Ryshad übernimmt gerne den Auftrag, einem Magier im Kampf gegen die Elietimm beizustehen. Es scheint die perfekte Geleg...
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Ryshad übernimmt gerne den Auftrag, einem Magier im Kampf gegen die Elietimm beizustehen. Es scheint die perfekte Gelegenheit, seine lang gehegte Rache auszuüben – und die Bekanntschaft mit seiner früheren Geliebten, der Diebin Livak, zu erneuern.
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Juliet E. McKenna
RYSHADS RACHE Roman Ins Deutsche übertragen von Rainer Schumacher
B 3
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 519 1. Auflage: August 2005
Vollständige Paperbackausgabe der in der Bibliothek der Phantastischen Literatur erschienenen Ausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgabe: The Swordman’s Oath © 1999 by Juliet E. McKenna © für die deutschsprachige Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer Titelillustration: Michael Whelan / Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-404-20519-7
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Für Steve, ernsthaftester Kritiker und treuester Helfer
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Danksagungen
Wie stets konnte ich mich auf die unschätzbare Hilfe von Steve, Mike und Sue verlassen, die jede Zeile, die ich schreibe, auf das Genaueste überprüfen, während Liz und Andy sich tapfer um das Gesamtbild kümmern und Helen die Schlüsselfragen stellt. Wer meine Bücher liest, kann ihnen ebenso dankbar sein wie ich. Auch bei Jenny und Sharon stehe ich in der Schuld; sie haben sich fürsorglich um die Kinder gekümmert und mir somit die Ruhe verschafft, die ich brauchte. Außerdem habe ich das Glück, dass Tim und Lisa meine direkten Ansprechpartner bei Orbit sind, und dass ich stets auf ihren Rat als Lektoren zurückgreifen kann. Cassie und Adrian gilt mein Dank ebenso wie den Buchhändlern, die mit ihrem Enthusiasmus so viel bewegen. Insbesondere möchte ich mich bei Ottakars Team bei mir daheim bedanken – ihr steht mir in jeder Hinsicht am nächsten. Mein Dank geht an euch und eure sämtlichen Kollegen. Außerdem möchte ich meinem ständig wachsenden Freundeskreis danken, meiner Familie, den Freunden meiner Familie, den Familien von Freunden und den Mitgliedern des IPROW, die mich mit kuriosen Fakten, plausiblen Namen und fortgesetztem Interesse versorgen. Dieser Kreis ist jedoch auf tragische Weise kleiner geworden durch den vorzeitigen Tod von Zoey Ducker nach einem Unfall und Graham Skinner, der nach langer Krankheit starb. Sie sind nicht vergessen.
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1.
Von Planir, Erzmagus von Hadrumal, an Messire Guliel D’Olbriot, Sieur jenes Hauses und Bewahrer der Ehre dieses Namens, Adjur des Adelsrates des Imperiums. Herzliche Sonnenwendgrüße und meine besten Wünsche für Wohlstand und Gesundheit im kommenden Jahr. Mein lieber Sieur, Ich bin Euch äußerst dankbar für die Informationen über die Elietimm-Schiffe, die im Laufe des Vorwinters an Eurer Küste gestrandet sind. Ich habe nicht vergessen, dass sowohl Eure beiden Männer als auch die unseren bei der letzten Begegnung mit diesem Volk nur knapp entkommen sind, und ich darf Euch versichern, dass ich mir durchaus der Gefahren bewusst bin, die Eurer Domäne und dem Frieden des Reichs im Allgemeinen drohen. Abgesehen von diesen wichtigen, notwendigerweise jedoch unpersönlichen Fragen möchte ich Euch überdies noch einmal daran erinnern, dass Ihr mit Aiten einen Eurer Lehnsmänner verloren habt und wir mit Geris einen unserer Gelehrten, einen Mann von solcher Gelehrsamkeit, wie wir sie in dieser Auseinandersetzung brauchen können; aber natürlich steht vor allem der Verlust ihrer beider Leben im Vordergrund. Derlei Dinge vergesse ich nicht, und ich bin sicher, dies gilt auch für Euch. Euer Brief ermutigt mich zu glauben, dass Ihr wie ich erkannt habt, dass Eure Interessen sich in dieser Angelegenheit 7
mit unseren decken. So wie Ihr Euch der äußerst realen Gefahr einer Landung feindlicher Streitkräfte an Euren Küsten gegenüberseht, oder schlimmer noch, verborgenen Brückenköpfen in den unbewohnten Gegenden Dalasors und Gidestas, so sehe ich mich der Bedrohung durch eine komplexe Magie gegenüber, deren Mysterien wir in Hadrumal gerade erst zu enträtseln begonnen haben. Lasst mich Euch in diesem Zusammenhang versichern, dass man Eurem Mann Aiten keinen Vorwurf machen kann, dass er meinen Magus Shiwalan angegriffen hat. Ohne Zweifel hätte er seine Ehre und Euren Namen bis zum Schluss verteidigt, wäre sein Geist nicht das Opfer der verdorbenen Hexerei der Elietimm geworden. Habt Dank für Eure Frage nach Shiwalan. Er hat sich recht gut erholt und brennt darauf, seinen Teil dazu beizutragen, die Pläne der Elietimm zu durchkreuzen. Auch habt Ihr Eure Freude über das Schwert Ausdruck verliehen, das ich Euch zugesandt und das ein älterer, ziemlich exzentrischer Magus versteckt hatte; aber Euer Dank ist unnötig. Für mich ist es Dank und Lohn genug, dass Ihr die Klinge Eurem Lehnsmann Ryshad Tathel gegeben habt. Ich war zutiefst beeindruckt von seinen Fähigkeiten und seinem Mut angesichts härtester Prüfungen, und es ist nur recht und billig, dass dieses Erbstück abermals dazu eingesetzt wird, das Reich im Dienst eines solch großen Hauses zu verteidigen. Was das betrifft, möchte ich Euch jedoch um einen Gefallen bitten. Ich habe meine Studien über die Mysterien dieser uralten Magie fortgeführt. Wie Ihr am Schicksal Eures Neffen gesehen habt, erregt diese Form von Magie die Aufmerksamkeit jener Elietimm, die sich bereits in unserem Land aufhalten, in hohem Maße. Meine Magier besitzen viele Talente; Schwertkämpfer 8
sind sie jedoch nicht. Solltet Ihr gewillt sein, mir Euren Mann Ryshad zu überlassen, könnte ich seine Fähigkeiten gewiss auf eine Art einsetzen, die Eurem Haus zur Ehre gereichen würde. Je mehr wir über diese Elietimm lernen und je rascher, desto besser für uns beide.
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Die Hochstraße nach Cotebrücke im Lescari-Herzogtum Marlier 8. Nachfrühling im Zweiten Jahr von Tadriol dem Besonnenen
Wie entschuldigt man sich bei einer trauernden Mutter, dass man nicht derjenige war, der ihren Sohn getötet hat? Eine andere mochte ja Aitens Blut an ihren Händen haben, doch ich musste mit der Schande leben, nicht fähig gewesen zu sein, das Schwert gegen meinen langjährigen Freund zu erheben, um ihn von dem bösen Zauber zu befreien, der ihm seinen Verstand und seinen Willen geraubt hatte – und ich hätte es tun müssen, selbst um diesen höchsten Preis. Ich hatte versucht, mein Versagen zu erklären, doch meine Worte waren zögernd und unsicher. War dieser Besuch bei Aitens Familie ein schrecklicher Fehler gewesen? Nein. Meine Ehre verlangte es, wollte ich jemals wieder des Morgens in den Spiegel blicken und einen Mann sehen, der seinem Eid treu geblieben ist. Die Dinge waren ein wenig besser geworden, nachdem Aitens Vater und seine Brüder beschlossen hatten, man könne seiner am Besten gedenken, indem man die Erinnerung in einer Flut Selbstgebrannten Apfelschnapses ersäufte. Jeder hatte eine Geschichte über Aiten erzählt; einige waren immer noch komisch, als ich mich daran erinnerte, nachdem ich wieder nüchtern geworden war. Dass am nächsten Morgen Nebel in meinem Kopf herrschte und ich einen Geschmack im Mund hatte, als hätte ich Pisse aus einem alten Stiefel gesoffen, war ein gerin10
ger Preis gewesen. Mein Lächeln verschwand, als ich mich an Tirsa erinnerte, Aitens Schwester. Ein recht ansehnliches, braunhaariges Mädchen mit sanften braunen Augen und einem angenehmen Lächeln – jene Art Mädchen, wie man sie zu Dutzenden auf den Märkten im ganzen Alten Reich beim Einkaufen beobachten kann. Nur dass ich sie auf hundert Schritt Entfernung auf Anhieb in einer dichten Menschenmenge hätte entdecken können – und noch in zehn Jahren würde ihr Anblick mich wie ein Messer ins Herz treffen; sie ähnelte Aiten einfach viel zu sehr. Als ich mich an die Trauer im Gesicht von Aitens Mutter erinnerte, als sie sich das Bündel mit seinen Habseligkeiten an die Brust gedrückt hatte, als wollte sie ein letztes Mal den Geruch ihres verlorenen Kindes einatmen, war ich so abgelenkt, dass ich die Wegelagerer im Gebüsch gar nicht bemerkte. Den ganzen Morgen schon regnete es, und der Himmel war so trüb wie meine Stimmung. Zwar hatte es sich inzwischen ein wenig aufgelockert; aber ich hatte noch immer die Kapuze über den Kopf gezogen. Doch nichts von alledem kann meinen Fehler entschuldigen. Ich hätte mich daran erinnern müssen, dass die lescarischen Straßen außerhalb der Kriegssaison noch gefährlicher sind als sonst – ein eigenartiger Umstand, in diesem Land jedoch nichts Ungewöhnliches. Einer von diesem Pack griff in mein Halfter, bevor ich die Zügel anziehen oder einen klaren Gedanken fassen konnte. Das erschrockene Pferd sprang zurück, und als ich spürte, wie die Hufe auf der verschlammten Straße ins Rutschen gerieten, sprang ich aus dem Sattel und wäre bei der Landung beinahe selbst gestürzt. Zitternd und schwitzend riss das Pferd sich von den Banditen los, lief aber nur ein kurzes Stück die Straße hin11
auf und blieb dann stehen. Ich musste mich allein den Straßenräubern stellen. »Zahl deinen Zoll, Junge, und wir lassen dich weiterziehen«, sagte der Lump, der zuvorderst stand. Er grinste breit und entblößte eine Reihe schwarzer Zahnstummel; aus seinem Mund schlug mir fauliger Atem entgegen. Ich schüttelte den Kopf. Dieser armselige Ausschuss einer besiegten Miliz stellte keine große Herausforderung für mich dar. Ausgemergelt und halb verhungert, verdreckt und abgerissen waren sie zu Aasgeiern geworden, die sich nach einem langen, harten Winter auf alles stürzten. Doch Verzweiflung kann einen Mann weit gefährlicher machen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, ermahnte ich mich selbst. Ich wich ein paar Schritt auf der zerfurchten Straße zurück, um die Banditen aus dem Gebüsch zu locken; ich wollte sehen, ob es tatsächlich nur vier waren. Es waren typische Lescari – genauso viel Kuhscheiße zwischen den Ohren wie zwischen den Zähnen –, daher konnte ich sicher sein, dass sie niemanden hinter mir postiert hatten, um mir den Rückzug abzuschneiden. Natürlich hätte ich ihnen einfach davonlaufen können – in ihrem Zustand hätten sie mich nie eingeholt –, aber ich verspürte keine große Lust, mir einen Weg über verschlammte Nebenstraßen zu suchen. Als meine Hand sich zum Schwertgriff bewegte, knisterte das Pergament in meiner Tasche und erinnerte mich an meine Pflicht, die Befehle meines Herrn zu befolgen. Außerdem wollte ich nicht davonlaufen. Bei Dasts Zähnen, warum auch? Und ich wollte mein Pferd zurück. Es war ein gutes Tier aus Messires persönlichem Stall, und ich hatte es nicht mehr als zwanzig bis dreißig Meilen am Tag geritten, um 12
seine Kräfte zu schonen. »Tut mir Leid, mein Freund. Du hast vergessen zu sagen, auf wessen Recht du dich berufst, diesen Zoll zu erheben.« Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Das ist alles Recht, was ich brauche!« Der Strauchdieb warf sich mit seinem Schwert in eine herausfordernde Pose; offensichtlich wollte er mich mit seinem verrosteten Brustharnisch und dem zerschlissenen Kettenhemd beeindrucken. Seine Bande grinste; alle trugen sie schlecht sitzende Rüstungsteile. Was sie nicht sehen konnten: In meinen dicken Mantel waren Panzerplatten eingenäht, sodass ich bei weitem nicht so verwundbar war wie meine armselig ausgestatteten Widersacher. Einen richtigen Harnisch trage ich nicht. Damit erregt man nur Aufsehen, und ich bin für meinen Fürsten nützlicher, wenn niemand mich bemerkt. Ich legte die Hand auf mein eigenes Schwert. Der Knauf funkelte silbern, und die blank polierte Scheide schimmerte, nun da der Regen aufgehört hatte und das Sonnenlicht wieder durch die Wolken drang. »Wie hoch ist denn euer Preis?«, fragte ich mit ruhiger Stimme, während ich die Männer im Auge behielt, um auf ihre nächsten Bewegungen vorbereitet zu sein. Ich habe viel Zeit damit verbracht, der Miliz des Hauses D’Olbriot beizubringen, dass es unsinnig ist zu kämpfen, wenn man es vermeiden kann. Lescaris jedoch lernen genau das Gegenteil von ihren Anführern, vom Herzog bis zum kleinsten Unterführer, was viel zu den Leiden dieses zerrissenen und ausgebluteten Landes beiträgt. Der Anführer der Banditen bemerkte schließlich meinen unvertrauten Akzent. »Du bist ein Tormalin, nicht wahr? Feine Sprache, feines Pferd und feine Klinge. Lass uns einmal sehen, 13
was du in der Börse hast. Das ist dann der Preis für die Straße!« Offenbar besaß der Mann genauso viel Verstand, wie Dastennin den Plattfischen gegeben hatte. »Ich werde euch das Geld für eine Mahlzeit geben.« Ich lächelte freudlos. »Dafür könnt ihr dann dem Herrn der See danken.« Wie ich es erwartet hatte, schienen die drei anderen von dem Gedanken, für eine Mahlzeit bezahlen zu können, anstatt sie stehlen zu müssen, in Versuchung geführt zu werden. Der Anführer verzog jedoch das Gesicht; er wollte nicht einfach zurückweichen. »Wir werden Talagrin am nächsten Schrein eine Münze spenden, nachdem wir dein Pferd und deine Ausrüstung verkauft haben. Wir wollen dem Jäger danken, dass er uns solch ein fettes Täubchen geschickt hat.« »Ihr wollt mich rupfen?« Ich zog mein Schwert. Funkelnd glitt es mit einem stählernen Kratzen aus der Scheide, und die rostigen Waffen vor mir gerieten ins Wanken. »Warum? Ich trage nur Briefe meines Herrn bei mir.« Vor meinem Besuch bei Aitens Familie hätte ich mit solchem Abschaum gar nicht erst geredet, jedenfalls dann nicht, wenn ich genug rein geprägtes Tormalingold bei mir trug, um die Hälfte dieses ganzen armseligen Lehen zu kaufen. Und ich verteidigte hier nicht nur meine Ehre; die Münzen versinnbildlichten den Wert, den Messire D’Olbriot Aitens Eid beimaß, nun da sein Tod Wiedergutmachung verlangte. Ich zwang mich, die Last meiner Schuld erst einmal beiseite zu schieben, während ich mich um dieses Gesindel kümmerte. »Du bist ein Lehnsmann, stimmt’s? Ein Eingeschworener«, schnaufte der Halunke, der zuvorderst stand. Er war selbstbewusst genug, die Schwertspitze zu senken, während er sich seine verlauste Hand kratzte. »Der Speichellecker irgendeines 14
fettärschigen Fürsten, der den ganzen Tag den Kopf in den Bierkrug hält und an sich selbst herumspielt. So verbringt ihr feinen Herrn doch eure Zeit, hm? Ihr gebt euch die Kante und macht irgendwelche Schweinereien.« Die anderen Straßenräuber kicherten dümmlich, doch ich rege mich schon lange nicht mehr über irgendwelche billigen Beleidigungen auf. Ein wahrer Schwertkämpfer weiß, dass heißer Zorn mehr Menschen tötet als kalter Stahl. Ich wich einen weiteren Schritt zurück, um den Mann aus dem zweifelhaften Schutz seiner Gefährten zu locken. Messires Milizionäre lassen sich nie so leicht zu einem derartigen Fehler verleiten – nicht nachdem ich sie ausgebildet habe. »Hast du sonst noch was zu sagen, Lockenkopf? Komm schon! Rück erst mal deine Börse raus! Antworte, Mann, oder bist du zu sehr damit beschäftigt, dir in die Hose zu machen?« Wie ich es beabsichtigt hatte, wurden Unflats Gefolgsleute von meinem fortgesetzten Schweigen allmählich verunsichert. »Also schön, Jungs ... Schnappen wir uns den Hurensohn!« Kühn sprang er einen Schritt vor und richtete seine verrostete Klinge auf mich. Ich funkelte den Nächststehenden von Unflats Gehilfen an, der einen Schritt zurückwich. Dummheit – und mein Schwert – würde seinen Kumpan jeden Augenblick das Leben kosten; aber falls irgendeiner der anderen sich entschließen sollte, davonzurennen, würde ich ihm bestimmt nicht hinterherlaufen. Unflat stach nach mir, wobei er sinnlos mit der anderen Hand in der Luft fuchtelte. Ich trat zur Seite und schlug sein Schwert mit der flachen Seite meiner Waffe in die Höhe. Er ergriff die Gelegenheit und schwang seine verdreckte Klinge in hohem Bogen, um mir den Schädel zu spalten. Dadurch bot er 15
mir die Möglichkeit, mich in ihn hineinzudrehen und ihm den blanken Stahl meiner Waffe in seine Achselhöhle zu rammen. Er brach zusammen wie ein zerrissener Weinschlauch; Blut strömte aus seinem Mund und ertränkte seine Schmerzensschreie. Die anderen fluchten in kehligem Lescari, und einer stürzte sich auf mich; sein Verstand entsprach wohl dem der Läuse in seinen Kleidern. Aus guter Position setzte ich einen Hieb in Bauchhöhe an, und seine instinktive Parade ließ ihn zurücktaumeln. Wild schwang er seine Waffe – ein Angriff, dem ich mit Leichtigkeit ausweichen konnte. Abermals schlug ich zu, diesmal noch tiefer, doch irgendwie gelang es dem Kerl, seine Knie mit einem beherzten Seitwärtssprung zu retten, und plötzlich sah ich mich zwei Halunken gegenüber; offenbar hatte sein Kamerad doch noch seinen Mut gefunden. Bei der Ausbildung hatte man ihnen beigebracht, welches Ende des Schwertes das spitze war, viel mehr aber auch nicht – zu meinem Glück, sonst wäre ich vielleicht in Schwierigkeiten geraten. So aber durchbrach ich die Verteidigung des ersten Gegners mit ein paar raschen Hieben, und er sank auf die Knie und hielt sich den blutigen Stumpf, wo einst sein Schwertarm gewesen war. Dann schlug ich dem glücklosen Bastard mit der freien Hand ins Gesicht, und heulend und mit zerschlagener Lippe taumelte er ins Gebüsch davon, während der Letzte dieser Strauchdiebe, der sich dem Kampf angeschlossen hatte, auf dem Absatz herumwirbelte und wie ein gehetztes Wild davonstürmte. Er rutschte im Schlamm aus und hatte noch nicht einmal Verstand genug, sich mein Pferd zu schnappen, als er daran vorbeirannte. Damit blieb nur ein Kerl übrig. Die Tränen zogen Streifen durch sein verdrecktes Gesicht, und Schleim lief ihm aus der 16
krummen Nase, während er von Schrecken erfüllt keuchte und dabei eine Reihe abgebrochener Zähne entblößte. Das Leben hatten dem Jungen schon ins Gesicht getreten, bevor er laufen gelernt hatte. Es gelang mir, meinen Zorn zu zügeln. Zwar hatte ich nicht gerade eine glückliche Jahreszeit hinter mir, aber das war noch lange kein Grund, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Nichtsdestotrotz hatte es sich gut angefühlt, dem schwelenden Zorn, den ich seit Aitens Tod unterbewusst empfand, ein wenig nachzugeben, doch durfte ich ihn nicht schüren. Ich schaute mich rasch um, sah mein Pferd genüsslich neben der Straße grasen und dachte darüber nach, den Jungen einfach laufen zu lassen. Nein! Dast sollte ihn verfluchen! Der Kerl hatte so viel Rücksicht nicht verdient. Ich täuschte einen Stoß an, worauf der Bursche zitternd und unbeholfen seine Waffe schwang; die Spitze meiner Klinge lag in seiner Kehle, bevor er sich fangen konnte. Er ließ sein verdrecktes Schwert fallen, und Dampf stieg vom Boden unter seinen Füßen auf, als er sich in die Hose machte. »Gna... Gnade«, stammelte er. »Gnade, Euer Ehren. Ich werde so etwas nie wieder tun, ich schwör’s ich bei allem, was Ihr wollt. Gnade, um der Barmherzigkeit willen! Bei Saedrin – habt Gnade!« Ich drückte die Klinge auf die weiche Haut an seinem Hals, um ihn zum Schweigen zu bringen. Konnte man ihm vertrauen? Ich bezweifelte es. Wie sollte ein Junge wie er etwas von Ehre wissen? In einem Land, wo die Loyalität des so genannten Adels jede Jahreszeit einem anderen gehörte, und wo die rivalisierenden Herzöge zehn Generationen auf die Jagd nach einem wertlosen Thron verschwendet hatten. 17
»Ich schwör’s«, wimmerte der Junge und schluckte vorsichtig, um sich nicht selbst die Kehle durchzuschneiden. Hier ging es jedoch nicht um seine Ehre, sondern um meine Anständigkeit, Würde und Selbstachtung. Wie sollte ich einen närrischen Jungen töten, der darum flehte, sich ergeben zu dürfen und seinen armseligen Eid abzulegen? »Leg dich hin«, knurrte ich ihn an, und er sank in den Dreck, als hätte man ihn niedergeschlagen. Ich drückte ihm meinen Stiefel ins Genick und schleuderte sein Schwert weit in ein Dornengestrüpp. Meine eigene Klinge hielt ich dem Jungen vors Gesicht, sodass er verängstigt auf die blutverkrustete Spitze starrte, während ich ihm damit langsam über die Wange fuhr. »Du bleibst hier liegen und rührst dich nicht von der Stelle, bis du den Hufschlag meines Pferdes nicht mehr hörst. Sollte ich dich noch einmal auf dieser Seite der Anderwelt sehen, werde ich dich ausnehmen wie einen Fisch. Hast du verstanden?« Der Junge nickte heftig. Sein Blick huschte zwischen mir und dem blutigen Haufen hin und her, der einst sein Anführer gewesen war und dessen Lebenssaft sich nun mit dem Dreck der Straße vermischt hatte. Ich trat zurück, bereit, den Jungen niederzuhauen, sollte er dumm genug sein, sich zu bewegen; aber dafür besaß er anscheinend genug Verstand. Er rührte sich weniger als der noch immer zuckende Leichnam neben ihm. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass im Unterholz keine weiteren Überraschungen auf mich lauerten, ging ich langsam auf mein Pferd zu; ich wollte vermeiden, dass der Blutgeruch das Tier erschreckte. Tatsächlich kam es mir jedoch sogar entgegen. Eine halbe Jahreszeit gemeinsam mit mir auf der Straße hatte das Pferd gelehrt, dass ich Futter und Wasser bedeutete. Das war eine große Erleichterung. Meine Aussichten, 18
in Lescar ein neues Reittier zu bekommen, waren ungefähr so groß wie die des Jungen, im Bett zu sterben. Bevor ich hinter einer Wegbiegung außer Sicht verschwand, warf ich noch einmal einen Blick zurück: Der Junge plünderte die Leiche seines dahingerafften Freundes. Gleichgültig ritt ich weiter. Selbst wenn er es schaffen würde, mich einzuholen, wäre es mir ein Leichtes, ihn zu töten, zumal jetzt nichts Ehrenrühriges mehr daran gewesen wäre, da er seinen Schwur gebrochen und damit jeden Anspruch auf Gnade verloren hatte. Kurz blieb mein Pferd stehen, hob den Schwanz und ließ einen dampfenden Pferdeapfel auf die Straße fallen – meiner Meinung nach ein passender Kommentar. Das Feuer im Blut, das jeder Kampf entfacht, und sei er noch so bedeutungslos, wärmte mich eine Zeit lang; außerdem war es so spät in der Jahreszeit schon deutlich milder geworden. Allerdings glühte auch noch ein gewisser Ärger über mich selbst in meinem Innern, weil ich mich hatte überrumpeln lassen. So saß ich da, während die Sonne höher stieg und Dampf aus der durchnässten Erde quoll; die Natur hatte begonnen, sich zu erneuern. Plötzlich wurde ich von Traurigkeit erfüllt und hielt, um einen Schluck Wasser zu trinken und die Trockenheit aus meinem Hals zu spülen, die mir die Kehle zuschnürte. Wie lange es wohl dauerte, bis ich an Aiten würde denken können, ohne das Gefühl zu haben, ersticken zu müssen? Ich kannte den Grund dafür: Ich war allein. Nach sehr vielen Jahren ritt ich wieder allein durch die Welt. Ich vermisste Aitens unerschöpflichen Vorrat an zweideutigen Scherzen und seine Klinge, die es mit der Meinen durchaus hatte aufnehmen können, wann immer wir in einem Kampf, den wir nicht hatten vermeiden können, Rücken an Rücken gefochten hatten. Einer 19
der Eckpfeiler meines Lebens war verschwunden. Ich hatte einen Teil meines Selbstvertrauens verloren und drohte in ein Loch zu fallen, auch wenn es niemand außer mir bemerkte. Ich öffnete meine Mantelschnalle; die Sonne schien viel zu schön für solch eine Kleidung. Dabei verfingen sich meine Finger in dem Band, welches das Medaillon hielt, das mich an die Eide erinnerte, die ich meinem Fürsten geschworen hatte, und er mir. Aitens Medaillon trug ich ebenfalls bei mir. Die Bronzescheibe war in meinen Schwertgürtel eingenäht und wartete darauf, dass ich es dem Bastard, der für Aitens Tod verantwortlich war, doppelt heimzahlte. Sollte ich dem Hexenmeister das Medaillon in den Hals stopfen oder es ihm in den Arsch rammen?, sinnierte ich. Wie auch immer – auf jeden Fall würde ich vorher die Kante schärfen. Von Rechts wegen stand es unserem Herrn zu, diese Schuld einzufordern oder zu erlassen, doch ich hatte Rache geschworen und einen Nagel in die Tür eines Dastenninschreins geschlagen, um diesen Schwur zu besiegeln. Eingeschworene Männer wie Aiten und ich legen einander zwar keine Eide ab wie gegenüber unserem Patron; dennoch sind die Bindungen zwischen uns sehr stark. Nein, es war an der Zeit, dass ich weiterzog. Schließlich hatte mein Leben im Dienst von Messire wieder Sinn bekommen, nachdem ich an der Trauer über den frühen Verlust meiner am Fieber gestorbenen Schwester beinahe zugrunde gegangen wäre. Meine Pflicht galt einzig und allein meinem Herrn; mein Schwert unterstand seinem Befehl. Als ich eine Anhöhe überquerte, kam eine der typischen rattenverseuchten Hütten in Sicht, die in Lescar als Gasthöfe durchgehen. Ich hielt noch immer das blutverschmierte Schwert in der Hand; also band ich mein Pferd erst einmal am Wasser20
trog fest und holte öl und Tücher aus meinem Gepäck, um das Sonnenwendgeschenk zu putzen, das Messire D’Olbriot mir in Anerkennung der Torturen überreicht hatte, die ich in seinen Diensten hatte erleiden müssen. Es sagt viel über Lescar aus, dass es nicht der Anblick eines Mannes war, der eine blutige Waffe putzte, welcher die pickelige Dienerin erschreckte, die herauskam, um den Ascheeimer zu leeren. Vielmehr war es mein Akzent, der sie erschreckte; ich hatte Lescari an der Grenze gelernt, während ich dort Aufträge für Messire erledigt hatte. Das Mädchen wiederum sprach vielleicht zehn Worte Tormalin – allerdings bezweifelte ich, dass sie so weit zählen konnte. Nach einigem Hin und Her fand ich schließlich heraus, dass sie mir sagen wollte, sie hätten kein Bratfleisch mehr; also gab ich mich mit dem trockenen Brot und dem sauren Käse zufrieden, den man mir anbot – auf den gräulichen, aufgewärmten Eintopf vom Abend zuvor verzichtete ich jedoch. Als ich die Rechnung mit viel zu vielen Tormalinmünzen bezahlte, brachte es mir ein erstauntes Lächeln ein, zumal ich die Halb- und Viertelmünzen ablehnte, die das Mädchen mir als Wechselgeld anbot. Ich habe keine Verwendung für Lescarigeld, nicht einmal, wenn es ganz ist. Während ich aß, fischte ich den Brief aus der Tasche, den mir ein Kaiserlicher Kurier überbracht und der mich vor den Gefühlen der trauernden Familie Aitens gerettet hatte, da er mich auf die Straßen Lescars schickte, die während der Äquinoktiumsfeierlichkeiten leer waren. Ich betrachtete den Brief, und wieder einmal ließ die Beschreibung auf der Außenseite mich lächeln. Ryshad Tathel. Eine Armspanne und vier Finger groß, schmal 21
gebaut, aber muskulös. Schwarzes lockiges Haar und braune Augen. Glatt rasiert. Spricht mit sanfter, aber entschlossener Stimme. Mein Vater hätte es ein wenig anders ausgedrückt: »Stur wie ein Muli und nicht von der Stelle zu bewegen, wenn er sich erst mal irgendwo festgekrallt hat«, hatte er immer zu Messires Waffenausbilder gesagt. Der letzte Satz der Beschreibung war in einer anderen Handschrift niedergelegt. Also war Camarl rasch unter Messires Ratgebern aufgestiegen, wenn man ihm jetzt schon gestattete, die Briefe unseres Patrons mit persönlichen Bemerkungen zu versehen. Saedrin möge verhüten, dass die Männer der Familie sich schon in den nächsten Jahren versammeln mussten, um ein neues Oberhaupt des Hauses D’Olbriot zu wählen, doch sah es so aus, als könnte man eine beachtliche Summe einstreichen, wenn man dabei auf Camarl setzte. Vielleicht sollte ich jetzt schon auf ihn wetten, solange der jüngere Sohn einer Schwester noch der Favorit war. Von Messire D’Olbriot, niedergeschrieben in seiner Residenz in Toremal am 26. Tag des Vorfrühlings an Ryshad Tathel, Lehnsmann. Ich übersende Euch meine Grüße und meine besten Wünsche, dass Eure Reise Euch und Aitens Familie über den tragischen Verlust hinwegtrösten möge. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um noch einmal zu betonen, wie sehr auch ich um ihn trauere und wie hoch ich ihn schätzte. Erneut bitte ich Euch, dies auch seiner Familie zu übermitteln. Wenn Euer Besuch beendet ist, ist es nicht länger notwendig, 22
dass Ihr mir in Toremal aufwartet Der Erzmagus von Hadrumal, Planir der Schwarze, hat mich gebeten, Euch nach Caladhria zu schicken, wo Ihr Euch mit dem Magus Shiwalan Ralsere treffen sollt. Ihr werdet ihn bei einem Einsiedler mit Namen Viltred Sern finden, der nördlich von Cote lebt, dem Sitz des Lord Adrin, an der Hochstraße nach Abray. Dieser Magus erbittet Eure Unterstützung bei der Fortführung jener Unternehmungen, an denen Ihr bereits gegen Ende des vergangenen Vorwinters teilgenommen habt. Sollte der Zauberer Ralsere Euch nicht länger benötigen, kehrt umgehend nach Toremal zurück. Haltet mich bis dahin über Euren Aufenthalt auf dem Laufenden, entweder per Kaiserlichem Kurierdienst oder auf anderem Wege, je nachdem, was Ihr für angebracht haltet. Ich vertraue darauf, dass Ihr diese Aufgabe mit gewohntem Geschick erledigt. Der Brief war in der fließenden, eleganten Handschrift von Messires persönlichem Schreiber verfasst. Vor meinem geistigen Auge sah ich den Sieur, wie er vor einem Stapel Dokumente saß und jedes mit strengem Befehl zur Weitergabe freigab. Meine Laune besserte sich. Ich arbeitete schon lange genug für Messire, um lesen zu können, was nicht in dem Brief geschrieben stand. Ich sollte seine Augen und seine Ohren sein, seine Verbindung zu den Plänen des Erzmagus, die Vorhaben der Eismenschen zunichte zu machen. Hier bot sich mir eine weit bessere Gelegenheit, Aiten zu rächen, als bei der Jagd nach zusammenhanglosen Berichten Fremder an der Meeresküste, mit der ich die zweite Hälfte des Winters verbracht hatte. Ich hatte nie wirklich etwas mit Zauberern zu tun gehabt, 23
bevor ich im vergangenen Jahr mit Shiv zusammengekommen bin; in Tormalin ziehen wir es meist vor, sie uns vom Leibe zu halten. Ich fragte mich, was Shiv nun wieder vorhatte. Wir schuldeten uns gegenseitig das Leben nach unserer gemeinsamen, verfluchten Reise zu den Eisinseln. Allerdings hatte Shiv seiner Loyalität zum Erzmagus wegen eine andere Last zu tragen als ich. Ich aß und machte mich auf den Weg zum Fluss. Die Hoffnung auf mittäglichen Sonnenschein schwand; feiner Nieselregen setzte ein. Ich kam an den Überresten eines geplünderten Dorfes vorüber, das nach verbranntem, nunmehr verrottendem Holz stank, aus dem schwarze Tränen in die verbrannte Erde quollen. So viel zum Herzogtum Marlier, wo das Leben angeblich sicherer war als in anderen Gegenden Lescars. Ich sehnte mich nach dem sauberen Salzgeruch im Meereswind in meiner Heimat. Ich blickte über das Tal mit seinen Haselholz- und Eschenwäldchen, den verstreut liegenden, mit Soden gedeckten Dächern eines Dorfes inmitten eines Flickenteppichs von Feldern und Weiden, und der aus rötlichem Stein errichteten Burg des örtlichen Barons. In Tormalin baut man die Häuser eines Dorfes zum Schutz des Patrons dicht beieinander; so ist es seit den Zeiten des Chaos, als herrenlose Banden die Überreste des Alten Reiches plünderten. Lescaribauern hingegen ringen dem Land ab, was sie können, und hoffen, dass die Kämpfe an ihnen vorübergehen. Ich bemerkte, dass am Sitz des Barons die Palisaden wieder instand gesetzt und Stroh und Lehm beiseite geschafft wurden, mit denen man sie vor dem Frost geschützt hatte – das könnte interessant für Messire sein. Mit welcher Bedrohung rechnete Marlier, nun, da mit dem Äquinoktium die 24
Kriegssaison eröffnet war? Ich wusste, dass der Herzog von Triolle sein eigenes Nest beschmutzt hatte, nachdem er in den Kämpfen mit Parnilesse vergangenes Jahr schwere Verluste erlitten hatte. Richtete sein Ehrgeiz sich nun auf Marlier? Als ich am Nachmittag den Fluss erreichte, fand ich eine Schlange schweigender, düster dreinblickender Bauern an der Brücke, die ihre Habseligkeiten in Bündeln trugen oder auf Karren hinter sich her zogen. Ihre Kinder lächelten nicht, und die größeren blickten Trost suchend zu den Erwachsenen, doch ohne Trost zu finden. Überall in Lescar war ich auf solch elende Häuflein gestoßen, die mit gesenkten Köpfen über die Straßen trotteten. Wann immer sie an einer Siedlung vorbeikamen, hielten die Bewohner in ihrer Arbeit inne und griffen nach Hacken und Schaufeln, um notfalls mit Gewalt dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge weiterzogen. Meine eigene Börse hatte sich auf dem Weg beachtlich gelehrt. Immer wieder hatte ich diesem und jenem eine Münze gegeben, und ich achtete darauf, stets genug Brot bei mir zu haben, um jenen ein Stück davon anbieten zu können, die noch einen Rest ihrer Würde bewahrt hatten. Ich ritt zum Kopf der Schlange, da ich nicht in irgendwelche Querelen verstrickt werden wollte, die entlang der Reihe ausbrechen könnten. »Anhalten!« Ein stämmiger Milizionär versperrte mir mit der Pike den Weg; der Rest der Truppe lehnte am Brückengeländer. »Ich wünsche Euch einen schönen Tag.« Ich stieg ab und nickte knapp. »Muss hier Brückenzoll entrichtet werden?« Der Mann beäugte mich unsicher. »Hängt davon ab, wer Ihr seid.« Darauf mochte ich wetten. Es hing davon ab, ob ich ein ver25
zweifelter Bauer war, der bereit war, auch seine letzten Münzen zu opfern, oder ein Söldner auf der Flucht, der einer Wache, die ihn unvorsichtigerweise vorbei ließ, einige kräftige Peitschenhiebe einbringen konnte, sollte der Betreffende jenseits der Grenze beim Plündern oder Schlimmerem beobachtet werden. Die Lords von Caladhria wissen nur allzu gut, dass Lescars blutiges Chaos alsbald in ihre Länder hinüberschwappen würde, wären da nicht die reißenden Fluten des Rel, und dementsprechend streng bewachen sie die Brücken. »Ich bin der Lehnsmann eines tormalinischen Fürsten.« Ich nahm die Kette mit dem Medaillon ab und zeigte sie dem Mann. »Was habt Ihr in Caladhria zu suchen?«, fragte der Bursche staunend. »Das ist Sache meines Patrons«, erwiderte ich knapp, aber höflich. Der Mann wusste nicht, was er sagen sollte; doch die Pike senkte er nicht. »Hier.« Ich streckte die Hand aus, und der Mann schloss seine schmutzigen Finger um ein paar gute Tormalinmark, nicht um dünne, lescarische Bleimünzen. »Warum gewährt Ihr einer allein stehenden Frau mit ein paar Kindern nicht einfach den Übergang, hm?« Der Mann grinste breit mit seinem unvollständigen Gebiss. »Ich nehme an, das könnte ich.« Er nahm die Pike zurück, und die Hufe meines Pferdes hallten auf den Holzplanken der breiten Brücke wider. Pfeiler aus der Zeit des Alten Reiches trotzten – wie nicht anders zu erwarten – noch immer den schlammigen Fluten des mächtigen Rel, und die Holzkonstruktion darüber war gerade erst erneuert 26
worden, wie Flecken frischen Pechs bewiesen. An den Seiten standen weitere Pikeniere bereit, jedem Ärger sofort ein Ende zu bereiten. Bei einem von ihnen blieb ich stehen. Der Kerl sah kaum alt genug aus, dass er eine Klinge zum Rasieren hätte benutzen können, geschweige denn zur Verteidigung der Länder seines Herrn. Ich bemerkte die Farbe seiner übergroßen Livree sowie das Wappen darauf. »Seit ihr Lord Adrins Männer?« Er nickte vorsichtig. »So ist es.« »Ich bin auf dem Weg zu einem Ort mit Namen Cote. Welche Straße soll ich nehmen?« Der Junge runzelte die Stirn. »Welches Cote soll’s denn sein?« Verwirrt legte ich ebenfalls die Stirn in Falten. »Bitte?« »Nun, nach Obercote, Frühlingscote, Cote im Lehm und Kleincote geht’s flussauf; Cote im Wald und Hügelcote liegen flussabwärts, und die Hochstraße nach Westen führt nach Untercote und Cotetempel.« Da dies hier Caladhria war, versuchte der Junge wirklich, mir zu helfen und nicht, mich an der Nase herumzuführen. »Wo liegt Lord Adrins Hauptresidenz?« »Er besucht gerade Duryea, die Leute seiner Frau. Er ist dort seit dem Äquinoktium.« »Und wo wohnt er, wenn er nicht gerade jemanden besucht?« »Überall.« Das Tormalin des Jungen besaß einen seltsamen Akzent, und ich war nicht sicher, ob er mich richtig verstand. Das einzige Caladhrianisch, das ich kenne, ist das der Küstengebiete, und das hätte die Dinge hier oben vermutlich noch mehr verwirrt. »Danke«, sagte ich und erinnerte mich verspätet daran, dass 27
in meiner Heimat ›Caladhrier‹ als Synonym für ›Schwachkopf‹ galt. Dieser Junge hätte ein Pferd nicht von einem Esel unterscheiden können. Wieder von der Brücke herunter, spornte ich mein Pferd an, um rasch von den Bauern wegzukommen, die hier herumliefen. An der Wegkreuzung drängten sich ein paar kalkgeweißter Fachwerkhäuser; es sah aus wie jedes andere Dorf zwischen der Meeresküste und West-Ensaimin, wo das Reich niemals wirklich hatte Fuß fassen können und wo es zuerst die Kontrolle verloren hatte. Vergeblich hielt ich nach einem Wegstein Ausschau, und schließlich holte ich meinen Glücksrunenstab aus der Tasche. Ich drehte ihn zwischen den Händen; die Trommel kam oben zu liegen, und so zog ich nach Norden weiter.
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Das Haus von Viltred Sern, westlich von Cote im Lehm, Caladhria 9. Nachfrühling
Unter einer flachen Felsspitze auf einer Waldlichtung stand eine stabil gebaute Holzhütte, und auf dem Gras davor hatte sich eine kleine Gruppe versammelt. Ihr Gefangener war ein alter Mann, kraftlos und mit weißlichem Haar und Bart. Mit dem Rücken an einen frisch gefällten Stamm gebunden, stachen Zweige und Splitter in sein Fleisch, doch nicht aus Absicht, sondern schlicht aus Sorglosigkeit. Die metallenen Handfesseln waren schwarz von altem Blut aus aufgescheuerten Wunden, die der Alte sich zugezogen hatte, als er sich zu befreien versuchte. Seine Wärter standen im Halbkreis um ihn herum. In ihren Gesichtern zeigte sich Desinteresse; sie trugen schwarzes Leder und Metall und besaßen allesamt hellblondes Haar und waren kräftig gebaut. Ihr Anführer stand am Kopf des hilflosen Opfers. Ruhig wartete er darauf, dass die Eisen in dem kleinen Holzfeuer wieder zu glühen begannen. Der Rauch stieg in den klaren blauen Himmel empor, und an den Bäumen zeigten sich die ersten grünen Blätter der neuen Jahreszeit. Blut troff von den zerschundenen Händen des alten Mannes; seine Finger waren gebrochen; Knochensplitter ragten aus der Haut, und die Fingernägel waren mit berechnender Brutalität herausgerissen worden. Die Rippen des Opfers hoben sich in plötzlichen Krämpfen, und die Haut schimmerte weiß durch die Blutflecken hindurch, als seine Brust sich rasch hob und senkte wie die eines halb toten Vogels und dann zum Stillstand kam. Aus grausigen Höhlen, wo eigentlich Augen hätten sein sollen, 29
grausigen Höhlen, wo eigentlich Augen hätten sein sollen, quollen blutige Tränen. »Das ist eine düstere Aussicht, das will ich dir zugestehen, Viltred.« Der Sprecher schluckte vernehmlich, während er das schreckliche Bild betrachtete. Es schwebte in einem funkelnden Diamanten, der von der Spitze eines kupfernen Halbmonds auf dem Tisch vor ihm hing; eine brennende Kerze stand unter dem Bogen. »Wann hast du dieses Schicksal zum ersten Mal in einem deiner Hellsichtzauber gesehen?« Er räusperte sich und schaute sich in dem gemütlichen Durcheinander der kleine Hütte um, als wollte er sich vergewissern, dass die Vision von Qual und Boshaftigkeit lediglich ein schreckliches Trugbild war. »Vor vier Tagen«, grunzte der alte Zauberer. Mit finsterem Gesicht betrachtete er das Bild seines eigenen qualvollen Todes nur wenige Schritte von seiner eigenen Schwelle entfernt. »Nun, was hältst du davon, Shiwalan? Was hat das mit deinem plötzlichen Auftauchen zu tun, nachdem die mächtigen Magir von Hadrumal mich gut eine Generation lang nicht beachtet haben, weil sie mich entweder für einen Lügner oder einen Narren hielten? Als ich Azazirs Lehrling war, sind wir zusammen auf Reisen gegangen, und niemand hat uns geglaubt, als wir sagten, wir hätten diese Inseln weit draußen im Meer gefunden.« Er deutete mit seiner knochigen Hand auf das Bild. »Inseln, wo ein Volk hellhaariger Menschen lebt, Menschen aus demselben Rudel wie diese Hunde hier. Nun bist du gekommen, um mir zu sagen, dass die weisen und edlen Zauberer von Hadrumal diese Inseln ebenfalls entdeckt und sich nun dazu herabgelassen haben, mir zu glauben. Ist es Zufall, dass ich nun diese Köter auf der Jagd nach mir sehe? Was für Ärger be30
schwört Planir nun wieder herauf?« Er lehnte sich in die abgenutzten, ausgebleichten Kissen zurück, die seinen schweren Eichenstuhl polsterten. Shiv rieb sich mit der Hand übers blasse Kinn und blickte nachdenklich ins Leere. »Nun, auf jeden Fall müssen wir dem Erzmagier sofort davon berichten. Glaub mir, Viltred, ich habe dir die Wahrheit gesagt. Planir hat mich geschickt, um herauszufinden, an was du dich von deiner Reise mit Azazir auf die Eisinseln erinnern kannst. Es tut mir Leid, ich hätte es dir erklären müssen ... Offenbar verfügen diese Inselbewohner – oder Elietimm, wie sie sich selbst nennen – über Magie, die in Hadrumal unbekannt ist. Schlimmer noch, sie haben beim Fall des Tormalin-Imperiums eine Rolle gespielt, vermutlich mittels Magie. Aber du weißt ja, wie viel Wissen in der Zeit des Chaos verloren gegangen ist. Planir hofft, einen Teil dieses Wissens wiederzufinden. Wir hatten keine Ahnung, dass diese Männer auch dich suchen würden, das schwöre ich; aber genau das scheint diese Vision zu bedeuten.« Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er fort: »Wie auch immer ... Nun, da wir gewarnt sind, können wir dafür sorgen, dass es nicht so weit kommt. Wie oft hat sich eine Vorhersage bis ins Kleinste erfüllt? Einmal pro Hand voll vielleicht.« Viltred atmete tief durch, und die Vision zitterte und löste sich auf. Es kostete den alten Zauberer sichtlich Mühe, die Fassung wiederzuerlangen. Er legte die Hände auf den Tisch und drehte den Stein langsam mit seinen azurblau schimmernden Fingern – ein Zeichen seiner elementaren Verbindung zur Luft, die ihn umgab. Das daraufhin einsetzende bernsteinfarbene Glühen im Edelstein entstammte erdgeborener Magie, während der schimmernde Dunst sich langsam auflöste und ein neues 31
Bild auf der glänzenden Oberfläche erschien. Das Bild wurde schärfer: Eine Gruppe von Gestalten stand in einem großen, luftigen Raum. Im offenen Fenster hinter ihnen schwankten Masten auf unsichtbaren Wellen, und viereckige Segel hingen an den Spieren. »Da bist du ja, Viltred, und von Misshandlungen ist nichts zu sehen«, seufzte Shiv erleichtert. »Ich gebe zu, dass ich es vorziehe, bis zu den Augenbrauen mit dem Dreck der Straße verschmiert zu sein und ein wenig erschöpft zu wirken, statt wie ein Spanferkel geröstet zu werden«, murmelte Viltred. »Diese Galeeren ... Sie gleichen jenen, die im Golf von Caladhria fahren«, fuhr Shiv nachdenklich fort. »Ich will wissen, wer all die anderen Leute sind«, sagte der alte Mann. Shiv runzelte die Stirn, während er die winzigen Gestalten in dem magischen Bild betrachtete. »Die Frau mit dem roten Haar heißt Livak. Sie reist in Ensaimin umher und besitzt viele Talente; doch hauptsächlich ist sie Spielerin.« »Das klingt unehrenhaft«, schnaufte Viltred, »und damenhaft auch nicht gerade.« Shiv musste sich erst ein Lächeln verkneifen, bevor er fortfuhr: »Der große Mann im Hintergrund ist ein Lehnsmann von Messire D’Olbriot, Ryshad – derjenige, der bald hier eintreffen sollte. Du erinnerst dich doch, dass ich dir von ihm erzählt habe?« »Ich bin noch nicht vollkommen senil. Im Allgemeinen kann ich mich schon noch an Dinge erinnern, die man mir am selben Tag erzählt hat«, erwiderte der alte Zauberer bissig. »Wer ist die mit dem schlichten Gesicht und Schultern wie ein Landarbei32
ter?« »Das ist Halice«, sagte Shiv langsam. »Sie ist eine Freundin von Livak. Die letzte Jahreszeit hat sie mit gebrochenem Bein im Bett gelegen.« »Und warum sollte ich mich mit so einem zusammengewürfelten Haufen abgeben? Noch dazu drunten in Relshaz?«, verlangte Viltred zu wissen, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen funkelten verärgert. »Und bevor du fragst ... Ich habe diesen Leuchtturm erkannt. In meiner Jugend habe ich die Stadt ziemlich gut kennen gelernt.« »Das Gesicht des anderen Mannes ist so verwittert wie Segeltuch, und angesichts der Taunarben an seiner Hand können wir wohl davon ausgehen, dass es sich um einen Seemann handelt«, murmelte Shiv mehr zu sich selbst als zu dem alten Mann. »Und diese Pergamente, die Livak mit Trinkkrügen auf dem Tisch festhält, dürften Karten sein, was meinst du? Relshaz ist sicherlich der größte Seehafen an der Westküste des Golfs, doch in einer Stadt dieser Größe könnten natürlich alle möglichen Dinge im Gange sein. Warten wir auf die Ankunft eines Schiffes?« Viltred zuckte mit den Schultern und blickte grimmig drein. Eine Zeit lang saß Shiv vollkommen regungslos und in Gedanken versunken an dem schweren Eichentisch; dann schlug er plötzlich mit beiden Händen auf das alte, zerkratzte Holz. »Es ist sinnlos, jetzt irgendwelche Vermutungen anzustellen, stimmt’s? Allerdings bedeuten zwei so gegensätzliche Visionen im Allgemeinen, dass das Erreichen der einen die andere ausschließt, nicht wahr? Es wäre ein Anfang, würden wir beginnen, alle in diesem Bild zusammenzurufen, und Ryshad ist bereits unterwegs.« 33
»Ich wünschte, du würdest deine Leidenschaft ein wenig zügeln, mir Dinge zu erzählen, die ich schon in meinem ersten Lehrjahr gelernt habe, als man an dich noch nicht einmal gedacht hat, Shiwalan. Wie sollen wir die Sache angehen? Was schlägst du vor?« In den Augen des alten Mannes rang eine schwache Hoffnung mit Misstrauen um die Vorherrschaft. »Ich glaube, ich könnte zumindest Halice finden, und die müsste wissen, wo Livak sich aufhält.« Shiv stand auf und nahm einen Waschkrug vom altmodischen Ankleidetisch hinter ihm; dann holte er eine kleine Silberphiole aus der Hosentasche. Viltred beobachtete schweigend, wie der junge Magier schwarze Tinte auf die Wasseroberfläche tropfen ließ. Ein grünliches Leuchten erschien auf dem Wasser, stieg über den Rand des Krugs und quoll auf die fleckige Tischplatte. »Ein Freund von mir hat sich um ihr Bein gekümmert«, erklärte Shiv in zunehmend erregtem Tonfall. »Später hat er dann eine Stiefelschnalle von ihr gefunden und sie mir gegeben. Wie er gesagt hat: Man weiß nie, wann man jemanden mittels Weitsicht suchen will.« Er ließ die Schnalle ins Wasser fallen, biss sich konzentriert auf die Unterlippe und beugte sich näher zu seiner Magie hinab. »Mach einfach voran«, murmelte Viltred. Plötzlich erfüllte das Rauschen von Luft und Wasser den Raum, und Shiv stand aufrecht da und blickte zu Viltred, in dessen Augen sich seine Bestürzung spiegelte. »Auf dem Weg hierher hast du doch Warnzeichen gesetzt, oder?«, fragte der alte Mann. Ein Hauch von Furcht lag in seiner Stimme. »Könnte das dieser Tormalin sein?« »Nein, ich fürchte, meine Zauber sind einzig und allein auf die Elietimm ausgerichtet«, erwiderte Shiv atemlos. »Nachdem 34
wir auf den verfluchten Inseln waren, verspüre ich nicht den geringsten Wunsch, diesen Bastarden noch einmal in die Hände zu fallen, glaub mir. Einer von uns hat dort so ziemlich genau das Schicksal erlitten, vor dem wir dich bewahren wollen.« »Lass uns in die Sicherheit des Dorfes gehen«, sagte Viltred. »Besitzt du genug Macht über die Luft, um das zu vollbringen?« Shiv verzog das Gesicht. »Wir haben keine Zeit, all deine Wertsachen einzusammeln, und wenn wir uns einfach versetzen, erfahren wir nicht, was die Elietimm tun und wohin sie unterwegs sind.« Rasch eilte er über den verstaubten Boden und öffnete die alten Fensterläden gerade weit genug, um hinausschauen zu können. »Wenn wir hier bleiben, sitzen wir allerdings wie Ratten in der Falle. Nein, wir müssen einen Beobachtungsposten im Wald finden, wo wir uns verstecken können«, erklärte er entschlossen. »Da der größere Mond noch neu und der kleinere gerade erst ein Viertel voll ist, ist das die dunkelste Nacht der Jahreszeit, und das kann uns ebenso helfen wie ihnen.« »Wenn ich sie auf uns zukommen sehe, bin ich weg – direkt nach Hadrumal, wenn’s geht«, warnte Viltred mit düsterem Gesichtsausdruck. Während der alte Zauberer sich steif aus seinem Stuhl wuchtete, zog Shiv die Riegel der stabilen Holztür zurück. Dann packte er den kleineren Mann unter dem Arm, warf die Tür auf, und halb scheuchte, halb trug er Viltred in die schützende Dunkelheit, die sich unter den Bäumen verdichtete, während die Sonne langsam in den Wolken am westlichen Horizont verschwand. »Warte«, befahl Viltred, schon ein wenig außer Atem. Shiv beugte sich zu dem alten Mann hinunter. »Was ist?« »Ich habe auch ein paar Zauber in dieser Gegend gewoben«, 35
murmelte Viltred. »Ich kann sie sowohl auf vierbeinige als auch auf zweibeinige Tiere ausrichten.« Er rieb sich die von der Gicht geschwollenen Knöchel, und zwischen seinen Händen erschien ein blau glühender Ball. Mit einer Geste schickte Viltred ihn auf den Weg, und wie ein Irrlicht schwebte er am Waldrand entlang, wobei er kleine, flüchtige Abdrücke im Gras hinterließ. »Wir müssen uns verbergen«, flüsterte Shiv drängend. »Ich kann ihre Zauber verwirren, aber dann dürfen wir uns nicht bewegen.« Viltred nickte, und die beiden Zauberer zogen sich weiter in die Schatten zurück. Ein flackerndes, vielfarbiges Licht sammelte sich am Rand ihres Sichtfelds, und als es sich wieder auflöste, waren die Zauberer nur noch undeutliche Schatten, die mit dem Zwielicht verschmolzen. Die letzten goldenen Strahlen der untergehenden Sonne wurden von einem Wasserfall zerstreut, der in einen Bach mündete; alles andere war in Myriaden Schattierungen von Grau gehüllt. Schwarz wie die Nacht, die unter den umstehenden Bäumen immer dunkler wurde, rannte plötzlich der Schatten eines Mannes über die offene Fläche zur Hütte, geduckt und schnell. Sein Schrei zerriss die Stille, als ein Blitz aus der Erde unter seinen Füßen schoss und ihn nach hinten warf. Verwirrt kroch er in den Schutz der Bäume. Rauch trieb im kalten Nachtwind davon. Nach einem langen, stillen Augenblick gingen zwei weitere Gestalten langsam über das Gras und verschwanden in der Dunkelheit auf der windabgewandten Seite der Hütte. Plötzlich aufflackerndes blaues Licht enthüllte die Umrisse eines Fensters, und erschrockene Flüche wurden rasch zum Verstummen ge36
bracht. Nach einer angespannten Pause schritt eine vermummte Gestalt kühn aus dem Schutz der Bäume und stellte sich mitten aufs Gras; eine Hand voll anderer folgte ihr in respektvollem Abstand. Die stabile Holztür explodierte geräuschlos nach innen, und schwarz gekleidete Männer stürmten hinein; nur hier und da spiegelte sich Sternenlicht auf ihren Schwertern und einem hellen, unbedeckten Kopf. Schwache Geräusche drangen an der zerstörten Tür hinaus: das Scharren genagelter Stiefel auf den massiven Bodenbrettern, das Schleifen von Möbeln, die zur Seite geschoben wurden. Klirren und Scheppern zeugten davon, dass Geschirr zu Boden geworfen wurde, und dumpfe Schläge kündeten von wütend beiseite geschleuderten, wertvollen Büchern. Eine uniformierte Gestalt trat aus der Tür. Ihr gesenkter Kopf und die hängenden Schultern zeugten von Versagen und Furcht. Die vermummte Gestalt überquerte das Gras mit ungeduldigen Schritten und schlug dem Uniformierten verächtlich ins Gesicht. Dann kamen auch die anderen wieder heraus. Einer bot dem Anführer etwas an, das ihn in seinem Zorn innehalten ließ. Der vermummte Mann wirbelte auf dem Absatz herum und führte seine Männer wieder in die Nacht unter den Bäumen zurück. Die blasse Sichel des kleineren Mondes stieg über der schützenden Felsspitze auf. Langsam schlängelten sich Rauchfäden aus Fenstern und Tür der Hütte. Gierige Flammenzungen begannen an den Holzbalken zu lecken; leuchtend orange stachen sie aus der immer dunkleren Nacht hervor. In schier unmöglich kurzer Zeit fiel das Dach in sich zusammen, und das rote Leuchten des Infernos trotzte dem sanften Licht von Halcarions Sternenkrone, die nun hoch über dem Rauch erstrahlte. Heiße Asche wurde über die Lichtung 37
Asche wurde über die Lichtung geweht, Gras versengt, und aus der nackten, feuchten Erde stieg Dampf empor. Plötzlich erstarben die Flammen und ließen eine Ruine aus verbranntem Holz zurück. Eine gefleckte Katze wagte einen Vorstoß aus dem Wald, doch irgendetwas erschreckte sie, und sie sprang einen Baum hinauf. Bei ihrem zweiten Versuch erreichte sie den Furcht einflößenden Haufen verbrannten Holzes und schlich vorsichtig um ihn herum; immer wieder schnüffelte sie an irgendwas oder tippte es neugierig mit der Pfote an. Nach einer Weile erschien eine zweite Katze; sie hatte die Ohren angelegt und den Schwanz an die grau gestreifte Seite gedrückt. Eine Zeit lang untersuchten die beiden Tiere den Rand der Ruine. Um sie herum schimmerte die Luft seltsam. Größe und Farbe der Tiere änderte sich ständig, bis der Zauber sich schließlich auflöste und die beiden Magier in ihrer wahren Gestalt enthüllte. Keiner der beiden Männer beachtete die sich auflösende Magie; stattdessen setzten sie ihre Suche fort und begannen, die Trümmer auseinander zu ziehen. »Lass mich mal.« Shiv wuchtete einen Ruß geschwärzten Balken beiseite, um darunter die zertrümmerten und verbrannten Überreste einer Falltür zu enthüllen. Viltred zog an dem Gewirr aus Holz und Metall und hustete, als um sie herum Asche aufgewirbelt wurde. Shiv half ihm, die Trümmer beiseite zu schaffen; dann schickte er sich an, die aus dem Fels gehauene Treppe hinunterzusteigen, die darunter zum Vorschein gekommen war. »Nein«, sagte Viltred scharf. »Auch wenn nicht mehr viel davon übrig geblieben ist, das ist noch immer mein Heim.« Viltred zog sein abgenutztes Wams enger und stieg unbehol38
fen die steilen Stufen hinunter, während Shiv mit vor der Brust verschränkten Armen wartete und ungeduldig mit der Stiefelspitze in der Asche scharrte. Viltreds Husten hallte aus dem Keller hinauf, als er nach einiger Zeit wieder nach oben kam. »Nun, der Erzmagier wird nichts Neues über diese geheimnisvollen Inseln, ihre bösartigen Bewohner oder ihre arkanen Künste lernen – jedenfalls nicht von den paar Schätzen, die ich von Azazir behalten habe.« Er spie in den Staub. »Sie haben jedes Stück mitgenommen. Na, was ist nun mit Planirs Hoffnungen? Sag es mir, Shiwalan!«
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Die Hochstraße zwischen Obercote und Frühlingscote, Caladhria 10. Nachfrühling
»Ryshad!« Ich war so erschrocken, auf der menschenleeren, frühmorgendlichen Straße mit Namen gerufen zu werden, dass ich wie ein Reitanfänger an den Zügeln riss. Das entrüstete Pferd sprang noch einen Schritt vorwärts und schüttelte den Kopf. »Ryshad! Hier!« »Shiv?« Ich schaute mich um und sah, wie der Zauberer mir zuwinkte, schlank und mit kräftigem Knochenbau, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Blätter klebten ihm an den Hosenbeinen, als er aus dem Gehölz trat, von dem ich geschworen hätte, dass noch vor wenigen Augenblicken höchstens ein Eichhörnchen sich dort hätte verstecken können. »Was im Namen von allem, was heilig ist, machst du da?« Eine zweite, gebückte Gestalt erschien, und Shiv drehte sich zu ihr um und bot ihr den Arm dar. »Darf ich dir meinen Gefährten vorstellen, Viltred Sern. Viltred, das ist Ryshad, der Tormalin-Lehnsmann, von dem ich dir erzählt habe.« Der Mann eines Fürsten lernt rasch, sich Überraschung nicht anmerken zu lassen; also verneigte ich mich stumm, während ich mir ein Bild von dem Mann verschaffte, der Lehrling eines der berüchtigtsten und gefährlichsten Zauberer gewesen war, den die verborgene Stadt Hadrumal je hervorgebracht hatte. Es überraschte mich ein wenig, einen müden alten Mann mit zerzaustem grauem Bart und eingesunkenen Augen zu sehen. Er 40
war verdreckt und wirkte zerknittert, als hätte er die letzte Nacht draußen in der Kälte verbracht. Sein Alter hätte mich allerdings nicht überraschen dürfen; immerhin war es nun schon mehr als eine Generation her, dass der Rat der Magier Azazir vor die Wahl gestellt hatte, sich für seine unverantwortlichen Zaubereien hinrichten zu lassen oder nach Gidesta in die Verbannung zu gehen. »Shiwalan, ich muss mich aufwärmen, und ich brauche etwas zu essen, bevor meine Gelenke in dieser Nässe vollends den Dienst aufgeben!«, knurrte der alte Mann unter seiner Kapuze hervor. »Was ist los, Shiv?«, fragte ich besorgt. »Warum lauft ihr beide auf der Straße herum und habt fast nichts dabei?« Shiv schüttelte den Kopf. »Im Moment könnte ich dir ohnehin nur die halbe Geschichte erzählen. Lass uns erst schauen, dass wir ein warmes Feuer und gutes Bier bekommen.« Für den Augenblick ließ ich die Sache auf sich beruhen. Ich stieg ab und half dem alten Zauberer in den Sattel, wo er wie ein missmutiger Sack Getreide hockte. »Nicht weit zurück liegt ein annehmbar aussehender Gasthof«, schlug ich vor. »Gut.« Shiv nickte. »Wir müssen ohnehin nach Süden. Führe uns dorthin.« Ich fragte mich, ob ich mir einen taktvollen Augenblick würde suchen müssen, Shiv daran zu erinnern, dass er mich besser nicht herumkommandieren sollte – die Anweisungen meines Herrn hin oder her. Messire erteilt mir die Aufträge, doch ich bin daran gewöhnt, sie selbstständig auszuführen. Bald schon bogen wir auf den sauber gefegten Hof des kalkgeweißten Gasthofs ein, und Viltred versuchte, aus dem Sattel zu klettern. Ich erkannte, dass er tatsächlich noch älter war, als 41
ich zunächst vermutet hatte – die Haut unter dem dünnen Bart war grau –, und so bot ich ihm meinen Arm an. Der Zauberer warf mir einen scharfen, misstrauischen Blick zu, als er meine Hilfe annahm; dann stapfte er steif in die Gaststube, wo Shiv bereits eine rotgesichtige Schankmaid bezirzte, uns den Privatsalon jenseits des Speiseraums zu überlassen. Nachdem wir in dem gemütlichen Zimmer Platz genommen hatten, dessen Wände an einigen Stellen sogar getäfelt waren, schenkte ich uns drei Krüge dunklen Biers ein, während Shiv die schweren Eichenfensterläden vor dem milchigen Glas des kleinen Fensters schloss. Auf ein Fingerschnippen von Viltred hin erwachten die Kerzen zum Leben, und ihr Licht verdeckte das leichte blaue Schimmern um Shivs ausgestreckte Hände. »Jetzt kann ich dir erzählen, was hier vor sich geht. Wir mussten nur dafür sorgen, dass niemand uns belauscht«, erklärte er, während sein Zauber in Holz und Putz der Wände drang. Das war eine kluge Vorsichtsmaßnahme, vor allem, da er durch das Schließen der Fensterläden vermutlich die Neugier eines jeden geweckt hatte, der ihn zufällig dabei beobachtet hatte. »Wenn es geht, Viltred, wäre die Vision sicher der einfachste Weg, ihm alles zu erklären«, fuhr Shiv fort. Der alte Mann seufzte, nickte aber. »Hast du einen Kerzenstummel?« Er holte ein Öltuch aus der Innentasche und enthüllte einen Halbmond aus gehämmertem Kupfer, der auf einem kleinen Ständer ruhte. Fest entschlossen, Haltung zu bewahren, beobachtete ich das Ganze schweigend. In Tormalin haben wir so gut wie keine Verwendung für Zauberei und somit auch nur wenig Erfahrung damit, aber vergangenen Herbst hatte ich gesehen, welch er42
staunliche Dinge man damit anstellen kann, als Shiv, Livak und ich durch die öde Landschaft der Eisinseln geflohen waren. Ich erinnerte mich daran, dass Shiv ein Zauberer war, dessen Kräfte hauptsächlich auf seiner Verbindung zum Element Wasser beruhten, ein Zufall der Magiegeburt, der eine entscheidende Rolle dabei gespielt hatte, uns vor dem gnadenlosen Ozean zu retten – Dank sei Dastennin. Viltred bekam wieder etwas Farbe ins Gesicht, als er sein Bier trank, und auch ich nahm einen kräftigen Schluck. Aus gutem Hopfen gebraut war es schmackhaft genug für mich, wenn ich schon keinen ordentlichen Tormalinwein bekommen konnte. Auf jeden Fall stellte es eine erhebliche Verbesserung gegenüber dem säuerlichen Gesöff dar, das man mir in Lescar vorgesetzt hatte. Shiv befestigte einen Talgstumpf am unteren Ende des Halbmonds; seinem Gesicht sah ich an, dass er so müde war wie der Wachhund in einem Hurenhaus, den man zehnmal in der Nacht geweckt hatte. Viltred hing vorsichtig einen Edelstein an einen kleinen Haken, der von der Spitze der Sichel herabhing, und Shiv entzündete die Kerze mit einem Fingerschnippen scharlachroter Magie. Daran, wie der Feuerschein sich im Edelstein brach, erkannte ich, dass dieser Diamant größer war als jeder in unserer Kaiserkrone, und nur mit Mühe konnte ich einen erstaunten Ausruf unterdrücken. Viltred räusperte sich; dann sagte er: »Heutzutage führe ich ein ruhiges Leben, in dem Magie kaum eine Rolle spielt. Als Gegenleistung dafür, dass sie mich mit Nahrung versorgen, sage ich den Einheimischen allerdings das ein oder andere für die nächste Jahreszeit voraus.« Ich fragte mich, wie tüchtig der alte Mann sein mochte. Ich 43
hatte noch nie einen Jahrmarktswahrsager gesehen, auf den ich auch nur einen Lescaripenny gewettet hätte; diese Leute waren Scharlatane, welche die Ahnungslosen im Netz ihrer Lügen fingen. Ein plötzlich aufblitzendes bernsteinfarbenes Licht ließ Bilder in dem Diamanten tanzen, die mein gesamtes Blickfeld auszufüllen schienen; alles andere war so unbedeutend wie ein Spiegelrahmen. Die Oberfläche des Steins war nun dunkel, bewölkt von etwas, das Rauch zu sein schien. Er teilte sich und gab den Blick auf den rußigen Qualm von Fackeln frei, die überall verstreut in einer großen Halle lagen. Gierige Flammen verschlangen fein gebeiztes Holz, liebevoll bestickte Wandbehänge, Pelze und Stoffe, die Dastennin wer weiß wo geplündert hatte. Dunkle Eichenmöbel, über Generationen hinweg pflichtbewusst poliert, waren zerhackt und gesplittert; tiefe Furchen stachen blass daraus hervor wie Knochen aus einer tödlichen Wunde. Mein Herz schlug schneller, als ich den Ort erkannte: Das war der Audienzsaal im Kaiserlichen Palast von Toremal. In hilfloser Wut knirschte ich mit den Zähnen, als ich schwarz uniformierte Gestalten sah, die immer mehr geplünderten Luxus herbeischafften und in die unersättlichen Flammen warfen. Mit kaltem Entsetzen und heißer Wut erkannte ich, dass dies die Eisländer waren, Kameraden jener Schurken, die vergangenen Sommer Messires Neffen ausgeraubt und verkrüppelt hatten. Diese Tat hatte Aiten und mich auf ihre Fährte gesetzt, was schlussendlich zum Tod meines Freundes geführt hatte. In einer Ecke sammelte sich dunklerer Rauch, und ich sah, dass die ausgehungerten Flammenzungen sich an einer der großen hölzernen Türsäulen zum Thronsaal festgefressen hatten. Während ich sie beobachtete, schwang die große Doppeltür 44
auf, die man ihrer Goldbeschläge beraubt hatte, und ein Kerl in blutverschmiertem Leder winkte seinen Kameraden triumphierend mit einer grausigen Trophäe. Es war ein Kopf auf einer Pike. Dem Zustand des Gesichts nach zu urteilen, hatten sie ihr Opfer geschlagen, bevor sie es seines Kopfes beraubt hatten, und das kräftig genug, um ihm den Schädel zu brechen. Und ich kannte diesen Mann! Ich hatte dieses jugendliche und einst so schöne Gesicht, das stets Zufriedenheit ausstrahlte, schon einmal gesehen, und auch die nun so leeren, leblosen Augen, die einst so freudig geleuchtet hatten. Das war mein Kaiser, Tadriol, dritter Sohn von Tadriol dem Besonnenen, der fünfte Kaiser dieses Hauses, der noch so neu in diesem Amt war, dass er noch auf die Akklamation durch die Fürsten der Großen Häuser wartete, mit der sie ihre Zustimmung zu seiner Thronbesteigung bekunden und ihm einen Beinamen verleihen würden. Ich konnte nicht anders, als zu Shiv zu schauen, und kurz trafen sich unsere Blicke; sein Gesicht war wie Eis, genauso hart und kalt. Als ich bemerkte, dass ich unwillkürlich die Hände zu Fäusten geballt hatte und meine Fingernägel sich in die Handteller gruben, griff ich nach meinem Krug und wollte meine trockene Kehle anfeuchten, bevor mir auffiel, dass das Gefäß leer war. Viltreds Magie flackerte, als er den Edelstein mit zitternden Fingern ein weiteres Mal drehte. Sein sanfter grauer Dunst lichtete sich und enthüllte steinerne Wände, die vom warmen Licht edler Bienenwachskerzen beleuchtet wurden. Ich sah mich selbst auf einem Podium stehen, an einem Ort, den ich sofort als die Große Halle eines Tormalinfürsten erkannte, die üppig für eine Sonnenwend- oder Äquinoktiumsfeier geschmückt war. Offenbar war es uns allen 45
gut ergangen: Ich wurde wie ein Bordellapotheker mit kastanienbraunem Samt und feinem Leinen herausgeputzt, dessen Kragen mit einer unauffälligen, aber edlen Goldkette geschmückt war. Vor mir stand Messires Neffe, Camarl; das fällige Gesicht war freundlich, doch der Blick scharf. Er war in ein Gespräch mit einem der jüngeren Söhne der D’Azenac versunken. Zu wissen, dass ich mich nun selbst so sah, wie andere Leute mich sahen, war eine unheimliche Erfahrung; sie machte mich nervös, und ich musste ein Schaudern unterdrücken. Meine Lippen öffneten sich unbewusst vor Überraschung, als ich Livak sah. Sie trug ein verführerisches mitternachtblaues Seidengewand, und Perlen zierten ihren Hals und ihr exquisit frisiertes Haar. Ich gestattete mir, einen Augenblick lang ihre ungewohnte Eleganz zu genießen. Dabei bemerkte ich, dass sie die eifrigen, jungen Adeligen um sich herum dazu verführte, ihr Geld auf edle Apfelholzrunenstäbe zu setzen; Silber und Gold verschwanden diskret in dem kleinen Samtbeutel, den sie an der Hüfte trug. Shiv befand sich unten im Zentrum der Halle. Er trug ein höfisches Gewand aus grünem Leinen, war glatt rasiert und hatte das lange, dunkle Haar zur Abwechslung zurückgebunden; seine Arme waren vor der Brust verschränkt, und er wirkte vollkommen entspannt. Er lachte mit einer von Messires Nichten, die nicht die leiseste Ahnung hatte, dass bei Shiv alle Liebesmüh vergebens war. Viltred war in ein angeregtes, ja erregtes Gespräch mit zwei Adeligen vertieft. Er trug ein unpassendes, formelles Gewand; dennoch strahlte er eine Aura der Autorität aus, während er mit einem in Schwarz gehüllten Arm wedelte und mit der anderen Hand einen Stab immer wieder auf die Erde stieß, um seine Worte zu unterstreichen. 46
»Was du siehst, sind verschiedene Möglichkeiten der Zukunft«, begann Shiv. »Was hat das alles zu bedeuten?«, verlangte ich zu wissen. Alle Sorgen der Zauberer waren unbedeutend angesichts der schrecklichen Gefahr für alles, das zu schützen meine Ehre mir gebot. »Wir wissen es nicht.« Viltreds offenes Eingeständnis ließ mich schweigen. »Ihr habt nichts unternommen?« Ich bemerkte, dass Ungeduld meine Stimme schärfer klingen ließ, als ich wollte, und ich zwang mich zur Ruhe. »Ihr habt nichts getan, obwohl ihr solch eine Gefahr für den Kaiser gesehen habt?« »Auf solche Vorhersagen hin etwas zu unternehmen, birgt große Risiken.« Erstaunlicherweise war Viltred weder beleidigt noch verärgert; er klang bloß zu Tode erschöpft. »Jedes Ereignis hängt von einer Kette unterschiedlicher Umstände ab, sodass durchaus die Gefahr besteht, durch Handeln das fehlende Glied in der Kette zu schmieden – jenes Glied, das die Katastrophe erst herbeiführt, die man eigentlich vermeiden will.« »Dich und Livak so zu sehen, lässt darauf schließen, dass ihr beide eine Rolle dabei spielt, das Ganze zu einem guten Ausgang zu bringen.« Shiv deutete auf den wieder leblosen Edelstein. »Ich würde sagen, unsere vordringlichste Aufgabe besteht darin, alle zusammenzubringen, die wir in der Vision gesehen haben.« »Weißt du, wo sie ist?« »Sie ist bei ihrer Freundin Halice.« Shiv nickte und füllte die Krüge wieder auf. »Ich habe vergangene Nacht und heute per Weitsicht nach ihr gesucht, und auch nach dir. Daher wussten wir auch, welche Straße du genommen hattest.« 47
Natürlich: Diese Kniffe mit Zaubersprüchen und bunten Tinten ermöglichten es Shiv, andere Leute zu verfolgen, ohne dass diese es bemerkten. Wie lange hatte er meine Bewegungen schon verfolgt? Angesichts drängenderer Probleme schob ich die Frage beiseite. Shiv versuchte also, Livak zu finden – die Frau, die Aiten getötet und mir das Leben gerettet hatte, so wie ich ihr; eine geschickte Spielerin, listige Diebin und später meine Geliebte, als uns auf der Heimreise die Leidenschaft übermannte. Ich bin nicht der Mann, der dem erstbesten Rock verfällt, doch Livak war etwas Besonderes; sie war die erste Frau gewesen, der es in mehr als zehn Jahren gelungen war, die Verteidigungsmauern zu durchbrechen, die ich um mich herum errichtet hatte. Allein der Gedanke an ihre Leidenschaft ließ das Blut in meinen Lenden pulsieren. Was sollte ich ihr sagen? Was wollte ich von ihr? Und nicht zuletzt, wollte sie überhaupt etwas von mir außer einer lustvollen Zeit im Bett? Hoffnungen und Zweifel, die nichts mit meinen Pflichten zu tun hatten, rangen in mir um die Vorherrschaft. Ich strich mir mit der Hand über das unrasierte Kinn und verbannte den Gedanken. »Was muss ich sonst noch wissen?« Shiv zögerte, bevor er antwortete: »Die Elietimm haben vorgestern Nacht Viltreds Hütte angegriffen. Vielleicht war es nur Zufall; vielleicht sind sie mir aber auch dahin gefolgt.« Meine Nackenhaare sträubten sich bei der Vorstellung, dass meine und Messires Feinde unbehelligt auf unserer Seite des Meeres umherstreiften. »Was ist passiert?« »Sie haben ein paar Andenken gestohlen, die Viltred von seiner Reise mit Azazir mitgebracht hat, und die Hütte dann verbrannt. Wir konnten uns im Wald verstecken.« »Zum Glück warst du da, Shiv.« War es wirklich Glück gewe48
sen, oder hofften die Elietimm, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? »Sie haben die Gewürzstraße genommen.« Shiv trank einen Schluck. »Wir sind querfeldein marschiert, nachdem ich gesehen hatte, dass du den Fluss erreicht hast.« Ich hob die Hand. »Shiv, vergangenes Jahr war die Spur dieser Bastarde genauso schwer zu verfolgen wie ein Schiff im Sturm. Wie kannst du sicher sein?« »Wir haben nach den Gegenständen gesucht, die sie gestohlen haben; das hat uns ein paar Hinweise gegeben. Viltred hat sie seit über einer Generation in seinem Keller gehabt; unter normalen Umständen müsste er sie über den ganzen Golf von Caladhria hinweg finden können.« »Weißt du, wo die Elietimm sich derzeit aufhalten?« »Ich weiß nur, dass sie im Augenblick nicht nahe genug sind, um eine unmittelbare Bedrohung darzustellen.« Shivs Gesichtsausdruck verriet mir, dass er dies genauso unbefriedigend fand wie ich. »Wir wollen Livak und Halice finden, die Spur wieder aufnehmen, die Eisländer einholen und herausfinden, was sie im Schilde führen. Wir können auch versuchen, die gestohlenen Gegenstände zurückzuholen; dabei werden sich Livaks Fähigkeiten als nützlich erweisen.« Ich teilte seine Überzeugung nicht, dass Livak bereit wäre, ihm zu helfen. Tatsächlich hatte ich sogar den Eindruck gewonnen, dass sie von Diebstählen ein für alle mal die Nase voll hatte nach all dem Ärger, den es ihr eingebracht hatte, für Zauberer zu stehlen. Schon vergangenes Jahr hatte Shiv sie nur durch Erpressung so weit bringen können. »Wir können nicht sicher sein, dass diese Leute aus irgendeinem Grund nicht auch Viltred selbst haben wollen.« Ich runzel49
te die Stirn. »Ihn näher an sie heranzuführen, bedeutet, ihn größerer Gefahr auszusetzen. Gibt es keinen sichereren Ort, an den er gehen könnte?« »Du bist jetzt hier, um ihn zu beschützen.« Shiv vermied es, mir in die Augen zu blicken. »Der Erzmagier hält es für besser, wenn wir alle zusammenbleiben. Das alles hat mit dem Vorhaben zu tun, in das Planir nur einige Wenige mit einbezogen hat.« Ich blickte zu Viltred, und seine herabhängenden Mundwinkel verrieten mir, wie unglücklich er war. Wusste er etwas, das Shiv mir nicht erzählen wollte, oder litt er schlicht unter den Schmerzen in seinen Fingern? Hier gab es eine Menge unbeantworteter Fragen. Während ich meinen Krug leerte, rang ich ein ungewohntes Gefühl der Enttäuschung nieder. »Lasst uns euch beiden etwas zu essen besorgen und ein paar Pferde; dann machen wir uns wieder auf den Weg, um so weit wie möglich zu kommen, solange es hell ist.« Shiv mochte ja nur mit dem Hemd am Leib entkommen sein, aber darunter verbarg sich eine gut gefüllte Börse. Nachdem die beiden Zauberer Reittiere hatten, einen Schwarzen mit kräftigem Hals und einen stichelhaarigen Fuchs, kamen wir gut in Caladhria voran. Kräftige Freisassen pflügten die Felder voller Frühlingshoffnung – eine willkommene Abwechslung zu Lescar –, und überall sah man Haufen von Löschkalk, der als Dünger diente. Gutes Vieh graste auf sauber abgegrenzten Weiden, und die ersten Triebe des neuen Weizens zeigten sich bereits in der fruchtbaren, dunklen Erde. Sicherlich hätte mich dies alles tiefer beeindruckt, wäre ich nicht eines Nachmittags dabei gewesen, wie Messire seinem Neffen Camarl erklärt hatte, auf welche Weise die landwirtschaftlichen Fähigkeiten Caladhrias benutzt 50
wurden, Lescars Kriegsmaschine in Gang zu halten. Nur wenig von diesem Überfluss würde zu den armen Seelen gelangen, die ich auf der Straße von Marlier getroffen hatte. Gruppen von Bauern rodeten Wälder, und ich bemerkte die auffälligen Kopftücher der Frauen. »Das sind Lescari, stimmt’s?« Ich drehte mich zu Shiv um. Shiv nickte. »Lord Adrin lässt jeden Frühling ein paar herüber und gestattet ihnen, Land zu roden und sich zwischen der Flussstraße und dem Rel niederzulassen. Geht es ihnen gut, bekommt er Abgaben; kommen Plünderer über den Rel, haben seine Männer es meist ein wenig leichter.« Ich hoffte, dass der entschlossene Optimismus, den ich in den Gesichtern der Arbeitenden sah, belohnt würde. »Hat es in letzter Zeit viel Ärger gegeben?« »Nicht viel, und Lord Adrin ist äußerst wachsam.« Shiv stellte sich in den Steigbügeln auf und deutete auf die breiten Flügel einer weit entfernten Mühle. »Wenn die Mühlenflügel ein aufrecht stehendes Kreuz bilden, ist das ein Zeichen für die Miliz, dass Plünderer den Fluss überschritten haben. Den meisten Abschaum erschlagen sie sofort.« Ich nickte anerkennend. Ich würde Lord Adrin Messire gegenüber erwähnen müssen; dieser Mann verfügte über Verstand und besaß die Kontrolle über eine strategisch wichtige Brücke. Wir ritten, bis die zunehmende Dunkelheit uns zwang, nach einem Gasthof Ausschau zu halten. Da vom kleineren, abnehmenden Mond nur noch eine schmale Sichel übrig und der größere noch nicht einmal halb voll war, hatten wir nicht mehr genug Licht, um gefahrlos weiterreiten zu können. Viltred beschwerte sich kein einziges Mal, doch er sank immer mehr im Sattel zusammen; als wir schließlich hielten, war er kaum in 51
der Lage, sich aufzurichten. Shiv half ihm in unsere Schlafkammer, während ich mich in den Schankraum begab, um dem unterbeschäftigten Wirt ein paar scheinbar beiläufige Fragen zu stellen. Zu meiner Beruhigung erfuhr ich dabei, dass keine ungewöhnlich blonden Reisenden in der Gegend gesehen worden waren und dass Cotehalle, wo Shiv Halice zu finden hoffte, nur knapp einen halben Tagesritt entfernt lag. Schließlich nahm ich gähnend von der mütterlichen Wirtin einen warmen Heizstein entgegen in der Hoffnung, endlich einmal wieder besser schlafen zu können, als Arimelin mir in den letzten Tagen gewährt hatte. Ich hieß die Wärme auf meinen durchgefrorenen Händen willkommen und stieg auf Strümpfen die schmale Treppe hinauf; meine Stiefel hatte ich unter den Arm geklemmt. Shiv und Viltred schliefen bereits, als ich mich durch den schalen Duft abgetragener Stiefel und den frischen Geruch warmer Einreibemittel zum leeren Bett schlich. Es dauerte lange, bis ich eingeschlafen war. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich, wie die Eisländer das Machtzentrum von Tormalin verwüsteten.
