiner Erinnerungen. Es war, als würde ein riesiger Löffel in seinem Unterbewussten herumrühren, ein magnetischer Löffel, der Bild um Bild, Erinnerung um Erinnerung an sich zog und wieder abstieß, bis alles, was er je erlebt hatte, in Zehntausenden Bruchstücken über ihm und unter ihm in einem Strudel rotierte. Er bekam es mit der Angst zu tun, weil ihm im Halbschlaf einfiel, dass Menschen kurz vor ihrem Tod ihr Leben gleichsam als Film vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen sahen. Die Angst und der eigene Tod - beide waren sie Fremde in seinem Tagesbewusstsein. Nur nicht sterben! Nur nicht die großartige Zukunft verlieren, die ihm bestimmt war! Der Augenblick der Angst machte ihm bewusst, dass er ja schlief und alles nur träumte. Und jetzt fanden seine Füße Grund und seine Hände Halt. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Bilderstrudel. Er riss die Augen auf. Und sofort wusste er wieder, warum er das Bier getrunken hatte. Das Bier mit der Droge. Die Öllampe auf seinem im Boden verschraubten Kajütentisch brannte noch. Vor ihr über der Stuhllehne hing sein Pelz, und die Lampe warf den Schatten des Izeekepirschädels an die Holzwand neben seiner Koje. Sein Kopf schmerzte, sein Hirn fühlte sich geschwollen an. Gleichgültig. Er schüttelte sich. Hauptsache, ich bin endlich wach... Er schob sich an die Wand und presste sein Ohr gegen eine verteerte Ritze zwischen den Brettern. In der Nachbarkajüte flüsterte jemand. Und ein leises Klappern war zu hören, als würde jemand auf einer Computertastatur tippen. Natürlich wusste Smythe, wer in der Nachbarkajüte residierte. 39
Er wandte den Kopf und blickte in den Schein der Öllampe. Zwar durchschaute er noch nicht, was Roots und seine Konkubine für ein Spiel spielten. Aber seine Intuition bestand auf einem Zusammenhang zwischen dem präparierten Bier, seinen Traumbildern, dem Flüstern und dem Tastaturgeklapper. Er sprang aus der Koje, riss die Tür auf und stürmte in die Nachbarkajüte. Mit einem Blick erfasste er die Situation: Karyaana kniete auf dem Bett neben der Wand, Merlin Roots hockte am Tisch vor seinem aufgeklappten Rechner und starrte den Professor an wie eine Erscheinung. Smythe ließ ihm keine Zeit zu reagieren. Zwei Schritte und er stand hinter ihm. Er überflog den Text und wusste Bescheid: ... hält sich in den Ruinen auf, trifft sich regelmäßig mit ihm ergebenen (!) Schlächtern, erfährt von Delilah Roots Tod, übermittelt mir Botschaften durch Quollkaan und Olfzuun. Rest bekannt... »Was fällt Ihnen ein, Smythe?!«, fuhr Merlin Roots zornig auf. »Was haben Sie in meiner Kajüte zu suchen?!« »Frag nicht so blöd!« Smythe trat vom Tisch weg und bewegte sich langsam zur Koje. »Ich suche den Abschluss eines Experiments mit dir, das Ergebnis, wenn du so willst. Hattest du etwa angenommen, ich würde das Bier aus lauter Leichtsinn trinken?« Er lachte krähend. »Da kennst du Professor Dr. Smythe aber schlecht! Eine wirkungsvolle Droge übrigens. Alle Achtung.« Er wandte Merlin den Rücken zu und fixierte die Frau auf dem Bett. Er wusste plötzlich, dass er sie töten musste. »Produziert ihr solches Zeug in eurer Superfestung auf dem Hoheitsgebiet des Weltrats?« Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Merlin seinen Driller zog. Mit einem Satz hechtete er zum Bett, prallte auf den Körper der Frau, packte sie und riss sie herum. Wie einen Schutzschild hielt er Karyaana vor sich. Sie wehrte sich nicht. »Weißt du, Merlin, ihr seid nicht die Ersten, die in meinen Gedanken herumstöbern.« Haar und Kleid der Frau fühlten sich feucht an. Ihr Körper war heiß; er konnte ihren rasenden Herzschlag spüren. Merlin stand neben dem Tisch. In seiner Rechten lag die Waffe. Smythe erinnerte sich an die morgendlichen Schießübungen. Für einen Moment schwebte das Gefieder einer zerplatzten Möwe durch seinen schmerzenden Schädel. Er schob seinen Kopf hinter die graue Mähne der Frau. »Nur die Methode war ein bisschen anders das letzte Mal.« Smythe tippte auf seine Stirnglatze. »Ihr scheint ohne Draht und Monitor auszukommen.« Merlin starrte nicht ihn, sondern die Frau über ihm an. Vermutlich flehten ihre Augen um Hilfe. Und vermutlich wussten beide, dass ihre Stunde geschlagen hatte. »Die einzige Schlussfolgerung, die mir dazu einfällt, würde ein durchschnittlicher Mann sofort wieder verwerfen.« Smythe schnaubte verächtlich. »Aber ich habe in den letzten achtzehn Monaten zu viel gesehen, das eigentlich unmöglich ist, um das Wort ›unmöglich‹ noch benutzen zu können. Falls du verstehst, was ich meine.« »Lass sie los, Smythe!«, zischte Merlin. »Sonst überlebst du diesen Morgen nicht!« Smythe lachte. Laut, ja brüllend. Es klang, als würde ein Pferd den Schlusschor des Messias allein bestreiten wollen. »Wenn du wüsstest, was der Herr der Welt schon alles überlebt hat! Wenn du nur wüsstest...!« Er sprang auf, riss Karyaana mit sich hoch und zog sie zur Tür. Er bewegte sich seitlich 40
und ohne Merlin auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Sie ist nassgeschwitzt und erschöpft«, höhnte er. »Muss ein Knochenjob sein, in den Gedanken anderer Leute zu wühlen! Ich bedaure Sie zutiefst, Mrs. Karyaana!« »Beim Schweif des Kometen - was hast du vor?« Jetzt erst bewegte sich auch Merlin. Als wurde er auf Eis gehen, tastete er sich um den Tisch herum. »Das weißt du doch ganz genau, Junge.« Smythe riss die Tür auf, zerrte die Frau aus der Kajüte in den engen Gang, trat die Tür zu, stieß die Außentür auf und schleppte Karyaana die Treppe hinauf. Es dämmerte bereits. Zum ersten Mal raffte die Telepathin sich zur Gegenwehr auf: Sie griff über die Schulter in Smythes Haar, erwischte seinen Zopf und riss daran. »Miststück!«, schrie der Professor. Er stand schon auf der letzten Stufe. Unter ihm erschien Merlin im Rahmen der Außentür. »Lass sie los! Alarm! Alle Mann aufs Außendeck!« Die Schlächter waren das Letzte, was Smythe glaubte fürchten zu müssen. Er biss Karyaana mit aller Kraft in den Unterarm, und augenblicklich ließ sie seinen Haarzopf los. Er packte sie und schlug ihren Kopf gegen die Balustrade, bis ihr Körper erschlaffte. Für Sekunden verlor sie das Bewusstsein, nur für Sekunden, aber für entscheidende Sekunden. Unten am Treppenabsatz vor der Tür zu den Kajüten hielt Merlin Roots den Driller mit beiden Händen fest und versuchte zu zielen. Doch die Angst Karyaana zu treffen lahmte seine Finger. Ein Fass stand seitlich der Balustrade. Es war leer. Smythe riss es um und versetzte ihm einen Tritt. Polternd rollte es die Stufen hinunter und erwischte Merlins Knie. Der Professor zerrte Karyaana zur Reling. Sie wimmerte. Er packte sie, nahm sie auf beide Arme und warf sie ins Meer. Auf der Treppe hinter der Balustrade erschien Merlins Kopf. Smythe konnte das Weiße in seinen aufgerissenen Augen sehen. »Karyaana...!« Er schrie wie von Sinnen. Smythe sah die Waffe in seiner Hand und spurtete heckwärts. Ein Schuss explodierte, Holz splitterte. »Karyaana! Karyaana!« Befriedigt registrierte der Professor, dass er den jungen Schwarzen an seiner empfindlichsten Stelle getroffen hatte. Er erreichte die Treppe zur Kommandobrücke. Warf sich auf die Stufen und drückte sich an die Rückwand der Decksaufbauten. Über ihm, in der offenen Tür des Ruderhauses stand der Schiffsmeister. Sein Pferdegebiss war ein geöffneter Nussknacker und das verbliebene Auge schien alle in einem Schlächterleben denkbaren Misslichkeiten auf einmal sehen zu müssen. Smythe legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Psst!« Er lauschte. »Halt aus, Karyaana!«, hörte er Merlin brüllen. Er spähte um die Ecke: Meister Brakizon riss sich Kleider und Gürtel vom Leib. »Halt durch, Liebste! Ich komme!« Von allen Seiten donnerten jetzt schwere Stiefel über die Decksplanken. Das ganze Schiff war in Auffuhr. Merlin brüllte den herbeieilenden Schlächtern Befehle in ihrer Sprache zu. Barfuß und nur mit einer knielangen Unterhose bekleidet stieg er auf die Reling und sprang kopfüber ins Meer. Boosten, Mitte November 2517 Das, was heutzutage »Boosten« hieß, hatte über Jahrhunderte überhaupt keinen Namen: 41