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Ein großes Haus aus bleichen Steinen und voller leerer Echos
Es war ein kalter, klarer Morgen. Frost schimmerte in den Ecken des Hofes, wohin die frühwinterliche Sonne noch nicht gedrungen war, und die schwarzen Stängel einiger später Herbstblumen hingen verloren in einer antiken Urne. Der Pförtner eilte, das Läuten am Tor zu beantworten; er rieb sich die Hände, um die Kälte zu vertreiben, die im tiefen Schatten des Eingangs herrschte. Ein junger Mann betrat den Hof, angespannt und blass. Nervös spielte er an einem funkelnden Saphirring herum, doch war er gut genug erzogen, dass er nicht vergaß, den Diener mit einem knappen Nicken zu begrüßen. Seine glänzend polierten Stiefel hallten auf den Pflastersteinen wider, während er zum Haus schritt; offenbar brauchte er keinen Führer. Innen atmete Temar tief durch und überprüfte seine äußere Erscheinung in einem kleinen Spiegel im Vorzimmer. Das Gesicht, das er sah, stand in seltsamem Widerspruch zu den prächtigen Kleidern, die er trug. Schmal, mit hohen Wangenknochen und einem langen, spitzen Kinn passte es seiner Meinung nach mehr zu einer Rüstung oder der schlichten Kleidung eines Arbeiters. Auf jeden Fall hätte er sich in beidem wohler gefühlt; die ungewohnte, formelle Kleidung empfand er als beengend. Blaue Augen, so hell, dass sie beinahe farblos wirkten, schauten ihn unter dicken schwarzen Augenbrauen an. Die Schärfe ihres Blicks wurde noch von dem langen schwarzen Haar unterstrichen, das er im Nacken mit einer Spange zusam53
mengebunden hatte. So verlangte es die Mode, ob es Temar nun gefiel oder nicht. Temar richtete seinen Hemdkragen und wischte verärgert über einen Fleck auf seinem purpurroten Wams, bis er bemerkte, dass der Makel nicht auf seiner Kleidung, sondern auf dem Spiegelglas war. Vor ein paar Jahren hätte dieser Fehler ausgereicht, den Spiegel sofort in die Dienerquartiere zu schicken, sinnierte er. Diese Erkenntnis bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit, während er darauf wartete, zu seinem Großvater gerufen zu werden. Der alte Mann saß heute Morgen dem Haus D’Alsennin vor, doch es hatte nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher; heutzutage saßen keine Leibeigenen oder andere Abhängige mehr auf den polierten Bänken und hofften darauf, ihrem Patron Bitten vortragen oder ihre Dienste anbieten zu können. »Junker.« Der Kammerherr öffnete die Doppeltür mit einer weit ausholenden Bewegung; dabei gelang es ihm noch, den Eindruck zu erwecken, seine Anwesenheit wäre eine Ehre für Temar und nicht darauf zurückzuführen, dass es im Haushalt an Dienern mangelte, zum Beispiel einem Türlakaien. Temar verneigte sich höflich und betrat steif den Salon. Es war schon einige Zeit her, seit er zum letzten Mal hier gewesen war, und kurz zögerte er, als er das Fehlen der Statuen in den Nischen bemerkte und die von der Sonne ausgeblichenen Wandbehänge. In dem riesigen, offenen Kamin flackerte munter ein unzureichendes Feuerchen, das die eisige Atmosphäre eher noch verstärkte. »Temar. Schön, dich zu sehen.« Temars Großvater sah eindrucksvoll aus in seinem kastanienbraunen Samtgewand und auf dem uralten schwarzen Eichenstuhl, der die Empore am 54
anderen Ende des langen Raums beherrschte. Sein Haar war zwar grau und schütter und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen, doch seine Augen waren klar und wachsam. »Sieur.« Temar erwies seinem Großvater eine formelle Ehrerbietung, indem er sich auf ein Knie niederließ und den Kopf senkte. »Ist das ein offizieller Besuch?« In der Stimme des alten Mannes schwang ein Hauch von Belustigung mit. »In der Tat«, erwiderte Temar. Da er den Kopf gesenkt hielt, sah er die Verzweiflung nicht, die das Gesicht seines Großvaters noch älter erscheinen ließ. »Dann bring deine Petition vor.« Die Stimme des Sieur klang fest, sogar ein wenig streng. »Ich bitte Euch um die Erlaubnis, mit Messire Den Fellaemion segeln zu dürfen.« Um nicht über seine eigenen Worte zu stolpern, sprach Temar lauter, als er beabsichtigt hatte. Die Bitte hallte durch den Raum wie eine Forderung, und Temar zwang sich, ruhig zu bleiben; konzentriert blickte er auf die ockerund cremefarbenen Bodenfliesen. »Sprich weiter.« Der alte Mann klang niedergeschlagen. Wider besserer Absichten hob Temar den Kopf; für einen Augenblick war er verwirrt. »Erklärt Eure Gründe, Junker.« Der Sieur blickte ernst auf ihn hinunter. »Sagt mir, warum ich dem Letzten aus meiner Blutlinie gestatten sollte, sein Leben in einem unbekannten Land auf der anderen Seite des Meeres aufs Spiel zu setzen.« Temar atmete tief durch, bemühte sich allerdings, dies zu verbergen. Er hatte mit einer Diskussion gerechnet, ja, mit einem Streit; er hatte darauf gezählt, dass sein Großvater ihn zwingen würde, sich ihm zu widersetzen. 55
»Ich weiß, dass ich der letzte männliche Nachkomme des Hauses D’Alsennin bin, und ich respektiere meine Blutpflicht. Daher fällt mir die Aufgabe zu, den Besitz unserer Familie wiederherzustellen, sowohl, was Geld und Güter angeht, als auch die Achtung unter unseresgleichen. Da das Reich sich in den vergangenen Jahren immer mehr aus seinen Provinzen zurückgezogen hat, haben wir nach und nach viele Ländereien, Geld, Macht und Einfluss verloren. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass wir dies alles wiedererlangen; daher habe ich mich nach anderen Möglichkeiten umgeschaut, unserem Haus wieder zu alter Größe zu verhelfen.« Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. »Der Kaiser hat verkündet, dass eine Armee ausgehoben werden soll, um Lescar diesen selbst ernannten Herzögen zu entreißen.« Das Gesicht des alten Mannes war vollkommen ausdruckslos. Temar blickte ihn an. »Keines der Großen Häuser hat seine Männer auch nur zu einer der Aushebungen seit dem Jahreswechsel entsandt, Herr, und auch diesmal wird es sich nicht anders verhalten. Ich vertraue den Kommandanten der Kaiserlichen Kohorten ebenso sehr wie einem Rudel Straßenköter, und jeder Junker, der im vergangenen Jahr seinen Dienst abgeleistet hat, wird seinen Oberen das Gleiche erzählen. Ihr wisst so gut wie ich, dass Nemith der Tollkühne der letzte Kaiser seiner Linie sein wird. Wenn ich mir seine Vorliebe für Wein und Huren ansehe, wird er noch vor Ende der Jahreszeit tot und verbrannt sein.« Der Sieur legte leicht den Kopf zur Seite. »Das ist nur allzu wahr, und wenn der Fürstenrat zusammenkommt, um einen neuen Kaiser zu wählen, werden selbst die Herren der kleineren 56
Häuser genug finden, sich seiner Unterstützung zu versichern. Ich bin zu alt für diesen Tanz, und du kannst ihn nicht tanzen, wenn du eine halbe Welt entfernt bist.« Die Kälte des Fußbodens drang inzwischen bis in Temars Knie, und seine Schenkel drohten sich zu verkrampfen. Er schalt sich einen Narren, dass er diese formelle Haltung eingenommen hatte, und er versuchte, die Unannehmlichkeit zu ignorieren; dennoch machte sie sich in immer angespannteren Worten bemerkbar. »Wir sind nicht das einzige Haus, das unter dem Rückzug des Reiches leidet, Großvater. Warum sollte ich mich mit dem Eimer in die Schlange stellen und darauf warten, dass mir ein anderer Zugang zu dem rasch austrocknenden Brunnen gewährt? Messire Den Fellaemion erzählt von riesigen Ländern jenseits des Meeres, fruchtbar und frei für alle, dichte, endlose Wälder und Unmengen an Gold, Eisen und sogar Edelsteinen.« »Du klingst wie dein Freund Den Rannion.« Ein Hauch von Zorn lag in der Stimme des alten Mannes. »Sag, wie hoch sind die Spielschulden des Junkers inzwischen? Ich bin sicher, sein Vater wird alles Erdenkliche tun, um ihn an ein Ufer zu schicken, wo es weit und breit keine Spielhölle oder ein Bordell gibt, wenn auch nur, um seine eigene Börse zu retten!« Missverstand der alte Mann ihn mit Absicht? Das mochte ja sein, wie es wollte, Temar würde sich nicht zu einem Streit über Vahils jüngste Torheit verleiten lassen; er blickte seinem Großvater weiter unverwandt in die Augen. »Messire Fellaemion bietet jenen eine Passage an, die durch den Zusammenbruch der Provinzen ihren Besitz verloren haben. Er gibt ihnen die Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen, wenn sie ihm helfen, jenseits des Meeres ein zweites Reich aufzubauen.« 57
»Du willst also mit dem Abschaum der Heimat- und Landlosen im Dreck wühlen? Muss ich dir erst erklären, dass du nicht dazugehörst?« Der Sieur beugte sich vor und funkelte seinen Enkel vom Sitz seiner Ahnen herab an. Temar riss sich zusammen und setzte ein Gesicht auf, das kühl und vernünftig wirken sollte. »Messire Den Fellaemion sucht Männer mit Befehlserfahrung, um ihm mit den Kolonisten zu helfen und die Arbeiten aufeinander abzustimmen. Ich muss Euch sicher nicht daran erinnern, dass ich drei Jahre lang Eure Besitzungen in Dalasor zu Eurer vollsten Zufriedenheit verwaltet habe. Als das Bergvolk nach Süden über den Fluss vorgedrungen ist, habe ich meine Zeit in den Kohorten gedient, und nach nur einer Jahreszeit hat man mir ein eigenes Truppenkommando übertragen. Ich bin in der Lage, die Fähigkeiten, die ich erlerne, gut einzusetzen. Das wird man jenseits des Meeres anerkennen und mich entsprechend dafür belohnen. Ist das keine bessere Beschäftigung für einen Sohn der D’Alsennin, als sich bei Hofe herumzutreiben und um Gefälligkeiten zu betteln wie ein Hund um Knochen?« »Nicht wenn du dadurch an Leute wie die Messires Den Rannion und Den Fellaemion gebunden wirst. Wer oder was, glaubst du eigentlich, sind sie? Ich werde es dir sagen: ein alternder Visionär, der mit dem vergangenen Ruhm seiner Reise mit Nemith dem Seefahrer Geschäfte machen will, und ein Mann, der es seinem Haus heimzahlen möchte, weil man ihn bei der Wahl des neuen Sieur übergangen hat. Du könntest genauso gut versuchen, unser Vermögen wieder zu beschaffen, indem du das Tafelgeschirr einschmilzt und dein Glück bei den Bordellspielchen versuchst wie dieser Welpe der Den Rannion!« »Messire Den Rannion besitzt in der Tat ein gutes Auge fürs 58
Geschäft, Großvater.« Zum ersten Mal lag auch bei Temar ein Hauch von Zorn in der Stimme. »Er würde niemals den Gedanken unterstützen, eine neue Kolonie zu gründen, wenn er der Meinung wäre, es ließe sich nicht verwirklichen, oder es wäre nicht einträglich genug. Er beabsichtigt, selbst zu segeln – das hat er schon lange geplant, bevor sein Vater gestorben ist. Sein Bruder, der Sieur, unterstützt ihn darin voll und ganz.« »Mir scheint, dass seine Schulden in der Tat erdrückend sein müssen, wenn er sogar übers Meer fliehen will, nur um seinen Gläubigern zu entkommen! Nein, ich werde erst glauben, dass Den Rannion bereit ist, nicht nur sein Geld, sondern auch seinen Arsch zu riskieren, wenn ich es sehe. Glaubst du nicht, dass er bloß auf schnelles Geld aus ist, indem er den Leichtgläubigen etwas vorschwindelt? Nach dem, was ich gehört habe, muss er eine hübsche Summe aufbringen, will er mit Vahils Ausgaben Schritt halten.« Warum erwähnte der alte Mann immer wieder Vahil? Entsetzt erkannte Temar, dass sein Großvater kein echtes Gegenargument hatte und nur versuchte, die Diskussion zu beenden, indem er einen Streit vom Zaun brach. Er starrte den alten Mann an und blinzelte, als wäre das, war er sah, durch einen bösen Zauber verändert worden. Das war nicht mehr das beeindruckende Oberhaupt eines einst großen Hauses, keine herrschaftliche Gestalt, die das Leben vieler Menschen in Händen hielt und den einen freie Hand ließ, während sie andere an die Kandare nahm, um das Gleichgewicht im Gefolge zu bewahren – ja, es war nicht einmal mehr die unerschöpfliche Quelle des Trostes und der Sicherheit, auf die Temar sich stets verlassen hatte, als er viel zu rasch zu einem Mann herangewachsen war. Sein Großvater war nichts weiter ein sehr, sehr alter Mann, 59
müde und verängstigt. Seiner Söhne und der Zukunft seines Hauses beraubt, erwartete ihn ein einsames, ungewisses Greisenalter. Temar stand auf und verzog das Gesicht, während er sich die Knie rieb. Er setzte sich auf die Empore, wie er es so oft getan hatte, als es in der Halle von Leibeigenen und Untertanen nur so gewimmelt hatte, während seine Onkel den Sieur umkreisten, der sich um die verschiedenen Petitionen kümmerte. Temar machte es sich bequem und blickte zu seinem Großvater hinauf. »Ich will es wirklich, Großvater. Ich werde nie einen guten Höfling abgeben, der Gerüchte aufschnappt und versucht, sie zum eigenen Vorteil zu nutzen. Du kennst mich. Ich bin es gewöhnt, offen meine Meinung zu sagen; das hast du mich selbst gelehrt. Ich bin es leid, bei jeder Katastrophe von Neuem an Geld und Würde zu retten, was ich noch retten kann, wohl wissend, dass das Ganze wieder von vorn beginnt, sobald dem Kaiser eine neue, glorreiche Idee gekommen ist.« Der alte Mann rieb sich mit der Hand übers Gesicht; kurz trübten seine Augen sich vor Verzweiflung. »Das ist wohl allemal besser, als in den Tiefen des Meeres zu ertrinken, oder? Muss ich dich wirklich daran erinnern, wie viele Schiffe mit Nemith dem Seefahrer in See gestochen und nie zurückgekehrt sind?« »Messire Den Fellaemion ist wieder zurückgekehrt, Großvater, und seitdem hat er die Überfahrt schon mehrere Male gemacht. Ich vertraue ihm.« Temar versuchte, den Tadel aus seiner Stimme fern zu halten – ohne Erfolg. »Was soll das heißen?« In den Augen des Sieurs flackerte wieder das alte Feuer auf. »Du vertraust ihm? Du siehst eine bessere Zukunft darin, ihm hinterher zu laufen, anstatt deine 60
eigenen Leute zu führen? Willst du vielleicht auch noch deinen Namen ablegen und den seinen annehmen?« Temar sprang auf und vergaß seinen Vorsatz, Demut zu zeigen. »Ich kümmere mich sehr wohl um die Zukunft meines Namens, Messire. Meine Söhne und Enkel sollen meine Asche in Ehren halten und das Erbe segnen, das ich ihnen hinterlassen werde.« Unbewusst ballte er die Fäuste und spürte, wie der Ring seines Vaters sich in sein Fleisch drückte. »Und was gedenkst du mit meiner Graburne anzufangen? Willst du sie als Türstopper verwenden? Undankbarer Hund!« Der Sieur hob seine von Gicht verkrümmte Hand und hätte Temar beinahe geschlagen. »Ist es meine Schuld, dass die Söhne meines Hauses von den Pocken dahingerafft wurden, und dass ein pockenzerfressener Hurensohn dann unsere Länder verschissen hat, als er seinem wahnsinnigen Ehrgeiz hinterher jagte?« Temar öffnete den Mund, um im gleichen Tonfall etwas zu erwidern – das typische Verhalten bei Streitereien im Haus D’Alsennin –, doch irgendetwas im Gesicht seines Großvaters hielt ihn davon ab. Tiefer Kummer verbarg sich hinter dem Zorn in den Augen des alten Mannes; es schien sinnlos, diese Auseinandersetzung fortzuführen. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Großvater. Ich habe es nicht so gemeint – jedenfalls nicht so, wie es sich angehört hat. Ich weiß sehr wohl, dass unser Haus schon seit Jahren zu Staub zerfallen wäre, hättest du es nicht bewahrt.« Was immer der alte Mann darauf erwidern wollte, es ging in einem Hustenkrampf unter, und Temar schaute sich nach Wasser oder Wein um. »Lass es.« Der Sieur holte eine Handglocke aus den Falten 61
seiner Robe hervor, und ihr silberheller Klang ließ den Kammerherrn herbeieilen. »Ich werde über Eure Bitte nachdenken, Junker.« Der alte Mann kämpfte den Hustenanfall nieder und blickte zu Temar hinauf. Sein Gesicht war rot vor Erregung – so wirkte es zumindest ein wenig gesünder. »Ich muss mich noch um andere Dinge kümmern. Es sei Euch gestattet, mich vor dem Abendessen in meinem Arbeitszimmer aufzusuchen.« Das Aufstehen bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten; dennoch winkte er den Kammerherrn, der ihm rasch zu Hilfe eilen wollte, verärgert zur Seite. Temar blickte seinem Großvater hinterher. Er wusste nicht, ob das Verhalten des alten Mannes ihn ärgerte oder ihm eher Sorgen bereitete. Um welche anderen Dinge hatte er sich denn noch zu kümmern? Vermutlich hatte er die Entscheidung nur hinausgeschoben, um ein Nickerchen zu machen. Nun, Temar hatte nicht die Absicht, hier den ganzen Nachmittag herumzuhängen. Mit der für ihn typischen Schnelligkeit fasste er seinen Entschluss, marschierte rasch aus dem Raum und schlug die prunkvollen Türen mit solcher Wucht zu, dass der Rauch des kleinen Feuers aufwirbelte und die Funken stoben. Die Nägel unter seinen Sohlen knallten wütend auf den Steinstufen, als er über die Hintertreppe in die Küche hinabstieg. »Temar, mein Küken, wie schön, dich zu sehen.« Eine schlanke Frau in sauberer, wenn auch ausgeblichener Livree lugte hinter einer Schranktür hervor, einen Krug mit Gewürzen in der Hand. »Jetta! Ich bin froh, dich noch hier zu finden.« Temar versuchte, gelassen zu klingen, doch es gelang ihm nicht. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, starrte mürrisch auf die Weizenkör62
ner auf dem blank geschrubbten Küchentisch und begann, damit herumzuspielen. »Ich hatte schon geglaubt, alles und jeder wäre verkauft oder zum Packen geschickt worden.« »Vermutlich kommt es dir oben ein wenig kahl vor, nicht wahr?« Jettas spöttischer Tonfall ließ Temar erstaunt aufblicken. »Würde ich es nicht besser wissen, ich würde sagen, wir hätten die Eintreiber eines Geldverleihers im Haus gehabt«, antwortete Temar bitter. »Was hat der alte Narr getan? Hat er sich von einem Alchemisten Tränke brauen lassen? Hofft er vielleicht, auf diese Weise an eine gebärfreudige Kuh zu kommen, die ihm einen besseren Erben gebiert?« »Er hat den Rest seiner Pächter und Leibeigenen mit Unterkunft und Nahrung versorgt, junger Mann.« Jettas Augen leuchteten, und nicht nur vor Leidenschaft. »Der Sieur vergisst die Pflichten seines Hauses nie.« »Glaubst du, das gilt nicht auch für mich? Fang bloß nicht an, mir die Schuld zu geben«, sagte Temar schroff. »Ich habe während beider Hälften des Sommers gearbeitet, um dem Rest unserer Güter so etwas wie Einkünfte abzuringen. Es wäre leichter gewesen, Schweine zu melken, um Käse zu machen, und vermutlich wäre mehr dabei herumgekommen! Warum, glaubst du wohl, war ich schon so lange nicht mehr hier?« »Spring mir nicht ins Gesicht, nur weil du dich schuldig fühlst, junger Mann. Ich habe dich schon übers Knie gelegt, als du noch durchs Haus getollt bist wie ein Welpe, und ich werde es wieder tun, sollte es notwendig sein.« Jettas Lächeln strafte ihre Worte Lügen, und sie stellte einen Teller mit Gebäck vor Temar. »Danke.« Er griff sich ein Stück und fühlte sich unerklärli63
cherweise schon viel wohler. »Wirst du hier zu Abend essen?« Jetta schloss den Schrank und ging zum Herd, um einen Kessel übers Feuer zu hängen. »Es sieht so aus. Großvater hat mir befohlen, ihn vorher in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen.« Temars Sarkasmus hatte deutlich an Schärfe verloren. Jetta schnaufte. »Was hast du ihm denn gesagt, dass er sich so aufgeregt hat?« »Woher weißt du, dass er sich aufgeregt hat?« Auf Temars Gesicht mischten sich Entrüstung mit Schuldgefühlen. »Warum sonst sollte Master Othneil nach einem Maiglöckchensud schicken?« Jetta deutete auf die offene Klappe des Speisenaufzugs in einer Ecke des Raums. »Ist er krank?« Temar versuchte, die Übelkeit zu unterdrücken, die ihm der Gedanke verursachte. »Nicht kränker als andere Männer in seinem Alter; aber dieses Jahr hat sein Winterhusten ungewöhnlich früh begonnen, und er verbringt viel Zeit in seinem Arbeitszimmer und ist viel zu selten in seinem Bett.« So viel zu der Vorstellung, dass Temars Großvater nichts zu tun hatte. Verärgert zog Temar eine neue, polierte Silberklammer aus seinem Haar; er wusste nicht, was er sagen sollte. »Nun, wie geht es deiner Mutter?« Jetta füllte ein paar Becher mit heißem Wasser. »Es geht ihr sehr gut, danke.« Ein liebevolles Lächeln erhellte Temars Gesicht. »Sie lässt ihr Haar für einen Hochzeitszopf wachsen.« »Wirklich?« Jetta hielt in ihrer Arbeit inne und lächelte ebenfalls. »Und wer wird ihn abschneiden und auf Drianons Altar legen?« 64
»Er heißt Rian Tor Aider. Sagt dir der Name etwas?« Jetta runzelte die Stirn. »Er handelt mit Wolle, glaube ich. Hat seine Familie nicht Schafsherden in den Bergen an der Straße nach Bremilayne?« »Genau.« Temar nickte. »Sie sind schon seit ein paar Jahren befreundet, und jetzt hat er sie endlich davon überzeugt, ihn zu heiraten. Ich freue mich sehr – für ihn und für sie. Er ist ein guter Mann, und ich weiß, dass er sie glücklich machen wird.« »Ich werde eine Schleife an Drianons Tür binden, um ihr Glück zu wünschen. Sie hat es wirklich verdient, glücklich zu werden.« Jetta erinnerte sich daran, womit sie im Augenblick beschäftigt war; sie band duftende Kräuter in ein Musselintuch und legte das Bündel dann in einen Becher mit heißem Wasser. »Hast du es dem Sieur schon gesagt?« »Noch nicht.« Temar rührte mit dem Löffel in seinem Tee. »Ich halte es für das Beste, würde sie es ihm selber sagen, aber sie ist in seinem Beisein immer so nervös. Sie fürchtet, dass er glauben könnte, sie würde Vaters Andenken und den Namen D’Alsennin verraten.« »Unsinn!« Jetta schüttelte energisch den Kopf. »Er wird sich für sie freuen, und ich weiß, dass dein Vater nie gewollt hätte, dass sie so lange Witwe bleibt, nicht nachdem sie das Trauerjahr in Obhut des Sieur hinter sich gebracht hat.« Temar fischte das Kräuterbündel aus seinem Becher und nippte vorsichtig an dem dampfenden Getränk. »Das habe ich ihr auch gesagt.« Er starrte ins Feuer. »Ich wünschte, ich wüsste, welchen Rat er mir gegeben hätte ... Vater, meine ich.« »Rat wozu?« Jetta legte die Hand auf Temars. »Ich möchte mich Messire Den Fellaemions Kolonie anschließen.« 65
Jetta starrte ihn an. »Bist du deswegen hergekommen? Um deinem Großvater das zu sagen?« Temar nickte. »Ich muss etwas tun, Jetta, sonst werde ich noch wahnsinnig. Die Dinge werden immer schlimmer, und ich will verflucht sein, bevor ich mich den anderen Aasgeiern anschließe, die sich auf den Kadaver des Imperiums stürzen.« »Du klingst mehr wie dein Onkel Arvil als wie dein Vater.« Jetta blinzelte die unwillkürliche Erinnerung fort. »Was, glaubst du, hätte mein Vater getan?« Temar blickte ihr in die blassen Augen. »Er hätte getan, was er für das Haus als richtig erachtet hätte.« Jetta packte Temars Hand. »Doch es hätte auch für ihn richtig sein müssen.« Temar seufzte. »Manchmal frage ich mich, ob ich einfach nur einen Ort suche, wo ich mich verkriechen kann – vor allem vor meiner Pflicht.« »Es ist hart, der Einzige zu sein, der den Namen eines solchen Hauses weitertragen kann«, tröstete ihn Jetta. »Weißt du, wenn dein Großvater in die Anderwelt übergeht, wird es nicht Saedrin sein, der die Fragen stellt, bevor er die Schwelle überschreitet. Der Sieur wird ein paar Antworten haben wollen, zum Beispiel, wozu diese verdammte Pest überhaupt gut war. Und es werden gute Antworten sein müssen!« Temar lächelte. »Glaubst du, der alte Mann wird auch von Poldrion eine freie Überfahrt verlangen, weil schon so viele seines Hauses mit dieser Fähre gefahren sind?« »Das könnte ich mir durchaus vorstellen.« Jetta lachte. »Nun, wenn du schon zum Abendessen bleibst, kannst du dich auch nützlich machen. Geh und hol etwas Meereskohle aus dem Hof; dann kannst du mit dem Gemüse anfangen.« 66
Temar verneigte sich theatralisch. »Sofort, Herrin.« Etwas Nützliches zu tun, half Temar, sich zu entspannen. Beinahe gelang es ihm, alle Gedanken an die Zukunft beiseite zu schieben, an Pflicht und Konflikt, während er die Erde aus dem letzten Herbstgemüse wusch. Das Läuten einer Glocke hoch oben im Haus erschreckte ihn, und reumütig blickte er zu Jetta. »Ich glaube, der Ruf galt mir.« Jetta trat um den Tisch herum und wischte Temar die Hände mit einem Tuch ab, als wäre er noch immer ein Kind. »Lass dich von ihm nicht aufs Kreuz legen; du weißt, wie er ist. Wenn du dir deiner Sache sicher bist, wird er es schlussendlich akzeptieren müssen.« Das ist leicht gesagt, dachte Temar, während er die schmale Treppe hinaufstieg, die zu den formellen Räumen des Hauses führte. Wie oft hatte ein Mann, der den Namen D’Alsennin trug, einfach so nachgegeben? Ungefähr so oft, wie eine Hündin Kätzchen wirft, beantwortete Temar sich seine Frage selbst. Er erinnerte sich an die Haarspange in seiner Tasche und dass er sich sein Haar wieder zurückbinden sollte, bevor er das Arbeitszimmer seines Großvaters erreichte. Kurz blieb er stehen und betrachtete das schimmernde Silber, aus dem die Spange bestand, und er dachte darüber nach, wie lange es wohl gedauert hatte, die fein ziselierten Blätter aus dem Metall zu arbeiten. Temar seufzte und erinnerte sich daran, wie das Kerzenlicht die Spange stets zum Funkeln gebracht hatte, wann immer sein Vater sich nach einem letzten Gute-Nacht-Besuch bei seinen Kindern der Tür zugewandt hatte. Nun, seinen Vater konnte Temar nicht mehr um Rat fragen; also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst und seinem Namen treu zu bleiben. 67
Er klopfte an die schwarze Tür und straffte die Schultern. »Herein.« Die Stimme seines Großvaters klang fest, und Temar sah, dass das Gesicht des alten Mannes entschlossen, aber auch ruhiger war. Temar schloss die Tür und setzte sich seinem Großvater gegenüber. Er versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken, während er sich fragte, welche Rolle all die Bücher und Schriftrollen auf dem Schreibtisch bei ihrer Diskussion spielen würden. »Ich habe über deine Petition nachgedacht«, begann der Sieur formell. »Solange du der einzige Erbe meines Hauses bist, ist es meine vorrangigste Aufgabe, die Zukunft unseres Namens zu sichern und dich somit vor allem Schaden zu bewahren. Nichtsdestotrotz ist mir durchaus klar, dass ich auch Rücksicht auf deine Wünsche und Bedürfnisse nehmen muss.« Er hielt kurz inne. Temar schwieg und versuchte, so aufmerksam und respektvoll wie möglich dreinzublicken. »Ich sehe keinen Vorteil darin, wenn du dich Den Fellaemion anschließt und allein den Ozean überquerst.« Die Augen des alten Mannes funkelten herausfordernd, während er einen Schluck Wein trank, doch Temar weigerte sich, nach dem Köder zu schnappen; stattdessen schwieg er weiter und rührte sich nicht. Der Sieur schnaufte und stellte sein Glas in den Silberhalter zurück. »Nichtsdestoweniger liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass uns diese Länder jenseits des Meeres Rang und Güter bieten, die jene zu ersetzen vermögen, welche wir in den vergangenen Jahren verloren haben. Das kann ich nicht einfach ignorieren. Daher habe ich beschlossen, dir die Teilnahme an diesem Unternehmen zu gestatten – unter bestimmten Bedingungen. Solltest du mit diesen Bedingungen einverstanden sein, 68
fährst du mit meinem Segen.« »Wie lauten Eure Bedingungen, Messire?«, erkundigte Temar sich höflich, wobei er sich bemühte, sich seine Erleichterung und Freude nicht anmerken zu lassen. »Viele unserer Pächter haben ihre Pacht verloren, und jene, die noch auf unserem Land leben, leiden unter den gegenwärtigen Spannungen.« Der alte Mann begann, Pergamente vor Temar auszulegen. »Du musst dir die Zahlen anschauen, um das ganze Ausmaß zu begreifen.« Temar biss die Zähne zusammen, um seinen Großvater nicht daran zu erinnern, dass er es gewesen war, der diese Zahlen zusammengestellt hatte; stattdessen betrachtete er pflichtbewusst die Stellen, auf die der alte Mann deutete. »Siehst du? Hier und hier? Vergleich einmal diese Zahlen mit jenen vom vergangenen Jahr.« Der Sieur lehnte sich zurück. »Das sind alles gute Leute, die schuldlos leiden, und wenn du wirklich deine Pflichten gegenüber den von dir Abhängigen erfüllen willst, solltest du ihnen die Möglichkeit geben, dich auf dieser Queste zu begleiten.« Temar starrte seinen Großvater mit weit aufgerissenen Augen an. Was immer er erwartet haben mochte – damit hatte er nicht gerechnet. »Wir können die Mittel aufbringen, um ein paar Schiffe zu kaufen, und mit ein wenig Einfallsreichtum können wir sie mit Erzeugnissen unserer eigenen Besitzungen ausrüsten.« Der Sieur holte eine gerade erst erstellte Liste hervor. »Ich möchte, dass du dir das einmal anschaust. Vielleicht fällt dir ja etwas auf, was ich vergessen habe.« Stumm nahm Temar das Pergament entgegen; dann lächelte er. 69
Der alten Mann erwiderte das Lächeln, was ihn eine ganze Generation jünger erscheinen ließ. Temar blickte von der Liste auf. »Du schlägst vor, dass wir bei dem Unternehmen eine Hauptrolle spielen sollen. Wie das wohl Den Rannion und Den Fellaemion aufnehmen werden?« »Das ist dein Problem, mein Junge. Wenn du es wirklich tun willst, dann tu es auf eine Art, die deinem Haus zugute kommt, sonst lass es.« Temar fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Spange hatte er vergessen, und so zuckte er unwillkürlich zusammen, als sie an seinen Haaren zerrte. »Ich akzeptiere Eure Bedingungen, Messire«, erklärte er schließlich und fragte sich, worauf er sich da wohl eingelassen hatte. »Guter Junge. Ich wusste, dass du zur Vernunft kommst.« Der Sieur stand auf und schenkte ihnen beiden Wein ein. Temar nippte geistesabwesend am Glas; noch immer versuchte er, einen Sinn in diese neue Situation zu bringen. Dann hielt er plötzlich inne und betrachtete das Glas aufmerksam. »Das ist ein Califeria-Jahrgang, nicht wahr?« »Der letzte Jahrgang vor dem Ausbruch der Pocken.« Sein Großvater nickte; sichtlich genoss er das rubinrote Getränk. »Es ist die letzte Flasche. Der Anlass schien mir angemessen.« Temar wusste nicht, was er sagen sollte; also trank er stattdessen den Wein. »Ich habe noch etwas für dich. Nun ist die Zeit, da du es bekommen solltest.« Der alte Mann stellte sein Glas beiseite und ging rasch zu einer langen Truhe. Dort zog er seine Halskette aus, an der ein kleiner Schlüsselring hing, und schloss die Truhe auf. Dann brachte er einen langen, in Leinen gewickelten 70
Gegenstand zum Schreibtisch und schob achtlos Pergamente herunter, um Platz zu schaffen. »Das ist das Schwert, das ich für deinen Onkel Arvil habe fertigen lassen. Ich dachte stets, er würde der nächste Sieur D’Alsennin sein, wenn die Zeit gekommen ist, dass ich abtrete.« Der alte Mann öffnete die Leinenbänder mit steifen Fingern, winkte jedoch ab, als Temar ihm seine Hilfe anbot. »Das geht schon.« Schließlich schlug der das Tuch beiseite und enthüllte eine dunkelgrüne Scheide. Das Stichblatt des Schwertes war voller eleganter und komplizierter Gravuren; das Heft war hervorragend gearbeitet, allerdings wesentlich praktischer. Das war keine Zierwaffe. Als der Sieur die Klinge aus der Scheide zog, glänzte sie hell und makellos; ein graviertes Blättergeflecht zierte sie auf ganzer Länge. »Hier.« Temar nahm das Schwert, und sofort spürte er, wie gut es in der Hand lag. »Das ist wundervoll, Großvater«, stieß er hervor, während er vorsichtig ein paar Bewegungen mit der Waffe vollführte. »Das sollte es auch sein, wenn ich bedenke, was es mich gekostet hat«, schnaufte der alte Mann. »Dass du mir in den Wäldern da drüben kein Holz damit hackst!« »Wohl kaum!« Temar lachte. Dann war er plötzlich wieder ernst. »Dieses Geschenk ist eines Fürsten würdig, Messire. Ich kann Euch nicht genug dafür danken.« »Mach diese Expedition zu einem Erfolg, verschaff unseren Pächtern ein neues Leben und unserem Haus eine neue Zukunft. Das ist aller Dank, den ich von dir verlange.« Der alte Mann blickte Temar tief in die Augen. Für einen Moment stan71
den sie so einander gegenüber; die Last der Pflicht und die Unsicherheit der Zukunft rief eine schier unerträgliche Spannung im Raum hervor. Ein heller Glockenton erscholl im Gang, und der Zauber war gebrochen. »Du solltest dir übrigens Gedanken über die nächste Generation machen. Ist es nicht an der Zeit, dass du ein Auge auf ein Mädchen wirfst? Du kannst dir die Vorlieben deines Onkels Sinei nicht leisten, weißt du?« Temar lachte über den Scherz seines Großvaters und folgte ihm ins Speisezimmer.
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Hügelcote, Lord Adrins Lehen, Caladhria 11. Nachfrühling
Als ich aus einem unruhigen Schlaf voller verschwommener Träume von sich streitenden Menschen erwachte, mischten diese nebelhaften Erinnerungen sich mit dem grauen Licht, das durch die Fensterläden drang. Ich sagte mir, dass es sinnlos sei, im Bett zu bleiben; die unterschiedlichsten Fragen huschten in meinem Kopf umher wie die Ratten, die ich auf dem Dachboden über mir hören konnte. Außerdem hätte ich ohnehin nicht wieder einschlafen können – Shiv, auf der anderen Seite des Raumes, schnarchte so laut wie eine ganze Ferkelherde. Die Morgenluft, die durch Ritzen im Fensterrahmen drang, war feucht und kalt. Ich schauderte ob der Berührung des kalten Leinens auf meiner Haut und zog rasch Hose und Wams über. Nebenbei fragte ich mich, wie es mir wohl gelungen war, dass ich mir die ganze Nacht kein einziges Mal den Kopf an den niedrigen Balken gestoßen hatte. Dann schnappte ich mir die Stiefel und ging leise auf Strümpfen an dem reglosen Deckenbündel vorbei, das Viltred war. Beim Frühstück im Schankraum trug ich noch immer nur meine Strümpfe, als schließlich auch Shiv herunterkam und sich zu mir gesellte. »Ich wünschte, ich hätte auch daran gedacht. Ich hasse feuchte Stiefel«, sagte er und deutete auf mein Schuhwerk, das am Kamin trocknete. »Jeder Soldat weiß um die Wichtigkeit trockener Füße.« Ich zuckte mit den Schultern, und Shiv besorgte sich etwas Brot 73
und Fleisch. »Ansonsten braucht er vor allem noch Informationen. Du hast mir noch einiges verschwiegen, Shiv.« »Es gibt kaum mehr als das, was ich dir gesagt habe, ich schwöre ... jedenfalls nichts, was ich mit Sicherheit weiß.« Shiv seufzte. »Das hier hätte eigentlich eine kurze Reise werden sollen, um herauszufinden, ob Viltred irgendetwas Nützliches weiß, worauf Planir seine Gelehrten ansetzen könnte.« Ich fragte mich, was genau er damit meinte, doch bevor ich ihn dazu befragen konnte, musste ich laut gähnen. »Müde?« Shiv wirkte besorgt. Ich nickte. »Seit der Sonnenwende habe ich nicht mehr richtig geschlafen.« »Die Wirtin hat eine ziemlich gut ausgestattete Tränketruhe«, sagte Shiv zaghaft. »Viltred mischt sich auch grad was zusammen.« »Nein«, erwiderte ich höflich. »Nein, danke.« Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich mit Thassinkauen angefangen, um irgendetwas zwischen mich und den erstickenden Schmerz zu bekommen. Die Tatsache, dass ich jung, arrogant und überzeugt gewesen war, nur Mengen zu mir zu nehmen, die keine Abhängigkeit hervorriefen, hatte mir eine Gewohnheit beschert, die abzulegen mich zwei Jahreszeiten mit ständigen Schweißausbrüchen und unstillbarem Durst gekostet hatte. Ich will nicht das Wagnis eingehen, noch einmal Geschmack an so etwas zu entwickeln. Shiv schien ein wenig beleidigt zu sein; also wechselte ich zu einem unverfänglicheren Thema. »Warum besteht Viltred eigentlich darauf, dich Shiwalan zu nennen?« Er verzog das Gesicht. »Das weiß Saedrin allein. Die Letzte, 74
die mich so genannt hat, war meine Mutter, und immer wenn er mich bei dem Namen ruft, habe ich das Gefühl, als würde ich noch immer darauf warten, meinen ersten Bart abzurasieren und auf Misaens Altar zu legen. Da fällt mir ein ... Mein ehrenwerter Kollege wünschte heißes Wasser für seinen Trunk.« Ich wusste nicht, was Viltred in seinen Morgentrunk tat, aber es musste etwas äußerst Wirksames sein, denn der alte Zauberer saß weit schneller im Sattel, als ich erwartet hatte. Nach einer trockenen Nacht waren die Straßen nun merklich besser, und wir ritten in strammem Tempo durch den aufklarenden Dunst eines hellen Morgens. »Dort sollten wir Halice finden«, verkündete Shiv nach einer Weile, als wir einen Baum bewachsenen Hügel überquerten. Fest gebaute Steinhäuser, jedes mit einem kleinen, ordentlich bestellten Stück Land, standen ohne erkennbare Ordnung um den Marktplatz und den Schrein herum verstreut. Die Leute gingen ihren Geschäften nach und würdigten uns kaum eines Blickes. Shiv führte uns über eine Seitenstraße zu einem typischen Langhaus, dessen dicke Wände unter einem tief herabhängenden, dicht mit Moos bewachsenen Reetdach verborgen waren. Eine stämmige Frau in einem guten braunen Wollkleid über ungebleichtem Leinen schöpfte Wasser aus einem Brunnen; als wir anhielten, blickte sie uns herausfordernd an. Sie legte ihre muskulösen Arme auf den Eimer, und ich bemerkte ein schwaches Muster silbriger Narben an ihren Fingerknöcheln und Unterarmen. Eine Bäuerin mochte ja solche Muskeln haben, doch ich bezweifelte, dass sie so viele Schwertnarben hatte wie diese Frau. Außerdem war diese »Bäuerin« die erste Frau ohne Kopftuch oder Haube, die ich heute gesehen hatte; ihr graubraunes Haar war kurz geschnitten. 75
»Kann ich euch behilflich sein?« Shiv verneigte sich. »Bist du Halice?« Die Frau blickte uns ernst an. Ihre dunklen Augen schimmerten in ihrem grobknochigen Gesicht. »Wer will das wissen?« »Shiv Ralsere. Ich suche nach Livak.« Kurz war bei diesen Worten ein Flackern in den Augen der Frau zu erkennen, doch ich wusste nicht, was es zu bedeuten hatte. »Sie wird dich nicht sehen wollen, Zauberer«, sagte Halice ruhig und nüchtern. »Ich lasse es drauf ankommen.« Shiv lächelte sie bezaubernd an, doch ich sah, dass Halice ebenso sehr davon beeindruckt war wie ich. Ich wusste, welchen Typ Shiv normalerweise bevorzugte: Kneipenschläger mit Armen so dick wie meine Schenkel und Dreitagebart. Er griff hinter sich und holte eine Flasche aus seiner Satteltasche. »Ich glaube mich zu erinnern, dass Livak einmal gesagt hat, du hättest eine Schwäche für dalasorianischen Wein.« Die Frau konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken. »Wenn ihr schon einmal hier seid, könnt ihr mit uns essen. Ich kann eine Henne entbehren, die nicht mehr legt. Stellt eure Pferde in den Kuhstall. Livak ist zum Hof da unten; sie wird gleich wieder zurück sein.« Halice griff nach einer Krücke, die unsichtbar an der anderen Seite des Brunnens gelehnt hatte. Ich sah, dass ihr Rock auf einer Seite bis knapp zum Fußgelenk reichte; der andere Fuß jedoch war kaum zu sehen. Er war verdreht, da ihr schlimm gebrochenes Bein schlecht verheilt war. Ich stieg vom Pferd und warf Shiv die Zügel zu. »Lass mich das nehmen.« 76
Halice blieb stehen, musterte mich und gab mir den Wassereimer. Dann ließ sie ihren Blick über die Hühner schweifen, die auf dem Hof umher liefen, und schnappte sich eins. »Könnt ihr Zauberer euer Essen auch selbst rupfen und ausnehmen?« Mit geübter Geschicklichkeit drehte sie dem Huhn den Hals um. Viltred starrte sie entrüstet an, doch sie kehrte ihm den Rücken zu und humpelte zu dem Langhaus, wo ein breiter Durchgang den Stall vom eigentlichen Wohnhaus trennte. Ich reichte das Wasser an Shiv weiter. »Ich werde mich um die Pferde kümmern.« Im Stall roch es nach Vieh, aber auch nach Pferden, die erst vor kurzem hier gewesen waren. Außerdem lag Heu zum Füttern bereit, sowie ein Sack Hafer, und der Boden war mit frischem Stroh eingestreut. Ich fragte mich, was Livak und Halice den Winter über wohl ausgeheckt hatten. Ich ordnete gerade das Geschirr, als Shiv erschien. »Geht es Viltred gut?« »Jetzt ja, da er neben einem warmen Herd sitzen kann. Diese Halice kann man sehr schwer einschätzen, was meinst du?« Reumütig schüttelte er den Kopf. »Soweit ich es beurteilen kann, ist sie verdammt hart im Nehmen. Sie will kein Mitleid.« Ich warf mir die Satteltasche über die Schulter. »Hat sie früher nicht als Söldnerin in Lescar gekämpft?« »Zumindest hat Livak mir das erzählt.« Shiv schnappte sich seinen neuen Rucksack. »Und sie hat auch gesagt, Halices größter Vorteil bestehe darin, dass die Leute sie anschauen und sofort für die dümmere Schwester des Dorftrottels halten.« 77
Ich lächelte. »Kann ich nachvollziehen. Wie hat sie sich das Bein gebrochen?« »Sie ist auf einer unebenen Straße schlimm vom Pferd gestürzt.« Shiv verzog mitfühlend das Gesicht. »Sie kann von Glück sagen, dass sie das Bein behalten hat.« Ich wollte gerade etwas darauf erwidern, als Halice in der Tür erschien. Wir zuckten unwillkürlich zusammen wie zwei Lehrlinge, die man beim Faulenzen erwischt hat. Behinderung hin oder her – Halice konnte sich noch immer sehr leise bewegen. »Da vorne liegt Holz, das gehackt werden will.« »Ich geh schon.« Shiv versuchte ein freundliches Lächeln, als er sich die gut geschliffene Axt schnappte, und ich folgte ihm hinaus auf die Rückseite des Hauses. Als Shiv sich das Hemd auszog und sich gekonnt an einem Stapel Holz zu schaffen machte, bemerkte ich einen Ausdruck der Überraschung auf Halices Gesicht; doch sofort erinnerte sie sich daran, dass ich auch noch da war, und ihr Gesicht wurde wieder ausdruckslos. Ich legte die Holzscheite in einen Korb. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir und drehte mich um. »Livak!« Shiv begrüßte sie warmherzig und stützte sich auf seine Axt. Livak blieb stehen, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ich gönnte mir das Vergnügen und betrachtete bewundernd, wie das eng geschnittene Wams sich über ihrem Busen spannte. Livak war ein wenig dünner als das letzte Mal, da ich sie gesehen hatte, und ihr rotes Haar war länger und zu einem Zopf geflochten. Es betonte die grünen Augen in ihrem blassen Gesicht – und das wiederum brachte das Waldblut ihres Vaters deutlicher zur Geltung, als ich in Erinnerung hatte. Sie trug 78
einen Quarkkäse in einem Leinenbeutel. »Hallo, Shiv. Gab es keinen anderen, den du hättest belästigen können?« Sie stapfte in die heimelige Wärme der mit Pflastersteinen ausgelegten Küche, wo Viltred verschlafen hockte, den Bart auf die Brust gelegt. Erschrocken zuckte er beim Geräusch der Tür hoch, und sein Gesicht leuchtete vor Neugier beim Anblick dieser kühnen Frau in ihrer gelbbraunen Hose. Livak beachtete ihn gar nicht. »Drianon rette mich, Shiv! Die Art von Aufregung, die du mitbringst, kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen«, knurrte sie; doch als sie sich umdrehte, warf sie mir ein rasches Lächeln zu, das mir einen warmen Schauder durch den Körper jagte wie ein kräftiger Schluck Schnaps. Als Halice vom großen Herdfeuer an der gegenüberliegenden Wand zurückkehrte, sah ich Livak fragend eine Augenbraue heben, doch Halice antwortete ihr lediglich dadurch, indem sie kurz die Lippen aufeinander presste. Ich fragte mich, wie viel Wert Livak auf Halices Meinung legte. »Nun, was hast du den Winter über so angestellt?« Shiv stapelte das Feuerholz. »Was immer du willst, Shiv, du hast auf die falschen Runen gesetzt«, warnte ihn Livak. »Ich nehme an, du warst in letzter Zeit mal auf der anderen Seite der Grenze, hm?« Shivs Tonfall war entspannt, doch ich ließ mich nicht täuschen. Wieder beobachtete ich, wie Livak ihrer Freundin einen fragenden Blick zuwarf, doch die schüttelte nur leicht den Kopf, womit sie zu verstehen gab, dass sie nicht geplappert hatte. Ich schwieg. Ich würde meinen Kurs erst festlegen, wenn ich wusste, ob wir Rücken- oder Gegenwind 79
hatten. »Wir haben in den Rekrutierungslagern am Rel gearbeitet, ich, Sorgrad und Sorgren – zwei Brüder, die wir kennen«, sagte Livak langsam. »Die Söldner haben nur Saufen und Spielen im Kopf, bis das Wetter besser wird und die Kämpfe wieder richtig in Gang kommen, und die Korpsmeister schließen ihre Verträge. Wir haben die kleinen Lämmer ausgeplündert, die in die Lager strömen, den Kopf voll dämlicher Balladen.« Livak forderte Shiv mit einem kühnen Grinsen heraus. Sie wurde mit einem verächtlichen Schnaufen Viltreds belohnt, der auf seinem Stuhl beim Feuer herumrutschte. Livak drehte sich zu ihm um. Ihre Augen funkelten herausfordernd, und sie betonte ihren Ensaimin-Akzent über Gebühr. »Sieh es einmal so, alter Mann: Wenn irgendein junger Narr, der in einem Krieg kämpfen will, sein Geld und seine Ausrüstung verliert, bevor er sich mit seiner Unterschrift zum Waffendienst für irgendeinen Herrn verpflichtet, bleibt er vielleicht am Leben.« Viltred musterte Livak mit hartem Blick, während sie ihn angrinste. »Junge Dame. Unsere Angelegenheiten sind weit mehr ...« »Alles zu seiner Zeit«, unterbrach ihn Shiv. »Wie schätzt du die Entwicklung in Lescar dieses Jahr ein?« Shivs Haltung war lässig und sorglos, sein Gesicht offen und einladend. Mit seiner sanften, vom weichen Akzent der Marschlande um Kevil geprägten Stimme entsprach er der Vorstellung eines Minnesängers vom typischen Caladhrier, der seinem Land und der Familie tief verbunden, allerdings nicht sonderlich helle war. Es bot eine sehr überzeugende Vorstellung – zumindest wäre sie’s gewesen, hätte ich ihn nicht schon mit Magie 80
um sich werfen und Eisländer geradewegs in die Anderwelt hätte jagen sehen – so weit, dass sie Poldrion wahrscheinlich nicht einmal für die Überfahrt hatten bezahlen müssen. »Der Herzog von Parnilesse ist unter sehr mysteriösen Umständen gestorben, und jeder seiner drei Söhne beansprucht den Thron für sich.« Livak brachte einen angemessen nachdenklichen Tonfall zustande, doch ich sah die Vorsicht in ihren Augen. »Ihr Land ist reif zur Eroberung, wenn sie kein Geld für einen der besseren Korpsmeister aufbringen können.« Das war eine interessante Neuigkeit. Normalerweise hätte der älteste Sohn das Erbe ohne jeden Streit antreten sollen. Schließlich war es die Besessenheit der Lescari, was die Blutsnachfolge betrifft, die diese sinnlosen Kriege überhaupt erst ausgelöst hatte. »Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, wurde der alte Herzog mit ziemlicher Sicherheit vergiftet«, bemerkte Halice, während sie sich um das Huhn kümmerte, das nun gerupft und ausgenommen über dem Feuer brutzelte. Sie griff in das Salzkästchen, das am Kaminsims hing, und streute etwas davon in einen Topf, der in der Glut stand. »Sorgrad vermutet, dass die Söhne des Herzogs noch vor der Sonnenwende ihren eigenen Krieg beginnen werden.« Ich fragte mich, wie ich von hier wohl am besten einen Brief an Messire schicken und ob ich Aitens Familie warnen konnte. »Shiwalan!«, sagte Viltred scharf. »Planirs Angelegenheit ist weitaus wichtiger als die unbedeutenden Streitereien der Lescari!« Ein peinliches Schweigen setzte ein, bis Livak sich wieder zu Wort meldete. Ihre Stimme klang unverhohlen sarkastisch. »Ja, sprich weiter, Shiv«, forderte sie den Zauberer auf. »Aber 81
lass mich dir eine Rune umsonst geben ... Keine Macht diesseits der Anderwelt wird mich dazu bringen, mich je wieder mit dem Erzmagier einzulassen.« Dass sie keinen Kompromiss eingehen würde, war unverkennbar. Ich fragte mich, welche Rune Shiv noch im Ärmel hatte, mit der er sie davon überzeugen wollte, erneut für Zauberer zu arbeiten. »Viltred sind einige Wertsachen gestohlen worden, und wir haben uns gefragt, ob du uns dabei hilfst, die Diebe zu finden und die Sachen wiederzuholen.« Zwar konnte Livak ihr Staunen nicht verbergen, als sie den Namen des alten Mannes hörte; dennoch ging sie wie stets sofort wieder zum Angriff über. »Bist du vielleicht der Viltred, der mit diesem Verrückten, diesem Azazir zusammengearbeitet hat?« Der alte Mann funkelte sie an. »Azazir war einer der größten Geister, die die Magie seit zehn Generationen gesehen hat, junge Dame ...« »Azazirs Geist war so weit jenseits von gut und böse, dass er ihn noch nicht einmal mit einem Fernglas gefunden hätte, und lass mich dir sagen ...« Shiv mischte sich rasch ein. »Livak, bitte. Wir brauchen deine Hilfe wirklich. Die Räuber sind Eisländer.« Livak erbleichte. »Hast du was mit den Ohren? Nein!« »Es wird sich für dich lohnen.« Shiv war beharrlich. »Ich brauche dein Geld nicht, Shiv, und auch nicht das des Erzmagiers«, spie Livak hervor. »Denk doch mal darüber nach, Livak.« Shiv unterstrich seine Worte mit gewandten Gesten. »Diese Leute können noch nicht lange hier sein. Die Frühlingsstürme auf dem Meer sind gerade 82
erst vorüber. Wir haben sehr früh ihre Fährte aufgenommen ... und deshalb können wir ihnen eine sehr, sehr tiefe Grube graben, in der sie sich die Hälse brechen!« Ich hatte Shiv selten so angespannt gesehen. »Und sollte Planir der Schwarze beschließen, am Boden dieser Grube einen lebenden Köder anzubinden, wird er sich den ersten warmen Körper schnappen, der ihm über den Weg läuft – und ich habe nicht die Absicht, in der Nähe zu sein, um für ihn den Käse in seiner Mausefalle zu spielen.« Trotzig stapfte Livak zum Herd. Sie stellte sich neben Halice, und ich sah, wie die andere Frau Shiv voller Konzentration beobachtete. Der Zauberer versuchte es erneut. »Es gibt Dinge, die du nicht unbeachtet lassen kannst ... Vorzeichen ...« »Jahrmarktsschwindel, Shiv«, fiel Livak ihm ins Wort. »Ich will es gar nicht wissen. Und diesmal hast du nichts in der Hand, um mich zu zwingen. Ich würde eher nackt durch einen Wald laufen.« Shiv schürzte die Lippen. »Gefällt dir der Gedanke denn gar nicht, dich für Geris zu rächen?« »Ich habe das Bett mit ihm geteilt, Shiv. Das verpflichtet mich aber nicht dazu, auch sein Schicksal zu teilen.« Ihre Stimme klang verächtlich. »Vergiss es. Ihr könnt mit uns essen, und dann macht, dass ihr fortkommt.« Während ihre Worte noch im Raum widerhallten, stapfte sie hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Halice wandte sich ab und machte sich am Herd zu schaffen. Als ich die Hand hob, um Shiv zu beruhigen, der gerade aufstehen wollte, sah ich zufrieden, dass er sich ein wenig schämte. Er war wirklich ein mieser Trick gewesen, dass er versucht hatte, sich Livaks Schuldgefühle ob Geris Tod zunutze zu machen. Ich verzog das 83
Gesicht, als ich an Geris einsamen, qualvollen Tod durch die Hände der Elietimm dachte. Ich hatte Verständnis für Livaks Weigerung, erinnerte mich aber auch, dass die Vorzeichen darauf hindeuteten, dass wir Livak brauchten, um das Imperium vor einer Katastrophe zu bewahren. Also musste ich alles in meiner Macht tun, sie davon zu überzeugen, uns zu helfen. Ich hoffte nur, dass ich nicht auf das falsche Pferd setzte, als ich ihr folgte. Das Geräusch einer Heugabel zog mich in die Scheune. »Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Hilfe brauchst.« Livaks Gesicht verriet, dass sie diese Entschuldigung für ausgesprochen armselig hielt. »Eimer«, sagte sie knapp und deutete zu einem Stapel Holzeimer neben der Tür. Ich folgte ihr zum Brunnen. »Es ist schön, dich zu sehen«, sagte ich, während ich an der Kurbel drehte. Livak schenkte mir ein Lächeln, das mir das Herz wärmte. Doch ich ermahnte mich, dass es vermutlich schwieriger war, diese Frau zu überzeugen, ihr Leben mit mir zu teilen, als erneut für Shiv zu arbeiten. »Ich habe mich schon gefragt, wann deine Pflichten dich in diese Gegend führen«, sagte sie in beiläufigem Tonfall, aber auch mit unverkennbarer Härte in der Stimme. »Du solltest Shiv anhören. Diese Weissagungen verdienen es, dass man darüber nachdenkt.« Ich goss klares, kaltes Wasser in den ersten der zwei Eimer. »Planir warnt, dass dem Imperium große Gefahr von den Elietimm droht.« Livaks Schnaufen verriet mir, was sie davon hielt. »All diese prächtigen Kohorten, und das Imperium ist nicht in der Lage, ein paar Bootsladungen Räuber abzuwehren, die Schafe aus Dalasor stehlen wollen?« 84
»Gegen die verfluchte Hexerei der Elietimm nützen diese prächtigen Kohorten aber nicht viel.« Ich griff mir den zweiten Eimer und folgte Livak. »Viele der älteren Fürsten wollen es nicht zugeben, aber die Tage, da die Kohorten Tormalins sechs Provinzen unter Kontrolle gehalten haben, sind längst vorüber. Wenn du die Bedrohung hinzurechnest, die diese seltsame Elietimm-Magie darstellt, wären wir dumm, würden wir Planirs Hilfe nicht annehmen.« »Und dein Kaiser hat den Mumm, das zuzugeben?«, forderte Livak mich heraus. »Tadriol mag jung sein, aber er weiß, wann man einen Ratschlag annehmen muss – Dastennin möge ihn segnen.« Ich trat näher an Livak heran, um ihr dramatisch ins Ohr zu flüstern, und genoss den Lavendelduft ihrer Kleider. »Es heißt, dass er zur Sommersonnenwende seine Akklamation bekommt. Messire befürwortet ›Tadriol der Fürsorgliche‹ aber er behält seine Meinung für sich.« Livaks Augen funkelten. »Schließ die richtigen Wetten ab, bevor der Fürstenrat es offiziell bekannt gibt, und Shiv hat genug Geld, um Viltred alles zu kaufen, was er will. Dann kann er das gestohlene Zeug vergessen.« »Nun, im Augenblick hat er jedenfalls keine Möglichkeit, seine Sachen zurückzubekommen, falls du ihm nicht hilfst.« Ich dachte darüber nach, ihr den Arm um die Schultern zu legen, doch Livak bewegte sich von mir weg und murmelte etwas in einem mir unbekannten Ensaimin-Dialekt. »Der Erzmagier zahlt gut«, bemerkte ich, um die Waagschale auf andere Art zu unseren Gunsten zu neigen. »Warum glaubt jeder, dass man mich kaufen kann?«, knurrte Livak. »Wie auch immer, Planir bietet nur deshalb solche Sum85
men an, weil er sie nur in einem von zehn Fällen auszahlen muss. Der Rest ziert die Innenseiten von Begräbnisurnen.« »Hast du dir etwas von dem Geld letztes Jahr beiseite gelegt?« Ich beschäftigte mich damit, Stroh zu verteilen. »Was denn? Wie eine emsige Feldmaus, die jedes zweite Getreidekorn für den Winter vergräbt? Die Geschichte hat dir deine Mutter wohl auch erzählt, was?« Der Spott in Livaks Stimme verletzte mich. »Nein, wir haben das Geld dazu verwendet, uns eine schöne Wintersonnenwende zu gönnen, an die wir uns erinnern ... schöne neue Kleider für uns alle vier, Wein und gutes Essen, zehn Tage lang das Beste, was die Kavalkade von Col zu bieten hat.« Livaks Gesichtsausdruck forderte mich heraus. »Der Erzmagier mag ja gut bezahlen, aber an seinem Geld klebt zu viel Blut, als dass ich es längere Zeit in der Börse haben möchte. Trotzdem, du hast Recht: Ich hätte eine bessere Verwendung dafür finden müssen. Ich hätte es für Weihrauch ausgeben sollen, um ihn dann an einem Schrein Trimons zu verbrennen, damit Shiv im erstbesten Fluss ersäuft, sollte er je versuchen, mich wiederzufinden!« Ein Opfer für den Gott der Reisenden schien auch mir die beste Hoffnung zu sein, diese Gruppe, die so gar nicht zusammenpasste, gemeinsam auf die Straße zu bekommen. »Die Söldnerlager werden bald abgebrochen«, erinnerte ich Livak. »Womit wollt ihr dann euer Geld verdienen? Halice wird von keinem Korps aufgenommen – nicht mit ihrem Bein.« »Wir kommen schon zurecht, und ich werde bestimmt nicht für Shiv Grillen mit der Heugabel jagen, wenn Halice mich an ihrer Seite braucht.« Livak stieß die Heugabel in einen Ballen und ging auf den Hof hinaus, wo sie Zunderstücke mit unnötiger Gewalt in einen Eimer stopfte. Ich schluckte meinen Zorn 86
hinunter und half ihr. »Ich weiß nicht, wie du das tun kannst«, platzte Livak schließlich heraus. »Wir kannst du dich noch einmal mit Zauberern einlassen?« »Ich folge dem Befehl meines Patrons«, erwiderte ich so sachlich ich konnte. »Er kommandiert dich also durch die Gegend wie einen Apportierhund, hm?« Livak schüttelte den Kopf, und ihre Stimme war verächtlich. »Du tanzt nach seiner Pfeife, sonst gibt es Schläge, was? Hat er schon einen neuen armen Bastard gefunden, um Aiten zu ersetzen? Es ist ihm nicht gut bekommen, den Befehlen seines Herrn und Gebieters zu folgen.« Ich schloss die Augen, als mich plötzlich die Erinnerung übermannte: Aitens Leib in meinen Armen inmitten der gnadenlosen Kälte des Ozeans; sein Lebenssaft strömte warm über meine Haut, dort, wo Livak die große Ader an seinem Bein aufgeschnitten hatte, um uns alle zu retten, nachdem die Hexerei der Elietimm Aiten seines Verstandes beraubt hatte, sodass er sich gegen uns wandte. »Ich musste es tun, das weißt du doch, nicht wahr?«, sagte Livak. Sie war kreidebleich. »Hätte ich es nicht getan, hätte er uns alle umgebracht.« »Ich weiß.« Ich blickte ihr in die Augen, während ich mich bemühte, meine Stimme ruhig zu halten. »Ich weiß es, und ich gebe dir keine Schuld. Das würde er auch nicht. Der Einzige, der Schuld auf sich geladen hat, bin ich, weil ich dir überlassen habe, was ich nicht habe tun können.« »Ich werde mich vor Saedrin dafür verantworten müssen, soviel steht fest.« In Livaks smaragdgrünen Augen schimmerten plötzlich Tränen, die sie wütend mit der Hand abwischte. »Aiten 87
war der Tote, vor dem die alten Söldner dich warnen ... der, der dich in deinen Träumen verfolgt, und wenn du erwachst, riechen deine Hände nach Blut.« »Das musst du mir nicht erzählen. Wir beide haben die gleichen Eide geschworen und danach gelebt. Diesen Eiden bin ich noch immer treu.« »Ich bin meinen Freunden treu, nicht irgendwelchen Phrasen und einer angelaufenen Metallscheibe«, sagte Livak scharf und stieß mit dem Finger nach meinem Medaillon. »Dafür schätze ich meine Freiheit viel zu hoch.« Ich ballte die Fäuste um ein Bündel Zunder und spürte, wie ein Splitter in meine Hand eindrang. »Die Freiheit, mittellos in einem Graben zu sterben? Hätte ein eingeschworener Mann eine Verletzung wie Halice, würde man ihn nicht dem Mitleid seiner Freunde überlassen! Der Sieur nimmt seine Verantwortung ernst.« »Aber er nimmt keines der Risiken auf sich, oder?«, erwiderte Livak und drehte mir den Rücken zu, um wieder über den Hof zu gehen. »Ich nenne das nicht Verantwortung.« »Darüber weißt du wohl alles, hm? Wo du nie länger als eine halbe Jahreszeit an einem Ort bleibst!« Ich biss die Zähne zusammen, um meine Wut zu zügeln. Vielleicht war es der Schlafmangel, der mich so ungewöhnlich reizbar machte. Vorsichtig zog ich den Splitter aus meiner Hand und saugte an der kleinen Wunde. Dabei beobachtete ich, wie Livak Eier aus dem langen Gras aufsammelte. In der Nähe war ein kleiner Pferch, und ein Schwein linste neugierig über den Zaun, ob wir ihm nicht etwas zu essen brachten. »Ich hätte mich vergangenes Jahr nicht von Shiv überreden lassen dürften – möge Drianon ihm die Augen vertrocknen 88
lassen«, murmelte Livak, als sie wieder zu mir zurückkehrte. »Ich wusste, dass Halice verletzt war; er sagte, ein Freund von ihm würde sich um sie kümmern ... Am Liebsten würde ich ihm die Eier abschneiden und sie als Munition für eine Schleuder verwenden!« »Selbst der kaiserliche Apotheker in Toremal hätte bei solch einem Beinbruch nicht viel tun können«, protestierte ich. »Du kannst Shiv keinen Vorwurf machen – und auch nicht dir selbst.« Livak schaute mich an. »Was Aiten betrifft, habe ich dir das Gleiche gesagt.« »Das ist etwas anderes!«, stieß ich hervor, ehe ich mich zurückhalten konnte. »Wirklich?« Livak rupfte das erste Frühlingsgemüse aus einem Beet, ein Appetit anregender Anblick. Die erste Gemüseernte daheim hatte meinen Geschmack für Frühlingsgemüse geweckt, bevor Messire mich wieder gen Norden geschickt hatte, wo die kalte Erde noch immer auf Larasions Lächeln wartete. Ich schüttelte den Kopf, um mich nicht ablenken zu lassen. »Kannst du bitte mal einen Augenblick still stehen?« Die Worte kamen mehr als Forderung denn als Bitte über meine Lippen, und Livak blickte mich mit Augen an, so stürmisch wie das Wintermeer. Es kostete mich einige Mühe, mich wieder zu beherrschen. »Wir brauchen dich, Livak ...« »Wir brauchen dich, Livak!«, äffte sie mich nach. »Das klingt wie in einer schlechten Ballade. Ryshad, der tapfere Recke, umwirbt eine edle Dame!« Dieser unerwarteter Richtungswechsel erwischte mich auf dem falschen Fuß. »Ich hatte gehofft, du würdest mich aus eigenem Antrieb su89
chen«, stieß Livak hervor, »nicht weil Planir nach dir gepfiffen hat. Was hast du als Nächstes vor? Willst du mich mit irgendwelchen Tricks herumkriegen wie ein Söldner, der eine Magd mit seinem Speer beeindruckt? Vergiss es! Auf diese Art hat meine Mutter sich ködern lassen!« »Wovon redest du?« »Ich dachte, du würdest mich um meiner selbst willen schätzen. Komm, und lern meine Familie kennen – das hast du letztes Jahr gesagt.« »Du warst es, die ›Auf Wiedersehen‹ gesagt hat!«, widersprach ich. »Ich habe dich nur gebeten, für die Sonnenwende mit mir nach Zyoutessela zu kommen, und du hast dich geweigert!« Livak schüttelte den Kopf. »Wie lange hätte es wohl gedauert, bevor deine Mutter damit angefangen hätte, Haarschleifen zu besticken und mich zu bitten, beim Wäschestopfen zu helfen? Wenn ich jemandes Dienerin hätte sein wollen, wäre ich daheim geblieben!« »Nun, dann entscheide dich jetzt!« Ich hatte genug, und das war mir wohl anzusehen. »Vergiss es.« Livak lief puterrot an und drängte sich an mir vorbei zurück zum Haus. Ich schluckte ein paar passende Erwiderungen herunter und folgte ihr schwer atmend. Als wir eintraten, war Halice in ein Gespräch mit den beiden Zauberern vertieft. »Wir müssen noch ein paar Dinge regeln, bevor wir morgen aufbrechen.« Halice humpelte zu einer Kommode und holte eine Schiefertafel. »Das Schwein dürften wir leicht verkaufen können, aber die Hühner sollten wir schlachten und kochen.« »Was redest du da?« Livak starrte Halice an. 90
»Ich gehe mit diesen Zauberern.« Halice hatte offenbar in jenen Söldnerkorps gedient, die sich auf Angriff als beste Verteidigung spezialisierten. »Wenn sie einen Dieb brauchen, und du willst nicht ... Nun, es gibt genug Leute in Relshaz, die gegen entsprechende Bezahlung helfen.« Die Schüssel fiel zu Boden, und die Eier darin zerplatzten. Livak achtete gar nicht darauf; stattdessen schimpfte sie wütend mit Halice. »Warum willst du dich ausgerechnet mit Zauberern einlassen? Du weißt doch, was mir passiert ist: Ich bin auf einer Insel irgendwo im Ozean gelandet, wo irgendein Bastard versucht hat, mir das Hirn aus der Nase zu ziehen – mit einer Magie, von der noch nie jemand gehört hat. Frag Ryshad, wie es ihm gefallen hat. Weiß Shiv, wie sie das gemacht haben? Ich wette, Planir und seine nutzlosen Zauberer haben es noch immer nicht herausgefunden. Dieser Junge, Geris, ist zu Tode gefoltert worden. Hast du vergessen, was ich dir erzählt habe? Ich bin nur da rausgekommen, weil Drianon mir das Glück von drei Jahreszeiten zugleich gewährt hat! Seitdem opfere ich regelmäßig an ihren Schreinen, und du weißt, dass ich nicht gerade religiös bin ...« Livak verstummte. Ihr fehlten die Worte und der Atem, um weiterzureden. Eine lange Pause entstand, bevor Halice sich mit geübter Ruhe wieder zu Wort meldete und Livak in die Augen blickte. »Ich kann mich erinnern, wie du mir von Shivs Arm erzählt hast. Du hast gesagt, ein Schwerthieb hätte den Knochen glatt durchtrennt.« Ihre Stimme klang ruhig, aber hart. »Die meisten Ärzte hätten den Arm an der Schulter abgeschnitten. Der Arm wäre es nicht wert gewesen, einen Wundbrand zu riskieren. Der Arm sei nutzlos gewesen, selbst wenn man ihn hätte retten können! Diese Zauberer aber hatten die Möglich91
keit, den Arm zu retten, stimmt’s? Shiv hat vorhin eine Axt geschwungen und Holz gehackt. Ich werde mit ihnen zusammenarbeiten, um diese Diebe zu finden, und sie können mich bezahlen, indem sie mein Bein wieder heil machen.« Die Zauberer und ich rührten uns nicht. Wir kannten die Gefahren nur allzu gut, wenn man sich in den Streit zweier Frauen einmischte. »Das ist dieses Risiko nicht wert, Halice! Glaub mir, ich weiß es. Diese Eisländer sind Mörder, Schlächter ...« Eine wilde Wut lag nun in Livaks Stimme. »Du hast ja keine Ahnung, was ich alles riskieren würde, um wieder zwei gesunde Beine zu bekommen, Livak«, erwiderte Halice nicht minder zorniger Stimme. »Nicht die geringste Ahnung! Hast du eine Vorstellung davon, wie ich es hasse, hier festzusitzen? Mit einer Ziege kann man sich besser unterhalten als mit dieser Schlampe die Straße hinunter – und das ist noch die Klügste zehn Meilen im Umkreis. Versuch mal, mit jemandem im Dorf über irgendetwas zu reden, das mehr als einen Tagesmarsch entfernt ist. Sie werden dich anstarren wie ein singendes Schwein. Du und die Brüder, ihr geht los und macht euch einen Spaß daraus, Narren um ihre Börsen zu erleichtern, während ich hier herumhänge wie eine verkrüppelte alte Vettel und dankbar nicke, wenn ihr drei mir ein Viertel von einem Gewinn abgebt, an dem ich nicht beteiligt war. Ich war diejenige, die dich in die Rekrutierungslager eingeführt hat, und jetzt sitze ich hier und höre dir zu, wie du mir von den neuesten Entwicklungen in den Lagern berichtest ... welche Korpsmeister welche Verträge unterzeichnen, wer einen Plünderertrupp zusammenstellt und dergleichen mehr. Und die ganze Zeit weiß ich, dass ich nie wieder an diesem Leben teilhaben werde! Nicht 92
solange mein Bein genauso verdreht ist wie die Ansprüche auf den Lescarithron! Manchmal wünschte ich mir, der Wundbrand hätte mir eine Überfahrt bei Poldrion verschafft.« Livak wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Raum. Ihr Gesicht war rot vor Wut und Kummer. Diesmal schien es sinnlos zu sein, ihr zu folgen; also blieb ich, wo ich war und blickte auf mein Amulett. Shiv schob seinen Stuhl zurück und suchte sich einen Weg an den zerbrochenen Eiern und dem Gemüse vorbei, das auf dem Boden lag, um sich Wein zu holen. Ich ging mit ihm und fand ein paar Tonbecher auf der Anrichte. Halice, überlegte ich, war unzweifelhaft im Recht. Eine solch verkrüppelnde Verletzung fürchten wir eingeschworenen Männer mehr als den Tod und einen raschen Übergang in die Anderwelt. »Wirst du das für sie tun? Ihr Bein richten, meine ich?«, fragte ich Shiv im Flüsterton. »Natürlich. Saedrin soll mich zwischen dieser und der nächsten Welt einsperren, wenn ich es nicht tue.« Shiv breitete unschuldig die Arme aus. Er hatte gerade einen schwer wiegenden Eid geleistet, also ging ich davon aus, dass er es ehrlich meinte. »Ich hoffe, du hast noch genug von Planirs Geld bei dir, Shiv, denn wir werden einen kleinen Wagen kaufen müssen«, meldete Viltred sich zu Wort. »Wofür?«, fragte Shiv zweifelnd. »Weil ich auf keinem Pferd sitzen kann, bis du mein Bein gerichtet hast«, erklärte Halice mit bemerkenswerter Ruhe angesichts der Umstände. »Ich möchte nicht durch ein Fahrzeug an die Hochstraße gebunden sein.« Shiv schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Pfer93
dewechseln? Nein, wir müssen schnell sein und ...« »Wenn wir einen Wagen brauchen, dann brauchen wir einen Wagen«, unterbrach ich ihn mit fester Stimme, als ich Halices harten Gesichtsausdruck bemerkte. »Zu dieser Jahreszeit werden auch die Elietimm sich an die Hochstraße halten müssen. Bis auf die Straßen zu den Marktflecken werden alle anderen knietief mit Schlamm bedeckt sein.« Shivs dünne Lippen verrieten seinen Ärger. »Ich sehe nicht ...« »Mit meinem Rücken kann ich nicht den ganzen Weg nach Relshaz reiten.« Viltred wedelte mit dem Finger vor Shivs Gesicht. »Tu, was ich sage, Shivvalan.« Ich reichte den Wein herum, wobei ich sorgfältig darauf achtete, Shiv nicht in die Augen zu blicken. Dabei fiel mir wieder einmal auf, wie geschwollen Viltreds Knöchel von der Gicht waren, und ich fragte mich, wie viel Schmerz ihm wohl sein Rücken bereitete. »Also gut«, gab Shiv sich widerwillig geschlagen. »Wenn ihr meint, ihr könnt hier in der Gegend etwas Passendes finden.« »Ich kenne ein paar Leute, bei denen wir es versuchen könnten – besonders, wenn wir ihnen das Schwein als Bezahlung anbieten«, versicherte ihm Halice. Das Brutzeln eines Fetttropfens, der ins Feuer fiel, erinnerte uns an das Huhn, und schweigend aßen wir. An einem Punkt während des Essens sah es so aus, als wollte Shiv mit mir reden, doch ein Blick aus Viltreds zusammengekniffenen Augen und ein Kopfschütteln des alten Mannes ließen den jungen Zauberer schweigen. »Danke für das hervorragende Mahl.« Viltred legte den Löffel auf den Teller, wischte das Messer ab und stand auf, um sich 94
förmlich vor Halice zu verbeugen. »Wenn ihr uns jetzt entschuldigen würdet. Shivvalan und ich werden draußen unsere Beute per Weitsicht suchen.« Viltreds Tonfall ließ keinen Widerspruch zu, und Shiv presste die Lippen aufeinander. Halice wandte ihre Aufmerksamkeit dem Chaos auf dem Boden zu und kniete sich umständlich hin. Ich holte einen Eimer. »Was wird Livak tun, wenn du uns begleitest? Wird sie bei diesen Brüdern bleiben, von denen ihr gesprochen habt?« Halice nahm mir das Wischtuch ab. »Das bezweifle ich. Sie wollen sich die Soldtruhe von Draximal schnappen. Als sie das letzte Mal hier waren, haben sie über nichts anderes gesprochen. Sorgrad hat herausgefunden, welches Korps das Geld eintreiben soll und wo man sich dafür einschreiben kann.« Unmut färbte Halices Stimme. »Er sagte, es sei eine Schande, dass wir nicht alle dabei mitmachen könnten, da ich wegen meinem Bein ausscheide, und Livak würde man nur als Söldnermatratze nehmen – und dass sie dazu bereit wäre, konnte er sich nun wirklich nicht vorstellen. Livak würde sich jederzeit als Hure verkleiden, um in ein Lager hereinzukommen, aber sie weiß, dass es viel zu gefährlich ist, diese Rolle lange zu spielen, ohne sich wirklich flachlegen zu lassen.« Ich hoffte, dass Halice Recht hatte, ermahnte mich jedoch, dass ich in erster Linie anderen Treue schuldete, besonders wenn Livak sich so stur stellte. Möge Dast dieser Frau tausend Plagen schicken! Warum musste sie so verflucht dickköpfig sein? Egal, auf jeden Fall waren Vorabinformationen über solch einen Coup für Messire sehr wertvoll. »Welches Korps treibt denn das Geld ein?« »Die Eisenstiefel, auf dem Weg runter, um die Grenze für den 95
Herzog von Triolle zu sichern.« Halice schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts damit zu tun haben. Ihr Kommandant, Khys, hat vor ein paar Jahren unter mir gedient; das kann ich ihm nicht antun.« Halices Söldnerkarriere hatte also nicht nur aus Schlammkriechen bestanden, wenn sie solche Freunde hatte. Die meisten Korps bleiben nur ein paar Jahreszeiten zusammen, bevor sie wegen Streitigkeiten über die Beuteverteilung auseinander fallen, oder weil sie einmal zu viel in Grund und Boden gestampft worden sind. Es konnte nicht mehr als nur eine Hand voll Truppen geben, die genauso gut wie die Eisenstiefel waren, die seit nunmehr sieben Jahren von Lescars Elend profitierten. »Wie wollen die Brüder sich das Geld schnappen?« »Keine Ahnung.« Halice wrang das Tuch in den Eimer aus und musterte mich aufmerksam. »Ich komme hier schon zurecht. Warum gehst du nicht los und kümmerst dich darum, dass wir bald aufbrechen können?« Ich verstand den Wink. »Gibt es einen Schreiber hier in der Nähe, der ein paar halbwegs neue Straßenkarten oder Reiseberichte hat, die er verkaufen will?« »Innel. Er wohnt neben dem Vogt.« Der Schreiber Innel war leicht zu finden. Nach einem kurzen Gespräch gelangte ich zu dem Schluss, dass ich ihm einen Brief an Messire anvertrauen konnte. Diesen sollte er an Lord Adrin weiterleiten mit der Bitte, ihn per kaiserlichem Kurierdienst an seinen Bestimmungsort zu schicken. Ich versiegelte ihn doppelt, obwohl ich mich nicht sorgte, dass jemand ihn lesen könnte; die wichtigen Abschnitte hatte ich in einem südtormalinischen Dialekt geschrieben, der Alltagssprache unserer Heimatstadt Zyoutessela. Sollte es in hundert Meilen Umkreis auch nur 96
einen geben, der imstande war, den Brief zu lesen, würde ich mein Siegelwachs fressen – heiß und flüssig. Meine wohlwollende Einschätzung Lord Adrins schrieb ich jedoch in formellem Tormalin – nur für den Fall, dass seine Neugier über sein Ehrgefühl siegte. Es stellte sich heraus, dass Innel in der Tat einige interessante Bände besaß, und nachdem ich sie sorgfältig verglichen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass sie meinen Ansprüchen durchaus genügten. Ich bin immer vorsichtig, was Karten und Wegbeschreibungen betrifft, die außerhalb Tormalins angefertigt wurden; man kann schlimm auf die Nase fallen, wenn die Quellen des Kartographen veraltet oder gar schlicht erfunden sind. Diese Karten waren jedoch fast so gut wie die tormalinischen. Während ich im Dorf war, warf ich einen kurzen Blick in den Gasthof und den Schrein und schaute mich unter den Frauen um, die ihre Waren auf dem Dorfplatz feilboten. Livak war nirgends zu sehen; auch war sie nicht wieder ins Langhaus zurückgekehrt, als ich dort eintraf. Shiv zog los, um ein Pferd und einen Wagen zu kaufen, während Viltred Halice den gleichen Blick in die Zukunft gewährte wie mir. Mit gleichgültiger Mine beobachtete sie die Schrecken. Sie wirkte vollkommen teilnahmslos; nur dann und wann schnappte sie nach Luft oder zuckte zusammen und verriet dadurch, was sie wirklich empfand. Ich musste mir diese Bilder nicht noch einmal anschauen; mich musste niemand an meine Pflicht erinnern – egal welche Einstellung Livak haben mochte. Shiv kehrte einige Zeit später mit einem ordentlichen Einspänner zurück, der von einem braunen Pferd gezogen wurde, das noch immer sein struppiges Winterfell trug. Shiv und ich brachten das Tier in den Stall. »Hast du ein gutes Geschäft gemacht?«, fragte ich ihn und 97
lächelte leicht, während ich Stroh in der Box ausstreute. »Planir ist doch nicht pleite, oder?« »Der Preis war in Ordnung. Schweine scheinen hier in der Gegend eine sichere Währung zu sein«, erwiderte Shiv, dessen gute Laune sich offenbar wieder eingestellt hatte. Ich musterte das Pferd, das mir ein wenig zu sanft schien, und das wunderte mich ein wenig. Als wir schließlich zu Bett gingen, war Livak noch immer nicht zurückgekehrt. Diesmal war es Unbehagen, das mich wach hielt. Was sollte ich tun, wenn die Frau, die wir wollten, sich stur verweigerte, mit uns zu gehen, während diejenige, die uns nur zur Last fallen konnte, fest entschlossen war, uns zu begleiten?
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2.
Aus der Bibliothek des caladhrianischen Parlaments; die wortgetreue Abschrift eines Briefes, der an den Herren eines jeden Lehens geschickt wurde. Verfasser ist Eglin, Baron Schieferhall, später Erster Preceptor des Parlaments. Allgemein wird der Brief auf das siebte Jahr des Chaos datiert
Ich schreibe diesen Appell in der Hoffnung, dass Caladhria von dem Unheil gerettet werden möge, welches von allen Seiten auf unser armes Land eindringt. Täglich höre ich die Klagen der Hungernden, die Verzweiflung der Geschlagenen und sehe das Leid jener, die all ihrer Besitztümer beraubt worden sind. Ich kann das nicht länger ertragen. Saedrin sieht das Leid des einfachen Volkes und vergisst es nicht. Wenn wir ihren Treueschwur entgegennehmen, dann nehmen wir auch die Pflicht auf uns, sie vor solchem Unglück zu bewahren. Ich zweifle nicht daran, dass Saedrin manchen von uns sehr deutliche Fragen stellen wird, bevor er ihnen den Zutritt in die Anderwelt gewährt. Doch von den Leuten meines Ranges sehe ich nur ratloses Händeringen und höre spalterische Streitereien darüber, welche Regierungsform der Länder um uns herum wir übernehmen sollen und welche nicht. Einige wollen eine Generation zurückgehen und erneut einen Kaiser oder König einsetzen, doch was soll uns das bringen? 99
Welche Eigenschaften soll ein Mann haben, den wir mit solcher Macht ausstatten? Ich für meinen Teil fürchte, dass meine Ahnen Arimelin bitten würden, mich in meinen Träumen von Dämonen heimsuchen zu lassen, würde ich der Einrichtung einer Tyrannei zustimmen, die abzuschütteln sie so lange und hart gekämpft haben. Sollen wir vielleicht die selbst ernannten Herzöge von Lescar nachäffen und die Stärksten sich nehmen lassen, was sie wollen, bis niemand mehr wagt, sie herauszufordern? Der Reichtum und die Paläste von Ihren Gnaden mögen ja prachtvoll aussehen, da Gras über die Schlachtfelder gewachsen ist, aber lasst uns nicht vergessen, dass diese Leute ihren Besitz auf die gleiche Art erworben haben wie Räuber, die einen Wald für sich in Anspruch nehmen. Sie arbeiten Hand in blutiger Hand, um die Beute – Lescar – unter sich aufzuteilen wie ein Wilderer einen erlegten Hirsch. Ich höre, wie ihr mich fragt: Bleiben uns dann nur noch Teilung und Streit, die Ensaimin jetzt schon plagen? Werden unsere Söhne und Töchter nur noch zusehen können, wie sich unser geliebtes Land in einen Flickenteppich armseliger Königreiche und gieriger Städte auflöst, die untereinander streiten wie ein Haufe halb verhungerter Bastarde? Bei Misaens Hammer, das werde ich nicht zulassen, und ich rufe alle ehrenhaften Männer auf, mir zu helfen. Warum suchen wir jenseits unserer Grenzen nach einer Antwort? Lasst uns auf uns selbst blicken und die Weisheit unserer Ahnen suchen. Bevor Correl, der so genannte Friedensbringer, seine Kohorten aussandte, um unser Land unter die Knute Tormalins zu zwingen, waren wir ein friedvolles und klug regiertes Volk. Unsere Vorväter kannten die Gefahren, die es mit sich brachte, zu viel Macht in die Hände einer Person zu legen, oder auch nur einiger weniger Personen, und so regierten sie sich 100
selbst im Rat der Speerträger. Alle besitzenden Männer konnten ihre Meinung kundtun, und sämtliche Männer guten Willens konnten zum Wohl aller zusammenarbeiten. Kein Tyrann, sei er nun groß oder klein, durfte darauf hoffen, die Freiheit unterdrücken zu können, die das Geburtsrecht eines jeden Menschen ist, und die unsere Väter uns zurückgewonnen haben, indem sie sie aus den verrosteten Klauen der eisernen Hand des Hauses Nemith rissen. Es ist uns gelungen, viel von dem wiederherzustellen, was wir verloren haben. Lasst uns nun erneut im Rat der Speerträger zusammenkommen und unser Schicksal wieder in die eigenen Hände nehmen.
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Auf der Uferstraße, Richtung Süden, Lord Adrins Lehen 12. Nachfrühling
Livak tauchte am Morgen wieder auf, als Shiv und ich unsere Reiseroute besprachen und Halice das Pferd anspannte, wobei sie Viltreds gebieterische Anweisungen wohlweislich ignorierte. Es war ein schöner Morgen; nur vereinzelt zogen Wolken über den strahlend blauen Himmel. »Was habt ihr da?«, wollte Livak wissen. »Bücher mit Karten und Wegbeschreibungen.« Wenn sie nicht über ihre Entscheidungen reden wollte, wollte ich es auch nicht. Als ich den Band mit jenen Teilen der Uferstraße gefunden hatte, die am nächsten waren, klappte ich die Karten aus. »Die sind doch nicht von Rationalisten gezeichnet, oder?«, sagte Livak. »Falls ja, werdet ihr euch bald verirren. Diese Leute passen sämtliche Entfernungsangaben und Landmarken ihren Vorstellungen von Gleichgewicht und Ordnung an, das weißt du doch.« »Nein, diese Karten sind genau.« Ich hatte nicht vor, mich auf diese Diskussion einzulassen; stattdessen deutete ich auf ein Gebiet, wo ein paar dicke Bäume eingezeichnet waren. »Was weißt du über diesen Ort hier, den Hain von Prosain?« Livak blickte über meinen Arm. »Dort trifft Lord Adrins Land auf das der anderen Lords, Thevice und Dardier; sie pflegen den Wald gemeinsam als Jagdrevier.« Ich tippte auf den Fluss. »Für meinen Geschmack ist mir das ein wenig zu nah.« 102
Shiv nickte. »Deckung für Hirsche und Wildschweine ist auch ideal für Lescariflüchtlinge. Vermutlich gibt es keine Schwierigkeiten, aber wir sollten uns einer größeren Gruppe anschließen, falls möglich.« »Es war ein langer, harter Winter«, erklärte ich. Livak deutete auf einen blauen Kreis neben der Straße. »Das ist eine gute Stelle, um anzuhalten und die Tiere zu tränken. Die meisten Leute versammeln sich dort, bevor sie den Wald durchqueren.« »Ich frage mich, ob wir dort eine Spur der Elietimm finden«, dachte ich laut. »Darüber lohnt sich nachzudenken.« Shiv nickte. »Ihre Spuren sollten leicht zu finden sein. In Caladhria stechen sie heraus wie die Eier bei einem Jagdhund.« Livak trat neben mich. »Sag mal, Shiv, betrachteten die Caladhrier es als Pech, wenn man aus der Gegend herauskommt, in der man mit mindestens der Hälfte der Bevölkerung verwandt ist? Oder wird es als unmoralisch betrachtet?« »Beides«, antwortete Shiv lächelnd. Livak schnaufte, doch ich sah ein leichtes Lächeln in ihren Mundwinkeln. »Zauberer reisen mit Stil, hm?« Abschätzig musterte sie den netten, kleinen Wagen. »Wo habt ihr den her?« »Von Klein-Merrick.« Halice klopfte das Pferd und kletterte unbeholfen auf den Kutschbock. »Der Wagen sieht nicht so aus, als hätte er damit Steckrüben gefahren.« »Offenbar stammte seine verstorbene Frau aus Abray, wo die Straßen viel besser sind. Außerdem übertraf ihr Ehrgeiz die Stellung ihres Mannes bei weitem«, erklärte Halice trocken. Erleichtert sah ich, wie sie und Livak ein zaghaftes Lächeln 103
tauschten. »Das ist ziemlich schäbige Arbeit«, schnaufte Livak und zog ein loses Stück aus den Einlegearbeiten heraus, welche die Kutsche zierten. »Wer bist du, dass du glaubst, du könntest das beurteilen?« Viltred, der bereits auf dem Bock saß, blickte verärgert auf Livak herunter. »Eine Kutsche ist Tischlerarbeit, Zauberer, mit dem einzigen Unterschied, dass sie Räder hat. Ich bin damit aufgewachsen, die teuersten Möbel in Vanam zu polieren, und das macht mich hier in der Gegend zur besten Kennerin von Holzarbeiten.« Livak stemmte die Hände in die Hüfte, warf den Kopf zurück und blickte Viltred kühn an. »Dann nimm du Viltreds Pferd, Livak«, mischte Shiv sich rasch ein. »Kommt schon. Das Wetter scheint zu halten, und wir dürften noch vor Mittag die Hochstraße erreichen, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen.« Halice hatte bald alle Hände voll zu tun mit dem Kutschpferd, das sich offenbar von dem Fressen erholte, das man ihm gegeben hatte, um es ruhig zu stellen und sanftmütiger erscheinen zu lassen, als es in Wirklichkeit war. Viltred zeigte sich nicht im Geringsten belustigt darüber, dass er immer wieder vom Bock in eine Hecke geworfen zu werden drohte, und so schwiegen wir meist. Im Laufe des Morgens kam Halice jedoch immer besser mit dem Tier zurecht, und sehr zu meiner Erleichterung begann schließlich eine Unterhaltung, denn es waren keine schönen Aussichten, dreihundert Meilen mit Leuten zu reiten, die kein Wort miteinander redeten. »Es wird eine Erleichterung sein, endlich auf eine ordentliche Straße zu kommen«, sagte ich zu Livak, als wir um ein paar 104
besonders große Schlammpfützen unter einigen Bäumen herumfuhren. »Das kann man wohl sagen«, pflichtete sie mir bei. »Daheim müsste jeder, der Bäume so weit über die Straße wachsen lässt, dass nichts darunter trocknen kann, eine deftige Strafe an den Händlerrat zahlen.« Da Handel der Lebenssaft Vanams und der anderen großen Städte von Ensaimin war, konnte das kaum überraschen. Messire D’Olbriot beschäftigte ebenfalls einen Straßenvogt, der sechs von acht Jahreszeiten durch seine Ländereien reiste und dafür sorgte, dass die Straßen in Ordnung gehalten wurden. Die Lords von Caladhria schienen dies jedoch anders zu sehen; statt die Verantwortung für die Instandhaltung ihrer Verkehrswege zu übernehmen, plapperten sie lieber in ihrem Parlament darüber, wer was zahlen sollte und wer nicht. In anderen Fällen jedoch waren sie sich überraschend schnell einig, zum Beispiel bei der kürzlich eingeführten Kaminsteuer: eine neue Möglichkeit, die Bauernschaft auszuplündern, damit die feinen Damen in Seidenkleidern herumlaufen konnten. »Shiv hat mir erzählt, dass es durchaus als achtbar gilt, wenn eine caladhrianische Dame im Ochsenkarren zu einer Einladung fährt. So schlecht können die Straßen hier sein.« Ich schüttelte den Kopf; noch immer war mir nicht klar, ob er mir damit nicht einen Bären aufgebunden hatte. Livak lächelte flüchtig. »Trotzdem ... Irgendwie gefällt es mir, wenn man die Bäume frei wachsen lässt, anstatt sie ständig zurechtzustutzen.« Ich nickte und fragte mich, ob diese Einstellung wohl auf ihr Waldblut zurückzuführen war. So oder so, das würde immer ein Thema zwischen uns sein, oder? Es mochte ja ein alter Scherz 105
sein, aber nach allem, was ich gesehen hatte, schien es tatsächlich der Wahrheit zu entsprechen, dass man einen Waldmenschen festnageln musste, wollte man, dass er längere Zeit an einem Ort bleibt. Der Große Wald lag zwar genau auf der anderen Seite des Alten Reiches und trennte die westlichen Gebiete Ensaimins vom Königreich Solura, doch auch in Tormalin war der Anblick von Waldbarden nichts Ungewöhnliches – war es nie gewesen –, und nur wenige Leute würden solch eine Strecke schlicht aus Neugier und Wanderlust hinter sich bringen. Ich erinnerte mich daran, was Livak mir im vergangenen Jahr erzählt hatte. Livaks Vater stammte aus dem Waldvolk; er hatte ihre Mutter, eine Dienerin, verführt, als die Weststraße durch Ensaimin ihn in die große Stadt Vanam geführt hatte. Offenbar war er geblieben, als Livak noch klein war, und er hatte ihr mehr über ihr Erbe beigebracht, als ihr bewusst zu sein schien, indem er sie mit den alten Liedern seines Volkes in den Schlaf gesungen hatte. Irgendwann aber hatten den Kampf gegen die Unrast und Wanderlust verloren, hatte Mutter und Kind verlassen und seine verbitterte Geliebte dem Gespött der Nachbarn ausgeliefert. Kein Wunder, dass Livak in Bezug auf Familienleben ein wenig voreingenommen war. Wenn ich darüber nachdachte, war es wohl das Beste gewesen, dass Livak sich geweigert hatte, die Sonnenwende mit mir zu verbringen. Es war schon schwierig genug gewesen, meine Mutter zu beruhigen, nachdem sie einen stark überarbeiteten Bericht über unsere Exkursion vergangenes Jahr gehört hatte. Da wäre es kaum der richtige Zeitpunkt gewesen, ihr auch noch eine Geliebte vorzustellen, die mein Ersatzwams und meine Hose trug und deren Vergangenheit man mit wohl gesetzten Worten kaum beschreiben konnte. Mutter hofft immer noch, 106
dass einer von uns ein sanftmütiges, wohl erzogenes Mädchen mit nach Hause bringt, ein Mädchen, dass seine Röcke selbst bestickt hat und deren Zöpfe lang genug für Drianons Altar sind. Mir soll es recht sein – solange es einer meiner Brüder ist, der Mutter diesen Wunsch erfüllt. »Ich habe selbst etwas in Relshaz zu erledigen, weißt du«, erklärte Livak nach einer Weile unvermittelt. »Und wie du schon gesagt hast: Für einen allein kann es auf der Straße gefährlich werden.« Das klang nicht gerade überzeugend aus dem Mund einer Frau, die bereits im Mädchenalter ihr Heim verlassen hatte, mit nichts weiter als ihren Kleidern auf dem Leib. »Und was genau hast du da zu erledigen?«, fragte ich und hoffte, dass es nichts allzu Unehrenhaftes war. Wie Livak ihren Lebensunterhalt verdiente, vertrug sich nicht immer mit meinem Gewissen. »Es gibt dort einen Mann namens Arie Cordainer.« Livaks Augen wirkten kalt. »Was hast du mit ihm zu tun?« »Er schuldet mir etwas«, antwortete Livak. »Er ist ein Schwindler und Betrüger – einer der Besten, denn er sorgt immer dafür, dass ein anderer bereit steht, für ihn an den Pranger oder zum Galgen zu gehen. Vor etwas über einem Jahr wären wir vier in Selerima seinetwegen beinahe gehängt worden. Er hätte uns nicht tiefer in die Scheiße reiten können, hätte er uns direkt in eine Jauchegrube geworfen.« »Und du glaubst, du findest ihn in Relshaz?« »Kurz nach dem Äquinoktium habe ich ihn auf der Uferstraße gesehen.« Livaks Gesicht spannte sich. »Er war herausgeputzt wie ein tormalinischer Seidenhändler und trug einen Vollbart, 107
aber ich vergesse niemals Hände oder Ohren.« Ich nickte und fragte mich, ob dieser Cordainer wohl wusste, dass Raeponin bald Rechenschaft von ihm verlangen würde, um die Waagschalen der Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht zu bringen. »Bis Relshaz werde ich euch begleiten«, fuhr Livak fort. »Ich will zumindest dafür sorgen, dass Shiv Halice nicht übers Ohr haut. Du kannst sagen, was du willst, ich traue Zauberern immer noch nicht.« Nun kamen wir der Wahrheit über ihren plötzlichen Sinneswandel offenbar schon ein gutes Stück näher. »Sollten wir eine Spur dieser Eisländerdiebe finden, werde ich tun, was ich kann, um Viltreds Schätze zurückzuholen, sofern ich sicher bin, dass es das Risiko wert ist. Was die Zauberer mir dafür schulden, können sie zurückzahlen, indem sie Halices Bein richten.« Livak funkelte die beiden Zauberer vor uns an, doch die Wut in ihrem Blick wich einem Ausdruck von Schmerz, als ihr Blick zu Halices Rücken wanderte. »Damit dürften sie und ich dann quitt sein. Shiv bekommt einen freien Wurf mit den Runen, aber das war’s dann auch. Sollte auch nur das Geringste darauf hindeuten, dass sich der gleiche Ärger anbahnt wie letztes Mal, bin ich schneller weg als eine Katze, die man am Sahnetopf erwischt hat.« »Und ich werde dann wohl dicht hinter dir sein.« Ich nickte erneut und riskierte ein warmherziges Lächeln, das Livak erwiderte, wenn auch mit einem spöttischen Funkeln in den Augen. »Bei Saedrins Eiern!« Halices Fluchen verriet uns, dass ein Kutschenrad in ein verschlammtes Schlagloch geraten war. »Wie kommst du mit dem Pferd zurecht, Livak?«, fragte Shiv, nachdem wir das Gefährt wieder auf festem Boden hatten. 108
»Gut.« Ihr Lippen kräuselten sich zu einem leichten Lächeln. »Aber ein Tier zu reiten, mit dem sogar Viltred zurechtkommt, kann man schwerlich als Herausforderung bezeichnen, oder?« »In meiner Jugend war ich ein bekannter Reiter, junge Dame ...«, begann Viltred und plusterte sich auf wie ein alter Mauser, der von einem frechen Kätzchen geärgert wurde. »Gegen Mittag müssten wir doch auf die Hochstraße kommen, nicht wahr?«, fiel ich dem alten Zauberer ins Wort. Ich blickte zu Shiv zurück, der nun eine Zeit lang die Nachhut übernehmen würde. Livak warf Viltred ein spöttisches Lächeln zu und trieb ihr Pferd zum Trab an. »Das stimmt.« Shiv seufzte verzweifelt und blickte von Livak, die nach hinten ritt, zu Viltred. Als wir weiterzogen, trieb er sein Pferd an und ritt neben mich. »Kannst du nicht dafür sorgen, dass Livak aufhört, Viltred zu reizen?«, fragte er leise. Ich zuckte mit den Schultern. »Bei Gelegenheit werde ich es zur Sprache bringen; aber solange er nach dem Wurm schnappt, wird sie ihn vor seiner Nase baumeln lassen, bis sie irgendetwas anderes mehr erheitert. Du könntest ihm vorschlagen, dass er sie nicht länger wie eine Dienerin behandeln soll, die man erwischt hat, wie sie mit dem Schuhputzjungen schäkert. Das könnte helfen.« Shiv murmelte etwas vor sich hin, das ich zu ignorieren beschloss. Als wir eine lange, gewundene Steigung hinaufstiegen, wurde die Kutsche immer langsamer. Schließlich führten wir unsere Pferde zu Fuß und hörten, wie Viltred versuchte, im Gespräch mehr über Halice herauszufinden. Da sie die meisten seiner Fragen jedoch mit einem oder zwei Worten beantwortete, wurde er immer zorniger, und seine anfangs unverschämten 109
Fragen wurden geradezu beleidigend. »Von einer Frau deines Alters hätte ich erwartet, dass sie sich niedergelassen und Kinder bekommen hat.« Viltred blickte aus den Augenwinkeln zu Halice, um deren Reaktion zu sehen. »Zu meiner Zeit wurde es als Unglück für ein Mädchen betrachtet, wenn es sein Generationsfest unverheiratet erlebte.« »Ich zähle meine Jahre nach einer soluranischen Generation«, erklärte Halice unerwartet. »Das sind dreiunddreißig Jahre, nicht fünfundzwanzig wie im Tormalinkalender. So bleiben mir also noch zwei, bevor ich mir Sorgen machen muss.« Das brachte Viltred zum Schweigen, und Shiv und ich tauschten ein Grinsen. Ich fragte mich, ob ich meine Mutter überzeugen könnte, es Halice gleichzutun; da sie sich inzwischen ihrem fünfzigsten Lebensjahr näherte, sehnte sie sich verzweifelt nach einem Enkelkind. Es dauerte eine Weile, bis Viltred sich von diesem Schlag erholt hatte; dann aber schwelgte er in zunehmend nervenden Geschichten aus einer Jugend, wobei er mit Namen nur so um sich warf – offenbar um uns zu beeindrucken –, und das mit dem Einfühlungsvermögen eines Bauern, der Krähen von seinen Feldern scheucht. »Wer ist Feimath von Breitaile?«, fragte ich Shiv flüsternd. »Keine Ahnung.« Er schüttelte den Kopf. Ich runzelte die Stirn. »Den kenne ich, diesen Lord Watrel, aber seine Frau hieß Milan, Abrine war seine Mutter.« Ich hatte laut genug gesprochen, um Viltreds Aufmerksamkeit zu erregen. »Du bist doch ein Lehnsmann von Messire D’Olbriot, stimmt’s?« Der alte Zauberer nahm ein immer herrschaftlicheres Gehabe an. »Du musst seiner liebreizenden Frau, Maitresse 110
Corian, meine besten Grüße ausrichten. Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, ihre Bekanntschaft zu machen.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, denn besagte Dame lag schon seit neunzehn Jahren als Asche in einer Urne. Glücklicherweise schien Viltred mehr daran interessiert zu sein, uns seine adeligen Bekannten zu präsentieren, als eine Antwort von mir zu bekommen. »Ja, wir haben uns getroffen, als ich Gast von Sulielle war, der Herzogin von Parnilesse. Eine äußerst liebenswürdige Dame, wisst ihr? Elegant und eine wunderbare Gastgeberin, und dazu ...« Halice streckte die Peitsche aus, um die Aufmerksamkeit des Pferdes zu erregen. »Du meinst die Herzoginwitwe.« »Wie belieben?« Viltred war sichtlich verärgert, dass man ihn unterbrochen hatte. »Die Herzogin ist Lifinal, Herzogs Morlins Frau. Sulielle lebt zurückgezogen auf ihren Ländereien in Tharbone, die man ihr als Witwenrente zugesprochen hat.« »Du scheinst sehr gut informiert zu sein«, sagte Viltred. »Ich habe drei Jahre lang die Leibwache der Herzogin von Marlier befehligt«, erwiderte Halice und ließ die Peitsche über dem Hals des Pferdes knallen. Ich wusste nicht, ob es diese Bemerkung war oder das plötzliche Antraben des Pferdes, was Viltred zum Schweigen brachte, aber ich für meinen Teil war froh, dass er den Versuch aufgab, uns zu beeindrucken. Ich hoffte, dass diese Verfolgungsjagd bald an Fahrt gewinnen würde; bis jetzt war sie so aufregend wie das Eskortieren von Messires jungfräulichen Tanten auf ihrer jährlichen Rundreise zu den niederen Damen des Hauses D’Olbriot, um diesen ungewollte Ratschläge zur Kindererziehung zu geben. 111
Nachdem wir die Hochstraße erreicht hatten, kamen wir schneller voran. Am Nachmittag erreichten wir den kleinen See, den ich auf der Karte markiert hatte. Nachdem ich mich um mein Pferd gekümmert hatte, half ich Viltred vom Kutschbock; dann schnallte ich mein Schwert um. Seit ich Lescar verlassen hatte, hatte ich mich nicht mehr darum gekümmert, doch falls uns tatsächlich Gefahr im Wald drohen sollte, wollte ich bereit sein. Als ich mich nach den anderen umschaute, die sich mit den verschiedenen Reisenden am Ufer sammelten, sah ich Shiv mit einem mir unbekannten Mann sprechen. Ich ging näher heran; allerdings nicht so nahe, dass ich das Gespräch unterbrochen hätte – für den Fall, dass Shiv etwas Nützliches für uns in Erfahrung bringen würde. »Ryshad!« Shiv winkte mir, und ich tat so, als hätte ich ihn gerade erst bemerkt. »Das ist Nyle. Er ist der Hauptmann der Wache des Kaufmannszugs da drüben. Sie sind auf dem Weg nach Süden.« Der Fremde nickte knapp zur Begrüßung. »Wir befördern Waren für Sershan und Söhne von Duryea nach Relshaz – Wollstoffe und Keramik.« Misaen hatte angeblich die ersten Menschen aus Ton geformt, und dieser hier sah aus wie einer der frühesten Versuche. Der Mann besaß zwar einen Hals, doch auf den ersten Blick schienen Nyles Schultern unmittelbar unter seinen Ohren anzusetzen, und er war beeindruckend breit und muskelbepackt. Und er war groß, sogar noch ein paar Fingerbreit größer als ich. Seine Augen besaßen die Wachsamkeit eines Jagdhundes, ein Eindruck, der von seinem kantigen Kinn, den kräftigen Wangenknochen und dem rauen, geströmten Haar noch verstärkt wurde. 112
»Wie lange braucht ihr für die Durchquerung des Hains?«, fuhr Shiv fort. »Übermorgen werden wir den Adler in Südvaris erreichen. Dort gönnen wir den Tieren etwas Ruhe und ziehen dann weiter.« Er neigte den Kopf in Shivs Richtung und raunte: »Es ist besser, den Hain nicht allein zu durchqueren.« »Nicht um diese Jahreszeit«, stimmte Shiv ihm zu. »Zahlt beim Maultierführer. Eine Mark pro Kopf.« Nyle drehte sich um und ging zum nächsten Trupp Reisender, wo er sein Schutzangebot wiederholte. Wagenzüge kosten Geld, und dieses Geld kommt nur wieder herein, wenn alle ihr Ziel erreichen und die Waren verkauft werden. Nach dem Tränken brachte der Maultierführer Ordnung in seine Kolonne von insgesamt vierzig oder mehr Tieren. »Nyle sagt, wir sollen uns zwischen den Mulis und den Wagen einreihen, da unsere Kutsche kleinere Räder hat.« Shiv ritt sein schwarzes Pferd, das ihn beinahe abwarf, als der Zug sich mit widerwilligem Wiehern, Schreien und Fluchen in Bewegung setzte. Acht Fahrzeuge hatten sich den Kaufmannswagen angeschlossen. Wir waren kaum losgefahren, als Viltred uns wieder an seiner Weisheit teilhaben ließ. »Lord Adrin sollte ein paar dieser bettelnden Lescari Steine klopfen lassen, um damit die Straßen zu reparieren, anstatt ihnen Land zu geben, um seine Schatztruhen mit den Abgaben zu füllen«, knurrte er, als wir das kultivierte Land hinter uns ließen und den eigentlichen Hain erreichten, wo die Straßenverhältnisse sich rasch verschlechterten. Zunächst waren wir von dichtem Gestrüpp umgeben, das jedoch bald größeren Bäumen wich, durchsetzt mit Grasflecken, 113
auf denen bunte Blumen wuchsen. Der moosige Geruch von Stiefmütterchen erfüllte die Luft, deren Farbe das Blau des Himmels über uns spiegelte, der durch ein Netz aus Ästen, Zweigen und frischen Blättern zu sehen war, während sich im Gras am Wegesrand die ersten cremefarbenen Blütenblätter von Larasions-Spitze zeigten. Die Reise verlief ereignislos, doch die Straße zwang uns meist, hintereinander zu reiten. Schon bald langweilte ich mich so sehr, dass mein Geist auf Wanderschaft ging. »Ryshad?« Mein Pferd scheute, und erschrocken riss ich an den Zügeln. »Bei Dasts Zähnen, Livak! Was soll das?« »Ich wollte verhindern, dass du dir den Schädel aufschlägst, indem du schlafend vom Pferd fällst«, erwiderte sie bissig. Ich strich mir mit der Hand übers Gesicht. »Tut mir Leid.« Seltsame Bruchstücke eines Traumes trieben in meinem Kopf umher: eine Verfolgung über eine weite Grasebene. War Arimelin nicht damit zufrieden, dass sie mir die Nächte verdarb? Musste die Göttin mir nun auch noch bei Tag Träume schicken? Offenbar war ich einen Augenblick eingedöst. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir so etwas auf einem Pferd schon einmal passiert war. Andererseits konnte ich mich auch nicht daran erinnern, jemals so müde gewesen zu sein – jedenfalls nicht in letzter Zeit. Beunruhigt fragte ich mich, ob diese Schlafstörungen bedeuteten, dass ich krank wurde; doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hallten Rufe den Wagenzug entlang und zerstreuten meine verwirrten Gedanken. Ich erkannte, dass wir hielten, um ein Lager aufzuschlagen, und sah, dass Nyle eine große, grasbewachsene Lichtung dafür ausgewählt hatte, die ihm offenbar gut bekannt war. Während Halice die 114
Kutsche von der Straße herunterlenkte, sah ich, wie die Wachen sich daran machten, das Unterholz um uns herum zu lichten. Die Maultiertreiber rammten Pfosten in die Erde und brachten Dornengestrüpp dazwischen an: ein Pferch für ihre Tiere. Während wir uns ein nettes Plätzchen suchten, wurde aus den Wagen und Karren ein Verteidigungsring gebildet. Nyle kam zu uns und sprach mit Shiv, während wir unser kleines Lager im Kreis aufschlugen. »Ich möchte, dass jeder seine Tiere bei den Weiden dort tränkt.« Er deutete zu einem Bach auf der anderen Seite der Lichtung. »Den Graben dort drüben könnt ihr als Latrine benutzen.« Ich fragte mich, warum er immer wieder zu mir blickte, obwohl er mit Shiv sprach, und ich war neugierig genug, es Livak gegenüber zu erwähnen, als wir gemeinsam Feuerholz suchten. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass er deinen Körper haben will; er sieht nicht aus wie ein Mann, der von beiden Seiten aus dem Becher trinkt. Ich glaube, du siehst Geister in den Schatten. Du bist bloß übermüdet.« Ich verfolgte das Thema nicht weiter; dennoch war ich weiterhin nervös, als ich ins Zwielicht unter den Bäumen blickte. »Rechnet jemand damit, dass uns hier ernsthaft Ärger drohen könnte?«, fragte ich die anderen, als ich mich zum Essen setzte. »Um solch ein großes Lager angreifen zu können, müsste man schon mit einer beachtlichen Streitmacht anrücken.« Nachdenklich ließ Halice ihren Blick über das Gelände schweifen. »Es hängt davon ab, wie hart der Winter hier in der Gegend war.« »Einer der Maultiertreiber sagte, dass die örtlichen Lords ihre Waldhüter losschicken, um die Vagabunden von hier zu ver115
treiben, bevor die Hirsche ihre Jungen bekommen, aber dafür sind wir noch etwas zu früh«, sagte Shiv, der auf einem Stück Huhn kaute. »Nyle geht kein unnötiges Wagnis ein. Schau. Er stellt überall Wachen auf.« Wir sahen nach den Tieren, entschieden, wer wo schlafen würde und beobachteten die Wachen, die am Rand der Lichtung patrouillierten, während die Nacht sich über die Lagerfeuer senkte. »Ich schaue gern dabei zu, wie Wachen aufgestellt werden, wenn ich weiß, dass ich nicht selbst auf Posten stehen muss.« Halice lächelte breit, als sie sich in ihre Decke wickelte. Shiv schnarchte bereits melodisch, und Livak gähnte über ihrem letzten Rest Wein. Ich rollte meinen Mantel zu einem Kissen zusammen, zog die Decke um mich herum straff, schloss die Augen und lauschte den leisen Stimmen an den größeren Lagerfeuern. Ein paar Zeilen des alten dalasorianischen Liedes trieben zu uns herüber, in dem all die Burschen aufgelistet werden, die versuchen, unter die Decke einer Jungfrau zu kommen, und gelegentlich lachte jemand bei einem freundschaftlichen Runenspiel laut auf. Der volle Duft von Holzrauch mischte sich mit dem feuchten Atem des erwachenden Waldes, und ich schlief langsam ein; mein letzter wacher Gedanken galt der Hoffnung, dass Livak nicht verführt wurde, an irgendeinem der Spiele teilzunehmen. Ich wurde von drängenden Rufen aus dem Schlummer gerissen, denen mein schlaftrunkener Geist keinen Sinn entnehmen konnte. Ich war bereits halb auf den Beinen, bevor mein Kopf meinen Körper einholte und starrte verwirrt auf den schwarzhaarigen Fremden vor mir. Die blassblauen Augen in seinem schmalen Gesicht waren weit aufgerissen, und er streckte die 116
Hand aus, um mir aufzuhelfen; ein Saphirring funkelte im Feuerschein. Ich griff nach der Hand, hatte die Entfernung aber wohl falsch eingeschätzt, denn ich griff in die Luft. Der Mann schrie mich erneut an, doch konnte ich kaum verstehen, was er sagte; es klang wie Tormalin, war jedoch kein Dialekt, den ich kannte. Ein Schrei hinter mir ließ mich herumwirbeln, und ich sah drei zerlumpte und verdreckte Gestalten unter dem nächststehenden Wagen herausklettern; in den Händen hielten sie schartige Feldwerkzeuge und rostige Schwerter. Ihre Augen leuchteten vor Gier, und ihre Gesichter waren hart und brutal. Ich roch ihren Gestank, eine Mischung aus billigem Alkohol und Kaupflanzen. Nun, ich würde ihnen sogleich den Wind aus den Segeln nehmen. In den raueren Gegenden von Gidesta hatte ich schon schlimmeren Gestalten dieser Sorte gegenübergestanden. Als ich mein Schwert zog, um die Schurken zu vertreiben, warf ich einen flüchtigen Blick um mich. Shiv bewegte sich in die Mitte der Lichtung und konzentrierte sich darauf, ein zartes Netz aus Licht zwischen seinen Fingern zu weben; er drehte den Kopf hierhin und dorthin, um zu sehen, wo er am ehesten helfen musste. Viltred konnte ich nicht sehen, nahm aber an, dass er sich irgendwo bei Shiv aufhielt; vermutlich kauerte er mit der kleinen Gruppe von Frauen und Kindern dicht am Hauptfeuer. Plötzlich erschien ein saphirfarbenes Netz aus Zauberlicht um die Verwundbarsten und erschreckte die Wachen, die zurückgewichen waren, um sie zu verteidigen. Halice war bereits auf der anderen Seite, wo zwei überraschte Wachen von einer größeren Gruppe Banditen zurückgedrängt wurden, die aus dem Bachbett gekrochen waren. Der schwarzhaarige Fremde musste Halice als Erste geweckt haben; von ihrem verkrüppelten Bein hatte er vermutlich nichts 117
ihrem verkrüppelten Bein hatte er vermutlich nichts gewusst. Nass und verzweifelt schlugen die Vagabunden wild drauflos, um sich die Nahrung und das Geld zu erkämpfen, das sie begehrten. Es war ein armseliger Haufe, ausgemergelt und verdreckt; viele waren von alten Verletzungen oder Krankheit gezeichnet, doch ihre schmutzigen Klingen zeigten kein Mitleid, und ihre Augen versprachen den Tod. Ich schaute mich nach dem Fremden um, doch er war nirgends zu sehen. Ein rattengesichtiger Mann in Lumpen stürzte auf mich zu. Er schlug mit einer mit Nägeln bewehrten Keule nach mir, bis ich ihn mit einem gezielten Hieb, der ihm die Beine aufschlitzte, niederstreckte. Als er fiel, erkannte der Jüngling, der dem Mann gefolgt war, die Situation und ergriff die Flucht. Ein dritter Kerl, der auf mich eindrang, war aus härterem Holz geschnitzt – oder er war schlicht verzweifelt. Er stieß mit einer einst guten Klinge nach mir, die nun jedoch so aussah, als hätte er damit Holz gehackt. Ich täuschte einen Seitenangriff an, parierte und täuschte erneut; als der Kerl sich daraufhin ein Stück zu weit vorwagte, zerschmetterte ich ihm die Hand mit einem kräftigen Hieb. Hätte er noch den Verstand besessen, den Misaen ihm bei seiner Geburt verliehen hatte, wäre er getürmt, doch er musste es noch einmal versuchen, obwohl sein verdrecktes Gesicht sich vor Schmerz verzerrte. Ich hob mein Schwert und machte seinen Problemen ein Ende, indem ich ihm das Ohr glatt abtrennte; das brachte ihn zum Stehen. Als ich glaubte, einen Schatten neben mir zu sehen, sprang ich zur Seite, doch zu meiner Erleichterung war niemand dort; es war nur eine optische Täuschung, die das unsichere Licht bewirkt hatte. Trotzdem erinnerte es mich daran, wie nackt und ungeschützt meine Flanke war, nun, da Aiten nicht mehr an meiner Seite focht und mich 118
mit seinem stämmigen Leib deckte. Ein plötzlicher Hieb von hinten warf mich gegen einen Karren, und ich kroch auf allen Vieren in Sicherheit vor den wild um sich tretenden Hufen eines Pferds, das sich losgerissen hatte; der Lärm der Schlacht und der Übelkeit erregende Geruch von Blut hatten das Tier in Panik versetzt. Flüche hallten vom Pferch herüber, wo die Maultiertreiber verzweifelt versuchten, die Tiere unter Kontrolle zu halten, die sich immer verrückter gebärdeten. Das schrille Wiehern der Maultiere und das Heulen eines verängstigten Kindes drangen in den Nachthimmel hinauf. »Hilfe! Hierher!« Halices Stimme hallte über den Kampflärm hinweg. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie zwei Männern allein gegenüberstand. Die anderen Wachen konnten ihr nicht helfen; sie hatten alle Hände voll damit zu tun, ein Loch im Wagenkreis zu sichern, wo die Banditen einen Karren beiseite gezogen hatten. Halices verkrüppeltes Bein hielt sie an Ort und Stelle fest, so umbarmherzig wie eine Schnappfalle. Unfähig, sich zu bewegen, war ihr Hemd bereits an einer Stelle zerrissen, wo ein Schwert ihr eine blutende Wunde am Arm geschlagen hatte. Fluchend bahnte ich mir einen Weg durch das Kampfgetümmel. Bevor ich Halice erreichte, sah ich ein funkelndes Messer eine Wagenplane durchschneiden, und kurz erhaschte ich im Feuerschein einen Blick auf rotbraunes Haar. Ein junger Bursche, der ein Stück zurückhing und Halice verspottete, bekam ein Wurfmesser ins Genick – eine angemessene Strafe, wie ich fand. Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen sank er zu Boden, und Krämpfe durchzuckten seinen Körper, während ihm Schaum aus Nase und Mund quoll. Livak sprang vom Wagen 119
und stieß einem zerlumpten, stinkenden Kerl, der mit einer schweren Klinge auf Halice eindrosch, ihr Messer zwischen die Beine. Vor Schmerz und Erstaunen riss der Mann die Augen weit auf, bis das Gift seinen Kopf erreichte; sein Gesicht erstarrte zu einer verzerrten Maske. Halice überließ den Burschen dem Gift und nutzte die Gelegenheit, ihr Schwert ins Gesicht seines überraschten Kameraden zu stoßen, der daraufhin Blut spuckend zu Boden sank und in sein eigenes Messer fiel. Ein paar Wachen kamen hinter mir heran und stürmten auf die plötzlich zögernden Angreifer am Rand des Feuerscheins los. Ich duckte mich an ihnen vorbei, packte Halice um die Hüfte und riss sie aus dem Getümmel fort. Sie fluchte. »Halt den Mund, Halice!« Livak kam mit uns, angespannt und wachsam. Ihr Gesicht war der Dunkelheit und der Gefahr zugewandt; einen Dolch, dessen Klinge von einer öligen Substanz schimmerte, hielt sie wohlweislich weit von ihrem Körper entfernt. Ich zog Halice nach hinten. Sie hüpfte, um aufrecht zu bleiben, und verfluchte mich mit Worten, die einem derben Soldaten zur Ehre gereicht hätten. »Ich habe mich schon gefragt, wohin du verschwunden bist«, sagte ich zu Livak. Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Wann bist du in Caladhria zum letzten Mal in einen Kampf geraten? Meine sämtlichen Gifte waren sicher in meinen Gürteltaschen verstaut, mit Wachs und Blei doppelt versiegelt!« »Bist du verletzt?« Ich drehte mich um und sah Shiv hinter mir. »Was hast du gemacht? Wie wäre es zur Abwechslung mit nützlicher Magie?«, fuhr Livak ihn an. 120
»Und wen, schlägst du vor, soll ich abschlachten?«, rief Shiv erzürnt zurück. Ich sah in seinen Augen, dass die beiden Frauen ihm ebenso auf den Nerv gingen wie mir. Ich hielt kurz inne, damit Halice das Gleichgewicht wiedererlangen konnte; dann schauten wir uns um und sahen, dass die Wachen drei verschiedene Angriffe abwehrten. »Zu mir!« Nyles Gebrüll hätte einem brünstigen Bullen zur Ehre gereicht. Ich sah seinen eckigen Kopf, als er die Wachen dem letzten verzweifelten Angriff der Banditen entgegenführte, die noch immer den Verteidigungsring zu durchbrechen drohten. Ich rannte über das Gras und wich in Panik geratenen Tieren und Kaufleuten aus. Ein zerlumpter Kerl, dessen Haut mit schwärenden Wunden übersät war, kroch unter einem Wagen hervor und hätte mich fast mit einer verrosteten Sichel zu Fall gebracht; doch bevor ich mich um ihn kümmern konnte, wurde er von einem blauen Lichtblitz niedergestreckt, der ihm Gesicht und Haare verkohlte. Ich winkte Shiv dankend zu, ohne zurückzublicken, und trat in die Linie der Verteidiger, als ein Kaufmann mit einer blutenden Bauchwunde zurücktaumelte. Ich sah, wie Nyle eine riesige Klinge in tödlichem Bogen schwang; er hielt die Waffe in typischem dalasorianischem Zweihändergriff. Blut spritzte auf ihn, als der glänzende Stahl unter dem Kinn eines Gegners entlangfuhr und dem Mann das halbe Gesicht wegriss, doch Nyle blinzelte nicht einmal. Seine Augen wurden immer größer, als er all seinen Zorn in die Schwerthiebe legte, in die Lücke sprang und einen weiteren Banditen in einem Strom von Blut und Eingeweiden zu Boden streckte. Der Mann hatte offenbar eine Ausbildung im Schwertkampf gehabt, doch es nutzte ihm nichts, da nicht mal eine 121
einfache Rüstung seinen Leib schützte. Nyle rückte unerbittlich weiter vor; mit seinen genagelten Stiefeln trat er jeden beiseite, der nicht mehr rechtzeitig aufstehen konnte. Schulter an Schulter zu kämpfen, verlieh uns allen Mut; hinter dem vorrückenden Nyle bildeten wir eine keilförmige Formation. Instinktiv fielen wir in den Kampfrhythmus der meisten Milizen und trieben die Banditen zum Bach zurück. Ein als Viehdieb gebrandmarkter Mann mit langem Gesicht kam auf mich zu. Er parierte einen Hieb, dann noch einen, doch ein alter Tormalintrick, den ich den ganzen Winter geübt hatte, riss ihm schließlich das schartige Schwert aus der Hand, und ich erwischte ihn zwischen Hals und Schulter, worauf der Strauchdieb neben ihm in Panik geriet und losrannte; dann verließ auch die anderen der Mut, der aus Alkohol und Verzweiflung geboren war. Ihre Linie brach in sich zusammen, und jene, die zu spät reagierten, wurden niedergestreckt, bevor sie sich zur Flucht wenden konnten. Die Schnelleren hielten auf die Deckung des Bachbetts zu, doch kaum hatten sie das Wasser erreicht, vertrieb ein Blitz Zauberlicht die Dunkelheit unter den Bäumen. Gellende Schreie mischten sich mit dem spöttischen Lachen der Wachen, die sie verfolgt hatten, und ein seltsames Knacken und Knistern untermalte das Heulen der Sterbenden. Einen Augenblick blieb ich stehen; dann drehte ich mich zu meinen Gefährten um. Ich hatte nicht vor, mein Leben unnötig aufs Spiel zu setzen. Die Wachen wurden dafür bezahlt; also sollten sie das erledigen. Meiner Meinung nach endete meine Verantwortung damit, die Banditen zurückgetrieben zu haben. »Ruuuhig, ruuuhig.« Halice beruhigte unsere Pferde mit sanfter Stimme und getrockneten Äpfeln, während Livak in der Kutsche nach etwas suchte, womit sie ihre Messer abwischen 122
konnte. »Weißt du, Ryshad, ich habe ja schon davon gehört, dass Arimelin die Menschen im Schlaf auf Wanderung schickt, aber dass sie die Leute auch kämpfen lässt, wusste ich noch nicht.« Ihre grünen Augen schimmerten im Feuerschein. »Was meinst du damit?« »Woher hast du gewusst, dass sie kommen?« Halice blickte zu mir herüber. Sie kümmerte sich um ihre Verletzung, hielt das Ende einer Bandage zwischen den Zähnen und spie ein Stück Leinen aus. »Was hast du gesagt, als du mich geweckt hast? Mitten in der Nacht ist mein Tormalin nicht allzu gut.« Ich blinzelte, doch Shiv erschien an meiner Schulter und unterbrach das Gespräch, bevor ich die beiden Frauen fragen konnte, wovon sie eigentlich sprachen. »Das dürfte den Waldhütern der Lords ein gutes Stück Arbeit ersparen.« Shiv schien sehr zufrieden mit sich zu sein und wischte sich etwas von den Handschuhen, das wie Eis aussah; am Unterarm hatte er einen langen Schnitt davongetragen. Halice krempelte ihm den Ärmel auf und schnitt das Hemd von der Wunde. »Das muss genäht werden«, erklärte sie knapp und drehte sich zur Kutsche um. »Bei Saedrins Eiern!« Ich hatte den Dolch schon halb gezogen, als Halice erschrocken zurücksprang, doch es war nur Viltred, der sich aus seinem Mantel wickelte. »Bist du die ganze Zeit dort gewesen?«, fragte ich ungläubig. »Ich bin kein Krieger«, antwortete der alte Mann so würdevoll, wie es ihm in diesem Augenblick möglich war. »Ich hielt es für das Beste, keinem im Weg zu stehen; also habe ich mich unsichtbar gemacht.« 123
Niemand wusste, was er darauf erwidern sollte, also drehte ich mich wieder zu Shiv um, während Halice eine Stopfnadel in die Flammen des Lagerfeuers hielt. »Was genau hast du gemacht, Shiv?«, wollte ich wissen. »Die meisten haben versucht, über den Bach zu entkommen, und da hab ich das Wasser gefrieren lassen, was sie natürlich ebenso festhielt wie Nyle und seine Männer.« Shivs Lachen wurden von plötzlichem Schmerz erstickt, und Livak reichte ihm etwas zu trinken. »Was ist das?«, fragte Halice. »Branntwein. Ich habe ihn aus dem letzten Lager mitgebracht, aber wir hatten nie Gelegenheit, ihn zu trinken.« Livak blickte mich an und klimperte mit den Wimpern. »Dabei habe ich auch die neusten Kupferstiche ergattert, die das Liebesleben des Herzogs von Triolle darstellen.« Dies versprach eine recht deftige, um nicht zu sagen obszöne Unterhaltung. Ich blickte zu den Bäumen; die Dunkelheit verbarg das Gemetzel, das sich in ihren Schatten abspielte. Männer zu fangen und wie Ungeziefer abzuschlachten ... Ich wusste nicht recht, ob mir diese Vorstellung gefiel. Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Tot ist tot, sagte ich mir, und Shiv hatte vermutlich einige der Wachen vor Verletzungen oder Schlimmerem bewahrt. »Kennst du diese Sterne?«, fragte ich Livak. »Was meinst du, wie spät es ist?« Sie blickte nach oben. »Halcarions Krone ist gerade über den Zenith, also ist es nicht mehr lange bis zur Dämmerung.« Ich fragte mich, ob Poldrion den toten Banditen mehr oder weniger Fährgeld abknöpfen würde, weil sie auf seiner Seite der Nacht zugeschlagen hatten. Halice war derweil mit Shivs Arm 124
fertig; sie hatte gute Arbeit geleistet. »Ich habe Messires Arzt schon schlechter nähen gesehen«, lobte ich sie. »Nicht viele Soldaten lernen solche Fertigkeiten.« »Ich bin fünf Tagesreisen vom Arsch der Welt entfernt aufgewachsen«, erklärte Halice in nüchternem Tonfall. »Noch vor meinem zehnten Lebensjahr habe ich gelernt, mit fast allem zurechtzukommen.« Die Tiere wollten sich noch immer nicht beruhigen, solange es überall um sie herum nach Tod roch, und alle versuchten, wieder so etwas wie Ordnung ins Lager zu bringen. Ich beschloss, dabei zu helfen, die Leichen außerhalb der Wagenburg zu schleppen; keine angenehme Arbeit, aber ein toter Räuber kann einem nicht mehr schaden, während ein unruhiges Pferd einem auf den Fuß treten kann, und das wiederum kann einem gleich mehrere Tage verderben – eine Lektion, die ich in Messires Diensten schon früh gelernt hatte. Ich ließ den Blick über die Leichen schweifen, nur für den Fall, dass einer der Toten das flachsfarbene Haar der Elietimm besaß, doch ich entdeckte keinen. Auf eine genauere Untersuchung verzichtete ich; diese Männer hatten ihre Runen geworfen, und sie würden mit dem Wurf zurechtkommen müssen, genau wie wir anderen auch. Der einzige Tote, an den ich einen Gedanken verschwendete, war ein dürres Bürschchen, das ich herumdrehte, um das zerrissene Wams besser packen zu können. Der Junge hatte schon vor langer Zeit die Hälfte seiner Hand und ein gutes Stück Fleisch von seinem Arm verloren – vermutlich durch eine Schnappfalle, wie Bauern sie auslegen, um Wölfe und dergleichen zu fangen. Falls er irgendwo eine Arbeit gehabt haben sollte, hatte er sie mit seinen Fingern verloren. Wie immer seine Geschichte gewesen sein mochte – Dieb 125
oder Bauer, böse oder ehrlich –, jemandes Schwert hatte den letzten Vers geschrieben, als es in den Brustkorb eingedrungen war. Knochensplitter ragten aus der klaffenden Wunde, als ich ihn über die blutgetränkte Erde schleppte. Der arme dumme Kerl. Ich blickte zu Halice hinüber, die unbeholfen mit ihrem verkrüppelten Bein auf dem Boden kniete. Sie würde nie so tief sinken wie dieser Junge, nicht solange Livak und ihre anderen Freunde sie über Wasser hielten; aber das Leben, das sie gekannt und genossen hatte, war vorbei, und man sah ihr deutlich an, dass sie das wusste. In mancher Hinsicht war sie genauso fertig wie der arme Kerl, dessen Eingeweide über den Boden schleiften, bis ich ihn den Hang hinunterrollte, an dessen Fuß er dann zusammen mit den anderen lag. Kein Wunder, dass Halice verzweifelt genug war, sich mit einem Zauberer einzulassen. »Wollen wir mal was davon probieren.« Nachdem ich zum Feuer zurückgekehrt war, griff ich nach dem Branntwein. Ich atmete tief ein, um den Gestank von Blut und Fleisch aus meiner Nase zu bekommen, und hustete, als der Alkohol in meiner Kehle brannte. Wir ließen die Flasche herumgehen, bis nur noch knapp ein Fingerbreit übrig war. »Normalerweise würde ich Branntwein für vier Kronen nicht so trinken«, bemerkte Livak und nahm noch einen Schluck. »Ich bin froh, dass du ihn dabei hattest.« Shiv hielt den Arm dicht an die Brust gepresst; der Alkohol schien den Schmerz deutlich zu mildern. »Natürlich ist es nicht so, als hätte ich dafür bezahlt«, sagte Livak. »Wir scheinen nicht allzu beliebt zu sein«, bemerkte Viltred 126
belustigt und mit leuchtenden Augen in seinem faltigen Gesicht, als er die Flasche an mich weiterreichte. Ich folgte seinem Blick und sah, dass die Kaufleute, die am nächsten bei uns geschlafen hatten, nun auf der anderen Seite des Feuers lagen, so weit wie möglich von uns entfernt. Besonders Shiv war das Ziel misstrauischer Blicke, als die beiden stämmigen Männer sich in ihre Mäntel wickelten und sich darauf vorbereiteten, den Rest der Nacht dösend auf ihren Wagen zu verbringen. Ich konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Zu sehen, dass echte Magie töten kann – oder anderen dabei helfen kann zu töten –, ist ein Schock; das läßt sich nicht leugnen. Wir haben nicht viele Magier in Tormalin, aber in jedem größeren Dorf findet man Alchimisten und Wahrsager, und ein paar davon sind echt. Ich konnte mich an ein Mädchen aus der Nachbarschaft erinnern, das die Schule für höhere Töchter verlassen hatte, um bei dem Zauberer im größeren Teil der Stadt zu studieren, auf der anderen Seite des Isthmus. Fast jeder hat einen Verwandten oder kennt jemanden, dessen Gespür für gute Fischgründe oder dessen grüner Daumen sich als Folge einer Magiegeburt herausgestellt hat. Nur können die meisten Leute sich nicht vorstellen, dass dieser Jemand irgendwann Blitze aus seinen Fingern schießen läßt, die einen Banditen braten. Aber das war Shivs Problem, nicht meins – für den Moment jedenfalls. Ich gähnte, wickelte mich in meinen Mantel und legte mich hin, um wenigstens noch ein wenig zu schlafen.
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Ein weitläufiges Tormalingut inmitten von Gärten an einem grasbewachsenen Hang
Temar beobachtete mit zunehmender Verärgerung, wie eine weitere Viehherde in eine der Koppeln getrieben wurde. Rufe hallten von einer Gruppe Männer herüber, die rasch zusätzliche Zäune errichteten, da einige der Tiere auszubrechen drohten, wodurch sie die Arbeit eines ganzen Tages zunichte gemacht hätten. Ein dunkelhäutiger Viehtreiber wandte sich an Temar. »Wo finde ich Junker Lachald?«, fragte er nicht gerade höflich. »Im Haus«, antwortete Temar knapp. »Nein. Warte. Ich werde dich zu ihm führen.« Es war an der Zeit, dass er einmal mit Lachald sprach, befand er – Zeit, dem Junker klar zu machen, was der Sieur mit seinen Anweisungen im Sinn gehabt hatte, die von Temar überbracht worden waren. Er stapfte durch die Gärten und stieß das Tor zum grasbewachsenen Innenhof auf; der kleingewachsene Viehtreiber musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Temar ließ seinem Zorn freien Lauf, als er eine der Türen aufstieß, die auf allen Seiten vom Hof in das einstöckige Gebäude führten. »Kann ich euch behilflich sein?« Lachald lugte hinter seinem Schreibtisch hervor. Er war fast vollkommen hinter Pergamentstapeln mit Zahlenkolonnen und Notizen verborgen. Seine dicken Finger waren mit Tinte verschmiert, und sein spärliches blondes Haar war ungekämmt. »Seid gegrüßt, Euer Gnaden.« Der Viehtreiber warf Temar ei128
nen verunsicherten Blick zu; dann fuhr er fort: »Wir haben die Herden von den westlichen Weiden hereingebracht; das dürfte dann alles Vieh gewesen sein. Die Schafe waren nicht weit hinter uns. Sie sollten spätestens um zwei hier sein.« »Danke, Rhun.« Lachald wühlte in seinen Pergamenten und zog eines heraus. »Geh und besorg dir eine ordentliche Mahlzeit. Ach ja, und sag dem Verwalter, er soll ein Fass für euch alle aufmachen. Was sollen wir’s nach Tormalin zurückschleppen, wenn wir es auch hier trinken können, nicht wahr?« »Seid bedankt, Euer Gnaden.« Rhun senkte den Kopf und huschte hinaus, froh, Temars greifbarer Wut zu entkommen. »Ist es wichtig, Junker?« Lachald hielt den Blick fest auf die Schreibfeder gerichtet, die er nun anspitzte. »Ich bin ziemlich beschäftigt.« »Warum diese Verzögerungen, während die Hirten einen weitere Herde abgemagerter Kühe und räudiger Schafe hereinbringen?« Temar machte sich nicht die Mühe, seine Wut zu verbergen. »Ich habe Euch gesagt, dass Pferde Vorrang haben; sie sind weit wertvoller für den Sieur. Wir hätten schon vor Tagen aufbrechen sollen.« »Der Sieur hat mir befohlen, seine bewegliche Habe einschließlich der Pächter und Leibeigenen aus diesem Teil Dalasors zurückzuholen – und das auf so geordnete Art, wie ich es vermag.« Lachald legte die Hand auf ein Pergament, auf dem Temar das Siegel seines Großvaters erkennen konnte. »Ich werde nicht die Zukunft von Familien opfern, von denen einige schon über Generationen hinweg dieses Land brav und ordentlich bewirtschaftet haben, nur weil ihr schnell zu Geld kommen wollt.« »Der Sieur braucht Geld!«, stieß Temar wütend hervor. 129
Lachald überflog das Pergament, bevor er antwortete. »Er hat seinem Wunsch Ausdruck verliehen, einen Teil eines neuen Kolonialunternehmens zu finanzieren, und ich vertraue seinem Urteil voll und ganz. Nichtsdestotrotz ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder, der von hier aufbricht, so viel von seinem Eigentum mitnehmen kann, wie nur irgend möglich, und das schließt auch die Tiere ein.« »Was hat es für einen Sinn, halb verhungertes Vieh zusammenzutreiben, dessen Fleisch so zäh ist wie die Sohlen alter Stiefeln?« »Die Tiere können sich auf den Weiden entlang der Großen Weststraße fett fressen.« Lachald beugte sich über sein Geschreibsel, als wäre das Gespräch damit beendet. »Das heißt, das Vieh wird erst im Nachsommer verkäuflich sein.« Temar schlug die Hände auf den Tisch und beugte sich vor; seine Augen schimmerten hart und drohend. Lachald zeigte keine Reaktion. »Messire Den Fellaemion will spätestens zum Nachfrühlingswechsel segeln, und wir brauchen eine volle Jahreszeit für die Vorbereitungen, wenn wir uns ihm anschließen wollen.« »Dann lasst Messire Den Fellaemion segeln, wenn er will«, erklärte Lachald ungerührt. »Die Erträge aus dem Verkauf dieser Tiere werden helfen, die Leute auf dieser Seite des Ozeans wieder anzusiedeln. Der Sieur hat ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass niemand mittellos gemacht werden soll.« »Es wird niemand mittellos! Sie können mich in die neue Kolonie begleiten! Natürlich nur, wenn wir je ein Schiff kaufen und ausrüsten können«, erklärte Temar in verächtlichem Tonfall. »Das ist auch einer der Grund dafür, dass wir nur die Sachen zusammensuchen, die man rasch zu Geld machen kann: 130
Zuchttiere, Pferde für die Kohorten, Wein und Schnaps. Wir müssen schnell sein – und das sind wir nicht, wenn wir jede halbe Meile halten müssen, weil eine Milchkuh wieder ein Kalb wirft!« »Und was ist mit denen, die der Sieur zu gehen zwingt, die sich aber nicht aufs offene Meer und auf eine Reise in ein ungezähmtes Land wagen wollen, in dem Gefahren lauern, von denen Talagrin allein weiß?« Inzwischen schlich sich ein Hauch von Wut in Lachalds Stimme. »Wird man sie einfach wegwerfen? Zusammen mit dem zerbrochenen Kochgeschirr?« »Wenn sie bleiben wollten, dann sollen sie. Doch jedes Haus, das halbwegs bei Verstand ist, zieht sich aus Dalasor zurück. In fünf Jahren wird es auf dieser Seite des Astmarsch keine Tormalin mehr geben.« »Was hat das mit unserer derzeitigen Lage zu tun?« Temar starrte Lachald einen langen Augenblick an; dann machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte aus dem Raum. »Wisst Ihr, Junker D’Alsennin, wenn Ihr je ein würdiger Sieur Eures Hauses werden wollt, müsst Ihr lernen, besser mit Leuten umzugehen.« Lachald lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme, und auf seinem fetten Gesicht erschien ein sardonisches Grinsen. Temar drehte sich halb um und klappte den Mund auf. Erstaunen huschte über sein Gesicht, gefolgt von heißem Zorn. »Ich wurde hierher gesandt, um eine Aufgabe zu erfüllen, und Ihr ... Ihr ...«, schrie Temar. »Oh, seid endlich still!«, unterbrach Lachald den jüngeren Mann mit einem volltönenden Brüllen. Temar kochte vor Zorn. Er wusste nicht, ob er weiterstreiten oder sich die Befriedigung gönnen sollte, die Tür hinter sich 131
zuzuschlagen. »Nehmt Euch ein Glas Wein, dann können wir unsere Möglichkeiten wie vernünftige Männer bereden«, forderte Lachald in bissigem Tonfall. Er stand auf, drehte sich zu einem Regal um und holte eine Flasche Wein und zwei Gläser hinter ein paar Büchern hervor. »Rielle meint, ich trinke tagsüber zu viel«, erklärte er, als er Temar eines der grob geschliffenen grünen Gläser anbot. »Sie besteht darauf, mir Dünnbier zu schicken, wenn ich nach einer Erfrischung rufe. Setzt Euch ... bitte.« Temar zögerte einen Augenblick; dann nahm er den Wein und suchte sich einen Stuhl. »Das ist schon besser.« Lachald trank einen kräftigen Schluck und schloss kurz die Augen, ehe er fortfuhr; er sah müde aus. »Ich weiß, dass es die Reitpferde sind, die Bullen, die Hammel, die das Geld für Euer Schiff und Eure Ausrüstung bringen werden. Ich wünsche Euch alles Gute, und wenn Ihr segelt, werden wir an Dastennins Altar Weihrauch verbrennen.« Er hob sein Glas zum Tost, und Temar trank widerwillig einen kleinen Schluck. »Warum tun wir dann nicht ...«, begann er dann, doch Lachald fiel ihm ins Wort; der Tonfall des Älteren forderte Aufmerksamkeit. »In der Zwischenzeit muss ich das ganze Spiel im Auge behalten und sehen, wie die Runen fallen. Ich erwarte nicht, dass Ihr auf das Milchvieh und die Ochsenkarren wartet – nicht nachdem wir erst einmal den Astmarsch hinter uns gelassen haben. Ihr könnt Euch gerne das Beste nehmen, sobald wir wieder unter dem Schutz der Kohorten stehen, aber bis dahin müssen wir zusammenbleiben, sonst werden wir beim ersten 132
Angriff der Steppenmänner in Stücke gehauen. Und ich will verflucht sein, wenn ich irgendetwas zurücklasse, das diese Hundesöhne gegen eine der anderen Siedlungen hier in der Gegend einsetzen könnten. Wenn es nicht schlecht für die Moral wäre, würde ich morgen schon aufbrechen und alle Gebäude in Brand stecken lassen!« »Warum habt Ihr mir das nicht schon früher gesagt?«, verlangte Temar zu wissen. »Warum habt Ihr mich nicht danach gefragt?«, erwiderte Lachald, und seine dunklen Augen funkelten herausfordernd. »Warum habt Ihr mir nicht die Höflichkeit erwiesen und seid davon ausgegangen, dass ich etwas von meinem Geschäft verstehe, nachdem ich dem Sieur über fast eine Generation hinweg in dieser Gegend gedient habe?« »Bitte verzeiht, Junker«, sagte Temar steif. »Ich bin es, der sich entschuldigen muss, Junker«, erwiderte Lachald mit leisem Spott. Temar leerte sein Glas und stellte es vorsichtig auf die Tischplatte. »Ich sehe Euch dann beim Abendessen«, sagte er. Lachald blickte dem jungen Mann hinterher und schüttelte mit einer Mischung aus Verzweiflung und Belustigung den Kopf; dann widmete er sich wieder den scheinbar endlosen Listen, die dieser Aufbruch mit sich zu bringen schien. In der Kolonnade vor der Tür des Arbeitszimmers blieb Temar kurz stehen. Die Laute des mürrischen Viehs und der überarbeiteten Männer hallten über das flache Dach. Temar betrachtete die Schwielen und Abschürfungen an seinen Händen und sagte sich, dass er heute genug harte Arbeit für das Wohlergehen seines Hauses geleistet hatte. Die Sonne versank hinter dem Hauptgebäude, als Temar ü133
bers Gras hinweg darauf zuging. Er blickte zu den rötlichen Wolken hinauf, die vom stetigen Wind Dalasors über den zunehmend dunklen Abendhimmel getrieben wurden. Temar brach einen Zweig von einem kleinen Gewürzstrauch ab, der in einem Topf an der Kolonnade wuchs, und atmete tief durch, während er über die zarten Blätter strich. Dann schloss er die Augen und gestattete sich einen Augenblick lang, an seine Mutter zu denken, die stets Gewürze in ihren Tee haben wollte. Ihre Hochzeit zur Wintersonnenwende erschien ihm wie der einzige Tag in seinem Leben, an dem er nicht der Expedition Den Fellaemions entgegengefiebert hatte. Temar betrat die Eingangshalle, und seine Schritte hallten von den kahlen Wänden wider. Die üppigen Wandbehänge, die einst die Qualität der Wolle zur Schau gestellt hatten, welche hier hergestellt wurde, waren bereits verpackt und auf einem der Ochsenkarren verstaut. Eine Dienerin erschien aus einem der Vorzimmer und knickste rasch, als wäre sie genauso überrascht, Temar zu sehen, wie er von ihrem Anblick überrascht war. »Entschuldigt bitte«, murmelte sie, als sie sich mit einem Arm voll Bücher und einem Reiseschreibtisch an ihm vorbeischob, den Temar als Eigentum von Rielle erkannte. Offenbar hatte man endlich damit begonnen, die Privatgemächer leer zu räumen. Dann kam ihm ein Gedanke, und er schnüffelte und drehte den Kopf in Richtung des Küchenflügels. Wenn das so weiterging, würden sie das Gut mit mehr Wagen verlassen als der kaiserliche Tross. Temar kehrte zur Kolonnade zurück, ging rasch zum Schrein und schloss die Tür hinter sich. Die beiden Statuen starrten ihn mit gleichgültiger, marmorner Geduld an. Temar setzte sich auf 134
einen Stuhl und blickte nachdenklich auf die halb mannshohen Figuren. Talagrin war kein Gott, den anzubeten er gewöhnt war; das Wohlwollen des Gottes der Wildnis war nur von geringer Bedeutung, wenn man in einer der größten Städte Tormalins lebte. Plötzlich überkam Temar ein ungutes Gefühl. Ob der Gott wohl diesen lästerlichen Gedanken gehört hatte? Der gute Wille Talagrins würde bald schon sehr wichtig für Temar sein, wenn er eine Kolonie in der Wildnis errichten wollte. Temar öffnete eine Schublade im Sockel der Statue, die mit der Haut eines längst vergessenen Raubtiers ausgelegt war, und holte ein Weihrauchstäbchen heraus. Es war noch frisch, und in der Brandschale vor der Statue sah Temar Aschereste. Offenbar war er nicht der Einzige, der um Schutz für die bevorstehende Reise bat. Mit Feuerstein, Stahl und einem Büschel trockener Wolle entfachte er ein Flämmchen und zündete den Weihrauch an. Einen Augenblick atmete er den wohlriechenden Duft ein und spürte, wie sich allmählich die Spannung hinter seinen Augen löste, die ihn schon den ganzen Tag plagten, sich glücklicherweise aber nicht zu Kopfschmerzen ausgeweitet hatten. Larasion betrachtete Temar über die Blumen, Früchte und kahlen Äste hinweg, die sie im Arm hielt, während er eine zweite Opfergabe vorbereitete. Er hatte schon oft solche Opfer dargebracht: Er hatte um schönes Wetter gebetet, wenn die Aussicht auf einen schönen Tag im Freien mit einem hübschen Mädchen bestand, und um Wind, Regen und Kälte, wann immer eines dieser Mädchen ihn zu einer Familienfeier gebeten hatte, um sich von ihren Eltern in Augenschein nehmen zu lassen. Das war ja alles schön und gut, aber Regen und Sonne zur rechten Jahreszeit für eine gute Ernte würde den Unter135
schied zwischen Erfolg und Misserfolg für Den Fellaemions Kolonie bedeuten; hier ging es nicht mehr nur um Soll und Haben in den Hauptbüchern der D’Alsennin. Mit feierlicher Mine entzündete Temar ein weiteres Weihrauchstäbchen und blickte in das ernste, schöne Gesicht der Göttin in der Hoffnung, sie würde seine unausgesprochenen Bitten verstehen. Die Tür öffnete sich, und ein kleines, spitzes Gesicht, umgeben von Goldborten, spähte herein. »Oh, Temar, lass dich von mir nicht in deinen Gebeten stören.« »Ist schon gut, Daria. Komm rein.« Temar stand auf, und das Mädchen kam herein. Sie brachte die unterschiedlichsten Gerüche mit, die sich mit dem Weihrauch zu einer benebelnden Mischung vereinten. Daria setzte sich mit geübter Grazie. »Tante Rielle hat mich den ganzen Tag im Destillierraum arbeiten lassen.« Daria wedelte sich mit ihrer schön manikürten Hand, die nun jedoch ein wenig schmutzig war, Luft zu. »Halcarion allein weiß, ob ich meine Finger je wieder sauber kriege.« Sie zeigte Temar ein paar kleinere Flecken, wobei sie ihre Hand ein wenig länger in die seine legte, als eigentlich notwendig gewesen wäre. »Ich dachte, ich könnte hier drin ein wenig Ruhe und Frieden finden und es vielleicht eine Zeit lang vermeiden, dass man mir eine neue Arbeit gibt«, gestand sie und klimperte schelmisch mit ihren dunklen Wimpern. »Dann haben wir etwas gemeinsam«, erwiderte Temar mit erfahrenem Charme. Nach ein paar Eskapaden zur Sonnenwende hatte man Daria für ein paar Jahreszeiten hier herauf geschickt, erinnerte er sich. Es hatte Gerüchte über eine Affäre mit einem 136
Kupferschmied gegeben; auf jeden Fall hatte sie die Grenzen überschritten, die einzuhalten die meisten anständigen Familien von ihren Töchtern erwarteten. Daria gähnte und streckte die Arme über den Kopf. Dabei fielen die Ärmel ihres Kleides herunter und enthüllten eine verführerische milchweiße Haut. Sie erinnerte Temar an die blassgoldene Schoßkatze, die seine Mutter einst gehabt hatte: alles war kokettes Gehabe. Er fragte sich, wie Daria wohl reagieren würde, wenn man sie ein wenig streichelte. »Ich bin hungrig«, beschwerte sie sich plötzlich. »Niemand scheint sich ums Abendessen gekümmert zu haben, hast du das gewusst?« »Wie wäre es, wenn ich uns Brot und Fleisch hole? Dann können wir uns ein ruhiges Eckchen suchen, nur für uns zwei.« Temar beugte sich vor und wurde mit einem erregenden Blick in Darias Dekollete belohnt. Daria lächelte ihn frech an; sie kannte ihre Reize. »Ich werde uns etwas Wein besorgen. Bei all dem Durcheinander wird niemand eine Flasche vermissen. Wir treffen uns am Tor zum Küchengarten.« Temar warf noch einen Blick auf die Statuen, bevor er Daria hinausfolgte. Er lächelte. Was immer Talagrin und Larasion denken mochten – Halcarion war ihm offenbar freundlich gesonnen. Temar fühlte sich erfrischt und war froh gelaunt, als er am nächsten Morgen den Aufbruch der Wagen beobachtete. Die Herden waren bereits unterwegs, wie die Staubwolken im Süden zeigten. »Sind alle da?« Lachald hielt unbeholfen eine Liste in der selben Hand, in der er auch die Zügel hielt, und ein Holzkohle137
fleck an seiner Schläfe verriet, dass er sich den Kohlestift hinters Ohr geschoben hatte. »Alles klar.« Rielle marschierte zu ihrer Kutsche, nachdem sie das Verladen der Götterbildnisse aus dem Schrein beaufsichtigt hatte. Rielle war eine große, hagere Frau mit kantigem Gesicht, die sich von niemandem etwas gefallen ließ, nicht einmal vom Kaiser, wie manche behaupteten. Es hatte Temar ein wenig überrascht, als Rielle darauf bestanden hatte, dass die Statuen als Letztes die Villa verließen, um kein Unglück heraufzubeschwören. Als ein Lakai die Kutschentür öffnete, konnte Temar einen kurzen Blick auf Daria werfen, die ziemlich verstimmt wirkte. Zu seiner Erleichterung hellte sich ihr Gesicht merklich auf, als sie ihn sah, und sie warf ihm ein kurzes, verschwörerisches Lächeln zu. Es hätte ihm gar nicht gefallen, wären ihre Geschäfte vergangene Nacht nicht zu Darias vollster Zufriedenheit verlaufen. Eine Schande, dass sie keine angemessene Ehefrau abgibt, sinnierte er. Auf jeden Fall besaß sie den Charme, den ein Sieur bei seiner Dame benötigte, doch Temar gefiel die Vorstellung nicht, mit einem derart ... einladenden Mädchen verheiratet zu sein. In der Nähe wurde ein Horn geblasen. Das Pferd erschreckte sich, und Temar wäre fast aus dem Sattel geworfen worden. Die Wagen setzten sich langsam in Bewegung. Das Muhen der widerwilligen Ochsen mischte sich mit dem Knarren von Holz und Leder und verwandelte sich in ein stetes Rumpeln, als die Wagenkolonne auf die Straße rollte. Temar schaute sich nach seinen Kundschaftern um und nickte Rhun zu, in dem er – ungeachtet seiner Manieren – einen nützlichen Mann erkannt hatte. Rhun hob ein an einer Lanze befestigtes Banner und stellte es in eine dafür vorgesehene Halterung am Steigbügel. 138
Temar trieb sein Pferd an und trabte die Kolonne entlang. Hinter ihm formierte sich ein immer größerer Zug jener, die er als Wachen auserkoren hatte, und die nun ihre Familien und ihren Besitz auf den Wagen erst einmal allein ließen. Er führte sie auf eine kleine Anhöhe, wo sie hielten und den Fortschritt der Wagenkolonne über das unendliche Grasland beobachteten. »Ich rechne nicht mit ernsten Schwierigkeiten, aber es kann nicht schaden, wachsam zu sein«, sagte Temar. »Was ist mit den Steppenmännern?«, fragte einer der jüngeren Männer nervös. Auch in den Augen der anderen sah Temar einen Hauch von Besorgnis. »Die letzten echten Steppenmänner sind vor mehr als zwanzig Generationen von den Kohorten vertrieben worden«, erklärte Temar und verzog das Gesicht, als er skeptisches Murmeln hinter sich hörte. Er hob die Stimme ein wenig. »Natürlich gibt es Räuber, die ordentliche, hart arbeitende Hirten wie euch überfallen und es auf Züge wie den unseren abgesehen haben; also solltet ihr alle die Augen offen halten. Ich nehme nicht an, dass sie mutiger sind als vierbeinige Aasfresser. Deshalb glaube ich, dass sie den Schwanz einziehen und sich in ihre Höhlen verkriechen, wenn wir uns verteidigen.« Das brachte ihm zumindest ein paar Lacher ein. Temar hatte jedem Mann einen Partner und eine Wachschicht zugeteilt und in der Nacht alles niedergeschrieben; dabei hatte er die Befehle nicht vergessen, die Lachald ausgegeben hatte, nämlich nur Verwandte zusammenzutun und sie in der Nähe ihrer eigenen Besitztümer als Wache aufzustellen, damit sie ein wenig aufmerksamer waren. Temar grinste vor sich hin. Das Licht der Lampe, die er zum Schreiben entzündet hatte, hatte Daria geweckt, und sie hatte ihn in ihrem Bett will139
kommen geheißen, um ihm ihr eigenes, wiedererwachtes Feuer zu zeigen. Nun ritt er gut gelaunt wieder am Zug entlang. Doch seine gute Laune verflog sofort, als er einen der Jungen hinter ihm leise mit seinen Kameraden reden hörte. »Es lässt sich leicht sagen, dass alle echten Steppenmänner verschwunden sind, aber ich habe gehört, dass einige von ihnen aus der Anderwelt zurückgekehrt sind. Sie werden Geistermänner genannt. Sie treten aus den Schatten und schießen dir ihre kleinen Kupferpfeile in den Leib.« Temar stapfte zu dem pickeligen Jüngelchen. »Was redest du für einen Unsinn? Am besten, du erzählst deine Geschichte heute Abende den Kindern am Lagerfeuer, du Dummkopf! Vielleicht kannst du ja eine Panik heraufbeschwören! Die Frauen werden sich darüber freuen! Wer ist deine Mutter? Ich wette, sie würde dir den Hosenboden stramm ziehen, wenn sie wüsste, was für einen Unsinn du hier von dir gibst.« Der Junge lief puterrot an. Seine Kameraden lachten ein wenig gezwungen, aber laut genug, um Temar davon zu überzeugen, dass der Junge keine solche Geschichten mehr verbreitete. »Macht euch an die Arbeit«, befahl er und beobachtete zufrieden, wie die Männer sich verteilten. Einige saßen noch ein wenig unbeholfen im Sattel. Sie waren das Reiten und das Schwert an ihrem Gürtel nicht gewöhnt, doch alle ließen aufmerksam den Blick über die weite Steppe schweifen. »Lass uns vorauskundschaften!« Temar trieb sein Pferd zu einem schnellen Trab an. Rhun folgte ihm. Trotz des Standers kam er mit dem Reiten beneidenswert gut zurecht. Temar führte seine Männer vom Hauptweg, um den Staub zu meiden, den die Wagenkolonne verursachte. Rhuns scharlachrotes Banner flat140
terte über ihren Köpfen und zeigte allen, dass die Wachen auf ihrem Posten waren. Temar ließ den Blick über den Horizont schweifen und runzelte die Stirn, als ein seltsames Bauwerk in der eintönigen Steppe seine Aufmerksamkeit erregte. »Dieser Ringwall ist die einzige Deckung in vielen Meilen Umkreis. Lass uns dafür sorgen, dass niemand ihn benutzt.« Er wartete nicht auf Rhuns Antwort, sondern trat seinem Pferd die Fersen in die Flanken, froh, endlich eine Grund zu haben, das Tier galoppieren zu lassen. Doch als sie sich dem Erdwall näherten, zügelte Temar sein Pferd in einiger Entfernung, um eine Flucht zu ermöglichen, sollten Räuber innerhalb der grasbewachsenen Wälle lauern. »Niemand da«, erklärte Rhun selbstbewusst. »Jedenfalls war in letzter Zeit keiner mehr hier.« Temar verzog das Gesicht, als eine Windbö den Geruch von Verbrannten zu ihm herübertrieb. »Lass uns mal drinnen nachsehen.« Er ritt zur Öffnung auf der Wind abgewandten Seite des Walls und zog sein Schwert, bevor er hineinritt. Er lächelte. Wie erwartet, lauerten hier weder Räuber, noch nutzten kleine Männer die Schatten, um aus der Anderwelt in diese Welt hinüberzutreten. Das kurze Gras wurde jedoch von einer dunklen Narbe durchzogen, und Temar stieg vom Pferd, um sie sich genauer anzuschauen. Er zog einen verkohlten Knochensplitter aus der Asche. »Das ist die alte Art, Tiere zuzubereiten, die Art der Steppenmänner«, bemerkte Rhun. »Erklär das.« Temar blickte neugierig zu ihm hinauf. »Man nimmt die Knochen heraus, leert den Magen und stopft 141
das Fleisch hinein; dann macht man ein Feuer aus den Knochen und kocht das Fleisch, indem man den gefüllten Magen darüber hängt.« Temar betrachtete den kleinen, stämmigen Hirten mit der dunklen Haut und dem schwarzen Haar. Er erinnerte sich auch an das Tagebuch, das er einst gelesen hatte: die Aufzeichnungen eines jungen D’Alsennin, der während der Eroberung Dalasors bei den Kohorten gedient hatte und dessen Beschreibungen der Ureinwohner dieses Landstrichs. »Du hast Steppenblut in der Familie, stimmt’s, Rhun?«, fragte er lächelnd. »Schwer zu sagen.« Die schwarzen Augen des Mannes waren vollkommen ausdruckslos. »Ich weiß nur, dass wir Hirten sind. Das waren wir schon immer.« »Wozu haben die Steppenmänner Orte wie diesen eigentlich benutzt?« Temar stand auf, drehte sich langsam im Kreis und betrachtete den Erdwall. »Für Hochzeiten, Versammlungen, Beerdigungszeremonien ...« Rhun zuckte mit den Schultern. »Um die Geister zu beschwichtigen.« Er deutete auf eine Reihe halb verrotteter Federn, die man ins Gras links neben den Eingang gesteckt hatte. »Damit dankt man dem Wolkenadler dafür, dass er sich das Aas geholt hat.« Kurz betrachtete Temar die Überreste der Federn; dann schob er das Unbehagen beiseite, das Rhuns Erklärungen ihm verursachte, und wandte sich wieder der vordringlichen Frage zu. »Für wie alt hältst du dieses Feuer?« »Drei, vielleicht vier Tage.« »Dann brauchen wir uns keine allzu großen Sorgen darum zu machen. Trotzdem sollten wir den anderen sagen, dass wir 142
verhältnismäßig frische Spuren von Räubern gefunden haben; das wird ihre Wachsamkeit erhöhen.« Temar schwang sich wieder in den Sattel, und die beiden ritten zum Wagenzug zurück, der sich inzwischen auf eine Länge von über einer Meile erstreckte. »Bei diesem Tempo wird Den Fellaemion bereits abgesegelt sein, bevor wir den Astmarsch erreichen«, beschwerte Temar sich an diesem Abend, baute sich vor Lachald auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Seht nach, ob die Herden bereits die Furt erreicht haben, ja?« Lachald nahm eine Schüssel mit Gemüseeintopf von Rielle entgegen. »Danke, meine Liebe.« Temar murmelte einen Fluch und stapfte zu seinem Pferd; Lachald blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. »Hauptmann?« Rhun blickte von seinem eigenen Essen auf. »Bleib und iss weiter«, sagte Temar und riss den Kopf des widerspenstigen Pferdes herum. Der Rauch unzähliger Dungfeuer stieg kräuselnd zum Himmel, als Temar an den Wagen und den angebundenen Ochsen vorbeiritt, die friedlich daneben grasten. Er presste die Lippen aufeinander, als er sah, dass die Sonne noch knapp über dem Horizont stand; trotzdem hatten sie bereits ihr Nachtlager aufgeschlagen. Er ritt eine kleine Hügelkette hinauf und sah einen silbrigen Faden, der sich durchs Grün der Steppe wand. Die Herden durchquerten bereits die Furt. »Warum folgen die Leute nicht einfach ihren Befehlen?«, schäumte er und benutzte die Fersen, um einen Teil seiner Wut an seinem Pferd auszulassen. »Was tut ihr da?«, rief er einen Hirten auf dem gegenüberliegenden Ufer an. »Lachald hat gesagt, wir sollen den Fluss ge143
meinsam durchqueren! Morgen!« »Dann kommt und sagt es den Kühen!« Der Mann hatte Temar offenbar nicht erkannt. »Sie sind von selbst losmarschiert und ...« Die Stimme des Mannes ging in dem lauten Brüllen und Muhen des grasenden Viehs unter. »Bauerntrampel!«, fluchte Temar und galoppierte durchs Wasser. Er suchte nach den Männern, die eigentlich das Vieh hätten bewachen sollen. Als er sich zu einer kleinen Mulde umdrehte, sah er sie. Sie hockten um ein kleines Feuer herum und starrten erwartungsvoll auf ein paar Fleischstücke, die darüber brutzelten. »Hoch mit euch und zu den Schwertern!«, rief Temar und drohte den am nächsten Sitzenden mit der flachen Seite seiner Klinge zu schlagen. Dann führte er die Männer aus der Mulde – und sah die Gruppe abgerissener Gestalten, die sich ihren Teil aus der inzwischen erregten Herde holen wollten. Temar schrie ihnen eine Herausforderung entgegen; doch als sie die anrückenden Wachen sahen, verschwanden die Räuber in der Dämmerung und den Mulden und Löchern der Steppe. Temar holte Luft, um seine missratene Truppe zusammenzustauchen, als Hilferufe von der anderen Seite der Herde zu ihnen herüberschallten. »Hundesöhne!«, fluchte Temar ungläubig, während er sich mit seinen Männern einen Weg zwischen den Tieren hindurchbahnte, mit dem einzigen Erfolg, dass sie noch mehr Aufregung in die Herde brachten. Auf der anderen Seite war nichts von den Räubern zu sehen, nur die Hirten, die sich um einen der ihren versammelt hatten, dem jemand einen Knüppel über den Schädel geschlagen hatte. Inzwischen drohten die Tiere wirklich in Panik zu geraten, und Temars Männer ritten los, um die 144
Herde wieder unter Kontrolle zu bringen. »Wie viele Tiere haben wir verloren?«, wollte Temar von einem der Hirten wissen. »Ich weiß nicht, wie viele gestohlen und wie viele weggelaufen sind«, antwortete der Mann hilflos. Temar wollte etwas erwidern, als Rhuns Horn plötzlich über den grauen Abendhimmel hallte. Ohne darauf zu achten, wer ihm folgte, galoppierte Temar zur Furt zurück, wo er Rufe und Schreie aus Richtung der Wagen hörte, die auf der anderen Seite geblieben waren. Ein orangefarbenes Licht schwirrte durch die Dunkelheit, ein Brandpfeil, der einen Schwärm kreischender Frauen auseinander jagte. Ein Reiter hob sich vor dem Kochfeuer ab, als Temar daran vorbeigaloppierte und sich ein Stück Fleisch vom Rost schnappte, ohne auch nur langsamer zu werden. Wildes Bellen war von der anderen Seite eines Wagens zu vernehmen und endete abrupt; das Wimmern eines verängstigten Kindes wurde zu einem panischen Kreischen. Temars Hand zögerte über den Wurfmessern; in diesem Durcheinander war das Risiko zu groß, Freund von Feind nicht unterscheiden zu können. Ein Häuflein grauer Gestalten schlich am Rand des Feuerscheins herum, und Temar merkte sich die Stelle, wo sie hielten. Dann schaute er sich um und sah Rhun, der die Reihe der Wagen entlanggaloppierte und nach den Wachen suchte. Temar ritt zu ihm, griff ins Halfter von Rhuns Pferd und zog ihn ohne Erklärung zwischen zwei Wagen. »Sie warten hinter dem Führungswagen. Nimm dir ein paar Männer und reite dorthin. Los!« Rhun ritt davon, und Temar machte sich auf den Weg zu Lachald. Er näherte sich einem verlassenen Wagen voller Fässer und Säcke; der Fahrer und seine Familie hatten offenbar bei 145
Lachald Schutz gesucht. Als Temar daran vorbeiritt, huschte eine kleine Gestalt unter der Achse hervor und verschwand in der Dunkelheit; gierig hielt sie irgendeine Beute an die Brust gedrückt. »Alles in Ordnung?«, rief Temar und sah erleichtert, dass Lachalds Kutsche mit zwei anderen Wagen einen Verteidigungswall bildete; die Männer standen mit gezogenen Schwertern dicht beieinander. »Bringt jeden über die Furt, den ihr hinüberbringen könnt!«, rief Lachald in einem Tonfall, der keine Widerspruch erlaubte. »Wir sind zu weit verstreut.« Temar riss sein Pferd herum und deutete auf einen der sommersprossigen Jünglinge, die ihm bis hierher gefolgt waren. »Reite zur Spitze des Zuges und sag, sie sollen anspannen und sich in Bewegung setzen ... halt, warte noch!«, rief er, als der Junge sich umgehend in Bewegung setzte. »Sag ihnen, sie sollen in Gruppen gehen. Sie dürfen sich auf keinen Fall voneinander trennen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte Temar eine Bewegung, und als er sich von dem Jungen abwandte, sah er schattenhafte Gestalten, die sich hinter Lachalds Kutsche schlichen. Er trat seinem Pferd die Sporen in die blutenden Flanken, ritt voller Wut auf eine zerlumpte Gestalt auf einem räudigen Pferd zu und landete einen Hieb auf dem Rücken des Mannes, bevor dieser sein Tier wieder unter Kontrolle bekommen konnte, doch der Hieb war nicht tödlich, und so musste er fluchend zuschauen, wie der Mann davonritt und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Alles in Temar schrie danach, den Räuber zu verfolgen, doch er beherrschte sich. »Bleibt hier! Schlagt sie zurück, aber geht nicht jenseits des 146
Feuerscheins!«, befahl er den Bewaffneten, die verspätet angeritten kamen. Temar ritt erneut an der Wagenkolonne entlang, und diesmal gelang es ihm, die Wachen zu schlagkräftigen Gruppen zu vereinen, von denen jede einen Abschnitt des Zuges gegen die immer wieder vorstoßenden Räuber verteidigen sollte. Dann sammelte er einen kleineren Trupp und ritt damit zur Furt, um die Wagen bei der Flussdurchquerung zu beschützen. Als die Wagen schließlich eine Wagenburg gebildet hatten, ließen die Angriffe bald nach; trotzdem blieb Temar die ganze Nacht über wachsam, bis die ersten blassen Sonnenstrahlen am östlichen Horizont erschienen. Als es schließlich hell genug war, um zu erkennen, dass die Steppe um sie herum vollkommen leer war, traf die Erschöpfung Temar wie ein Hammerschlag. Dennoch machte er sich auf die Suche nach Lachald. »Wie sind unsere Verluste?«, erkundigte sich Temar. Hungrig blickte er auf einen Topf, in dem Rielle Brei kochte. »Keine Toten, nur einige leicht Verwundete«, antwortete Lachald. »Und sie haben einiges von unseren Vorräten mitgenommen.« Temar seufzte erleichtert. »Wir haben großes Glück gehabt.« »Ihr meint, Ihr habt Glück gehabt. Hätten diese Räuber es darauf angelegt, hätten sie uns in Stücke hauen können«, erwiderte Lachald ernst. »Ihr hattet das Kommando über die Wachen, und dabei herrschte ein heilloses Durcheinander.« Die Blicke der Umstehenden richteten sich auf die beiden, als Lachald immer lauter schrie und Temar ihn offenen Mundes anstarrte; er wusste nicht, wie er diesen Anschuldigungen hätte widersprechen können. »Ich dachte, Ihr wolltet Kundschafter ausschicken? Was für 147
Befehle habt Ihr für den Fall eines Angriffs erteilt? Warum seid Ihr nicht sofort zu mir gekommen und habt mir gesagt, dass das Vieh den Fluss überquert hat? Wisst Ihr, wo die Pferde und Schafe sind? Geht und findet es heraus!« Temar drehte sich wortlos um und suchte sich ein frisches Pferd. Sorgfältig achtete er darauf, niemandem in die Augen zu blicken. Als er davonritt, war er dankbar für die frische Brise in seinem Gesicht; sie kühlte die brennende Demütigung auf seinen Wangen.