eine zerklüftete Eisfläche, aus der hier und da die Dächer einiger Hochhausruinen ragten. So weit Dewlitt wusste, lebte hier kein Schwanz mehr. Wo auch, unter dem Eis etwa? Nun gut, von New York - oder Nuu'ork, wie man es jetzt nannte - war immerhin bekannt, dass ein obskures Volk in den Ruinen unterhalb des Eises lebte. Kreaturen, um die man tunlichst einen Bogen machte. Die ursprüngliche Bevölkerung schien von einer Art Eiswürmern übernommen worden zu sein und lebte jetzt in einer verhängnisvollen Symbiose mit ihnen. Nicht ohne Grund schrieb das WCA-Dienstgesetz vor, die Ruinen der Halbinsel zu meiden, wenn nicht ein von höchster Stelle abgezeichneter Befehl vorlag, der etwas anderes verlangte. Aber das kam selten vor. Carl Dewlitt hatte noch nie ein Befehl von höchster Stelle dorthin geschickt. Und Maine Simpson und Jacky Goldstein auch nicht, so viel er wusste. Jedenfalls gab es in Nuu'ork noch Ruinen und Lebewesen, die einen Namen rechtfertigten. Hier aber gab es überhaupt nichts, das man benennen konnte. Keine Wilden, keine Mutanten, nichts. Dabei hatte hier an der Atlantikküste angeblich auch mal eine Millionenmetropole gelegen. Die Historiker, die den lieben langen Tag in alten oder neu entdeckten Datenbanken herumstöberten, behaupteten das. »Historiker« - komischer Name, komischer Job. Von diesen Fuzzis stammte übrigens auch die Bezeichnung für diese Eiswüste: Boosten. Dewlitt hatte keine exakten Vorstellungen von dem, was früher gewesen war und was die Historiker so entzückte. Millionenmetropole? Wenn man seinen Feldstecher über die Eisfläche wandern ließ - und das tat Captain Dewlitt gerade -, sah man eine Eisfläche und weiter nichts. »Simpson an Dewlitt - wie siehts denn aus da oben, Schätzchen?« Eine Frauenstimme quäkte im Ohrstöpsel seines Headsets. Maines Stimme. Maine war der Commander. Dewlitt setzte das Glas ab, fummelte den Bügel mit dem Mikro aus seinem Fellkragen und hielt es vor die Lippen. »Nicht anders als heute Morgen, gestern Abend, gestern Morgen, vorgestern Abend, vorgestern...« »Mit anderen Worten: Kein Schiff in Sicht.« »... genau.« Vorsichtshalber setzte Dewlitt noch einmal den Feldstecher an die Augen und suchte den östlichen Horizont ab. Zum Glück schneite es seit zwei Tagen nicht mehr; die Luft war glasklar und er konnte sogar die Linie am Horizont erkennen, an der das Meer endete und der Himmel begann. Nur ein Schiff konnte er nirgends erkennen. »Dewlitt an Commander: keine Rauchfahne, kein Licht, kein Schiff, nichts.« Er liebte es, Maine »Commander« zu nennen. Dabei legte sie nicht den geringsten Wert auf militärische Umgangsformen. Aber Captain Carl Dewlitt brauchte es, jemanden in seiner Nähe zu wissen, der über ihm stand, der wusste, wo es lang ging. »Verdammt«, sagte Maines Stimme im Ohrstöpsel. »Sie sind seit mindestens drei Tagen überfällig.« »Was tun wir, wenn sie nicht kommen?« »Spätestens Anfang Dezember fahren wir ohne sie nach Waashton zurück. Dann müssen sie halt hier in der Basis überwintern. Bleib bis Sonnenuntergang auf deinem Posten, Schätzchen. Ende.« Dewlitt bestätigte, steckte das Mikro wieder unter den Fellkragen und fischte einen Kaugummi aus der Manteltasche. Bis Sonnenuntergang - nun ja, so lange sollte es sein 42
Magen eigentlich noch aushalten. Er rückte das Lasergewehr auf seiner Schulter zurecht und begann schon mal zur Kuppel zurück zu schlendern. Die wölbte sich etwa zweihundert Schritte links von ihm aus dem Eis. Ein grünes Licht blinkte neben dem verschlossenen Schott. Das Zeichen, dass einer der beiden Lifte oben war und gerade nicht benutzt wurde. Die Kuppel war nichts anderes als die Spitze einer knapp vier Meter durchmessenden Röhre, die sechzig Meter senkrecht nach unten führte. Dort unter der Eisschicht lag das Einzige, was in dieser Eiswüste einen Namen zu tragen verdiente: die nördlichste Außenbasis des Weltrats. Den Namen Boosten allerdings hatten die Historiker schon vor dem Bau der Basis wieder zum Leben erweckt. Vor etwa zweihundert Jahren, als eine Expedition an dieser Stelle Probebohrungen und sonografische Aufnahmen des Bodenprofils machte. Die Pioniere damals stießen tatsächlich auf den Flughafen, der laut einiger Urzeit-Karten auf dieser Halbinsel hätte liegen müssen. Und dieser Flughafen gehörte halt zu einer Stadt, die vor dem großen Knall eine Millionenmetropole gewesen sein sollte. Dewlitt drehte ein paar Runden um die Kuppel. Vier Steingebäude gruppierten sich um sie. In einem war das Werkzeug untergebracht: Eispickel, Schaufeln, ein Kompressor, ein paar Presslufthämmer und alles, was man sonst noch zum Fischen brauchte. In einem anderen standen die beiden Panzer vom Typ Nixon. Einer, mit dem sie die Reise von Waashton hierher zurückzulegen pflegten, und der kleinere, den die Basisbesatzung benutzte. In den anderen beiden Häusern gab es Vorratsräume voller gefrorenem Fisch und ein paar Wohnräume. Dort hausten gewöhnlich die Seeleute der Schlächter in der Zeit, während ihr Botschafter oder die Besatzungsmitglieder der eureeschen Basis sich in Waashton aufhielten. Die Abenddämmerung ließ auf sich warten, und Dewlitts Magen begann zu knurren. Er entwickelte immer einen unglaublichen Appetit, wenn er in diese Gegend kam. Einmal im Jahr im Schnitt. Es gab nur eine Handvoll Männer und Frauen, die von der Regierung hierher geschickt wurden. Lauter Geheimnisträger. Dewlitt gehörte dazu, immerhin. Seit Jahren schon fuhr er mit Maine und Jacky jeden Herbst an der Ostküste entlang nach Boosten hinauf, um einen der Wichtigtuer abzuholen, die auf der anderen Seite des Atlantiks wusste der Henker was trieben. Oder einen jener Hundegesichter, über die man zu Hause kein Wort verlieren durfte. Verbündete aus Euree angeblich. Dewlitt wusste nichts Genaues. Auch, warum der Präsident und der General so ein Getue um die Sache machten, wusste er nicht. Was war eigentlich so außergewöhnlich daran, Kontakt mit Verbündeten zu pflegen? Egal. Die Angelegenheit unterlag der Geheimhaltungspflicht und Basta. Es wurde dunkel, endlich. Dewlitt stieg in den Lift und fuhr zur Basis hinunter. Komisch, er hatte so ein Gefühl, als würde das Schiff in diesem Jahr überhaupt nicht kommen... Atlantischer Ozean, 46° Nord, 53° West November 2517 Das Wasser war flüssiges Eis. Es schien ihm die Haut wegzuätzen und seinen Körper auf die Größe seines Herzens zusammenzupressen. Karyaana klammerten sich um seinen Hals. Gemeinsam gingen sie unter, allein musste er es schaffen, mit der Last ihres Körpers wieder aufzutauchen. Ein paar Mal ging das so: 43
auf und ab, auf und ab. Dazwischen schrie er: »Das Seil! Wo ist das Seil?!« Karyaanas Bewusstsein hatte sich auf den Klammerreflex reduziert. Der Tod steckte schon in ihren Gliedern, sie erkannte ihn nicht mehr, war nur noch eine Ertrinkende. Er musste zuschlagen, er musste - sonst hätte sie ihn mit in den Tod gerissen. »Das Seil!« Merlin wusste nicht, wie es sich anfühlte, einen Menschen mit der Faust zu schlagen. Den Kampf mit Schusswaffen kannte er, selbstverständlich, nicht aber den Kampf mit bloßen Händen Mann gegen Mann. Und dann im Wasser - die Wogen gingen über seinen Kopf hinweg, Karyaanas verkrampfte Arme erdrosselten ihn fast, und wie holt man aus, wenn man damit beschäftigt ist, nicht unterzugehen? Er traf ihr Ohr, schluckte Wasser, traf ihre Schläfe, schluckte Wasser, traf ihren Mund, schluckte Wasser. Wohl zehn, zwölf Mal schlug er zu, bis die würgende Klammer um seinen Hals sich endlich lockerte. Strömung und Wellen hatten sie fast einen Steinwurf weit vom Schiff weggetragen. Oben an der Reling gestikulierten Braukas und andere Schlächter. Zwei stiegen an Strickleitern an der Bordwand herunter. Am Heck ließen sie ein Beiboot zu Wasser. Der Bug des Dampfers drehte sich unendlich langsam auf Merlin zu. Er sah eine rotweiße Boje auf den Wellen tanzen, das Seilende nur zwanzig, dreißig Meter entfernt - eine unüberwindliche Distanz, wenn man glaubt, nur noch aus Lungen, Herz und Augen zu bestehen. Merlin versuchte es trotzdem. Der Dampfer erreichte die Boje vor ihm und seiner bleischweren Last. Die Bordwand, die Strickleitern, die Verkleidung des Schaufelrades, die nach ihm ausgestreckten Arme, alles verschwamm vor seinen Augen. Hände packten ihn, jemand zog ihm ein Seil unter den Achseln durch und schlang es um seinen Brustkorb. Nacheinander zogen die Schlächter sie aus dem Wasser, zuerst Karyaana, dann ihn. Braukas half ihm über die Reling. Karyaana lag schon auf den Decksplanken, bewusstlos. Sie blutete aus dem Mund und einer Wunde über der linken Braue. Kannen und ein Heizer schälten sie aus ihren nassen Lederkleidern und wickelten ihren Körper in trockene Felle. »Bringt sie in den Heizungsraum«, keuchte Merlin, »dort ist es am wärmsten. ..« Als seine Fußsohlen die Planken berührten, merkte er, wie sehr er zitterte. »Sie bleibt hier.« Auf der obersten Stufe der Treppe, die zu den Kajüten führte, lehnte Jacob Smythe über der Balustrade. Der Driller in seiner Rechten zeigte abwechselnd auf Merlin und auf die bewusstlose Frau. »Oder willst du die ganze Schweinerei tatsächlich unter Deck haben?« Sein Blick hatte etwas Starres, sein Mund grinste, in seinen Glubschaugen glitzerte der Wahnsinn. »Persönlich hab ich nichts gegen deine Perle, aber ich kann niemanden in meiner Nähe brauchen, der mir in den Gedanken herumschnüffelt.« Der Drillerlauf senkte sich. Er zielte auf die nackte Karyaana. Karmen sprang erschrocken zur Seite, die blöden Augen des Heizers wanderten zwischen Smythe und Merlin hin und her. Langsam wich auch er zurück. Merlin machte sich von Braukas los. Er stieg über die Bewusstlose. Seine Knie gaben nach; zwischen ihr und Smythe sackte er auf die Planken. »Tu es nicht, Smythe!« Er streckte den Arm aus. »Gib mir meine Waffe zurück.« Sein Arm zitterte und er kam sich lächerlich vor. Braukas legte ihm von hinten den schwarzen Fellmantel um die Schultern. 44