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Die Uferstraße, Ost-Caladhria, vom Wald von Prosain nach Südvaris 13. Nachfrühling
Die Karawane nach Tagesanbruch wieder in Bewegung zu setzen, war keine leichte Aufgabe. Bis man für die Verwundeten Plätze auf den Wagen gesucht und entsprechend der dezimierten Wachmannschaft eine neue Marschordnung organisiert hatte, stand die Sonne schon ein gutes Stück über den Bäumen; erst dann waren Pferde und Wagen bereit. Der Maultierführer, ein dicklicher Mann mit spärlichem Haar, hätte sich beinahe mit einem überheblichen Kerl in teuren Stiefeln geschlagen, die nun vollkommen verdreckt und zerkratzt waren. Ich vermutete, dass es sich bei dem Mann um den Zugführer handelte, der sich darüber aufregte, wie viel Geld sie diese Verzögerung in Relshaz kosten würde. Schließlich trat Nyle zwischen die beiden, und sein finsteres Gesicht machte dem Streit ein Ende. Amüsiert beobachtete ich das Ganze, wandte mich aber rasch ab, als Nyle in meine Richtung blickte. Entweder hatte sich die Nachricht vom gestrigen Kampf im Unterholz verbreitet, oder wir hatten den einzigen Banditentrupp in dieser Gegend zerschlagen, denn ohne weiteren Ärger brachten wir den Wald hinter uns. Wir erreichten den Adler, als die Sonne hinter den westlichen Hügeln versank und die Schatten der Bäume über die Straße fielen. Der Adler war ein weitläufiges, mehrteiliges Gebäude aus dem hiesigen Feuerstein und Ziegeln, umgeben von Koppeln und Ställen aus stabilem, geteertem Holz. Wir sahen, dass Südvaris selbst sich ans andere 149
Ufer des kleinen Sees schmiegte, eine typisch caladhrische Ansammlung von Bauernhäusern und Werkstätten. Alle Gebäude waren mit Kalk geweißt, und fast überall hatte man bereits die Lichter gelöscht, denn die Leute hier pflegten, mit der Sonne schlafen zu gehen. Hufeisen klapperten auf den Pflastersteinen, und die voll beladenen Wagen rumpelten durch den Torbogen der Taverne, wo Nyle und der Maultierführer laut nach den Pferdeknechten verlangten. Der schmalgesichtige Zugführer stieg vom Pferd und übergab das Tier einem Diener, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Ich beobachtete, wie er durch die Vordertür stapfte, und hörte, wie er nach seinem üblichen Zimmer und einem heißen Bad verlangte. Stallburschen erschienen und halfen den Neuankömmlingen, sich zurecht zu finden. »Ich werde Halice mit unseren Sachen und der Kutsche helfen. Livak, du und Shiv – ihr sucht jemanden, der sich um die Pferde kümmert. Viltred, du kannst nach dem Wirt suchen, der hier das Sagen hat. Besorg uns ein paar Zimmer, bevor alle weg sind.« Der alte Zauberer warf mir einen wütenden Blick zu. Er war es offenbar nicht gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen; trotzdem machte er sich ohne Widerspruch auf den Weg zum Haupthaus. Darüber war ich froh; ich hatte nicht die Absicht, seine Selbstgefälligkeit auch noch zu schüren. Ich stieg ab und gähnte. Langsam wurde es lächerlich: Ein Tagesritt, noch dazu bei so schönem Wetter, hätte mich sonst nie so müde gemacht. Egal, eine Nacht in einem weichen Bett, und ich würde wieder der Alte sein. »Wir sollten uns bei den Stallburschen erkundigen, ob sie ungewöhnliche Reisende gesehen haben.« Shiv schaute sich auf 150
dem Hof um. »Kann ich den Herren helfen?« Ein buckeliger alter Mann, dem eine Wolke von Pferdegeruch folgte, wankte aus einer der Scheunen. »Ihr werdet Hilfe brauchen, meine Damen.« Es war keine Frage; es war eine Feststellung. Mit unverhohlener Neugier starrte der Mann auf Halices Bein. »Nein, brauchen wir nicht.« Halices Antwort war nicht gerade höflich formuliert. »Ich glaube, wir kommen schon zurecht, solltet Ihr anderswo gebraucht werden«, versuchte ich, Halices Antwort ein wenig die Schärfe zu nehmen. Es war wichtig, dass man sich gut um unsere Tiere kümmerte, zumal es hier äußerst geschäftig zuging. Der Stallknecht lehnte sich an den Türrahmen und schenkte uns ein einschmeichelndes Lächeln, wobei er seine gelbe Zähne entblößte. »Nein, im Augenblick habe ich nichts zu tun. Seid ihr auf dem Weg nach Süden?« Livak drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm um und schaute ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Wir sind auf dem Weg nach Relshaz«, sagte sie mit einem Hauch von Atemlosigkeit in der Stimme. »Großvater hat dort Geld angelegt. Da jetzt auch unsere Onkel geschäftlich dort tätig werden wollen, sind unsere Cousins mitgekommen.« Ich blickte zu Shiv, um ihn zu ermahnen, Viltred von diesen neuen Verwandtschaftsbeziehungen in Kenntnis zu setzen, wandte den Blick jedoch rasch wieder ab und setzte ein gleichgültiges Gesicht auf. Die Augen des alten Kerls, offenbar ein Klatschweib, begannen zu leuchten. »In was für einem Geschäft seid ihr denn?« 151
Ich konnte förmlich sehen, was er sich an faszinierenden Möglichkeiten ausmalte: Gewürze, Seide, Edelsteine, Bronze. Relshaz ist der Haupthafen von Ostcaladhria, über den der Großteil des Handels mit dem Aldabreshin-Archipel läuft. »Viehfutter.« Der Enthusiasmus in Livaks Stimme hätte mich fast laut lachen lassen, doch ich beherrschte mich. »Gerste, Hafer und dergleichen. Futterrüben sind zu unhandlich, wisst Ihr, und dann ist da das Transportproblem, das einem bei Getreide erspart bleibt. Passt man den richtigen Zeitpunkt ab, kann man einen beachtlichen Gewinn erzielen, wenn man es aufs Archipel verschifft.« »Oh.« Der alte Pferdeknecht war nun weit weniger interessiert. »Natürlich nur, solange die Aldabreshi nicht selbst anfangen, Futter zu importieren«, erklärte Halice säuerlich. »Ich habe gehört, eine Gruppe von ihnen hat in der Gegend von Trebin schon entsprechende Erkundigungen eingezogen. Du hast sie doch sicher auf der Straße gesehen, oder? Eine Bande von sechs, alle schwarz gekleidet, meist bleiben sie unter sich.« Halice hatte die Situation sehr schnell erfasst und entsprechend reagiert, doch der alte Mann schüttelte den Kopf, und ich glaubte ihm; offenbar wusste er wirklich nichts. Ich hielt dem Alten eine Silbermark hin. »Sorgt bitte dafür, dass unsere Pferde gut untergebracht werden und das Zaumzeug ordentlich gereinigt wird.« »Die Jungen werden sich darum kümmern.« Der Pferdeknecht nahm die Münze, schlurfte davon und pfiff nach zwei Jungen, die gemächlich Stroh für die Maultiere ausstreuten. »Livak, glaubst du, dass wir uns das nächste Mal vielleicht vorher auf ein Lied einigen könnten, bevor du es singst?«, frag152
te Shiv mit gesenkter Stimme, während er seinem Pferd das Zaumzeug abnahm. »Was hattest du denn vor? Wolltest du herumstehen, verschlagen aussehen und ihn sich alles Mögliche vorstellen lassen?« Kopfschüttelnd führte Livak die Tiere in den Stall. »Darum geht es nicht.« Shiv folgte ihr, fest entschlossen, das Thema auszudiskutieren. Ich sprang auf den Kutschbock und griff in die Kutsche hinein, um unser Gepäck herauszuholen. »Ist ja nichts passiert. Wir müssen Viltred nur darüber in Kenntnis setzen, dass er gerade Großvater geworden ist.« Ich schob mein Schwert unter die Klappe einer Satteltasche und gab sie Halice; dann beugte ich mich vor, um Viltreds Taschen herauszuholen. Halice stieß einen bewundernden Pfiff aus. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie die feinen Prägearbeiten auf meiner Schwertscheide bestaunte. »Vielleicht sollte ich auch einem Tormalinpatron die Treue schwören, wenn das bedeutet, dass ich solch einen fürstlichen Besitz am Gürtel tragen darf.« Ich wollte die erste freundliche Bemerkung, die sie mir gegenüber am heutigen Tag gemacht hatte, nicht einfach ins Leere laufen lassen; also überließ ich ihr erst einmal das Schwert. Sie drehte es in alle Richtungen und prüfte seine hervorragende Ausgewogenheit. Dann zog sie die Klinge ein Stück heraus und begutachtete den glänzenden Stahl. »Das stammt nicht aus dem Besitz der D’Olbriot«, erklärte ich ihr. »Es ist aus der Beute eines verrückten alten Zauberers, den Viltred gekannt hat.« »Das ist das Schwert von Azazir?« Neugier spiegelte sich auf 153
Halices Allerweltsgesicht. »Kein Wunder, dass Viltred diese Diebe schnappen will. Was hat er verloren? Weißt du das genau? Ein paar Schwerter wie dieses hier würden uns glatt ein paar Barren bringen.« »Lass uns ihn fragen«, erwiderte ich und gähnte herzhaft. »Bei Dasts Zähnen, ich hoffe, hier gibt es saubere Betten. Ich glaube, seit der Sonnenwende habe ich keine Nacht mehr vernünftig geschlafen.« »Da geht es dir nicht anders als mir«, sagte Halice und ging die anderen suchen. Wir fanden Viltred in einem gemütlichen Schankraum. Er sprach mit einer vollbusigen Schankmaid mit schneeweißer Schürze und glänzenden Locken, die seine gönnerhafte Art gerne über sich ergehen ließ, solange die Bezahlung stimmte. »Oh, da seid ihr ja endlich. Nun, es ist mir gelungen, drei Zimmer zu bekommen. Eins ist für die Mädchen, und du kannst deins mit Shiv teilen, Ryshad. Das Essen ist erst in ein paar Minuten fertig; also bleibt uns noch genug Zeit, um uns zu waschen.« Sehr gut, ging es mir durch den Kopf. Alle würden uns für Viltreds Enkel halten, wenn er uns weiterhin so behandelte – es sei denn, Livak schüttete die Suppe oder Schlimmeres über ihn aus. »Es sind die ersten drei Räume. Man kann den See von dort aus sehen«, erklärte die Schankmaid und lächelte Shiv kess an. »Ich komme später noch einmal mit der Heizpfanne, um die Kälte aus den Betten zu vertreiben.« Ich fragte mich, ob ich wohl Gelegenheit bekommen würde, Livaks Bettlaken für sie wärmen, aber das war eher unwahrscheinlich. Ich seufzte. Das zumindest hätte mir einen guten 154
und tiefen Schlaf garantiert. Wir folgten Viltred die Treppe hinauf wie die pflichtbewussten Nachkömmlinge, die wir nicht waren, und gingen allesamt in sein Zimmer. »Wir sollten endlich erfahren, was genau diese Eisländer dir gestohlen haben«, begann ich. »An solchen Orten hier wird viel gehandelt«, bemerkte Livak. »Falls jemand mir einen Ring für zwei Mark anbieten sollte, der eigentlich zehn wert ist, würde ich gerne wissen, ob er dir gehört.« »Da hast du Recht«, pflichtete Shiv ihr bei. »Was habt ihr den Elietimm gestohlen, du und Azazir?«, fragte Halice. Dass man ihm unterstellte, ein Dieb zu sein, ließ den alten Zauberer unwillkürlich zusammenzucken; doch er verzichtete auf eine Erwiderung und strich stattdessen sein Samtwams glatt. »Da sind vier Schwerter, zwei höfische Rapiere und zwei Breitschwerter, ein paar Zierdolche, eine Gürtelkette, ein paar schlichte goldene Siegelringe, ein Perlenhalsband, mehrere Pokale und Humpen mit Familienwappen, das Notizbrett eines feinen Herrn, ein Tintenfass ...« Ich hob die Hand. »Das reicht fürs Erste, stimmt’s, Livak? Lasst uns essen.« Wir aßen ein hervorragendes Mahl aus mehr als zehn Gängen. Anschließend saßen wir noch eine Weile am Tisch und genossen einen exzellenten Portwein. Wieder auf meinem Zimmer, badete ich und rasierte mir die Stoppeln der letzten paar Tage ab; schließlich lag ich im Bett, noch bevor die Glocken von Südvaris zur Mitternacht läuteten. Leider schlief ich wieder schlecht; allerdings wusste ich nicht, ob es an Shivs 155
ununterbrochenem Schnarchen lag oder an dem Gedanken, dass Livak nur ein Zimmer weiter lag. Schließlich weckten mich Geräusche im Hof, und ich öffnete die Fenster, um frische Luft hereinzulassen, während ich mich ankleidete. »Ich hätte nichts dagegen, mit diesem Rotschopf mal ein paar Runden zu drehen, wenn ihr wisst, was ich meine.« Eine einsame Stimme hallte von einer Gruppe Stallburschen herauf, die gelangweilt Runen warfen; dann herrschte plötzlich eine seltsame Stille, wie sie nur entstehen kann, wenn jemand bei einer Peinlichkeit ertappt worden ist. Als ich hinausblickte und mich nach rechts drehte, sah ich Livak, die sich aus dem Fenster lehnte. »Sollen wir frühstücken gehen?« Ich lachte. »Oder willst du sein Angebot annehmen?« »Hör auf, so zu grinsen«, knurrte sie, doch ich sah, dass es ihr schwer fiel, ernst zu bleiben. »Eines Tages werde ich die Große Weststraße hinaufziehen und diese unheiligen Wälder suchen, bis ich jemanden finde, der mir sagen kann, ob das Waldvolk wirklich so unersättlich im Bett ist, wie alle behaupten«, murmelte sie, während wir die Treppe hinunterstiegen. »Mit so einem Ruf zu leben, ist ziemlich unangenehm.« »Oh, da bin ich nicht so sicher. Du könntest ein paar nützliche Informationen bekommen, wenn diese Burschen mehr auf deinen Ausschnitt achten als darauf, was sie sagen.« »Das wäre nicht das erste Mal«, räumte sie lächelnd ein. Wir beobachteten das Kommen und Gehen im Schankraum und aßen frisches Brot, das besser war als alles, was ich seit meinem Aufbruch von daheim gegessen hatte; dazu gab es 156
allerdings Eingemachtes, das meine Mutter nicht einmal den Schweinen zum Fraß vorgeworfen hätte. Nach einer Weile gingen wir hinaus, um die Sonne auf einer Bank gegenüber den Ställen zu genießen, und beschäftigten uns damit, Ursprung und Ziel der verschiedenen Fahrzeuge und Packtiere zu erraten. Einige Zeit später kam eine Gruppe caladhrischer und durchreisender Händler von Süden herauf, und ich sah, wie ein Kaufmann mit Relshazrädern an seinem Wagen ein dunkelhaariges Mädchen mit tief ausgeschnittenem Kleid am Tor absetzte und ohne anzuhalten zur Scheune durchfuhr. Immerhin, ein Ritt für einen Ritt, das ist der übliche Handel, nicht mehr und nicht weniger, und das bedeutete, dass sie genau die Art Mädchen war, nach der ich gesucht hatte. Ich beobachtete, wie sie zur Rückseite der Taverne ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. »Ich glaube, jetzt könnte ich anfangen, ein paar Fragen zu stellen.« Wenn wir uns schon auf der Jagd befanden, war es allmählich an der Zeit, die Fährte aufzunehmen. Ich stand auf, und Livak nickte verstehend. Beiläufig öffnete sie ihr Hemd ein wenig und setzte ein Gesicht auf, das sagte: viel Frau, wenig Hirn. »Ich werde mal sehen, was ich von den Wagenfahrern erfahren kann, die heute Morgen gekommen sind.« Sie schlenderte davon und schwang dabei die Hüften gerade auffällig genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich ging zur Rückseite der Taverne, wobei ich vorsichtig an einem Kettenhund vorbeischlich, und verzog das Gesicht, als mir der Geruch der Abfallgrube in die Nase stieg. Stimmen kamen von der Tür um die Ecke des Hauses herum. Ich blieb stehen und hoffte, dass der Hund, der mich mit gespitzten Ohren beobachtete, nicht beschloss, gegen meine Anwesenheit zu 157
protestieren. »Ich arbeite für ein paar Reste Fleisch und Brot, bis ich eine neue Mitfahrgelegenheit gefunden habe.« Der Tonfall des Wagenmädchens hatte nichts Flehentliches, was ich bewunderte. »Wir stellen niemanden ein.« Die Vollbusige mit den glänzenden Locken, die uns bedient hatte, war voller Verachtung. »Ich suche keine ständige Bleibe, nur etwas zu essen als Gegenleistung dafür, dass ich euch das Leben ein paar Tage lang leichter mache.« Das Mädchen besaß gute Instinkte. Sie bettelte nicht, sondern machte ein vernünftiges Angebot. »Euer Haus sieht ziemlich voll aus.« »Oh, na schön. Du kannst uns heute Abend aushelfen, aber du musst im Stall schlafen.« Ich hörte schnelle Schritte in der Küche, dann das Kratzen eines Absatzes, als die Schankmaid sich noch einmal umdrehte. »Du arbeitest im Hof. Ich will nicht, dass du die Gäste im Schankraum belästigst. Wenn du stiehlst, rufe ich die Wache aus Varis und lass dich auf dem Marktplatz auspeitschen.« Ich lehnte mich gegen ein Wasserfass, bis das dunkelhaarige Mädchen um die Ecke kam. »Fährst du nach Norden?« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und hielt sich auf Armeslänge von mir entfernt. Ich schüttelte den Kopf. »Nach Süden. Und ich suche nach Auskünften über die Straße.« Ich steckte die Daumen in den Gürtel; die Münzen in meiner Börse klimperten, als ich daran zog. »Was für Auskünfte?« Das Mädchen war vorsichtig, und das war auch gut so. Achsenschmiere, Lagermatratze – nennt diese Mädchen, wie ihr wollt, doch sie führten ein gefährliches Leben, und dieses Mädchen hier besaß das typische Aussehen, das 158
ein solches Leben hinterlässt: Sie war dünner, als sie hätte sein sollen, und ihr Gesicht war vorzeitig gealtert. »Ich bin Ryshad.« Ich streckte die Hand aus. »Larrel.« Sie hielt die Arme schützend vor der Brust verschränkt. »Ich suche eine Hand voll Männer, die zusammen reisen. Sie sind vermutlich allesamt schwarz gekleidet und haben gelbes Haar. Wir nehmen an, dass sie sich auf der Straße südlich von hier befinden.« »Was ist dir die Information wert?« Ihre Augen verrieten mir, dass sie die Männer gesehen hatte. »Das hängt davon ab, was du mir erzählen kannst.« Nun verschränkte auch ich die Arme vor der Brust und lächelte sie nicht gerade freundlich an. »Es waren sechs Mann, alle zu Fuß, einer mit einem langen Mantel und ohne Gepäck. Der Rest war wie Soldaten beladen, die ihre Pferde verloren haben.« Ihr Lächeln sagte mir, dass sie keine Närrin war und – wichtiger noch – dass sie nicht log, jedenfalls nicht in diesem Punkt. Ich griff in meine Börse. »Eine Mark für den Namen des nächsten Dorfes, und eine Mark für die Auskunft, wie lange es her ist, dass du die Männer gesehen hast.« »Tormalinmark, keine caladhrischen«, konterte sie. »Fünf Pence die Mark, nicht vier. Ich bin nicht dumm, weißt du.« »Einverstanden.« Ich zuckte mit den Schultern. Die zwei Kupferstücke bedeuteten mir nichts; sie jedoch konnte sich eine warme Mahlzeit kaufen. »Vorgestern waren sie einen halben Tagesmarsch südlich von Armhangar.« Sie streckte die Hand aus, und ich gab ihr das Geld. »Sei be159
dankt.« Kurz flackerte Überraschung in ihren Augen auf, als sie die Münzen in der Börse an ihrer Hüfte verschwinden ließ. Ich blickte ihr hinterher, fand einen Knochen in den Küchenabfällen, den ich dem Hund zuwarf, und ging weiter nach hinten, um zu sehen, ob ich in der ruhigen Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen vielleicht etwas von den Köchen erfahren konnte. Es verwunderte mich nicht, dass keiner von ihnen auch nur eine polierte Niete einer Elietimmrüstung gesehen hatte; es passte auch nicht zu den Eisländern, jeden Abend in die erstbeste Taverne einzukehren und erst einmal in Ruhe einen zu trinken und ein wenig zu scherzen. Ich machte mich auf die Suche nach den anderen. Bei den Ställen war es überraschend ruhig, doch ein zunehmender Lärm führte mich zu einer Gruppe, die sich auf der anderen Seite der Scheune versammelt hatte und aus Einheimischen und Reisenden bestand. Sie saßen auf dem Gatter einer leeren Koppel. Shiv sah mich und winkte mir; also ging ich zu ihm. »Und? Hast du irgendetwas über schwarz gewandete Wanderer gehört?« Shiv hockte auf dem Zaun und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ich kletterte neben ihn und erzählte ihm, was ich in Erfahrung gebracht hatte; dann schaute ich mich nach den anderen um. »Wo ist Viltred?«, fragte ich. »Er ruht sich auf seinem Zimmer aus.« Shiv und ich beobachteten, wie zwei Männer über den Zaun kletterten. Einer trug einen polierten Stab über der Schulter, der andere hielt ein Bündel aufgeblasener Schweinsblasen in der Hand. 160
»Bei dem Lärm wird er nicht viel Schlaf bekommen.« Meine Müdigkeit verriet mich, und ich bemerkte eine leichte Verachtung in meiner Stimme. »Er ist ein alter Mann«, sagte Shiv. »Du musst gerecht sein. Er ist nur eine Hand voll Jahre von seinem dritten Generationsfest entfernt.« Ich blickte Shiv überrascht an und versuchte mich zu erinnern, ob ich je einen so alten Menschen kennen gelernt hatte. Wir würden viel Rücksicht auf Viltred nehmen müssen, wenn er mehr als siebzig Jahre mit sich herumtrug. Messire D’Olbriots Onkel, der vor ihm Sieur gewesen war, musste ähnlich alt gewesen sein; von ihm hatte man nicht mehr erwarten dürfen, den ganzen Tag im Sattel zu verbringen, geschweige denn, mehrere Tage hintereinander. Wir beobachteten, wie die beiden Männer Gestelle aufbauten, an denen sie Schweinsblasen aufhängten. »Das ist Stabwerfen oder wie das heißt, nicht wahr? Ein hartes Spiel, habe ich mir sagen lassen.« »Das kann es sein.« Shiv lachte. »Es hängt davon ab, ob einer der Spieler ein Hühnchen mit einem anderen zu rupfen hat.« Die beiden Mannschaften sammelten sich am Koppeltor. Nach einigem Hin und Her bildeten die einheimischen Händler und ein paar Bauern die eine Mannschaft, Wachen und Fahrer aus dem Duryea-Wagenzug die andere. Schließlich einigte man sich auf eine Stärke von je vierzehn Mann. »Darf nur der Mann mit dem Stab die Wurflinie nicht überschreiten, oder müssen sich alle davon fern halten?« Ich schaute zu, wie die Männer zwei tiefe Furchen durchs Spielfeld zogen. »Nur der Stabhalter. Spielt ihr das nicht in Tormalin?« Shiv schien überrascht. 161
»Doch, an der Westgrenze im Norden, aber vergiss nicht, dass ich aus Zyoutessela stamme. Wenn du noch weiter nach Süden gehst, fällst du vom Kap der Winde«, erinnerte ich ihn. Die erste Spielrunde begann. Die Männer vom Wagenzug waren offenbar daran gewöhnt, zusammen zu spielen, und schon bald wanderte der Stab geschickt zwischen ihnen hin und her, während sie um die Einheimischen herumrannten. Jubel brandete auf, als ihr Mann das polierte Holz in Richtung der herabhängenden Schweinsblase warf, doch er verfehlte sie um Haaresbreite. Fünf Männer gingen zu Boden, um sich den Stab zu schnappen. Schließlich bekam ihn einer der Stallburschen zu fassen. »Ich werde mal versuchen, Livak zu finden.« Shiv löste sich vom Zaun. »Kommst du mit?« »Ich bleibe noch ein wenig.« Ich blickte weiter aufs Feld. »Das ist schon was, findest du nicht?« Shiv lachte und schlüpfte durch die Menge davon, und ich konzentrierte mich wieder auf das Spiel. In Tormalin haben wir nicht so viel für Mannschaftsspiele übrig; stattdessen ziehen wir es vor, unsere Kräfte einzeln zu messen. Ich fragte mich, ob meine eigenen Speerwurfkenntnisse sich in diesem Spiel wohl auszahlen würden. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ein Mann, der gerade werfen wollte, unter einem Haufen Gegner verschwand. Einer von ihnen stand nicht so rasch auf wie die anderen, sondern humpelte zum Spielfeldrand, die Hand an der Hüfte. Einer der anderen Maultiertreiber sprang herbei, um den Platz des Verletzten einzunehmen. »Willst du gern mitspielen?« Ich drehte mich um und sah Nyle neben mir. Was wollte er von mir? 162
»Was ist mit deinen Freunden?«, fuhr er fort. »Wir könnten einen guten Läufer gebrauchen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Da musst du sie schon selber fragen.« »Du bist aus Tormalin, stimmt’s? Spielt man das auch im Osten?« »Nicht da, wo ich herkomme. Willst du nachher mitspielen?« »O ja.« Nyle rückte ein Stück näher an mich heran und beugte sich vor. »Aber zuerst wollte ich mit dir reden. Ich treibe nebenher ein wenig Handel, weißt du, vor allem mit Waffen. Mir ist dein Schwert aufgefallen ... Das ist eine alte Tormalinarbeit, nicht wahr? Möchtest du die Waffe verkaufen?« »Nein.« »Ich könnte dir einen sehr guten Preis dafür zahlen. Ich habe einen Kontaktmann, der genau nach dieser Art Klinge sucht.« Ist das nur eine Zufallsbegegnung, fragte ich mich, oder hatten ein paar Hunde unsere Fährte aufgenommen, während wir unserer eigenen Beute hinterhergejagt waren? »Tut mir Leid, Freund.« Ich bemühte mich, eher gelangweilt als misstrauisch zu klingen, und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel. Auf dem Feld wurde gerade darüber diskutiert, ob ein Maultiertreiber vor dem Wurf die Linie überschritten hatte oder nicht. »Du könntest einen ganzen Koffer voll Gold für deinen Patron verdienen. Denk darüber nach. Für dich ist auch noch ordentlich was drin, vielleicht sogar das Geld für eine ganze Jahreszeit.« »Nein, danke.« Dann wurde vom Spielfeld nach Nyle gerufen. »Ich sehe dich später.« Er versuchte ein freundliches Lächeln, 163
doch seine Augen waren hart. Das war kein Mann, der ein ›Nein‹ so einfach hinnahm. Er schwang sich über den Zaun und wurde ins Spiel mit einbezogen, was mir Gelegenheit gab, über das seltsame Gespräch nachzudenken. Lautes Geschrei brandete auf, und ich sah, dass Nyle den Stab gepackt hatte und übers Spielfeld rannte. Für einen so großen Mann war er erstaunlich gewandt, und als ein unglücklicher Rübenzüchter versuchte, ihm das polierte Holz zu entreißen, stieß er den Mann mit einer geschickten Stabbewegung beiseite, dass dieser zwischen die Zuschauer »Gut gemacht! flog. Das war ein Gidesta-Manöver. Kein Wunder, dass sie das hier noch nicht gesehen haben.« Halice drängte sich durch die immer dichtere Menge und lehnte sich schließlich neben mir auf den Zaun. Ich fragte mich, was Nyle wohl in Gidesta gemacht hatte. Wie ein Minenarbeiter sah er nicht aus, und auch nicht wie ein Fallensteller oder Holzfäller – und das ist so ziemlich alles, was es in den Bergen im Norden gibt. Auch sein Akzent war nicht der eines Gidestani. Ich schob die Frage als unbedeutend beiseite. »Wo ist Livak?« »Nimmt Wetten an.« Halice deutete über die Koppel, und ich sah Livaks kupferfarbenen Schopf inmitten eines erregten Haufens heftig gestikulierender Leute. »Was gibt sie ihnen?« »Zwei zu fünf für die Maultiertreiber, drei zu sieben für die Einheimischen«, antwortete Halice und beobachtete nachdenklich das Spiel. »Besser noch, wenn sie mit mehr als fünf Köpfen Vorsprung gewinnen.« »Köpfe?« Ich war verwirrt. 164
Halice deutete auf eine der Schweinsblasen, die im Wind hin und her baumelten. »Das Bergvolk hat angeblich die Köpfe in der Schlacht gefallener Gegner benutzt, als sie das Spiel erfunden haben. Sorgren sagt, auf diese Art hätten sie ihre Kampffertigkeiten geübt. Er schwört, sein Großvater hätte noch gesehen, wie man dieses Spiel mit den Köpfen von Bergarbeitern gespielt hat, die sich zu weit in die Berge vorgewagt hatten, und ich habe in Gidesta gesehen, dass man Schweinsköpfe statt Schweinsblasen dafür genommen hat. Wie findest du das?« Halice blickte mich an. Lachend verzog ich das Gesicht. »Ekelhaft!« Eine Gruppe Bauern schien endlich so etwas wie eine Strategie entwickelt zu haben. Fünf von ihnen konzentrierten sich darauf, jeden Maultiertreiber zu Fall zu bringen, der ihnen zu nahe kam, und so gelang es ihrem Mann, den Stab mit solcher Wucht zu werfen, dass er die Schweinsblase glatt entzwei riss. »Hast du jemanden gefunden, der die Elietimm auf der Straße getroffen hat?« Halice hörte mich nicht; also stieß ich sie in die Rippen und wiederholte meine Frage, bemühte mich jedoch, nicht zu laut zu sprechen. »Was? Oh. Ja. Ein paar von ihnen sagten, sie hätten eine kleine Gruppe von Männern dort lagern gesehen, wo der Linneyweg von der Uferstraße abzweigt. Ich glaube, das müssen sie gewesen sein. Der Wagenfahrer sagte, sie seien alle hellblond gewesen – deswegen sind sie ihm überhaupt erst aufgefallen.« Ich runzelte die Stirn. »Was hatten sie an?« »Das hat er nicht gesagt, und ich habe nicht daran gedacht, ihn danach zu fragen. Einfache Kleidung, nehme ich an. Eine 165
Uniform oder sowas hätte er wohl erwähnt, oder?« »Kannst du nicht versuchen, das noch herauszufinden?« Ein Schrei ertönte, und ich sah jemanden mit einer Sanduhr wedeln zum Zeichen, dass eine Pause eingelegt wurde. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis der Mann die allgemeine Aufmerksamkeit hatte; dann kehrte Stille ein, während jeder erst einmal einen kräftigen Schluck Bier trank. »Übrigens ... Dieser Wachmann, Nyle, hat mich nach deinem Schwert gefragt«, sagte Halice. »Offenbar handelt er nebenher mit Waffen.« »Er hat mich auch selbst danach gefragt. Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll.« Ein paar Spieler waren offenbar zu dem Schluss gekommen, dass sie genug für heute hatten. Humpelnd und mit blutenden Nasen verließen sie das Feld. »Was hat er dir geboten?« Halice hob fragend die Augenbrauen. »Egal.« Ich schüttelte den Kopf. »Messire hat das Schwert von Planir bekommen und es mir als Sonnenwendgeschenk gegeben – als eine Art Entschädigung für den Ausflug zu den Eisinseln mit Livak und Shiv.« Ich schauderte unvermittelt und hörte ein fernes Echo meiner eigenen Schreie, als ich dem Anführer der Elietimm hilflos ausgeliefert gewesen war. Diese Erinnerung verblasste genauso langsam wie die Tätowierungen eines Piraten. »Hast du den Luftzug von Poldrions Mantel gespürt?«, scherzte Halice, blickte mich aber nachdenklich an. »So etwas Ähnliches«, antwortete ich knapp und schaute wieder aufs Feld, wo nach der Pause frische Männer neuen Schwung ins Spiel brachten. 166
»Dann hält dein Messire sehr viel von dir, ja?«, erkundigte sich Halice. »Ich versuche, ihm allen Grund dafür zu geben.« Es klang ein wenig bombastischer, als ich beabsichtigt hatte, doch Halice schien es nicht zu stören. »Wie kam es, dass du ihm die Treue geschworen hast? Hat es mit der Familie zu tun? Trittst du in die Fußstapfen deines Vaters?« »Nein.« Die Frage brachte mich zum Lachen. »Mein Vater ist Steinmetz; aber nachdem meine beiden älteren Brüder bereits nach Hammer und Meißel gegriffen haben, hat man meinem jüngeren Bruder und mir die Wahl gelassen.« Und in dem Jahr, nachdem das Fleckfieber Kitria dahingerafft hatte, hatten die drei Brüder mehr Gebäude mit neuen Fassaden ausgestattet als jeder andere Steinmetz der Stadt. Meine Mutter hatte jeden Tag um Kitria geweint oder in Halcarions Schrein für sie gebetet; Mistal war sogar aus der Stadt geflohen. Und ich hatte alles versucht, um mich vom Schmerz über den Verlust meiner geliebten Schwester abzulenken. »Wie lange ist es jetzt her, seit du den Eid abgelegt hast?« »In diesem Sommer werden es ein Dutzend Jahre.« Ich musste nicht nachrechnen: Es war fast auf den Tag zwölf Jahre her, dass ich eine Sonnenwendfeier im Alkohol- und Thassinrausch und in Gesellschaft mehrerer billiger Huren verbracht hatte. Eines Tages war ich dann mit blutendem Gaumen und dröhnendem Schädel aufgewacht, hatte mir die Krätze geholt – und endlich erkannt, dass ich rasch etwas ändern musste, wollte ich vermeiden, dass Poldrion mich noch ungezählte Male zwischen dieser und der anderen Welt hin und her fuhr, bis ich Saedrin eine Erklärung liefern musste, warum ich mein Leben ver167
schwendet hatte. »Livak hat mir erzählt, was euch da draußen passiert ist – auf den Eisinseln, meine ich.« Halice drehte sich plötzlich zu mir um. »Dann weißt du ja alles, was du wissen musst.« Ich hatte nicht vor, diese Erfahrungen mit ihr zu diskutieren. »Ich weiß noch mehr, als Livak mir gesagt zu haben glaubt.« Das war eine seltsame Bemerkung, und auch ich wandte mich vom Spielfeld ab. »Was meinst du damit?« »Sie hat mir von dem Eismann erzählt, und wie er in eure Köpfe eingedrungen ist.« Halices dunkle Augen waren unergründlich. »Aber sie hat nicht viel von dir erzählt. Deshalb vermute ich, dass auch du irgendwie in ihren Kopf eingedrungen bist ... und nicht nur in andere Körperteile.« Ich starrte sie herausfordernd an, doch Halice hielt dem Blick gelassen stand. »Livak ist ein kluges Mädchen, das sich von keinem für dumm verkaufen lässt; aber dann und wann kommt ein Mann daher, und sie verliert sämtliche Runen«, fuhr Halice in beiläufigem Tonfall fort. »Ich versuche stets dafür zu sorgen, dass Livak diese Runen wieder aufhebt und sämtliche Rechnungen beglichen werden, wenn du weißt, was ich meine. Das wollte ich dir nur mal sagen. Du willst doch nicht, dass sie bereut, dich kennen gelernt zu haben ...?« Was sie sonst noch sagte, ging in einem Aufschrei der Menge unter. Alle blickten zu einem Unglücklichen, der sich die Rippen hielt und vom Feld getragen wurde. Als ich mich wieder umdrehte, war Halice verschwunden. Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht und fragte mich, was 168
ich von diesem Gespräch halten sollte. Schon oft haben irgendwelche hochnäsigen Väter meine Absichten in Frage gestellt; misstrauische Tanten haben mich von Kopf bis Fuß begutachtet, und einmal, in jener unglücklichen Phase meiner Jugend, hatten mich drei wütende Brüder in einer dunklen Gasse mit Axtstielen gelehrt, dass ich mich im Thassinrausch ein wenig überschätzt hatte. Vermutlich waren Halices Worte irgendwo zwischen einer Frage und einer Drohung anzusiedeln; aber ich wusste nicht, ob ich wütend oder froh darüber sein sollte, dass Livak eine Freundin hatte, die sich so um sie kümmerte. Wenigstens hatte Halice nicht auf eine Antwort gewartet. Ich wusste nicht, wohin das mit Livak führen sollte – außer ins nächstbeste Bett, wenn ich denn die Gelegenheit dazu bekam. Ich fragte mich, was Livak Halice wohl gesagt hatte. Dastennin verfluche diese Frau!, dachte ich bei mir. Warum musste Halice sich überhaupt einmischen? Ich kannte noch nicht einmal Livaks Gefühle, und bevor das nicht der Fall war, konnte ich es wirklich nicht gebrauchen, wenn Halice den Staub zwischen uns aufwirbelte. Ein Ruf ertönte vom Feld. »Wir brauchen drei mehr, damit die Mannschaft vollständig wird, sonst haben wir gegen Nyles Männer verloren!« Aus einer Laune heraus und ohne groß darüber nachzudenken, sagte ich mir, dass dieses Spiel eine hervorragende Möglichkeit bot, mich abzureagieren. Eine Hand voll Männer kletterte mit mir über den Zaun. Die Einheimischen zogen mich einem Jungen aus Südvaris vor, der aussah, als hätte man ihn gemästet. Dann wurde die Sanduhr umgedreht, und der nächste Spielabschnitt begann. Ich fand mich sofort mitten im Gewühl 169
wieder, zumal ich groß genug war, dass jeder mich sehen und mir den Stab zuwerfen konnte, ohne selbst Prügel zu riskieren. Glücklicherweise war ich ein guter Fänger, und die Beinarbeit, die ich im Schwertkampf gelernt hatte, ließ mich gewandt den meisten Angriffen ausweichen. Ich duckte mich, schlug Haken und schrie vor Freude, als ich die Meute hinter mich ließ und auf die Wurflinie am anderen Ende des Felds zurannte. Nur noch wenige Männer standen zwischen mir und dem Abwurfpunkt. Einem stämmigen Maultiertreiber gelang es, vor mich zu springen und ein Ende des Stabes zu packen, doch irgendwie schien ihm nie jemand erklärt zu haben, dass ein Stab eine Waffe mit zwei Enden ist. Er zog ihn mit beiden Händen dicht vor seinen Bauch und knurrte triumphierend; also drückte ich das andere Ende an meine Hüfte und stürmte weiter vor. Der Mann fiel wie ein Sack Getreide zu Boden, als der Stab ihn vor der Brust traf und ihm die Luft aus den Lungen trieb. Ich rannte über ihn hinweg; als ich ihn hinterher wiedersah, erblickte ich meinen Stiefelabdruck auf seiner Brust. Dann stürmte ein riesiger Kutscher mit geballten Fäusten auf mich zu, erreichte aber mich nie: Irgendjemand tauchte neben mir auf und stieß dem Kerl mit einer solchen Wucht die Schulter ins Gemächt, dass ich ein persönliches Interesse dahinter vermutete. Ein paar von den einheimischen Jungen waren stark wie Ochsen. Sie zeigten, dass große, schwere Männer zur Not auch schnell rennen können, denn sie holten mich ein. Ich sah Nyle und einen Kutscher auf mich zustürmen und schaute mich eilig um, wo die Kuhhirten waren. Einer lächelte mich breit an und nickte in Richtung seines Bruders, und ich grub die Fersen in 170
den Schlamm, sodass ich abrupt stehen blieb und sie an mir vorbeirannten. Sie walzten Nyle und den Kutscher nieder wie eine Lawine – und das Feld vor mir war frei. Hinter mir hörte ich das Trampeln von Stiefel. Ich wusste, dass ich nur einen Augenblick Zeit hatte. Ich vergaß alles, was man mich je über das Speerwerfen gelehrt hatte, schleuderte das Stück Holz einfach durch die Luft und sah, wie es die Schweinsblase weit oben am Rahmen traf. Dann traf mich irgendetwas mit vernichtender Wucht im Rücken. Als ich das Tageslicht wieder sah, spie ich einen Mund voll Gras aus – und ein paar Klumpen von irgendetwas, das ich lieber nicht genauer anschauen wollte. Obwohl jeder Knochen in meinem Leib schmerzte, verspürte ich ein unglaubliches Hochgefühl. »Guter Wurf!« Livaks Stimme drang durch das Jubeln der Menge, und ich sah ihr leuchtendes Haar und lebhaftes Gesicht nahe bei mir am Zaun. Ich winkte und warf ihr einen Kuss zu, bevor ich mich stöhnend aufrappelte, um nicht in den Dreck getrampelt zu werden. Es gelang mir, noch einen Punkt zu machen, und ich ermöglichte drei weitere, indem ich gezielt ein paar Maultiertreiber der gegnerischen Mannschaft ausschaltete. Nachdem die Sanduhr neunmal durchgelaufen war, beendeten wir das Spiel; alle waren schlichtweg zu erschöpft, und es gab keine Ersatzleute mehr. Ehrlich gesagt, bedauerte ich es nicht. Ich hatte schon befürchtet, das Spiel könne zu einer Schlägerei ausarten, hätten wir weitergemacht; das ist auch der Grund, warum wir in Tormalin nichts davon halten. Als Endergebnis einigte man sich auf fünfzehn Köpfe für die Mannschaft des Wagenzugs, womit sie gegen die einundzwanzig Köpfe meiner Mannschaft verlor, 171
doch die allgemeine Stimmung verriet, dass niemand dieses Ergebnis als Schande empfand. Nachdem wir uns vom gröbsten Dreck gesäubert hatten, ging es geschlossen in den Schankraum. Ich schaute mich nach Livak um, denn ich wollte wissen, wie viel sie beim Wetten gewonnen hatte. »Hier rüber!« Shiv erhob sich von einem Ecktisch, und ich drängte mich durch die Menge und versuchte dabei, meinen einstigen Mannschaftskameraden aus dem Weg zu gehen, um nicht unnötig durch Glückwünsche aufgehalten zu werden. Halice schenkte mir einen Becher Bier ein, und ich kippte ihn hinunter; den zweiten trank ich langsamer. Nach solch einer Anstrengung wollte ich nicht zu viel und zu schnell trinken. »Ich glaube, heute Abend dürfte es ein wenig dauern, bis das Essen aufgetragen wird.« Livak erschien aus Richtung Küche, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. »Und? Hattest du einen gewinnträchtigen Nachmittag?« Ich grinste sie an. »Sehr gewinnträchtig.« Sie zwinkerte mir lächelnd zu und klopfte auf die Ausbuchtung ihres Hemdes, unter der munter die Münzen klimperten. »Wie auch immer ... Hat einer von euch etwas über unsere Freunde aus dem Osten gehört?« Shiv wurde sachlich und senkte die Stimme, auch wenn ich bei all dem Lärm um uns herum nicht wusste, warum er das tat. »Ich habe die Spur von einer Gruppe in Schwarz knapp anderthalb Tagesreisen südlich von hier gefunden, aber Halice hat etwas von blonden Männern nahe dem Linneyweg gehört.« Ich griff nach meinem Becher und versuchte, mich wieder auf unsere Jagd zu konzentrieren. »Ich habe beim Wetten beide Geschichten gehört«, sagte Livak. 172
»Wo ist deine Karte? Könnte das nicht beide Male dieselbe Gruppe gewesen sein?« Halice klang nicht überzeugt, was ich nachvollziehen konnte. »Könnten sie sich aufgeteilt haben?«, fragte ich. Shiv schüttelte den Kopf. »Das bezweifele ich. Viltred hat seine Sachen per Weitsicht gesucht. Er ist sicher, dass alles noch beisammen ist.« »Ich habe es noch einmal nachgeprüft. Die Gruppe, von der ich gehört habe, trug einheimische Kleidung, keine Uniform«, erklärte Halice. »Ich würde sagen, wir haben es nicht nur mit den Dieben, sondern auch mit einer zweiten Truppe zu tun.« »Aber ist dieser zweite Trupp hinter uns her, hinter Viltred oder hinter denen in Schwarz?« Livak runzelte die Stirn. »Vielleicht haben sie ja auch etwas ganz anderes im Sinn«, sagte ich und trank noch einen Schluck. »Ich werde mit Viltred reden. Wenn er die Gegend kennt, kann er den anderen Trupp vielleicht finden.« Shiv warf einen reumütigen Blick zu Larrel, dem Wagenmädchen, die mit einem Tablett voller Brot und Fleisch umherging und die hungrigen Gäste versorgte. Als Shiv aufstand, packte Livak ihn am Arm. »Nicht so schnell. Dieser Wachmann, dieser Nyle, scheint sehr an Ryshads Schwert interessiert zu sein. Hast du das gewusst?« Shiv zuckte mit den Schultern. »Das ist ja wohl keine Überraschung. Es ist ein Schwert aus dem Alten Reich. Für solche Klingen gibt es immer einen Markt.« »Verkauf mich nicht für dumm, Shiv. Dafür kenne ich dich zu gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Hier verführt doch niemand die Leute dazu, ihre Familienerbstücke zu verkaufen, damit Planir sie untersuchen kann, nicht wahr? Oder überredet Trottel 173
wie mich, ihm zu helfen?« Ihr Tonfall war ausgesprochen giftig. »Das bezweifle ich.« Shiv runzelte die Stirn. »Ich kann es überprüfen, wenn du willst. Aber Planir hätte mir bestimmt gesagt, wenn es so wäre, glaubst du nicht?« »Nyle sagte, dass er Leute kennt, die genau nach solchen Schwertern suchen«, hakte Livak nach. »Die Elietimm haben vergangenes Jahr doch auch Artefakte aus dem Alten Reich gesucht.« Und haben sie gestohlen, dachte ich grimmig. Messires Neffe hatte den Verstand verloren, als er versucht hatte, seine Ringe zu verteidigen – uralte Familienerbstücke, hinter denen die Bastarde her gewesen waren –, und schreckliche Prügel von ihnen bezogen hatte. »Nyle weiß vielleicht selbst nichts davon; aber wem auch immer er die Sachen verkauft, dieser Jemand könnte mit den Eismännern zu tun haben«, mischte Halice sich ein. »Was, wenn er ihnen von einem Schwert erzählt, das er nicht bekommen konnte? Ich finde, wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, die Waffe zu verkaufen. Ich möchte nicht plötzlich erkennen müssen, dass ich auf der falschen Seite dieses Jagdausflugs stehe.« »Ich weiß, dass es ein Geschenk von Messire war, Rysh«, sagte Livak und blickte mir in die Augen, »aber es könnte uns alle in Gefahr bringen. Es ist wirklich das Beste, die Waffe zu verkaufen.« Ich zuckte mit den Schultern. Livak und Halice führten offenbar etwas im Schilde. »Ich glaube nicht, dass wir über diese Möglichkeit nachdenken müssen«, erklärte Shiv entschlossen. Ich blickte ihn neugierig an. Das Hochgefühl nach dem Spiel 174
verflog rasch; es sah so aus, als wäre hier ein ganz anderes Spiel im Gange, und offenbar hatte ich einen wichtigen Teil davon verpasst. »Du willst also nicht, dass er verkauft, hm? Weiß Ryshad eigentlich genau, was er da trägt?« Livaks smaragdfarbene Augen forderten Shiv heraus; der junge Magier wandte den Blick ab. »Es ist ein Schwert aus dem Alten Reich. Das weiß er.« »Was ist mit seinen Schlafstörungen?«, fragte Halice. »Du willst nicht zufällig etwas über bestimmte Träume hören, Shiv, oder?«, hakte Livak nach. »Was meinst du damit?« Ich ergriff meinen Becher und verfluchte mich selbst dafür, nicht daran gedacht zu haben, dass der Erzmagier Shiv durchaus noch einen anderen Auftrag erteilt haben konnte. »Sag du es ihm, sonst tue ich es«, drohte Livak. »Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, Planir studiere Tormalin-Antiquitäten?« Shiv kratzte sich am Ohr. Er suchte nach den richtigen Worten, und ich hatte das Gefühl, als würde mir nicht gefallen, was ich nun zu hören bekam. »Ich glaube aber nicht, dass ich erwähnt habe, dass einige dieser Antiquitäten ihren Eigentümern seltsame Träume bescheren – Visionen vom Untergang des Imperiums. Der Erzmagier will diese Gegenstände, um mehr über die Gründung Hadrumals herauszufinden ... ungefähr eine Generation, nachdem die Magie der Elemente sich voll entwickelt hatte.« »Die geheimnisvolle Stadt der Zauberer. Die Stadt, wo man die magischen Künste sicher vor den Nichtmagiegeborenen bewahrt!«, stieß Halice hervor. Shivs Mundwinkel begannen zu zucken und verrieten seine Verärgerung. »Dort leben der Erzmagier und die mächtigsten 175
Zauberer. So geheimnisvoll ist das gar nicht.« »Solange es die Zauberer vom normalen Volk fern hält«, bemerkte Livak bissig. »Die meisten Magier haben dort das Gefühl, nicht so sehr vom Leben abgelenkt zu werden wie unter den Nichtmagiegeborenen«, erklärte Shiv ein wenig großspurig. »Was hat das alles mit meinem Schwert zu tun?«, meldete ich mich ungeduldig zu Wort. »Du erinnerst dich doch daran, wie wir die Elietimm vergangenes Jahr auf ihre Insel verfolgt haben, oder? Und wie wir Beweise dafür gefunden haben, dass die verlorene TormalinKolonie doch nicht in Gidesta gelegen hat?«, fragte Shiv mich und ignorierte Livak. »Und dass die alten Tormalin diese uralte Magie, diese ätherischen Zauber gekannt haben, welche die Elietimm gegen uns eingesetzt haben – was auch immer diese Magie sein mag?« »Ja, natürlich.« Ich blickte ihn misstrauisch an. »Es sieht so aus, als hätte die Kolonie irgendwo auf der anderen Seite des Meeres gelegen. Messire würde gern versuchen, sie wiederzufinden – so Dastennin es will. Komm auf den Punkt, Shiv.« »Es sieht so aus, als wären diese Kolonisten von den Elietimm angegriffen worden, aber irgendwie ist es ihnen gelungen, die Magie der Eisländer zunichte zu machen. Allerdings haben sie nicht gewusst, dass sie damit auch das Imperium zum Einsturz bringen würden, dessen Macht sich ebenso auf diese alte Magie gründete.« Erstaunt blickte ich zu Livak. »Hast du das gewusst?« Sie wirkte ungewöhnlich verlegen. »Hat man dir das nicht gesagt? Dieser alte Zauberer, Otrick – er hat gesagt, er wolle es D’Olbriot und dem Rest des Tormalinrats erzählen.« 176
Shiv rieb sich mit der Hand über den Mund. »Im Laufe des Winters haben wir eindeutig belegen können, dass jene Artefakte, die die Träume verursachen, ausschließlich aus Familien stammen, die irgendwie mit der Kolonie zu tun hatten. Wir glauben, sie könnten sogar Kolonisten gehört haben.« »Und?« Ich fragte mich, wie die Sachen dann wieder übers Meer gelangt waren. »Wir hatten gehofft, die Artefakte könnten uns einen Hinweis geben, wie die Kolonisten sich gegen die Magie der Elietimm gewehrt haben«, antwortete Shiv. »Wir haben das Wenige studiert, das wir über Äthermagie wissen. Bis jetzt können wir sie weder aufspüren, noch können wir etwas gegen sie unternehmen.« »Ihr wollt also herausfinden, wie man die Magie der Elietimm ausschalten kann, falls sie einen Großangriff unternehmen, unterstützt von ihrer Ätherhexerei? Habe ich das richtig verstanden?« Das ergab Sinn; das musste ich Shiv zugestehen. Aber warum machte er so ein Geheimnis daraus? Zumindest Messire hätte darüber informiert werden müssen. »Die Äthermagie zu vernichten, kann heutzutage keinem von uns mehr schaden. Nur ein paar alte Priester wären erschreckt, da ihre Wunder auf einmal nicht mehr funktionieren.« Shiv zuckte mit den Schultern. »Das Wissen um die Äthermagie ist zusammen mit dem Imperium verschwunden – jedenfalls soweit es die Menschen auf dieser Seite des Meeres betrifft.« »Also hat man mir das Schwert gegeben in der Hoffnung, dass ich ein paar Antworten auf Planirs Fragen träume, ja?« Ich konnte die Wut in meiner Stimme nicht verbergen. Wie konnten diese Zauberer es wagen, Messire wie eine Spielfigur zu benutzen? 177
»Planir und der Rat der Magier haben versucht, diese Antiquitäten an Leute zu geben, die den ursprünglichen Besitzern ähnlich sind.« Shivs Tonfall wurde immer lebhafter. »Du bist ein Kämpfer. Hast du irgendwelche seltsamen Träume gehabt? Wir könnten sehr wohl etwas Wichtiges lernen, wenn du dich an diese Träume erinnerst.« »Du meinst also, ich soll nicht mehr versuchen, die Träume aus dem Kopf zu bekommen, obwohl ich allmählich fürchte, dass mein Verstand sich auflöst und mir zu den Ohren herausströmt?« Ich konnte mich nur mühsam beherrschen, doch ein Streit in dieser Umgebung würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.« Shiv wirkte überrascht. Das war leicht gesagt; sein Verstand war nicht von einem Elietimmhexer verdreht worden. Der Gedanke an diese Art von Magie jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich war versucht, Shiv das Schwert einfach zu geben, aber nein ... Es war Messires Sonnenwendgeschenk gewesen, ein Zeichen seiner Anerkennung! So Arimelin wollte, würde ich alle Träume, die da kommen mochten, einfach ignorieren. »Was auch immer die Kolonisten getan haben – für die Elietimm wäre es nützlich zu wissen, was es war«, sinnierte Halice. »Was, wenn sie es rückgängig machen können? Würde das ihre Macht vergrößern? Sie müssen uns einfach nur davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden, und schon haben sie sich ihren taktischen Vorteil gesichert. Das könnte der Grund dafür gewesen sein, dass sie hinter Viltred her gewesen sind.« Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und zuckte zusammen, als ich an einem Knoten hängen blieb, der ausgekämmt 178
werden musste. »Ich gehe jetzt erst einmal baden. Sonst bin ich steif, sobald der Dreck getrocknet ist.« Ich stand auf, als die Schankmaid mit den glänzenden Locken an mir vorbeiging. Ich packte das Mädchen am Arm. »Ich möchte gern ein Bad mit viel heißem Wasser – auf meinem Zimmer, sobald du kannst.« Sie schüttelte meine Hand ab und blickte mich erschrocken an; erst jetzt bemerkte ich, dass ich wohl ein wenig zu fest zugepackt hatte. »Tut mir Leid.« »Ich werde mich darum kümmern, sobald ich einen Augenblick Zeit habe«, sagte sie. Ich ging zu meinem Zimmer hinauf und wartete ungeduldig, dass das Wasser kam. Mir wurde kalt; alle Knochen taten mir weh, und ich erkannte ein wenig verspätet, dass ich stinken musste wie ein verschwitzter Gaul. Schließlich aber lag ich im Badezuber, und das warme Wasser entspannte meine Muskeln und milderte meine Entrüstung ob Shivs Geständnis. Eisländer zu jagen, war eine Aufgabe, mit der ich durchaus zufrieden war. Herauszufinden, dass wir vermutlich die Beute waren, war jedoch eine schlechte Neuigkeit, und dass man mich als Köder benutzt hatte wie ein Lamm, mit dem man Wölfe anlockt ... darüber wollte ich noch nicht einmal nachdenken. Was hatte Shiv vor? Hatten er oder Planir diese Entwicklung von Anfang an geplant? Und was hatte der Erzmagier wirklich zu Messire gesagt? Hatte der listige Schmeichler Messire die Sache mit den Träumen erklärt, oder hatte er ihm schlicht gesagt, dass Schwert eigne sich hervorragend als Geschenk eines dankbaren Patrons? Letzteres musste der Fall sein, keine Frage; alles andere würde den Eiden zuwiderlaufen, die mich und Messire aneinander banden. Dieselben Eide verlangten von mir jedoch auch, dass 179
ich das Schwert behielt und mit Shiv zusammenarbeitete. Dagegen konnte ich nichts tun, aber ich konnte dafür sorgen, dass er in Zukunft nichts mehr vor mir verheimlichte. Ich legte mir einen kleinen Spiegel auf die Knie und rasierte mich gründlich. War es wirklich wichtig, ob wir nun die Elietimm fanden oder sie uns? Nein, solange die Zauberer sie mit ihrer Weitsicht verfolgen konnten. Auf jeden Fall machte es keinen Unterschied, was den Schwur betraf, den ich Aiten geleistet hatte. Ich musste nur wachsam bleiben und klaren Kopf behalten. Nach der Rasur sah mein Spiegelbild weniger grimmig aus, und ich erinnerte mich an einen Spruch meines Vaters: »Baue für den Sturm und hoffe auf Sonnenschein.« Ein guter Spruch für einen Steinmetz, und auch ich tat gut daran, ihn nicht zu vergessen. Ich schüttelte den Kopf. Was würde Vater wohl von mir denken, wenn er wüsste, dass ich in eine solche Sache geraten war? Wahrscheinlich würde er es mit der gewohnten Ruhe betrachten. Auf jeden Fall würde er es verstehen, wenn er Livak kennen gelernt hätte ... hoffte ich jedenfalls. Ein Klopfen an der Tür erschreckte mich, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. »Brauchst du jemanden, der dir den Rücken schrubbt?« Livak schlüpfte ins Zimmer und lehnte sich gegen die Tür; ihr Lächeln war ein wenig unsicher. »Wenn du schon fragst.« Ich hielt den Waschlappen hoch und rückte ein Stück vor; dann seufzte ich vor Wonne, als Livak mir kräftig die schmerzenden Muskeln rieb. »Ich habe mir auch etwas Massageöl von Viltred geborgt.« Livak beugte sich zu mir herunter und berührte mein Haar mit ihren Lippen. »Ich dachte, es würde vielleicht ein wenig helfen.« 180
»Gute Idee.« Ich stieg aus dem Wasser und breitete ein Handtuch auf dem Bett aus. Als ich mich hinlegte, hörte ich, wie Livak die Tür verriegelte, und lächelte ins Kissen. Sofern es mich betraf, durfte Shiv ruhig Livaks Bett haben; Halices Tugend würde er kaum gefährden. »Was das betrifft, worüber wir unten gesprochen haben ...« Livak setzte sich neben mich und krempelte die Ärmel hoch. »Ich möchte nicht mehr darüber reden – jedenfalls im Moment nicht«, unterbrach ich sie in schärferem Tonfall, als ich beabsichtigt hatte. »Halice will versuchen, ob sie etwas aus Nyle herausbekommen kann.« Livak goss ein wenig Öl in ihre Hand, und ich roch den scharfen Duft von Drachenblatt. »Als sie heute Nachmittag über Spieltaktiken gesprochen haben, schien Nyle sehr interessiert zu sein.« »Meinetwegen kann sie den Burschen haben.« Ich hatte mich schon gefragt, was für ein Mann Halices Interesse wecken könnte. Livak lachte und begann, meinen Rücken zu massieren. »Halice mag Männer, in deren Gegenwart sie sich klein und weiblich fühlen kann.« »Das dürfte ihre Auswahl erheblich einschränken, es sei denn, eine Ringertruppe zieht gerade durchs Dorf«, murmelte ich. »Du wärst überrascht. Sie hat eigentlich immer genug Bettgefährten.« Livak beugte sich vor, und ich spürte ihre Brust durch das dünne Leinen ihres Hemdes hindurch auf meinem Rücken. Kurz fragte ich mich, ob wir nur Bettgenossen bleiben würden, die sonst nichts verband; doch gerade, als ich sie danach fragen 181
wollte, machte sie sich an meinem verspannten Rücken zu schaffen, und meine Worte verhallten. »Was hast du gesagt?« »Nichts.« Ich streckte mich unter ihren geschickten Händen und gab wohlige Geräusche von mir, während sie die unzähligen kleinen Schmerzherde in meinem Rücken bearbeitete. »Noch immer steif?«, fragte sie schließlich. »Nur, wenn ich will.« Drachenblattöl hat die gleiche Wirkung auf mich wie auf alle anderen Männer. Livak kicherte, als ich mich herumrollte. »Ich frage mich, warum Viltred sich das Öl von der Schankmaid besorgt hat.« »Vergiss Viltred.« Ich zog sie zu mir herunter. Livak stöhnte vor Wonne, als ich ihr das Hemd über den Kopf zog. Der Anblick ihrer weichen Brüste im sanften Licht der Lampe vertrieb alle anderen Gedanken. Mit wachsendem Verlangen griff ich nach ihr. Ihre Berührung wiederum war fest und sicher und entflammte erneut das Feuer eines frisch Verliebten in mir. Sie ergab sich meinen Zärtlichkeiten; beide empfingen und gaben wir Lust, während wir den Körper des anderen erkundeten. Auch wenn ich Livaks Leib vollkommen neu entdeckte, kamen wir mit der Leichtigkeit eines Paares zusammen, das sich eine Generation lang kennt, und wir bewegten uns in dem fließenden, instinktiven Rhythmus, der uns beiden so natürlich erschien. Ich bot meinen ganzen Willen auf, mich zu zügeln, bis ich spürte, wie Livaks Bewegungen immer leidenschaftlicher wurden; erst dann ergab auch ich mich der Wonne, die in Wellen über mich hinwegspülte und mich erzittern ließ. Dann ruhten wir uns aus. Ihr Herz klopfte heftig, und ich wusste, dass auch mein Puls noch für lange Zeit in diesem 182
Rhythmus schlagen würde, egal, was Livak für mich empfand oder wie unsere Zukunft aussehen mochte. Unser Atem vermischte sich, und gemeinsam versanken wir in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
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3.
Aus dem Ersten Anhang zu den Geschäften der Kaufmannsabenteurer von Col, Band 8, 126 Jahr der Freiheit der Stadt
Geschätzte Geschäftsbrüder, mir geht es gut. Ich bin frohen Mutes, und ich hoffe, dass auch ihr in Gesundheit und Wohlstand lebt. Ihr werdet überrascht sein, daran besteht kein Zweifel, besonders angesichts meiner letzten Nachricht aus dem Chaos von Triolle. Zum Geschäft: Mit einem Blick auf die Bilanzen möchte ich euch nicht verschweigen, dass wir schwere Verluste erlitten haben. Der Hafen an der Bucht von Triolle ist von den Truppen des Herzogs von Draximal gründlich geplündert worden. Um die Waren und Profite aus dem Handel des vergangenen Jahres zwischen Triolle und dem Archipel wird nun entweder in den Söldnerlagern gespielt, oder sie schmücken die Huren der Soldaten. Mehr noch, dieser Krieg ist nicht nur ein Sommersturm; sollte euch jemand sagen, dass zur Sonnenwende alles vorbei ist, vergesst nicht, eine Wette mit ihm abzuschließen und zögert nicht, ihm seine letzte Mark abzunehmen. Der Krieg mag ja als Kampf um den Thron begonnen haben, doch er verwandelt sich in einen Streit um das fruchtbarste Land, um Zugang zu Flüssen und zum Meer und noch um vieles andere. Ich weiß nicht, wie Parnilesse es vermeiden will, in diesen Krieg hineingezogen 184
zu werden – und damit wäre auch der letzte noch sichere Hafen diesseits von Tormalin nicht mehr sicherer als ein Piratennest. Der Handel in Lescar ist so tot wie ein Mann mit einem Schwert im Genick. Wie, fragt ihr, kann ich dennoch voller Hoffnung sein? Lasst es mich euch erklären. Ich befinde mich in einem Dorf mit Namen Relshaz, kaum mehr als eine Ansammlung schmutziger Hütten im Delta des Rel, doch seine Lage spricht für diesen Ort. Bedenkt die Vorteile, die ein derart gelegener Hafen haben würde. Bis Abray ist der Rel auch für größere Fahrzeuge schiffbar, und Barken können noch viel weiter vordringen, fast bis nach Dalasor. Wenn man die Neuigkeit behutsam verbreitet, könnte der Handel nahezu des gesamten östlichen Caladhrias in solch einer Siedlung zusammenlaufen – und sollte der Handel in Lescar wieder zum Leben erwachen, wäre ein solcher Hafen ebenfalls ideal gelegen. Wir müssen kühn sein und schnell handeln, sonst verpassen wir die Gelegenheit, die Zukunft des Handels im Golf von Caladhria zu bestimmen. Meine Informanten berichten, dass Lord Metril, Herr der Bucht von Attar, seine Häfen vergrößern will, und Lord Sethel von Pinerin plant eine Reihe von Landungsbrücken entlang der Ferlstraße. Beide Pläne werden dem Adelsparlament zum Äquinoktium vorgelegt – und in diesem Fall glaube ich nicht, dass wir das übliche endlose Palaver erleben werden, für das diese Herren berühmt sind. Beide Lords haben hart dafür gearbeitet, dass ihre Anträge bereits in der ersten Abstimmung durchgehen; dabei war es besonders klug von ihnen, dass sie sich zusammengetan haben. Ich werde tun, was ich kann, um ein wenig Unruhe in diesem Hühnerstall zu stiften. In der Zwischenzeit müsst ihr mit dem Bau eines Hafens beginnen, 185
bevor die Sturmsaison beginnt. Ich weiß, dass es uns Mühe bereiten wird, in solch einem mageren Jahr die erforderlichen Gelder aufzutreiben, aber wir müssen über kurzfristige Verluste hinwegsehen und unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf langfristige Gewinne richten. Euer Handelspartner Jeram Gilthand
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Die Relshaz-Fähre, Caladhria 27. Nachfrühling
Niemand hatte eine Erklärung für Nyles Interesse an dem Schwert, doch ich war zuversichtlich, dass wir dieses Problem zusammen mit dem Maultierzug hinter uns gelassen hatten, nachdem wir westlich von Adrulle auf eine andere Straße abgebogen waren. Wir hatten diese Straße auch deshalb gewählt, um einen Umweg den Flussbogen entlang zu vermeiden und um wenigstens ein Stück des Linneyweges mitzunehmen, wo man die zweite mutmaßliche Gruppe Elietimm gesichtet hatte. Doch in keiner der Tavernen am Wegesrand wusste jemand etwas über die Fremden, woraus wir schlossen, dass sie nach Ensaimin unterwegs sein mussten – falls es sich denn in der Tat um Eisländer handelte. Ich vergaß sie nicht, ging aber davon aus, dass wir uns über diesen Trupp vorerst nicht den Kopf zerbrechen mussten. Unser Weg führte uns durch eine ganze Reihe jener langweiligen caladhrischen Marktflecken, die man nach einer Weile nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Shivs Laune besserte sich zusehends, denn jeden Abend starrten die beiden Zauberer in ihre Schüssel, und jedes Mal bestätigte sich, dass die Elietimm, die Viltred beraubt hatten, noch immer Richtung Relshaz marschierten. Je weiter wir nach Süden kamen, desto wärmer wurde es; schließlich legten wir die Mäntel ab und ritten nur noch im Hemd. Viltred ging es deutlich besser, nun, da die Sonne die Schmerzen aus seinen Gliedern vertrieb. Die in den letzten Generationen aufgekommene Mode, alles 187
einzuzäunen, verbreitete sich nun auch in Südcaladhria, und so sahen wir immer mehr Land, das von Hecken, Zäunen und Mauern begrenzt war. Das Ergebnis war besser ernährtes, kräftigeres Vieh. Bald sahen war immer weniger Kühe und Kornfelder, dafür mehr Schafe und Weinstöcke. Die Ortschaften wurden groß genug, dass es Elendsquartiere und Bettler gab, und der Verkehr auf der Straße nahm stetig zu. Fast hätte ich glauben können, auf der windabgewandten Seite der Berge nach Süden zu ziehen, gen Heimat. Auch meine Stimmung hob sich, je mehr die Gegend und das Wetter mich an mein Heimatland erinnerten. Mit Livaks Unterstützung schlief ich nun auch besser, doch immer noch hatte ich keine Ahnung von ihren Gefühlen; beide zogen wir den lustvollen Beischlaf einem möglicherweise unbefriedigenden Gespräch darüber vor, was die Zukunft für uns bereithalten könnte. Schließlich wehte der Wind den feuchten, modrigen Geruch der großen Relmündung über einen Hügel hinweg zu uns, eine Mischung aus modrigem Schlamm, verrottendem Holz, Seetang und Fisch. Wir ritten die Hügel hinauf, die das Ufer beherrschten, und blickten auf die schimmernde Stadt Relshaz hinunter, eine dichte Ansammlung von mit Kalk geweißten Häusern, die sich zwischen den breiten Flussarmen ins Delta schmiegten. Die schlammigen Wasser aus den Hügeln von Caladhria und den Ebenen von Lescar spülten um die Stadt herum und ergossen sich als dunkler Fleck in die klare, glitzernde See. Um diese Jahreszeit war der Golf von Lescar so blau wie die Flügel eines Kormorans. Ich atmete tief durch und genoss das Salz in der Luft; zwar roch sie nicht so klar und rein wie die in meiner 188
Heimatstadt, aber immerhin: Es war Meeresluft. Doch als wir uns über eine gewundene Straße auf den Weg hügelab machten, war die See bald nicht einmal mehr zu erahnen. Die Gewürzstraße und die Uferstraße treffen hier auf einem großen Marktplatz zusammen, wo manche Händler ihre Waren bereits kauften oder verkaufen, um sich die Zeit und das Geld für eine Fähre in die Stadt zu sparen. Nur mit Mühe konnten wir uns einen Weg zwischen den Menschen, Maultieren, Ochsen und Karren hindurchdrängen. Um uns herum erklangen unterschiedliche Sprachen; aufgewirbelter Staub drang uns in Mund und Nase, und unzählige Male wurden wir von allen Seiten angerempelt. »Lasst mich vorangehen.« Da Halice inzwischen die Nähte aus Shivs Arm gezogen hatte, führte er sein bösartiges Pferd mit fester Hand, und ich überließ ihm die Führung nur allzu gern. Das kräftige Pferd stieß ein paar klapprige Maultiere beiseite, und ohne auf das Fluchen des Maultiertreibers zu achten, schlüpfte ich in die entstandene Lücke. Zu meiner Erleichterung besaß Viltreds Pferd nicht genug Verstand, sich von diesem wilden Durcheinander aus der Ruhe bringen zu lassen, während Livak das Kutschpferd nur mit Mühe zum Weitergehen überreden konnte. Schließlich ließ Halice die Peitsche über den Ohren des Tieres knallen, und widerwillig setzte es sich in Bewegung. »Wie lange müssen wir auf die Fähre warten?«, rief ich über den Lärm hinweg, als wir an einem mit Stoff gedeckten Steg hielten, der nun, da Ebbe herrschte, von Schlamm umspült war. Livak zuckte mit den Schultern. »Lange ... vermutlich bis zum nächsten Glockenschlag.« Kaum hatte sie es gesagt, hallte Glockengeläut über das Wasser zu uns herüber. 189
»Wo die Uhren genau gehen und die Glocken pünktlich schlagen, gefällt es mir«, bemerkte ich. Ich muss gestehen, dass ich in dieser Hinsicht ein verwöhntes Stadtkind bin. Wie sich herausstellte, überquerten wir den Fluss früher, als ich befürchtet hatte, denn ich arbeitete mich durch das Gedränge zum Fährmeister vor und gab ihm die Hand – mit einer caladhrischen Mark darin. Als dann die Postkutsche auf das flache Deck der Fähre rumpelte und gerade genug Platz für uns und unseren Wagen ließ, winkte der Fährmeister uns vor, sehr zum Ärger eines Weinhändlers, der in der Schlange vor uns stand. »Das war Glück«, bemerkte Shiv. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Man muss wissen, wie es an einer Anlegestelle zugeht.« Wir standen an der Reling und beobachteten die angeketteten und schwitzenden Sklaven auf der anderen Seite, die die mächtige Eichenwinde bedienten, an der eine Kette befestigt war, welche die Fähre über das dunkle, wirbelnde Wasser des Flusses zog; hinter ihnen drängten sich die Menschen, Wagen und Tiere. Mit Schlamm besudelte Kinder durchwühlten das Treibgut am Ufer, eilten jedoch sofort zur Fähre, als diese näher kam, um mit ausgestreckten Händen nach ein paar Kupferstücken zu betteln. »Ich verstehe nicht, dass man nicht längst eine Brücke gebaut hat«, bemerkte Viltred säuerlich. »Zumindest eine, die auf die caladhrische Seite führt.« Halice gesellte sich zu uns. Dank Shivs Pferd, das ihr im Gedränge auf den Fuß getreten war, humpelte sie noch mehr als gewöhnlich. »Für solches Gerede kann man dich mit einem Bußgeld bele190
gen«, warnte sie. »Die Relshazris nehmen ihre Unabhängigkeit sehr ernst, und der Fluss hat sie mehr als einmal gerettet. Jeder, der versucht, hier eine Brücke zu bauen, wird hingerichtet.« Ich nickte. »Ich habe davon gehört ...« »Sobald wir die Fähre verlassen haben, begeben wir uns zum Arril-Bezirk«, unterbrach mich Viltred in wichtigtuerischem Tonfall. »Ich werde fahren«, fügte er hinzu, kehrte Halice den Rücken und kletterte auf den Kutschbock. »Wohin gehen wir?«, fragte ich ein wenig überrascht. »Ich habe hier gewisse Verbindungen.« Viltred lächelte auf seine hochnäsige Art. »Das gilt auch für Livak und mich«, sagte Halice in sanftem Tonfall und überließ Viltred die Zügel. »Das stimmt.« Livak trat ihrem Pferd die Sporen in die Seiten, als es sich widerwillig zeigte, die knarrenden Planken des Landungsstegs zu betreten. »Wenn wir uns aufteilen, sparen wir Zeit. Lasst und sehen, was wir herausfinden können. Wir treffen euch dann ... wo?« »Nein, wir trennen uns nicht«, sagte Shiv mit Bestimmtheit. »Lasst uns vorerst zusammenbleiben. Ich muss erst mit einigen Leuten reden, bevor ich entscheide, was wir als Nächstes tun. Bis dahin will ich niemanden, der vielleicht ein lockeres Mundwerk hat, auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen.« Livak tauschte einen Blick mit Halice, der zu besagen schien, dass sie diesen Befehl genauso bereitwillig entgegen nahm wie eine Börse Lescarimark. Ich beschloss, die beiden im Auge zu behalten; Livak hatte ein ernstes Problem mit Befehlen – das wusste ich –, selbst von jemand so umgänglichen wie Shiv. Ich blickte zu ihr hinüber. Sie starrte auf den Müll, den das Wasser zum Steg trug. Wie sollte ich meinen Eid und meine Pflichten 191
je mit ihrem Unabhängigkeitsdrang und ihrer Liebe zum Leben am Rand der Gesellschaft in Einklang bringen? Die Postkutsche brachte ihre müden Passagiere auf den letzten Abschnitt der Reise, und auch wir verließen kurz darauf die Anlegestelle. Livak und Halice verständigten sich stumm und warfen einen reumütigen Blick auf Shiv, als wir an einer Taverne vorüberkamen, über deren Tür ein Schild mit einem Federbüschel baumelte. »Ist das Bier da gut?«, fragte ich beiläufig. »Ja«, bestätigte Halice. »Außerdem wird einigermaßen ehrlich gespielt, die Betten sind ziemlich sicher, und im Allgemeinen bekommt man dort auch zuverlässige Auskünfte.« »All die nette Zauberei ist ja schön und gut«, Livak lenkte ihr Pferd näher zu mir heran; »aber ich würde die Ergebnisse doch lieber von Informationen bestätigt wissen, die man für Geld kaufen kann.« »Da widerspreche ich dir nicht.« Ich schaute mich neugierig um. »Wie gut kennt ihr Relshaz eigentlich?« »Im Laufe des letzten Jahres waren wir ein paar Mal hier.« Livak zügelte plötzlich ihr Pferd, als ein Mann vor sie stolperte. »Hauptsächlich haben wir hier an Festtagen gespielt. Wir kennen die Leute hier, und die Leute kennen uns.« »Sag das Shiv«, erwiderte ich. »Wird er denn zuhören?«, konterte Livak gereizt. Viltred lenkte die Kutsche durch die geschäftigen Straßen. Oft musste er anhalten, wenn der Verkehr sich vor einer der schmalen Brücken staute, die über die unzähligen Kanäle der Stadt führten. Ich muss gestehen: Je mehr ich von dieser Stadt sah, desto weniger beeindruckt war ich. Von Nahem betrachtet ist die berühmte Weiße Stadt des Golfs von Caladhria schmud192
delig und heruntergekommen, besonders die landeinwärts gelegenen Viertel. Ich sah grüne Flecken auf den weiß gestrichenen Wänden und Abfall im Wasser, und je höher die Sonne stieg, desto unerträglicher wurde der Gestank. Bettler lauerten verstohlen in den Schatten schmaler Gassen oder in Hauseingängen, und ich war froh, dass wir nicht des Nachts eingetroffen waren. Ich setzte mich im Sattel auf und schob den Mantel ein Stück beiseite, sodass mein Schwert zu sehen war, womit ich hoffentlich jeden abschreckte, der darüber nachdachte, sein Glück bei uns zu versuchen. Wir kamen in eine Gegend mit Lagerhäusern und Manufakturen. Waren wurden von Pferden mittels Flaschenzug zu Luken unmittelbar unter den Dächern großer Lager hinaufgezogen. Frauen schoben Karren mit Holz- und Metallteilen von einer Werkstatt zur anderen, wo sie dann für einen Hungerlohn zu Möbeln verarbeitet wurden. Kinder überbrachten Nachrichten, hielten Pferde oder fegten die Straße. Der dichte Verkehr trennte Livak und mich ein Stück von der Kutsche, und ich zupfte sie am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Wie ist der Arril-Bezirk denn so?« Livak zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht genau. Normalerweise hänge ich in den Tavernen und Spielhallen herum, und im Arril-Bezirk stehen nur die Häuser angesehener Kaufleute, Händler und dergleichen.« »Wo würden die Eisländer sich in diesem Labyrinth hier verkriechen?« »Da gibt es nur eine Hand voll geeigneter Orte.« Livak drehte sich zu mir um; ihr Gesicht war angespannt. »Halice und ich kennen ein paar Leute, die das herausfinden könnten. Shiv muss uns erlauben, unsere Kontakte zu nutzen.« 193
Viltred bog in eine Seitenstraße ein, und die Kutsche rumpelte über das Pflaster zwischen großen, stabilen Häusern, deren Aussehen die Stadt in einem besseren Licht erscheinen ließ. Die strahlend weißen Wände der Ziegelhäuser waren frisch gestrichen, und Blumenkästen zierten die Balkone. Die Frauen hier waren in feinste Seide gekleidet und hatten saubere, manchmal sogar fröhliche Kinder im Schlepptau, während sie mit Straßenhändlern feilschten, mit Freundinnen Gerüchte austauschten oder Diener herumkommandierten. Viltred hielt vor einem breiten, hohen Tor in einer dicken Mauer und kletterte steif vom Bock. »Wartet hier.« Sein Klopfen wurde umgehend von einem ordentlich uniformierten Pförtner beantwortet. »Bitte, sagt Madame Bescheid, dass Viltred Sern hier ist«, sagte der alte Mann in fließendem Relshazri und in einem solch höfischen Tonfall, dass er fünf Finger größer geworden zu sein schien. Mit gelindem Erstaunen erkannte ich, dass dies seine Muttersprache war; da er auch fließend Caladhrisch sprach, hatte ich bisher angenommen, dass er von dort stamme. Als das Tor geöffnet wurde, blickte Livak zu mir herüber und hob nachdenklich eine Augenbraue. Wir wurden in einen sauberen Hof gewunken, der in einen breiten Rasen auslief, welcher mit einem Springbrunnen und blühenden Obstbäumen verziert war. Zwei Knechte eilten aus dem Stall herbei, der das massiv gebaute Haus von der Straße trennte, und nahmen sich unserer Pferde an, während der Pförtner uns zu einer blank polierten Tür führte. Er öffnete sie und scheuchte uns in einen sonnendurchfluteten Salon mit edlen Musselinvorhängen vor den offenen Fenstern, die sich in der sanften Frühlingsbrise blähten. Meine staubigen Stiefel schabten über den makellos 194
sauberen Boden, und ich bemerkte, dass ich nicht der Einzige war, der die türkisfarbenen und blattgrünen Seidenteppiche mied, die das dunkle Holz bedeckten. Wandteppiche, in den gleichen Farbtönen gehalten, zierten die Wände, und ich erblickte eine interessante Sammlung von Statuen und Keramik. Der Zierrat war nicht sonderlich wertvoll, doch jedes Stück war mit Verstand ausgesucht worden, um das harmonische Gesamtbild des Raumes zu vervollständigen. Der Duft frischer Blumen erfüllte die Luft. Viltred ging zu einer mit Seide gepolsterten Tagesliege und ließ sich mit beneidenswerter Selbstsicherheit darauf nieder. »Wein.« Er winkte dem Lakai, der sich daraufhin mit beachtlicher Geschwindigkeit in Bewegung setzte. Ich nahm auf einem Stuhl an einem Obstholztisch Platz und versuchte, Viltreds Gelassenheit nachzuahmen; zugleich aber kämpfte ich gegen das Gefühl an, Habachtstellung einnehmen zu müssen wie daheim, wenn ich mich im Haus meines Patrons befand. »Viltred, mein Lieber!« Eine Tür öffnete sich, und in einer Wolke aus gelber Seide und Parfüm schwebte eine gut gebaute Frau ins Zimmer. Leidenschaftlich umarmte sie den alten Zauberer, setzte sich neben ihn und schob ihre zierlichen Füße unter sich, bevor sie ihren hoheitsvollen Blick über uns andere schweifen ließ. »Das ist Mellitha.« Viltred küsste ihr die Hand mit höfischer Eleganz, die in krassem Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung nach der langen Reise stand. Nur mit Mühe konnte ich mir ein Lächeln der Bewunderung für den alten Zauberer verkneifen. »Wer sind deine Gefährten?« Mellitha hob die fein gezupften 195
Augenbrauen in ihrem makellosen Porzellangesicht. Ich fragte mich, wie alt sie sein mochte. Ihr haselnussfarbenes Haar war mit Weiß durchsetzt, und um ihre wachen grauen Augen herum sah ich feine Linien. Viltred stellte uns vor. Der Lakai kehrte mit dem Wein zurück und wurde entlassen; unsere elegante Gastgeberin schenkte uns persönlich ein. »Wie geht es den Kindern?«, erkundigte sich Viltred. Seinem Tonfall nach zu urteilen, war er tatsächlich daran interessiert. »Tref reist durch Ensaimin und malt Porträts von all diesen armseligen kleinen Fürsten, die sich ach so groß vorkommen.« Mellitha strich ihr teures Kleid glatt, das mit leuchtenden Blumen bestickt war, und setzte sich wieder. »Tia ist noch immer mit ihrem Vater in Hadrumal. Sie lernt nach wie vor das Buchbinderhandwerk. Sie sind überein gekommen, dass Tia die Werkstatt übernimmt, wenn ihr Vater sich in etwa einem Jahr zurückzieht. Sanan wird bald ein nettes Mädchen aus Col heiraten. Ihrem Vater gehören mehrere Tavernen; also werden sie nach der Hochzeit dorthin ziehen. Patrin dient als Soldatin in Lescar. Ich bin nicht gerade glücklich darüber, wie du dir vorstellen kannst, aber ich habe erst vor ein paar Wochen von ihr gehört. Zur Sonnenwende wird sie wieder in Relshaz sein, und dann werde ich sie davon überzeugen, mit mir das Geschäft zu führen.« »Ich wäre glücklicher, wenn sie sich dazu entschließen könnte.« Viltred nickte. Mellitha lachte. »Es gibt keinen Grund, so väterlich zu sein. Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich nicht weiß, ob sie deine Tochter ist.« Ich blickte verdutzt zu Viltred. Wie es schien, hatte der alte 196
Vogel die Schwingen in seiner Jugend ganz schön weit ausgebreitet, und er musste ein sehr schönes Lied gesungen haben, wenn er solch eine Frau hatte bezaubern können. Mellitha war offenbar sehr selbstbewusst und unabhängig. Shiv hustete. »Ich fürchte, dies ist nicht nur ein Freundschaftsbesuch, Madame.« Mellitha lächelte ihn an. »Das habe ich auch nicht erwartet. Wie kann ich euch behilflich sein?« Sie strich mit der Hand über ihre makellose Frisur, plötzlich ganz Geschäftsfrau. Shiv erzählte ihr unsere Geschichte mit knappen Worten, aber sehr genau – was um so bemerkenswerter war, als Viltred ihn ständig unterbrach. Mellitha überraschte mich ein wenig, als sie mich anschließend nach meiner Meinung fragte, wobei sie mich aufmerksam betrachtete. In gewisser Weise fühlte ich mich an Gespräche mit der derzeitigen Geliebten meines Patrons erinnert, Lady Channis, eine jener betörenden Frauen, deren Verstand ihrer Schönheit in nichts nachsteht. Halice und Livak saßen schweigend da und nippten am gekühlten Weißwein; nur dann und wann tauschten sie einen Blick Ich sah, wie Mellitha sie einmal dabei beobachtete, und erkannte, dass diese Frau erst beide Seiten einer Münze sehen wollte, bevor sie sie in ihre Börse steckte. »Glaubt Ihr, dass Ihr uns helfen könnt?«, fragte Shiv schließlich. »Ich kann sicherlich ein paar Erkundigen über Fremde in schwarzen Uniformen für euch einziehen.« Mellitha ging zu einem eleganten Schreibtisch und holte ein Blatt teuren Papiers und Tinte daraus hervor. »Solche Leute fallen auf – selbst in Relshaz.« »Gebt Acht, dass Ihr die Aufmerksamkeit dieser Leute nicht 197
auf Euch lenkt«, warnte ich. »Diese Männer sind sehr gefährlich. Es sind Mörder.« »Mein Geschäft ist das Eintreiben von Steuern. Ich habe eine Lizenz dafür«, erklärte Mellitha selbstbewusst. »Man erwartet von mir, dass ich Fragen stelle, und es arbeiten viele Leute für mich, die sehr gut wissen, was Diskretion bedeutet.« »Soll das heißen, dass du all deine Informationen nicht durch heimtückische und unfehlbare Zauberei bekommst?« Viltred lachte. »Zumindest habe ich das bei meinem letzten Besuch hier gehört.« »Ihr seid Zauberin?«, fragte ich überrascht. »Ja, aber das ist nicht mein Hauptgeschäft. Allerdings achte ich darauf, dass ich ab und an beim Zaubern gesehen werde, um die Gerüchteküche warm zu halten. Das ist sehr nützlich.« Mellitha lächelte breit. »Die meisten Leute versuchen gar nicht erst zu lügen, wenn sie glauben, man könnte durch ihre Schreibtische hindurch in ihre Bücher schauen.« Livak lachte; sie schien sich sichtlich wohler zu fühlen, nun, da sie erkannte, dass Mellitha aus demselben Holz geschnitzt war wie sie selbst. Muss mir das Sorgen bereiten?, fragte ich mich müde. »Ich sollte noch einmal eine Vision der Diebe heraufbeschwören«, meldete Viltred sich wieder zu Wort. »Vielleicht erkennst du ja etwas.« »Das könnte Euch helfen, Eure Informanten auf die richtige Fährte zu führen«, fügte Shiv hinzu, und auch ich murmelte meine Zustimmung. Mellitha stand auf und zog ihr Kleid über den üppigen Hüften glatt. »Ja, lasst uns das sofort erledigen. Ich benötige allerdings ein paar Dinge. Beschwört schon mal ein Bild der Männer 198
herauf, während ich die Sachen hole.« Sie läutete eine kleine Silberglocke; die Tür öffnete sich, und mehrere Dienerinnen betraten den Raum und legten erlesenes Speisegeschirr auf der Anrichte aus. Derweil beugte Viltred sich vor und konzentrierte sich darauf, ein Bild der Elietimm in der Luft über dem Tisch heraufzubeschwören. Livak, Halice und ich schauten fasziniert zu, wie der alte Zauberer Stränge blauen Lichts zuerst zu breiten Strähnen wob, dann zu undeutlichen Formen und schließlich zu festen Gestalten in sämtlichen Farben und mit präzisen Details. Mellitha holte eine Schüssel, eine Kanne Wasser und mehrere kleine Phiolen. Shiv beobachtete sie interessiert. »Was benutzt Ihr?« »Duftöle.« Mellitha ließ eine kleine Menge davon ins Wasser tropfen. »In letzter Zeit habe ich an ein paar neuen Verfahren gearbeitet, und dieses hier hat die besten Ergebnisse gezeigt.« Viltred setzte sich zu ihr, und die drei Zauberer starrten in die duftende Schüssel. Mellitha betrachtete das Bild der Eisländer einen langen Augenblick; dann erzeugte sie einen Wirbel im Wasser, und die Ölfäden auf der Oberfläche begannen im grünen Licht ihrer Magie zu leuchten. Dunkle, undeutliche Bilder schälten sich halb heraus und lösten sich wieder auf. Gesichter blickten aus der Tiefe, um sofort wieder ins Nichts davonzutreiben. Plötzlich war klar und deutlich ein Steinboden zu sehen, der jedoch ebenso rasch wieder verschwand. Ich blickte zu Halice und Livak. Beide zuckten mit den Schultern. »Wie seltsam«, bemerkte Mellitha verwirrt und verärgert. »Ich kann den Zauber nicht fokussieren, und ich weiß, dass ich nichts Ungewöhnliches getan habe. Ich kann nur eins sagen: 199
Sie halten sich tatsächlich in der Stadt auf, doch habe ich keine Ahnung, wo sie sein könnten.« Shiv lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand übers Haar. »Ich glaube nicht, dass Ihr etwas falsch gemacht habt. Irgendwas behindert den Zauber. Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Das ist auch uns passiert, als ...« »Bist du sicher, dass es ein Problem von außen ist?«, fragte Viltred zweifelnd. Mellitha blickte dem alten Mann in die Augen. »Wer ist hier derjenige mit einer Wasseraffinität?« »Was wissen wir denn jetzt?« Shiv war seine Enttäuschung deutlich anzusehen, und ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Endlich befanden wir uns am selben Ort wie unsere Beute, und die Magie der Zauberer ließ uns erneut im Stich. Ich fragte mich, wie schnell wir Verbindung zu Livaks und Halices Bekannten aufnehmen konnten. »Wartet einen Augenblick.« Mellitha hob ihre mit glänzenden Ringen geschmückte Hand. »Vor ein paar Jahren habe ich so etwas schon einmal erlebt ...« Sie blätterte ein paar kleine Tagebücher durch, die sie aus einer Schreibtischschublade geholt hatte. »Hier ist es ja ... ein Kunsthändler, dessen Bilanzen keinen Sinn ergaben. Ich habe versucht, ihm nach Tormalin zu folgen, doch irgendetwas hat meine Zauber ein paar Tage lang außer Kraft gesetzt.« »Was war es?«, wollte Viltred wissen. Mellitha zuckte mit den Schultern, blätterte erneut durch ihre Notizen und legte die Stirn in Falten. »Ich war mir nie sicher. Es war alles ziemlich ... seltsam. Er hat mit religiöser Kunst gehandelt, Statuen für Schreine ... Dinge, wie Leute sie gern in ihren Häusern aufstellen. Soweit ich feststellen konnte, hat irgendet200
was, das in seinem Besitz war, das Problem verursacht. Ich war nicht einmal sicher, ob er es überhaupt wusste, denn kaum hatte er alle Votivfiguren verkauft, konnte ich meine Weitsicht wieder einsetzten und sah, wie viel Geld der Mann wirklich machte und wo er es deponierte: bei einem Goldschmied in Toremal.« Sie schaute uns der Reihe nach an. »Offenbar ist es von einiger Bedeutung, was ich gesagt habe, nicht wahr?« »Es ist sehr kompliziert ...«, erklärte Shiv zurückhaltend. Mellitha blickte ihm tief in die Augen. »Junger Mann, ich bin eine der führenden Steuereintreiberinnen der Stadt. Um sich die Rechte dafür zu kaufen, muss man eine Rechnung aufstellen, um zu belegen, dass die Sache Gewinn für den Steuereintreiber und den Magistrat abwirft, ohne die Leute mit Abgaben zu belasten, die zu zahlen sie nicht mehr bereit sind. Die Ausgaben gehen ausschließlich zulasten des lizenzierten Eintreibers – was es um so schwerer macht, den eigenen Profit zu kalkulieren. Wie Ihr seht, habe ich mich mein Leben lang mit komplizierten Dingen auseinander gesetzt.« Shiv besaß den Anstand zu erröten und erklärte kleinlaut, was der Erzmagier bis jetzt über die weitgehend unbekannte, ätherische Magie herausgefunden hatte, welche die Elietimm mit Furcht erregender Leichtigkeit beherrschten.