»Gib mir meine Waffe zurück, oder ich hetze die Schlächter auf dich, Smythe!« Er schrie, als wollte er von seinem Zittern ablenken. »Aus dem Weg!«, zischte der Professor. »Aus dem Weg, oder du stirbst vor ihr! Was glaubst du, wem sie gehorchen, wenn ich dir das Hirn aus deinem schwarzen Schädel gesprengt habe? Sie sind doch auf Gehorsam dressiert!« Er stieg die letzte Stufe hinauf und kam hinter der Balustrade vor. Keine zwei Schritte vor Merlin stand er jetzt. »Was glaubst du, wem sie gehorchen werden, he?!« Aus den Augenwinkeln beobachtete Merlin die Schlächter rechts und links in seinem Blickfeld. Grenzenlose Verwirrung stand auf ihren entstellten Gesichtern. »Der Kampf der Göttersöhne verwirrt sie, was, Roots?« Smythe kicherte sein irres Kichern. »So was sind sie nicht gewohnt, was? Ihre Schrumpfhirne werden durchbrennen, hab ich Recht?« Er klopfte sich mit der Linken auf die Brust. »Loki«, rief er. »Ich Lokis Sohn!« Sein Blick hetzte über die Schlächter. »Loki, der Listigste aller Götter! Ich sein Sohn!« Merlin spürte förmlich, wie die Schlächter innerlich in die Knie gingen. Einige wichen bis an die Reling zurück. »Lokizon!«, krähte Smythe. »Lokizon! Lokizon!« Er bearbeitete seinen Brustkorb mit der Faust, sein Kopf stach nach vorn, wie der Kopf eines Greifvogels, wenn er seine Beute kröpft. Die hilflosen Blicke der Schlächter hingen an Braukas und Merlin. »Sie glauben dir nicht«, sagte der Schwarze. »Wenn ich ihnen befehle, sich auf dich zu stürzen, werden sie gehorchen. Sie sind gewohnt zu sterben, wenn wir es wollen...« »Dann befiehl es ihnen doch!«, krächzte Smythe. »Na los! Bevor einer seine Ehrfurcht vor dem Herrn der Welt überwindet, bist du längst tot! Und Einauge auch! Rate, wem sie dann gehorchen! Na?« Er stimmte sein dämonisches Gelächter an. »Einer Leiche? Oder dem Sohn Lokis, der den Sohn Bragis besiegt hat?! Na los, Merlin, gib deinen Befehl! Lass uns pokern! Na los!« Für Sekunden hörte man nur das Stampfen der Maschine und das Knarren der Schaufelräder. Eine unsichtbare Zündschnur brannte zwischen dem weißen Mann mit den Glubschaugen und dem schwarzen Mann auf den Knien. Eine Zündschnur, deren Glut sich von zwei Seiten einer Sprengladung näherte, die genau in der Mitte zwischen Merlin und dem Professor lag. Ja, es waren die Sekunden vor der Explosion einer Bombe, alle spürten es, und alle hielten den Atem an. »Ich pokere nicht, Smythe«, flüsterte Merlin. »Das Risiko ist mir zu hoch.« Er zog den Fellmantel seines Vorgängers um seine Schultern zusammen. Dieses verdammte Zittern! Er kam sich jämmerlich vor! Die Indianerstatue unten in seiner Kajüte fiel ihm ein. Sie schien in seine Angst hineinzuflüstern. »Ich muss nach Waashton, verstehst du, ich muss!« Seine Stimme klang jetzt fester. »Lass uns verhandeln. Unter vier Augen.« »Das Risiko ist dir zu hoch?«, kicherte Smythe. »Mir nicht.« Er winkte mit der Waffe. »Ich kann nur gewinnen. Was hast du mir zu bieten, Schwarzhaut?« »Auch du willst nach Waashton. Und ich bringe dich hin.« »Was soll ich in Washington?« »Du suchst Drax. Du suchst dein Schiff und den Albino.« Merlin versuchte sich in das größenwahnsinnige Hirn seines Gegenübers hineinzudenken. Ein wenig kam er sich vor, als würde er sich durch einen dunklen Raum tasten, den er nie zuvor gesehen hatte, von dem er aber wusste, dass mindestens drei Tretminen irgendwo auf dem Fußboden lagen. 45
»Denk nach, Professor: Wohin würdest du dich zuerst wenden, wenn du Jahrhunderte nach der Katastrophe zum ersten Mal wieder nach Nordamerika kämst?« Smythe neigte den Kopf auf die Schulter. Aus schmalen Lidern belauerte er Merlin. »Nicht schlecht, junger Mann. Weiter.« »Dieser Drax, falls er es tatsächlich über den Atlantik geschafft hat, ist mit Sicherheit nach Waashton gegangen.« Ganz ruhig sprach Merlin jetzt. Sein Bass strömte aus einer trockenen Kehle. »Vermutlich findest du ihn sogar dort, wo mein Ziel liegt: im Regierungsbunker unter dem Pentagon.« Jetzt war er es, der Smythe belauerte. »Da willst du doch hin, oder? Um Drax zu finden, und um dem Weltrat zu zeigen, wen die Götter zum Herrn der Welt bestimmt haben...« »Die Vorsehung, mein Junge, die Vorsehung, nicht die Götter.« Smythe fuchtelte mit dem Driller herum. »Gut, gut. Ist ja gleichgültig, ob ich sie jetzt oder später töte.« Mit der Waffe deutete er auf Karyaana. »Lass sie von mir aus in den Kesselraum bringen. Vorübergehend. Und wir zwei ziehen uns in meine Kajüte zurück. Ich höre mir mal an, wie du dir das alles vorstellst. Aber ich warne dich! Wenn mir deine Vorschläge nicht gefallen, stirbst du vor ihr...!« »Ich fahre nach Waashton, um nie mehr nach Euree zurückzukehren.« Merlin schloss seinen Thermokombi und stieg in seine Stiefel. »Die Frau dort oben in dem Sarg Karyaana und ich haben sie getötet. Mit Gift.« Er hüllte sich in den schwarzen Fellmantel seines Vorgängers und hockte sich auf die Tischkante. »Eigentlich hätte es den Kommandanten treffen sollen, aber seine Mutter erwischte den Krug mit dem vergifteten Bier.« »Bier und Drogen scheinen deine bevorzugten Waffen zu sein.« Smythe lehnte gegen die Kajütentür. Der Driller in seiner Rechten zielte auf Merlin. »Warum wolltest du den Kommandanten töten?« Merlin stieß ein bitteres Lachen aus. »Es ist ein Verbrechen, was der Weltrat seit zwei Jahrhunderten in Malmee treibt. Und nicht nur dort. Der Tod von Rocket Roots hätte das Projekt zumindest vorübergehend gestoppt.« Bitterkeit, ja Verzweiflung ließen Merlins Gesicht für Augenblick hart und alt aussehen. Smythe registrierte es mit Interesse. »Der Kommandant ist also ein Verwandter von dir?« Merlin nickte finster. »Was für ein Projekt? Erzähl es mir, Roots.« »Die Schlächter sind das Ergebnis gentechnischer Manipulationen. Der Weltrat benutzt sie, um aufstrebende Völker und Stämme in Euree zu unterdrücken oder auszurotten. So wie er auch mongolische Stämme in Asien für denselben Zweck einsetzt. Die World Council Agency duldet keine Großmächte neben sich.« »Die Bande gewinnt immer mehr in meinen Augen.« Der Professor bleckte die Zähne und strahlte. »Es dürfte vieles einfacher machen, sich gut mit ihr zu stellen.« Und sich an ihre Spitze zu setzen, fügte er in Gedanken hinzu. »Ich wusste, dass dir das gefällt. Aber bedenke eines...« Merlin zog eine Zigarre aus seiner Brusttasche und ließ sich Zeit dabei. »Ohne mich kommst du nicht in die Bunkeranlagen unter dem Pentagon. Wenn ich dich einführe allerdings, dann wirst du bis zum Präsidenten und seinem Militärchef vorgelassen.« Er zog die Brauen hoch und fixierte den Weißen. »Deine Chance. Du wärst nicht der Erste, der sich den Präsidentenstuhl mit Gewalt unter den Nagel reißt.« Merlin tastete seine Taschen nach einem Feuerzeug ab. Er versuchte gelassen zu wirken. In Wahrheit klopfte ihm das Herz 46
bis zum Hals: Würde der Wahnsinnige den Köder schlucken? »Steck die Zigarre weg!«, krähte Smythe. »Ich kann das Zeug nicht riechen!« Er trat einen Schritt näher zu Merlin und fuchtelte mit dem Driller herum. Merlin Roots spürte, wie sich ein Schweißfilm auf seiner Stirn bildete. »Die Sache klingt gut. Selbstverständlich will ich zu diesem Hymes, wohin sonst?« »Ich bringe dich zu ihm, wie gesagt. Er erwartet meinen Bericht vom Außenposten. Er und Arthur Crow, sein Militärchef.« »Nenn mir den Preis.« »Karyaanas Leben. Sie ist mehr als nur meine Konkubine.« »Nur unter zwei Bedingungen: Ich behalte die Waffe und übernehme das Kommando auf dem Schiff. Du erzählst den Krüppelgesichtern irgendeine Geschichte. Und zweitens: Du gibst mir das Zeug, mit dem du mich flachgelegt hast. Ich fülle die Frau persönlich damit ab. Sie muss den Rest der Reise schlafen. Niemand spioniert in meinem Geist herum!« »Einverstanden.« Merlin fiel ein Stein vom Herzen. »Aber eins will ich noch wissen.« Smythe schlenderte um Merlin herum und blieb hinter ihm stehen. »Warum machst du dich nicht einfach aus dem Staub? Warum setzt du dich nicht von diesem Weltrat ab, wenn dir seine Art der Kriegsführung nicht passt? Warum willst du zurück nach Washington?« »Ich werde mich absetzen. Ich hab von einer Untergrundbewegung in Waashton gehört. Die Männer nennen sich die Running Men. Ihnen werde ich mich anschließen. Aber vorher...« Er unterbrach sich und starrte den Siegelring an seinem Finger an. »Vorher muss ich diesen Mantel, eine Indianerskulptur und diesen Ring hier der Familie meines Vorgängers überbringen. Und danach...