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Das Seedock in Zyoutessela, bevor der Wachturm auf den Höhen errichtet wurde und als der alte Fischmarkt noch stand
Die kreisrunde Hafenbucht war mit den verschiedensten Fahrzeugen gefüllt, jedoch nicht mit den Fischerbooten, die hier für gewöhnlich ankerten. Hochwandige Seeschiffe mit riesigen Masten drängten sich unbeholfen an Molen, die für weit kleinere Schiffe gebaut waren, und überall waren Seeleute und Hafenarbeiter damit beschäftigt, die unterschiedlichste Ausrüstung an Bord zu bringen. »Wo soll das hin, Junker?« Ein Hafenarbeiter, der einen schweren Sack auf der Schulter balancierte, blieb keuchend vor Temar stehen. »Das sind Bohnen, stimmt’s?« Temar überprüfte das Lederschild und fuhr mit dem Finger seine Liste hinunter. »Vorderer Laderaum, neben die kleinen Fässer.« Der Mann grunzte und setzte sich in Bewegung; mehrere andere folgten ihm. »Wartet einen Augenblick.« Temar ging ihnen hinterher und überprüfte die Ladung. »In Ordnung. Ihr könnt mit ihm gehen.« Er beobachtete, wie eine zweite Gruppe Träger Schatullen und Ledertaschen zum Kabinendeck trug, wobei er sicherstellte, dass auf sämtlichen Gegenständen die Holzkohlemarkierung zu sehen war, welche die Güter als vom Hafenmeister genehmigt kennzeichnete. Nachdem schließlich der letzte Mann die Leiter hinuntergestiegen war, seufzte Temar erleichtert auf und blickte nach oben, um den Sonnenstand zu überprüfen; bei all dem 202
Lärm hatte er seit Sonnenaufgang keine Glocken mehr gehört; deshalb hatte er keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Wenigstens war es so früh im Jahr noch nicht allzu warm, und der Regen, der die Arbeit in den vergangenen Tagen zur Qual gemacht hatte, hatte aufgehört. Plötzlich hörte Temar in der Ferne Glocken schlagen, und die Arbeiter blickten ihn erwartungsvoll an. »Mittagspause!«, rief Temar für jedermann hörbar, und in den Gesichtern der Hafenarbeiter spiegelte sich seine eigene Erleichterung, sich endlich ein wenig ausruhen und etwas essen zu können. Temar steckte die Listen in sein mattgrünes Wams und ging durch das Gedränge auf der Mole hindurch zu einer der Fischertavernen. Auf dem Weg dorthin holte er eine Wachsschreibtafel aus der Tasche und hakte die Arbeiten ab, die er an diesem Morgen bereits erledigt hatte. Zwar war das meiste noch zu tun, aber immerhin war ein Fortschritt zu verzeichnen. Temar lächelte reumütig. Was würde Lachald wohl denken, wenn er ihn so sehen könnte – überall Tinten- und Holzkohleflecken wie ein Schreiberling? »Ihr seht sehr fröhlich aus, Junker D’Alsennin.« Temar hob den Blick; beinahe wäre er gegen einen dünnen Mann mit grauem Haar und schmalem Gesicht gerannt. Grüne Augen, blass wie die einer Katze, starrten Temar ohne zu blinzeln an. »Messire Den Fellaemion.« Temar verneigte sich rasch und wischte die Hand an der Hose ab, bevor er sie seinem Gegenüber hinhielt. »Wie geht es mit dem Beladen voran?« Den Fellaemion erwiderte Temars Höflichkeit mit einem kurzen Händedruck. 203
»Sehr gut, Messire. Wenn der Tag zu Ende geht, sollten wir alles Dörrobst, Trockenfleisch und dergleichen an Bord haben, und die Probleme mit den Quartieren sind bereits gelöst.« »Gut.« Der schlanke Mann nickte zufrieden. »Was ist mit den neuen Ladelisten für meine Schreiber?« »Bei Sonnenuntergang habt Ihr sie«, versprach Temar. Kurz zögerte er; dann holte er seine Wachstafel noch einmal heraus, um die Listen den unerledigten Dingen hinzuzufügen. Besser, ich sehe aus wie ein Kind, das gerade erst schreiben lernt, als dass ich so etwas vergesse, dachte er. Ein schwaches Lächeln huschte über das blasse Gesicht des alten Edelmannes. »Bitte, leistet mir ein wenig Gesellschaft, während wir eine Erfrischung zu uns nehmen, D’Alsennin.« »Mit Vergnügen.« Es mochte mehr wie ein Befehl denn wie eine Einladung geklungen haben, aber Temar war viel zu durstig, als dass er sich darüber den Kopf zerbrochen hätte. Den Fellaemion schaute sich auf dem Kai um und winkte einem Lakai mit einem Korb und einem Trinkschlauch. »Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen.« Das war nun viel leichter, als es vor dem Läuten der Mittagsglocken der Fall gewesen wäre; dennoch war der Kai alles andere als leer, nur dass jetzt alles in die Tavernen drängte und nach Essen rief. Temar ging zu einem Felsvorsprung, wo er vorhin noch Frauen beim Flicken von Krabbenfallen gesehen hatte. Dankbar nahm er den Weinschlauch entgegen, den man ihm anbot, und nahm einen kräftigen Schluck. »Ah! Hervorragend.« Den Fellaemion öffnete den Korb und holte frisches Brot, Huhn, Schinken und einen gelben Käse heraus, der in ein Buttertuch gewickelt war. Dann reichte er Temar eine Schüssel mit Deckel. »Seht mal nach, was da darin 204
ist.« Die Schüssel enthielt verschiedene in Wein eingelegte Früchte. Temars Gesicht hellte sich auf. »Den Rannions Frau ist noch immer wild entschlossen, mich zu mästen«, bemerkte Den Fellaemion amüsiert. »Ich glaube, das reicht für zwei. Nehmt Euch, so viel Ihr wollt.« »Danke.« Temar zog sein Messer aus dem Gürtel und schnitt sich ein großzügiges Stück Käse ab. »Es gibt da etwas, das ich Euch sagen muss.« Der ältere Mann lehnte sich zurück und schloss die Augen, um die Frühlingssonne zu genießen, die sein strenges graues Brokatgewand schimmern ließ. Unwillkürlich ging Temar im Geiste seine augenblicklichen Pflichten durch, fand aber nichts, weshalb er sich Sorgen machen musste. »Ja?« Vielleicht hatte Messire eine neue Aufgabe für ihn. »Da Euer Haus vier Schiffe stellt, mehrere andere ausrüstet und viele Eurer Pächter sich für die neue Kolonie eintragen, seid Ihr mit einem Mal einer der Hauptgeldgeber dieser Expedition. Ist Euch das klar?« »Mein Großvater ist das Oberhaupt unseres Hauses; ihm gebührt diese Ehre.« Temar fragte sich, worauf Den Fellaemion hinauswollte. »Euer Großvater ist nicht hier – Ihr schon.« Die grünen Augen öffneten sich und blickten Temar durchdringend an. »Viele Menschen werden Euch als ihren Patron betrachten – bevor wir aufbrechen, und wenn wir uns jenseits des Ozeans niederlassen. Ihr werdet eine beachtliche Zahl an Untergebenen haben. Was habt Ihr in dieser Hinsicht vor?« Unsicher breitete Temar die Arme aus. »Ehrlich gesagt, habe 205
ich noch nicht darüber nachgedacht.« »Dann ist es jetzt an der Zeit«, sagte Den Fellaemion. »Solltet Ihr die Absicht haben, im Stile solcher Häuser wie dem von Nemith auf Kosten Eurer Pächter zu leben, kommt unser Unternehmen auch ganz gut ohne Euch aus – trotz der Mittel, die Ihr uns zur Verfügung stellt. Solltet Ihr jedoch eine wichtige Rolle bei der Führung der Kolonie spielen und Pflicht und Verantwortung auf Euch nehmen, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass Ihr zu einem geschätzten Stellvertreter von Den Rannion und meiner Wenigkeit aufsteigen könntet. Nur sehr wenige Adelige nehmen an dieser Expedition teil. Und weil das gemeine Volk gewöhnt ist, zu uns aufzublicken, wird unser Beispiel und unser Verhalten einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg der Kolonie haben.« Temar klappte den Mund zu und schluckte erst einmal kräftig, bevor er antwortete. »Die D’Alsennin waren immer schon ein Haus, das sich seinen Pflichten dem gemeinen Volk und den Interessen des Reiches gegenüber durchaus bewusst gewesen ist«, erklärte er steif. Den Fellaemion musterte ihn ernst. »Würdet Ihr mir dann erklären, warum Ihr seit Eurer Ankunft um die Gunst nahezu jeden Mädchens gebuhlt habt, das Euch über den Weg gelaufen ist? Es gibt viele altmodische Traditionen, die sich überlebt haben und die ich auf diesem Kai zurückzulassen beabsichtige. Dass die Adeligen mit den weiblichen Mitgliedern ihrer Untertanen machen können, was sie wollen, gehört dazu.« Zutiefst überrascht sprach Temar den ersten Gedanken aus, der ihm in den Sinn kam: »Mein Großvater möchte, dass ich heirate und ...« »Ich kann Euch nicht empfehlen, eine Frau auszusuchen, in206
dem Ihr deren Leistung zwischen den Laken prüft. Pferde prüft man, bevor man sie kauft, nicht aber Frauen – jedenfalls nicht, wenn man später Frieden am heimischen Herd haben will.« Den Fellaemion lächelte. »Behaltet die Hosen an, Temar. Wir sind eine kleine Gemeinschaft, und ich möchte nicht, dass Ihr Erwartungen weckt oder jemandes Wut heraufbeschwört, nur weil ein Mädchen Eure Absichten missversteht.« Temar errötete und strich sich mit der Hand übers Haar. »Natürlich, Messire. Ich habe nur gedacht ...« »Es ist ja nichts passiert.« Den Fellaemion stand unvermittelt auf und winkte jemandem auf der anderen Seite des Hafens. »Komm, Guinalle, und gesell dich zu uns!« Temar drehte sich um und sah eine junge Frau in blaugrauem Mantel, die vorsichtig über das von der Gischt glatte Pflaster ging. Sie war etwas kleiner als der Durchschnitt, doch hübsch anzuschauen und mit einem offenen, herzförmigen Gesicht. »Messire – Junker«, begrüßte sie die beiden Männer der Reihe nach, bevor sie sich gelassen auf eine Krabbenfalle setzte. »Nimm dir zu essen.« Den Fellaemion wischte sein Messer mit einem Tuch ab und steckte es in die Scheide. »Ich habe viel zu tun, Guinalle. Ich sehe dich dann zur siebten Stunde am Lagerhaus der Kolonie.« »Wie Ihr wünscht.« Das Mädchen griff nach dem Brot und tastete unter dem Mantel nach ihrem eigenen Messer. »Lasst mich.« Temar schnitt ihr ein Stück Brot ab. »Käse, Schinken oder Huhn?« »Käse, bitte.« »Der Schinken ist sehr gut.« Temar ließ sein Messer darüber schweben. »Lasst mich Euch etwas abschneiden.« 207
»Nicht heute, danke sehr.« Guinalles Tonfall war höflich, aber entschlossen. »Vielleicht ein andermal.« Temar runzelte die Stirn. »Sind beide Monde dunkel, folge ich den Geboten Ostrins«, erklärte Guinalle. »Ihr seid Priesterin?« Temar konnte sich niemand Unpassenderes als Dienerin des Gottes des Blutes vorstellen als diese junge Frau mit dem sanften Gesicht. »Ich bin eine Akolythin des Larasion, aber ich erweise allen Göttern die Ehre.« Guinalles Selbstbeherrschung geriet nicht ins Wanken; lediglich ein goldener Funke flammte in ihren warmen braunen Augen auf. Da Temar nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, schwiegen sie eine Zeit lang. Temar blickte an Guinalle vorbei zur Hafenmauer und hinaus aufs offene Meer. Es ergab durchaus Sinn, einige Priester und Akolythen mit auf die Reise zu nehmen; auf jeden Fall konnte es nicht schaden, sich die Gunst der Götter zu sichern. Er betrachtete Guinalles schlichten Mantel und ihr langes, nussbraunes Haar, das weder eine Spange noch Edelsteine schmückten. Das Mädchen war vermutlich eines der Findel- oder Waisenkinder, die man in den Schreinen aufnahm, um sie zu erziehen; ohne Verwandte hatte sie nichts, was sie auf dieser Seite des Meeres hätte binden können. Temar lächelte sie an. Sie hatte etwas Verführerisches an sich, kein Zweifel. »Falls Ihr Hilfe, Rat oder sonst etwas braucht, zögert nicht, mich zu fragen.« Er rückte ein wenig näher an sie heran. »Habt Ihr schon eine Unterkunft?« »Danke, aber ich bin sicher, mein Onkel wird sich darum kümmern.« 208
Temars Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand zu Den Fellaemions Rücken, der sich von ihnen entfernte. »Der Messire ist Euer Onkel?« »Seine verstorbene Frau war die Schwester meines Vaters.« Guinalle öffnete ihren Mantel, um das Messer wieder zurückzustecken; die schlichte Scheide hing an einer Goldkette, daneben eine mit Juwelen besetzte Duftkugel, eine mit Silber durchwirkte Börse sowie mehrere Schlüssel und ein silberner Schriftrollenbehälter. Ihr taubengraues Kleid war zwar von einfachem Schnitt, doch aus erlesenem Stoff. »Das habe ich nicht gewusst.« Temar versuchte sich zu erinnern, was er über Den Fellaemions Familie wusste. Seine Frau war eine Tochter von Tor Priminale gewesen, oder? Selbst wenn dieses Mädchen hier aus einer Nebenlinie stammen sollte, war sie hier höher gestellt als die Hälfte der im Adelsrat versammelten Edelleute. Temar stand auf und verneigte sich formell. »Ich muss mich nun wieder meinen Aufgaben widmen, doch ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung, solltet Ihr nach mir verlangen.« Guinalle blickte zu ihm hinauf und blinzelte ins Sonnenlicht. »Danke, Junker«, sagte sie in ernstem Tonfall, doch Temar hatte das ungute Gefühl, als läge hinter den Lippen Guinalles ein schelmisches Grinsen. Er marschierte über den Kai und war bald wieder mitten in der Arbeit, nun, da auch die anderen wieder aus den Tavernen kamen. Die Atmosphäre war zunehmend von Erwartung geprägt. Die Monde würden schon bald eine Doppelflut bringen, die sie auf ihre Reise tragen würde, und dann mussten die Schiffe bereit sein, die unbekannten Länder so rasch wie möglich zu erreichen, um bei der Ankunft wenigstens noch etwas 209
vom Sommer zu haben. »Temar!« »Nicht jetzt, Vahil!«, rief Temar zurück. »Oh, komm schon. Lass uns etwas trinken gehen.« Vahil gesellte sich zu Temar und schaute sich interessiert um. »Seit dem Äquinoktium müssen diese Tavernen mehr Umsatz gemacht haben als in der letzten Generation zusammen«, bemerkte er lachend. »Und wie sind die Bordelle hier so? Wo geht der kühne Fischersmann hin, wenn er seine Rute auswerfen will?« »An deiner Stelle würde ich mich von den Bordellen hier fern halten«, riet Temar mit ernster Miene. »Andernfalls holst du dir die Krätze oder Sackratten, so groß wie Käfer.« »Das meinst du doch nicht ernst, oder?« Vahil blickte seinen Freund entsetzt an. »Nein.« Temar grinste und schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie die Bordelle hier sind; ich habe mich nicht nach Huren umgeschaut.« »Ah, dann gibt es hier wohl genug Mädchen, die das Abenteuer schon suchen, bevor die Segel gesetzt werden, hm?« »Dazu kann ich dir auch nicht raten. Das führt nur zu unsinnigen Erwartungen oder Missverständnissen.« Temar versuchte, ein Zittern aus seiner Stimme zu halten und war froh, dass Vahil nicht zu ihm schaute, bis die Röte aus seinem Gesicht gewichen war, die er hatte aufsteigen spüren. »Was tut man denn hier, wenn man sich amüsieren will?« Vahil drehte sich zu Temar um. Seine gute Laune war sichtlich gedämpft. »Die Straße ist zu schlecht, um es an einem Abend auf die Golfseite der Stadt und wieder zurück zu schaffen, und sollte ich die ganze Nacht fort bleiben, zieht Mutter mir das Fell über die Ohren.« 210
Er starrte den langen Hang hinauf, wo eine von Bäumen gesäumte Straße sich über den Pass wand, der die Berge durchtrennte, welche bis zum Kap der Winde hinunterführten. Auch Temar blickte den Weg hinauf; die Vorstellung von einer Nacht voller Vergnügen im größeren Teil der Stadt war schon verführerisch. »Ich bin nur herübergekommen, um Mutter eine Nachricht von Elsire zu bringen, und nun sagt Vater, ich solle bleiben, bis wir Segel setzen«, knurrte Vahil, doch Temar war in Gedanken schon weiter. »Wenn die Kolonie erst genug erwirtschaftet, um Waren verschiffen zu können, wird jemand sich um die Straße kümmern müssen«, sagte er nachdenklich. »Schlitten mit Fisch das Geröll da raufzuziehen, ist ja schön und gut, aber für Karren und Maultiere brauchen wir eine befestigte Straße.« »Saedrin rette mich, du nimmst das ja wirklich ernst!« Vahil lachte ungläubig. »Es könnte nicht schaden, würdest auch du es ernst nehmen«, erwiderte Temar gereizt. »Diese Kolonie ist die Zukunft deines Hauses, stimmt’s?« »Oh, darum kümmert sich mein Vater«, sagte Vahil gelassen. »Komm schon. Lass uns was trinken. Irgendwo ist bestimmt auch ein Spiel im Gange.« Er legte seinem Freund den Arm um die Schulter, den dieser jedoch wütend abschüttelte. »Ich muss arbeiten. Seit Saedrin es für angebracht hielt, die Schlüssel für meinen Vater und meine Onkel herauszusuchen, bin ich als Einziger übrig geblieben.« Verzweiflung und Reue zeichneten sich in Vahils rauem Gesicht ab. »Tut mir Leid. Ich weiß, ich habe schon wieder das 211
falsche Lied gesungen. Du kennst mich doch. Na gut ... Wie kann ich dir helfen?« »Wie wär’s mit dem Ballen da?«, antwortete Temar bissig. Vahil hob die Augenbrauen, als er das ungewohnte Gewicht auf seine Schultern wuchtete und Temar den Kai hinunter folgte. »Bring ihn in den vorderen Laderaum.« Temar holte seine Listen heraus und begann, den Männern, die einzeln aus der Mittagspause zurückkehrten, genaue Anweisungen zu erteilen. Vahil blickte seinen Freund einen Augenblick an; dann zuckte er mit den Schultern, richtete sein mit Seide besticktes Wams und reihte sich bei den Trägern ein, die die Schiffe beluden. »Ich brauche dich als Zeugen«, warnte er Temar nach einer Weile, als er eine kurze Pause einlegte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Du musst ihnen beschwören, dass ich einen Tag lang ehrlich gearbeitet habe – im Notfall in Misaens Namen persönlich.« »Einen halben Tag, wenn du es denn durchhältst«, verbesserte Temar ihn und grinste böse. »Wie ich sehe, hätte ich früher damit anfangen sollen«, rief Vahil über die Schulter, als er sich einen weiteren Ballen vom immer kleineren Stapel auf der Mole schnappte; »dann wäre ich jetzt derjenige, der an der Schreibfeder herumkaut.« »Mach weiter, oder ich kürze dir den Lohn.« Temar wedelte drohend mit seiner Liste. Diese Spielchen amüsierte die anderen Arbeiter, und Temar stellte schließlich zufrieden fest, dass alles verstaut war, noch bevor die Sonne hinter den Bergen verschwand. »Jetzt kannst du wenigstens nicht mehr behaupten, ich hätte mir das Trinken nicht redlich verdient.« Reumütig blickte Vahil 212
auf seine geröteten Hände, während Temar den Hafenarbeitern dankte und ihnen Instruktionen für den morgigen Tag gab. »Ich bezahle«, verkündete Temar schließlich. Vahil warf sein Wams über die Schulter, und gemeinsam machten er und Temar sich auf den Weg in eine Taverne. »Dieser Koloniegedanke interessiert mich, weißt du«, sagte er plötzlich. »Das Reich braucht so etwas, um den Menschen Hoffnung zu geben – etwas, wofür es sich zu arbeiten lohnt und worauf man aufbauen kann, nun, da es unserem geschätzten Kaiser, Nemith dem Schwachsinnigen, gelungen ist, all unsere Provinzen zu verlieren. Mein Vater sagt, das Land dort drüben sei gut für die Landwirtschaft, und es gäbe auch Metall und Edelsteine – alles, was wir brauchen. Dort liegt unsere Zukunft, Temar, und sie wird großartiger sein, als wir uns vorstellen können; darauf möchte ich wetten.« »Wenn ich mir so anschaue, wie viel Glück du in letzter Zeit beim Wetten gehabt hast, ist das nicht gerade eine Ermutigung.« Temar schob einen Krug über den verdreckten Tisch. »Höre ich da das Maultier den Esel ob seiner Ohren kritisieren?« Vahil hob die dichten Augenbrauen. »Sag mir doch bitte noch einmal, wie viel du in dem Bordell verloren hast, als wir das letzte Mal zusammen in Toremal waren.« Temars Antwort ging unter, als Vahil sich zu einem Boten umdrehte, der ihm auf die Schulter geklopft hatte. »Eure Eltern erwarten Euch zum Abendessen, Junker, und auch den D’Alsennin.« Der Lakai verneigte sich rasch in Richtung Temar. »Bei Dasts Zähnen, um dir das zu sagen, war ich ja eigentlich gekommen. Das habe ich glatt vergessen, während ich voller Freude Säcke für dich durch die Gegend geschleppt habe.« Va213
hil leerte rasch seinen Humpen, stand auf und streifte sich das Wams über. »Komm. Ich glaube, wir haben auch noch einen Gast – eine Nichte von Den Fellaemion oder sowas.« »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, weißt du das?« Temar kramte in seiner Gürteltasche nach der Haarspange, während sie dem Diener durch die Stadt folgten. Er zupfte an seinem Wams, um wenigstens ein paar Falten herauszubekommen, und krempelte die Hemdsärmel hoch, damit zumindest der schlimmste Dreck nicht mehr zu sehen war. »Vahil!« Messire Den Rannion wartete auf den Stufen des bescheidenen Hauses, das er gemietet hatte, und blickte missmutig drein. »Ich habe Temar beim Beladen der Schiffe geholfen«, erklärte Vahil unerschrocken. »Das ist ein hervorragendes Mittel, sich einen gesunden Appetit zu erarbeiten! Gebt uns nur Zeit, uns rasch zu waschen, dann sind wir sofort unten.« »Leih Temar ein sauberes Hemd!«, rief sein Vater ihm die Treppe hinauf hinterher. »Nimm dir Zeit, mein Lieber.« Maitresse Den Rannions ruhige Stimme folgte ihnen. »Ist schon gut, Ancel«, beruhigte sie ihren Mann. »Ich habe schon eingeplant, dass sie sich verspäten könnten, als ich dem Koch den Speiseplan gegeben habe.« Temar staunte immer wieder, wie jemand, der so disziplinlos veranlagt war wie Vahil, der Sohn so ordentlicher und tüchtiger Eltern sein konnte. Er schnappte sich den Waschkrug und nahm die gesamte Waschkommode in Anspruch. »Such mal ein paar saubere Hemden, ja?«, verlangte er. »Ja, Messire, sofort, Messire, sonst noch etwas, Messire?« Vahil öffnete eine Schublade und warf ein paar Hemden aufs Bett. Temar zitterte vom kalten Wasser, als er mit nacktem Ober214
körper nach einem Hemde griff. Er steifte es über und verzog das Gesicht, als er sich dann in dem unzulänglichen Spiegel betrachtete. Er würde sein verdrecktes Wams anziehen müssen, um zu verbergen, dass das Hemd am Bauch zu eng und an den Schultern zu breit war. Aber wenigstens war es sauber, und mit etwas Glück würde die Qualität die mangelnde Passgenauigkeit vergessen lassen. »Komm.« Vahil hatte es nicht sonderlich eilig; sichtlich gut gelaunt kramte er in einer Schublade. »Einen Augenblick, bitte. Wo habe ich das verdammte Ding nur hingetan? Ah!« Er zog ein Lederband aus seinem drahtigen haselnussbraunen Haar und ersetzte es durch eine goldene Haarklammer. »Der perfekte Mann von Stand und Ehre!« Temar lächelte und schüttelte den Kopf. Es bereitete Vahil großes Vergnügen, stets der neuesten Mode zu folgen, ungeachtet seiner stämmigen Gestalt und der Pockennarben in seinem fröhlichen Gesicht. Eine Glocke ertönte, und die beiden jungen Männer eilten die Treppe hinunter. Unten angekommen, entdeckten sie Messire Den Rannion, der sich am Kamin ein Glas Wein mit seinem Gast genehmigte. »Dies ist Guinalle, Demoiselle Tor Priminale.« Er stand auf und verneigte sich vor ihr, und Temar und Vahil taten es ihm nach. Guinalle erwiderte die Geste mit einem anmutigen Knicks, wobei sie ihren feuerroten Seidenrock ausbreitete. »Ich habe gehört, ihr habt euch bereits kennen gelernt, D’Alsennin.« Den Rannion reichte Temar einen Kelch wohl riechenden Rotwein. »In der Tat.« Temar freute sich, ein Lächeln auf Guinalles Ge215
sicht zu sehen. »Ich sehe keinen Sinn darin, sich an die kaiserliche Zeremonie zu halten, wenn wir im Salon essen. Bitte setzt euch.« Maitresse Den Rannion schwebte an der Spitze mehrerer Diener mit voll beladenen Tabletts herein; wenngleich sie die Zwanglosigkeit des Mahls betont hatte, trug sie ein prächtiges, saphirfarbenes Gewand, und Silberkämme funkelten in ihrem makellos frisierten Haar. »Demoiselle.« Temar beobachtete ein wenig verärgert, wie es Vahil gelang, Guinalle als Erster den Arm anzubieten und sie zu einem Stuhl in angenehmer Entfernung vom Kamin zu führen. Trotz der Hitze des Feuers in seinem Rücken setzt Temar sich auf den Stuhl ihr gegenüber. »Nun, meine Liebe, wie ich höre, seid Ihr vor kurzem aus Sarrat eingetroffen.« Die Augen der Maitresse wirkten ungewöhnlich groß in ihrem runden, üppig gepuderten Gesicht. »Vor zwei Tagen.« Guinalle lächelte höflich, griff nach einer Schüssel Bohnen und nahm sich eine bescheidene Portion. Temar reichte ihr eine Platte mit leicht gewürztem Käse; dabei fiel ihm auf, dass eine ungewöhnliche Zahl fleischloser Speisen aufgetragen worden war. Die Maitresse genoss schon seit jeher unter den Frauen den Ruf, besonders gut informiert zu sein, auch wenn sie deshalb bei Männern wie Temars Großvater als unverbesserliches Klatschweib galt. »Euer Onkel und ich sind über alle Maßen dankbar, dass Ihr eingewilligt habt, Eure Studien zu unterbrechen, um Euch zu uns zu gesellen.« Messire Den Rannion beäugte misstrauisch ein Zwiebeltörtchen, bevor er sich stattdessen ein Stück blutiges Rindfleisch nahm. »Bei dieser Unternehmung mangelt es uns 216
sehr an Fachleuten für Kunst.« Temar gelang es irgendwie, das Tablett mit roter Beete nicht fallen zu lassen, die er Guinalle anbieten wollte, aber es war knapp. Verlegen räusperte er sich und versuchte, sie nicht anzustarren, während sie einen Schluck Wasser trank. »Hast du nicht gesagt, ihr hättet viele Nachrichtenübermittler und dergleichen?«, bemerkte Vahil, während er ein paar Stücke gepfeffertes Lamm mit dem Messer aufspießte. »Wirklich?«, fragte Guinalle interessiert. »Was sind das für Leute?« »Oh, hauptsächlich Schreiber, Verwalter und so weiter, Leute, die genug gelernt haben, um eine Nachricht an einen anderen ausgebildeten Geist zu schicken, aber darüber hinaus ...« Messire schenkte allen Wein nach. »Viele von ihnen haben ihre Heimat und ihre Arbeit verloren, während das Reich sich immer mehr auf sich selbst zurückgezogen hat. Und ehrlich zu sein, werden die Fähigkeiten dieser Leute heutzutage immer weniger gebraucht.« »Wie weit kann man mithilfe der Kunst eine Nachricht übertragen?« Vahil blickte Guinalle erwartungsvoll an. »Was die Entfernung betrifft, sind wir bis jetzt noch auf keine Grenze gestoßen«, antwortete Guinalle. »Die Fähigkeiten des Einzelnen bestimmen, wie weit und wie klar er einem anderen Geist eine Botschaft übermitteln kann.« »Wir haben doch Leute dabei, die in der Lage sind, eine Nachricht über das Meer hinweg zu übermitteln, oder?« Ein Schatten der Sorge huschte über das Gesicht der Maitresse, als sie zu ihrem Gatten blickte. »Wir dürfen doch nicht zulassen, dass wir von Zuhause abgeschnitten sind. Jedenfalls hast du mir das gesagt, Ancel.« 217
»Dafür zu sorgen, hat mein Onkel mich gebeten – unter anderem.« Guinalle lächelte selbstbewusst und griff nach einem Tablett mit gefüllten Äpfeln. Temar reichte ihr eine Schüssel mit Zwiebelsauce. »Dann schließt Ihr Euch der Kolonie also gar nicht an?« Natürlich war es dumm, davon auszugehen, dass eine solch gut erzogene junge Frau mit all ihren Verbindungen sämtliche Privilegien aufgab, die sie hier genoss. »O doch«, versicherte ihm Guinalle. »Das ist eine großartige Gelegenheit für mich.« »Wie das?« Vahil war fasziniert. Guinalle wischte sich die Finger an ihrer Serviette ab, bevor sie fortfuhr: »Heutzutage wird die Kunst vornehmlich zur Nachrichtenübermittlung eingesetzt, um Vermisste zu finden, oder zur Wahrheitsfindung in einem Gerichtsprozess und dergleichen. Es ist eine grundlegende Arbeit, und in den letzten Generationen ist sie für den Erhalt des Reiches lebenswichtig geworden. Glaubt bitte nicht, dass ich es nicht zu schätzen weiß, in diesen Dingen ausgebildet worden zu sein; aber es gibt noch weit mehr Verwendungsmöglichkeiten für die Kunst, nur dass wir sie im Augenblick nicht benötigen. Dass ich mich eurer Kolonie anschließe, gibt mir die Gelegenheit, diese Fähigkeiten auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.« Temar hatte den Eindruck, als hätte sie diese Rede früher schon gehalten. »Von was für Dingen redet Ihr genau?« Vahil stützte die Ellbogen auf den Tisch und winkte ablehnend in Richtung seiner Mutter, als diese ihm ein Stück Huhn anbot. »Nun, es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, Menschen zu verstehen, auch wenn sie unsere Sprache nicht sprechen. Wie 218
sollen wir das erproben, wenn jeder diesseits von Solura Tormalin spricht? Selbst das Wald- und das Bergvolk verwenden heutzutage unsere Sprache beim Handel und bei ihren Studien.« »Aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass in Kel Ar’Ayen, dem Land jenseits des Meeres, Menschen leben.« Messire Den Rannion blickte von seinem Teller auf. Besorgnis lag in seinen Augen. Guinalle lächelte sittsam. »Das war auch nur ein Beispiel. Fändet Ihr es denn nicht nützlich, wenn ich Euch sagen könnte, wo genau sich das Wild im Dickicht verbirgt? Sollten wir im Land jenseits des Meeres Raubtiere vorfinden – wie Wölfe und dergleichen –, wäre es dann nicht von Vorteil, wenn ich Eure Spuren vor ihnen verwischen und Wachen an geeigneten Stellen aufstellen könnte, um Euer Vieh zu beschützen?« »Das könntet Ihr?« Temar hatte das Gefühl, dass Vahil es mit seinem Interesse ein wenig übertrieb. »Mit Talagrins Hilfe.« Guinalle nickte selbstbewusst. »Man kann Saedrin darum bitten, die Wege zwischen den Welten zu öffnen, um von einem Ort zum anderen zu reisen oder Güter zu bewegen. Man kann viele Meilen in nur einem Augenblick zurücklegen. Maewelin wiederum kann man bitten, Nahrungsmittel frisch zu halten, Wasser zu reinigen oder den Zerfall von Abfall zu beschleunigen, um die Erde fruchtbar zu machen. Mit den richtigen Gesängen zu Ostrins Ehren kann man tödliche Wunden schlagen oder das Vieh schmerzlos schlachten, damit der Metzger es leichter hat. Drianons Fürsorge kann Frauen vor einer Empfängnis bewahren oder sie zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl ins Kindbett legen. Larasions Gnade vermag den Frost von den zarten Keimen des Getreides fern zu halten oder Regen in Zeiten der Dürre zu schicken. Die Kunst versetzt uns in die 219
Lage, all diese Dinge einzufordern.« Sie blickte in die ehrfürchtigen Gesichter am Tisch, und Temar sah eine leichte Röte auf ihren Wangen, als sie sich Salz nahm. »Ich hatte ja keine Ahnung ...« Die Maitresse war sichtlich erstaunt. »Heutzutage verhelfen uns auch die Fortschritte in der Medizin und der Viehzucht zu solchen Dingen.« Guinalle zuckte mit den Schultern. »In vieler Hinsicht ist das vielleicht sogar vorzuziehen.« »Und jeder kann diese Dinge lernen, von denen Ihr gerade gesprochen habt?« Vahil starrte Guinalle offenen Mundes an; das Essen hatte er vergessen. »Misaen zeichnet bestimmte Menschen aus irgendeinem Grund als die seinen – und diese Menschen sind in der Lage, solche Dinge zu vollbringen. Die meisten aber können nur lernen, einfache Dinge mithilfe der Kunst zu vollführen, wenn sie sich denn die Mühe machen.« Ein ernster Unterton lag in Guinalles Stimme. »Es ist eine Frage der Gelehrsamkeit, eine Frage, wie viel Kraft und Arbeit man in diese Studien steckt. Je komplexer die Aufgaben, desto größer die Anforderungen; unweigerlich finden sich somit immer weniger Menschen, welche die geistige Disziplin für solch schwierige Studien aufbringen.« »Und Ihr gehört zu diesen Menschen.« Temar blickte sie an und fragte sich, ob sie je aus den luftigen Höhen ihrer Studien herabstieg, um mit dem einfachen Volk zu tanzen. »Ich habe diese Fähigkeit in mir entdeckt, ja.« Guinalles Antwort klang angemessen bescheiden, doch nicht im Mindesten entschuldigend. Herausfordernd blickte sie Temar in die Augen. 220
Temar lächelte sie an. Er war so sehr fasziniert, dass er sich weder von ihren Fähigkeiten noch von ihren Beziehungen einschüchtern ließ. »Ich glaube, Ihr werdet ein wertvoller Teil dieser Expedition sein – und eines ihrer schönsten Schmuckstücke.« Galant hob er das Glas. »Lass das bloß nicht meine Schwester hören!« Vahil lachte. »Elsire ist fest entschlossen, in Sachen Schönheit und Mode an vorderster Front zu stehen. Ich nehme an, das ist der einzige Grund, warum sie mitkommt – sie will dem Wettbewerb bei Hofe entfliehen.« »Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf, Sohn.« Maitresse Den Rannion schaute sich um. »Hat jeder sich bedient? Dann lasst uns essen.«
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Das Haus von Mellitha Esterlin, Relshaz 28. Nachfrühling
Es muss der Hauch von Salz in der Luft gewesen sein, auch wenn es ein wenig modrig roch; ich erkannte, dass ich von zu Hause geträumt hatte, als das diskrete Klopfen eines Dieners mich am nächsten Morgen weckte. Es war ein seltsamer Traum gewesen; doch als ich die Augen öffnete, verschwanden die Gedanken daran. Ich lächelte, während ich mich an einem marmornen Waschtisch rasierte; mein Vater wäre sicherlich von den Steinmetzarbeiten der Relshazri angetan, auch wenn die Stadt größtenteils mitten im Sumpfstand. »Guten Morgen.« Ich drehte mich um und sah Livak, die mich beobachtete. Sie trug eine blasse, limonenfarbene Leinentunika über einem weiten Hosenrock ähnlich dem Aldabreshistil, der letzten Sommer in Tormalin Mode gewesen war. Seltsamerweise betonten die sanft fallenden Falten ihre verführerischen Beine mehr als die Hosen, die sie für gewöhnlich trug, und die Farbe passte wunderbar zu ihrem Haar. »Du siehst sehr hübsch aus«, sagte ich bewundernd. Livak lächelte kurz; dann ging sie zum Fenster, wo sie die Ornamente betrachtete, in denen sich das frühmorgendliche Sonnenlicht fing. Sie wirkte ungewöhnlich nervös, und ich machte mir ein wenig Sorgen. Mellitha, eine taktvolle und aufmerksame Frau, hatte uns zwei angrenzende Räume gegeben, die sogar über eine Verbindungstür verfügten. Als ich allein aufgewacht war, hatte ich schlicht angenommen, Livak sei 222
wieder in ihr eigenes Bett gegangen. »Wer ist Guinalle?«, fragte sie plötzlich. »Wer?« Die sinnlose Frage war vollkommen überraschend gekommen. Livak drehte sich zu mir um und blickte mich mit ihren smaragdgrünen Augen forschend an. »Wer ist Guinalle? Das ist doch ein Tormalinname, oder? Du hast ihn vergangene Nacht im Schlaf gemurmelt. Ich habe es gehört.« Ich schüttelte den Kopf, bevor ich bemerkte, dass ich noch immer das Rasiermesser in der Hand hatte, und ich fluchte, als ich mich schnitt. »Ja, das ist ein Tormalinname, aber ich kenne keine Frau, die so heißt.« Rasch durchforschte ich mein Gedächtnis; der Name besaß eine altmodische Schönheit des Klangs. Ich wusste, dass Huren manchmal solche Namen wählten. Doch ich konnte mich weder an eine Eroberung noch an einen Kauf erinnern, der sich Guinalle genannt hätte. Livak zuckte mit den Schultern. »Dann ist es ja egal.« Egal? Das nahm ich ihr nicht ab. »Wirklich, ich kenne keine, die so heißt.« Livak senkte den Blick. »Ich konnte mich nicht mehr an den Namen deiner Schwester erinnern.« Die Erinnerung ließ mich erstarren. Zwölf Jahre war es nun her, dass sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, doch noch immer sah ich das Bild vor mir, als wäre es gestern gewesen. »Ihr Name war Kitria«, sagte ich knapp. »Hm, ja. Warum solltest du dann über jemanden mit Namen Guinalle reden ...?« Ich war erleichtert, als der Hauch von Eifersucht in Livaks Stimme Verwirrung wich. 223
»Es muss ein Traum gewesen sein.« Wieder schüttelte ich den Kopf, und diesmal war das Rasiermesser weit genug weg. Wir schwiegen einen Augenblick, als uns die Bedeutung der Bemerkung klar wurde, und schauten uns unsicher an. Dann war ich es, der sich abwandte. Ich zog mein Hemd über den Kopf. Ich wollte nicht darüber reden, was meine Worte womöglich bedeuteten. »Erwähne Shiv gegenüber nichts davon«, warnte ich Livak. »Ich kann mich ehrlich an nichts erinnern, und ich habe keine Verlangen danach, wieder Äthermagie in meinen Kopf zu lassen, egal wie die Befehle des Erzmagiers lauten mögen.« »Von mir wird er nichts erfahren.« Livak legte ihre Hand in die meine, als wir die Treppe hinunterstiegen, und Mitgefühl lag in ihrem tröstenden Händedruck. Sie wusste besser als jeder andere, wie Ekel erregend die Eingriffe durch diese verfluchte Magie sein konnten. »Keine körperliche Vergewaltigung kann es an Schrecken mit der Vergewaltigung des Geistes aufnehmen«, hatte Livak es einmal formuliert. Mellitha arbeitete sich am Frühstückstisch durch einen Stapel Briefe. Bei einigen lächelte sie zufrieden, doch bei anderen verzog sie das Gesicht. Ich vermutete, dass die Leute, die in diesen Briefen erwähnt wurden, mit möglicherweise drastischen Strafen zu rechnen hatten. Mellitha war heute eher schlicht in ein dunkelblaues hochgeschlossenes Leinenkleid gehüllt, ein Gewand, das eher ihrer Stellung entsprach als ihre üppige Garderobe am Tag zuvor. »Ich habe gestern jemanden ausgeschickt, um Erkundigungen einzuziehen«, verkündete sie ohne Umschweife, als Shiv den Raum betrat. »Es wird noch ein paar Tage dauern, bis das ganze Muster erkennbar wird, aber wie ich gehört habe, geht es am 224
Markt für Tormalin-Antiquitäten im Augenblick recht lebhaft zu. Die Preise steigen, und die Händler suchen nach allem, was irgendwie mit dem Haus von Nemith dem Letzten in Verbindung steht. Ich habe verbreiten lassen, dass ich an jedem interessiert bin, der kauft oder verkauft und neu in der Stadt ist.« »Meinst du nicht, dass man sich darüber wundern wird, wenn du Fragen über diese Leute stellst?«, fragte Viltred besorgt. »Im Moment sammle ich wie alle anderen Steuereintreiber Material für einen neuen Kontrakt mit der Stadt«, beruhigte Mellitha ihn. »Jeder in meinem Geschäft stellt im Augenblick Fragen über alles und jeden.« »Wir könnten uns auch ein wenig umhören.« Livak blickte zu Halice, die zustimmend nickte; sprechen konnte sie im Augenblick nicht, denn sie hatte ein großes Stück Kirschkuchen im Mund. »Nein, wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen.« Shiv runzelte die Stirn und rollte einen Weizenpfannkuchen auf mundgerechte Größe zusammen. »Ich möchte nicht, dass einer von uns etwas allein unternimmt.« Livak verzog das Gesicht. »Ich dachte, ich wäre hier, um Viltreds Sachen zurückzuholen. Und ich habe die Verbindungen, dass ich die Elietimm für euch finden kann. Ich bin diejenige, die die Fenster aufbrechen wird, um euch die Sachen zurückzubringen. Und wenn ich wieder diejenige sein soll, die für Planir den Kopf hinhält, will ich diesmal auch diejenige sein, die die Peitsche schwingt!« »Sollten wir versuchen, die Sachen zurückzuholen, obliegt die Planung natürlich dir allein.« Shiv schob den Teller beiseite. »Aber es gibt da noch jemanden, mit dem ich vorher reden will 225
... jemanden, der uns vielleicht auf andere Art helfen kann.« »Ich nehme an, Ihr sprecht von Kerrit Osier, oder?« Mellitha beendete ihr Frühstück, und ihre Hand schwebte über der Silberglocke neben dem Glas. »Er wird heute im Tempel sein. Er hat eine Verabredung mit einem Priester der Maewelin.« Shiv blickte sie staunend an. »Woher habt Ihr gewusst, wen ich meinte?« Mellitha stand auf und schlang sich einen ockerfarbenen Seidenschal um die Schultern. »Wenn ein Magier die Stadt besucht, behalte ich ihn stets im Auge.« Sie lächelte Shiv selbstzufrieden an. »Ich weiß immer gerne, welche Steine sie umdrehen – nur für den Fall, dass dabei etwas Interessantes ans Tageslicht kommt. Osier ist seit dem Äquinoktium hier, durchwühlt die Archive und spricht mit den älteren Priestern.« Sie blickte uns der Reihe nach an. »Sagt den Dienern Bescheid, wenn ihr etwas braucht. Bis Mittag werde ich in meinen Arbeitsräumen sein; anschließend treffe ich mich dann mit einigen Ratsherrn. Ich werde auswärts essen, muss bis Sonnenuntergang aber wieder zurück sein, um mich umzuziehen. Dann werde ich euch berichten, was ich bis dahin herausgefunden habe.« Sie verließ uns, begleitet vom Rauschen ihres mit Spitzen besetzten Unterrocks. Wir anderen drehten uns zu Shiv um, der trotzig unseren Blick erwiderte. »Nun denn ... wie lauten deine Befehle?« Ich konnte nicht sagen, ob Halices Worte sarkastisch gemeint waren, oder ob ich es mir nur einbildete; aber das spielte keine Rolle. Livaks Gesichtsausdruck verriet mir, das Shiv sich auf dünnem Eis bewegte, wenn er glaubte, diese Frauen würden 226
Anweisungen von ihm entgegennehmen, ohne Fragen zu stellen. Ich musste auf eine Gelegenheit warten, getrennt mit beiden zu reden, bevor unsere zerbrechliche Allianz auseinander fallen konnte. »Wer ist dieser Kerrit?« Ich reichte Livak etwas Obst und Shiv einen frischen Pfannkuchen. »Er hat die Magie des Tormalinreiches für Planir erforscht. Ich weiß nicht viel über diesen Teil der Arbeit, aber Kerrit hat alle größeren Tempel besucht, die das Chaos überlebt haben. Er erforscht, was die Priester ›Wunder‹ nennen, da es die einzige Form von Äthermagie zu sein scheint, die auf dieser Seite des Meeres überlebt hat.« »Jahrmarktstricks«, schnaufte Viltred verächtlich. Shiv beachtete ihn nicht. »Er kann uns vielleicht erklären, warum wir die Elietimm nicht mittels Weitsicht finden können. Vielleicht kennt er sogar eine Möglichkeit, unsere Zauber zu verändern, um die fremde Magie zu umgehen.« Ich sah, dass Livak nicht im Mindesten überzeugt war, doch als sie ansetzte, Shiv zu widersprechen, legte ich ihr unter dem Tisch die Hand aufs Bein. Sie warf mir einen warnenden Blick zu, um Shiv dann doch die Meinung zu sagen. »Wir werden sehen, was dieser Kerrit uns zu sagen hat. Dann aber werde ich einige meiner eigenen Bekannten kontaktieren und die Fährte der Elietimm auf meine Weise aufnehmen. Wir dürfen keine Zeit verschwenden, Shiv. Soweit wir wissen, könnten sie genau in diesem Augenblick planen, die Stadt zu verlassen. Und was, bitte schön, willst du dann Planir erzählen?« Shivs unglücklichem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte dieser Schuss ins Ziel getroffen. 227
»Dann lasst uns gehen«, sagte er ungewöhnlich gereizt. »Ich treffe euch am Tor.« Halice läutete die kleine Silberglocke, und Diener eilten herbei, um den Tisch abzuräumen. Wir gingen auf unsere Zimmer. Ich füllte meine Börse; dann stand ich mit dem Schwert in der Hand da und fragte mich, ob ich es umhängen sollte oder nicht. »Fertig?« Livak erschien in der Tür. »Trägt man in Relshaz schon vor Mittag Schwerter?«, fragte ich, um meine Unentschlossenheit zu entschuldigen. »Das hier, ja.« Livak klopfte auf das Kurzschwert an ihrem Gürtel. »Auch trage ich grundsätzlich mehrere Messer am Leib. Heute aber habe ich mich auf zwei beschränkt, da ein Tempelbesuch etwas anderes ist als ein Ausflug in die örtlichen Hafenspelunken.« Ich beantwortete ihr Grinsen mit einem matten Lächeln, schnallte den Schwertgürtel um und folgte ihr die breite Marmortreppe hinunter. Die Sache mit dem Schwert machte mich unnötig nervös. Warum eigentlich?, fragte ich mich. Schließlich konnte ich mich ja ohnehin an keinen dieser verfluchten Träume erinnern. Planir hatte geduldig auf eine passende Gelegenheit gewartet und versucht, Einfluss auf mich und Messire zu nehmen. Falls das Schwert die Elietimm anlockte ... Nun, was konnte uns schon am helllichten Tag geschehen, noch dazu, wenn Hunderte von Menschen um uns herum waren? Zumindest hätten wir die Eismänner dann gefunden, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Livak und Halice nach solch einer Gelegenheit die Fährte wieder verlieren würden. Wir gingen durch die geschäftige Stadt, in deren Straßen es von Menschen wimmelte, sodass wir bald voneinander getrennt wurden. Shiv eskortierte Viltred; wir anderen folgten ihnen in 228
einigem Abstand. Vor allem Halice fiel das Gehen in diesem Gedränge noch schwerer als sonst. Ich genoss den Anblick, die Gerüche und die Geräusche der Stadt, doch Shiv wurde immer gereizter, je öfter wir im Gedränge stecken blieben, was vor allem vor den schmalen Brücken der Fall war. Dabei stießen wir zu meinem Erstaunen immer wieder auf Bekannte von Viltred, die ihn freundlich grüßten. Bei einer dieser Verzögerungen nutzten Livak und ich die Gelegenheit, ein Stück Huhn von einem alten Mann zu kaufen, der sie über einem Holzkohlefeuer briet. Der Geschmack von Olivenöl erinnerte mich an meine Heimat – eine willkommene Abwechslung, zumal ich in der vergangenen Jahreszeit hauptsächlich Nahrung gegessen hatte, die in Lamm- oder Kuhfett geradezu geschwommen hatte. Eine Frau rammte mir ungewollt einen Eimer in die Rippen, dass ich beinahe das Fleisch hätte fallen lassen, doch statt einer Entschuldigung bekam ich nur ein abschätziges Schnaufen zu hören. »Wo leben all die Leute?«, fragte ich Livak, als wir erneut halten mussten, und schluckte das letzte Stück Fleisch hinunter. »Die Gastwirte packen sie wie Stockfisch zusammen.« Livak leckte sich die Finger und deutete auf eine Gasse, in der die Häuser dicht genug beieinander standen, um das Sonnenlicht auszusperren. Ich blinzelte und zählte insgesamt sechs Stockwerke. »Das sind doch nur Lehmziegel und Holz, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf. »Mein Vater würde es nicht einmal mit dem feinsten Bremilaynestein wagen, so hohe Häuser zu bauen.« Halice bestätigte meine Vermutungen mit einem bissigen Kommentar. »Einige Leute enden tatsächlich so platt wie ein Stockfisch. Jedes Jahr stürzt eines der größeren Häuser zusam229
men, und ziemlich oft brechen Feuer aus.« Ich schüttelte den Kopf, hätte aber nicht überrascht sein dürfen. So etwas kommt in vielen Städten nur allzu häufig vor, wenn die gewählten Herrscher mehr an ihrem eigenen Profit als an allem anderen interessiert sind. In Relshaz zählt allein der Handel. Waren werden aus Hunderten von Meilen Entfernung herbeigeschafft, verkauft oder von unterbezahlten Arbeitern, die Stunden um Stunden in dunklen Dachkammern schuften und nicht einmal ein Zehntel des Endpreises sehen, in andere Waren weiterverarbeitet. »Dein Vater ist also Steinmetz, hm?«, erkundigte sich Livak, als wir von einem Esel aufgehalten wurden, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ausgerechnet mitten auf einer Brücke eine Pause einzulegen. Ich blickte sie überrascht an. »Das hast du doch gewusst, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung.« »Ich habe es bestimmt mal erwähnt. Zwei meiner älteren Brüder arbeiten mit ihm zusammen. Der Drittälteste, Mistal, lebt in Toremal, wo er sich zum Advokaten ausbilden lässt.« »Ja, den hast du mal erwähnt – ich kann mich erinnern«, erwiderte Livak. Die Menge setzte sich wieder in Bewegung. Während wir uns weiter durch die Stadt bewegten, dachte ich darüber nach, wie wenig Livak und ich eigentlich voneinander wussten, von unseren Familien und dem, was uns band. Was mochte das für die Zukunft bedeuten, die wir vielleicht zusammen verbrachten? Ich dachte noch immer darüber nach, als sich vor uns plötzlich die Menschenmenge auflöste. Bei dem Anblick, der sich uns bot, öffneten wir staunend den Mund. 230
Die Straße führte auf einen großen, gepflasterten Platz. Ich blinzelte in die Sonne und erkannte, dass wir die andere Seite der Stadt erreicht hatten. Uns gegenüber erhob sich ein riesiges Gebäude aus weißem Marmor, das von den glitzernden, smaragdgrünen Wellen des Meeres umrahmt wurde. Ich starrte das Gebäude an wie ein Schafhirte, der zum ersten Mal seine Berge verlassen hat. Nach der Zerstörung der meisten größeren Tempel in der Zeit des Chaos, gab es in Lescar und Caladhria nur noch kleinere Schreine, die oft von Eremiten gepflegt wurden; trotz der Größe der Stadt hatte ich auch hier ein eher bescheidenes Gebäude erwartet. Dieses prächtige Bauwerk jedoch hätte nicht einmal im Zentrum von Toremal fehl am Platze gewirkt, auch wenn ich sagen muss, dass unsere Kaiser zumeist einen besseren Geschmack in Sachen Architektur besessen haben. Riesige Pfeiler mit üppig verzierten Kapitellen stützten ein langes Giebeldreieck, auf dem ein Fries mit einem komplizierten Blattmuster zu sehen war. Unter dem Sims stellten Statuen sämtliche Götter in Szenen aus verschiedenen Mythen und Legenden dar, und alles war in den leuchtendsten Farben bemalt. Die Eingänge zwischen den Säulen waren zweimal so groß wie ein Mann, und jede Tür war mit Bronzereliefs verziert, das Metall poliert und glänzend. Eine breite weiße Steintreppe führte das gesamte Gebäude entlang und hinauf zum Eingang und zog die Menschenmengen vom Platz ins Innere. Auf den Stufen dieses Tempels drängten sich mindestens so viele Leute wie vor den größten Palästen, die ich je gesehen hatte: zerlumpte Bettler; Bürger, die sich vorgeblich zum Gebet durchdrängten; verdächtig wohlhabend aussehende Priester, die alles und jeden ansprachen. Als wir näher kamen, traten Stra231
ßenhändler mit Votivfiguren und Weihrauchkerzen an uns heran und schrien aus Leibeskräften, um sich mit ihren Angeboten gegenseitig zu überbieten. Ihr Geschrei vermischte sich mit den lautstarken Appellen einer bemerkenswert großen Gruppe Rationalisten, die jeden abfingen, der am Brunnen etwas trinken wollte; allerdings hatten sie wenig Glück damit, die Durstigen vom Wasser abzuhalten und sie stattdessen zu einer Diskussion über ihre Theorien betreffs der Unwichtigkeit von Göttern in der Moderne zu bewegen. Es überraschte mich ein wenig, dass es die ersten Rationalisten waren, die ich seit Ostlescar gesehen hatte; ihre komplizierten Philosophien fanden vermutlich kaum Anklang unter den fantasielosen Caladhriern. »Ich hoffe, wir finden Kerrit in diesem Chaos.« Viltred war sichtlich zu heiß – und das war auch nur zu verständlich. Für eine Hafenstadt war es in Relshaz beinahe windstill, und die Hitze der Sonne erinnerte mich daran, wie weit südlich wir gereist waren. Zwar befanden wir uns noch immer ein gutes Stück nördlich meiner Heimat, doch in Zyoutessela weht stets eine kühle Brise vom Meer. »Lasst es uns drinnen einmal versuchen«, schlug ich vor. »Mellitha hat irgendetwas vom Schrein der Maewelin gesagt.« Ich drängte mich an ein paar hartnäckigen Straßenhändlern vorbei; die anderen reihten sich hinter mir ein, und wir stiegen die Stufen hinauf. Die kühle Luft im Innern des Tempels bescherte mir eine Gänsehaut, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis meine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Der Rauch der Kerzen und des Weihrauchs vermischte sich, und kurz glaubte ich, niesen zu müssen – ein Problem, dem ich mich sehr zur Verlegenheit meiner Mutter häufig gegenüber sah. 232
In meiner Heimat ist jeder Schrein einer einzelnen Gottheit geweiht, doch die Relshazri schienen damit zufrieden zu sein, ihre Götter und Göttinnen in die gleiche Art Mietskasernen zu stopfen wie sich selbst. Der Tempel besaß eine Vielzahl von Kapellen, jede mit einem eigenen Symbol darüber und ein paar scharfäugigen Priestern davor. Die Menschen stellten sich geduldig an, um ihre Fürbitten sprechen zu können, doch selbst hier wurden sie von hartnäckigen Bettlern bedrängt. Die Priester waren in gut geschnittene Roben gekleidet, die von Seidenkordeln gehalten wurden, und um die Hälse trugen sie Edelsteinamulette. Das Murmeln der Betenden wurde vom steten, leisen Klimpern von Münzen begleitet. Ich schüttelte den Kopf. In Tormalin gehen die Mittellosen zu den Schreinen, um Almosen von den Priestern zu empfangen, nicht um die Bittsteller darum anzugehen. Shiv schaute sich die Gesichter an. Viltred folgte ihm und tat es ihm gleich. Da ich den Mann nicht kannte, nach dem sie Ausschau hielten, suchte ich nach dem Namen Maewelin auf den Widmungen über den Schreinen. Die archaische Tormalinschrift war nicht einfach zu entziffern, denn jahrelang hatte sich Kerzenruß darauf abgelagert, und inzwischen verschmolz sie mit dem Kalkstein, auf dem sie geschrieben stand. Ich runzelte die Stirn. Dastennin, Herr der Stürme? Diesen Titel hatte ich noch nie gesehen. Raeponin, der Richter. Pol’Drion, Herr des Lichts – eine sehr alte Bezeichnung für den Fährmann. In Relshaz schien die Religion sich seit dem Fall des Imperiums ziemlich eigenständig entwickelt zu haben. Bei mir daheim war Ostrin für die Viehzucht, die Gastfreundschaft und die Krankenfürsorge verantwortlich; hier war er schlicht eine fröhliche, mollige Bronzefigur mit Weinblättern im Haar und 233
einem Trinkschlauch im Arm. Neben ihm stand ein ernstes, feierliches Abbild von Talagrin mit Hörnern aus schwarzem Aldabreshiholz, ein Jäger mit Pfeil und Bogen; dass er die Wildnis ursprünglich hegen und pflegen sollte, hatte man offenbar vergessen. Eine Statue, die keine Verehrer zu haben schien, erregte meine Aufmerksamkeit, und ich ging zu ihr hinüber, um sie mir näher anzuschauen. Es handelte sich um ein ausgemergeltes Kind in Lumpen, dessen grobes Abbild man aus einem schlichten Steinklumpen gehauen hatte: Dren Setarion. Das Hungerkind? Ein reich gewandeter Priester des Knaben trat auf mich zu und schüttelte seinen Klingelbeutel; ich blickte ihn feindselig an. »Was soll das sein? Wie könnt ihr den Gott der Hungersnöte verehren?« »Die alten Tormalin haben allen himmlischen Mächten die Ehre erwiesen, denn im Alten Reich hat man entdeckt, mit welchen Gaben und Gebeten man ihre Gnade erwirken kann. Als sie ihr Imperium ausdehnten, brachten sie den Eroberten die Erleuchtung, und so lernten alle Menschen, wie sie in Notlagen um Hilfe bitten können.« Die Selbstgefälligkeit des fetten Kerls ärgerte mich. Ich habe die Götter und ihre Gebete auswendig gelernt wie alle anderen auch; aber das war hier nicht von Bedeutung. »Das war kein Kult des Imperiums!« Der Priester ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »In der dunklen Zeit des Chaos ist viel Weisheit verloren gegangen; aber die Menschen erarbeiten sich die Wahrheit neu. Habt Ihr je eine solche Hungersnot erlebt, dass die Säuglinge sterben, weil die Mütter keine Milch mehr haben? Hunger ist in vielen Län234
dern eine große Macht, und wir versuchen, Verbindung mit dieser Macht aufzunehmen, auf dass sie unser Volk nicht heimsucht.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte; also schnaufte ich nur verächtlich und ging weiter. Wenn die Priester ein solch gesinnungsloses Verhalten an den Tag legten, würden die Rationalisten in Relshaz vielleicht doch noch Anhänger finden. »In Ensaimin hat es in letzter Zeit mehrere schlechte Ernten gegeben«, bemerkte Halice. »So etwas lässt stets neue Kulte entstehen; sie haben nur nicht lange Bestand.« Wir gingen auf die andere Seite der riesigen Halle und fanden dort unter den weiblichen Göttern die gleiche Mischung von Vertrautem und Fremdem. Hier war die weinende Arimelin aus irgendeinem Grund die Mutter des Leids und nicht die Traumweberin, was mich sofort meine Absicht vergessen ließ, Weihrauch zu ihren Ehren zu verbrennen, auf dass sie Planirs Pläne mit meinen Träumen zunichte machte. Wir gingen weiter. Ich sah, dass Larasions Statue aus rotbraunem Kernholz geschnitzt war; sie trug eine Ährenkrone, war also als Mahladin dargestellt, als Erntekönigin. Drianons Rolle schien hier auf die Entgegennahme von Fürbitten schwangerer Frauen beschränkt zu sein, während die unverheirateten Mädchen sich vor dem eisig-entrückten Abbild der Halcarion anstellten, welche hier die traditionelle Gewandung der Mondjungfer trug. Mit leeren, marmornen Augen blickte sie zu den Deckenbalken hinauf, während neben ihr Großmütter geduldig darauf warteten, ihre Bitten Ahd Maewelin vorbringen zu können, der Winterhexe, deren Statue ein uraltes Stück Eichenholz war, in das man lediglich ihr Gesicht geschnitzt hatte. 235
»Da ist er ja.« Shiv seufzte erleichtert und drängte sich durch die Menge zu einem beleibten Mann mit blassem Gesicht und hängenden Schultern. Als wir näher kamen, erkannte ich ein wenig überrascht, dass dieser Kerrit kaum älter war als Shiv oder ich; zunächst hatte ich ihn auf mindestens eine Generation älter geschätzt. Er war in ein Gespräch mit einem kleinen Mann mit sanftem Gesicht und staubiger, ausgeblichener Robe vertieft. Ich fragte mich, wie dieser uralte Akolyth es vermied, von den anderen reich gewandeten Priestern zwangsweise zu einem Schneider geschleppt zu werden. »Shiwalan!« Kerrit lächelte unseren Zauberer breit an. »Ich bin gleich bei dir.« Er wandte sich von uns ab, um sich feierlich von dem alten Priester zu verabschieden und ein Blatt mit Notizen in eine kleine Ledertasche zu stecken, die von seiner Schulter baumelte. »Was führt dich in diese schöne Stadt?« Grob drängte er sich durch die Wartenden, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu entschuldigen. »Könnten wir uns nicht irgendwo unterhalten, wo wir unter uns sind?« Ich blickte Shiv überrascht an. Jeder, der uns hier in diesem Gedränge belauschen wollte, musste entweder unmittelbar vor uns stehen oder sich darauf verlassen, dass wir aus Leibeskräften schrien. »Hier entlang.« Kernt führte uns in eine verhältnismäßig ruhige Ecke hinter einer Statue von Saedrin an der Tür zwischen den Welten. Die Statue bot jedem hervorragende Deckung, der sich an uns heranschleichen und uns belauschen wollte, doch bevor ich mich entsprechend postieren konnte, um genau das zu verhindern, hatte Halice sich der Sache bereits angenommen. 236
»Hast du einen Brief von Planir für mich?« Kerrits Blick war noch immer auf den Schrein der Maewelin gerichtet; seine Gedanken waren eindeutig woanders. »Nein, wir haben ein paar Eisländer hierher verfolgt, die einige Artefakte gestohlen haben«, antwortete Shiv offen. Dies sicherte ihm Kerrits ungeteilte Aufmerksamkeit. »Sie sind hier in der Stadt?« Shiv nickte. »Aber sie benutzen irgendeinen Ätherzauber, sodass wir sie nicht mittels Weitsicht finden können.« »Äthermagie ...«, seufzte Kerrit, und seine Augen begannen zu leuchten. »Kannst du Shiv helfen, diesen ätherischen Schutz zu umgehen?«, fragte Livak, als Kerrit den Gesichtsausdruck eines typischen Bücherwurms aufsetzte, dessen Gedanken immer weiter weg wanderten. »Bitte? Nein, nicht an sich, meine Liebe. Da ich selbst magiegeboren bin, sind ätherische Beschwörungen nutzlos, wenn ich sie spreche.« Ich sah, dass Livaks Geduld sich rasch dem Ende zuneigte. »Weißt du irgendetwas, womit einer von uns etwas dagegen unternehmen könnte?« Auch mir fiel es schwer, meine Stimme ruhig zu halten. Kernt legte die Stirn in Falten. »Eigentlich müsste ich sehen, was genau sie tun, aber es gibt zumindest ein paar Dinge, die wir versuchen könnten.« »Kannst du uns begleiten?«, fragte Shiv höflich. »Im Augenblick käme mir das, ehrlich gesagt, ziemlich ungelegen.« Kerrit wirkte sichtlich nervös. »Ihr seht doch den alten Priester da, oder? Er behauptet, über sechs Wunder zu verfügen, mit denen er Krankheiten heilen kann, alte Wunden und sogar 237
Geburtsfehler. Ich muss mehr Einzelheiten aus ihm herausbekommen und versuchen ...« »Was ist mit gebrochenen Knochen?«, mischte Halice sich plötzlich ein. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen sah. Einen Augenblick wirkte Kerrit verwirrt, bis er Halices verdrehtes Bein bemerkte. »Davon hat er zumindest nichts gesagt. Jedenfalls zeigen seine Wundergesänge jedes Mal Wirkung. Ich muss mehr über ihn herausfinden und das, was er tut. Ich muss seine Heilungen untersuchen und feststellen, wie zuverlässig das Ganze ist.« »Dann ist dieser alte Mann etwas Besonderes, ja?« Livaks Neugier hatte schlussendlich die Oberhand gewonnen; aber wenigstens zügelte das ihr Temperament. »O ja«, versicherte ihr Kerrit, und seine Augen begannen wieder zu leuchten. »Du kannst zehn Priester von hier nehmen und sie bitten, alle das gleiche Ritual durchzuführen, und du hättest zehn verschiedene Ergebnisse. Ich will herausfinden, warum das so ist.« »Selbstverständlich ist das wichtig ...«, begann Shiv. »Ich nehme nicht an, dass der alte Priester uns wegläuft«, mischte ich mich ein. »Bei den Elietimm sieht das etwas anders aus. Ich bin sicher, dass du den Rest des Tages dafür erübrigen kannst, uns bei etwas so Wichtigem wie Planirs Arbeit zu helfen.« Die Vorstellung, dass er sich schlussendlich vor dem Erzmagier würde verantworten müssen, ließ Kerrit offensichtlich nachdenklich werden. »Ja, ja, wie wahr.« »Dann lasst uns gehen.« Ich trat vor, um Halice zu helfen, uns einen Weg zur Tür zu 238
bahnen. Dabei bemerkte ich aus den Augenwinkeln einen Tumult, der sofort meine Aufmerksamkeit erregte. Ein Stück entfernt in dem Gedränge hatte sich ein großer Mann in dunklem Umhang mit einer fetten Frau angelegt, die fest entschlossen schien, ihn nicht durchzulassen. Plötzlich starrte der Mann an mir vorbei direkt zu Viltred; offenbar hatte er den alten Zauberer erkannt, und sein Gesichtsausdruck war nicht gerade freundlich. Er stieß die fette Frau beiseite, ignorierte ihre entrüsteten Rufe und hielt auf Viltred zu. »Viltred, kennst du diesen Mann?« Ich nickte – unauffällig, wie ich hoffte – in die entsprechende Richtung. »Nein.« Viltred runzelte die Stirn; dann flackerte Furcht in seinen trüben Augen auf. »Ich habe ihn noch nie gesehen.« Ich sah, dass der Mann im dunkelgrauen Umhang sich nach rechts und links umblickte, während er auf uns zumarschierte. Als ich mich daraufhin ebenfalls umschaute, musste ich erkennen, dass der Kerl nicht alleine war. Ich entdeckte drei weitere grau gekleidete Männer, und als einer von ihnen sich an einer Gruppe Kinder vorbeidrängte, wurde sein Umhang kurz zurückgeworfen, sodass eine vertraute schwarze Uniform zum Vorschein kam. »Elietimm«, knurrte ich. »Wir müssen weg von hier. Sofort!« »Hier entlang.« Kerrit drehte sich um und lief hinter die Schreine zu einer kleinen Tür, die offenbar für die Priester bestimmt war. Ich spürte, wie Furcht mir den Magen umdrehte, und musste all meine Kraft aufbieten, um meinen plötzlich rasselnden Atem wieder zu beruhigen. Stumm verfluchte ich die Erinnerung an die Elietimmhexerei, die eine solch unkontrollierbare Angst in mir zu wecken vermochte. Ich blickte zu Livak und war ein 239
wenig erleichtert, als ich sah, dass sie ebenfalls unnatürlich blass war und das Heft ihres Schwertes umklammerte. »Kannst du uns verstecken?«, fragte ich Shiv. »Gib mir einen Augenblick Zeit.« Er blieb stehen, und ich sah ein blaues Licht zwischen seinen Fingern aufflackern, als er konzentriert die Augen schloss. »Viltred, kannst du mir helfen?« Die beiden Magier standen beieinander. Sie hatten einige Probleme, denn sie mussten das Magierlicht verbergen, das jedes Mal aufleuchtet, wenn jemand versucht, die Elemente zu beeinflussen. Ich beobachtete gemeinsam mit Livak und Halice, wie die grau gewandeten Männer sich in einer Linie den Tempel hinunterbewegten; sie suchten uns wie Treiber, die für einen Falken die Beute aufscheuchen wollen. »So. Das sollte uns abschirmen.« Um uns herum schimmerte die Luft wie Dunst über von der Sonne verbranntem Sand, und vorsichtig traten wir wieder hinter den Schreinen hervor und bewegten uns in Richtung des offenen Haupteingangs. Ich hielt den Atem an, als ein schmalgesichtiger Elietimm den Blick über die Menge schweifen ließ, die uns umgab, und dann auch über uns. Ich wollte schon erleichtert seufzen, als der Blick des Mannes wieder zu uns zurückkehrte. Unwillkürlich zuckte er zusammen; offenbar konnte er durch den Tarnzauber hindurchschauen. Der Elietimm sah sich nach seinen Gefährten um. Ich war sicher, dass sie irgendwie in Verbindung standen, denn der zweite Mann drängte sich sofort in unsere Richtung, obwohl er uns auch ohne Schutzzauber nicht klar hätte sehen können. »Sie haben uns entdeckt. Bewegt euch.« Meine Hand schwebte über dem Schwert. Doch wenn es irgend ging, wollte ich vermeiden, hier drinnen eine Waffe zu ziehen; schließlich 240
wusste ich nicht, wie die Priester reagieren würden. Von einem religiösen Mob aufgehalten zu werden, konnten wir jetzt am wenigsten gebrauchen. »Verflucht noch mal!« Shiv hob den Zauber auf und drängte in Richtung Tür. Als die grau gewandeten Männer sahen, dass er seine Tarnung aufgab, taten sie es ihm nach. Ich übernahm die Nachhut und hörte wütendes Brüllen und dann Schreie, als einer der Elietimm als Antwort auf den Tadel eines Priesters das Schwert aus der Scheide riss. Ich blickte zurück und sah, wie die Menschen aus dem Weg stoben; dennoch schafften wie es vor unseren Möchtegernfängern bis zur Tür. »Lauft!«, rief ich, als wir die Treppen zum verhältnismäßig freien Tempelplatz hinuntersprangen. Livak packte Halice unter dem Arm, und halb rannten, halb hüpften sie zusammen. Ich versuchte, meine Wut hinunterzuschlucken. Das war genau die Situation, vor der ich mich gefürchtet hatte, wenn man den Krüppel entweder im Stich lassen oder alle in Gefahr bringen musste. Wir brachten den Brunnen zwischen uns und den Tempel, und ich wagte einen Blick zurück. Die grau gewandeten Männer waren ausgeschwärmt und zogen einen Kordon um die Menge. Ich blickte zur anderen Seite des Platzes. Wenn das die Treiber waren, wo war dann der Jäger? Als ich abermals die Hand aufs Schwert legte, drehte sich mir der Kopf. Meine Sinne waren wie vernebelt, und fluchend drückte ich die Hand auf die Schläfe. Als ich die Augen wieder öffnete, schnappte ich nach Luft, und Panik drohte mich zu ersticken ... Ich befand mich nicht mehr in der Mitte eines überfüllten Stadtplatzes, sondern stand in einer Wildnis. Dichtes Gestrüpp wucherte um mich herum; unter meinen Füßen wuchs Gras, und das rege Treiben 241
des Relshazmorgens war Vogelgezwitscher und Nebelfetzen gewichen. »Reiß dich zusammen«, schimpfe ich auf mich selbst und packte erneut mein Schwert. Als ich glaubte, ein leises Seufzen hinter mir zu hören, riss ich das Schwert heraus und wirbelte herum, doch niemand war zu sehen. Ich fletschte die Zähne und richtete meine Gedanken mehr auf meine Wut als auf meine Furcht. In diesem Augenblick klärte sich meine Sicht, und ich sah Livak, die mich verzweifelt anstarrte. Ich schluckte einen plötzlichen Anflug von Übelkeit herunter und spürte kalten Schweiß zwischen den Schulterblättern. »Deine Augen, Rysh, deine Augen! Sie sind vollständig blau geworden!« Wir blickten einander an und erstarrten bei der Erinnerung an die schwarzen Löcher, in die sich Aitens Augen verwandelt hatten, als sein Geist von den Elietimm übernommen worden war, um ihn dazu zu bewegen, uns zu töten. »Irgendjemand setzt wieder Äthermagie gegen uns ein, Shiv!« Livaks Stimme klang schrill, als sie über meine Schulter blickte. Ich sah, dass unsere Verfolger näher rückten. Plötzlich ließ die Erinnerung mich handeln. »Die Halsbänder! Shiv, Viltred, ihre Hexer haben Halsbänder getragen. Könnt ihr eins sehen?« Wir blieben mitten in der wimmelnden Menge stehen und schauten uns nach allen Seiten um. Halice und Livak hielten die Dolche bereit, ich mein Schwert. »Da!« Ich drehte mich um und blickte in die Richtung, in die Shiv deutete. Mich verließ der Mut, als ich auf der anderen Seite eine Gruppe Elietimm entdeckte, die sich um einen der ihren ge242
schart hatte, an dessen Hals es golden funkelte. Der Jäger hatte offensichtlich nicht nur Treiber, sondern auch Apportierhunde dabei. Viltred sog zischend die Luft ein, und seine Augen blickten ins Leere, als er begann, um sich herum Macht zu sammeln. »Hier wieder rauszukommen, bedarf wohl eines direkteren Eingriffs«, murmelte er. In einer plötzlichen Geste warf er die Hände dem Feind entgegen. Ich sah die Luft vor den Augen des grau gewandeten Hexers glühen und schimmern, wodurch er vorübergehend erblindete. Ein Mann neben ihm stolperte und fiel, und selbst auf diese Entfernung konnte ich die Verwirrung in den Augen seiner Kameraden sehen. »Luftseil?«, erkundigte sich Kerrit in beiläufigem Tonfall. »Um ihre Füße«, bestätigte Shiv und lächelte grimmig. »Könnten wir die Feinheiten dieser hohen Kunst vielleicht später diskutieren?«, stieß Livak in verständlicher Verärgerung hervor. Ich sprach fast im selben Atemzug. »Kommt!« Wir bewegten uns schnell. Shiv bahnte sich grob einen Weg durch die Menge, ohne sich zu entschuldigen. Als wir vor uns einen weiteren grauen Mantel sahen, führte Viltred einen magischen Hieb, der den Mann bewusstlos zu Boden streckte. Als der Kerl fiel, löste sich ein anderer Mann aus der Linie und hielt auf die freie Stelle zu. Gleichzeitig stürmten auch wir auf die Lücke im Kordon unserer Feinde zu, wobei wir die Passanten rücksichtslos beiseite stießen. Plötzlich brach Viltred zusammen und schnappte nach Luft; Halice und Livak packten ihn, und ich schaute mich nach dem Ausgangspunkt des Angriffs um. Einer der grau gewandeten Männer, der ein silbernes Halsband trug, war auf die Ummaue243
rung des Brunnens geklettert und blickte uns an. Sein Mund bewegte sich. Shiv verschwendete keine Zeit auf Flüche. Grünes Licht flackerte an seinen Fingern auf, und eine Wassersäule schoss aus dem Brunnen, schlang sich um den Hexer und riss ihn hinunter. Die Leute wichen vom Brunnen zurück, und erste verwirrte Rufe mischten sich unter das allgemeine Stimmengewirr. Ich versuchte, mich zu bewegen, doch Kerrit stand mir im Weg und starrte verdutzt in Richtung Brunnen. »Bei allen Elementen, dieser Mann hat überhaupt keine Magie gewirkt.« Er klang entrüstet und kramte in seiner Tasche nach Papier und Feder. »Später«, sagte ich und packte ihn am Arm. »Viltred?« »Alles in Ordnung.« Er sah gar nicht in Ordnung aus. Seine Lippen waren blau angelaufen, und Panik mischte sich mit Schmerz in seinen Augen. »Shiv!« Bei Livaks Ruf rissen wir alle die Köpfe herum, und in der Menge bildete sich eine Lücke – gerade lange genug, dass wir einen Halsbandträger sehen konnten, der wütend die Menschen beiseite stieß und auf uns zuhielt. Alle drei Zauberer spien dem Elietimm unverständliche Worte entgegen, worauf der Mann in einer Wolke aus azurblauem und scharlachrotem Licht explodierte. Entsetzt wich die Menge von der qualmenden Leiche zurück, und von einem Augenblick auf den anderen breitete sich Panik auf dem Platz aus. Wo die Menschen sich zuerst nur herumgeschubst hatten, schlugen sie nun zu; wo sie miteinander gescherzt hatten, wurde nun derb geflucht und geschimpft. Der Lärm wurde immer widerwärtiger. Schließlich ertönten die ersten Schreie aus der Mitte der wogenden Menge und stiegen mit dem aufgewirbelten Staub gen Himmel. Wir 244
wurden von allen Seiten angerempelt und wie Fischerboote in einem Wintersturm herumgestoßen. Ich konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten. »Wir müssen zusammenbleiben.« Ich packte Kerrits Tunika und griff nach Livak, die sich wiederum bei Halice unterhakte, welche ihre Krücke benutzte, um uns einen Weg freizumachen, während Shiv versuchte, Viltred zu uns zu schleppen. Vor allem der alte Zauberer hatte Mühe, sich der Menschenflut entgegenzustemmen. »Lass dich von der Menge tragen! Wir müssen mit dem Strom schwimmen!«, rief ich ihm zu. Ich durfte in diesem Mob nicht auffallen! Jeder wusste, dass Magie die Panik aufgelöst hatte, und ich wollte nicht allein auf der Straße angetroffen werden, drei Zauberer im Schlepptau, wenn die örtliche Miliz erschien, um die Übeltäter dingfest zu machen. Eine Panik wie diese hier hinterließ, für gewöhnlich ein paar Tote, und die Relshazri würden sich jemanden suchen, dem sie die Schuld dafür in die Schuhe schieben konnten. Wenn eine Stadt ihre Beamten wählt, ist Gerechtigkeit nur zweitrangig; viel wichtiger ist es, den Mob glücklich zu machen, und ich hatte nicht vor, mich an den Pranger stellen zu lassen, nur weil ich einen Tormalinakzent besaß. Da wir ohnehin zu einer Nebenstraße hatten laufen wollen, ließen wir uns von der Flut der fliehenden Relshazri alsbald in eine Gasse spülen, die zwischen einer Taverne und einer Spielhalle lag. Ich schaute mich um und wollte mich vergewissern, dass alle bei mir waren, doch was ich sah, erschreckte mich. Viltred hatte sich noch immer nicht ganz von dem Angriff erholt, und Livak stützte Halice, die ihren Stock im Gedränge verloren hatte. 245
»Wartet hier.« Vorsichtig kehrte ich auf die schlammige Straße zurück, wobei ich jeden Hauseingang und ein paar verlassene Fahrzeuge und Handkarren als Deckung nutzte. Der Platz war inzwischen größtenteils leer, abgesehen von zwei Gruppen weinender Frauen, die sich um leblose Gestalten versammelt hatten, und ein paar Benommenen, die sich langsam wieder aufrappelten. Schwarzkopfmöwen kreisten über dem Platz; ein paar der kühneren Vögel pickten bereits an Obst, einem Brotlaib und Süßigkeiten, die im Dreck verstreut lagen; andere beäugten einen reglosen Körper in einem Haufen verdreckter Lumpen. Ihre dünnen Schreie gingen plötzlich im hysterischen Heulen eines Kindes auf den Tempelstufen unter, das wild mit seinen dünnen Ärmchen wedelte, während ein rot gewandeter Priester erfolglos versuchte, das Kind zu beruhigen. Ich schaute mich nach grauen Umhängen um und sah, dass zumindest einer unserer Verfolger niedergetrampelt worden war; von Shivs Zauber festgehalten, hatte er sich nicht rechtzeitig aufrichten können, wie ich zufrieden erkannte. »Das Luftseil ist ein Zauber, den jeder Novize aufheben kann.« Ich drehte mich um und sah, dass Kerrit mir gefolgt war. Er hatte die Feder zwischen den Zähnen und fummelte an seinem Tintenfässchen herum. »Für jemanden, der eine komplexe Illusion durchschauen oder auf solch eine Entfernung angreifen kann, hätte das kein Problem sein dürfen«, murmelte er und suchte nach einem leeren Blatt Papier. »Komm.« Ich packte ihn mit wachsender Wut am Arm, ignorierte seine wilden Proteste, als die Tinte ihm auf die Hose 246
spritzte, und zerrte ihn zu den anderen zurück. Würde ich je einen Zauberer treffen, der auch nur ein bisschen gesunden Menschenverstand besaß? »Shiv, tu, was du kannst, um uns zu verstecken. Wir müssen sofort zu Mellitha zurück!« Shiv nickte, und die Luft um uns herum begann abermals zu schimmern, um uns zu verbergen. »Ich habe hier etwas, das unsere Spur verwischen sollte«, meldete Kerrit sich zu Wort. »Tu es einfach!«, rief ich. »Das kann ich nicht. Es ist eine ätherische Beschwörung, weißt du. Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass es funktionieren wird. Wenn meine Notizen korrekt sind, sollten die Verfolger uns mit ihrer Magie dann nicht mehr finden können.« Kerrit strahlte und hielt mir ein Papier entgegen, auf dem in sauberer Handschrift eine Silbenfolge niedergeschrieben war. Ich streckte die Hand aus, doch plötzliche Bedenken ließen mich innehalten. »Livak? Du hast so etwas doch schon einmal gemacht, oder? Du hast irgendwann einmal etwas von Rhythmus oder so erzählt.« Als wir uns einen Augenblick stumm anschauten, sah ich ein Spiegelbild meines eigenen Widerwillens in ihren grasgrünen Augen. »Gib her.« Livak riss Kerrit das Papier aus der Hand und spie die Worte im Waldvolkrhythmus aus. »Ar mel sidith, ranel marclenae.« Soweit es mich betraf, hatten wir keine Ahnung, ob es nun funktioniert hatte oder nicht; deshalb beschloss ich, mich fortan auf althergebrachte Methoden zu verlassen. 247
»Viltred, kennst du einen Weg zu Mellitha durch die Seitenstraßen?« Müde wischte sich der alte Zauberer mit der Hand übers Gesicht und nickte. »Hier entlang.« Niemand hielt uns auf, als wir durch die Stadt marschierten. Um die Zauber um uns herum aufrecht zu erhalten, gingen wir allerdings langsamer, als mir lieb gewesen wäre. Die Straßen des Arril-Bezirks waren genauso laut wie die in anderen Teilen der Stadt, aber da die Leute hier ganz normal ihren Geschäften nachgingen, entspannten wir uns ein wenig. Ich glaubte gerade, ein paar Häuser zu erkennen, als Viltred plötzlich so stehen blieb, dass ich ihm beinahe in die Hacken trat. »Ich werde nicht zu Mellitha zurückkehren, solange ich nicht sicher bin, dass niemand uns folgt«, erklärte er brüsk. »Ich werde nicht riskieren, diese Leute zu ihrer Tür zu führen.« Entschlossen blickte er uns der Reihe nach an. Ich musste zugeben, dass er nicht ganz Unrecht hatte. »Dann lasst uns eine Taverne suchen.« Ich schüttelte den Kopf, um Shivs Protest zuvorzukommen, und so gingen wir zu einer Taverne in der Nähe, wo wir uns unter ein mit Wein bewachsenes Vordach setzten und an aromatischem Weißwein nippten, bis Mittag lange vorüber war. Bis dahin hatte Viltreds Gesicht wieder Farbe bekommen, und in Halices Augen spiegelte sich nicht mehr der Schmerz, der von ihrem Bein ausging. Als die Glocken der Stadt die sechste Stunde einläuteten, blickte ich zu Livak. »Wären sie uns gefolgt, hätten sie uns längst gehabt.« Sie leerte ihr Glas, füllte es aber nicht wieder. »Nirgends war jemand zu sehen. Wäre einer von ihnen hier gewesen, ich hätte ihn bemerkt – vertrau mir.« 248
Shiv nickte und wischte eine Lache scheinbar zufällig verschütteten Weins beiseite, in die er schon längere Zeit gestarrt hatte. »Ich habe alle Nebenstraßen abgesucht und niemanden gefunden.« »Ich nehme an, das muss reichen«, gab Viltred widerwillig nach. »Allerdings könnten sie uns immer noch von irgendwo anders beobachten.« Ich nickte der Bedienung zu und warf ein paar Münzen auf den Tisch. »Sollte das der Fall sein, könnten wir auch nichts dagegen tun. Kommt.« Als wir den Hof betraten, kam Mellitha aus dem Pförtnerhaus. Sie verschwendete keine Zeit mit Begrüßungen oder Fragen, sondern scheuchte uns in ihr gut aufgeräumtes Arbeitszimmer. »Ich habe gehört, was beim Tempel passiert ist. Als ich angekommen bin, war die Hälfte meiner Verabredungen abgesagt; der ganze Magistrat ist in Aufruhr. Was war los?« Ich blickte zu Viltred und dieser wiederum zu Shiv, der sich nach Kerrit umdrehte. Schließlich seufzte ich und fasste die Ereignisse kurz zusammen. »Also seid ihr jetzt die Gejagten und nicht mehr die Jäger«, bemerkte Mellitha trocken und öffnete eine Kalbsledermappe auf ihrem Schreibtisch. »Ich habe ein paar interessante Berichte bekommen, auch wenn ich nicht weiß, inwieweit sie eurer Sache helfen werden. Es scheint zwei Gruppen dieser Fremden in der Stadt zu geben. Soweit man mir gesagt hat, arbeiten sie nicht zusammen. Die erste Gruppe ist kurz vor Vollmond des kleineren Mondes eingetroffen; sie haben mit TormalinAntiquitäten gehandelt. Niemand weiß genau, woher sie kommen; ich habe jedoch verschiedene Vermutungen gehört. Sie 249
tragen einheimische Kleidung, doch mit ihrem Akzent kann niemand etwas anfangen. Die meistverbreitete Meinung ist, dass sie aus Mandarkin stammen.« »Mit anderen Worten – sie kommen aus Orten weit im Norden oder Westen, die niemand hier je gesehen hat, ebenso wenig wie einen Bewohner dieser Orte, sodass niemand den Akzent kennen könnte«, bemerkte ich säuerlich. »Das stimmt so ungefähr«, bestätigte Mellitha schlicht. »Man hat auch beobachtet, dass sie viel Zeit in den Tempeln verbringen und mit den Priestern reden, doch konnte ich bis jetzt nicht herausfinden, aus welchem Grund. Sie scheinen sehr viel Geld zu haben und zahlen gute Preise; also zerbricht sich niemand den Kopf über sie. Die zweite Gruppe ist vor vier Tagen eingetroffen. Ich glaube, das könnten diejenigen sein, die euch Ärger machen. Die Leute halten sich von ihnen fern. Dem Aussehen nach sind sie Soldaten, alle in schwarzes Leder gehüllt, und sie sind stets in Fünfergruppen unterwegs.« Mellitha lächelte schelmisch. »Wenn sie bei diesem Wetter Leder tragen, müssen sie schwitzen wie Hengste, die eine rossige Stute wittern. Wie auch immer, ihr Anführer hat verbreiten lassen, dass er nach ein paar Dieben sucht, und er gibt allen sehr gute Beschreibungen von Livak und Halice.« Die beiden tauschten einen reumütigen Blick. »Das ist nicht das erste Mal«, seufzte Halice. »Haben sie eine Belohnung ausgesetzt?« »Davon habe ich bis jetzt zumindest nichts gehört, aber ich habe Leute ausgeschickt, um das herauszufinden.« Mellithas Augen funkelten. »Ich frage mich, wie hoch die Belohnung wohl sein mag.« »Ich könnte mir das Haar färben«, sagte Livak. »Du wirst al250
lerdings hier festsitzen, Halice, es sei denn, wir besorgen dir eine Sänfte. Dein Bein ist viel zu auffällig.« Mellitha lächelte sie an. »Ihr sollt eine wertvolle Waffe gestohlen haben, heißt es, ein imperiales Langschwert mit einer grünlichen Scheide und Filigranarbeit am Heft.« Viltred fluchte. »Es ist wertvoll, das stimmt. Es ist eine Toremalarbeit von Delathan. Es ist das Schwert, das Ryshad trägt.« »Also haben sie sich einen Vorwand ausgedacht, um uns mitten auf der Straße stellen zu können«, knurrte ich. »Ich glaube nicht, dass dem Magistrat das gefallen würde.« Mellitha verzog das Gesicht. Davon war ich nicht so überzeugt. Genügend Münzen bei einem Händedruck beseitigen zumeist alle Einwände, die ein Ratsherr haben könnte. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie das Schwert um seiner selbst haben wollen; wir wissen, dass es irgendwie mit der verlorenen Kolonie zu tun hat.« Shiv blickte mich entschuldigend an. »Delathan hat doch in der Regierungszeit von Nemith dem Seefahrer gearbeitet, nicht wahr?« Mellitha legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Am Ende von dessen Herrschaft, in der frühen Jahren von Nemith dem Tollkühnen. Warum?«, fragte Viltred. »Diese Fremden kaufen Antiquitäten, die genau aus dieser Zeit stammen. Das ist das Einzige, das diese beiden Gruppen gemeinsam haben«, erklärte Mellitha. »Die meisten Leute konzentrieren sich auf den Kauf und Verkauf von Juwelen und Silberwaren, die meist aus weit späteren Epochen stammen. Diese Leute aber handeln mit sehr alten Antiquitäten, die um einiges wertvoller sind, und sie beschränken sich dabei aus251
schließlich auf Gegenstände aus der Zeit kurz vor dem Fall des Imperiums. Das hat natürlich die Preise in die Höhe getrieben, aber das scheint sie nicht zu stören.« Shiv fluchte. »Alles, was wir bekommen, sind immer mehr Fragen. Ich brauche endlich ein paar Antworten.« »Könnt Ihr den Ratsherren Informationen zukommen lassen, ohne Eure Quellen zu offenbaren?«, fragte ich Mellitha. »Natürlich.« Sie nickte. »Mein Wort ist gut genug; das muss es auch, wenn diese Herrschaften vermeiden wollen, dass ich mir ihre Bücher mal ein wenig genauer anschaue.« »Lasst sie wissen, dass die Fremden, die nach dem Schwert suchen, die Panik vor dem Tempel verursacht haben – der Trupp in schwarzem Leder. Mindestens einer von ihnen ist totgetrampelt worden. Sicher lassen sich noch ein paar Zeugen finden, die diese Information bestätigen.« »Weiß ich, warum sie hinter euch sind?« Mellitha machte sich Notizen auf einem Stück Papier. »Diese Leute machen sich nicht gerade beliebt, aber die Stadtwache neigt auch nicht gerade dazu, sich in private Streitigkeiten einzumischen.« »Es wäre mir lieber, wenn Ihr uns überhaupt nicht erwähnt«, erklärte Shiv. Darin waren wir uns ausnahmsweise mal einig. »Lasst uns da raus. Sagt einfach, diese Leute wären auf Raub und Vergewaltigung aus gewesen, und dass sie die Menschen angestachelt hätten, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen ... was immer Ihr glaubt, das am Unpopulärsten ist, damit sie sofort eins in die Schnauze bekommen, sobald sie sich wieder irgendwo blicken lassen.« Mellitha lächelte. »Beim Vollmond des größeren Mondes stehen wieder Wahlen an. Ich glaube, ich könnte ein paar Anspie252
lungen fallen lassen, dass sie mit Leuten in Verbindung stehen, die ein gewisses Interesse daran haben, Unruhe zu stiften.« »Das sollte ihre Pläne eine Zeit lang arg in Unordnung bringen.« Viltred grinste böse. »Einen vollen Tag, mehr brauchen wir nicht.« Livak sprang vor Ungeduld auf, ging zum Fenster und blickte in den Hof hinaus. »Mellitha, könntet Ihr eine Dienerin losschicken, Haarfärbemittel zu holen? Schwarz oder braun – es ist egal.« »Ich möchte, dass alle hier bleiben und nichts tun, bis ich Verbindung zu Planir aufgenommen habe«, sagte Shiv aufgeregt. »Dann geh, und sprich mit ihm.« Livak blickte ihn herausfordernd an. »Viltred, Kerrit – kommt mit.« Die beiden älteren Zauberer folgten Shiv unerwartet unterwürfig. Livak ignorierte sie. Sie beugte sich über einen Brief; Papier und Tinte hatte sie sich ohne zu fragen aus Mellithas Schreibtisch genommen. Sie beendete den Brief, faltete ihn und schaute sich ein wenig verloren um, bis Mellitha ihr das Siegelwachs reichte. »Danke.« Livak schrieb noch eine Ortsangabe auf die Außenseite. »Könnt Ihr einen anderen Diener damit losschicken?« Mellitha hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue, als sie die Adresse las. »Ich glaube, einer meiner weniger zuverlässigen Stallburschen könnte diese Taverne kennen.« Livak konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Weniger zuverlässig? Das scheint mir genau der Richtige zu sein.« Mellitha stand auf. »Ich werde mich sofort darum kümmern.« Ich verschränkte die Arme und blickte Livak streng an, die meinen Blick selbstbewusst erwiderte. 253
»An wen hast du geschrieben?« »An jemand, dem ich vertrauen kann, dass er die Information verbreitet, es sei besser, nichts über Halice und mich verlauten zu lassen, als Geld von den Elietimm anzunehmen.« Sie lächelte grimmig. »Shiv ist hoffentlich klar, dass er ein paar von Planirs Münzen wird ausgeben müssen, um den ein oder anderen Mund mit gutem Wein zu stopfen.« Zweifelnd schüttelte ich den Kopf. »Wir sind erst einen Tag hier.« »Und mindestens eine Hand voll Leute hat uns bereits gesehen«, meldete Halice sich von ihrem Stuhl auf der anderen Seite des Raums zu Wort. »Wenn sie nichts anderes hören, werden sie nichts dabei finden, das Geld der Eisländer anzunehmen.« »Ich muss raus hier und die Dinge endlich auf meine Weise erledigen«, warnte mich Livak. »Wenn sie hinter uns her sind, sollten wir schnellstmöglich ihr Nest finden und Viltreds Plunder herausholen. Je eher ich die örtlichen Einbrecher wissen lasse, dass ich an diesen Hurensöhnen interessiert bin, desto eher wird einer ihre Tür für uns markieren.« Ich seufzte. »Kannst du nicht warten, bis Shiv mit Planir gesprochen hat?« »Ich gebe ihm Zeit bis morgen früh, und ich werde mir anhören, was er zu sagen hat«, gab Livak widerwillig nach, als sie das Flehen in meinen Augen sah. »Aber wenn er will, dass ich etwas für ihn stehle, muss er es mich auf meine Art tun lassen. Ich will nicht am Galgen baumeln, nur weil die Herren Zauberer sich irgendeinen törichten Plan ausdenken.« »Wenn Shiv deine Hilfe nicht will, können wir ja mal versuchen, eine Spur von Arie Cordainer zu finden. Ich glaube, das ist viel Erfolg versprechender, als bei euch Männern zu blei254
ben.« Halice blickte mich streng an und warnte mich, es ja nicht zu wagen, ihr Bein anzustarren oder gar zu erwähnen.