« »Was ist danach?!« Smythe spürte, dass der Schwarze das Wesentliche noch gar nicht verraten hatte. »Danach töte ich den Präsidenten.« Boosten, Anfang Dezember 2517 Seit drei Tagen Schneesturm. Keine Eisfläche mehr, kein Himmel, kein Meer - nur noch ein weißer eisiger Schleier, der einem ins Gesicht peitschte, wenn man die Kuppel verließ. Es war der erste Schneesturm seit ihrer Ankunft vier Wochen zuvor. Der erste von vielen, die den Winter hier oben im Nordosten zur Eishölle machten. Dewlitt hoffte, dass es für ihn der letzte in diesem Jahr sein würde. Keine unbegründete Hoffnung: Zwanzig Stunden zuvor hatte die Radarstation das Schiff geortet. Dewlitt und Goldstein hielten sich in der Panzergarage auf. Der Sturm rüttelte an den Bretterverschlägen, die sie vor die Fenster genagelt hatten. Manchmal schlug eine tausendschwänzige Peitsche minutenlang von außen gegen das Gebäude. Generationen zuvor hatten Mitglieder einer Pionierexpedition die niedrigen Häuser gebaut. Das Baumaterial stammte zum größten Teil aus den Hochhausgipfeln, die aus dem Eis über der ehemaligen Stadt ragten. Unter dem Flachdach der Garage waren zwei Räume untergebracht: Eine Halle mit Reparaturgruben, die Platz für vier Nixon-Panzer bot, und eine Werkstatt voller Ersatzteile. Grelles Deckenlicht erhellte die Halle. An der Rückwand standen meterhohe Öl- und Treibstofftanks aus Kunststoff - Relikte aus Zeiten, in denen die Generationen vor Dewlitt 47
ihre Fahrzeuge noch mit Diesel oder Kerosin angetrieben hatten. Unter der Eisdecke, in den Ruinen des Airports, lagerten noch heute Tonnen davon. Dewlitt schritt um den größeren der beiden Panzer herum, ein schwarzes Ungetüm mit flachem Turm, das die Eigenschaften eines Kettentransporters und eines Kampfpanzers in sich vereinigte. Die Motoren bezogen ihre Energie aus einem Trilithium-Kristall. »Positionslicht vorne rechts unten«, sagte Dewlitt. Die betreffende Lampe blinkte. »Nebelscheinwerfer.« Sie flammten auf. »Geschützklappe Bug...« Die Klappe hob sich, ein MG-Lauf schob sich aus der Panzerhülle. »Geschützklappe an Backbord...« Dewlitt sprach laut; seine Stimme hallte aus der Panzergarage zurück. Die Luke auf dem flachen Turm stand offen. In der Kommandozentrale reagierte Lieutenant Jacky Goldstein auf Dewlitts Zurufe, indem er die entsprechenden Schalter drückte. Sie checkten das Gerät durch. Mehr als einen Tag Erholungspause wollte Maine den Leuten aus Nord-Euree nicht gönnen. So schnell wie möglich sollte es Richtung Waashton gehen. Am besten noch gestern. Dewlitt schätzte, der Schneesturm würde Maine einen Strich durch die Rechnung machen. »Suchscheinwerfer Turm.« »Augenblick mal!«, kam es dumpf aus dem Inneren des Panzers. »Maine ist in der Leitung.« Dewlitt lehnte gegen den Kettenschuh und suchte seine Taschen nach einem Kaugummi ab. Über ihm erschienen der haarlose Schädel und der schmale Oberkörper Jacky Goldsteins in der Einstiegsluke. »Steig ein, Charly. Probefahrt.« »Spinnst du?!« Doch der Lieutenant war schon wieder verschwunden. »Bei dem Wetter?« Missmutig betrachtete er das Stahltor der Garage. »Kommt überhaupt nicht in Frage!« Das Tor hob sich träge. Eine Sturmböe jagte Schneeschleier in die Halle. Dewlitt konnte gar nicht schnell genug auf den Panzer klettern und seinen in den letzten Jahren etwas massig gewordenen Körper durch die Luke zwängen. Schon klatschte ihm Schnee ins Gesicht. »Bist du übergeschnappt?!« Er riss die Luke über sich herunter. »Wieso will Maine, dass wir eine Probefahrt machen? Kriegt sie ihre Tage?!« Jacky feixte. »Wir sollen die Seefahrer abholen, die wir nach Waashton mitnehmen.« Er ließ die Maschinen an. Seine Finger glitten über die Tastatur des Bordrechners. Mitten in der Armaturenkonsole flammte ein Monitor auf. Er zeigte das halb offene Garagentor. Auf dem kleineren Headup-Display sah man ein Relief der Eisküstenlandschaft. Jacky deutete auf einen schwarzen Punkt. »Das Schiff. Siehst du's?« Fast ohne Ruck setzte das schwere Gefährt sich in Bewegung. »Können die Typen nicht laufen?« Dewlitt schnallte sich auf dem Schalensessel des Beifahrers und Navigators fest. Jeder von ihnen war mit dem Nixon so vertraut, dass er ihn allein hätte steuern können. Maine Simpson sowieso. »Das Wetter gefällt ihnen nicht«, sagte Jacky Goldstein. »Der Mann wollte sogar, dass wir ein Schiff schicken, um ihn abzuholen. Maine war ganz schön geladen.« Der Panzer rollte aus der Garage und beschleunigte; die Motoren summten. »Was für ein Mann?« Goldstein zuckte mit den Schultern. »Maine kannte ihn nicht. Demnach keiner von denen, die wir in den letzten Jahren transportiert haben.« Der Gebäudekomplex blieb hinter ihnen zurück. Im Monitor der Außenkamera sah man 48
die Konturen der Kuppel im Schneetreiben. Selbst durch die Titanwandungen des Nixon hindurch hörte man den Schneesturm auf den Panzer einpeitschen. »Vielleicht der Neue, den wir vor drei Jahren hierher fuhren. Du weißt doch, dessen Vorgänger nie zurückkehrte.« »Der junge Roots?« Goldstein schürzte die Lippen. »Glaub ich nicht. Der fuhr doch früher selbst auf Expeditionen mit, bevor er den Job in Euree kriegte. War sogar eine Zeitlang hier auf der Basis stationiert. Nee, nee - der würde trotz Schneesturm laufen.« Auf dem Headup-Display zeichneten sich die Eisränder ab. Das Wasser wurde in blauen Wellensymbolen dargestellt. Goldstein wich einer Brucheisplatte aus, die aus der ansonsten ebenen Oberfläche ragte. Das Schiff war laut Außenradar noch etwas mehr als zwei Kilometer entfernt. »Commander an Boosten I, wie isses, Schätzchen?« Maine Simpsons Stimme aus dem Funkgerät. Dewlitt erwischte das Mikro zuerst. »Bestens, Commander. Noch vier oder fünf Minuten.« Er blickte auf das Headup-Display. »Da löst sich gerade ein kleineres Objekt vom Schiff.« »Ein Ruderboot«, sagte der Commander. »Irgendwie müssen sie ja aufs Eis kommen. Sie haben übrigens eine Leiche dabei.« »Wie wäre es mit einer Seebestattung?!« Dewlitt musste schreien, um sich stimmlich gegen den Sturm durchzusetzen. »Heutzutage lässt man sich begraben, wo man gerade stirbt!« Er deutete auf den Sarg. »Ist doch der Leiche egal, in welcher Erde sie verrottet!« Er hatte nicht die geringste Lust, einen Sarg zu transportieren. »Das ist nicht irgendeine Leiche!« Merlin Roots trug Karyaana aus dem Boot. Sie lallte unverständliches Zeug in ihrer Muttersprache. »Es handelt sich um Delilah Roots! Sie hat ihr Leben lang für den Weltrat in Übersee gearbeitet!« »Ja, und?!« Dewlitt stampfte in den Schnee. »Was glauben Sie, wo ich mich schon überall für unsere Regierung herumgetrieben habe!« Sein Mantel war schon von einer dichten Schneeschicht bedeckt. »Hören Sie zu, Captain!«, brüllte Merlin. »Dr. Delilah Roots hat sich nicht herumgetriebenl Als Molekularbiologin hat sie Großartiges für den Weltrat geleistet! Außerdem ist sie die Mutter des Kommandanten! Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, in Heimaterde zur letzten Ruhe gebettet zu werden! Schieben Sie den Sarg in den Laderaum!« Er bückte sich in die Seitenluke des Panzerhecks. Im Passagierraum schnallte er die sabbernde Karyaana in einem Sitz fest. »Fällt mir nicht im Traum ein!« Trotzig verschränkte Carl Dewlitt die Arme vor der Brust. »Was meinst du, Jacky?!« Der zuckte nur mit den Schultern und wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. »Ich weiß nur, dass ich zurück zur Basis will, und zwar jetzt!« Der zweite Mann trat zu Dewlitt, ein Kerl mit Glubschaugen und in einem weißen Pelz, dessen Kapuze Dewlitt aus einem einzelnen Auge anstarrte. »Haben Sie nicht gehört, was Dr. Roots befohlen hat, Mister?! Rein mit dem Sarg!« »Ich werde einen Scheißdreck tun! Wer sind Sie überhaupt?!« »Professor Dr. Jacob Smythe! Ein Gast deines verehrten Präsidenten, Bursche! Und jetzt schieb den Sarg in den Panzer!« Er bückte sich ebenfalls in die Luke zum Passagierraum. Dewlitt fluchte und brummte. Aber er gab nach. »Los, Jacky! Fass mit an!« Minuten später pflügte der Nixon durch den Schnee. Eine matte Deckenleuchte erhellte 49
den Passagierraum. Merlin lauschte dem Brummen der Motoren. Die Schlächter warteten auf dem Schiff das Ende des Sturms ab. Danach würden sie in den Gebäuden über der Basis überwintern. Merlin steckte sich eine Zigarre an. Smythe bedachte ihn mit einem bösen Blick. Manchmal hörten sie laute Stimmen aus der Kommandozentrale. Der Captain schien sich noch immer über sie zu ereifern. Karyaanas Kopf pendelte hin und her. Sie verlor Speichel. Bevor sie ins Ruderboot gestiegen waren, hatte Smythe ihr die tägliche Dosis Bier mit Neuromorphan eingeflößt. Merlin hoffte, dass ihre Leber und ihre Nieren die Dauervergiftung durchhalten würden. »Was hast du mit dem Weib vor, Merlin? Willst du sie etwa mit ins Pentagon schleppen?« »Ich kenne Leute in der Oberstadt von Waashton. Dort bringe ich sie unter. Wenn alles vorbei ist.« Smythe feixte. »Weißt du, dass ich dir niemals einen Mord zugetraut hätte? Und ein Attentat auf den Präsidenten ...« Er schüttelte den Kopf. »Ist das nicht eine Nummer zu groß für einen wie dich?« Merlin antwortete nicht. Welten trennten ihn von dem Größenwahnsinnigen. Was ihm drei Jahre lang das Herz eingeschnürt hatte, war für den Professor nur eine gerissene Methode, sich das Wichtigste zu erhalten, was sein Leben zu bieten hatte: die Macht. Smythe lehnte sich gegen Merlins Schulter, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Deinen Driller kriegst du, sobald wir in Washington sind. Hoffentlich bist du nicht aus der Übung gekommen in den letzten vierzehn Tagen. Wäre schade, wenn du daneben schießt.« »Ich brauche die Waffe nur zu meiner Verteidigung. Nach dem Attentat werden sie mich jagen. Dem Präsidenten und General Crow habe ich eine andere Todesart zugedacht.« »Oho!« Smythe kicherte. »Du hast also tatsächlich gewagt, mir die halbe Wahrheit zu verschweigen! Los, rede! Wie stellst du es an?« Merlin legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Nicht so laut...« Eine Stunde später betraten sie das Kasino der Boostener Basis. Karyaana hatten sie zuvor in der Kliniksektion des Bunkers abgeliefert. Sie musste die Nacht in einem Quarantäneraum verbringen. Drei Männer und eine Frau saßen im Kasino beim Essen: die Besatzung der Basis und Commander Maine Simpson. Sie standen auf, als Merlin und Smythe ihren Tisch ansteuerten. Die Simpson war eine dralle Frau mit asiatischen Zügen von ungefähr fünfzig Jahren. Sie trug einen Rot gefärbten Bürstenschnitt. Obwohl noch einen Kopf kleiner als Smythe, wirkte sie männlicher als die meisten ihrer Untergebenen. Die Stimmung war gereizt. Captain Dewlitt, ein Mann mit dem Gesicht eines Schuljungen, hatte die Sache mit dem Sarg über Funk publik gemacht. »Wer sind Sie, Sir?«, blaffte die Simpson den Professor an. Smythe musterte sie von oben bis unten, so dass sie blass wurde und eine Ader unter ihrem roten Stachelhaar schwoll. Merlins Nerven vibrierten. Er hatte Smythe eingeschärft, kein Wort über seine Allmachtsfantasien zu verlieren. Aber begriff ein Wahnsinniger überhaupt, dass er wahnsinnig war und worin sein Wahnsinn bestand? Warum sollte der Professor nicht über das reden, was er für selbstverständlich hielt? »Wenn Sie es wüssten, würden Sie mir gegenüber nicht diesen dreisten Ton anschlagen, 50
Ma'am.« Merlin hielt den Atem an. Aber Smythe verzichtete auf weitere Erklärungen. Er setzte sich einfach auf den nächstbesten Stuhl, zog die Platte mit dem Fisch zu sich und lud sich den Teller voll. Commander Simpson und den drei Besatzungsmitgliedern stand der Mund offen. In den grünen Augen der Frau blitzte es zornig. »Das ist Professor Dr. Jacob Smythe, Commander«, sagte Merlin in einem Tonfall, wie man ihn neben schlafenden Säuglingen anschlägt. »Er ist Meerakaner und einer der fähigsten Wissenschaftler, die ich kenne.« Das war nicht einmal gelogen. »Ihnen mehr zu sagen bin ich nicht befugt.« Er deutete auf den über seinen Teller gebeugten und mit vollen Backen kauenden Professor. »Gewöhnen Sie sich einfach an seine Wunderlichkeiten, okay?« Sie setzten sich ebenfalls. Die Stimmung war jetzt regelrecht frostig. »Das mit der Leiche läuft nicht«, fauchte Maine Simpson zwischen zwei Fischfilets. »Wo kämen wir hin, wenn wir jetzt auch noch anfingen, Särge mit gefrorenen Toten durch die Gegend zu fahren? Im Transportraum ist es warm; die Leiche würde auftauen. Stellen Sie sich nur mal den Gestank vor, Dr. Roots!« »Kein Problem, wir befestigen den Sarg am Heck des Panzers.« Merlins Strategie war es, jeder Diskussion aus dem Weg zu gehen. »Ich bin immer noch der Kommandant des Nixon!« Die Simpson schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und ich transportiere keinen Sarg!« »Dann überwintern Sie einfach hier, Ma'am«, sagte Smythe mit vollem Mund. Sein Augen glitzerten angriffslustig. »Wir können den Panzer auch allein nach Washington fahren.« Commander Simpson wollte auffahren, doch irgendetwas in Smythes Blick ließ sie verstummen. Ob sie erkannt hatte, wie gefährlich dieser Mann wirklich war? Während der Nacht legte sich der Sturm. Eine Stunde nach Sonnenaufgang sorgte Merlin dafür, dass Dewlitt und Goldstein den Sarg auf dem Trittbrett am Heck des Nixon verschraubten. Kein Gruß kam über die Lippen der Simpson, als sie auf den Panzerturm kletterte. Karyaana schnallten sie auf einer Liege im Passagierraum fest und verstauten Gerätschaften und Merlins Gepäck. Smythe besaß nur seinen Rucksack und seinen weißen Pelzmantel. Es wurde eine ziemlich schweigsame und unerfreuliche Reise. Fast vier Wochen brauchten sie für die knapp tausend Kilometer nach Waashton. Und während dieser vier Wochen wechselten Smythe und Commander Maine Simpson kein einziges Wort. Waashton, Anfang Januar 2518 Weder der Präsident noch der General hielten sich in Waashton auf, aber ihre Rückkehr wurde täglich erwartet. Merlin erfuhr, dass beide wegen eines Geheimprojektes in den Süden gereist waren. Eine schwerbewaffnete Einheit aus mehreren Dutzend Soldaten hatte sie angeblich begleitet. Um welche Art von Projekt es ging, konnte Merlin nicht in Erfahrung bringen. Er sorgte dafür, dass der Sarg mit Delilah Roots' Leiche in einer Kühlhalle der medizinischen Sektion des Pentagon-Bunkers gelagert wurde. Danach brachte er den Professor in einer Schenke innerhalb der Stadtmauer unter. 51
Karyaana, die sich in einer Art Delirium befand, quartierte Merlin bei einem Pelzhändler ein, der in der Nähe des Südtores wohnte. Die Familie des Mannes besorgte ihm regelmäßig Zigarren, die er mit Fellen bezahlte. Aus dem Pentagon ließ er dem Händler Medizin für die Telepathin zukommen. Er schärfte ihm ein, Karyaana unter keinen Umständen aus dem Haus zu lassen, bis er persönlich sie abholen würde. Im Haus des Pelzhändlers erfuhr er, dass die Running Men, die bewaffnete Widerstandsbewegung eine herbe Niederlage hatte einstecken müssen. Zum ersten Mal hörte er den Namen des Guerillaführers: Er nannte sich Mr. Black. Angeblich war seine Gruppe bis auf wenige Kämpfer aufgerieben worden. So unverfänglich, wie es eben ging, horchte er den Pelzhändler nach seiner Informationsquelle aus. Er erfuhr den Namen einer Kneipe in einem von Jugendgangs terrorisierten Viertel der Stadt. Merlin hatte Zeit genug, also suchte er die Kaschemme auf. Er wählte einen Platz in der dunkelsten Ecke des Schankraumes. Ein paar Stunden hockte er dort, trank saures Bier, rauchte Zigarren und beobachtete die Gäste. Derbes Volk hing an Theke und Tischen herum. Halb verhungerte Gestalten zum Teil, die sich die Gedärme mit dem erbärmlichen Schnaps wärmten, der hier in Tonkrügen ausgeschenkt wurde. Einige rauchten Kiffetten, andere würfelten, wieder andere bequatschten die wenigen Frauen, die sich in das Loch verirrt hatten. Oder hier ihren Lebensunterhalt verdienten. Von der Theke aus belauerte ihn der Wirt, ein alter Mann, der nur aus Haut und Knochen bestand. Wen ansprechen? Wem die lebensgefährliche Frage nach Mr. Black stellen? Niemandem, beschloss Merlin. Er bezahlte mit einem der Halbedelsteine, die er aus der Lokiraaburg mitgebracht hatte. Stücke aus Schlächterbeute. Sie fühlten sich wie Dreck zwischen seinen Fingern an. »Magst du Zigarren?«, fragte er das dürre Männchen hinter der Theke. Der Wirt nickte erwartungsvoll. Merlin schenkte ihm seine letzten beiden Zigarren. Und dann schob er ihm einen Datenkristall mit einer akustischen Botschaft über die Theke. Ich will Sie kennen lernen, lautete sie. Wo, wann, wie? »Siehst du dieses Steinchen?«, flüsterte Merlin und hielt dem Wirt einen Diamanten unter die Nase. »Wenn du den Kristall an einen Mann namens Mr. Black weiterleitest, gehört der Diamant dir. Sobald ich Antwort erhalte. Ich bin morgen wieder hier.« Er wandte sich ab und ging, bevor der Wirt bestreiten konnte, dass er einen Mr. Black überhaupt kannte. Nachdem die dringlichsten Dinge erledigt waren, suchte Merlin Roots die Sektion auf, in der die Lebensmittel für die Bunkerkolonie produziert wurden. Eine Frau namens Suzanne Watonga arbeitete dort, die Urenkelin seines Vorgängers. Deren Sohn war der letzte männliche Spross der alten Indianerfamilie. Merlin Roots übergab ihr die Familienerbstücke, die der steinalte Chronist ihm anvertraut hatte: den schwarzen Pelzmantel, den Siegelring und die Indianerstatue. Die Frau wollte ihn gar nicht mehr fortlassen, löcherte ihn mit Fragen, erkundigte sich nach jedem Wort ihres Urgroßvaters. Sie hatte ihn über zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Merlin berichtete nur unverfängliche Dinge, behauptete, der alte Watonga sei gestorben, obwohl er das gar nicht genau wusste. Über das, was den Chronisten wirklich bewegt und 52