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4.
Aus den Gerichtsprotokollen des Magistrats, Charlaril-Distrikt, Relshaz, im 3. Jahr des Kaisers Perinal des Kühnen in Toremal und im 15. Jahr der Regierung Königin Mirellas in Solura
An Zindan Ar Willan, Mispelgasse Sire, in Bezug auf Euren Protest betreffs der Strafe, die Eurem Sohn bevorsteht, möchte ich Euch daran erinnern, dass Diebstahl ein Verbrechen gegen das Eigentum einer Person und nicht gegen die Person selbst ist; daher wird er weder hingerichtet noch körperlich gezüchtigt. Nichtsdestotrotz, da der Wert der gestohlenen Gegenstände auf über 500 Kronen (Tormalinprägung) geschätzt wird, hat der Kläger das Recht, seine Verluste gegen den Leib Eures Sohnes aufzurechnen, sollte die Anklage sich als begründet erweisen und das Diebesgut nicht wiedergefunden werden. In diesem Fall könnt Ihr Euch nicht beschweren, wenn der Kläger Euren Sohn an die Stadt verkauft, auf dass er an den Fährwinden oder auf den Galeeren seine Schuld abarbeite. Es ist mir durchaus bewusst, dass diese Aussicht Eure Frau verzweifeln lässt, doch ist das für diesen Fall nicht von unmittelbarer Wichtigkeit. Solltet Ihr dieses Amt deswegen belangen wollen, wird dies als vollkommen eigenstän256
dige Angelegenheit gehandhabt. Der Diebstahl wird zum Vollmond des größeren Mondes in der Halle des Gesetzes verhandelt. Sollte Euer Sohn die Anklage gänzlich leugnen, ist es Euer Recht, einen Advokaten hinzuzuziehen oder die Verteidigung selbst zu übernehmen. Gibt Euer Sohn die Tat zu, widerspricht aber der geschätzten Schadenssumme, wird es Eure Pflicht sein, die entsprechenden Gegenstände dem Magistrat zu präsentieren, damit dieser sie schätzen und überdies eine Hausdurchsuchung anordnen kann. Der Kläger wird natürlich einer ähnlich Durchsuchung bei sich daheim zustimmen und den Besitz besagter Gegenstände zur Zufriedenheit des Magistrats nachweisen müssen. Gesteht Euer Sohn die Tat und bestätigt er den Wert, werdet Ihr Gelegenheit bekommen, dem Kläger eine Wiedergutmachung anzubieten für den Preis Eures Sohnes, welcher dann aus der Stadt verbannt werden wird. Ich sollte Euch jedoch warnen, dass es im Ermessen des Klägers liegt, solch ein Angebot abzulehnen. Hiermit schicke ich Euch die eidesstattlichen Erklärungen zurück betreffs der Anwesenheit Eures Sohnes auf einer privaten Feier an besagtem Abend. Wenn der Fall in die Halle des Gesetzes kommt, könnt Ihr Zeugen berufen. Am Morgen der Sitzung werden Geschworene aus den Wahllisten ausgesucht, und ich muss Euch warnen, dass jeglicher Versuch, diese zu beeinflussen – sei es nun durch Kläger oder Angeklagten – in der sofortigen Niederlage desjenigen enden wird. Darf ich Euch überdies daran erinnern, dass Ihr nur noch fünf Tage Zeit habt, um die 100 Mark als Sicherheit beim Magistrat zu hinterlegen? Bitte, zögert nicht, mich zu kontaktieren, solltet Ihr noch Fragen haben.
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Im Vertrauen auf Raeponins Gerechtigkeit Magrin Colarene Schreiber des Magistrats
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Das Haus von Mellitha Esterlin, Relshaz 29. Nachfrühling
Ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf und erkannte überrascht, dass es viel später als üblich für mich war, und so beeilte ich mich mit Waschen und Rasieren. Livaks Stimmung hatte sich während des vorigen Abends nicht mehr gebessert. Als wir nach einem recht angespannten Abendessen nach oben gegangen waren und ich mit einem fragenden Lächeln vor meiner Tür stehen geblieben war, hatte sie nur ein versiegeltes Paket aus der Tasche geholt und es mir entgegengehalten. »Ich färbe mir jetzt mein Haar.« Ihr Lächeln war eine Mischung aus Trotz und Triumph, und sie huschte mit solcher Geschwindigkeit an mir vorbei in ihr eigenes Zimmer, dass mein Verlangen so rasch erlosch wie eine Kerzenflamme im Wind. Ich versuchte es erst gar nicht an der Verbindungstür. Das Haus wirkte ungewöhnlich still, während ich nach unten ging. Im Morgensalon war ein elegantes Frühstücksbüffet gedeckt, aber den schmutzigen Tellern nach zu urteilen, war ich als Letzter aufgestanden. Ich zuckte mit den Schultern und aß erst mal was, bevor ich mich auf die Suche nach den anderen machte. Die meisten Geräusche stammten aus der Küche; also spähte ich dort hinein, eine Entschuldigung auf den Lippen, denn mit Messires streitbaren Köchen hatte ich schon so manche unangenehme Erfahrung gemacht. »Sire?« Eine Dienerin knickste nervös und schaute sich rasch nach Hilfe um. »Guten Morgen, Ryshad.« 259
Ich war ein wenig überrascht, Halice auf dem Fenstersitz zu sehen; sorgfaltig prüfte sie ihre Messer und bearbeitete sie mit Öl und Schleifstein. Sie wirkte völlig entspannt, und ich erkannte, dass sie das gleiche Talent besaß wie Aiten, nämlich sich überall perfekt einfügen zu können, was ihn zu einem von Messires besten Agenten gemacht hatte. Ich beschloss, sie später danach zu fragen, ob sie etwas von den Dienern herausgefunden hatte. Vielleicht war da ja etwas dabei, das ich in einen Brief an Messire mit einbauen konnte; dieser war nämlich meine nächste Priorität, ermahnte ich mich selbst. »Wo sind denn alle?« »Mellitha ist losgegangen, um die Treffen neu zu arrangieren, die gestern ausgefallen sind. Viltred und Kerrit sind wieder mit ihrer Weitsicht zugange, und Shiv wartet darauf, dass Planir ihm neue Anweisungen erteilt.« Vorsichtig prüfte Halice die Schneide einer besonders scharfen Klinge. »Und Livak?«, fragte ich nervös. »Ausgegangen.« Halice hob den Blick. Ihre Miene war nicht zu deuten. »Shiv konnte nicht sagen, wann er etwas von Planir hören würde, also hat Livak ihm gesagt, sie könne nicht länger warten.« Ich musste wirklich sehr tief geschlafen haben, wenn ich diese Diskussion überhört hatte; die halbe Straße hatte sie vermutlich mitbekommen. »Wo ist Shiv?« Es war sinnlos, mich deswegen mit Halice anzulegen. »Im Gartenzimmer, am Speisezimmer vorbei und dann am Ende des Gangs.« Ich nickte ein höfliches Auf Wiedersehen in Richtung der neugierigen Dienerinnen und überließ Halice dem, was immer 260
sie hier tat. Shiv saß an einem Spieltisch aus Lindenholz und schob missgelaunt die Figuren eines Weißer-Rabe-Spiels herum – die feinsten und kunstvollsten, die ich außerhalb der kaiserlichen Residenz je gesehen hatte. »Guten Morgen«, sagte ich strahlend. Shiv zuckte mit den Schultern und antwortete irgendetwas Unverständliches. Ich ging zum Fenster, um sein Gesicht besser sehen zu können; Müdigkeit verschleierte seinen Blick. »Was machst du da?« »Ich warte, dass Planir sich dazu herablässt, Kontakt mit mir aufzunehmen, um mir neue Instruktionen zu geben, und ich versuche, mir zu überlegen, was im Augenblick das Beste für uns wäre«, sagte Shiv mit einer Schärfe in der Stimme, dass ich froh war, nicht das Ziel dieses Zorns zu sein. Er rammte einen Alabasterraben mit solcher Wucht auf die Mitte des Spielfelds, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte; es war ein viel zu weicher Stein, als dass man ihn so behandeln durfte. »Möchtest du ein bisschen Gesellschaft, oder hast du etwas Nützlicheres für mich zu tun?« Ich lächelte, als er mich zum ersten Mal anschaute. »Ich nehme an, ich könnte wirklich jemanden zum Reden brauchen«, gab er zu und schob mit dem Finger einen der Malachitbäume über den mit Einlegearbeiten verzierten Tisch. »Planir hat gesagt, er hätte noch vor Mittag neue Anweisungen für mich. Ich würde gerne deine Meinung hören zu dem, was er uns zu sagen hat.« Entspannt setzte ich mich auf einen der mit Samt gepolsterten Stühle, griff nach einem der Krähenspielsteine und bewun261
derte die hervorragende Arbeit; wenn man meinem Vater glauben darf, ist Schiefer schwer zu schnitzen. »Livak ist ausgegangen«, sagte Shiv plötzlich und schloss mit einer wütenden Geste den Kreis der Bäume um den Raben. »Das hat Halice mir schon gesagt«, erwiderte ich in sanftem Tonfall. »Trotzdem, Livak kennt die Stadt besser als jeder von uns. Sie weiß schon, wie man Ärger aus dem Weg geht.« Der Hauch eines Lächelns huschte über Shivs Gesicht. Ich hatte meine Sorge nicht ganz verbergen können. »Dann glaubst du also nicht, dass einer von uns zu ihrer Rettung eilen muss wie die Helden in diesen süßlichen soluranischen Balladen, die stets die holde Jungfer vor großem Ungemach bewahren?« Ich schüttelte den Kopf. »Ein ritterlicher Beschützer ist das Letzte, was Livak je brauchen wird oder haben will.« Meine Stimme musste mich abermals verraten haben. »Und wo bleibst du dann?«, fragte Shiv mit aufrichtiger Sorge, was mich ein wenig erstaunte. »Ein eingeschworener Mann, dessen Eid vorgeblich vor allem anderen kommt?« Ich stellte die Schieferkrähe vorsichtig neben eine Achateule. »Ich werde mich mit dem zufrieden geben, was immer sie mir geben will, solange sie mir erlaubt, meine Eide einzuhalten. Was alles andere betrifft, so weiß ich noch nicht einmal, ob sie eine Zukunft mit mir will, und ich pflege mich erst um das Fell des Bären zu kümmern, wenn dieser erlegt ist.« Shiv nickte verständnisvoll. »Pered und ich, wir haben lange gebraucht, bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, zusammen leben zu können, besonders, da er ja kein Magier ist. Als ich für den Rat zu arbeiten begann, wurde es erst richtig schwer, aber wir haben ein Gleichgewicht gefunden.« Versonnen blickt er 262
aus dem Fenster in Richtung Meer. »Ich vermisse ihn.« Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte. Ich war ein wenig überrascht gewesen, als ich herausgefunden hatte, dass Shiv lieber mit seinesgleichen tanzte, aber da ich darauf vertraute, dass er die Finger von mir ließ, hatte ich nie so recht darüber nachgedacht. Es war jedoch kein Thema, über das ich gerne diskutieren wollte. Ich bin kein Rationalist. Ich glaube nicht an deren Theorien von der alles bestimmenden Logik natürlicher Muster, was unter anderem bedeutete, ein Mann und eine Frau und nichts anderes. Allerdings waren genügend Einwohner Tormalins Anhänger der rationalistischen Ideen, während sie gleichzeitig Gottesdienste besuchten und religiöse Feiertage einhielten. Ich mochte Shiv; ich respektierte ihn als Mensch und Zauberer, und ich wollte ihn mit Sicherheit nicht beleidigen, indem ich das Falsche sagte oder schlicht mein eigenes Unwissen zur Schau stellte. »Wie wäre es mit einer Partie Rabe, während wir warten?« Vorsichtig stellte ich die Figuren in die dafür vorgesehenen Nischen auf beiden Seiten des Tisches zurück. Shiv betrachtete das Spielbrett, als hätte er es gerade erst bemerkt. »Nein danke. Ich spiele grundsätzlich kein Weißer Rabe.« Das ergab Sinn, zumal das Ziel des Spieles darin bestand, dass alle Vögel den einen vertrieben, der anders war. Ich öffnete die Schublade eines kleinen Schranks. »Ein paar Runden Runen?« »Ja, na schön.« Shiv streckte sich, und sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. Ich holte einen Samtbeutel heraus und schloss die Schublade wieder. »Weißt du, wenn wir irgendwann bei dieser Sache bis 263
zum Hals im Dreck stecken und feststellen, dass man uns in Lescarimark bezahlt, sollten wir uns vielleicht überlegen, uns ebenfalls eine Lizenz zu besorgen und als Steuereintreiber zu arbeiten.« »Es sieht auf jeden Fall so aus, als könne man damit gutes Geld verdienen«, stimmte Shiv mir zu, und sein Grinsen wurde breiter, als er das Spielbrett umdrehte und das Runenfeld zum Vorschein kam. Ich verteilte neun hervorragend gearbeitete Elfenbeinstäbchen auf dem Feld, und Shiv betrachtete sie eingehend. »Ist die Einlage Gold oder Bronze?« Er nahm eines der Stäbchen und drehte es langsam, um alle drei Seiten zu betrachten; die eckigen Symbole waren die von Hirsch, Eiche und Wald. Ich bin eher die ornamentalen Runenstäbe gewöhnt, wie man sie in Tormalin benutzt, und wo man kleine Bilder auf jede Rune malt. »Gold. Also, was spielen wir?« »Drei Runen, drei Würfe?«, schlug Shiv vor und warf die Himmelsrune, wobei die Sonne und der kleinere Mond auf den beiden oben liegenden Seiten zu sehen waren. »Dann sind männliche Runen stark.« Ich nickte. »Zählen wir Punkte oder Pence?« Shiv lächelte; es war ein breites, argloses Lächeln, sodass ich mich fragte, wie oft er eigentlich spielte. »Pence, würde ich sagen, um es ein wenig interessanter zu machen.« Ich schob die Knochen wieder in den Beutel und hielt ihn Shiv hin, damit er drei ziehen konnte. Die ersten paar Spiele waren interessant; Shiv mied immer wieder bescheidene Runenkombinationen aus seinen ersten Würfen in dem Versuch, noch eine höhere zu erzielen. Er zeigte keinerlei Nervosität, und 264
bald gewann er mehr, als er verlor. Fast hätte ich ihn verdächtigt, das Spiel zu beeinflussen, als er im ersten Wurf Wolf und Sturm warf, während ich nur mit Schilf und Harfe kontern konnte, und das nach meinem dritten Wurf. Gerade als ich glaubte, die Dinge würden sich allmählich zu meinen Gunsten entwickeln, zog ich die Himmelsrune, und sie landete mit beiden Monden oben, was diese Runde erst einmal beendete. »Hast du irgendwas, um deine Schulden aufzuschreiben?« Shiv grinste mich an. In gespieltem Entsetzen schüttelte ich den Kopf, während ich in der Schrankschublade kramte. Ich fand mehrere Holzkohlestäbe in eleganten Silberhaltern und ein paar Blatt Papier, die ich herausholte. Ich warf auch noch einen Blick auf die Rückseiten, doch die Blätter waren leer; Mellitha wollte offenbar vermeiden, dass neugierige Augen auch nur das Geringste über ihre Arbeit erfuhren. »Beim Spiel scheinst du kein Problem damit zu haben, dich zu einer Entscheidung durchzuringen.« Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich meine Verluste ausrechnete. Würde sich die Lage bessern, nun da die weiblichen Runen dominant waren? Aber wie ich mein Glück kannte, würde ich bei jeder Hand Berg und Trommel ziehen. Shiv hörte kurz auf, Dreier zu werfen, und faltete die Hände. »Es ist leicht, mutig zu sein, wenn nicht sogar tollkühn, wenn das Schlimmste, das dir passieren kann, der Verlust deiner Stiefel ist.« »Du warst geistesgegenwärtig genug, als wir versucht haben, aus dem Elietimmverlies zu fliehen.« Ich schüttelte den Kopf, lächelte freundlich und wählte meine Worte mit Bedacht. »Verstehe mich nicht falsch, doch auf der Fahrt warst du wie eine Katze, die einen Fisch will, aber keine nassen Pfoten.« 265
Shivs Gesichtsausdruck verdüsterte sich ein wenig. »Tut mir Leid, wenn ich ein wenig zögerlich bin. Es ist nun mal nicht leicht, Planirs Auftrag zu erfüllen und gleichzeitig zu vermeiden, dass wir den Elietimm in die Hände fallen.« Er schob die Runen mit unnötiger Kraft in den Beutel zurück und warf prompt Adler, Meer und Zephir im ersten Wurf. »Dann ist Planir also ein richtiger Einpeitscher, ja?« Ich rechnete die mageren Punkte gar nicht erst aus, die mir Stille, Pinie und Besen brachten. Auf jeden Fall, beschloss ich, würde ich mit Livak erst spielen, wenn mein Glück sich dramatisch verbessert hatte. Shiv schüttelte den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil. Er lässt dich wissen, wie weit oben auf seiner Liste deine Aufgabe angesiedelt ist – und im Allgemeinen auch, wie lange du Zeit hast, um Ergebnisse zu bringen. Aber er hört auch stets auf vernünftige Argumente und gibt dir Freiraum, falls nötig. Ich vertraue ihm; er hält alle Zügel fest in der Hand.« »Das klingt wie Messire.« Ich warf meine Runen und fluchte. »Wenn Planir dir also nicht gleich ins Genick springt, sobald du ein paar falschen Spuren folgst, warum hältst du dann Livak an so einer kurzen Leine? Lass sie dir doch etwas Arbeit abnehmen. Du weißt doch, dass sie eine Nase für solche Dinge hat.« Shiv wandte sich wieder dem Runenbeutel zu, zog seine drei und spielte nachdenklich mit ihnen herum. »Vergangenes Jahr ist es mir leichter gefallen, Risiken einzugehen, als ich noch nicht wusste, mit was wir es zu tun hatten. Nun aber weiß ich, in was für Fallen wir geraten könnten. Nach dem Schlag auf den Kopf mag ich ja nicht mehr alle Vögel auf dem Brett gehabt haben, aber ich habe gesehen, was diese Bastarde dir und Livak angetan haben.« Er blickte mich an. »Siehst 266
du? Du bist schon bei der Erwähnung blass geworden.« Das wollte ich auch gar nicht leugnen. Mit einer wütenden Geste warf Shiv seine Runen. »Geris Tod war schon schlimm genug; doch dass sie ihn so schrecklich gefoltert haben, hatte nichts mehr mit Verhör oder Bestrafung zu tun. Wer immer das getan hat – er hat es genossen, und ich möchte ihm nicht in die Hände fallen. Das wünsche ich noch nicht mal meinem schlimmsten Feind. Den schlimmsten Tod aber hatte Aiten, weil es Magie war, die ihm den Verstand geraubt hat – eine Magie, die ich nicht habe spüren, nicht bekämpfen, nicht einmal ansatzweise habe verstehen können, bis heute nicht.« Verzweiflung schlich sich in seine Stimme. »Ich könnte genauso gut wie meine Großmutter Runen am Kamin werfen und versuchen, daraus etwas zu lesen. Würde ich mich auch nur an die Hälfte von dem erinnern, was sie getan hat, ich würde es tatsächlich versuchen, so verzweifelt bin ich schon!« Ich lachte, schluckte das Lachen jedoch sofort herunter, als ich sah, dass Shiv es todernst meinte. Er blickte mich fragend an. »Werft ihr in Tormalin keine Runen, um die Zukunft vorherzusagen? Ihr müsst doch zumindest Geburtsrunen werfen, wenn schon nichts anderes.« Ich suchte nach einer Antwort. »Ich glaube, die Mutter meines Vaters hat das gemacht, als wir noch Säuglinge waren.« Ich suchte die Runen durch, bis eine mich an etwas erinnerte. »Die hier war es, ja, diese hier. Die Stille, die Trommel und die Erde, auch wenn ich keine Ahnung habe, was das für mich bedeutet.« Shiv nickte pflichtschuldig, doch in Gedanken war er schon weiter. »Ich bin Magier, und ein guter obendrein. Ich arbeite für Planir, weil ich glaube, dort am ehesten Gutes tun zu können. 267
Doch wenn ich mein Talent dafür einsetzen würde, mein Element eingehender zu studieren, könnte ich mich aufgrund meiner Leistungen in einem Jahr selbst in den Rat wählen lassen. Aber schick mich gegen diese Bastarde von jenseits der Winterstürme, und ich fürchte mich so sehr vor ihrer verfluchten Hexerei wie irgendein Bauerntölpel, der zum ersten Mal sieht, wie ein Feuer heraufbeschworen wird. Ich hasse es, Rysh, ich hasse es!« »Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn du keine Angst hättest«, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich auch nur daran denke, dass einer dieser Kerle wieder in meinen Kopf eindringt, mach ich mir die Hose voll. Du darfst dich nicht davon verrückt machen lassen, das ist der Punkt; sonst verschaffst du ihnen einen Vorteil.« »Das weiß ich«, sagte Shiv. »Ich fühle mich aber trotzdem so.« »Dann hör auf zu fühlen.« Ich beugte mich vor und wischte die unwichtig gewordenen Runensteine beiseite. »Verschließ das Gefühl in deinem Hinterkopf und lass es nicht wieder heraus, bis du genügend Zeit hast, darüber nachzudenken. Und was den Rest betrifft ... Warum versuchst du alles allein? Halice und Livak kennen diese Stadt; sie kennen viele Leute, und ich habe jede zweite Jahreszeit damit verbracht, Informationen für Messire zu sammeln. Es gibt so Vieles, das wir tun könnten, anstatt auf unseren Ärschen zu hocken und darauf zu warten, dass der Erzmagier uns mit seinen Anweisungen beglückt.« »Livak scheint dahingehend bereits eine Entscheidung getroffen zu haben«, bemerkte Shiv säuerlich. »Überrascht dich das? Nun, ich gehe davon aus, dass sie sich auf den Trupp in schwarzem Leder konzentrieren wird; sie be268
trachtet es nicht als besonders freundlich, wenn jemand einen Preis auf ihren Kopf aussetzt. Ich habe über diesen zweiten Trupp nachgedacht – über die, die sich ein wenig mehr an ihre Umgebung anzupassen versuchen. Wie wäre es, wenn ich das Schwert zu ein paar Händlern bringen würde? Vielleicht können die mich auf ihre Fährte führen. Ich würde gerne wissen, wo sie sind, und sei es auch nur, um mich selbst zu beruhigen. Und wer weiß, ob wir nicht den einen gegen den anderen Trupp ausspielen können.« »Das ist durchaus eine Möglichkeit.« Shiv blickte nachdenklich. Ich stand auf. »Dann ist es also abgemacht. Ich werde mal sehen, ob ich eine Spur von ihnen finden kann.« »Vergiss nicht, wie viel du mir aus diesem Spiel schuldest«, rief Shiv mir hinterher. Als ich mich auf dem Weg zum äußeren Hof befand, platzte Viltred aus einer Tür heraus. »Wo gehst du hin?«, wollte er wissen. »Mir die Haare schneiden lassen.« Ich war ihm keine Rechenschaft schuldig; außerdem konnten meine langen Locken tatsächlich einen Haarschnitt vertragen, wenn wir noch länger in dieser Stadt bleiben wollten. Allein der Gedanke an all das Ungeziefer, das in einer so dicht bevölkerten Stadt sein Unwesen trieb, verursachte mir heftigen Juckreiz am Kopf. Ich beschloss, mich nach einem Barbier umzuschauen, während ich zu den östlichen Anlegestellen ging, wo ich bestimmt einen Kaufmann finden würde, der bereit war, für ein, zwei Münzen einen Brief für mich auf der anderen Seite an den kaiserlichen Kurierdienst zu übergeben. Es war ein gutes Gefühl, wieder allein auf der Straße zu sein. Die Sonne ließ die weiß getünch269
ten Häuser strahlen, doch heute trieb eine schwache Brise Wolken vom Meer heran. Ich hasste das Nichtstun. Meinem Vater zufolge hatte ich als Kind meine Mutter an regnerischen Tagen fast zum Wahnsinn getrieben. Während ich nun durch die Straßen ging, hielt ich Augen und Ohren offen, machte mir aber keine allzu großen Sorgen. Ich kannte mich in Relshaz nicht aus, doch in all den Jahren, die ich für Messire gearbeitet hatte, hatte ich schon genug fremde Orte gesehen. Der Dreck in den Rinnsteinen ist überall gleich. Schließlich sagte ich mir, dass mein Brief warten könne, bis ich genügend Neuigkeiten gesammelt hatte. Also ging ich nicht mehr weiter zur Fähre, sondern ins Goldschmiedeviertel, und schaute mich nach einem Händler um, der an meinem Schwert interessiert sein könnte. Das wäre mir leichter gefallen, hätte ich Mellitha um Rat gefragt, doch ich war sicher, auch so zurechtzukommen. Als eine verräterische Stimme in meinem Hinterkopf flüsterte: »Du hättest auch warten können«, sperrte ich sie in den hintersten Winkel meines Geistes. Ein paar stämmige Kerle vor der Tür eines Auktionshauses ließen darauf schließen, dass sich hinter den vergitterten Fenstern einiges an Wertgegenständen befand. Ich ging die Straße hinauf, betrachtete bei jedem Geschäft die ausgestellten Waren und kam zu dem Schluss, dass das Auktionshaus das teuerste Geschäft in der näheren Umgebung war. Und wichtiger noch, dieses Auktionshaus schien mit allem zu handeln. Ich stellte mich dem drohenden Blick der Türsteher nicht – schließlich wollte ich nicht, dass diese Wachhunde sich bellend auf mich stürzten; stattdessen ging ich einfach hinein und wartete darauf, dass jemand auftauchte, um mich davon zu überzeugen, mich von meinem Geld zu trennen. Tatsächlich dauerte es 270
kaum einen Augenblick, und ein adrett in blaue Seide gekleideter kleiner Mann trat neben mich. »Kann ich Euch behilflich sein? Wollt Ihr kaufen oder verkaufen?« »Ich bin zufällig gerade vorbeigekommen und habe mich gefragt, ob Ihr mir vielleicht etwas zu diesem Schwert hier sagen könnt.« Ich lächelte ihn an und tat mein Bestes, um Camarl D’Olbriots einzigartige, über Generationen entwickelte Erziehung nachzuahmen. »Es wäre mir ein Vergnügen, mein Herr.« Der Mann besaß die seltene Gabe, überschwänglich zu sein, ohne aufdringlich zu wirken. Seine Augen leuchteten auf, als ich mein Schwert abschnallte und es ihm gab. »Das ist wirklich sehr interessant.« Er klang tatsächlich so, als würde er es ernst meinen. »Dieses Wappen hier ... gehört es zum Haus D’Alsennin?« Sein Tormalin war vollkommen akzentfrei; es war eine Schande, dass ich noch nie von diesem Haus gehört hatte. »Wie seltsam.« Ich bemerkte eine gewisse, aristokratische Verlegenheit. Der kleine Mann strich mit dem Finger über das Wappen, das in die Scheide eingraviert war. »Das Haus ist zusammen mit dem Imperium untergegangen. In der Hauptlinie war es, glaube ich, schon einige Zeit zuvor ausgestorben, und was von seinen Besitzungen übrig blieb, ging an eine Nebenlinie der Tor Aider.« Ein Schauder lief mir über den Rücken, den ich nicht erklären konnte. Gehörten die Tor Aider zu den Vorfahren von Messire? Ich wusste, dass sein Haus Verbindungen zu mehreren anderen hatte, die das Wort »Tor« im Namen trugen, um damit 271
zu zeigen, dass sie einst den Kaiserthron innegehabt hatten, aber ich glaubte nicht, dass Tor Aider auch dazugehörte. Inzwischen sprach der Kaufmann über die Gravuren auf dem Schwert. »Delathan, ja, das würde sicherlich passen. Er war ein Schmied, der in den letzten Jahren des Imperiums gearbeitet hat. Sagt mir, Junker, ist das ein Familienerbstück?« »In gewisser Hinsicht, von einer Nebenlinie.« Ich nahm das Schwert wieder an mich und ließ mir genügend Zeit, es wieder umzuschnallen, um dem forschenden Blick des Mannes zu entgehen. Doch er konnte seine Neugier nicht unterdrücken und starrte weiterhin unverwandt auf meine Waffe. »Was würde es bei einer Auktion bringen? Nur aus Interesse.« Der Mann war höflich genug, mich trotz meiner Erscheinung, die ganz und gar nicht aristokratisch war, beim Wort zu nehmen. »Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Gebote bis zweitausend Kronen bekommen würdet. Wir könnten es für Euch verkaufen, solltet Ihr Euch aus irgendeinem Grund davon trennen wollen, aber ich muss Euch ehrlicherweise sagen, dass wir eigentlich nicht mit Schwertern handeln; andernorts würdet Ihr vermutlich noch einen weit höheren Preis erzielen. Wir haben eigentlich keine Kunden, die nach solchen Dingen suchen. Wenn Ihr hinter den Brunnen auf der Golfseite die zweite Straße links abbiegt, findet Ihr Waffenhändler«, fügte er ein wenig widerwillig hinzu. »Vielen Dank.« Ich verabschiedete mich von dem Mann und schlenderte die Straße hinunter in die Richtung, die er mir gewiesen hatte. Schließlich stieß ich auf eine Ansammlung von Händlern, die alles verkauften, vom Damendolch mit Elfen272
beingriff bis hin zum Breitschwert, wie Soldaten es benutzen, um sich jemanden weit genug vom Leib zu halten und gleichzeitig beachtlichen Schaden auszuteilen. Ich beschloss, nach einer schönen kleinen Klinge für Livak zu suchen; etwas zu kaufen, war wenigstens ein Grund, hier zu sein. Außerdem hielt ich schon seit längerer Zeit nach einem Geschenk für sie Ausschau. Achtlos ging ich an einem Laden vorbei, an dessen beiden Eingängen sich modische Jünglinge drängten, um unpraktische Rapiere auszuprobieren. In dem Laden ging es zu geschäftig zu, und er sah zu ehrlich aus, als dass ich glaubte, dort mehr über mein Schwert und potenzielle Käufer zu erfahren, als ich bereits wusste. Ein eher unscheinbares Geschäft abseits der Hauptstraße sah da schon vielversprechender aus, bis ich ein Gruppe von Kerlen sah, ein unrasierter Haufe, die in einer Gasse gegenüber die Zeit totschlugen. Als ein Kunde sich mit freundlichem Schulterklopfen von dem pockennarbigen Handwerker verabschiedete, löste sich einer aus der Gruppe von Schlägern und ging dem ahnungslosen Kunden hinterher. Ich merkte mir den Namen über der Ladenfront, um ihn später Mellitha zu geben. Ich war sicher, sie konnte die Information nutzen, um sich den guten Willen der Stadtwache zu verdienen. Beiläufig, aber auffällig legte ich die Hand auf den Schwertknauf und ging weiter. Wieder auf der Hauptdurchgangsstraße blieb ich stehen und fragte mich, wohin ich mich jetzt wenden sollte; mein ursprünglicher Überschwang hatte ein wenig nachgelassen. Plötzlich überkam mich wieder ein Gefühl des Verlusts. Ich vermisste Aiten, der in solchen Situationen stets irgendwo in einem Hauseingang gewartet, mir den Rücken gedeckt und nach mir dieselben Leute noch einmal auf andere Art befragt hatte, wäh273
rend ich mich nach Leuten umschaute, die ein wenig zu viel Interesse an ihm zeigten. Das hier war eine Arbeit für zwei, und da Halice durch ihr Bein verhindert und keiner der Zauberer zuverlässiger als eine Wachsrune war, hätte ich vielleicht auf Livak warten sollen. Hm, dachte ich, so hast du also nichts, wenn du zurückkommst, während sie den Namen der Taverne anbringen wird, wo die Elietimm wohnen, und uns erzählt, was sie zum Frühstück gegessen haben. Ich versuchte, über mich selbst zu lachen, doch eine wachsende Unruhe bemächtigte sich meiner, die ich nicht unterdrücken konnte. Ich bog in eine Gasse ein und durchquerte einen Hinterhof, um es in einer anderen Nebenstraße zu versuchen. Der Karren eines Textilhändlers bot mir eine gewisse Deckung, und dort wartete ich eine Weile, um zu sehen, ob mir jemand durch die Gasse folgen würde. Zwar kam niemand, dennoch sträubten sich mir die Nackenhaare. »Man könnte glauben, ein Geist wäre hinter dir her«, spottete ich, wütend über mich selbst. In dieser Straße gab es eine Reihe schlichter Metallhandwerker. Ich ging zu einer Werkstatt, hinter deren Fenstern ich eine Auswahl sowohl alter als auch neuer Schwerter sah. Kurz blieb ich stehen, zerzauste mein Haar, zupfte das Hemd an ein paar Stellen aus der Hose und ging mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf hinein. »Guten Morgen«, lallte ich im Tonfall des Hafenabschaums, vor dem meine Mutter mich in meiner Jugend stets gewarnt hatte. »Morgen ist schon vorbei, Freund. Einen guten Tag wünsche ich.« Der Schmied war ein stämmiger Mann, dessen muskulöse Arme von Brandnarben übersät waren, und der Blick seiner 274
Augen war so warm wie feuchte Kohle. »Ich habe mich gefragt, was Ihr mir über dieses Schwert sagen könnt.« Ich lächelte ihn schief an und scharrte mit den Stiefeln im Staub. Der Schmied griff nach der Klinge und schürzte wenig beeindruckt die Lippen. »Wo hast du das her?« »Von meinem Bruder geliehen«, schniefte ich und erinnerte mich daran, wie ich mal eine lüsterne Steinfigur stibitzt hatte, von der Mistal geglaubt hatte, er hätte sie sicher in der Werkstatt unseres Vaters versteckt. »Die Blätter auf dem Metall, das ist Delathans Stil, aber es stammt nicht aus dem Alten Reich.« Der Schmied zuckte mit den Schultern. »Es ist allerdings eine gute Kopie, und ich gebe dir zweihundert Kronen dafür – Tormalinprägung.« »Das ist eine Menge Geld.« Ich grinste. »Aber ich bin noch nicht sicher, ob ich es jetzt schon verkaufen will.« Der Schmied verzog das Gesicht und gab mir das Schwert zurück. »Warum verschwendest du dann meine Zeit?« Ich machte einen Buckel und scharrte noch ein wenig mehr mit den Füßen. »Nun, ein Mann weiß nie, wann er ein wenig Geld gebrauchen kann, besonders in einer Stadt wie dieser.« Ich schniefte noch ein wenig, grinste wieder, und der Schmied lächelte mich breit an. »Das ist wohl wahr. Wenn du ein nettes, sauberes Mädchen suchst, versuch es im ›Loch in der Wand‹ ; das ist nicht weit vom Laternenweg.« Ich nickte übertrieben. »Danke für den Hinweis.« Der Schmied tat, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen; ich musste zugeben, dass er kein schlechter Schauspieler war. »Ich glaube, ich hätte da einen Kunden, der interessiert 275
wäre, dir ein Angebot zu machen. Wo, sagtest du, wohnst du?« »Im Federbüschel«, antwortete ich. »Nochmals Danke.« Ich schlurfte aus der Werkstatt und um die nächste Ecke, bevor ich mich wieder aufrichtete. Nun hatte ich auf jeden Fall jemanden aufgescheucht, aber mir war natürlich klar, dass es ein hartes Spiel sein würde. Hätte ich Aiten dabei gehabt, hätte ich ihn den freundlichen Schmied beobachten lassen, während ich ein Auge auf die Taverne ›Zum Federbüschel‹ geworfen hätte. Livak wäre vielleicht in der Lage gewesen, Aits Platz einzunehmen, aber mir gefiel die Vorstellung nicht, dass sie sich allein in einer solchen Gegend herumtrieb. Ich hätte unmöglich bei ihr bleiben können, nicht ohne Verdacht zu erregen, selbst wenn wir es irgendwie hätten einrichten können, dass Halice das ›Federbüschel‹ überwachte. Natürlich zweifelte ich nicht daran, dass Livak unter normalen Umständen auf sich selbst aufpassen konnte; ich wollte nur nicht riskieren, dass ein Elietimm sie entdeckte, gefärbtes Haar hin oder her. Meine Unruhe kehrte wieder. Am Ende der Gasse drehte ich mich um, blickte in Richtung Schmiede und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Plötzlich schien mein Kopf zu kochen, und ich schluckte; meine Kehle war wie ausgetrocknet. Es war ein warmer Tag, gewiss; aber so lange war es nun auch wieder nicht her, seit ich zum letzten Mal etwas getrunken hatte. Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht, was die Dinge nur noch schlimmer machte. Ich sah alles verschwommen, und die Geräusche der Straße klangen seltsam verzerrt. Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Mein Hemd klebte an mir auf der Haut, als ich gegen eine Wand sank und die Beine mein Gewicht plötzlich nicht mehr tragen konnten. Das Blut pochte in meinem Kopf wie das Dröhnen von Misaens Hammer, und mein 276
Hals war wie zugeschnürt, während ich gegen die Panik ankämpfte, die mich zu ersticken drohte. Als ich Schritte neben mir hörte, packte ich mit gefühllosen Fingern mein Schwert; dann öffnete Saedrin die Schatten, die mich verschlangen.
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Der Äußere Hof der Seehalle in der verborgenen Inselstadt Hadrumal 30. Nachfrühling
Er war eine imposante Gestalt: groß, ganz in schwarze Seide gehüllt, mit gestickten scharlachroten und goldenen Flammen im Nacken, die selbst dem unerfahrensten Lehrling verrieten, dass er ein Meister des Feuers war. Ein Rubin in einer fein gearbeiteten Drachenbrosche funkelte auf seiner Brust, und das Rotgold seines Amtsrings fing das Sonnenlicht auf, als er die Hand hob, um seinen kastanienbraunen Mantel zurechtzuzupfen. Dieser Mantel und der makellose Schnitt seines Gewands verbargen viel von seiner rundlichen Gestalt, doch bedauerlicherweise betonte die im Augenblick herrschende Mode hoher, geschlossener Kragen seinen viel zu dicken Hals. Mehrere Lehrlinge sprangen ihm rasch aus dem Weg, während er mit einem ausgesprochen wütenden Gesichtsausdruck über den Hof stapfte. »Erzmagier!« Ein schlanker Mann in schlichter dunkler Alltagskleidung drehte den Kopf herum – eine unscheinbare Gestalt, wäre da nicht die Aura unerschütterlichen Selbstbewusstseins gewesen. »Herdmeister.« Planir nickte höflich; dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Trio nervöser Novizen. Kalion blieb keine andere Wahl, als darauf zu warten, dass der Erzmagier sein Gespräch beendete. Steif stand er da und legte die Stirn in immer tiefere Falten, während seine Wangen immer röter wurden, was ganz und gar nicht zu seiner opulen278
ten Kleidung passte. »Es war mir ein Vergnügen. Vergesst nicht – meine Tür steht euch jederzeit offen.« Planirs freundliches Lächeln vertiefte die kleinen Falten um seine Augen, deren Blick für einen Moment am kleinen Hinterteil und den wohl geformten Knöcheln eines der Mädchen haften blieb. Angesichts des Furcht einflößendes Blicks Kalions zogen die Lehrlinge sich rasch zurück. »Guten Morgen, Herdmeister.« Planir strich sich mit der Hand über das kurz geschorene Haar und drehte sich zu Kalion um. »Lasst uns in Euer Arbeitszimmer gehen. Es ist liegt am nächsten.« Bevor der Feuermagier etwas erwidern konnte, marschierte Planir schon auf den Hof hinaus und Hadrumals gut gepflasterte Hauptstraße hinunter. Kalion stapfte dem Erzmagier hinterdrein, die Lippen wütend aufeinander gepresst, bis sie einen weiteren Hof inmitten weißer Steinbauten erreichten, wo er einen Schlüssel aus der Tasche zog, um die Tür zu einem kleinen Turm zu öffnen, dessen Spitze steinerne Flammenzungen zierten. »Was ich gerade erfahren habe, hat mich sehr erregt ...«, begann Kalion, als sie die Stufen hinaufstiegen. »Das ist schwer zu übersehen«, bemerkte Planir gelassen. »Deshalb habe ich auch vorgeschlagen, dass wir Eure Sorgen in der Abgeschiedenheit Eurer Gemächer diskutieren.« Kalions schwere Stiefel hallten auf dem dicken Eichenholz der Treppe wider, die zu seinen prunkvoll ausgestatteten Räumen führte. »Was ist mit diesem Mann, diesem Ryshad passiert?«, wollte er ohne Umschweife wissen, als er die Tür hinter Planir schloss, seinen Mantel achtlos in die Ecke warf und sich auf einem 279
prächtigen Brokatstuhl niederließ. »Shiwalan versucht gerade, das herauszufinden, Herdmeister«, erwiderte Planir in sanftem Tonfall, hob den Mantel auf und hing ihn an den Kleiderständer. »Er versucht es?«, schnaufte Kalion. »Haben diese Eisländer den Mann, oder haben sie ihn nicht?« Planir breitete die Hände aus. »Bis jetzt wissen wir das nicht.« »Wir müssen es herausfinden«, erklärte Kalion entschlossen. »Die Angelegenheit muss sofort vor den Rat von Relshaz gebracht werden. Ich habe Kontakte in der Stadt, Männer, deren Ansehen groß genug ist, um etwas zu bewegen. In ein paar Tagen dürfte ich eine Antwort für Euch haben.« »Danke, Herdmeister, aber ich glaube nicht, dass das im Augenblick notwendig ist.« Planirs samtene Höflichkeit besaß einen stählernen Kern. Kalion blickte ihn unerschrocken an. »Euer Mann, dieser Shiwalan, hat das vermutlich wertvollste Artefakt verloren, von dem wir glauben, dass es mit der verlorenen Kolonie in Verbindung steht – und Ihr haltet sofortige Maßnahmen für unnötig? Dieses Schwert ist einer der wenigen Gegenstände, von denen wir mit Sicherheit wissen, dass sie einem Mann oder einer Frau gehört haben, die mit Den Fellaemion gesegelt und dann verschwunden sind.« »Ich ziehe es vor, Shiwalan Zeit zu geben, sich diskret über Ryshads Verbleib zu erkundigen.« Planir machte es sich auf einem Ledersessel bequem. »Ich möchte vermeiden, dass die Relshazri uns nach der Bedeutung des Mannes fragen oder warum er für uns so wichtig ist. Das ist meine Entscheidung.« Der Tonfall des Erzmagiers war nach wie vor sanft, aber un280
erbittlich. Kalion ging zu einer Anrichte, wo eine Kristallkaraffe in einem Kreis rotstieliger Gläser stand. »Likör?« »Ja, gern. Einen Pflaumenlikör.« Planir nahm das Glas mit einem warmen Lächeln entgegen, und Kalion setzte sich auf einen hochlehnigen, reich verzierten Stuhl und richtete seine Robe. »Wenn die Elietimm den Mann haben, dann nur, weil sie über die Fähigkeit verfügen, die Geheimnisse des Schwerts zu entschlüsseln.« Kalion beugte sich vor; er wirkte angespannt. »Wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen wissen, womit wir es zu tun haben. Ich habe immer wieder gesagt, dass wir die Bibliotheken auf dem Festland gründlicher durchforsten müssen, dass wir Zugang zu den verbliebenen Tempeln erwirken müssen, vielleicht sogar zu den Archiven der Kaufmannsgilden, am besten auch zu denen des caladhrischen Parlaments. Wir müssen wissen, ob sie Informationen haben, die wir verwenden können. Diese tröpfchenweise hereinkommenden Berichte irgendwelcher entrückter Gelehrter sind einfach nicht gut genug.« »Ich bin sicher, dass wir erfahren werden, was wir erfahren müssen, so schnell die Diskretion es erlaubt.« Planir wischte einen Tropfen vom Fuß seines Glases und stellte es vorsichtig auf einen polierten Weinkühler. »Aber wie dem auch sei, Herdmeister ... Wie würdet Ihr Euch beispielsweise vor den Kaufleuten von Col rechtfertigen, wenn Ihr Zugang zu ihren vertraulichen Archiven verlangt? Wie würdet Ihr es ihnen erklären?« »Ich glaube, dass ein solches Ansinnen im Namen des Erzmagiers keiner Erklärung bedarf.« Kalion schien die Frage wirklich für unsinnig zu halten. 281
Planir nickte und schürzte die Lippen. »Und was würdet Ihr dann gegen die Unzahl von Gerüchten unternehmen, die sich im ganzen alten Reich und vielleicht sogar bis durch den Großen Wald nach Solura verbreiten? Gerüchte über einen geheimen Plan all dieser ach so mächtigen Zauberer, die jenseits der verzauberten Nebel in ihrer Inselstadt hausen, die von schrecklichen Dämonen bewacht wird? Wobei würdet Ihr mir bessere Chancen einräumen: einen magiegeborenen König auf den Thron von Lescar zu schmuggeln, oder ... sagen wir mal ... die Kontrolle über den Diamantenhandel vom Aldabreshin-Archipel zu übernehmen?« Kalion blickte den Erzmagier verwirrt an. »Unterschätzt niemals die Macht Unwissender, wenn sie in großer Zahl sind, Herdmeister«, sagte Planir. »Wenn die Menschen nicht den Grund für irgendetwas kennen, erfinden sie ihn. Ich habe nicht die Absicht, jemandem außerhalb des Rates – von unseren Kontaktleuten abgesehen – irgendetwas über die Gefahr zu erzählen, die den östlichen Landen droht.« »Aber wir müssen etwas tun!« Kalion warf hilflos die Hände in die Höhe. »Ich habe die ganze letzte Jahreszeit damit verbracht, ein elementarmagisches Mittel gegen diese verfluchte Ätherhexerei zu finden; dabei hätte ich genauso gut versuchen können, den Mond mit einem Schmetterlingsnetz zu fangen.« Planir gestattete sich ein leichtes Lächeln ob dieser Metapher aus alten Kindergeschichten. »Eure Bemühungen mögen keine Erfolge gezeitigt haben, aber das allein mehrt schon unser Wissen. Wenn Ihr, der oberste Herdmeister, nicht herausfinden kann, wie die Ätherhexer ein Feuer entzünden, ohne auf das Element an sich zurückzugreifen, dann kann es niemand.« Sein Tonfall war ernst, und Kalion grunzte anerkennend. 282
»Das ist ja alles schön und gut, Erzmagier, aber wenn wir kein Mittel gegen diese unheiligen Hexer finden, wird die Bedrohung immer größer.« »Wir werden eine Möglichkeit finden, sie mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen«, erklärte Planir mit fester Stimme. »Auch wenn wir Magier nichts mit diesen ätherischen Beschwörungen anfangen können, so gibt es unter den Nichtmagiegeborenen genügend fähige und vertrauenswürdige Menschen, die wir für unsere Sache einsetzen können. Wir müssen nur die Antworten finden, und ich bin davon überzeugt, dass einige in diesen Artefakten aus dem Alten Reich verborgen sind. Und in den Träumen, die sie bringen, verstecken sich viele Geheimnisse.« »Und wie wollt Ihr die erreichen?« Kalion blickte ihn ernst an. »Eure dahingehenden Berichte klingen bisher nicht gerade ermutigend, Erzmagier. Sagt – hat dieses Mädchen aus Vanam schon seinen Verstand wieder gefunden? Sie in so einen tiefen Schlaf zu versetzen, mag ihr ja Träume beschert haben, in denen alles zu finden ist, was wir wissen müssen, aber solange sie nicht wieder aufwacht, nützt es uns gar nichts.« Planirs Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Wir sind zuversichtlich, dass wir sie wieder ins Leben zurückholen können. Vieles spricht dafür. Bis jetzt schläft sie nur, ist ansonsten aber gesund.« »Also richten sich Eure Bemühungen in zwei Richtungen: Zum einen haltet Ihr nach Möglichkeiten Ausschau, Äthermagie zu kontrollieren, und zum anderen sucht Ihr nach Mitteln, diejenigen zu heilen, die den Verstand verlieren, wenn eins Eurer Experimente scheitert.« Kalions Tonfall war hart und unnachgiebig. »Das macht es doch nur umso dringender, erforderliches Material zu finden, oder?« 283
»Ich glaube, dass übermäßige Hast bei den wenigen Tragödien, an die Ihr mich zu Recht erinnert, eine große Rolle gespielt hat.« Planir stand auf und füllte sein Glas wieder auf. »Noch ein wenig Likör?« Kalion ließ sein Getränk unberührt. »Dann wollt Ihr also so weitermachen wie bisher? Ist meine Meinung denn gar nichts wert? Was ist mit dem Rat?« Planir lehnte sich entspannt zurück und lächelte beruhigend. »Solange die Elietimm keinen offenen Angriff unternehmen oder einen Brückenkopf auf dem Festland errichten, besteht die größte Gefahr durch Äthermagie, wenn wir sie bei unseren Versuchen ohne ausreichendes Wissen einsetzen. Die vollständigsten Informationen, die wir darüber besitzen, stammen aus den Träumen jener Studenten, die wir von den Universitäten von Col und Vanam rekrutiert haben, besonders von jenen, die den ursprünglichen Besitzern der entsprechenden Gegenstände am ähnlichsten sind, soweit wir herausfinden konnten. Ich bin sicher, der Rat wird verstehen, dass wir es hier mit einem langwierigen Prozess zu tun haben. Wir wissen, dass es einige Zeit dauert, bis die Träume sich manifestieren, und wir haben mehr Artefakte als geeignete Freiwillige für dieses Projekt, da wir per Definition keine Magier dafür nehmen können. Wir tun, was wir können, um passende Gelehrte dafür zu interessieren, aber wenn wir es allzu öffentlich machen, werden Gerüchte die Folge sein – vermutlich über ehrgeizige Zauberer, die Unschuldige zu geheimnisvollen Ritualen verführen, Orgien womöglich, Exzesse der Fleischeslust. Ihr kennt doch die Phantastereien, die man sich über uns erzählt.« Kalion konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das ist ja alles schön und gut, Erzmagier, aber ...« 284
Planir hob die Hand. »Ihr könnt nicht leugnen, dass solche Dinge in der Vergangenheit bereits vorgekommen sind, Kalion. Erinnert Euch an die Geschichten, die man sich noch immer über Lauder den Wohltäter erzählt. Stellt Euch vor, wie wild diese Geschichten erst wären, wäre es den Magiern damals nicht gelungen, seine schlimmsten Exzesse zu verbergen.« Kalion schauderte in echtem Entsetzen, und Planir fuhr fort, bevor der rundliche Magier seine Fassung wiedererlangen konnte. »Ihr habt viele Stunden im Rat verbracht, Kalion, und uns Euren Standpunkt dargelegt, dass die Magie eine größere Rolle in der Welt spielen sollte. Ich stimme mit Euch überein; das wisst Ihr. Deshalb will ich auf jeden Fall vermeiden, dass ein voreiliger Schritt, um das Rätsel der Elietimm zu lüften, all die alten Vorurteile und Ängste wieder zum Leben erweckt, die einige unserer Vorgänger in die Isolation getrieben haben.« Der Herdmeister seufzte. »Davon hatten wir in unserer Jugend schon genug; da habt Ihr Recht. Als der Wolkenmeister der Neuen Halle das Chaos beseitigen musste, das Azazir und seine Clique mit dem Wetter in Caladhria veranstaltet haben.« Planir nickte und erhob sich. »Ich verstehe Eure Sorgen, Kalion, aber Ihr müsst verstehen, dass ich in verschiedenen Töpfen rühren muss. Wenn einer von ihnen überkocht, war alle Alchemie umsonst.« Kalion hob den Blick. »Ich habe schon immer gesagt, dass Erdmagier nicht mit Feuer spielen sollten«, bemerkte er mit einem Hauch von schwerfälligem Humor. »Ihr könnt immer zu mir kommen, wenn Ihr es für nötig erachtet.« Planir verließ den Raum und ging zu seinem eigenen Reich 285
hoch oben im uralten Turm, von dem aus man sämtliche Hallen überblicken konnte, alte wie neue, und der unmittelbar an der Straße lag, die sich zum Hafen hinunterwand. Er machte nicht den Eindruck, als hätte er es sonderlich eilig; dennoch überbrückte er die Distanz schneller, als die meisten es gekonnt hätten. Der Erzmagier stieg die dunkle Treppe hinauf, wobei er zwei, drei Stufen auf einmal nahm, und stieß schließlich die schwere Tür zu seinem Studierzimmer auf. Ein junger Mann sprang auf und hätte dabei fast den Tisch voller Pergamente umgestoßen, an dem er gearbeitet hatte; im letzten Augenblick gelang es ihm, eine breite Silberschüssel festzuhalten, die schon auf dem Weg nach unten war. Vom Wasser in dieser Schüssel ging ein bernsteinfarbenes Glühen aus. »Wo ist der Mann von D’Olbriot, Usara?«, wollte Planir wissen. Seine Augen funkelten. »Genauer gesagt: Wo ist das verfluchte Schwert?« »Ich weiß es nicht.« Es gelang dem blassen Magier, seine Stimme zu beherrschen; allerdings konnte er es nicht vermeiden, dass ihm Röte in die Wangen stieg. »Wenn du mit der Weitsicht nicht zurechtkommst, überlass es Shannet. Das ist ihre Spezialität.« Planirs Tonfall war unnachgiebig. »Ich weiß nicht, was das nutzen sollte. Sie kennt den Mann nicht. Und wir haben nichts, das ihm gehört und das wir als Fokus benutzen könnten. Ich habe ihn wenigstens einmal auf dem Schiff getroffen, das uns vom Meer zurückgebracht hat,« sagte Usara trotzig. »Wir müssen ihn finden, Sar, und zwar schnell!«, warnte Planir. »Ich weiß.« Der jüngere Mann straffte seine schmächtigen 286
Schultern. »Ich habe vor einiger Zeit mit Shiv gesprochen. Er hat Mellitha davon überzeugt, jedweden Gefallen einzufordern, um eine Spur von ihm zu finden. Es wird sie eine Menge Gefälligkeiten kosten, aber sie ist zuversichtlich, dass es etwas nützt.« Der Erzmagier verzog das Gesicht. »Wenn sie Gefälligkeiten verteilt und einfordert, wird es mich eine Menge Geld kosten. Ich hoffe, dass sie Verstand genug besitzt, nicht zu verbreiten, dass es sich um eine Magierangelegenheit handelt. Wenn die Leute sie mehr als Magierin denn als Steuereintreiberin betrachten, ist sie für uns nicht mehr von Nutzen.« »Du musst schon ein bisschen Vertrauen in sie haben. Ich habe hier übrigens einen Brief für dich; er kam mit dem Schiff aus Col.« Usara drehte sich zu einem Beistelltisch um und gab Planir ein dickes Päckchen mit mehreren schmuckvollen Siegeln. »Das ist das Wappen der D’Olbriot, nicht wahr?« »Ja, danke, Sar.« Planir betrachtete den Brief und stöhnte verzweifelt auf. »Was soll ich dem guten Sieur nur sagen? Wie soll ich ihm erklären, dass ich sein Schwert verloren und nicht die geringste Ahnung habe, wo es ist?« »Ich glaube, das Verschwinden seines Mannes dürfte ihn weit mehr beunruhigen.« Usara wich Planirs Blick aus, doch in seiner Stimme lag leichter Tadel. »Das auch.« Planir nickte knapp. »Wann segelt das Schiff wieder ab? Weißt du, ob sie auf eine Antwort warten?« »Ja, sie warten«, bestätigte Usara. »Der Kurier hat gesagt, er besäße die Vollmacht, das Schiff so lange wie nötig aufzuhalten.« »Ich glaube, ich werde an Camarl schreiben«, sagte Planir nachdenklich. »Er hat das Ohr des Sieurs, und auf seine Diskre287
tion kann man sich verlassen. Sag mir, ob ...« Seine Frage verhallte, als die schwere Tür so heftig aufgestoßen wurde, dass die Scharniere knarrten. Ein hagerer alter Mann lehnte sich gegen den Türrahmen und versuchte, seinen rasselnden Atem zu beruhigen. »Hol mir etwas zu trinken, Sar, und räume ein paar von den Pergamenten weg, damit ich mich setzen kann.« »Guten Morgen, Wolkenmeister Otrick. Darf ich Euch sagen, wie sehr es mich freut, dass Ihr uns mit Eurer Gesellschaft beehrt?« Planirs Tonfall war spöttisch, doch er bot dem alten Mann den Arm an, während Usara rasch einen Stuhl freiräumte. »Werd ja nicht frech, du hochnäsiger Kohlenschaufler, sonst verwandele ich dich in einen Hasen. Danke, Sar.« Otrick leerte das Glas Branntwein und hustete so laut, dass ein fernes Echo davon in Usaras Weitsichtschüssel widerhallte. Die tiefen Falten im Gesicht des Wolkenmeisters kündeten von einem langen, harten Leben, doch seine lebhaften blauen Augen waren so aufmerksam wie die aller in diesem Raum. »Also, was gibt es Neues?«, verlangte der alte Magier zu wissen. »Wenn wir nicht bald Ergebnisse bringen, werde ich sehr viel Arbeit haben, den Rat davon abzuhalten, Kalions Forderung nach einem großflächigen Angriff auf jede Bibliothek mit mehr als drei Büchern nachzugeben«, knurrte Planir. »Für einen Mann, der die Magie als einflussreiche Macht etablieren will, scheint er sich über die Konsequenzen nicht sonderlich im Klaren zu sein, was?« Otrick schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir einen Gesandten zu den Elietimm schicken: ›Bitte, greift uns noch nicht an. Ihr müsst nämlich wissen, 288
dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wie wir eure Magie bekämpfen könnten, und das wäre ja nun wirklich nicht fair‹ .« »Mir fallen noch ein paar andere ein, die nur zu gern erleben wollen, dass der fabelhafte Erzmagier nicht allwissend ist«, bemerkte Usara und sah seine Dokumente durch. »In Lescar und Teilen von Ensaimin könnte die Lage gänzlich außer Kontrolle geraten.« »Mir wäre es lieber, wenn Kalion selbst draufkommen würde«, sinnierte Planir. »Könntest du zufällig mal Allin treffen, Sar? Das Lehrmädchen des Herdmeisters?« »Meinst du das süße Ding aus Selerima mit dem unmöglichen Haar oder das schüchterne kleine Mädchen aus Lescar mit der Feueraffinität?« Usara blickte kurz auf. »Das Mädchen aus Lescar«, antwortete Planir. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie auf alle Fragen antwortet, die Kalion ihr stellt.« »Ich bin überrascht, dass Kalion es zulässt, dass sie sich mit deinesgleichen abgibt, Sar.« Otrick lachte schelmisch. Usara beachtete den alten Magier nicht. »Ich werde ein paar Dinge mit ihr besprechen«, sagte er an Planir gewandt. »Wenn sie ihre Informationen dann an Kalion weitergibt und er Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, dürfte er wissen, wie der Hase läuft.« Otrick murmelte etwas Obszönes und hielt Usara sein Glas entgegen. »Nun, wie laufen deine Experimente, Sar? Welch ätherischen Wunder hat dein trauriges Häuflein Bücherwürmer heute wieder entdeckt?« Usara füllte das Glas mit ruhiger Hand, obwohl Otricks Worte ihm eine leichte Röte ins Gesicht trieben. »Ich freue mich, 289
Euch berichten zu können, dass wir die Beschwörungen perfektioniert haben, um eine Nachricht über die ganze Insel zu übermitteln, Wolkenmeister.« Otrick blickte ihn mit großen Augen an, und seine Kinnlade klappte herunter. »Das müssen mindestens achtzehn Meilen sein!« »Ich glaube nicht, dass uns dein Sarkasmus im Augenblick hilft, alter Mann.« Auch Planir griff nach dem Branntwein. »Es sei denn, natürlich, du hast noch etwas Hilfreiches zu sagen.« Otrick runzelte die Stirn und setzte eine ernste Miene auf. »Wir stimmen darin überein, dass wir Leute mit Kenntnissen in ätherischen Beschwörungen brauchen, um gegen die Elietimm kämpfen zu können, wenn – wenn, nicht falls –, sie zu dem Schluss kommen sollten, dass das Festland mehr zu bieten hat als ihre windgepeitschten Inseln. Ich weiß, dass du diese Gelehrten hart arbeiten lässt, Usara. Und dass Nichtmagiegeborene sich über größere Entfernungen miteinander verständigen könnten, könnte sich durchaus als lebenswichtig erweisen, sollte es zu einem ausgewachsenen Krieg kommen. Der Punkt ist nur – wir wissen, dass die alten Äthermagier zu sehr viel mehr in der Lage waren: Sie konnten Spuren finden und verwischen und Informationen aus einem feindlichen Geist herausholen ...« »Denkst du dir in deiner freien Zeit Kindergeschichten aus, Otrick?«, unterbrach ihn Planir. »Das wissen wir alles.« »Ich weiß nur, dass wir herausfinden müssen, wie diese Magie funktioniert, wie ihre Grundlagen aussehen. Nur dann können wir eine Möglichkeit finden, diese Bastarde aufzuhalten.« Usara ließ, die Schultern hängen, und Müdigkeit zeigte sich in seinem Gesicht. 290
»Die Alten, die nach Kel Ar’Ayen gesegelt sind, kannten des Rätsels Lösung.« Otrick beugte sich vor, und seine Augen funkelten wie Saphire. »Sie wussten, wie man Äthermagie so gründlich zerschlagen kann, dass die Elietimm für mehr als dreißig Generationen an ihren kahlen Fels gefesselt waren. Sie müssen Meister in dieser Magie gewesen sein; sie haben diese geheimnisvolle Kraft über zwanzig Generationen hinweg benutzt, um ein Imperium zusammenzuhalten, das sich über Tausende von Meilen erstreckte! Sie hätten wohl kaum Leute über den Ozean geschickt, ohne ihnen die bestmögliche magische Unterstützung zuteil werden zu lassen. Wir müssen wissen, was sie gewusst haben; also lasst uns diese Kolonie finden und nach einem Buch oder sonst was suchen, das die Äthermagie von Grund auf erklärt – was immer sie sein mag!« Planir atmete tief durch und lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück; die langen Finger hatte er unter seinem Kinn verschränkt. »Diese Idee wäre eines eingehenden Studiums wert, Wolkenmeister.« »Soll das etwa heißen, dass ich in diesem Chaos aus halb erinnerten Träumen noch mehr suchen soll?«, stöhnte Usara. »So schwer kann das doch nicht sein«, sagte Otrick in abschätzigem Tonfall. »Würdest du gerne die Spielregeln von Weißer Rabe ergründen, wenn eine Figur fehlt ... oder das Brett?«, erwiderte der jüngere Magier gereizt. »Wen können wir für eine Suche in den Archiven entbehren?«, wollte Planir wissen. »Wir werden damit anfangen, sämtliche Verweise auf die verlorene Kolonie miteinander abzugleichen. Das sollte dir zumindest einen Hinweis daraufgeben, an welchem Faden du ziehen musst, um den Knoten zu lösen, San« 291
»Casuel Devoir«, antwortete Usara, kaum dass Planir zu Ende gesprochen hatte. »Auf jeden Fall hat er das Talent dafür, und mit etwas Glück bleibt er mir auf diese Weise eine Zeit lang erspart.« »Der Kerl ist ein richtiger Speichellecker«, bemerkte Otrick verächtlich, »aber er hat ein Auge für Kleinigkeiten, das muss man ihm lassen. Nun denn – wo bewahrt man wohl die vielversprechendsten Aufzeichnungen auf?« »Ich habe schon darüber nachgedacht, einen Magier zu Messire D’Olbriot zu schicken«, sagte Planir. »Devoir ist doch in Tormalin geboren, oder? Er weiß gut genug, wie man dort tanzt, um als Abgesandter eine glaubwürdige Wahl zu sein. Und während er dort ist, könnte er sich unauffällig die Aufzeichnungen aus der Zeit anschauen.« »Das wird lange dauern.« Usara schüttelte den Kopf. »Nun, sollten die Elietimm auftauchen, bevor wir eine elegante Methode gefunden haben, ihre Magie zu zerschlagen, werden wir sie einfach auf die traditionelle Art in die Anderwelt jagen: mit Feuer und Flut.« Der alte Magier grinste wie ein Totenschädel. »Auf jeden Fall hätte Kalion dann etwas Nützliches zu tun«, bemerkte Planir trocken.
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Die Baracken, das Zuchthaus des Magistrats, Relshaz 30. Nachfrühling
Ich kann nicht sagen, dass ich aufgewacht wäre; es war eher so, als hätte sich das Chaos in meinem Kopf irgendwann so weit beruhigt, dass ich mir wieder meiner Umgebung und meiner selbst bewusst werden konnte. Doch als ich endlich wieder klar sehen und denken konnte, wünschte ich, ich wäre noch immer betäubt. Meine Arme und Beine schmerzten, als wäre ich von einem Wagen überrollt worden, und einen furchtbaren Augenblick lang glaubte ich, meine Glieder nicht mehr bewegen zu können. Doch das Entsetzen verflog rasch, als ich erkannte, dass ich meine Schwerthand an die Augen führen konnte; aber es war ein Gefühl, als würde ich in Sirup ertrinken, so viel Mühe kostete es mich. Also gab ich es auf, nachdem ich meine Finger mit eigenen Augen gesehen hatte; es hatte mich zumindest ein wenig beruhigt. Irgendetwas zu sehen, fiel mir auch nicht gerade leicht, denn Blut und Dreck – oder beides – verschmierte mein Gesicht so dick, dass es mich an den Lidern schmerzte, die Augen zu öffnen. Ich ärgerte mich, als ich eine Träne der Verzweiflung weinte und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Nase hinunterlief und in einer offenen Wunde brannte. Wenigstens schien die Nase nicht wieder einmal gebrochen zu sein, und es gelang mir, für diese kleine Gnade einen leisen Dank an Dastennin zu murmeln. Wäre meine Nase gebrochen gewesen, wäre ich vermutlich an meinem eigenen Blut erstickt und nie 293
wieder aufgewacht. Heimtückische Ängste krochen aus den hintersten Winkeln meines Geistes hervor. Warum war ich zusammengebrochen? Litt ich unter der Fallsucht? In meiner Familie hatte es so etwas nie gegeben – jedenfalls nicht, soweit mir bekannt war –; man wusste ja nie. Vielleicht hatte der Elietimmhexer, der in meinem Verstand gewühlt hatte, mehr zerstört, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. War dies der Beginn einer furchtbaren Krankheit? Würde ich meine Beine, mein Augenlicht und meinen Verstand verlieren und sabbernd wie der alte Mann enden, der bei uns die Straße hinunter in der Obhut seiner Tochter gelebt hatte, während irgendetwas sein Gehirn fraß? Wurde ich wahnsinnig? Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich mit dem Gesicht nach unten auf festgestampftem Erdboden lag; Stroh kratzte auf meiner nackten Haut. Das bedeutete nichts Gutes. Ich atmete tief ein und bereitete mich darauf vor, mich auf Hände und Knie aufzurichten, doch der Gestank um mich herum drohte mich zu ersticken. Es war eine Mischung aus altem Urin, kaltem Schweiß, verrottetem Essen und verdrecktem Stroh. Heftiger Husten ließ mich am ganzen Leib erbeben, bis ich Galle spie. Dies wiederum verursachte mir so heftige Magenkrämpfe, dass ich zu Boden gesunken wäre, hätte ich nicht ohnehin schon in Rattenscheiße gelegen. Ich war furchtbar verprügelt worden; so viel war nun offensichtlich. Wer hatte das getan? Und warum, in Dasts Namen? Ich lag im Dreck, sehnte mich nach einem Schluck Wasser und wartete darauf, dass das Feuer in meinen Lungen verlosch und die Eisenklammer um meinen Hals sich lockerte. Ich versuchte, meine getrübten Sinne zu sammeln, um wenigstens die Geräu294
sche um mich herum zuordnen zu können; wenigsten dieser Versuch würde mir nicht noch mehr Schmerzen bereiten. Ich hörte ein leises Murmeln größtenteils männlicher Stimmen; einige konnten jedoch auch Jungen oder Frauen gehören. Irgendwo brüllte jemand auf Relshazri, worauf das Schlurfen nackter Füße im Stroh zu hören war. Dann lachte jemand, ein böses Gackern, und Leder pfiff durch die Luft und knallte auf nackte Haut, gefolgt von einem leisen Wimmern. Wer immer da lachte – er machte fröhlich weiter; offenbar fand er Gefallen an seiner Peitsche. Irgendwo, nicht allzu weit entfernt, entbrannte ein Streit, doch die Worte gingen alsbald in Knurren und Flüchen unter. Fäuste schlugen auf Fleisch, und laut wurden die Kämpfenden angespornt, bis ein metallisches Knarren verriet, dass eine Tür geöffnet wurde; kurz darauf war der Streit beendet. Ich öffnete die Augen und blickte blinzelnd zu den Gestalten, die sich schattenhaft im schwachen Licht abzeichneten, das durch ein Gitter weit oben fiel. Sie wurden mit Knüppeln auseinander getrieben, die gegen jeden gerichtet waren, der ihnen in die Quere kam. Ich war in einem Gefängnis. Nun, das war immer noch besser, als den Elietimm oder der Gnade von Straßenräubern ausgeliefert zu sein. Aber wie im Namen von allem, das heilig ist, war ich hierher gekommen? Ich zwang mich, meinen Verstand wieder zusammenzufügen. Ich war aus irgendeinem Grund zusammengebrochen, den ich noch nicht einmal erahnen konnte, und allein das reichte aus, mir unablässig Schauder über den Rücken zu jagen. Es war ein Gefühl, als liefen ständig Käfer über mich hinweg, und wer weiß ... vielleicht waren es tatsächlich Kakerlaken, wenn ich mich so in der Umgebung umschaute, in der ich mich befand. 295
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, was keine leichte Aufgabe war, da Schmerzen an den unterschiedlichsten Stellen meines Körpers mich immer wieder ablenkten. »Du bist Tormalin, du bist ein eingeschworener Mann, reiß dich zusammen«, tadelte ich mich selbst leise. »In einem Haufen Dreck zu liegen und dich selbst zu bemitleiden, wird dir nicht helfen.« Hatte man mich bewusstlos auf der Straße gefunden? Dann hätten ein paar Bürger doch sicherlich die Stadtwache gerufen, oder? Und war dies der Fall, war die Stadtwache vermutlich davon ausgegangen, dass ich betrunken war. Nach dem zu urteilen, was ich bisher von Relshaz gesehen hatte, ließ man die Leute hier tatsächlich im Straßengraben verschimmeln, ehe man ihnen zu Hilfe kam, doch wenn ich vor der Tür eines wohlhabenden Kaufmanns zusammengebrochen war, hatte die Wache mich bestimmt aufgelesen und in eine Zelle geworfen. Das alles klang vernünftig, aber was hatte ich getan, dass man mich derart verprügelt hatte? Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete die Stiefelabdrücke auf meinem Unterarm. Ich hatte kaum stehen können, geschweige denn, Widerstand leisten. Warum hatte man weiter auf mich eingedroschen? Ein Stöhnen kam über meine Lippen. Ich schloss die Augen, und die Verzweiflung drohte mich zu übermannen, so sehr ich mich dagegen wehrte. In meinem Kopf drehte sich alles. Als ich fühlte, wie ich in die Schatten zurückfiel, versuchte ich nicht einmal, dagegen anzukämpfen. Als ich kurz wieder aufwachte, sah ich Sterne im Mitternachtsblau des Himmels. Der kleinere Mond stand hoch und unerreichbar weit jenseits der Gitter über mir. Bis auf die Knochen durchgefroren, doch unfähig, mich zu bewegen, starrte ich 296
auf die fernen Lichter, bis meine Augen sich abermals schlössen. »Ryshad Tathel!« Der Klang meines eigenen Namens, in hartem Relshazri gebrüllt, weckte mich wirkungsvoller als jeder Peitschenhieb. Mein erster Versuch zu antworten scheiterte an meiner ausgetrockneten Zunge und meinen aufgesprungenen Lippen. Ich schluckte und zuckte ob des ekelhaft säuerlichen Geschmacks in meinem Mund zusammen, während ich nach Luft schnappte und mich bemühte, die Schmerzen zu vergessen. »Hier!«, krächzte ich und rappelte mich gequält auf. »Hier lang.« Rasch wischte ich mir übers Gesicht, um besser sehen zu können, und blinzelte einen stämmigen Mann in grober, verdreckter Uniform an; er stand in einer Tür. Das Morgenlicht fiel durch das Gitter in der Wand und enthüllte einen großen Raum, Steinwände und einen abfallenden Boden, der den gröbsten Dreck zu einem Abfluss strömen ließ. Der Gestank war dennoch furchtbar und hätte eine Katze ersticken können. An den Wänden lagen Männer. Einige schliefen auf eifersüchtig gehüteten Strohbündeln; die meisten waren nackt, andere in Lumpen, und alle wiesen unterschiedlich gut verheilte Wunden auf. Falls ich wie einer von ihnen aussah, war ich in schlimmerem Zustand, als mir bewusst gewesen war. »Los! Beweg dich!«, knurrte der Wachmann und drohte mir mit seinem Stock. Widerstandslos folgte ich ihm. Meine Knie waren so weich wie nasse Wolle, doch ich hielt mich aufrecht, um dem Kerl keine Gelegenheit zu geben, auf mich einzudreschen, denn darauf wartete er nur. Er scheuchte mich über einen kleinen Hof und stieß mich in 297
einen weiß, getünchten Raum; dann schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Neugier flackerte in seinen Augen, während er gierig auf meinen Besucher starrte. »Guten Morgen, Ryshad.« Mellitha saß auf einer schlichten Bank. Ihr Rock reichte ordentlich bis zu den Füßen. Heute trug sie keine Spitzen und Rüschen, sondern schwere Stiefel zum Schutz vor dem Dreck. Neben ihr stand ein verschlossener Korb. Sie wirkte vollkommen gelassen. »Guten Morgen, Mylady.« Ich hob das Kinn und ignorierte die Tatsache, dass meine Eier an der frischen Luft baumelten. Wenigstens würde der Dreck die Röte verbergen, die mir ins Gesicht stieg. »Setzt Euch. Was habt Ihr geglaubt, das Ihr da tut, in Trimons Namen?« Wut funkelte in ihren sturmgrauen Augen, während sie in fließendem Toremaldialekt auf mich einredete, sodass der Wachmann Schwierigkeiten zu haben schien, dem Gespräch zu folgen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet«, antwortete ich schlicht. Verwirrung ließ die Lachfältchen um ihre Augen tiefer werden. »Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich auf einer Straße im Viertel der Schmiede zusammengebrochen bin«, fuhr ich fort. »Warum bin ich hier gelandet?« »Weil Ihr versucht habt, einen antiken Armreif aus der Auslage eines Antiquitätenhändlers zu stehlen.« Mellitha schüttelte den Kopf, als könne sie es selbst nicht glauben. »Offenbar seid Ihr einfach hineingegangen, habt Euch den Reif genommen und versucht, wieder zu gehen. Als der Mann Euch aufhalten wollte, 298
habt Ihr Euch gewehrt, doch inzwischen hatte der Gehilfe des Händlers die Stadtwache geholt. Offenbar waren fünf Mann nötig, um Euch niederzuringen. Wie schlimm seid Ihr verletzt?« »Keine gebrochenen Knochen«, stellte ich zufrieden fest. »Wer immer mich verprügelt hat, verstand sein Geschäft.« Mellitha untersuchte meine Beulen und Abschürfungen; dann griff sie in ihren Korb. »Salbe aus Schafgarbe«, sagte sie und drückte mir einen kleinen Topf in die Hand. Ich beachtete ihn nicht. »Das ergibt keinen Sinn. Ich würde niemals versuchen, jemanden am helllichten Tag zu berauben. Warum sollte ich, wenn Shiv genug Geld in der Tasche hat, um alles zu kaufen?« »Es muss aber eine Erklärung dafür geben.« Mellitha blickte mich nachdenklich an. »Was ist mit den Elietimm? Vielleicht wollen sie Euch aus irgendeinem Grund aus dem Spiel nehmen. Ihr habt ja schon Erfahrung darin, wie es ist, wenn sie Euren Geist angreifen. Könnte das eine ihrer Schlichen gewesen sein?« Ich schüttelte entschieden den Kopf; dachte dann aber genauer darüber nach. »Nein«, erklärte ich schließlich. »Was die Eisländer getan haben, war eindeutig ein Angriff von außen. Sie haben versucht, sich Zugang zu meinem Geist zu erzwingen. Aber das hier ...«Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich einfach ... verloren.« Unwillkürlich schüttelte ich mich, als ich mich entsetzt daran erinnerte, und Mellitha ergriff meine Hand und beugte sich vor. »Ist schon gut. Ich bin ja hier.« Ihre Worte waren die einer Mutter, die ihr Kind nach einem Albtraum tröstet, doch ihr Griff war stark und beruhigend, und irgendwie übertrug sie 299
einen Teil ihrer Kraft auf mich. »Wie habt Ihr mich gefunden?«, fragte ich. »Das war nicht leicht.« Der Schatten eines Lächelns huschte über ihr besorgtes Gesicht. »Und wie schnell könnt Ihr mich hier wieder rausholen?« Langsam konnte ich wieder einigermaßen klar denken. »Das geht nicht«, antwortete Mellitha ernst. »Jedenfalls nicht heute.« Ich starrte sie an. »Ihr müsst doch wissen, wen man dafür schmieren muss!« »So einfach ist das nicht.« Verärgerung lag in ihrer Stimme. »Beim nächsten Vollmond des größeren Mondes stehen Wahlen an. Eine Reihe von Leuten hat sich lautstark darüber beschwert, wie viel Geld die Ratsherren einsacken; also wird niemand auch nur eine Münze annehmen, bevor nicht die Stimmen gezählt sind.« »Wollt Ihr mir etwa sagen, dass gewählte Volksvertreter keine Bestechungsgelder nehmen?« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Essen die Hunde in Relshaz keine Wurst, die sie umsonst bekommen? Bietet den Leuten einfach mehr Geld als üblich. Messire wird dafür aufkommen.« »Heutzutage ist es keine Frage des Geldes.« Mellithas Tonfall wurde immer schärfer. »Egal was ihr Tormalin auch denken mögt – unsere Wahlen bringen bisweilen pflichtbewusste und ehrliche Ratsherren hervor. Auf jeden Fall ziehen wir dieses System dem der Leibeigenschaft und Patronage vor, das nur denen Vorteile bringt, die zufällig die richtigen Eltern haben. In diesem Punkt gebe ich den Rationalisten tatsächlich Recht.« »Tut mir Leid.« Ich schloss kurz die Augen, um mich wieder zu fassen. In meiner derzeitigen Lage war Mellitha die einzige 300
Hilfe, die ich hatte, und es wäre alles andere als klug, sie zu verärgern. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, mich so sehr aufzuregen? »Was wird denn nun mit mir geschehen?« »Übermorgen wird man Euch auf einer öffentlichen Sklavenauktion verkaufen.« Mellitha klappte ihren Korb auf. »Ich habe ein paar Kleider für Euch, Wasser und etwas zu essen. Außerdem habe ich den Wärter bezahlt, damit er Euch in eine bessere Zelle verlegt. Im Käse sind ein paar Münzen für den Fall, dass Ihr jemanden bestechen oder Euch etwas zu essen kaufen müsst, bevor ich Neues schicken kann. Wo ist die Salbe? Ach so, ja, ich habe sie Euch ja schon gegeben ...« Sie redete weiter, doch ihre Worte wurden zu einem sinnlosen Gebrabbel, während ich auf die gegenüberliegende Wand starrte. Es mag dumm klingen, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinen Gedanken an die Ware verschwendet welche die Grundlage für den Wohlstand der Relshazri bildet: Sklaven. In Tormalin handeln wir seit Generationen nicht mehr mit Sklaven; wir sind viel zu fortgeschritten für solche Dinge. Die Lords von Caladhria andererseits sind stets froh, wenn sie einen Schuldner binden können, manchmal sogar seine Frau und Kinder. Säumige Schuldner können eines Tages aufwachen und müssen feststellen, dass man ihnen soeben einen Eisenring um den Hals legt, worauf sie dann zur Arbeit auf die Felder eines Nachbarn oder hinunter nach Relshaz geschickt werden, je nach Preis. Die Lescariherzöge sind stets bereit, ein paar Hundert Leute zu kaufen, um die wenigen Landstriche, die von den Kämpfen verschont geblieben sind, binnen kürzester Zeit abzuernten und den Ertrag für gute Tormalinmark oder caladhrische Sterne zu verkaufen. Auf der anderen Seite verkaufen sie nach der Kampfsaison 301
auch gern ihre Gefangenen, zumindest jene armen Kerle, deren Verwandte das Lösegeld nicht aufbringen können. Relshaz nimmt sie alle und verkauft sie mit beachtlichem Profit weiter, für gewöhnlich an die Aldabreshi, bei denen sie sich dann auf den Galeeren oder auf einer Insel zu Tode schuften müssen. »Ihr müsst zahlen, was immer es kosten mag, um mich bei der Auktion auszulösen«, unterbrach ich Mellithas detaillierte Beschreibung dessen, was sie mit dem Wärter vereinbart hatte. »Natürlich. Ich werde mein Bestes tun ...«, begann sie ein wenig beleidigt. »Bietet, was nötig ist«, hakte ich nach. »Messire wird es Euch zurückzahlen und Euch überdies noch angemessen entlohnen. Vertraut mir.« »Natürlich. Macht Euch keine Sorgen. Wir finden schon heraus, was geschehen ist.« Mellitha klang genau wie meine Mutter, die mich auf diese Weise einmal über das Verschwinden eines Welpen hatte hinwegtrösten wollen. Ich war jedoch keinesfalls beruhigt. Damals hatte das auch nicht funktioniert; der arme Hund hatte in den Abfallhaufen am Krabbenhafen gewühlt, war ins Hafenbecken gefallen und ertrunken. Der Wärter rief Mellitha irgendwas zu, und sie antwortete mit einem höflichem Tadel. Nichtsdestotrotz stand sie auf und drückte mir ein Bündel in die Arme. »Haltet Euch von allem Ärger fern, und wir werden uns darum kümmern, Euch spätestens bei der Auktion auszulösen.« »Fragt Shiv, ob er eine Idee hat«, rief ich über die Schulter zurück, während der Wärter mich hinausscheuchte, indem er mir seinen Stab schmerzhaft in die Nieren stieß. Der stinkende Kerl führte mich über mehrere Höfe in einen anderen Flügel des Gefängnisses. Mellitha hatte mir einen mit 302
groben Stroh vollgestopften Sack in einer Zelle mit Holzboden gekauft, die ich mit ein paar anderen teilen musste. Vorsichtig setzte ich mich mit dem Rücken zur Wand und öffnete das Bündel, dessen äußere Schicht sich als ein sauberes Leinenhemd und eine alte Hose erwies. Der Ausstattung meiner Zellengenossen nach zu urteilen, war mehr Kleidung hier nicht erlaubt. Ein abgenutztes Handtuch war um eine Wasserflasche, etwas frisches Brot und einen cremigen gelben Käse gewickelt. Der scharfe Geruch machte mich darauf aufmerksam, dass ich tatsächlich beachtlichen Hunger hatte. Ich befeuchtete eine Ecke des Handtuchs und wischte mir den gröbsten Dreck von Gesicht und Händen; mehr Wasser wollte ich nicht verschwenden, denn der Rest konnte mich unter Umständen vor der Gefängniskrankheit bewahren – wer wusste schon, was die Wärter uns zu trinken gaben. Nachdem ich das halbe Brot gegessen hatte, fühlte ich mich schon deutlich besser, und mit ein paar Kleidern am Leib kam ich mir nicht mehr ganz so verwundbar vor. Ein paar der anderen in dem langen Raum starrten mich mehr oder weniger neugierig an. Ich begegnete ihren Blicken ohne Trotz, jedoch entschlossen genug, dass sie sich zuerst abwandten. Nachdem ich glaubte, nicht mehr beobachtet zu werden, holte ich unauffällig das kleine Wachspapierpaket aus dem Käse heraus und ließ es in meiner Hose verschwinden. Nachdem das erledigt war, musterte ich meine Leidensgenossen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen, indem ich ihn zu lange anstarrte. Einen Kampf konnte ich jetzt am wenigsten gebrauchen. Die anderen Männer lagen auf ihren Strohsäcken oder blickten aus dem vergitterten Fenster. Die meisten waren kaum älter als ich, gut genährt, und besaßen die verwitterten Gesichtszüge von Menschen, die viel 303
im Freien leben. Niemand sprach, also hatte ich keine Möglichkeit, ihre Herkunft herauszufinden, aber da ich ohnehin nur kurz hier bleiben würde, sah ich keinen Vorteil darin, mich mit jemandem auf ein Gespräch einzulassen. Ein paar der jüngeren Männer husteten ständig – ein leises, aber stetes Geräusch, das allmählich lästig wurde. Es sah so aus, als hätte man sie in den hintersten Winkel der Zelle gezwungen; mein Strohsack und ein weiterer freier Platz trennte sie vom Rest der Gefangenen. Ich betrachtete sie und fragte mich, wie weit ich wohl von ihnen wegrücken konnte, bevor mein Nachbar auf der anderen Seite sich beschweren würde. »Bleib ruhig und sei geduldig. Mellitha wird dich schon rausholen«, sagte ich mir selbst. Wenn ich für mich blieb und mit niemandem einen Becher oder etwas Ähnliches teilte, sollte die Gefahr einer Ansteckung nicht allzu groß sein. Zu meinem Erstaunen läutete eine Uhr nicht weit entfernt erst die zweite Stunde des Tages ein. Ich seufzte; das versprachen ein paar lange und öde Tage zu werden. Der Mittag ging vorüber. Regen plätscherte leise auf die Dachziegel, und ein anderer Wärter erschien mit einem Tablett voll Holzschüsseln mit Haferbrei, alle unangenehm mit den Überresten vorheriger Mahlzeiten verkrustet und von Fliegen umschwärmt. Ich ließ meine Schüssel unberührt und beruhigte meinen knurrenden Magen mit einem weiteren Stück Brot. »Hunger ist besser, als Durchfall zu riskieren«, riet ich mir selbst. Außerdem, je weniger ich aß, desto seltener würde ich die stinkenden Töpfe an der anderen Wand aufsuchen müssen; einer war für den Darminhalt, um ihn als Dünger zu verkaufen, der andere für Urin, der als Bleichmittel benutzt war, wie ich vermutete. Relshazri machen aus allem Geld; darauf kann man 304
sich verlassen. Das war aber auch schon der lustigste Aspekt des Tages. Die Unterhaltung des Nachmittags bestand darin, dass wir von ein paar Wärtern mit Peitschen zum Fenster gescheucht wurden, um zuzuschauen, wie man einen Verurteilten im Hof mit der Garotte erdrosselte. Es brauchte zehn Männer, um den stämmigen Verbrecher herauszuzerren und ans Gestell der Garotte zu binden. Der Kerl fluchte unentwegt und laut, bis ihm ein Lederknebel in den Mund gestopft wurde. In diesem Augenblick liefen ihm Tränen über das brutale Gesicht, das bereits rot angelaufen und blutverschmiert war, noch bevor die Wärter Lose gezogen hatten, wer die Garotte drehen und dem armen Schwein die Luft abdrücken durfte. Ich sparte mir die Mühe, dabei zuzuschauen; ich kann nichts mehr daraus lernen, andere Männer sterben zu sehen. Stattdessen blickte ich zu den Fenstern in den großen Gebäuden, die den Hof zu allen Seiten umgaben. In den untersten Stockwerken befanden sich offenbar Zellen wie die, in der ich aufgewacht war. Dort drückten sich ausgemergelte, verdreckte Gesichter gegen die Gitterstäbe; zu viele waren nur allzu begierig darauf, einen anderen sterben zu sehen. Aus den oberen Fenstern blickten Männer und Frauen in ordentlicher Kleidung herunter, einige widerwillig, andere mit entsetzter Faszination. Ich fragte mich, wie viel sie wohl für ordentliches Essen und Sauberkeit bezahlten – vermutlich mehr, als hätten sie im teuersten Gasthaus der Stadt logiert. Sobald die Wärter es uns erlaubten, kehrte ich zu meinem Strohsack zurück. »Was hat er getan?«, fragte einer der anderen und rieb sich mit der Hand über sein aschfahles Gesicht. 305
Der Wärter verzog das Gesicht. »Er hat kleine Mädchen vergewaltigt und umgebracht.« Zufrieden sah ich, wie alle im Raum angewidert das Gesicht verzogen und ausspuckten; vielleicht konnte ich es doch wagen, ein wenig zu schlafen. Als der Abend kam, war ich zutiefst gelangweilt. Ich hatte ein paar Streckübungen gemacht, um wieder etwas Beweglichkeit in meine Gliedmaßen zu bekommen, hatte damit aber nur die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gezogen und alsbald wieder aufgehört. Ich aß den Rest vom Brot und dem Käse, weil ich davon ausging, dass man es mir sonst im Schlaf stehlen würde. Das Fenster ging nach Westen hinaus; also bekamen wir die letzten Sonnenstrahlen mit, als die Regenwolken sich verzogen. Ich beobachtete, wie die Schatten der Gitterstäbe langsam über den Boden wanderten, während ich vor mich hin döste. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so früh schlafen gelegt zu haben, seit meine Mutter Mistal, Kitria und mich ins Bett gescheucht und wir protestiert hatten, es sei doch noch hell, und außerdem dürften Hansey und Ridner noch aufbleiben. Als ich bei Sonnenaufgang aufwachte, hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Mit plötzlichem Entsetzen bemerkte ich, dass das Husten aufgehört hatte. Sofort setzte ich mich auf und sah einen der Kranken steif und verdreht auf seinem Sack liegen. Seine leeren Augen starrten zur Decke hinauf, und seine Lippen waren schwarz angelaufen. Sein Gefährte saß aufrecht an der Wand. Er bewegte sich leicht, doch seine Brust hob sich nur noch langsam. Meine plötzliche Bewegung hatte ein paar der anderen geweckt. Einer hämmerte an die Tür und schrie nach dem Wärter. 306
Schließlich erschienen zwei säuerliche Wächter und schleppten den Leichnam und den Kranken davon. Beide behandelten sie mit derselben Gleichgültigkeit; die Strohsäcke ließen sie zurück. Ich schauderte und hoffte, dass auf dem meinen niemand gestorben war, oder zumindest nicht an etwas Ansteckendem. Dieser Tag war noch schwerer zu ertragen als der letzte. Nichtstun hat mir nie sonderlich gelegen; doch obwohl ich mir immer wieder sagte, ich dürfe mich nicht darüber ärgern – Dastennin schickt den Geduldigen den Fisch, heißt es –, war meine Geduld am Ende des Tages nahezu aufgebraucht. Der einzige schlimmere Ort, den ich mir vorstellen konnte, war das Elietimmverlies, aber dort hatte ich wenigstens Leute zum Reden gehabt, Aitens Unterstützung, Shivs Magie und Livaks Talente als Grundlage für eine erfolgreiche Flucht. Das ließ mich an die anderen denken. Ich hoffte, sie hatten einen Plan, um meinen Kauf bei der Versteigerung zu gewährleisten; außerdem machte ich mir Sorgen, dass die Elietimm irgendetwas anstellten, während ich hier drin festsaß. Ich hasste es nicht so sehr, hier untätig zu hocken; vielmehr machte mir zu schaffen, dass ich auf andere angewiesen war, um wieder hier herauszukommen. Diese Erkenntnis trug auch nicht gerade dazu bei, meine Laune zu bessern. Ich versuchte gerade, mich an die Verse der unendlich langen soluranischen Balladen über edle Recken zu erinnern, die ständig tumbe Jungfern mit mehr Haar als Verstand retten, als plötzlich die Tür aufschwang. Eingerahmt von zwei Wachen stand dort ein gut gekleideter Mann, eine Schreibmappe unter dem Arm und eine Duftkugel in der anderen Hand, die er sich unter die Nase hielt. Diese Duftkugel neidete ich ihm mehr als seine blank polierten Stiefel. Der Schreiber schaute sich im 307
Raum um und begann schließlich mit dem Gefangenen, welcher der Tür am nächsten saß, was zufällig ich war. Er musterte mich von Kopf bis Fuß und nickte einem der Wärter zu. »Zieh ihn aus.« Ich riss mir Hemd und Hose selbst vom Leib, warf der Wache einen warnenden Blick zu und versuchte, Mellithas Münzen in der Hose zu verstecken. Der Mann mit der Duftkugel musterte mich abermals eingehend und nickte erneut. Diesmal packte der Wärter mein Kinn und riss mir den Mund auf, damit der Mann meine Zähne begutachten konnte. Die Hand des Wärters stank so sehr, dass ich beinahe gewürgt hatte. Ich öffnete den Mund, weit damit der Kerl keinen Grund hatte, seine dreckigen Finger hineinzustecken. Hätte er das getan – ich hätte sie ihm vermutlich abgebissen, egal was es mich gekostet hätte. Der Schreiber zählte meine Zähne, nickte, machte sich eine Notiz und blickte mir dann in die Augen. »Hast du irgendwelche Fähigkeiten?«, fragte er in annehmbaren Tormalin. Rasch überlegte ich, was ich am Besten antworten sollte. Ich wollte meinen Preis für Mellitha nicht zu hoch treiben; zugleich aber missfiel mir der Gedanke, mit einem Dutzend anderer als Feldsklave en gros verkauft zu werden. »Schwertkämpfer«, antwortete ich mit fester Stimme. Der Mann zuckte mit den Schultern, machte sich noch eine Notiz und ging zum nächsten Gefangenen. Ich handelte mir einen warnenden Blick des Wärters ein, als ich nach meinen Kleidern griff; also setzte ich mich und wartete, was als Nächstes geschehen würde, während der Schreiber von einem zum anderen ging. Offenbar befand ich mich in Gesellschaft einiger Hafenarbeiter, eines Töpfers und eines Hirten. Dastennin allein 308
wusste, wie diese Männer hier gelandet waren. Nachdem die Befragung beendet war, wurden wir noch immer nackt aus unserer Zelle getrieben und eine lange Reihe anderer Unglücklicher entlang, die darauf warteten, in ein langes, niedriges Gebäude am anderen Ende des Komplexes eingelassen zu werden. Eine zweite Reihe bildete sich aus den Insassen der Frauenzellen, was mir das Warten ein wenig leichter machte. Einige Frauen taten mir Leid, waren sie doch vermutlich ohne eigenes Verschulden hier gelandet. Erfolglos versuchten sie, ihre Nacktheit mit Händen und Haaren zu verbergen; oft hatten sie Kinder dabei, die sich verzweifelt an ihre Beine klammerten. Andere hatten dies alles offensichtlich schon einmal durchgemacht. Sie forderten die Männer mit kühnen Blicken heraus, deuteten auf den ein oder anderen und kicherten; ihre Gesten überließen nur noch wenig der Fantasie. Eine der Frauen blickte zu mir und zwinkerte mir eindeutig zu, doch ich bemerkte eine Brandmarke auf ihrer Hand, die sie als Hure kennzeichnete, die ihre Kunden bestohlen hatte; also bekam sie keine Antwort von mir. Die Schlange setzte sich in Bewegung. Mit Knüppeln wurden wir von Wärtern durch eine Tür getrieben. Ich sah mich einem langen, tiefen Bad gegenüber, wie man sie in Messires Besitzungen zum Waschen der Schafe verwendet. Die Wärter benutzten ihre Knüppel und Stöcke wie die Hirten ihre Stäbe, und so sprang ich lieber ins Wasser, als darauf zu warten, dass jemand mich hineinstieß. Das Wasser war schaumig, und verfaulendes Stroh trieb darin; aber das war mir egal. Ich schrubbte mich ab, um wenigstens den gröbsten Dreck herunterzubekommen; dabei achtete ich nicht auf das Brennen in meinen Schnitt- und Schürfwunden, zu denen sich inzwischen die Bisse verschiedenen Ungeziefers gesellt hatten. Als ich auf der ande309
ren Seite wieder herauskletterte, zwang mich ein Mann in einer langen Tunika auf eine Bank und hob eine Haarschere an meinen Kopf. Inzwischen hatte ich eine gute Vorstellung davon, wie sich ein Hammel fühlen musste, den man für den Markt zurechtmacht. Die Luft fühlte sich kalt auf meinem geschorenen Kopf an, als man uns nach dem kostenlosen Haarschnitt durch eine weitere Tür trieb. Ich rieb über die Stoppeln auf meinem Kinn, die nun das Stadium erreicht hatten, da sie zu kratzen begannen. Ich bezweifelte, dass meine eigene Mutter mich in diesem Augenblick wiedererkannt hätte. Bei uns daheim werden Schafe, die man von den Bergen zum Verkauf heruntertreibt, mit etwas Glück vorher noch gewaschen und gewogen, solange das Wasser in der Wolle das Gewicht erhöht. Die Relshazri gingen offenbar auf ähnliche Art vor; unsere Reihe schlurfte langsam über eine große Waage hinweg, wie ich sie aus Häfen kannte, wo mit derartigen Waagen Säcke und Ballen gewogen wurden. Ein paar Männer wuchteten die großen Gewichte hinauf und wieder herunter, während andere das Ergebnis berechneten und auf ein Schild schrieben, das der ›Ware‹ dann um den Hals gehängt wurde. Ich versuchte, einen Blick auf mein Schild zu werfen, doch es war zu eng um meinen Hals gebunden, als dass ich es hätte lesen können. Aus irgendeinem Grund ärgerte mich das mehr als alles andere, was bisher geschehen war. Auf dem Weg zurück in die Zelle gab mir einer der Wärter ein Bündel, das von Mellitha stammte. Es war offensichtlich geöffnet worden und enthielt genug Brot und Käse, um mir eine ordentliche Mahlzeit zu garantieren, nachdem die Wärter sich bedient hatten, und auch mein Geld war aus meiner Hose 310
verschwunden. Als die Sonne hinter dem Fenster versank, war meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Trotz meiner Bemühungen, das Geschehen mit einer gewissen Distanz zu betrachten, fühlte ich mich zutiefst gedemütigt. Es war nicht die Nacktheit oder dass man mich wie eine Ware behandelte; es war die Art, wie man wieder in meinen Geist eingedrungen war. Irgendjemand hatte irgendetwas mit mir angestellt, sodass ich meinen Verstand verloren und etwas getan hatte, woran ich sonst nicht einmal gedacht hätte, und schlimmer noch: Ich konnte mich nicht mal daran erinnern! Hätte ich gewusst, wer dafür verantwortlich war, hätte ich wenigstens wütend auf denjenigen sein können! Waren es die Elietimm gewesen? Falls ja – was hatten sie damit erreichen wollen? Während ich darüber nachdachte, sorgte ich mich trotz all meiner Bemühungen, ruhig zu bleiben, immer mehr, dass es noch einmal geschehen könnte. Derart den Verstand zu verlieren ... der Körper der Gnade eines jeden ausgeliefert, der gerade zufällig vorbeikam ... Man hätte mich ausrauben, ja töten können. Diese Vorstellung ließ mich am ganzen Leibe zittern, und es kostete mich all meine Kraft, den Gedanken zu vertreiben. Ich kämpfte gegen den Schlaf an, während sich draußen die Nacht herabsenkte, und ich schmeckte Salz in der Luft, was mich an meine Heimat erinnerte. Wie sollte ich das alles Messire erklären? Wie immer ich die Geschichte erzählen mochte, ich würde unfähig erscheinen. Ich hatte noch nie Erklärungen für Versagen gemocht, die mit »Ich konnte nicht anders, weil ...« begannen, und Verzweiflung keimte in mir auf, während ich erfolglos versuchte, mir etwas Besseres auszudenken. Wenn ich schließlich Bericht erstattete, würde mein Stolz mehr Prügel beziehen als mein Körper. Meine Hoffnungen, vom einge311
schworenen Mann zum auserwählten Mann aufzusteigen, würden den Bach heruntergehen, so viel war klar. Ich blickte zu den Sternen. Livak war eine Frau, die durchaus wusste, wie die Welt funktionierte. Sie würde mir keinen Vorwurf daraus machen, was geschehen war; trotzdem wollte ich nicht als Narr vor ihr dastehen. Ich fluchte leise, seufzte, blickte zum Fenster hinauf und hoffe aus das baldige Erscheinen der ersten Sonnenstrahlen. Dies alles wäre mir nie passiert, hätten diese verfluchten Zauberer Messire nicht in ihre schwachsinnigen Intrigen hineingezogen. Shiv, Mellitha und Viltred mussten einen Weg finden, mich hier rauszuholen. Wenn man den Balladen der Minnesänger glaubte, konnten Zauberer solch seltsame Dinge wie durch Wände gehen, sich unsichtbar machen und Wächter einschlafen lassen. Was also machten Shiv und die anderen, während ich hilflos hier hockte und ständig fürchten musste, mich mit dem Gefängnisfieber anzustecken? »Es wäre genauso sinnlos, wenn sie dich hier wegzaubern würden, als wenn du versuchen würdest, hier auszubrechen«, ermahnte ich mich selbst. »Sei vernünftig, du Narr. Kaum wärst du hier raus, würde die Stadtwache die Fähren stilllegen und die ganze Stadt auf den Kopf stellen.« Kaum war ich am Morgen aufgewacht, trieben die Wärter uns alle von unseren Strohsäcken und scheuchten uns in den Hof, wo man den Ersten von uns bereits Ketten angelegt hatte. Die Vorstellung, wie ein gemeiner Verbrecher angekettet zu werden, erfüllte mich mit Wut. Als ich an der Reihe war, riss ich fluchend die Hände zurück, ohne nachzudenken, worauf der Schlag eines Wärters mir die Lippe spaltete. Ich griff nach dem Hundesohn, wurde aber durch einen Stoß mit dem stumpfen Ende eines Schlagstocks aufgehalten. Der Schmerz brachte 312
mich wieder zur Vernunft. Als ich wieder stehen konnte, biss ich die Zähne zusammen und hielt den Schmieden unterwürfig die Hände hin. »Reiß dich zusammen, du Wahnsinniger«, tadelte ich mich selbst. »Am Ende des Morgens bist du weg von hier; dann kannst du die Kerle suchen, die dir das eingebrockt haben.« Diese Vorstellung wärmte mein Herz, und ich achtete nun mehr darauf, was um mich herum geschah. Dabei bemerkte ich, dass im Laufe der letzten Tage meine schlimmsten Schmerzen abgeklungen waren. Schließlich fand ich mich hinter einem anderen Sklaven wieder, der seinem Aussehen nach einst Schreiber oder ähnliches gewesen war, während wir durch eine Reihe verdreckter Gassen getrieben wurden. Die Wärter scherzten und lachten, und Wetten wurden abgeschlossen, wer von uns den höchsten Preis erzielen würde. Die Sonne war gerade erst über die Dächer gestiegen, und wir alle waren froh über die kühle Morgenluft. »Niemand weiß etwas mit dir anzufangen«, bemerkte der Schreiber über die Schulter. Ich zuckte die Achseln. »Sie glauben offenbar, dass du einen guten Preis bringen wirst.« Der Mann lächelte. »Ja, das sollte wohl klappen, wenn der Auktionator mir Gelegenheit gibt, für mich selbst zu sprechen. Letztes Mal hat es auch funktioniert.« »Du bist schon einmal verkauft worden?« Ich hatte keine Ahnung, was wirklich mit Sklaven geschah; nun schien mir der rechte Zeitpunkt gekommen zu sein, diese Wissenslücke zu füllen. »Zweimal«, bestätigte der Mann. »Mein erster Besitzer ist gestorben, und wir wurden allesamt verkauft, um seine Schulden 313
zu begleichen. Beim zweiten Mal hat man mich für ein paar Jahreszeiten an einen Aldabreshi-Kriegsherrn vermietet.« »Und was geschieht jetzt mit dir?« »Wenn ich Glück habe, komme ich zu einem ordentlichen Kaufmann, der mich ein, zwei Mark an der Hintertüre verdienen lässt, damit ich ein bisschen beiseite legen kann, um nicht in der Gosse zu landen. Es dauert nämlich nicht mehr lange, und ich bin mein Bett und mein Essen nicht mehr wert, und dann wird man mich freilassen.« Der dünne Mann blickte ernst. Die Kolonne erreichte einen großen Marktplatz, an dessen einer Seite eine Plattform errichtet worden war. Wir wurden in einen Käfig dahinter gestopft; zu meinem Verdruss konnte ich von dort nichts von den Zuschauern und Kunden sehen. Ich hörte nur den Lärm, und wie es aussah, war das Interesse an billigen Dienern und Arbeitern groß. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die ausgebildeten Männer an die Reihe kamen, darunter ich und mein Gefährte. In dem Sklavenkäfig war es heiß, die Luft stickig, und ich drängte mich ans Gitter, als ein Junge mit einem Eimer vorbeikam und abgestandenes Wasser in gierig ausgestreckte Hände goss. »Komm.« Ein Wärter löste die Ketten des Schreibers, der daraufhin eifrig auf die Plattform sprang. »Ich bin Schreiber und Buchhalter, spreche fließend Tormalin, Caladhrisch und die Dialekte von West-Aldabreshin. Ich bin ehrlich und genau und arbeite nun schon seit fünfzehn Jahren in dieser Stadt. In mir werdet ihr einen treuen Diener bekommen und dürft die Vorteile meines Wissens und meiner Kontakte genießen. Ich kenne mich im Bronze- und Seehandel aus und habe Erfahrungen mit den Steuer- und Zollsystemen jedes Ha314
fens von Col bis Toremal. Überdies vermag ich Verträge sowohl nach tormalinischem als auch nach soluranischem Gesetz zu erstellen.« Seine selbstbewusste Stimme hallte von den großen Gebäuden auf der anderen Seite des Platzes wider. Nach einer kurzen Pause begann das Bieten. Er ging für tausendundfünf Kronen weg, und seinem Lächeln nach zu urteilen, als er von der Plattform herunterkam, war es ein guter Preis. Dann wurden mir die Ketten abgenommen, und langsam stieg ich mit einem leeren Gefühl im Magen die Stufen hinauf. Ich hoffte, dass Schwertkämpfer keinen so hohen Preis erzielten wie Buchhalter, denn ich wollte nicht, dass Messire einem Zauberer so viel Geld schuldete. Auf dem Platz unter mir drängten sich Menschen, die alle gierig zu mir hinaufstarrten. Ich hielt nach Mellitha Ausschau und musste gegen einen Anflug von Panik kämpfen, als ich sie zuerst nicht fand. Der Versteigerer plapperte irgendetwas hinter mir, doch ich beachtete ihn gar nicht; stattdessen wartete ich verzweifelt darauf, dass das Bieten endlich begann, sodass ich Mellitha sehen konnte. Das erste Gebot kam von einem stämmigen Mann in Dunkelbraun, und einen Augenblick der vollkommenen Verwirrung lang glaubte ich, es sei Nyle. Ein zweiter Blick verriet mir jedoch, dass ich mich irrte; sie waren sich lediglich ähnlich, und ich gelangte zu dem Schluss, dass die kräftigen Kerle hinter ihm gemietete Schläger waren. Wie begierig mochte er darauf sein, mich seinem Stall einzuverleiben? Offenbar nicht sonderlich; er hatte nur fünfzig Kronen für mich geboten. Erleichterung spülte über mich hinweg, als ich Mellithas klare Stimme vernahm, die den stämmigen Kerl überbot. Kaum zu 315
sehen, stand sie hinter einer Gruppe kichernder Mädchen, die wohl nur hierher gekommen waren, um halb nackte Männer zu begaffen. Hundertfünfzig Kronen klangen nach einem vernünftigen Anfangsgebot. Meine Zufriedenheit erhielt jedoch rasch einen Dämpfer, als Mellithas Gebot von einer kräftigen Matrone mit mächtiger Hakennase überboten wurde und dann von einem fetten Mann in blauem Samt, dessen Hände auf den Schultern eines jungen Mannes in rosa Seide ruhten. Ein Gebot von dreihundert Kronen kam aus den hinteren Reihen, und ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich einen schwarz gekleideten Arm sah, der über einen blonden Schopf gehoben wurde. Ich blickte in Mellithas Richtung, doch ich wagte es nicht, ihr ein Zeichen zu geben, aus Furcht, der Elietimm könnte sie entdecken. Ich blickte zu dem Eisländer und sah, dass es keiner von den Uniformierten war, sondern ein älterer Mann in caladhrischer Kleidung. Ein goldenes Funkeln um seinen Hals verriet mir, dass er das Halsband eines Hexers trug, und ich atmete unwillkürlich schneller, während das Bieten munter weiterging und alsbald die fünfhundert Kronen überschritt. Das bedeutete, dass ich Messire bei meiner Rückkehr all meine Ersparnisse anbieten würde, wenn auch nur um der Ehre willen. Die Matrone wollte mich offenbar unbedingt haben – aus Gründen, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte –, doch bei sechshundert hörte sie auf zu bieten und überließ mich dem Fettsack, dessen Interesse an mir nur allzu klar war. Düster blickte ich in seine Richtung und versuchte, so unattraktiv wie möglich zu wirken, und zu meiner großen Erleichterung stieg er bei sechshundertfünfzig tatsächlich aus. Seinen jugendlichen 316
Gefährten schien das sehr zu freuen, denn er schlang dem Dicken die Arme um die Schultern. Doch der Schwertmeister trieb den Preis noch immer gelassen in die Höhe, und besorgt blickte ich zu Mellitha hinüber. Es war schwer, ihren Gesichtsausdruck auf diese Entfernung zu deuten, doch ihre Stimme blieb fest, während sie bei jedem Gebot mitging. Ein dünner Mann beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und erhöhte bei jedem Gebot um fünfundzwanzig Kronen statt um zehn, was rasch dazu führte, dass der Schwertmeister bei achthundert ausstieg und zornig den Kopf schüttelte. Mein Herz begann wild zu pochen, als ich erkannte, dass Shiv der Mann bei Mellitha war, das schwarze Haar eingeölt und gelockt und in eine schlichte Schreibertunika gehüllt. Der Elietimm war noch im Rennen und überbot Mellitha ein ums andere Mal. Ich ballte die Faust in hilfloser Wut, während der Versteigerer die Gebote der beiden entgegennahm. Plötzlich brach am Rand der Menge Tumult aus, und in dem Hin und Her verlor ich sowohl den Elietimm als auch Mellitha aus den Augen. Ich sah nur Shiv, der rasch über den Platz huschte und verschwand. »Zweitausend Kronen!« Eine harte, fremdländische Stimme hallte über den Platz, und Schweigen senkte sich über die Menge. Die Hälfte der Leute drehte sich um und schaute, wer da solch ein exorbitantes Gebot machte; die anderen blickten erwartungsvoll zum Auktionator. Bevor jemand reagieren konnte, schlug der Bastard zu. »Verkauft!« Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge. Mellitha war nirgends zu sehen, und ich kämpfte gegen den harten Griff der 317
Wärter an, während ich versuchte, in dem Gedränge einen Blick auf ihre schlanke Gestalt zu erhaschen. »Beweg dich.« Ein Schlag gegen die Beine ließ mich die Treppe hinunterstolpern. Ich hatte mich noch nicht ganz wieder aufrappelt, da wurde ich schon auf die andere Seite des Auktionsblocks gezerrt. »Nein, hör zu ...« Ich stieß den Wärter mit den gefesselten Händen vor die Brust. Wut loderte in mir auf. Von hinten flog eine Peitsche heran, schlang einen Ring aus Feuer um meine Brust und presste die Arme an meinen Leib. Als ich unwillkürlich nach Luft schnappte, packten mich zwei stämmige Kerle an den Oberarmen und schleppten mich weg. »Hier ist er, gekauft und bezahlt.« Ich hob den Blick und sah, wie ein gelangweilter Relshazri ein Pergament stempelte. Dann streckte er die Hand nach mir aus und riss mir das Schild vom Hals, wobei die Kordel mir die Haut aufschürfte. Ich beachtete den Schmerz nicht, sondern starrte offenen Mundes auf die Frau, die meine Verkaufsurkunde in den Händen hielt. Sie war schlank, besaß eine kupferfarbene Haut und dickes, hochgestecktes schwarzes Haar mit seinem seltsamen blauen Unterton. Sie trug einen hauchdünnen Seidenmantel über den Schultern, der vorne offen stand und ein tief ausgeschnittenes Kleid aus smaragdgrüner Seide enthüllte. Das Kleid war von hervorragendem Schnitt und betonte ihre üppige Brust und die schmalen Hüften, wozu auch verschiedene, mit Edelsteinen verzierte Gold- und Silberketten beitrugen. Dem Aussehen nach war sie ungefähr im selben Alter wie Livak, doch es war schwer zu sagen angesichts der üppig aufgetragenen Schminke in ihrem schmalen Gesicht, auf dem nun ein schelmisches Lächeln 318
lag. Neben ihr stand ein kräftiger Mann, ungefähr so alt wie mein Vater, und musterte mich über eine große, krumme Nase hinweg. Er trug eine weite Seidentunika in lebhaftem Grün, die von einer schwarzen Kordel über einer schwarzen Hose zusammengehalten wurde, die ihrerseits an den Fesseln zugeschnürt war. Seine Haut war deutlich dunkler als die der Frau, und sein langes gräuliches Haar und der Bart waren mit Öl geglättet. Das Gold, aus dem seine Ohrringe sowie die Ringe und Reifen um seine Finger und Arme bestanden, hätte als Lösegeld für einen Kaiser gereicht. Hinter dem Paar wartete ein dünner Mann in edlem Kettenhemd. Er hatte die Hände in einen Gürtel gesteckt, an dem zwei Schwerter sowie eine Vielzahl von Dolchen hingen. Zutiefst gelangweilt betrachtete er mich. Abgesehen von der Einsicht, das jeder Widerstand zwecklos war, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich war von einem Aldabreshi-Kriegsherrn gekauft worden. Das hatten uns Viltreds armselige Zauberkunststücke nicht gezeigt. Der Mann im Kettenhemd winkte mir zu, und ich stapfte neben ihm her, während die drei Aldabreshi glücklich die Sklavenauktion verließen. Die Frau hatte sich beim Kriegsherrn untergehakt, bedankte sich offenbar bei ihm und lachte mit einer Freude, die mir nun wirklich Sorgen bereitete. Mein einziger Trost war, dass sämtliche Passanten viel zu sehr damit beschäftigt waren, den exotischen Reichtum der drei zu bestaunen, als dass sie einen Blick für einen zerlumpten Sklaven wie mich übrig gehabt hätten, der in Ketten hinter ihnen her durch die Stadt schlurfte. Als wir kurz an einer Brücke stehen blieben, schaute ich mich nach Mellitha und Shiv um, was mir jedoch nur ein Knur319
ren von dem Mann mit den Schwertern einbrachte. Ich funkelte ihn an, doch als er die Hand auf einen seiner Dolche legte, senkte ich rasch den Blick. Wenn er der Hahn auf dem Mist sein wollte, würde ich ihn bestimmt nicht herausfordern – jedenfalls noch nicht, bis auch ich eine Klinge in der Hand hielt. Hatte ich erst mal ein Schwert, würden wir ja herausfinden, ob die Aldabreshi-Schwertkämpfer ihren Ruf verdienten. Wir gingen zwischen zwei großen Lagerhäusern hindurch, und ich fand mich auf einem Dock an der Golfseite wieder. Dieser Hafen unterschied sich drastisch von den verdreckten Anlegestellen, über die die Waren aus Lescar und Caladhria hereinkamen. Hier gab es keinen Abschaum, der alles und jeden anbettelte, und die weißen Pflastersteine waren blank gefegt. Große Gebäude mit Privatwohnungen über den Lagern umrahmten ein geschäftiges Treiben. Träger und Karren transportierten Seiden- und Leinenballen, Weinfässer und mit Eisen beschlagene Truhen, und alles war gut bewacht. Hier ragten riesige Wellenbrecher weit in den Golf hinein; selbst vor Stürmen bot die gewaltige Hafenbucht ausreichend Schutz. An den Molen lagen große Galeeren, deren riesige Laderäume bereit waren, als Gegenleistung für Edelsteine vom Archipel sämtliche Luxuswaren aufzunehmen, die Relshaz zu bieten hatte. Männer in fließenden Seidengewändern und mit ernsten Gesichtern standen beieinander und unterhielten sich. Die Juwelen an ihren Hüften, Hälsen und Armen spiegelten das Sonnenlicht, und dick geschminkte Frauen in verführerischen Kleidern plapperten und lachten; dabei wurden sie von Männern in Kettenrüstungen bewacht, von denen jeder genug Waffen trug, um einen halben Trupp Söldner auszurüsten. Überall um mich herum hallten Stimmen, und entsetzt erkannte ich, 320
dass ich kein einziges Wort verstand. Ich wurde von allen Seiten angerempelt, doch vor meinem neuen Herrn und meiner Herrin öffnete sich die Menge, und die Leute verneigten sich ehrfürchtig und breiteten die Hände aus. Der Kriegsherr ging stur geradeaus, doch die Frau nickte lächelnd mal hierhin, mal dorthin, und verteilte Silber aus einem Beutel an ihrem Gürtel. Wir erreichten ein hochwandiges Schiff, eines der wenigen mit drei Ruderbänken und einem leuchtendgrünen Banner am Mast mit einem schwarzen Symbol, aus dem ich nicht schlau wurde. Der Kriegsherr blieb stehen, sagte etwas zu dem Kämpfer und führte dann seine Dame eine der beiden Laufplanken hinauf. Ich hob die Brauen und blickte den Krieger fragend an. Er zuckte mit den Schultern, und kurz zeigte sich Verwirrung in seinen kupferfarbenen Augen, bevor er den Kai hinunter zur anderen Laufplanke ging. Ich zögerte einen Augenblick, doch ein rascher Blick auf meine Umgebung verriet mir, dass ich sofort zwanzig Aldabreshi am Hals hätte, sollte ich zu fliehen versuchen. Also seufzte ich bloß und folgte gehorsam dem Krieger. Mein Gesichtsausdruck war ruhig, doch meine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Dastennin helfe mir! Wie sollte ich hier je wieder herauskommen? Auf dem Deck deutete der Mann mit den Schwertern auf den freien Raum zwischen zwei Ballen und kehrte mir den Rücken zu. Während ich beobachtete, wie er durch eine Tür im hinteren Teil des Schiffes trat, konnte ich kaum glauben, dass man mich hier einfach unbewacht zurückließ, und so machte ich ein paar rasche Schritte in Richtung Laufplanke. Sofort drehten sich eine Hand voll dunkler Gesichter in meine Richtung; es waren Seeleute und Hafenarbeiter, und alle hielten in ihrer Arbeit inne, 321
um mich unfreundlich anzustarren. Ich kehrte wieder an den Platz zurück, den man mir zugewiesen hatte, und versuchte, harmlos auszusehen. Bewegung kam in das organisierte Gewimmel auf dem Kai, und ich schaute mich verzweifelt um in der Hoffnung, Shivs dunklen Kopf oder Mellithas blauen Umhang zu sehen. Stattdessen sah ich, wie die Menge sich teilte, um einen Trupp in schwarzer Uniform durchzulassen, deren blonde Köpfe sich wie Leuchtfeuer von den dunklen Aldabreshi abhoben. Mein Atem ging schneller, und ich beobachtete hilflos, wie die Männer näher und näher kamen; ein goldenes Funkeln um den Hals des Anführers war der einzige Farbtupfer an seiner ansonsten einheitlichen Kleidung. Erleichterung flutete über mich hinweg, als sie achtlos an der Galeere vorübergingen. Mit klopfendem Herzen beobachtete ich, wie sie an einer weiter entfernten Mole stehen blieben und der Anführer eine schlanke Aldabreshifrau mit rötlichem Haar ansprach. Plötzlich war es um mich herum vollkommen still, und ich drehte mich um, suchte nach der Ursache dieser ungewöhnlichen Ruhe. Ich wurde vollkommen ignoriert; alle Blicke waren auf den Kriegsherrn gerichtet, der nun am Bug des Schiffes stand und sich mit der Frau unterhielt. Er nahm ihr einen kleinen Weidenkäfig ab, öffnete ihn und entließ einen weißen Seevogel in die Freiheit. Alle außer mir schienen den Atem anzuhalten, während der Vogel in den Himmel stieg, kurz den Mast umkreiste und sich dann eilig Richtung Süden aufmachte. Die Stille endete in unmissverständlichen Freudenrufen der Aldabreshi. Das Deck erbebte unter meinen Füßen, und entsetzt sah ich, wie die Arbeiter am Kai die Ankertaue lösten. Plötzlich ertönte ein Ruf, die Ruder schlugen ins Wasser, und unter mir 322
erklang das dumpfe Schlagen einer Trommel. Unbeobachtet stürzte ich zur Reling und klammerte mich daran fest. In diesem Augenblick entdeckte ich Shiv, der in ein erregtes Gespräch mit einem in grün gewandeten Aldabreshi vertieft war. Rasch schaute ich mich nach den Elietimm um und sah, dass sie sich den Kai hinunterbewegten. Sie hielten genau auf Shiv zu, der noch vollkommen ahnungslos mit dem Mann des Kriegsherrn diskutierte. »Shiv!«, brüllte ich, doch meine einsame Stimme konnte es mit dem Platschen und Knarren der Ruder und den Rufen der Seeleute nicht aufnehmen, während die Galeere sich langsam aus dem geschäftigen Hafen hinausbewegte. Das große Fahrzeug drehte sich, und ein anderes Schiff glitt an uns vorbei und verbarg den Kai vor meinen Blicken. Ich stand an der Reling und fluchte in hilflosem Zorn. Es dauerte eine Weile, bis ich ein hartnäckiges Klopfen auf meinen Schultern bemerkte. Ich drehte mich um, und ein weiterer Fluch starb auf meinen Lippen, als ich den Mann mit den Schwertern sah, der mich ausdruckslos anblickte. Er nahm mir die Ketten ab und warf sie verächtlich ins Wasser, bevor er sich umdrehte und mir winkte, ihm zu folgen.
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5.
Ein Brief, den man im Eingangsbuch von Sidra gefunden hat, Lady Metril, Bucht von Attar, Caladhria. Er ist auf das 10. Jahr von Kaiser Leoril dem Dummkopf datiert
Meine liebste Sidra, ich habe die aufregendste Neuigkeit für dich, die du dir vorstellen kannst! Herist ist vor Kurzem von seiner Reise zurückgekehrt, und er hat es geschafft! Während ich dies hier schreibe, gedeihen Reihen um Reihen kleiner Gewürzpflanzen in unseren Gewächshäusern. Ist das nicht wunderbar? Besser noch, unser oberster Gärtner glaubt, dass er sie schon bald im Freien wird aussetzen können. Herist ist nicht sicher, wie lange es dauern wird, bis die Sträucher Früchte tragen, aber ist es erst einmal so weit, werden wir alle möglichen Gewürze verkaufen können und ein Vermögen verdienen. Ich bin sicher, dass die Leute lieber mit uns handeln wollen; immerhin werden wir ordentlich geprägtes Silber und Gold annehmen und nicht endlos über Tauschwaren feilschen. Solange diese Wilden von den Inseln nicht wissen, was Geld bedeutet, kann ich mir nicht vorstellen, wie sie uns Konkurrenz machen wollen, zumal wir ja auch kaum Transportkosten haben. Herist hat auch viele wunderbare Geschichten über seine Abenteuer bei den Barbaren mitgebracht. Er ist weit gereist, und 324
zumeist hieß man ihn freundlich willkommen. Diese Wilden scheinen ziemlich naiv zu sein, fast wie Kinder. Da Misaen in seiner unergründlichen Weisheit ihre Inseln mit gewaltigen Reichtümern gesegnet hat, sind die meisten Männer und Frauen mit Juwelen geschmückt, selbst die von niedrigerem Rang. Dennoch tauschen sie diese Dinge untereinander wie Kinder Murmeln auf einer Sonnenwendfeier. Herist hat mir Perlen mitgebracht, die dich grün vor Neid werden lassen, meine Liebe, und er hat dafür nur mit ein paar alten Schwertern und einem Sack Nägel bezahlt. Ihre Herrscher sind alles alte Männer, die durch jeden erdenklichen Luxus fett geworden sind. Als ich ihn danach fragte, gab Herist zu, dass sie nicht nur Appetit auf Wein und Essen haben. Jeder Mann hat eine ganze Herde von Frauen. Sie nennen sich selbst ›Ehefrauen‹, doch nach allem, was Herist erzählt hat, würde ich sie eher als ›Konkubinen‹ bezeichnen. Sie kleiden sich auf skandalöseste Art, malen sich an und schmücken sich über die Maßen, und wie es scheint, besteht ihr einziger Lebenszweck darin, die Lust jedweden Mannes zu befriedigen, der sie haben will. Man kann nur vermuten, dass sie es nicht besser wissen, so unzivilisiert und ungebildet wie sie sind. Herist versichert mir, dass er der Versuchung nicht erlegen ist, obwohl es zu ihren verdorbenen Sitten zählt, Gästen ihre Frauen anzubieten. Von Königtum und ordentlicher Regierung scheinen sie ebenfalls keine Ahnung zu haben; jeder Kriegsherr hält schlicht so viele Inseln, wie er durch Waffengewalt erobern kann. Sie legen großen Wert auf den geschickten Umgang mit Schwert und Bogen, da sie nur die Gewalt als Mittel zur Bereinigung von Zwistigkeiten kennen. Entsprechend umsichtig musste Herist 325
beim Erwerb der Gewürzpflanzen vorgehen, da sein Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen wäre, hätten die Barbaren auch nur geahnt, was er in Wahrheit beabsichtigte. Aber wie er immer sagt, ein Bulle ist nur gefährlich, wenn man ihn reizt, und es ist ihm nicht schwer gefallen, ihren schwachen Verstand zu überlisten. Du musst mich unbedingt besuchen kommen, meine Liebe. Ich sehne mich danach, dir meine neuen Juwelen zu zeigen und all die anderen Dinge, die Herist mir mitgebracht hat: Seide, Kuriositäten und Schnitzereien, die dir die Röte in die Wangen treiben werden. Geschrieben am 11. Tag des Nachfrühlings in unserer Jagdhütte in Derret. Trini, Lady Arbel
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Die Galeere von Shek Kul, welche über den Golf von Lescar segelt 33. Nachfrühling
Gehorsam ging ich hinter dem Schwertkämpfer her, der mich zu einer Kabine im Heck des Schiffes führte. Ein Hauch von Mitgefühl flackerte in seinen Augen auf, als er die Tür öffnete und mich hineinwinkte. Vorsichtig betrat ich den Raum, senkte den Kopf und versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen, was mir angesichts meines Zustands und der Lumpen, die ich trug, nicht allzu schwer fiel. Gleichzeitig überschlugen sich meine Gedanken. Was geschah gerade im Hafen? Die Frau, die für meine gegenwärtige Lage verantwortlich war, saß auf einem Haufen leuchtendbunter Kissen und begutachtete kritisch eine komplizierte Seidenstickerei. Sie blickte auf, und einen Augenblick lang traute ich dem bösen und zugleich amüsierten Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht. Sie rief etwas in einem süßlichen, einladenden Tonfall, und eine jüngere Frau huschte durch eine zweite Tür herein. Ihr aufgeregter Gesichtsausdruck wechselte sofort in eine Miene blanken Entsetzens, als sie mich sah. Die erste Frau musterte eine gestickte Blume mit feierlichernstem Gesichtsausdruck, während das andere Mädchen mir einen verächtlichen Blick zuwarf und dann zu der Älteren stürmte. Ich beobachtete mit einem wachsenden Gefühl der Hilflosigkeit, wie die stickende Frau ruhig auf die Tirade der jüngeren antwortete. Schließlich wurde das Mädchen von einer Mischung aus Wut und verletztem Stolz übermannt, und mit 327
Tränen in den Augen stürzte sie aus der Kabine. Da ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes tun sollte, zwang ich mich, alle Gedanken an Shiv und die Elietimm erst einmal in meinem Hinterkopf zu verschließen. Die anderen würden sich vorläufig um sich selbst kümmern müssen; sie waren zusammen, hatten Verbündete in Relshaz, und vor allem Livak war keine Närrin. Nun galt meine erste Pflicht mir selbst. Ich musste mich aufs Überleben konzentrieren, bis ich irgendwie aufs Festland zurückkehren konnte. Ich war auf mich allein gestellt, und wie ich die Lage einschätzte, schwebte ich in ziemlicher Gefahr. Ich blickte zu der Frau, doch sie war nach wie vor auf ihre Stickerei konzentriert; ihre bemalten Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen, und Zufriedenheit lag in ihren mandelförmigen Augen. Eine Geste des Schwertkämpfers erregte meine Aufmerksamkeit. Mit einem vorsichtigen Blick auf seine Herrin deutete er auf die Tür, durch die das weinende Mädchen geflohen war. Sorgfältig darauf achtend, nach wie vor ausdruckslos dreinzublicken, ging ich durch die Tür, die von der Wut des Mädchens noch immer leicht hin und her schwang. Ich fand mich in einer großen, luftigen Kabine wieder, deren lange Fenster sich auf ein kleines Privatdeck am Heck des Schiffes öffneten. Das Mädchen weinte nun nicht mehr, doch die Tränen auf ihrem Gesicht waren noch nass und verschmierten ihre Schminke. Ihre Wangen waren gerötet, und sie presste die Lippen zusammen. Verlegenheit kämpfte mit Zorn in ihren stürmischen braunen Augen, als sie tief durchatmete. Ich hielt es für angebracht, so unverbindlich dreinzublicken wie möglich. 328
Nach ein paar Minuten zuckte das Mädchen mit den Schultern, seufzte rätselhaft, strich sich eine lange Locke schwarzen Haars aus der Stirn und setzte sich auf einen Haufen Kissen, wobei ihr elegantes, bernsteinfarbenes Kleid ein Stück hochrutschte und mit Edelsteinen besetzte Fußketten enthüllte. Sie besaß schöne Fesseln, allerdings, so fiel mir auf, abnorm grobe Füße. Doch alles in allem war sie eine verführerische Blüte. Sie reichte mir knapp bis unters Kinn, besaß runde Hüften und einen üppigen Busen, der nur unzureichend von einem weiten, ärmellosen Seidenhemd bedeckt wurde. Ihr wütendes Stirnrunzeln passte nicht zu ihrem runden Gesicht, doch ich konnte mir gut vorstellen, wie ihre vollen Lippen sich putzig schürzen ließen. Mit einer höflichen Geste deutete sie auf den Boden, zog ihr Kleid wieder ein Stück über eine glatte braune Schulter und sagte irgendetwas. Offenbar glaubten die Aldabreshi nicht an Stühle; also setzte ich mich auf den Boden und versuchte mich an einem einschmeichelnden Lächeln. »Tut mir Leid, ich verstehe kein Aldabreshi.« Das Mädchen runzelte die Stirn und versuchte es erneut auf Relshazri; ich zuckte stumm mit den Schultern. Das war ein neues Problem für mich. Für die wenigen Fälle, da ich es mit einem Hinterwäldler zu tun habe, der kein Tormalin spricht, habe ich genug Caladhrisch oder Dalasorisch parat, um mich verständigen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages auch die Sprache des Archipels würde gebrauchen können. Tatsächlich kannte ich noch nicht einmal jemanden, der sie mir hätte beibringen können. »Du bist ein Tormalin?«, fragte das Mädchen nach ein paar Augenblicken. Die Worte kamen zögernd, und ihre Aussprache 329
war stark gefärbt. Ich verneigte mich unbeholfen, da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. »Mein Name ist Ryshad.« Sie wiederholte den Namen ein paar Mal für sich selbst, teilte die Silben und betonte sie auf Aldabreshiart. »Rhya Shad.« Ich sollte mich wohl besser daran gewöhnen, fortan so genannt zu werden, bis ich einen Weg aus diesem Labyrinth fand. Das Mädchen nickte zufrieden und deutete dann auf sich selbst. »Ich bin Laio Shek, vierte Frau von Shek Kul und Herrin über seine Weber.« Ich verneigte mich erneut, diesmal so tief wie möglich. Ich weiß genau, auf welche Etikette man achten muss, wenn man dem Sieur eines Hauses begegnet, seinen Erben und Damen, und wie man einen Lescariherzog anspricht, doch ich hatte keinerlei Ahnung vom Umgang eines Sklaven mit seinem Eigentümer. Bis jetzt hatte ich mir immer vorgestellt, jedwede Konversation finde nur durch die Peitsche statt, und ich hatte keine Lust, dass sie auf dieses Mittel zurückgriff; besser, ich sah wie ein Trottel aus und drückte die Nase auf den Boden. Wenn ich verletzt wurde, hatte ich überhaupt keine Chance mehr, von hier wegzukommen. Ein verlegenes Schweigen setzte ein; also schaute ich mich in der Kabine um. Die Holzwände waren in blassem Gelb gestrichen und mit eleganten, verschlungenen Stickereien verziert. Der Boden war blank poliert, und an der gegenüberliegenden Wand stand ein niedriges Bett mit Bergen von Seidendecken. Mehrere Kleider waren achtlos darauf geworfen, und ein Tablett mit Schminke stand gefährlich nah an der Kante. »Du stinkst«, sagte Laio plötzlich. »Du wirst dich waschen, 330
bevor du an deine Pflicht gehst.« »Was ist denn meine Pflicht?«, fragte ich vorsichtig. Laio presste die Lippen aufeinander und sog verärgert die Luft durch ihre fein geschwungene Nase ein. »Schenk mir Wein ein.« Sie deutete zu einer Karaffe auf einem niedrigen Beistelltisch am Fenster. Ich füllte ein Glas und schaute mich erfolglos nach einem Tablett um. Laio nickte anerkennend; trotzdem hatte sie die Stirn noch immer in Falten gelegt. »Nimm dir selbst auch etwas, und setz dich«, sagte sie unerwartet. Ich tat wie geheißen. Der dünne, schwache Wein war nicht besonders. Laio leerte ihr Glas und spielte gedankenverloren damit herum. »Du bist ein Festländer aus den Ländern im Osten. Trifft das zu?« »Ja. Ich stamme aus Zyoutessela in Südtormalin.« Laio wischte die Antwort mit einer Geste als unwichtig beiseite. »Ein Festländer ... Weißt du denn gar nichts über unsere Inseln?« Nicht viel, außer dass dort ungefähr hundert blutrünstige Kriegsherrn leben, wie man sich erzählt. Jeder von ihnen beherrschte mit Terror und Gewalt eine unbestimmte Zahl kleinerer Inseln sowie eine Hauptinsel. Ich dachte an all die farbigen Geschichten, die ich im Laufe der Jahre gehört hatte. »Nein, nichts«, log ich mit fester Stimme. Laio blickte mich abschätzend an. »Ich verstehe. Seit wann bist du schon Sklave?« »Shek Kul ist mein erster Besitzer«, erwiderte ich hustend, weil das Wort »Besitzer« mir im Halse stecken zu bleiben drohte. 331
Laio runzelte erneut die Stirn und murmelte irgendetwas Zorniges auf Aldabreshi, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass ihre Wut gegen mich gerichtet war. »Ich weiß nicht, wie es Gar Shek gelungen ist, Shek Kul davon zu überzeugen, dich zu kaufen, aber ich bin sicher, sie rechnet damit, dass du einen armseligen Sklaven abgibst. Da die Qualität eines Leibsklaven auf seinen Besitzer zurückfällt, hofft sie, dass du mich demütigen wirst. Aber so weit werde ich es nicht kommen lassen. Mit meiner Reaktion habe ich ihr schon genug Befriedigung verschafft.« Sie deutete auf ihr Glas, und ich beeilte mich, ihr nachzuschenken. »Was, glaubst du, sind deine Pflichten hier?« Ich rief mir all die Gerüchte ins Gedächtnis, die ich über Leibsklaven von Aldabreshifrauen gehört hatte, und entschied mich für das am wenigsten lüsterne. »Soll ich Euch vor anderen Männern beschützen, um Euch für Euren Gemahl zu bewahren?«, wagte ich mich zu fragen. Ein Hauch von Abscheu huschte über Laios Gesicht. »Lassen sich die Festlandfrauen bewachen wie Fasane im Garten? Du bist nicht der Sklave meines Gemahls, sondern meiner. Hast du das verstanden?« Ich nickte pflichtbewusst, obwohl ich bis jetzt eigentlich gar nichts verstand. »Du sollst mich verteidigen, das ist richtig«, fuhr Laio fort, »aber nicht für meinen Mann, sondern für mich. Wenn ich es befehle, wirst du kämpfen – gegen jeden Gegner, den ich dir nenne, selbst gegen Shek Kul. Auf den Inseln hat kein Ehemann die Gewalt über den Leib seiner Frau.« Das wäre in der Tat erstaunlich, so es denn stimmt, dachte ich sarkastisch. Die Gesetze von Toremal sind die einzigen mir 332
bekannten, die einem Mann das Ehebett verbieten können, falls seine Frau drei unabhängige Zeugen anbringen kann, die bestätigen, dass er sie misshandelt hat. Doch wie auch immer, ich blickte weiterhin teilnahmslos drein, während ich Laio aufmerksam zuhörte. »Und jetzt pass gut auf: Du musst schnell lernen, und ich werde es kein zweites Mal sagen. Auf den Inseln besitzt eine Frau sowohl Status als auch eigene Pflichten. Wir verwalten das Eigentum unseres Ehemannes und gebären ihm Kinder, wenn wir wollen, als Gegenleistung für seinen Schutz und seine Gunst. Einträgliche Ehefrauen sind eine Bereicherung für den Mann; eine Ehe ist eine bindende Allianz, und Allianzen bedeuten Macht auf dem Archipel. Shek Kul hat Allianzen mit seinen Nachbarn und dank seiner Frauen überdies mit zweien der wichtigsten Lords; er gilt als sehr mächtiger Mann. Sein Reich liegt im Süden des Archipels.« Das bedeutete, dass ich noch südlicher kommen würde als das Kap der Winde; mit Abscheu dachte ich an das heiße, stickige Klima des Archipels. Laio sprach nun langsam, um sicher zu gehen, dass ich sie verstand, und ich hörte ihr gehorsam zu. Je eher ich alles kennen lernte, desto schneller würde ich einen Weg finden, um hier wieder rauszukommen. Mit plötzlicher, unangebrachter Erleichterung erkannte ich, dass ich hier wenigstens allein war; hier gab es keine Zauberer, denen ich gehorchen musste, und niemanden, dessen Pläne ich nicht vergessen durfte. Messire hatte mit Sicherheit keine Möglichkeit, mir Hilfe zu schicken, selbst falls es Planir in den Sinn kommen sollte, ihn von meiner Notlage in Kenntnis zu setzen. Das Haus D’Olbriot hat nur dann mit dem Archipel zu tun, wenn es gilt, Piraten zurückzuschlagen, die es wagen, über das sturmge333
peitschte Meer im Osten zu segeln, um Schiffe entlang der Golfküste anzugreifen. »Shek Kuls erste Frau verwaltet seine Edelsteine und seinen Haushalt. Sie heißt Kaeska Shek, geborene Kaeska Danak. Die zweite Frau heißt Mahli Shek, geborene Mahli Kaasik, und sie hat die Aufsicht über die Güter auf Shek Kuls Inseln; sie kümmert sich sowohl um die Aufseher als auch um die freien Insulaner und die hergestellten Waren. Die dritte Frau ist Gar Shek, die als Gar Gaska im Nordwesten geboren wurde; sie hat einen gut gehenden Handel mit Stickereien aufgebaut. Das hat ihr einen hohen Status verschafft, was wiederum ein gutes Licht auf Shek Kul wirft. Das ist der Grund, warum sie im Augenblick so oft ihren Willen durchsetzen kann.« Kurz erhellte ein verschmitztes Lächeln Laios Gesicht. »Das wird aber nicht mehr lange so bleiben. Mahli ist schwanger, und wenn ihr Kind geboren ist, wird sie die erste Frau werden und Gar an ihren Platz verweisen. Ich bin die vierte Frau. Ich bin als Laio Sazac auf den westlichen Inseln des Zentrums geboren und habe Shek Kul vor gut einem Jahr geheiratet. Als derzeit jüngste Frau habe ich die Aufsicht über die Baumwollweber. Ich beaufsichtige ihre Arbeit und organisiere den Handel mit dem fertigen Stoff. Mindestens dreimal im Jahr reise ich zu sämtlichen Inseln Shek Kuls sowie zu denen von Kaasik Rai. Ich empfange auch Besucher und Agenten von anderen Domänen. Du wirst dich bei diesen Treffen um mich und meine Gäste kümmern. Ist das klar?« »Vollkommen klar, Mylady.« Wie es schien, waren all die lüsternen Geschichten über Aldabreshifrauen in ihren goldenen Käfigen, wo sie nur darauf warteten, den fleischlichen Appetit ihrer Ehemänner zu befrie334
digen, mehr als nur ein bisschen ungenau. »Du wirst meinen Befehlen gehorchen, ohne sie in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Du wirst nicht mit mir diskutieren und mir nicht widersprechen. Wenn du irgendetwas nicht verstehst, dann warte, bis wir allein sind, und frag erst dann. Im Beisein von Shek Kul oder Gar werde ich keine Fragen beantworten. Von Mahli darfst du Befehle entgegennehmen, aber nicht von Gar oder Kaeska. Sie haben kein Recht, dir Befehle zu erteilen, und das wissen sie auch.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die hochmütige Gar Shek sonderlich gut auf Trotz reagierte, doch nach Laios Gesichtsausdruck zu urteilen stand dieser Punkt nicht zur Diskussion. Mir war auch klar, dass Gar im Nachbarraum unser Gespräch mithören konnte; das Mädchen erklärte also nicht nur mir, wie die Runen lagen, sondern auch der anderen Frau. »Ich werde dafür sorgen, dass du so viel Zeit wie möglich mit Grival verbringen kannst, der Mahli gehört. Du wirst alles lernen, was er dir über die Pflichten eines Leibsklaven sagen kann. Überdies ist er ein ausgezeichneter Schwertkämpfer und kann dich unterrichten. Die Zeit mit ihm darfst du außerdem dazu nutzen, alles über Gars Pläne herauszufinden, was du herausfinden kannst. Und du wirst Aldabreshi lernen müssen; ich kann nicht die ganze Zeit deine barbarische Sprache sprechen. Am Ende der Jahreszeit wirst du die unsere fließend beherrschen.« Auch das stand eindeutig nicht zur Diskussion, und ich fragte mich besorgt, wie schwer es wohl würde. Das wenige Aldabreshi, das ich bisher vernommen hatte, hörte sich an, als würde sie ständig versuchen, rostige Nägel auszuspucken. Laio wischte sich mit der Hand übers Gesicht und verzog den 335
Mund ob des verschmierten Rouge. »Hol mir Creme, um das abzuwischen.« Sie deutete auf eine Truhe in der Ecke. Ich stand auf, öffnete die Truhe und fand ein paar Leinentücher, eine edle Porzellandose mit einer dünnflüssigen Lotion und eine blaue Flasche aus Relshazriglas, die etwas enthielt, das ein wenig beißend roch. Laio nickte, und ich kniete mich nieder und kam mir ziemlich überflüssig vor, während sie sich die Farbe von Lippen, Wangen und Augen wischte. Als ich ihr nacktes Gesicht betrachtete, erkannte ich erstaunt, dass sie nicht älter als siebzehn oder achtzehn war. Angesichts ihrer Haltung und ihres selbstbewussten Auftretens als Frau eines Kriegsherrn hätte ich sie mindestens fünf Jahre älter geschätzt. Ein Klopfen an der Tür ließ Laio innehalten. Als sie ungeduldig winkte, öffnete ich und sah eine hochschwangere Frau in schlichtem cremefarbenem Gewand, die ungefähr meine Größe besaß, sich gegen den Türrahmen lehnte und Laio anlächelte. Sie fragte etwas auf Aldabreshi; ihre samtene Stimme nahm der Sprache viel von ihrer Härte. Laio lachte und deutete mit einer dramatischen Geste der Hilflosigkeit auf mich. Damit war die Entscheidung gefallen: Ich würde diese Sprache lernen, auch wenn sie sich anhörte wie das Bellen eines kranken Hundes. Kein Gör, was kaum halb so alt war wie ich, sollte sich über mich lustig machen, ohne dass ich es wenigstens verstand! Ich musterte die Fremde, während die beiden Frauen miteinander redeten. Sie war groß und ungeachtet ihres Zustands kräftig gebaut. Während Laio lange schwarze Locken besaß, die ihr über den Rücken fielen, trug sie ihr Haar kurz, und es war zu seltsamen kleinen Locken gedreht, die an Pfefferkörner erinnerten. Ihre Haut war die dunkelste, die ich bisher gesehen 336
hatte – eine beunruhigende Erinnerung daran, wie viel anders die Aldabreshi sein konnten. Ein wenig beruhigt wurde ich jedoch von dem gutmütigen Ausdruck in ihren großen dunkelbraunen Augen über breiten Wangen und den Lachfältchen. Laio sagte etwas, das Mahli vor Lachen erbeben ließ; dann stand sie auf und lächelte breit. »Ich werde jetzt einige Zeit mit Mahli verbringen«, verkündete sie. »Du räumst hier drin auf, und dann geh und such Sezarre. Wir reden später wieder miteinander.« Sie verließ den Raum mit einem Rauschen parfümierter Seide, und ich stand auf und rieb mir die Knie. Ich freute mich wirklich nicht darauf, in näherer Zukunft so viel Zeit auf dem Boden verbringen zu müssen, und ich fragte mich, ob die Aldabreshi wenigstens an Land so etwas wie Möbel besaßen. Ich schaute mich in dem Chaos um, das Laio offenbar gewohnheitsmäßig hinterließ, und erinnerte mich an Mutters Drohung, Kitria mit einer Weidenrute zur Ordnung zu erziehen. Alle jungen Mädchen hatten offenbar einige Dinge gemeinsam. Etwas in mir rebellierte, als ich nach dem schlüpfrigen Seidenkleid griff, und ich schaute mich nach einer Truhe um, in der ich es verstauen konnte. In einem plötzlichen Anfall von Wut stand ich kurz davor, das hauchdünne Ding in Stücke zu reißen – mal sehen, wie die herrische kleine Blume darauf reagierte! Mein Griff verstärkte sich um den feinen Stoff, doch plötzlich brach ich ob meiner dummen Wut in Lachen aus. Ich war weit von Kurs abgetrieben, und der Wind stand ungünstig, doch ich musste Ruhe bewahren, wollte ich je wieder zurückpaddeln. »Vom eingeschworenen Mann zur Kammerzofe! Ryshad, das hast du wirklich gut gemacht.« 337
Laio konnte mich so oft einen Sklaven nennen, wie sie wollte; aber niemand konnte mich zwingen, mich selbst als Sklaven zu betrachten. Auch konnte ich den Sklaven spielen – so wie ich eine halbe Jahreszeit lang einmal den Dorftrottel gespielt hatte, um einen Auftrag für Messire zu erfüllen. Ich sammelte die achtlos beiseite geworfenen Kleider ein und fand die entsprechende Truhe. Rasch brachte ich Ordnung in die Kabine; dann machte ich mich auf die Suche nach dem Mann, der mich an Bord gebracht hatte – Sezarre war sein Name, wie ich mich erinnerte. Ich fand ihn an Deck im Gespräch mit einem muskulösen Mann mit kahl rasiertem Kopf und harten schwarzen Augen. Beide waren bis zur Hüfte nackt, schwitzten und hielten stumpfe Schwerter in Händen. Dann nickten sie sich zu und nahmen ihren Kampf wieder auf, worauf ich ihnen rasch aus dem Weg sprang. Andere Geschichten über das Archipel mochten sich als falsch herausstellen, doch was den Ruf der Schwertkämpfer betraf, sah es so aus, als sei dieser noch untertrieben. Die Schwerter mochten gut eine Handspanne kürzer sein als die, die ich gewohnt war, doch mit zweien davon anstatt eines Schildes glich jeder Aldabreshi aus, was ihm an Reichweite fehlte. Ich stieß einen stummen Pfiff aus, als die beiden mit wirbelnden Hieben aufeinander eindroschen und erst aufhörten, als Sezarre einen wuchtigen Treffer an der Schulter abbekam. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich sah, wie sich der rote Striemen sofort blau verfärbte. Sezarre blickte zu mir, rieb sich die Schulter und grinste reumütig. Der andere Mann sagte irgendetwas, hob die Übungsschwerter auf und steckte sie in einen Sack aus Segeltuch. Das musste Grival sein. »Wir waschen«, sagte Sezarre in unbeholfenem Tormalin. 338
Ich nickte und folgte ihm zu der Seite des Schiffes, wo Grival bereits Eimer mit Meerwasser heraufzog. Die beiden anderen Leibsklaven zogen sich nackt aus, wobei ihnen egal war, dass sie die Aufmerksamkeit der Seeleute in der Nähe auf sich zogen. Ich gesellte mich zu ihnen, froh, die Erinnerungen an das Gefängnis von Relshaz zusammen mit Lumpen wegwerfen zu können, und ich genoss das Brennen des klaren, sauberen Meerwassers. Ich zuckte leicht zusammen, als Grival mir den Rücken schrubbte, erinnerte mich dann aber daran, dass Aiten und ich einander den gleichen Dienst erwiesen hatten. Ich schloss die Augen, als mich plötzlich wieder Trauer überkam, die angesichts meiner gegenwärtigen Situation nur umso schlimmer schmerzte. »Hier.« Sezarre reichte mir eine Schüssel mit flüssiger Seife, und ich schrubbte mich eifrig weiter. Grival sagte irgendetwas, kramte in einer Tasche und reichte mir einen kleinen Topf mit Salbe. Ich fragte mich, ob er überhaupt kein Tormalin sprach. »Für die Haut.« Sezarre nahm den Topf und rieb einen Fingervoll Salbe auf seine Verletzung. Ich nickte und machte mich an die langwierige Aufgabe, meine eigenen Schrammen und Schwellungen einzureiben. Das Zeug brannte, aber es roch gesund, und allein die Tatsache, sauber zu sein und mich um meine Verletzungen kümmern zu können, vollbrachte wahre Wunder. Grival sagte irgendetwas zu Sezarre, worauf beide lachten, als sie mich anschauten. Ich lächelte und schluckte meine Entrüstung hinunter. Ich brauchte Verbündete hier, und es war an der Zeit, dass ich einer von ihnen wurde. »Er sagt, du siehst aus wie ein Hund, der ihm einmal gehört 339
hat – überall braune und weiße Flecken«, erklärte Sezarre und lächelte breit. Ich blickte an mir hinunter und sah Linien an meinen sonnengebräunten Armen und am Hals, die meine bleiche Brust vom Rest trennten. Ich nickte und rang mir ein Lächeln ab zum Zeichen, dass ich den Scherz verstanden hatte; tatsächlich war ich, soweit ich sehen könnte, der hellhäutigste Mensch an Bord. Grival besaß von Kopf bis Fuß die Farbe von altem Leder, und obwohl Sezarres Arme ungefähr die gleiche Farbe besaßen wie meine, war doch offensichtlich, dass es seine natürliche Hautfarbe war. Es fühlte sich wirklich seltsam an, sich derart von anderen abzuheben. Da ich für Messire zumeist nach Norden muss, machen die meisten Leute Bemerkungen ob meines dunklen Haars und meiner Haut. Das Deck bewegte sich unter meinen Füßen und erinnerte mich daran, dass man beim Gehen aufpassen musste. Ich kratzte mit dem Finger über mein Kinn und ahmte ein Messer nach. »Rasierer?« Sezarre runzelte die Stirn und sagte irgendetwas zu Grival, der überrascht dreinschaute. »Nein.« Sezarre schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du Insulaner.« Ich schaute mich auf dem Schiff um und stellte fest, dass nirgends ein glattrasiertes Kinn zu sehen war. Ich lächelte, nickte Sezarre zu und seufzte innerlich bei der Vorstellung, dass ich von nun an einen Bart würde tragen müssen. Das hatte ich zwar schon mehrmals getan, um mich zu tarnen, doch aus Erfahrung wusste ich, dass es kaum etwas Schöneres gab, als das verfluchte Ding wieder abzunehmen. Nach allem, was ich bis jetzt von meiner so genannten Herrin gesehen hatte, glaubte 340
ich nicht, dass sie mir gestatten würde, von der gegenwärtigen Mode auf den Inseln abzuweichen. Grival reichte mir ein abgetragenes, aber sauberes Hemd, während Sezarre mir eine Hose aussuchte; beide Kleidungsstücke bestanden aus weicher Baumwolle. Als ich die fremdartige Kleidung befühlte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen; daheim war das ein verflucht teurer Stoff. Ich schaute mich nach einer Fußbekleidung um. »Stiefel?«, fragte ich hoffnungsvoll. Sezarre schüttelte den Kopf. »Nicht auf den Inseln. Sonst verrotten Füße.« Das erklärte das Rätsel der feinen Damen mit den dicken Schwielen an den Füßen. Grival murmelte Sezarre irgendetwas zu, ohne mich anzuschauen. »Er sagt, dass du nicht als Sklave geboren bist?«, fragte Sezarre zögernd; seine Neugier war offensichtlich. »Nein.« Ich lächelte ihn freundlich an. Einer dieser Männer könnte die entscheidende Information besitzen, die mich hier rausbrachte; das war der verführerischste Grund, den ich mir denken konnte, ihre Sprache zu lernen. »Was hast du vorher getan?« Ich sah die Fragen in seinen Augen, und ich konnte es ihm nicht zum Vorwurf machen; ich wäre auch mehr als vorsichtig, würde jemand mir plötzlich einen potenziellen Verbrecher zuteilen. »Ich war der eingeschworene Mann eines großen Herrn, ein Kämpfer.« Ich war viel mehr als das, aber das war wohl kaum die richtige Zeit, diesen Leuten die Bedeutung von Eid und Pflicht zu erklären. 341
»Nun dienst du der Frau von Shek Kul, unserem großen Herrn.« Sezarre lächelte mich breit an; offensichtlich erwartete er, dass ich seine Freude ob dieser Ehre teilte. Ich nickte und erinnerte mich an die Aldabreshi-Schnitzerei, die Lady Channis in ihrem Salon aufgestellt hatte: Von der einen Seite betrachtet, sah man einen Baum, von der anderen ein Gesicht. So würde ich mit meiner gegenwärtigen Situation leben können, sagte ich mir; ich musste sie einfach als eine andere Art von Dienst betrachten. Was geschehen war, konnte ich nicht ändern, also musste ich dafür sorgen, dass es in Zukunft in meinem Sinne lief. Bevor ich diesen Gedanken jedoch weiterverfolgen konnte, schlug Grival die Hand an die Stirn und lief rasch übers Deck zu einem Bündel. Er warf mir etwas zu, und ich fing es auf und fragte mich, was es wohl sein mochte. Es war mein Schwert. Fassungslos starrte ich auf das grüne Leder der Scheide. »Gute Klinge«, sagte Sezarre bewundernd und blickte mich erwartungsvoll an, wobei er die Hand ausstreckte. Also bekommen die Käufer auf dem Sklavenmarkt in Relshaz die Ware mit allem, was dazu gehört, dachte ich bissig. Wie zivilisiert. Ich reichte Sezarre das Schwert, und er schwang es so geschickt um Kopf und Schultern herum, dass ich froh war, mein Glück nicht bei ihm versucht zu haben. Trotzdem war es gut, das Schwert bei mir zu haben, erinnerte es mich doch ständig an meinen wahren Herrn, an meine in freiem Willen gegebenen Eide, die meine Ehre bewahrten. Diese Eide bedeuteten auch, dass Messire alles tun würde, um mich zu finden – falls diese verfluchten Zauberer ihn wissen ließen, dass man mich verschleppt hatte. Zwar würde ich mich lieber selbst 342
befreien, doch der Gedanke, dass andere sich um mich sorgten, war ein großer Trost. Eine Glocke ertönte. Sezarre und Grival packten rasch ihr Zeug zusammen, und ich folgte ihnen in die Kombüse. Offenbar sollten wir den Damen beim Essen aufwarten. Ich tat es den anderen nach, als diese je ein Tablett mit Tellern beluden. Das Hauptgericht war blassgelb und dampfte, und klein geschnittene Stücke von irgendetwas lagen in Schüsseln, von allen möglichen Saucen bedeckt. Der Menge nach zu urteilen, die Grival aus der Kombüse mitnahm, aß Mahli für sechs, obwohl sie doch eigentlich nur ein Kind bekam. Sezarre wiederum schien zu glauben, dass Gar hohle Beine hatte. Schon bald erkannte ich den Fehler in diesen Gedanken, als ich feststellen musste, dass die Mahlzeit eines Leibsklaven aus den Resten seiner Herrin bestand. Ich konnte dem Gespräch der Frauen nicht folgen, doch ihrem Tonfall und ihren Gesichtern nach hätte jeder geglaubt, die besten Freundinnen vor sich zu haben. Während mir der Magen knurrte, sah ich, dass Laios Rundungen von einem gesunden Appetit herrührten. Wir servierten mehr von dem schwachen Wein, dazu Obst, und schließlich verabschiedete sich Mahli, um sich hinzulegen; Gar kehrte zu ihren Stickereien zurück, und ich war überrascht, als ich sah, wie Laio sich mit Schreibzeug und einem Stapel Briefe auf einen Haufen Kissen hockte. »Wir essen.« Sezarre wies mit dem Kopf in Richtung Tür, und ich folgte ihm und Grival zu unserem angestammten Platz an Deck. Grival lachte und reichte mir ein paar der Schüsseln von seinem eigenen, weitgehend unberührten Tablett. Ich lächelte dankbar und beäugte vorsichtig das Essen. Etwas, das wie ein 343
Nest winziger Innereien aussah, schob ich beiseite und stocherte mit dem Finger in einem Haufen verschrumpelter grüner Blätter. »Das heißt ›Turil‹.« Sezarre reichte mir eine seltsame Art Löffel; er besaß eine flache Ausbuchtung und am anderen Ende zwei Spitzen wie eine winzige Heugabel. Ich beobachtete, wie die beiden anderen löffelten und aufspießten; nun wusste ich, warum alles in so kleine Stücke geschnitten war. »Keine Hände, sehr schlecht.« Sezarre schüttelte den Kopf. »Nicht sauber, Festländergewohnheiten.« Ich seufzte und spießte einen Mund voll Blätter auf. Einen widerlichen Augenblick lang glaubte ich, auf eine Wespe gebissen zu haben; da ich in einigen Schüsseln Blüten sah, war es die einzige Erklärung, die ich für den stechenden Schmerz in meinem Mund hatte. »Bergpflanze.« Sezarre reichte mir Obstsaft. »Sehr scharf.« Tränen in den Augen, spülte ich den Geschmack hinunter und wandte mich dann sicherheitshalber einem cremigen Flockenbrei zu. Er war ein wenig grob – die winzigen Körner blieben an meinen Zähnen kleben –, doch trotz seines fremdartigen, säuerlichen Geschmacks war er gar nicht so übel. Grival bot mir einen kleinen Teller mit dunklem Fleisch in dunkelroter Sauce an. »Sehr gut.« Sezarre nickte eifrig. Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab und leckte vorsichtig an der Sauce. Zu meiner Überraschung war sie sehr süß, fast wie Honig mit einem Hauch aromatischer Gewürze. Zumindest würde ich hier nicht verhungern, dachte ich, während ich den Teller leerte. »Was ist aus dem Sklaven geworden, der meiner Herrin vor 344
mir gedient hat?«, fragte ich. Sezarre zuckte mit den Schultern. »Knochenfieber, sehr schlimm.« Ich blickte auf meinen Teller. Verhungern würde ich hier wohl nicht, doch auf dem Archipel erwartete mich eine ganze Reihe anderer, tödlicher Gefahren.