womit er letztlich die entscheidende Weiche in Merlins Leben gestellt hatte, verlor er kein Wort. Zu gefährlich - er kannte die Frau ja nur flüchtig und ihren Sohn nur vom Sehen. Er fragte nach dessen Namen - vielleicht würde er ihm ja eines Tages begegnen, wer wusste das schon? Der Mann hieß Dakota und gehörte zu den seltenen Exemplaren im Pentagon, die sogar noch jünger als Merlin selbst waren. Endlich kehrten der Präsident und sein General nach Waashton zurück, aus Florida, wie es hieß. Merlin ließ sich bei ihnen melden. Waashton, Mitte Januar 2518 »Wie geht es uns denn, junger Freund?« Der Präsident hatte sich kaum verändert. Noch immer besaß er dieses väterliche Lächeln, noch immer die jovialen Gesten. Victor Hymes hatte die Gabe, jedem seiner Untergebenen das Gefühl zu vermitteln, gerade er würde geschätzt, gerade er sei unersetzbar. Vor drei Jahren noch war Merlin genau darauf hereingefallen. »Kommen Sie, setzen Sie sich doch! Wie war die Reise?« »Danke, Sir. Kein Spaziergang, aber ohne nennenswerte Schwierigkeiten.« General Arthur Crow drückte ihm wortlos die Hand. Seine Miene war mürrisch und von innerer Anspannung gezeichnet. Etwas schien nicht nach seinem Willen zu laufen. Gemeinsam setzten sie sich an einen kleinen Konferenztisch im Präsidentenbüro. Eine Frau nahm Merlin gegenüber Platz, rothaarig und von strenger Schönheit: Lynne Crow, die Tochter des Generals. Irgendwas schien mit ihrem rechten Arm passiert zu sein; sie bewegte ihn ruckartig und trug einen Handschuh. Sie musterte Merlin mit unverhohlenem Interesse. Er kannte sie aus früheren Begegnungen. Man kann sich nicht ausweichen in einer Bunkerkolonie aus nicht einmal vierhundert Menschen. Merlin mochte die Frau nicht. An der Tür standen zwei Uniformierte: Captain Dewlitt und Lieutenant Goldstein. Ihre Anwesenheit erstaunte Merlin nicht; der Präsident versuchte den Kreis der Mitwisser so klein wie möglich zu halten. Nicht einmal sein Adjutant, geschweige denn sein Leibwache ließ er bei solchen Anlässen zuhören. Dewlitt und Goldstein trugen Driller. Die Führungsriege des Weltrats jetzt und hier anzugreifen hätte Merlins sicheren Tod bedeutet. Allenfalls Victor Hymes hätte er töten können. Und wer ihm als Präsident nachfolgen würde, lag auf der Hand: der gefährlichste Falke, den es im Pentagon gab. Nein, nicht hier und jetzt. Merlin gehörte zu der Sorte Männer, die am Leben hingen. Und entsprechend gründlich hatte er das Attentat geplant. »Nun, sie werden mir sicher einen schriftlichen Bericht liefern, Dr. Roots«, sagte der Präsident. »Unsere Wissenschaftler können es kaum noch erwarten, bis sie Ihre Datensätze sichten können.« Merlin hatte die Speicherkristalle bei seinem Zigarrenlieferanten deponiert. »Traurig, dass Delilah uns verlassen hat. Selbstverständlich erhält sie ein Staatsbegräbnis auf dem alten Ehrenfriedhof. Morgen Vormittag; ich habe alles Nötige veranlasst. Wie geht es denn dem Kommandanten?« Merlin erzählte im Plauderton. Hymes erkundigte sich nach den einzelnen Besatzungsmitgliedern, nach dem Wetter in Nord-Euree, nach dem Stand verschiedener Bauprojekte. Lauter unverfängliche Themen. Die wirklich wesentlichen Informationen über das Viking Project ließ er sich nur unter vier oder sechs Augen geben. Arthur Crow war nicht nur eingeweiht, sondern die treibende Kraft des Projekts. Irgendwann ergriff auch er das Wort. »Was ist das für ein Kerl, den Sie uns da 53
vorstellen wollen, Roots?« Merlin verzichtete auf lange Vorreden und kam sofort zum Punkt. »Professor Dr. Jacob Smythe, ein Wissenschaftler... aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert!« Crow runzelte die Stirn, Hymes verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen, und Lynne Crow saß plötzlich kerzengerade auf der Sesselkante. »Erzählen Sie, Roots«, sagte Crow. Das war genau die Reaktion, die Merlin nicht erwartet hatte. Sie glaubten ihm, keine Frage: Sie hielten es tatsächlich für denkbar, dass man einen Zeitreisenden treffen konnte. Wie war das möglich? Die Antwort kam ihm, während er von Smythe berichtete: Natürlich, dieser Drax war schon hier gewesen ! Sie kannten bereits einen Mann aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert! »... ich habe ihn durch einen Telepathen überprüfen lassen. Jedes Wort, das er sagt ist wahr«, schloss Merlin seinen Bericht. »Ich könnte mir vorstellen, dass es sich lohnen würde, mit ihm zusammenzuarbeiten.« Merlin konnte sich viel vorstellen, nur das nicht. Crow und der Präsident verständigten sich durch einen kurzen Blick. »Holen Sie den Mann, Roots«, sagte Crow. »Wir wollen ihn kennen lernen.« Sie empfingen Smythe an einem der Außenschotte im Freien: Arthur Crow, seine Tochter und der Präsident. Ein Ring von Bewaffneten schirmte das Treffen zur Stadt hin ab. Crow hatte darauf bestanden, den Fremden erst einmal unter die Lupe zu nehmen, bevor man ihn ins Allerheiligste ließ. Die Uniformierten hielten sich außerhalb der Hörweite auf. Merlin stellte seine Vorgesetzten und die Crow-Tochter vor. »Ich bin hoch erfreut, Sie kennen zu lernen, Lady und Gentlemen.« Nach Merlins Geschmack verweilten Smythes Glubschaugen eine Spur zu lange auf der kühlen Lynne Crow. Und sie schenkte dem Mann ihr sphinxhaftes Lächeln, das Merlin so verabscheute. Während des ganzen Gespräches spürte Merlin die unsichtbaren Fäden zwischen der Rothaarigen und dem Wahnsinnigen. Gleichsam aus dem Nichts wuchsen sie von einem zum anderen. »Sie sind Alt-Meerakaner?« Der Präsident eröffnete das Gespräch in gewohnt höflicher Weise. »Wir hören mit Interesse, dass Sie sich auf Medizin und Astrophysik verstehen. Was war ihr Spezialgebiet?« Es lag auf der Hand: Er wollte den Fremden zunächst einmal abtasten. Crow machte ihm einen Strich durch die Rechnung: »Kennen Sie einen gewissen Matthew Drax?« Augenblicklich verfinsterte sich Smythes Miene. »Ein unfähiger Soldat, ein Feind der Menschheit! Wissen Sie, wo er sich vor mir verkrochen hat? Ist seine Schlampe wieder bei ihm? Glauben Sie mir, Gentlemen - Drax muss unter allen Umständen eliminiert werden!« Seine Rechte zersäbelte die Luft. »Er hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden! Die neue Zeit gehört nicht Zauderern und Moralisten wie Drax. Sie gehört Männern, die beherzt zugreifen! Männern, die von der Vorsehung zur Herrschaft bestimmt sind! Männern wie mir - und Ihnen!« Er redete sich heiß. Merlin betrachtete die Spitzen seiner Stiefel und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe hehre Ziele, Gentlemen! Peanuts interessieren mich nicht! Präsident des Weltrates? Das mag Ihnen genügen, Mr. Hymes. Nicht einem Mann von meinem Schlage. 54
Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben...?!« Der Professor war nicht mehr zu bremsen. Die Blicke der anderen trafen Merlin wie glühende Akupunkturnadeln. Die erstaunten Blicke des Präsidenten, die vorwurfsvollen Blicke des Generals. Nur Crows Tochter schien sich zu amüsieren. »Geben Sie mir ein Panzerbataillon und eine Einheit Soldaten! In einem Monat bin ich fertig mit Drax! In einem Jahr mit dem Mutantenpack dieses Kontinents ! In zehn Jahren liegt uns die Welt zu Füßen...!« Der General winkte einigen Bewaffneten, drehte sich um und ging wortlos zum Schott. »Es war... interessant, Ihre Ideen zu hören, Professor.« Es kostete den Präsidenten ein Äußerstes an Selbstbeherrschung, das Lächeln auf seinen Zügen zu balancieren. Seine Stimme klang kühl. »Leben Sie wohl.« Er folgte Crow in die Außenschleuse. Lynne Crow verabschiedete den Professor mit einem Lächeln, bevor auch sie ging. Kein Zweifel: Sie war beeindruckt. »Aber... bleiben Sie gefälligst hier!«, wetterte Smythe, außer sich vor Wut. »Was fällt Ihnen ein, mich hier stehen zu lassen wie... wie...« Zwei Bewaffnete packten den zeternden Smythe und eskortierten ihn in die Stadt zurück. Das wars, dachte Merlin. In der Nacht begann es zu schneien. Smythe sah es vom Fenster des schmuddeligen Lochs aus, in das Merlin Roots ihn einquartiert hatte. Dicke Flocken schwebten vom Himmel und bedeckten windschiefe Dächer, Ruinen und Straßen. In ihm aber glühte der Zorn. Niemand durfte einen Jacob Smythe ungestraft abweisen, niemand! In der Gasse unter seinem Fenster wankten Berauschte vorbei. Aus der Schänke im Erdgeschoss drangen Gesang und Gelächter. Genau richtig, um Smythes Verbitterung noch auf die Spitze zu treiben. Seine Schilddrüse und sein Hirn arbeiteten auf Hochtouren. Er begann in seinem Zimmer auf und ab zu laufen. Der Wind drückte Schneeflocken ans Fenster und blies durch die Ritzen herein. Die Öllampe auf dem Holzpflock neben seinem Lager, einem Strohsack, flackerte. »Ich bin Professor Dr. Jacob Smythe«, murmelte er im Rhythmus seiner Schritte vor sich hin. »Ich bin der Herr der Welt.« Die Stimmen unten in der Schänke waren längst verstummt, als es ihm endlich gelang, seine aufgepeitschten Gefühlen unter Kontrolle zu bekommen. Sein Kopf wurde kühler, seine Gedanken klarer. »Ich bin Professor Dr. Jacob Smythe...« Der Weltrat mit seiner Infrastruktur und seinen militärischen und technischen Möglichkeiten war exakt die Basis, die er für seine hochfliegenden Pläne benötigte. Die Vorsehung hatte ihn hierher in diese Ansammlung von Ruinen und zerfallenden Hütten geführt. Der Izeekepir, die russische Expedition, die Schlächter, Merlin Roots - alle waren sie Werkzeuge der Vorsehung, alle nur Statisten, Mosaiksteinchen, lächerlich unbedeutende Rädchen in ihrem genial geplanten Spiel! Und wer stand im Zentrum dieses Spiels? Um wen drehten sich all diese Trabanten einzig und allein? »Ich bin Professor Dr. Jacob Smythe, der Herr der Welt...« Er machte sich klar, dass gegen Crow und Konsorten mit roher Gewalt nichts auszurichten war. Um diese Clique auszuschalten, um sich selbst an ihre Spitze zu setzen, 55
musste er seine Stärken konsequent ausspielen: seinen strategischen Genius, seine List, seinen bedingungslosen Willen zur Macht. Selbst wenn das bedeuten sollte, sich als ganz normalen Menschen zu tarnen. Vorübergehend, versteht sich... Ja, vielleicht war es ein Fehler gewesen, dem sogenannten Präsidenten des sogenannten Weltrates mit Ehrlichkeit und Anstand zu begegnen. Diese Kleingeister witterten doch hinter allem, was größer als sie selbst war, eine Gefährdung ihrer lächerlichen Position. Runde um Runde drehte Smythe in seinem Verschlag. Der Schneefall ließ nach. Vor dem Fenster dämmerte der Morgen, als sein Hirn zwei Möglichkeiten ausgearbeitet hatte, die ihm realistisch erschienen. Entweder er wartete ab, bis dieser naive schwarze Idealist den Präsidenten erledigt hatte, und lieferte Roots danach ans Messer. Allerdings würde man ihn dann fragen, warum er nicht vor dem Attentat gewarnt hatte. Oder er gewann erst das Vertrauen des Weltrats, indem er den Anschlag vereitelte, und erledigte Hymes und Crow persönlich, wenn seine eigene Position gefestigt war. Dazu aber hätte er wissen müssen, was Roots genau vorhatte... Das Morgenlicht fiel in den kleinen Raum. Am Boden unter dem Fenster krabbelte ein daumengroßer Käfer. Smythe zertrat ihn. Während er den Matsch aus Blut, Chinin, Fühlern und Insektenbeinen betrachtete, fiel ihm ein, dass die tote Greisin an diesem Tag bestattet werden sollte. Auf dem Ehrenfriedhof in Arlington. »Den gibts also noch«, murmelte Smythe. Er fragte sich, ob sie auch das Grabmal des unbekannten Soldaten über die Jahrhunderte gepflegt und erhalten hatten, und das Grab von John F. Kennedy... Und plötzlich setzten sich unzählige Worte, Eindrücke und Bilder in seinem Hirn zu einem schlüssigen Szenario zusammen. Er lachte, und es hörte sich an, als würde eine Krähe die Sonne anbeten. Er ging ans Fenster, presste die Stirn gegen die kalte Scheibe und lachte Tränen. Auf einmal wusste er, wo und wie Merlin Roots zuschlagen wollte... Eine Menge Volk strömte an den Potomac, die meisten dick in Lumpen gehüllt, einige auch in Leder und Fell. Es war kalt und es schneite, und niemand bot dem eisigen Wind freiwillig sein Gesicht. Smythe fiel auf in seinem weißen Izeekepir-Pelz. Bewaffnete Posten kontrollierten ihn am Tor. Doch Merlin hatte ihn registrieren lassen, und nach kurzer Rückfrage bei irgendeinem Zentralrechner ließ man ihn mit den anderen Leuten zum zugefrorenen Fluss ziehen. Eine kniehohe Schneedecke lag auf dem Eis. Das schien dick und tragfähig zu sein, denn die Scharen pilgerten darüber hinweg ans andere Ufer des Potomac. Dorthin, wo die Fassaden des Pentagons aus dem Schnee ragten und wo auch der Arlington National Cemetery lag. Wenn Smythe den Schwarzen richtig verstanden hatte - und er verstand meistens richtig -, war die Verstorbene hier in Washington nicht besonders bekannt. Und dass es sich um eine »Göttertochter« handelte, würde wahrscheinlich nur eine kleine Schar von Geheimnisträgern wissen. Also war es wohl die Aussicht, einen Blick auf die unterirdischen Herren der Stadt werfen zu können, die so viele Menschen über den Fluss zum Ehrenfriedhof zog. Smythe hatte die Tage seit ihrer Ankunft im ehemaligen Washington - Waashton nannten sie es jetzt, was für ein bescheuerter Name! - genutzt, um sich die Stadt anzuschauen. Oder das, was aus ihr geworden war: ein großes Dorf aus Ruinen und 56
primitiven Häusern, um das sie eine protzige Mauer gezogen hatten. Viel hatte er nicht wiedererkannt: die Ruine der Universität, das Capitol, das Weiße Haus, ein paar Straßenkreuzungen, mehr nicht. Kaum zu glauben, was ein Komet und fünfhundert Jahre aus einer Weltstadt machen konnten. Jedenfalls wunderte er sich nicht, dass er auch den Ehrenfriedhof nicht wiedererkannte. Hier ragten ein paar Säulen aus dem Schnee, dort eine Prachttreppe, Reste eines Mausoleums oder ein zerbrochener Torbogen. Man musste schon genau hinsehen, um ein paar ehemals weiße Grabsteine im Schnee erkennen zu können. Panzerfahrzeuge und bewaffnete Truppen sperrten den Zugang zum Friedhof ab, etwa hundertzwanzig Mann. Smythe fragte sich, wovor der sogenannte Präsident sich fürchtete. Hatte Roots nicht eine Widerstandsgruppe erwähnt? Die Menge aus der Stadt - vielleicht sechshundert Männer, Frauen und Kinder - musste sich in Ruinen und in vereisten Baumkronen Plätze suchen, von denen aus sie die Beisetzung beobachten konnten. Smythe kletterte auf einen Schneehügel, der den Schutt einer ehemaligen Kapelle verhüllte. Von hier aus konnte er das Pentagon sehen - und Männer in Fellmänteln auf dem Gelände des ehemaligen Ehrenfriedhofs. Nicht ganz zweihundert Meter von seinem Aussichtspunkt entfernt hoben sie mit Spitzhacken und Schaufeln eine Grube aus. Zwei Stunden wartete Smythe. Er fror erbärmlich. Irgendwann pflügte ein Fahrzeugkonvoi von den Ruinen des Pentagons aus durch den Schnee auf den Friedhof. Smythe erkannte vier Kettenfahrzeuge, unter ihnen auch einen Nixon-Transporter. Der Konvoi hielt in der Nähe der ausgehobenen Grube. Uniformierte sprangen aus dem Nixon-Panzer und dem ersten Kettenfahrzeug. Sie bildeten einen Ring um die Grube und die Fahrzeuge. Smythe sah, dass sie mit Gewehren bewaffnet waren. Der Sarg wurde ausgeladen und zur Grube getragen. Er war mit einer Flagge zugedeckt, die Smythe auf den ersten Blick an das Sternenbanner erinnerte. Mitten im Sternenfeld jedoch prangte wieder das Emblem, das er schon in der Lokiraaburg gesehen hatte: ein Globus, den ein Kometenkeil spaltete. Aus einem der beiden mittleren Kettenfahrzeuge stieg eine Gruppe von acht Männern und Frauen. Die Würdenträger des sogenannten Weltrates, vermutete Smythe. Und tatsächlich erkannte er den grauen Haarschopf und den Vollbart des Präsidenten und den zackigen Gang des Generals. Merlin Roots konnte er nirgends entdecken. Das elektrisierte Smythe. Und gleichzeitig bestätigte es seinen Verdacht. Der Mann wollte nicht mit seinen Opfern sterben, also hielt er sich in sicherer Entfernung auf. Smythe kramte den Feldstecher aus seinem Rucksack. Sorgfältig suchte er die Ruinen und Bäume ab. Viele schwarze Gesichter sah er, nur Merlins nicht. Ein dunkler Fleck auf dem Dach des Pentagons fiel ihm auf. Er richtete den Feldstecher darauf. Ein Tier stand dort im Schnee, ein riesiges Insekt. Der Anblick überraschte Smythe nicht. Er wusste, dass es in dieser verdrehten Welt monströse Ameisen- und Heuschrecken-Mutationen gab. Man benutzte sie als Reit- und Transporttiere. Was ihn überraschte, war der Reiter auf dem Fluginsekt: Merlin. Er trug einen grauen Thermoanzug. Und genau wie Smythe es getan hatte, beobachtete er die Szene um den Sarg durch einen Feldstecher... Smythe spurtete durch den Schnee den Hügel hinunter. Er hoffte, Merlin würde ihn 57
nicht allzu früh entdecken. Mit beiden Armen ruderte er, um die Sicherheitsmannschaften bei den Absperrungen auf sich aufmerksam zu machen. Schon nahmen die ersten Notiz von ihm. Zwei schritten ihm mit Gewehren im Anschlag entgegen. »Alarm!«, schrie Smythe. Eine ganze Gruppe Uniformierte umringte ihn plötzlich. Der Professor packte den Nächstbesten am Kragen seine Schutzweste und riss ihn zu sich. »Ihr Präsident ist in Lebensgefahr! Sie müssen ihn warnen!« Der Mann musterte ihn, wie man einen Betrunkenen mustert. »Sehen sie den Mann dort oben auf dem Pentagon?« Smythe drückte dem Bewaffneten seinen Feldstecher in die Hand. »Der will Präsident Hymes und General Crow auslöschen! Verdammt noch mal, glaubt mir doch, ihr Penner!« Er sah, wie einer der Waffenträger sich einen Mikrofonbügel aus der Kapuze über seinem Helm zerrte. Er bellte wenige Worte hinein. Sie klangen wie ein Code. Sechs, sieben andere Soldaten rannten in Richtung Pentagon davon. Auf dem ehemaligen Ehrenfriedhof sprangen die Menschen zurück in ihre Kettenfahrzeuge. Der Nixon setzte sich schon in Bewegung, der Präsidentenpanzer rollte an ihm vorbei. Smythe nahm sich seinen Feldstecher zurück und setzte das Glas an die Augen. Er hatte sehr konkrete Vorstellungen von dem, was gleich geschehen würde. Da blendete auch schon ein Lichtblitz Smythes Netzhäute. Eine gewaltige Detonation dröhnte über die eingeschneite Ruinenlandschaft. Als Rauch und Feuer sich legten, lag der Nixon-Panzer auf der Seite. Vor seiner Unterseite stand das Präsidentenfahrzeug. Dort, wo der Sarg gestanden hatte, klaffte ein gut dreißig Meter durchmessender, rauchender Krater. Jacob Smythe war nicht der Einzige, den sie festnahmen. Annähernd achtzig Männer pferchten die Truppen des Weltrats in einer Markthalle zusammen. Einen nach dem anderen verhörten sie. Nach drei Tagen erst war Smythe an der Reihe. Der Hunger machte ihn fast wahnsinnig. Sie wollten von ihm wissen, wo Roots steckte, woher er von der Bombe im Sarg wusste und warum er die Behörden der Stadt nicht schon vorher gewarnt hatte. Er verlangte vor den Präsidenten gebracht zu werden, verlangte wenigstens eine Spur Dankbarkeit, und vor allem verlangte er nach einer warmen Mahlzeit. Sein Auftritt verschaffte ihm wenigstens so viel Respekt, dass man ihm kaltes Fleisch und einen Fladen aus Getreide brachte. Die Untersuchungen dauerten eine ganze Woche. So lange hielt man Smythe und dreiundzwanzig andere Männer fest. Irgendjemand wollte gehört haben, dass dem Attentäter die Flucht aus Waashton geglückt sei. Am achten Tag seiner Gefangenschaft brachten ihn zwei Wachen zu einem Offizier. Oder zu einer Offizierin, um genau zu sein. Sie hatte Rot gefärbtes Haar und füllte den Lehnstuhl aus, in dem sie hinter einem Schreibtisch saß. »Sie sind frei, Smythe«, sagte Maine Simpson, ohne ihn anzuschauen. »Gehen Sie! Und zwar möglichst weit weg.« Smythe stützte sich mit den Fäusten auf die Platte ihres Schreibtischs und fixierte sie mit dem stechenden Blick seiner Glubschaugen. »Ich verbitte mir diesen Ton!«, herrschte er sie an. »Für Sie immer noch Professor Dr. Smythe! Und jetzt will ich den Präsidenten sprechen!« »Er legt keinen Wert auf ein Gespräch mit Ihnen.« »Aber ich hab ihm das Leben gerettet! Zählt das nichts?!« 58
»Ich habe meine Anweisungen. Der Präsident muss sich um wichtigere Angelegenheiten kümmern.« »Dann bringen sie mich eben zu Crow!«, versuchte Smythe einen anderen Weg. »Niemand will Sie sprechen, Sir. Sie haben drei Tage Zeit, aus der Stadt zu verschwinden! Gehen Sie!« Waashton, Anfang Februar 2518 Smythe blieb vier Tage. Und als ihn niemand behelligte, noch einmal drei. Bald patrouillierten Bewaffnete vor seinem Fenster. Der Besitzer der Spelunke forderte ihn auf, sein Hotel zu verlassen. Er nannte die Bruchbude tatsächlich »Hotel«. Dem Professor blieb nichts anderes übrig, als seinen Rucksack zu schnüren und zu gehen. Die Vorsehung schien doch andere Pläne mit ihm zu haben, bessere Pläne zweifellos. Während er durch die Gassen der Stadt zum südlichen Tor schlenderte, baute er in Gedanken eine Atombombe zusammen. Und in Gedanken zündete er sie über dem Pentagon. Vom Südtor her hörte er eine Sirene heulen. Er beschleunigte seinen Schritt. Aus Gassen und Häusern strömten Menschen und liefen in Richtung Stadttor. Dort hatten sich ungefähr hundertfünfzig Neugierige um einen kleinen Panzer versammelt. Die Sirene verstummte und ein Mann in einem grauen Thermoanzug kletterte auf den Panzerturm. Ein Agent des Weltrats. »Alle mal herhören!«, rief er. »Die Herren der Stadt stellen eine Expedition auf! Es geht weit weg, in unbekanntes Gebiet. Wir suchen also gute Leute, die kampferprobt sind und sich nicht gleich in die Hosen scheißen, wenn sie auf ein paar Mutanten treffen! Sie müssen in einem guten Gesundheitszustand und belastbar sein! Dafür ist der Lohn über alle Maßen hoch!« »Wie viel genau?«, wollte einer aus der Menge wissen. »Dreihundert Visa-Bax pro Nase! Hundert vor Antritt der Reise, den Rest bei der Rückkehr.« Das war in der Tat mehr, als die meisten hier in einem Jahr verdienten. Auf vielen Gesichtern ging die Sonne auf. »Wohin solls denn gehen?«, fragte ein anderer. »Zum Ursprung von Kristofluu«, sagte der Agent geheimnisvoll, und ein Raunen ging durch die Versammelten. Etliche Strahlegesichter erloschen schlagartig wieder. Palaver erhob sich. Die Leute redeten sich die Köpfe heiß. Smythe beteiligte sich nicht an den Diskussionen. Er hing seinen eigenen Gedanken nach. Wahrscheinlich war er der Einzige hier, der wusste, was mit »Kristofluus Ursprung« gemeint war. Die Expedition ging zweifellos zum Einschlagskrater von »ChristopherFloyd«! Und der lag nach seinen Berechnungen in Russland auf Höhe des ehemaligen Baikalsees. Was, zum Teufel, wollte der Weltrat dort? Noch einmal heulte die Sirene kurz auf. Das Stimmengewirr um den Panzer legte sich. »Überlegt euch die Sache!«, rief der WCA-Agent. »Wer Interesse hat und glaubt, die Bedingungen zu erfüllen, meldet sich morgen bei den Posten hier am Tor. Aber Vorsicht! Wir prüfen jeden Bewerber genau! Wer Taratzen im Keller hat, bleibt am Besten gleich zu Hause!« Der Mann kletterte in den Tank und fuhr davon. 59
Smythe ging zurück in die Stadt. Er kehrte in eine Spelunke ein, wo an sämtlichen Tischen die Würfel knallten. Er trank Tee, aß süße Fladen und überlegte. Eine Expedition also. Ans Ende der Welt. Das klang so, als würde es ihn eine Menge angehen. Schließlich war der Komet vom Schicksal gesandt worden, um ihn auf den rechten Weg zu bringen. Smythe spielte die Möglichkeiten durch, wie er sich ins Pentagon einschleichen könnte, um mehr zu erfahren. Sollte er sich verkleiden? Sich die Haare abschneiden, einen falschen Bart ankleben, andere Kleider besorgen? Blödsinn. Einen wie ihn erkannte man selbst dann wieder, wenn er sich Frauenkleider anlegte oder das Gesicht schwarz färbte. Nein. Er würde einfach tiefstapeln, würde so tun, als täte ihm der erste Auftritt vor dem Präsidenten Leid. Diesen Preis war sein Ziel doch wert, oder? Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es ihm dieses Mal nicht gelingen sollte, die beiden Hohlköpfe um den Finger zu wickeln! Er mietete sich in der Schänke ein. Am nächsten Tag machte er sich gleich nach Sonnenaufgang auf den Weg zum südlichen Stadttor. Es war dunkel. Schnee trieb durch den Lichtschein der Öllampe über dem Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Merlin Roots kauerte hinter einem Holzstoß und beobachtete die Gasse. Spuren im Schnee führten von seiner Deckung zu einem Schuppen auf der linken Seite des Hofes. Dort hatte er die Androne festgemacht. Er hoffte, das Fluginsekt würde Ruhe geben. Drüben, auf der anderen Straßenseite öffnete sich die Haustür. Ein Mann trat auf die Gasse - groß, kräftig, breite Schultern. Er trug einen zerlumpten Umhang aus speckigem Fell. Auch den Kopf hatte er darunter verborgen. Das Licht der Außenbeleuchtung spiegelte sich in den glatten Stellen des Fells. Der Mann sah sich flüchtig um, überquerte die Gasse, kam zielstrebig auf den Hof zu. Noch einmal warf er einen Blick nach allen Seiten, dann huschte er hinein. Hinter dem Holzstoß blieb er stehen. »Was ist für einen Mann das Schönste im Leben?«, fragte er. »Zu kämpfen mit dem Feind, ihn zu verfolgen und zu vernichten«, vollendete Roots die vereinbarte Parole. »Sie sind Mr. Black?« »Haben Sie einen Afro erwartet?« »Vielleicht.« »Und Sie sind der Mann, der Crow und Hymes in die Luft sprengen wollte?« »Merlin Roots ist mein Name. Drei Jahre lang spiele ich schon mit dem Gedanken, Sie kennen zu lernen.« Die Männer begrüßten sich mit einem Händedruck. »Wir haben gewaltig Federn lassen müssen in jüngster Zeit, Mr. Roots. Sie tauchen im richtigen Moment auf«, sagte Mr. Black. »Willkommen bei den Running Men...« ENDE
60
Zielort: Kratersee von Claudia Kern Das Meer über dem Einschlagskrater des Kometen im Osten Russlands birgt ein Geheimnis, das sich in unzähligen Siedlungen rund um seine Küste manifestiert. Seit der Weltrat von Matthew Drax' Interesse am Kratersee weiß, läuft ein Unternehmen mit dem Ziel, vor dem Mann aus der Vergangenheit dort zu sein. Eine Expedition wird zusammengestellt, zu der sich auch der Barbar Pieroo meldet, Matts Freund. Die Running Men, von Philipp Hollyday alarmiert, rüsten ebenfalls zum Aufbruch, in ihren Reihen Mr. Black und Merlin Roots. Sie hoffen beim Krater eine Waffe gegen den Weltrat zu finden. Jacob Smythe hat ganz eigene Pläne. Für ihn ist es ein erster Vorstoß in den inneren Zirkel des Weltrats. In der neuen US-Regierung scheint er die geeignete Organisation gefunden zu haben, um sich endlich zum Herrn der Welt aufzuschwingen . . .
61