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Eine schmale Meerenge zwischen zwei dicht bewaldeten Inseln im Herzen des weiten Ozeans
Temar wachte erschrocken auf. Seine Sinne waren wie vernebelt, und eine dichte Dunkelheit drückte auf ihn hinunter. Er riss sich die erstickende Decke vom Kopf, blinzelte, und die Welt kehrte wieder in ihren gewohnten Zustand zurück. Die Laterne eines gemächlich dahinschlendernden Wachpostens umkreiste das Lager, und überall waren die leisen Geräusche Schlafender zu hören. Temar setzte sich auf und stützte die Hände auf das kühle Gras. Er atmete tief durch, während das Gefühl, sich noch immer auf einem schwankenden Schiff zu befinden, allmählich verebbte. Dann blickte er zu den Sternen empor und fragte sich, wie lange es wohl noch bis zum Morgengrauen dauerte. »So oder so, nicht lange genug«, murmelte er, lächelte und rollte sich wieder zusammen, um sich noch ein wenig auszuruhen, bevor er sich den Pflichten eines geschäftigen Tages widmete. Das hier ist sicherlich keine Vergnügungsfahrt, sinnierte er, während er langsam wieder in Schlaf versank. Das Klappern von Kochtöpfen und ein immer lauteres Stimmengewirr weckten ihn. Die Sonne stieg über ein dichtes Wäldchen auf einer Landspitze am Ende der Meerenge, und im Lager war man schon eifrig mit den Frühstücksvorbereitungen beschäftigt; überall brannten Feuer auf dem schmalen Grasstreifen, der den Wald vom Wasser trennte. Genüsslich sog Temar den Geruch von Pfannkuchen ein, der sich mit dem frischen grünen Duft ihres Ankerplatzes mischte. 346
»Guten Morgen.« Vahil schob seinen Kopf aus einem Wust aus Decken hervor. Sein drahtiges Haar stand in alle Richtungen ab, und auf seiner geröteten Wange war ein dicker Grasabdruck zu sehen. Temar gähnte und griff nach seinen Stiefeln. Er untersuchte sie auf Krabbelgetier, bevor er sie anzog, und zuckte unwillkürlich zusammen, als sich das kalte, feuchte Leder um seine Füße schloss. »Ich werde mich erst einmal waschen gehen«, verkündete er und machte sich auf den Weg zu dem kleinen Bach, der sich über die Grasfläche zum Kiesstrand wand. Kaltes Wasser half Temar, den Schlaf aus den Augen zu vertreiben, und er nahm erste Einzelheiten der Szenerie um sich herum wahr. Sein Blick blieb an Guinalle haften, die vor einem Zelt ihr Haar bürstete, das Gesicht rosig vom kalten Wasser. Sie trug einen dicken Schal über ihrem frischen Nachtgewand. »Und? Fühlst du dich nach einer Nacht auf dem Trockenen besser?«, erkundigte sich Temar und band sich das Haar mit der Silberspange seines Vaters zurück, die inzwischen von der salzigen Gischt beschlagen war. Guinalle brachte ein leichtes Lächeln zustande. »Ja, danke. Ich muss zugeben, ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauern würde, bis mir Seebeine wachsen.« »Weißt du, wie lange wir hier bleiben?«, fragte Temar. »Wir müssen Trinkwasser aufnehmen und so viel frisches Essen, wie wir finden können. Außerdem stehen ein paar Reparaturen an.« Guinalle verzog das Gesicht. »Ich fürchte, wir werden lange genug hier sein, dass ich mich wieder ans Land gewöhne. Wenn wir dann wieder segeln, werde ich wohl erneut ein paar Tage mit dem Kopf in der Schüssel verbringen. Larasion, gib mir Kraft!« 347
Temar lächelte sie an. Wenn ihre beneidenswerte Selbstsicherheit ein wenig angeschlagen war, so wie jetzt, war sie sogar noch attraktiver, dachte er. »Sollen wir uns was zum Essen besorgen?« »Im Augenblick nicht.« Guinalle schüttelte den Kopf und schauderte theatralisch. Sie warf ihren Zopf über die Schulter zurück und griff nach ihrem Kleid. »Könntest du mir beim Anziehen helfen? Elsire ist noch nicht auf, und die Dienerinnen haben zu tun.« Temar beobachtete mit Bewunderung, wie Guinalle das schlichte braune Kleid über Kopf und Hüften zog, bevor sie ihm den Rücken zudrehte. Er zog die Schnüre fest und atmete dabei den Duft von Minze ein, mit der sie ihre Kleider frisch hielt. »Weißt du, wo Messire Den Fellaemion ist?«, fragte Guinalle in sachlichem Tonfall, als hätte sie mit dem Kleid auch ihre Adelswürde übergestreift. »Wollen mal sehen.« Temar ließ den Blick über das Lager schweifen. »Dort, bei den Wasserfässern.« Guinalle stellte sich auf die Zehenspitzen und blinzelte. »Oh, ja, jetzt sehe ich ihn auch.« Mit einem Hauch von Bedauern blickte Temar ihr hinterher; dann machte er sich auf die Suche nach einer Mahlzeit und winkte mit säuerlichem Gesichtsausdruck einen Pächter fort, der sich ihm mit einem Wasserschlauch näherte. Das Frühstück war leider allzu schnell vorbei, und Temar aß die letzten Löffel Brei aus seiner Schüssel, als er sich an den schlichten Tisch setzte, wo der Verwalter seines Schiffes mit einem Stapel Schreibmappen und Wachstabletts auf ihn wartete. Die Sonne war bereits hoch über das glasige Wasser der Meerenge gestiegen und brannte den Morgennebel von den 348
Bäumen, als Temar schließlich eine genaue Liste der verbliebenen Vorräte in den Händen hielt. Inzwischen hatte man frisches Wasser an Bord gebracht und sich um all die kleinen Verletzungen und Streitigkeiten auf den fünf Schiffen gekümmert, welche die Pächter und Leibeigenen der D’Alsennin in ihre neue Heimat beförderten. »Habt Ihr einen Bericht für mich?« Temar hob den Kopf und sah Messire Den Fellaemion, der sich einen Stuhl heranzog. Das schmale Gesicht des Kommandanten hatte deutlich Farbe bekommen, und seine Augen leuchteten hell. Die grobe Kleidung eines Seemanns stand ihm weit besser als die eleganten Gewänder, die er in Zyoutessela getragen hatte. »In ungefähr einer Stunde dürfte ich alles aufgeschrieben haben.« Temar sammelte rasch seine gekritzelten Notizen ein und griff nach dem Tintenfass. »Das wäre schön.« Den Fellaemion nickte. »Wenn Ihr anschließend nichts Wichtiges mehr zu tun habt, könnt Ihr Euch ja mal nach Wild umschauen, damit die Köche was zum Kochen haben. Nehmt den jungen Den Rannion mit.« Temar konnte sich ein überraschtes Lächeln nicht verkneifen, und der ältere Mann lachte. »Ich glaube, ihr beide habt euch etwas Erholung verdient, und da wir ohnehin noch ein paar Tage hier bleiben, wird wohl jeder frisches Fleisch zu schätzen wissen.« »Wie lange wird der zweite Teil der Überfahrt dauern?« Temar blickte von seinen Notizen auf. »Bei gutem Wind noch einmal etwa zwanzig Tage.« Den Fellaemion stand auf. »Das Schlimmste haben wir hinter uns.« Temar nickte bei der Erinnerung an das mitunter schreckli349
che Wetter, mit dem die Schiffe zu kämpfen gehabt hatten. »Diese Inseln sind auf jeden Fall ein Segen Dastennins, Messire«, bemerkte er ein wenig zögernd. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihr sie vor unserer Abfahrt erwähnt hättet.« Den Fellaemion grinste den jungen Mann an. »Nein, das habe ich auch nicht. Mir ist es lieber, wenn irgendwelche Möchtegern-Entdecker meine Fähigkeit, das Meer zu überqueren, Dastennins besonderer Gnade zuschreiben. Haben wir die Kolonie erst einmal aufgebaut, können wir hier eine ständige Siedlung errichten; dann ist es noch immer früh genug, das Geheimnis öffentlich zu machen.« »Erlaubt mir, Euch zu Eurer Weisheit zu beglückwünschen.« Temar deutete eine förmliche Verbeugung an, und der Kommandant lachte leise. »Danke für Eure Wertschätzung, Junker«, erwiderte er auf die gleiche spöttisch-formelle Art, bevor er davonging, um sich mit einem anderen Kapitän zu beraten. Temar beugte sich mit neu erwachtem Eifer über seine Notizen und hatte den Bericht schneller beendet, als er erwartet hatte. Vorsichtig streute er die Tinte auf den Dokumenten ein; nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie trocken waren, faltete er sie ordentlich zusammen und steckte sie in sein Wams, bevor er sich auf die Suche nach Den Fellaemion machte. Der Kommandant stand wieder bei den Wasserfässern und sprach mit Guinalle und zwei Kapitänen. »Danke, Temar«, sagte er, als er nach den Pergamenten griff. »Ich glaube, das wäre dann alles, Guinalle. Warum nimmst du dir heute Nachmittag nicht ein bisschen Zeit für dich selbst? Du hast in letzter Zeit zu viel gearbeitet. All diese Sichtungen ... stets die Karten auf den neuesten Stand bringen ... Mach das 350
Beste aus unserem Aufenthalt, bevor wir wieder in See stechen.« »Danke, Onkel.« Guinalle wirkte ein wenig überrascht. »Ich werde allerdings noch einmal nach dieser Milchkuh sehen.« »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Temar rasch. »Vielleicht. Komm mit.« Guinalle führte ihn zu einer Koppel auf der anderen Seite des Lagers, wo das wertvolle Vieh der Expedition sicher untergebracht war. »Da seid Ihr ja, Mylady.« Einer der Hirten sprang auf, und Erleichterung zeichnete sich auf seinem runden Gesicht ab. »Wir alle sind für Euch bereit.« Temar folgte Guinalle zu einem Pferch ein Stück von den anderen Tieren entfernt, und seine Neugier wuchs mit jedem Schritt. Dort lag eine geströmte Kuh mit einem weißen Streifen auf dem Rücken; ihre Augen waren glasig, der Kiefer schlaff, und ihre Flanken hoben und senkten sich unter angestrengten Atemzügen. Eines ihrer Vorderbeine war schlimm gebrochen; Splitter ragten aus dem Fleisch. »Hilf mir mit den Seilen, Junge.« Der Hirte erkannte Temar offenbar nicht, sondern versetzte ihm einen sanften Stoß in Richtung der Männer, die auf der anderen Seite des Gatters warteten, das aus grob behauenen Ästen bestand. »Seid ihr bereit?« Guinalle legte leicht die Stirn in Falten, während sie sich auf die Kuh konzentrierte und leise mit einer Beschwörung begann, die Temar einen Schauder über den Rücken jagte. Die Kuh verdrehte die Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und ihr Atem begann zu rasseln. »Schnell!« Die Männer zogen an den Seilen, um die Kuh auf ein Gestell zu ziehen, während der Hirte rasch die Halsschlag351
ader des Tieres durchtrennte, worauf das Blut in einen Kessel mit Hafermehl, Kräutern und getrocknetem Fett strömte. Guinalle seufzte und wandte sich ab, während die Männer darauf warteten, den Kadaver mit langen Messern zu zerteilen. Nichts würde verschwendet werden, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Temar mit leichter Sorge, da er den Kummer in Guinalles Miene sah. »Ja.« Guinalle wischte sich mit der Hand über die Augen. »Es ist nur, dass ich das Bein hätte heilen können, hätte ich die Gelegenheit dazu gehabt; aber dafür haben wir keine Zeit. Schließlich müssen wir uns der Strömung und den Winden anpassen. Ich kann nicht gerade behaupten, dass es mir Spaß gemacht hat, das arme Tier am Leben zu erhalten, bis es hier geschlachtet werden kann.« »Oh.« Temar wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte, doch Guinalle schien es nicht zu bemerken. Schuldbewusst versuchte er, seine Freude ob der Aussicht auf frische Blutwurst zu unterdrücken, denn daran hatte er inzwischen Geschmack gefunden, auch wenn es eine Bauernmahlzeit war. »Das Problem ist, dass wir einfach nicht genügend Leute haben, die mit der Kunst umzugehen verstehen – zumindest nicht über die Grundlagen hinaus.« Guinalle schüttelte entschlossen den Kopf. »Das wird nach unserer Landung eine der ersten Änderungen sein, die ich vornehme.« »Gut.« Temar nickte. Guinalle blickte zu ihm, und ein Hauch von Humor kehrte auf ihr Gesicht zurück. »Ich bin froh, dass es Eure Zustimmung findet, Junker.« Temar verneigte sich höflich. »Eure Weisheit wird nur noch von Eurer Schönheit übertroffen, Demoiselle.« 352
Guinalle lachte belustigter, als es Temar gefiel, aber wenigstens verschwand die Traurigkeit aus ihren Augen. »Nun, was hast du heute Nachmittag vor?«, fragte er fröhlich. Guinalle gestattete sich einen leicht verächtlichen Blick. »Vermutlich werde ich mir anhören, wie sich Elsire über die Wirkung beschwert, die Meerwasser auf ihre Haare hat, und dass sie zu wenig Platz für ihre Garderobe hat.« Temar lachte leise. »Gut möglich.« Guinalle blickte ihn an. »Glaubst du, du könntest einen Vorwand finden, sie auf deinem Schiff herumzuführen, damit sie mal sieht, wie die meisten Leute diese Reise verbringen?« »Warum?« »Sie scheint sich für unglaublich tapfer zu halten und betrachtet es als Opfer, dass sie sich eine Kabine und eine Dienerin mit mir teilen muss. Messire und ihre Mutter sind mit ihren Dienern an Bord; deshalb nehme ich an, wir erfreuen uns einer weit besseren Behandlung als du. Auf jeden Fall kann ich Elsire nicht verständlich machen, dass die Leute auf den anderen Schiffen so wenig Platz haben wie Heringe in einem Fass, dass viele bei jedem Wetter draußen an Deck schlafen, und dass Elsire schon von Glück sagen kann, genug Platz für Bettzeug zum Wechseln zu haben.« »Ich führe sie sehr gern herum.« Temar hatte schon immer etwas für Elsire übrig gehabt. Er grinste. »Ich kann mich noch an sie erinnern, wie sie als kleines, vorlautes Gör mit zerrissenen Röcken und verdrecktem Gesicht gewesen ist.« Wenn er Elsire allein erwischte, bestand die Möglichkeit, einen honigsüßen Kuss von ihren weichen Lippen zu stehlen. Er lächelte. »Den Fellaemion hat gesagt, wir sollten nachsehen, was für Wild sich hier herumtreibt.« Vahil erschien neben Temar und 353
schlug ihn auf den Rücken. »Das ist mal ein Befehl, den ich mit Vergnügen befolge. Komm schon, Mann, schnapp dir den Bogen, und lass uns verschwinden, bevor jemand uns eine andere Arbeit aufs Auge drückt.« Temar zögerte einen Moment. Die Versuchung war groß, doch er wollte nicht die Gelegenheit versäumen, ein wenig freie Zeit mit Guinalle zu verbringen. »Darf ich mitkommen?«, fragte Guinalle plötzlich. »Bitte?« Ihre Frage überraschte Temar. »Ich würde gerne mehr von diesen Inseln sehen, und ich kann recht gut mit dem Kurzbogen umgehen.« Guinalle blickte ihn aus großen Augen flehend an. »Selbstverständlich darfst du mitkommen«, erwiderte Temar. »Wir würden uns freuen, dich dabei zu haben.« »Ich ziehe mich rasch um.« Guinalle eilte zu ihrem Zelt. Vahil stöhnte. »Ich gebe ja zu, dass sie eine hübsche Blume ist, Temar, aber sie ist noch nicht reif zum Pflücken. Jetzt werden wir hier gut eine Stunde herumhängen, bis sie sich entschieden hat, welches Kleid am besten zum Unterholz passt.« »Sie ist nicht Elsire.« Temar schüttelte den Kopf. »Ich wette eine halbe Mark, dass sie vor mir wieder zurück ist.« Er trödelte nicht bei der Suche nach seinem Kurzbogen und dem Köcher, nur bei seinen Stiefeln überlegte er ein wenig; zwar waren sie geeignet für einen Marsch durch die Wildnis, trotzdem wechselte er sie. Wie auch immer – Temar sah zufrieden, wie Guinalle zurückkam, während er noch immer seine Stiefel schnürte. Sie trug einen eng geschnittenen Hosenrock in mattem Grün und ein langärmeliges braunes Wams, und ihre flachen Stiefel waren offenbar schon viel getragen worden. Ein langes Messer hing an ihrer schmalen Hüfte, und sie hielt einen 354
Kurzbogen in der Hand. »Am Wasser sollten wir Spuren finden.« Vahil ging voraus. Seine gewohnte gute Laune war wieder zurückgekehrt. Temar und Guinalle folgten ihm, und die Geräusche des Lagers verklangen rasch hinter ihnen, während sie tiefer ins dichte Grün des feuchten Waldes vordrangen, wo noch immer Nebelschwaden an den Wipfeln hingen. Temar blieb kurz stehen, um Guinalle über einen vom Tau rutschigen Felsstreifen zu helfen. »Ist es nicht schön, endlich mal wegzukommen?«, bemerkte er fröhlich. »Niemand verlangt von dir, wieder mal einen Streit über Stauraum zu schlichten, oder erwartet von dir Ratschläge bei Problemen wie Heimweh oder Kleinkindern mit Bauchweh.« »Das also hast du die ganze Zeit getan, hm?« Vahil war sichtlich amüsiert. »Ja. Und den Koch hab ich getröstet, denn die Hennen legen keine Eier mehr. Außerdem musste ich den Leuten erklären, dass sie mit ihrem Wasser besser haushalten können, wenn sie nicht ständig ihre Wäsche waschen, und jeden Tag musste ich den ein oder anderen kleinen Streit schlichten.« Guinalle wechselte einen Blick mit Temar. »Solche Dinge überlasse ich meinem Vater«, sagte Vahil lachend. »Mein Hauptproblem ist Langeweile.« Temar war nicht gerade enttäuscht, einen Hauch von Verärgerung in Guinalles Augen zu sehen, doch seine Ehre gebot ihm, seinem Freund zur Seite zu stehen. »Ich bin auf jeden Fall froh, wenn wir endlich landen und mit dem Aufbau der Kolonie beginnen können. Dann wirst du noch genug zu tun bekommen, Vahil.« »Das ist wohl wahr«, stöhnte Vahil und schüttelte sich theat355
ralisch. »Schaut. Da ist eine Spur im Graben. Mit etwas Glück hat der Lärm vom Lager noch nicht alles Wild von hier vertrieben.« »Du solltest dich lieber in der Mitte halten.« Temar deutete auf Guinalle. »Ich glaube zwar nicht, dass es hier allzu große Tiere gibt, aber man muss trotzdem vorsichtig sein.« »Habt Dank, Junker«, sagte Guinalle sittsam und schob sich vorsichtig hinter Vahil durch die Büsche, der bewies, wie leise er sein konnte, wenn er wollte. Temar folgte den beiden. Schon bald war sein Hemd nass von der Feuchtigkeit auf den Blättern und dem Schweiß, den ihm die immer größer werdende Hitze aus den Poren trieb. Sie durchquerten den Graben und machten sich vorsichtig an den Abstieg in ein Tal mit fremdartigen Pflanzen in unzähligen Grünschattierungen, durchsetzt von stark duftenden Blüten. »Da ist eine Lichtung.« Vahil blieb stehen, und Temar und Guinalle taten es ihm gleich. »Da!« Guinalle erstarrte, duckte sich, zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn vorsichtig ein. Temar und Vahil folgten ihrem Blick und sahen eine Herde pelziger Wesen, die friedlich in der Mitte der Lichtung grasten. Sie nickten einander zu und schlichen sich ebenfalls in Position. Temar blickte zu Guinalle hinüber. Als diese nickte, ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen. Auch sein zweiter Pfeil fand sein Ziel; dann waren die Tiere ins Unterholz geflohen. Ein paar zitternde Äste waren die einzige Spur ihrer Flucht. Die drei Jäger standen auf und gingen auf die Lichtung, um zu sehen, was für eine Beute sie erlegt hatten. »Was, glaubt ihr, ist das?« Vahil schüttelte verwirrt den Kopf, während er geschickt einen Pfeil aus einem toten Tier zog. 356
Temar griff nach seinem Messer und öffnete damit das Maul seiner Beute – vorsichtig, für den Fall, dass sie noch nicht tot war. »Es hat Zähne, um damit Gras und Früchte zu kauen, würde ich sagen; also sollten wir es essen können.« »Auf jeden Fall ist es für seine Größe ziemlich schwer.« Guinalle hatte einen stupsnasigen, eckigen Kopf nach hinten gebogen, um die Kehle des Tiers durchzuschneiden, das Temars zweiter Pfeil nicht sofort getötet hatte. »Ich würde sagen, es sind Hasen, die den Ehrgeiz haben, zum Hirsch zu werden.« Temar lachte. »Sieht ganz so aus.« »Lasst uns sie anderswo ausnehmen«, schlug Vahil vor. »Wenn wir hier kein Blut zurücklassen, könnten wir es morgen noch einmal an dieser Stelle versuchen.« Fünf der muskelbepackten Tiere waren eine schwere Last, und Temar war froh, als er die beiden, die er über den Schultern trug, zu Boden gleiten lassen konnte, nachdem Guinalle sich auf einen Felsen über dem Bach gesetzt hatte, der durchs Tal floss. »Ich werde uns ein paar Tragestangen schneiden.« Vahil ging zu einem dichten, kräftigen Gestrüpp, und Temar begann mit dem Ausnehmen seiner Tiere. Zufrieden beobachtete er, wie Guinalle es ebenso geschickt tat, wenn auch nicht mit der Schnelligkeit jahrelanger Übung wie er. Während der Arbeit redeten sie kaum, bis alle Tiere gesäubert und die Innereien vergraben waren, um keine Fliegen anzulocken. Schließlich öffnete Vahil den Weinschlauch, den er sich klugerweise vor ihrem Aufbruch aus dem Lager rasch geschnappt hatte. Temar hustete ob des Blutgestanks, der ihm in der Nase hing, und pflückte sich am Ufer des Bachs ein wenig wilden Thymian. Eine der Pflanzen reichte er Guinalle, die sie mit einem Lächeln 357
entgegen nahm und leicht errötete. »Den Fellaemion hat gesagt, dass er einen festen Ankerplatz auf diesen Inseln errichten will, wenn die Kolonie erst einmal Fuß gefasst hat«, bemerkte Temar und ließ den Blick über die Gegend schweifen, um Guinalle nicht ständig anzustarren. »Ich kann mir schlimmere Ort vorstellen«, erklärte Vahil. »Gutes Klima, jede Menge Holz, Wild zum Jagen und Platz für Vieh und Getreide. Hier läßt es sich aushalten.« »Du wärst sicher nicht der Erste, der sich hier niederlässt«, sagte Guinalle. »Doch, hier gibt es keine Menschen.« Vahil schüttelte den Kopf. »Den Fellaemion hat es mir gesagt. Sie haben alle fünf Inseln überprüft, nachdem sie entdeckt wurden, und seitdem waren sie schon mehrere Male wieder hier. Nirgends fand sich eine Spur von Besiedlung. Wäre Messire dessen nicht sicher, hätte er uns nie erlaubt, uns so weit vom Lager zu entfernen.« »Ja, ich weiß.« Guinalles Tonfall verriet eine gewisse Verärgerung. »Ich habe den Großteil des gestrigen Tages damit verbracht, mich mittels der Kunst genau dessen zu vergewissern. Was ich sagen wollte ... hier haben einmal Menschen gelebt.« Vahil öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Temar winkte ihm zu schweigen. »Woher weißt du das?« »Schaut euch doch nur einmal um.« Guinalle stand auf und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. »Hier haben Hütten gestanden. Seht ihr die Kreise nicht? Dort waren die Herdfeuer.« Temar schaute sich um, doch er konnte beim besten Willen nicht sehen, was Guinalle meinte. »Hier.« Guinalle schritt einen weiten Kreis ab, und plötzlich sah Temar es: einen fast unsichtbaren Abdruck im Gras mit 358
einem Brennnesselbüschel in der Mitte. »Ja, ich sehe es.« Er schaute Guinalle ein wenig erschreckt, zugleich aber beeindruckt an. »Du hast gute Augen.« Guinalle schüttelte den Kopf und lächelte bescheiden. »Nun, das hier hat mich auf die richtige Spur gebracht.« Sie hielt eine grobe Tonscherbe hoch und warf sie Temar zu. Temar drehte sie in der Hand. Auf der einen Seite war sie schwarz von Feuer; der Ton war sandig, und noch immer waren die Fingerabdrücke des Töpfers zu sehen. »Ich glaube, es war ein sehr primitives Volk. Sie haben in den Wäldern gejagt, Früchte gesammelt und dergleichen. Es waren keine Bauern – jedenfalls nicht in unserem Sinne. Sie hatten allerdings Musik, Flöten, Trommeln und Geschichtenerzähler; richtige Wilde waren es also auch nicht.« »Eine armselige Tonscherbe kann dir doch unmöglich so viel verraten.« Höflich versuchte Vahil, seine Skepsis zu verbergen; dennoch klang er gönnerhaft. »Aber die Kunst kann es.« Guinalle blickte in eine unbestimmte Ferne, während sie eine weitere Tonscherbe zwischen ihren Fingern drehte. »Ich empfange eine Art Echo von solchen Dingen. Es ist allerdings schon sehr, sehr lange her.« »Was ist mit den Leuten passiert?« Temar war fasziniert. »Ich weiß es nicht.« Guinalle legte leicht die Stirn in Falten. »Flammen haben bei der Zerstörung dieses Topfes eine Rolle gespielt ... und ich fühle Verzweiflung.« »Das könnte genauso gut bedeuten, dass die Hausfrau den Topf ins Feuer hat fallen lassen und dabei das Abendessen ruiniert hat«, sagte Vahil lachend. »Oder sie hat ihn nach ihrem Ehemann geworfen und ihn verfehlt.« »Es ist mehr als nur das.« Guinalle wirkte verärgert, doch 359
Vahil schien es nicht zu bemerken und trank den Rest des Weines. »Was kannst du uns noch über so etwas sagen?« Temar streckte die Hand aus und versuchte erfolglos, die beiden Tonscherben aneinander zu fugen. »Das hängt von vielen Dingen ab. Wie alt etwas ist, wie sehr der Eigentümer daran gehangen hat, welche Gefühle dabei eine Rolle spielten ...« Guinalles Tonfall wurde ein wenig schulmeisterlich. »Natürlich kann die Kunst auch dazu benutzt werden, einen Gegenstand absichtlich mit Erinnerungen zu versehen, mit Visionen, die ein Adept wieder hervorholen kann.« »Bei Saedrins Eiern«, sagte Temar, ohne nachzudenken, und fragte sich, wozu so etwas wohl nutzen sollte. Guinalle schien sich an dem vulgären Ausdruck nicht zu stören. »Es ist schwer, und es wurde in der Vergangenheit oft missbraucht. Auf einige Leute kann es eine recht unerwartete Wirkung haben«, seufzte sie. »Ich fürchte, bestimmte Meister der Kunst waren nicht immer sehr rücksichtsvoll in der Anwendung ihrer Talente.« »Darauf möchte ich wetten!« Vahil grinste, als er nach einer Tragestange griff. »Kommt. Lasst uns das Fleisch ins Lager zurückbringen, damit es rechtzeitig zum Abendessen dort ist. Auch wenn wir keine Zeit haben, das Fleisch ordentlich abzuhängen – niemand wird es uns danken, wenn es fliegenverseucht ist.« Guinalle folgte dicht hinter Temar auf dem schmalen Trampelpfad zum Strand hinunter, doch die schwere Last auf seinen Schultern machte es Temar unmöglich, mit ihr zu reden. »Ich würde gerne mehr über die Kunst erfahren«, schnaufte er erschöpft, als sie schließlich das Lager erreichten und er das 360
Fleisch jemand anderem geben konnte. »Könntest du mir etwas darüber erzählen?« »Das könnte ich, wenn es dein Interesse ehrlich ist.« Guinalle blickte ihn freundlich, aber zweifelnd an. »O ja! Ich glaube, dass die Kunst von großem Wert für die Kolonie sein könnte.« Temar bemerkte ein wenig überrascht, dass er tatsächlich meinte, was er sagte. Es war nicht nur die verlockende Vorstellung, einige Zeit mit Guinalle allein zu verbringen, sondern auch die Erkenntnis, dass er alle zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen musste, wollte er die Verantwortung für seine Untertanen in der Kolonie übernehmen. »Ich bin ein wenig überrascht, dass man dich nicht zumindest in den Grundlagen der Kunst unterwiesen hat«, bemerkte Guinalle, und der Zweifel schwand ein wenig aus ihrem Blick. Temar zuckte mit den Schultern. »Meine Familie hat schrecklich unter den Pocken gelitten«, erklärte er knapp. »Danach hat mein Großvater wohl alles Vertrauen in Heiler und Akolythen verloren.« »Das tut mir Leid.« Guinalle legte sanft die Hand auf Temars Arm und blickte ihn besorgt an. Temar klatschte brüsk in die Hände. »Oh, ich stinke nach Blut und Dreck! Ich muss vor dem Essen noch baden. Ich sehe dich dann später.«
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6.
Ein Brief, den man aus einer Aldabreshigaleere geborgen hat, welche im 278. Jahr der Freiheit der Stadt Col im Golf von Peorle auf Grund gelaufen ist
Segalo Ria grüßt Imir Sazac mit liebevollem Respekt durch ihren Leibsklaven Cathu. Wir alle brennen darauf, von deiner Reise zu den Festländern von Col zu hören, und wir laden dich herzlich ein, uns bei deiner Rückkehr zu besuchen. Wenn diese Fremden nicht so raubtierhaft sind wie das Ungeziefer aus den Sümpfen von Relshaz, war die Reise die Gefahren wert. Es bereitete uns große Sorge, dass du kaum Gelegenheit zum Umgang mit Festländern hattest, bevor du durch den tragischen Tod der geschätzten Iru Sazac zur ersten Frau geworden bist. Bitte, gestatte uns, einige der Erfahrungen mit dir zu teilen, die wir im Laufe der letzten Jahre sammeln konnten. Du hast wohl gehört, dass alle Festländer als Diebe gebrandmarkt sind. Dies beruht nicht nur darauf, dass vor kurzem Gewürzpflanzen gestohlen wurden, was eine Verlagerung des Handels zu Gunsten der Menschen an der windabgewandten Küste zur Folge hatte. Du wirst dich unzähligen Ansinnen gegenüber sehen, eure Domäne besuchen zu dürfen, und solltest du es zulassen, wird man ohne Unterlass fragen, wem welches Ding in eurer Residenz gehört. Obwohl solch eine Frage für eine Per362
son von Ehre ohne Bedeutung ist, musst du antworten, dass alles Saza Dega gehört; sonst schnappen sich diese Festländer alles, was nicht festgenagelt ist. Sorg dafür, dass eure Triremen in Sichtweite sind, wenn eure Galeeren Col erreichen, als sichtbares Zeichen für Sazac Degas Macht. Lass keine Zweifel daran aufkommen, dass jeder Versuch, unrechtmäßig in eure Domäne vorzudringen, mit dem Niederbrennen ihrer Schiffe enden wird, andernfalls werdet ihr ihre schwerfälligen Kähne überall vor euren Küsten sehen, wo sie euch die Ernte und die Sklaven stehlen und versuchen werden, sich in euren Handel einzuschleichen. In ihrer Vorstellung von Handel ist kein Platz für Ehre. Sie wollen immer nur jedem Gegenstand eine bestimmte Zahl kleiner Metallscheiben zuweisen, und dann versuchen sie, uns alle möglichen Dinge für möglichst wenige dieser Scheiben abzugaunern. Erkläre dich niemals einem solchen Handel einverstanden und biete anschließend womöglich noch einen besonders schönen Edelstein als Dank für die erwiesene Höflichkeit an, wie du es bei einem Insulaner tun würdest Diese Festländer würden es nicht verstehen; sie würden nur versuchen, noch mehr von dir zu bekommen. Gib ihnen am Besten überhaupt keine größeren oder bemerkenswerten Edelsteine; sie werden sie nur schneiden und schleifen, denn sie wissen die natürliche Form des Steins nicht zu schätzen. Sei besonders vorsichtig, wenn du die Qualität des Goldes und des Silbers prüfst, das sie dir anbieten. Das meiste davon ist stark mit Metallen durchsetzt; aber du musst wissen, dass das bei ihnen normal ist und nicht als Schande gilt wie bei einem zivilisierten Volk Die besten Metalle sind es wert, behalten zu werden, um sie unseren Handwerkern zu geben, aber das 363
meiste ist schlicht Ballast, das man nur dazu benutzen kann, Sklaven zu kaufen; so wirst du es wenigstens los. Sorg dafür, dass Denil die ganze Zeit an deiner Seite ist und dass er seine Schwerter bereit hält. Die Festländer fesseln und knebeln ihre Frauen im wahrsten Sinne des Wortes, und sie fühlen sich berechtigt, jedwede Frau zu beleidigen, die nicht derart beeinträchtigt ist. Auf jeden Fall müssen wir dir raten, keine Entspannung bei einem Festländer zu suchen; sie haben keine Ahnung, wie man sich benimmt. Ihr ständiger Genuss von Alkohol und Betäubungsmitteln lässt sie allen Anstand vergessen. Nichtsdestotrotz erwarten wir voller Ungeduld einen Bericht über deine Reise, und wir wünschen dir viel Erfolg.
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Der Palast von Shek Kul, Aldabreshin-Archipel 5. Vorsommer
Ich stützte mich an der Wand ab, solange ich es wagte, und spürte Schweiß zwischen meinen Schulterblättern hinunterlaufen. Auch wenn ich versuchte, mich nicht zu bewegen, so musste irgendetwas doch mein Unwohlsein verraten haben, was mir einen verärgerten Blick aus Laios dunklen Augen einbrachte. Ich versuchte, mich auf den Rhythmus der kleinen Fontäne zu konzentrieren, die in einem breiten Keramikbecken in der Mitte des weißen Marmorbodens plätscherte. Irgendwo summte ein Insekt, und ich versuchte es zu entdecken, da ich nicht wollte, dass es meiner ohnehin schon großen Sammlung einen weiteren Stich hinzufügte. »Wie Ihr seht, werte Frau, ist der Faden nicht durchgängig. Entweder bleibt er am Kamm hängen oder reißt. Die Qualität des Stoffes beschämt mich.« Der Weber war ein alter Mann, weißhaarig und dünn. Er trug nur ein schlichtes gestärktes Lendentuch, während er demütig vor dem Mädchen kniete, das jung genug war, seine Enkelin zu sein. Der glückliche Kerl, dachte ich, denn allmählich taten mir die Schultern weh, weil ich den ganzen Tag im Kettenhemd herumgelaufen war und dabei nichts Nützlicheres getan hatte, als kriegerisch auszusehen. Nun ja, zumindest lag ich nicht auf meinen Knien. »Ich verstehe eure Schwierigkeiten, und es wird keine Strafen geben«, unterbrach Laio das Jammern des alten Mannes, und 365
das war gut so, denn wir hörten nun schon den ganzen Tag immer ein und dasselbe, nur in immer neuer Form. Laios burschikose Art kam mir noch immer absonderlich vor, wenn ich sie mir in ihrem hauchdünnen Kleid anschaute, das nur wenig der Phantasie überließ. Leuchtend bunte Schminke verbarg ihr Gesicht fast völlig, und sie war mit mehr Juwelen geschmückt als das gesamte Haus D’Olbriot bei der Hochzeit des Sieurs. Ich verschloss meine Ohren vor dem Gespräch und blickte durchs offene Fenster hinaus auf das prächtige Gelände von Shek Kuls Palast. Kunstvoll angelegte Gärten umgaben die Hauptresidenz. Dahinter befanden sich die Sklavenquartiere, und jenseits davon erhoben sich die schwarzen Mauern, auf denen Tag und Nacht Wachen patrouillierten, alle mit Bögen bewaffnet. Ich schaute zu dem grünen Stander, der gelangweilt in der sanften Brise auf dem Turm über dem Haupttor flatterte, und in der Ferne waren die dunkelgrünen Hügel der nächsten Insel in Shek Kuls Reich zu sehen. Bis jetzt hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich durch dieses Tor kommen sollte. Dunkle Wolken sammelten sich hoch über den kegelförmigen Gipfeln einer anderen Insel, und ich fragte mich, ob nun endlich der Regen kam, den Laio mir schon seit Tagen versprochen hatte. Würde es dann etwas kühler werden? Allmählich gewöhnte ich mich daran, ständig von einer dünnen Schweißschicht bedeckt zu sein, und solange ein leichter Wind wehte, war es erträglich; damit war allerdings Schluss, sobald ich dieses verdammte Kettenhemd überstreifte. An solchen Tagen, oder wenn es vollkommen windstill war, hatte ich das Gefühl, in einer dicken, warmen Decke herumzulaufen, und ich träumte ständig von den frischen, salzigen Winden meiner Heimat. 366
Ein Klopfen an der Tür erinnerte mich an meine Pflicht. Ich öffnete und sah Gar Shek. Ihre goldenen Augen tanzten vor Freude. Sezarre stand wie immer teilnahmslos hinter ihr. »Laio, meine Liebe, ich habe wunderbare Neuigkeiten für dich.« Gar lächelte süßlich. Ihr gewohnt unverbindlicher Gesichtsausdruck verbarg, was sie diesmal ausheckte. »Der Taubenmeister hat mir gerade eine Botschaft von Kaeska gebracht. Sie kommt mit der Nachmittagsflut nach Hause. Ist das nicht wunderbar? Sie wird zur Geburt hier sein!« Laio hob den Blick und lächelte gelassen. »Danke, dass du mich das so rasch hast wissen lassen.« Sie schaute zu dem komplizierten Netz aus miteinander verwobenen Metallringen, die als Kalender dienten, wie ich zu meinem Erstaunen erfahren hatte. Die erste Ehefrau, Kaeska, wurde erst in ein paar Tagen zurückerwartet. Gar nickte und blickte dann zu dem Weber, der noch immer kniete und die Stirn auf den Boden drückte, was hier als angemessene Respektsbekundung galt. »Haben deine Arbeiter noch immer Schwierigkeiten mit dem Garn, das du von Tani Kaasik erhandelt hast?«, fragte Gar in unschuldigem Tonfall. Sie versäumte keine Gelegenheit, Laio an ihren Fehler zu erinnern. Laio zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht so wichtig. Ich musste dem armen Mädchen etwas Gutes tun. Bei dieser Menge an Überproduktion wusste sie nicht mehr ein noch aus.« Vielleicht, aber die jüngste Kaasik-Frau hatte noch immer genug Verstand besessen, um Laio die schlechteste Qualität ihrer Ware anzudrehen. Ich erinnerte mich noch genau an das Treffen, als Laios Eifer, die eigene Produktion zu erhöhen und so ihre Stellung zu verbessern, sie den gesunden Menschenvers367
tand hatte vergessen lassen. Sie hatte es versäumt, das Garn persönlich zu überprüfen, und ich hatte eine gehörige Tracht Prügel bezogen, weil Laio ihre Wut über sich selbst an mir ausgelassen hatte. »Ich bin sicher, du findest einen Weg, die Situation zu bereinigen.« Gar lächelte freundlich. »Ich habe schon einen Markt für den Stoff im Sinn«, versicherte Laio ihr selbstbewusst. Auch mich hätte sie mit ihrer Vorstellung überzeugt, hätte ich sie nicht am gestrigen Tag in ihren Gemächern auf und ab rennen sehen und darüber jammern hören, dass sie eben keinen Markt hatte. Gar lächelte wieder süßlich, machte auf dem Absatz kehrt und schwebte den Gang hinunter; Sezarre folgte ihr leise. Obwohl sie keine Gelegenheit ausließ, Laio zu reizen, hatte ich vor Kurzem gehört, wie Gar einem adeligen Besucher versichert hatte, Laio hätte genau gewusst, was sie tat; sie hätte nur der unglückseligen Tani Kaasik aus Schwierigkeiten helfen wollen, die von der Unerfahrenheit des Mädchens herrührten. Ich hatte gelernt, dass eine Aldabreshidame im Laufe eines Tages mehr Masken aufsetzt als ein Schauspieler in einem soluranischen Maskenspiel. »Ihr dürft euch jetzt alle entfernen!« Laio nickte dem Weber und den anderen zu, die geduldig im Gang warteten. Stumm zerstreuten sie sich, und ich blickte ihnen verächtlich hinterher. »Du siehst verwirrt aus. Was ist los?«, wollte Laio wissen, als wir die Treppe zu ihren Gemächern im obersten Stock des Palastes hinaufstiegen. Ich hätte mich daran erinnern sollen, dass Laio die Gabe besaß, jede noch so kleine Veränderung im Gesichtsausdruck eines Menschen zu bemerken; darauf verstand sie sich noch besser als eine Spielerin wie Livak. Ohne Zweifel 368
lag es an der jahrelangen Ausbildung zur Frau eines Kriegsherrn. »Eure Sklaven, die Weber, sind sehr gehorsam«, antwortete ich ein wenig lahm. Laio schnalzte mit der Zunge. »Sie sind keine Sklaven, sondern freie Insulaner. Diese Dinge musst du lernen. Ein Sklave ist einer, den man auf dem Festland gekauft oder von einer anderen Domäne erworben hat.« Ich persönlich nannte jeden einen Sklaven, der völlig von einem Kriegsherrn und dessen Frauen abhängig war, um die Erzeugnisse seiner Arbeit zu verkaufen und ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Der Herr erlaubte oder untersagte ihm alles, vom Heiraten bis hin zum Kinderkriegen; nur um zu essen, zu schlafen und zu atmen, brauchte er nicht um Erlaubnis zu fragen. Doch ich nickte gehorsam und fügte die Information der wachsenden Liste von Dingen hinzu, die ich nicht vergessen durfte. Wir erreichten den obersten Stock, und ich beeilte mich, die Tür zu Laios Schlafgemach zu öffnen. Sie zog sich ihr Kleid bereits aus, als sie die Schwelle überschritt, und warf es achtlos auf den Holzfußboden. Ich hatte sie inzwischen schon oft genug nackt gesehen, als dass ich noch groß darauf reagiert hätte, und so ging ich zur Treppe, um einen der allgegenwärtigen Pagen nach heißem Wasser zu schicken. Als ich mit einem dampfenden Eimer wieder zurückkehrte, wischte Laio sich im gefliesten Badezimmer die Schminke aus dem Gesicht. »Komm her«, befahl sie. »Ich muss mit dir sprechen.« Ich leerte den Eimer in ein breites Becken, und Laio wartete, bis ich kaltes Wasser darunter gemischt hatte. »Kaeska ist eine sehr kluge Frau, aber ihre Macht wird mit 369
der Geburt von Mahlis Kind zu Ende sein. Daher ist es möglich, dass sie versuchen wird, Mahli oder dem Kind Schaden zuzufügen.« Das zu glauben, fiel mir nicht schwer; trotz ihres höfischen Getues hatte ich schon viele Beweise für die Erbarmungslosigkeit der Aldabreshi gesehen. Die Brise, die durchs offene Fenster ins Zimmer wehte, roch noch immer schwach nach Asche. Der Geruch stammte aus einer Nachbardomäne, wo man eine Insel, die von der Pest heimgesucht worden war, bis auf die blanke Erde abgefackelt hatte. Häuser, Pflanzen, Tiere, Menschen – alles, wo die Krankheit sich hätte verstecken können, war vernichtet worden. Laio verzog das Gesicht, als sie es sich mit einem Ledertuch abrieb. »Du musst ständig wachsam sein. Heute Abend werden wir als Familie zusammen essen; also achte darauf, dass du keine Schande über mich bringst. Du wirst nur Aldabreshi sprechen und das nur, wenn man dich anspricht. Du wirst keinerlei Aufmerksamkeit auf dich ziehen, egal was gesagt wird.« Die Seifenblasen machten die Wirkung von Laios strengem Blick zunichte, doch ich hatte kein Verlangen, ihren Stock auf meinem Rücken zu spüren, und so unterdrückte ich den Wunsch zu lachen. »Welches Kleid werdet Ihr tragen?« So viel konnte ich inzwischen schon in akzeptablem Aldabreshi sagen, ebenso wie einige andere nützliche Phrasen, doch wie es aussah, würde ich den Großteil des Abends schweigend verbringen, was mir allerdings keinerlei Kopfzerbrechen machte. Wie sich herausgestellt hatte, war die Sprache leichter zu erlernen, als ich befürchtet hatte, und inzwischen verstand ich das meiste bereits – eine Tatsache, die ich vorsorglich verbarg, denn ich wollte hören, wie ich hier 370
herauskam, an den Wachen vorbei und zum Hafen. Ich war zunehmend überzeugt, dass es Zeitverschwendung war, darauf zu warten, dass ein Zauberer zu meiner Rettung eilte. Laio hielt kurz inne, während sie sich gründlich einseifte. »Das rotgoldene. Was meinst du?« Ich dachte einen Augenblick nach. »Ich würde eher sagen, das cremefarben-goldene, wenn Mahli Gelb trägt. Gar hat doch dieses neue rote Kleid, wisst Ihr noch?« Laio nickte. »Das sollte Kaeska daran erinnern, dass Mahli hier viel Unterstützung hat.« Sie legte den Kopf zurück und schüttete sich eine Schüssel kalten Wassers übers Gesicht. Sie schauderte und blinzelte, während das übergelaufene Wasser den abschüssigen Boden hinunter und in einen Abfluss rann. Ich überließ Laio ihrem Bad und holte das fragliche Kleid, dem ich dann eine Auswahl an Perlen- und Goldschmuck für Fuß- und Handgelenke, Hals, Hüfte und Haar hinzufügte. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, ständig mit kostbaren Gegenständen umzugehen, mit denen man halb Zyoutessela hätte kaufen können. Laio hatte Kisten voller Kostbarkeiten und offenbar nicht die geringste Ahnung, was sie da besaß. Ich hätte mir ohne Probleme einen Ring schnappen können, einen Ohrring oder auch zwei, eine schöne Kette vielleicht, Juwelen, mit denen ich mir eine Passage durch das gesamte alte Reich hätte kaufen können. Hier jedoch würde mich das alles nicht einmal durchs Palasttor bringen, da hier niemand außer den Adeligen den Wert dieser Dinge verstand. Die Ironie des Ganzen war nicht zu verkennen, wäre es nicht so bitter gewesen. Laios Schmuckkästchen enthielt ebenfalls eine seltsame Mischung: Einige Stücke waren solch hervorragende Beispiele hoher Handwerkskunst, dass ein Kaiser sie ihr geneidet hätte, 371
während andere unglaublich schlicht waren. Viele Stücke waren mit ungeschliffenen Steinen besetzt, welche die meisten Menschen wohl für bunte Kiesel gehalten hätten und nicht für so wertvoll, dass man damit jeden Sklaven in Relshaz hätte kaufen können. »Mein Haar ist in Ordnung. Schmink mir das Gesicht«, befahl Laio und richtete ihr Kleid zu ihrer Zufriedenheit. Ich ging an den Schminktisch und überlegte mir eine angemessene Auswahl von Farben. Was immer ich mir vorgestellt haben mochte, von einem Aldabreshikämpfer lernen zu können – die Schminkkunst hatte nicht dazu gehört. Doch die Pflichten als Leibsklave einer Aldabreshidame hatten sich als seltsame Mischung aus Wächter, Kammerzofe, Spion und Laufbursche herausgestellt. Glücklicherweise hatte ich schon genug gelernt, um eine sichere Hand und ein gutes Auge in handwerklichen Dingen zu bekommen, bevor mein Vater und ich übereingekommen waren, dass die Steinmetzkunst nichts für mich war. Außerdem hätte es schlimmer kommen können: Der Indigo, mit dem Gar sich die Haare zu färben pflegte, bescherte Grival ständig blaue Fingernägel. Hörner erklangen am Hafen und erschreckten mich so sehr, dass ich Laio beinahe mit einem silbernen Kamm in die Wange gestochen hätte. Sie spie irgendetwas hervor, das ich zwar nicht verstand, das aber ein Fluch sein musste. »Das ist Kaeskas Schiff. Sie kommt natürlich zu früh! Beeil dich! Und wasch dir das Gesicht. Ich möchte nicht, dass du so herumläufst.« Ich gehorchte. Kaum war ich fertig, war Laio auf den Beinen und eilte zur Tür hinaus. Ich folgte ihr, versuchte, den stechenden Schmerz in meinen Schultern zu unterdrücken und fragte 372
mich, wann auch ich Gelegenheit zu einem kühlen Bad bekommen würde. Ich konnte nur meinen Gürtel enger schnallen, um so viel wie möglich vom Gewicht meines Kettenhemds auf die Hüfte zu verlagern. »Ich glaube nicht, dass wir uns beeilen müssen, meine Liebe.« Als wir durch die Haupttür des Palastes traten, sahen wir Shek Kul auf der breiten Treppe aus poliertem schwarzen Stein. Sein langer Bart glänzte von Öl, und in seiner weiten Hose, der reich bestickten weißen Seidentunika und mit all den Juwelen sah er wie der typische Barbar aus den Balladen aus. Sein Haar war ebenfalls geölt, geflochten und mit goldenen Bändern zurückgebunden; das war das erste Mal, das ich ihn so sah. Ein mit Gold zusammengehaltenes buntes Federbüschel verlieh seinem Äußeren die abschließende Note. »Wir warten noch auf Mahli.« Er lächelte Laio an, ergriff ihre Hand und drückte sie liebevoll. »Natürlich.« Die junge Frau strahlte ihn an, und ich fragte mich, ob ich meine Baumwollmatratze heute Nacht wieder auf den Gang würde tragen müssen, anstatt wie ein Schoßhund auf dem Boden vor Laios Bett zu schlafen. »Man kann sich auf Kaeska verlassen – sie kommt immer zu früh.« Mahli stützte sich auf Grivals Arm und stieg vorsichtig die Stufen hinunter. Sezarre und ich sahen Grival nun immer seltener. Da Mahli nur noch wenige Tage vom Kindbett entfernt war, schlich er um sie herum wie eine alte Hündin um ihren einzigen Welpen. Ich persönlich machte mir so meine Gedanken über seine Zuneigung ihr gegenüber, behielt es aber wohlweislich für mich. »Lasst uns gehen und unsere Frau begrüßen«, befahl Shek Kul. Seine Stiefel knirschten auf dem Kiesweg, der sich zwi373
schen den bunten, duftenden Blumen des Gartens hindurchwand. Laio ergriff Mahlis Arm, und Grival reihte sich neben mir ein. Ich hörte, wie die Tür sich hinter uns öffnete, doch als ich mich umdrehen wollte, warf Grival mir einen warnenden Blick zu. Also hielt ich die Augen nach vorne gerichtet, und mein Gesichtsausdruck war vollkommen teilnahmslos, als Gar in rauschender scharlachroter Seide an uns vorbeieilte und Sezarre seinen gewohnten Platz an meiner Schwerthand einnahm; wir drei marschierten im Gleichschritt. Ich war erleichtert gewesen, als ich festgestellt hatte, dass außerhalb des Palastes alle offene Ledersandalen trugen, doch auch wenn meine Füße allmählich zäher wurden, spürte ich noch immer jeden einzelnen Kiesel durch die dünnen Sohlen hindurch. Sorgfältig achtete ich auf meinen Gesichtsausdruck, als wir uns dem Tor näherten; dennoch konnte ich einen erwartungsvollen Schauder nicht unterdrücken. Wir waren in der Nacht eingetroffen und direkt zum Palast gegangen; also hatte ich keine Gelegenheit gehabt, den Hafen zu sehen, mich nach Booten umzuschauen und abzuschätzen, was wie gut bewacht wurde. Was ich sah, ermutigte mich nicht gerade. Eine Straße schlängelte sich um die Bucht herum. Auf beiden Seiten standen Gruppen einräumiger Häuser, deren breite Fenster offen standen und den Blick auf sich waschende, kochende, webende, spinnende und sich sonst wie beschäftigende Leute freigaben. Es schien niemanden zu stören, dass andere ihn bei seinem täglichen Treiben beobachten konnten. Am Ufer stand ein breites, eckiges Gebäude aus hartem grauem Stein unmittelbar über der Flutmarke. Wachen marschierten auf dem Dach auf und ab; die Fenster waren Schießscharten, und die Doppeltür eine mas374
sive, mit Eisen verstärkte Holzbarriere. Wie der Palast glich es nach außen einer Festung. Die Tür stand offen, und unterwürfige Insulaner trugen alle möglichen Güter vom dunklen Sand des Strands herein; eine ganze Flotte kleiner Boote von den mächtigen Galeeren weiter draußen hatte die Waren gebracht. Selbst wenn es mir gelingen sollte, eines dieser Boote zu stehlen, würde ich mich höchstens bei einer sanften Brise damit aufs Meer wagen. Ich seufzte innerlich. Würde sich mir jemals eine Fluchtmöglichkeit bieten? Ich blickte zu den Schiffen hinaus, welche die Waren hereinbrachten, die Kaeska Shek auf einer offenbar langen Handelsreise erworben hatte. Zwei Schiffe waren von der gleichen Art wie die Galeere, die mich hergebracht hatte: Sie besaßen einen breiten Bug, ein viereckiges Segel und waren wesentlich massiver als jene Schiffe, welche die Küste des Golfs von Lescar entlangfuhren. Jeder Ruderer hatte sein eigenes Ruder, anders als bei den tormalinischen Schiffen, wo je drei Mann ein Ruder bedienten. Ich wusste, dass die Aldabreshi schon lange dafür sorgten, dass niemand diese Technik nachahmte, indem sie jedes fremde Schiff versenkten, das mehr als eine Ruderreihe besaß. Und da die Kriegsherrn so übertrieben reich an Edelsteinen waren, ließen die Festlandseeleute sie gewähren. Das dritte Schiff jedoch war vollkommen anders. Schlank, ja schmal waren die drei Ruderreihen übereinander angeordnet; Bewaffnete standen an der Reling, und Schaum vor dem Bug verriet das Vorhandensein eines Rammsporns dicht unter der Wasseroberfläche. Es war ein Kriegsschiff; dieser Schiffe wegen hielten sich die Galeeren, welche die Küsten zwischen Col und Relshaz und weiter nach Toremal fuhren, dicht am eigenen Ufer, um dem Archipel nicht zu nahe zu kommen – zumindest 375
nicht ohne Einladung und mit entsprechender Fahne. Zwei dieser Fahrzeuge hatten sich unserer Galeere angeschlossen, kurz nachdem wir Relshaz verlassen hatten. Auf unserer langen Reise zwischen den Inseln hindurch hatte ich gelernt, dass Shek Kul Verträge mit anderen Kriegsherrn besaß, die es ihm gestatteten, auf bestimmten kleineren Inseln zu landen, um Essen und Wasser an Bord zu nehmen und den Ruderern eine Pause zu gönnen. Bei all diesen Zwischenstops hatten wir noch mehr von diesen raubtierhaften Silhouetten draußen auf See gesehen; sie hatten uns beschattet, bis wir die Wasser der jeweiligen Domäne wieder verlassen hatten. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass Dastennin uns mit dem wilden Wetter im Süden Tormalins eine Gnade erwiesen hatte, denn die Stürme machten es den Aldabreshi nahezu unmöglich, das Kap der Winde zu umfahren. Insgesamt herrschte auf dem Archipel im Augenblick ein misstrauischer Waffenstillstand, und ich hoffte inständig, dass der Frieden halten würde, bis ich von hier verschwinden konnte. Ein kleines Boot löste sich vom Kriegsschiff. Die Ruderer legten sich in die Riemen. Im Heck saßen drei Gestalten. Eine leuchtete geradezu in ihrer feuerroten Seide, die im Wind flatterte. Neben ihr saß ein Mann in strengem Schwarz und mit kurzgeschorenem weißem Haar. Er war ein wenig größer als die Frau neben ihm und besaß breite Schultern und eine kräftige Brust. Voriges Jahr hatte ich solche Männer schon einmal gesehen – ebenso wie in Shivs Vision, als Flammen das Herz des Reiches verschlungen hatten. Ich beobachtete, wie das Boot näher kam, und mein Entsetzen wuchs mit jedem Ruderschlag. Dieser Mann war ein Elietimm; darauf hätte ich meinen Eidlohn verwettet. »Kaeska, meine Geliebte!« Shek Kul trat vor, um ihr persön376
lich aus dem Boot zu helfen, ohne auf die Wellen zu achten, die seine Füße umspielten. »Mein verehrter Ehemann.« Kaeskas Tonfall war freundlich und liebevoll, als sie ihn umarmte. »Mahli, meine Liebste, du hättest im Garten warten sollen, im Schatten. Es ist viel zu heiß, dass du so kurz vor deiner Niederkunft so weit läufst.« »Ich musste dich angemessen willkommen heißen; schließlich warst du lange fort.« Mahli küsste Kaeskas makellose Wange; dann traten Gar und Laio vor, um Shek Kuls erste Frau zu umarmen. Nach all den Geschichten, die Laio mir über Kaeskas intrigantes und rachsüchtiges Wesen erzählt hatte, hatte ich etwas Beeindruckenderes erwartet als eine rehäugige Frau mit schlanken Fesseln und hübscher Figur. Ihre Haut und ihr Haar waren ein wenig heller als das der anderen Frauen; tatsächlich war sogar ein Hauch von Rot in ihren Locken, die sie sich um den Kopf gebunden hatte. Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. »Was für ein wunderschönes Kleid, Laio, meine Liebe.« Kaeska schob die Jüngere auf Armeslänge von sich, um sie besser betrachten zu können. »Und auch dein Gesicht ... Was für ein ungewöhnlicher Stil.« »Laio hat einen neuen Leibsklaven«, meldete Gar sich zu Wort und strahlte vor Vergnügen. »O ja!« Laio war ganz das aufgeregte, kleine Mädchen. »Es war klug von Gar, mir einen Festländer auszusuchen. Kannst du dir so etwas vorstellen? Er weiß nichts über uns, ja, er kennt nicht einmal unsere Sprache. Es hat viel Spaß gemacht, ihn auszubilden!« Ich starrte stur nach vorn und versuchte, so auszusehen, als 377
verstünde ich kein Wort von dem Geplapper. Nichtsdestotrotz bemerkte ich einen raschen Blick, den Gar und Kaeska tauschten. Gar bat um Zustimmung; Kaeska erteilte sie mit einem zufriedenen Funkeln in ihren haselnussbraunen Augen. Also hatten die beiden etwas ausgeheckt. »Du hast uns einen Gast mitgebracht?« Shek Kul drehte sich um und musterte den weißhaarigen Mann. »Das ist Kra Misak.« Kaeska drehte den Kopf und nickte in Richtung ihres Gefährten. »Er stammt aus einem Land im Norden und wünscht, die Handelsmöglichkeiten hier zu begutachten.« Ich ließ mir den Namen durch den Kopf gehen. In einer zivilisierten Sprache würde er Kramisak lauten, doch für mich klang er gänzlich unvertraut; nichts deutete darauf hin, dass er aus einem Teil des alten Imperiums stammte. »Seid willkommen auf meiner Domäne.« Shek Kul verneigte sich nicht und bot dem Fremden auch keine Hand an, doch den Elietimm schien das nicht zu stören. Offenbar hatte man ihn gut darüber in Kenntnis gesetzt, was ihn hier erwartete. »Ich werde Eure Gastfreundschaft respektieren.« Der Mann neigte den Kopf als wohl überlegtes Zeichen des Respekts. Sein Gesicht war ehrlich und offen, seine Haltung gelassen; dennoch wirkte er ein wenig eingeschüchtert. Er war in der Tat sehr, sehr gut beraten worden. Ich hatte Tage gebraucht, um die genauen Verbeugungen für die verschiedenen Ränge des Adels zu lernen. Meine Schultern schmerzten noch immer unter meinem Kettenhemd, als ich mich an Laios Wut erinnerte, weil ich sie vor den Augen eines Freundes umarmt hatte. Der Elietimm warf einen raschen Blick zu Grival, Sezarre und mir, die wir wie Statuen vor einem Schrein dastanden; alle 378
trugen wir die gleiche Rüstung, die gleichen Waffen und kurz geschnittene Bärte. Ich behielt den leeren Gesichtsausdruck bei, den Laio mich so eindringlich gelehrt hatte. Die Augen des Mannes waren eisblau und hart und verrieten nichts, als er Kaeska den Arm bot; dann stiegen wir alle wieder zum Palast hinauf, wobei Mahlis bedächtiger Schritt uns recht langsam machte. Ich starrte auf den Rücken dieses Kramisak; sicher war mir hier etwas entgangen. Kaeska redete mit ihm, lachte und lächelte. Als sie sich zu ihm umdrehte, wurde mir trotz der Hitze plötzlich kalt. Ich erkannte sie am Neigen ihres Kopfes, an ihrem Profil. Sie war jene Frau, die ich am Dock in Relshaz gesehen hatte, die Frau, die mit den Elietimm gesprochen hatte, welche auf der Sklavenauktion gewesen waren. Der Mann war allerdings ein anderer. Der Möchtegern-Käufer war jünger gewesen und ein wenig größer, dessen war ich mir sicher; aber es musste da eine Verbindung geben. Wie auch immer ich im Relshazriverlies gelandet sein mochte, die Elietimm hatten genug gewusst, um zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Falls Kaeska meinen Kauf durch Gar arrangiert hatte – was hatte das zu bedeuten? Ich wunderte mich, dass dieser Elietimm keinerlei Abzeichen trug. Alle Eisländer, die ich vergangenes Jahr gesehen hatte, hatten ein Symbol getragen, um ihre Loyalität zu einem der hart umkämpften Fürstentümer zu zeigen. Warum war dieser Kramisak anonym unterwegs? Bevor ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, stieß Sezarre absichtlich seinen Ellbogen gegen meinen. Das war ungewöhnlich genug, ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu sichern. Unauffällig blickte ich zu ihm hinüber und sah, dass er 379
die Stirn leicht in Falten gelegt hatte. Er neigte den Kopf ein Stück in Richtung Grival, der sofort stolperte und einen Schritt zurückfiel, sodass ich einen Blick auf Kaeskas Leibsklaven werfen konnte, der sich neben uns eingereiht hatte. Der Mann starrte stur geradeaus. Ein Auge war von einem leuchtenden Fleck umgeben, der eine ältere Wunde überlagerte. Sein Bart war unregelmäßig gestutzt und unter dem Ohr mit Blut verkrustet. Die Schultern unter dem Kettenhemd waren breit, doch seine Anspannung rührte mehr von Furcht als von Kampfbereitschaft her. Auf seinen Händen waren Striemen von einer Peitsche oder einem Stock zu sehen, und ich fragte mich, welche Verletzungen wir noch zu sehen bekommen würden, wenn er sich das Hemd auszog, um mit uns zu üben. Seine Haut war hell, heller noch als meine, und auch wenn sein Haar die typischen Aldabreshilocken aufwies, so war sein Gesicht doch eindeutig caladhrisch. Falls er ein Mischling war, fragte ich mich, ob er vielleicht noch Kontakte zum Festland besaß, die ich zu meinem Vorteil nutzen konnte, besonders da Kaeska ihn so offensichtlich misshandelte. Ich setzte jedoch nicht allzu viel Hoffnung darauf; die Augen des Mannes waren so tot wie die eines Hundes, den man zu oft und zu lange geprügelt hat. Unser Marsch zurück zum Palast wurde weiter verlangsamt, als die so genannten freien Insulaner aus ihren Häusern kamen, um sich tief vor Shek Kul zu verneigen, den Frauen Blumen in die Hände zu drücken und zärtlich die Hand auf Mahlis Leib zu legen – eine Geste, die mich sehr überraschte. Ich bemerkte, dass Mahli die meisten und schönsten Blumen bekam, und auch wenn Kaeska nach allen Seiten lächelte und sich eine goldene Blume ins Haar steckte, waren ihre Augen hart und berechnend. Die Menschen trennten uns Leibwächter von den Adeligen, 380
und ich sah, wie Grival Kaeskas Sklaven auf den Arm tippte. »Wie war die Reise, Irith?« Der Mann mit Namen Irith schüttelte den Kopf; er blickte Grival nicht in die Augen. Sezarre verzog das Gesicht und ging näher zu den beiden. Ich folgte ihm. »Bist du krank?«, erkundigte sich Sezarre mit offensichtlicher Sorge. Irith schüttelte erneut den Kopf. Noch immer starrte er auf seine Füße und stieß diesmal ein leises Grunzen aus. Grival blickte vorsichtig in Kaeskas Richtung. Sie war gerade damit beschäftigt, einen Strauß roter Blumen zu begutachten. »Hast du unsere Herrin verärgert?« Der Mann verzog das Gesicht, als litte er unter starken Schmerzen, öffnete den Mund und drehte sich zu Grival um, der in blankem Entsetzen zurückzuckte. »Was ist?«, zischte Sezarre, doch der Weg war plötzlich wieder frei, und wir mussten uns erneut hinter den Adeligen einreihen. Grival murmelte ein Wort, das ich nicht kannte; ich sah auf Sezarres Gesicht plötzlich den gleichen entsetzten Gesichtsausdruck wie bei Grival. »Sezarre?« Ich blickte zu ihm, als eine Kurve mir gestattete, den Kopf zu drehen. »Irith hat keine Zunge mehr«, antwortete Sezarre auf eine Art und Weise, die keine weiteren Fragen zuließ. Als wir von einer weiteren Gruppe aufgehalten wurden, die herbeieilte, um Shek Kul und seinen Frauen ihre Ehrerbietung zu erweisen, bemerkte ich, dass der Elietimm in meine Richtung starrte – zwar nicht direkt auf mich, doch auf mein Schwert, worauf ich unwillkürlich zusammenzuckte, denn ich wusste, 381
dass die Waffe mich verraten konnte, trotz Bart und Rüstung. Es mag ja dumm klingen, aber ich war so sehr damit beschäftigt, die Regeln dieser für mich neuen Situation zu erlernen, in welcher der kleinste Fehler Prügel bedeutete, dass ich kaum einen Gedanken an das Schwert verschwendet hatte, seit ich hierher gekommen war. Zumindest war ich nicht mehr von Träumen heimgesucht worden, jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern. Mein Hauptproblem beim Schlafen bestand darin, dass Laio noch lauter schnarchte als Shiv. Während ich weiterhin ausdruckslos schaute und sorgfältig darauf achtete, nicht direkt zu dem Eisländer zu blicken, beschloss ich, mit Laio zu reden, sobald wir allein waren. Laios Interesse zu wecken, war nicht schwer; ich musste nur andeuten, dass Kaeska eine Intrige schmiedete. Als wir das Palastgelände betraten, eilte einer der Diener herbei, um den Eisländer zu eskortieren, vermutlich zu einem Gästezimmer. Erleichtert sah ich ihn gehen und fragte mich, ob der Sklave das Fehlen des Bartes bei dem weißhaarigen Mann falsch deuten würde. Ich hatte rasch herausgefunden, warum Sezarre mich vor dem Rasieren gewarnt hatte, als ich ein paar hübsche Jungen im Quartier des glattwangigen Verwalters verschwinden sah. Als Kämpfer erwartete man von mir, meinen Bart zu stutzen, damit der Feind sich nicht daran festkrallen konnte; trotzdem juckte er in diesem schwülen Klima fürchterlich. »In Kürze wird das Abendessen serviert.« Mahli lächelte Kaeska an, als sie sich sichtlich erleichtert in den Schatten eines Baumes setzte. »Meinen Glückwunsch, dass du alles so gut organisiert hast.« Kaeskas Tonfall war süß wie Honig. »Besonders da du ja keine 382
Ahnung hattest, wann genau ich eintreffen würde.« »Sei nicht so bescheiden.« Mahli schüttelte den Kopf in spöttischem Tadel. »Ich habe sehr viel gelernt, indem ich dich über die Jahre hinweg beobachtet habe. Ich habe einen Späher im Norden der Insel aufgestellt, uns zu signalisieren, sobald dein Banner in Sicht kommt.« »Sämtliche Flaggenstationen und Leuchtfeuer sind bemannt.« Liebevoll ergriff Shek Kul Mahlis Hände. »Alle warten auf die Nachricht von der Geburt unseres Kindes.« »Ich habe ein paar wunderhübsche Dinge für das Kleine.« Kaeskas Gesichtsausdruck wurde lebhafter, und sie setzte sich zwischen Gar und Laio. »Ich bin an den Domänen im Wind vorbeigefahren.« Das Gespräch wurde schneller und schneller geführt und war mit immer mehr Redewendungen gespickt. Es ging um Menschen und Orte, die für mich keinerlei Bedeutung hatten. Mir fiel lediglich auf, dass Kaeska nicht erwähnte, dass sie Relshaz besucht hatte. Ich fragte mich, wie Laio meinen Bericht wohl aufnehmen würde, dass Kaeska zur selben Zeit dort gewesen war wie sie. Ich gab es auf, dem Gespräch zu folgen, und ließ, meine Gedanken schweifen, während ich mich beiläufig im Garten umschaute. Ein paar der stets gegenwärtigen Gärtner beschnitten die üppigen Sträucher, entfernten verwelkte Blüten und säuberten die Wege. Schließlich ertönte eine Glocke auf der anderen Seite der Residenz, und Grival nickte uns anderen zu. Wir eskortierten unsere Damen und den Kriegsherrn in den langen, luftigen Speisesaal, wo Marmorkanäle Wasser an der Wand entlangführten, das dann in der Mitte in ein reich verziertes Becken floss, das die Heimat einiger sehr seltsam aussehender 383
Eidechsen war. Kleine Rauchfässer, die den Raum mit Duft erfüllten, waren ein willkommener Anblick, da ich schon gefürchtet hatte, eine meiner untergeordneten Rollen hier bestünde darin, die verfluchten Insekten abzulenken, damit sie mich bissen und nicht die Aldabreshi, die sie jedoch sehr viel weniger zu stören schienen als mich. Ich erkannte, dass es ein langer und mühseliger Abend werden würde – wie jene Abende, wenn Laio Besucher von der Domäne Kaasik Rais unterhielt. Das einzig Gute war, dass der Elietimm sich nicht blicken ließ. Natürlich war ich neugierig darauf, was er trieb, während alle anderen beim Abendessen zusammensaßen, aber meine Pflichten Laio gegenüber beschäftigten mich voll und ganz, sodass ich im Augenblick keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Eine Folge von Gängen wurde serviert, und mein Magen knurrte immer lauter, da Laio am Mittag zu essen versäumt hatte; sie hatte viel zu viel mit den Webern zu tun gehabt. Also servierte ich, hungerte und lauschte. Als das Gespräch sich schließlich Kaeskas unerwartetem Gast zuwandte, spitzte ich meine Ohren wie der gute Hund, den ich in letzter Zeit viel zu häufig spielen musste. »Wo kommt er her?«, erkundigte Gar sich unschuldig und gab ihre Versuche auf, Shek Kuls Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kaeska schluckte ein Stück sauer eingelegten Fisch herunter. »Irgendwo aus dem Norden.« Laio blickte nachdenklich drein, sagte aber nichts. Vor Kurzem hatte sie mich über die Geographie des alten Reiches befragt; alle anderen schienen zufrieden zu sein, das Festland als formlosen Klumpen zu betrachten, während Laio jedes Riff und 384
jedes noch so kleine Inselchen des Archipels beim Namen nennen konnten, einschließlich den Namen und Rang des Besitzers. »Ein Festländer.« Shek Kuls Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Mitleid und Verachtung. »Sie sind alle gleich.« Kaeska neigte den Kopf katzenhaft zur Seite. »Sein Volk lebt auf Inseln. Ich finde ihn nicht so unkultiviert wie die anderen.« »Was hat er zum Handeln anzubieten?« Mahli blickte von ihrem Teller auf. »Sind seine Leute an einem ordentlichen Tausch interessiert, oder spielen sie wie die anderen die ganze Zeit mit diesen Metallstücken herum?« Kaeska zuckte mit den Schultern. »Der Norden ist schon seit langem eine Quelle für Metall, Holz und Leder, stimmt’s?« Ich wusste nicht, ob sie wirklich keine Ahnung hatte, oder ob sie nur die Dumme spielte. »Lass es mich wissen, wenn du herausfindest, mit was er handeln will.« Mahli legte beiläufig eine Hand auf ihren Bauch, als sie Kaeska anlächelte. »Gar und Laio haben ihre Berichte für mich bereits gemacht, und ich habe die Schatzkammer selber überprüft.« »Hast du dir auch die Saphire angesehen, die ich von Rath Tek bekommen habe, meine Liebe?«, wollte Shek Kul wissen. »Wenn wir das nächste Mal Relshaz besuchen, kannst du sicher etwas damit anfangen.« Kaeskas Gesicht erstarrte ob dieser ungewöhnlich direkten Anspielung, und ich sah selbst Laio verwundert blinzeln, weil Mahli schon vor der Geburt so viele von Kaeskas Pflichten übernommen hatte. »Wenn dieser Mann aus einem Land im Norden stammt, vielleicht will er dann auch für deine Stoffe handeln, Laio«, beeilte sich Gar, das verlegene Schweigen zu beenden; ihre Augen 385
verrieten ihre Verwirrung. »Für die Inseln ist er zu dick, selbst wenn er nicht von so schlechter Qualität wäre.« »O Laio.« Kaeskas Gesicht spiegelte schwesterliche Sorge. »Hast du Schwierigkeiten mit deinen Webern?« Laio beeilte sich, dies zu leugnen, und erklärte – wieder einmal –, dass sie nur der dummen Tani Kaasik hatte helfen wollen, worauf Kaeska verständnisvoll nickte; doch immer wenn Laio schon gewonnen zu haben schien, bohrte Gar ihr einen weiteren Dorn ins Fleisch. Überrascht beobachtete ich, wie Mahli sich aus dem Gespräch heraushielt; stattdessen diskutierte sie Fragen des Haushalts mit Shek Kul, was Kaeska nur umso entschlossener werden ließ, über Laios Fehler zu reden. Als die Nacht sich hinter den Fensterläden herabsenkte, sah ich den größeren Mond über den Wehrgängen aufgehen. Er nahm ab, hatte aber noch nicht wieder die Hälfte erreicht, und der kleinere Mond war kaum über den Bäumen zu sehen. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einen Almanach gesehen hatte, und wie viele Tage die Chronisten des Kaisers dieses Jahr dem Nachfrühling zugeteilt hatten. Soweit ich es aus meiner Erinnerung einschätzen konnte, mussten wir uns in den ersten Tagen des Vorsommers befinden, ungefähr um den fünften oder sechsten herum. Leichtfüßige Hausdiener antworteten auf Shek Kuls Ruf und brachten kleine Laternen. Froh erkannte ich, dass dieser scheinbar unendliche Abend nun doch enden würde, und meine Erleichterung spiegelte sich auch in Laios Augen. Gar und Kaeska nahmen sich gut gelaunt an den Händen und gingen die breite Mitteltreppe hinauf, den anderen voraus. Kaeskas Zufriedenheit geriet jedoch ins Wanken, als sie sich umdrehte und sah, dass Mahli von Shek Kul persönlich gestützt wurde. Als Shek Kul 386
oben angekommen war, verließ er seine Frauen nicht sofort, um zu seinen Gemächern ein Stockwerk tiefer zu gehen, worauf Kaeska theatralisch gähnte. »Verzeiht mir. Ich bin so müde.« Sofort drehte sie sich zu ihrem Schlafgemach um. »Irith!« Der arme Kerl sprang die letzten Stufen hinauf wie ein geprügelter Hund, und Kaeska huschte durch die Tür ihrer Gemächer, ohne nur noch einen Blick zurückzuwerfen. Shek Kul murmelte irgendetwas, das ich nicht verstand, da er gleichzeitig Mahli umarmte. Diese lachte laut, als sie sich von Grival den Gang hinunterführen ließ, ein Geräusch, das ohne Zweifel durch die Tür von Kaeskas Gemächern dringen musste, als sie daran vorüberging. »Zu Bett!« Shek Kul küsste Gar flüchtig und wandte sich dann Laio zu, um sie mit einer Schnelligkeit um die Hüfte zu packen, die alle überraschte. Er riss sie in die Höhe und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Busen. Laio kicherte vor Freude. Auf ihr Nicken hin eilte ich los, um die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu öffnen. Während ich dort stand, um den Kriegsherrn und das sich windende Bündel in seinen Armen vorbeizulassen, sah ich, wie Gar rot anlief und Tränen in ihren Augen schimmerten. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte den Gang zu ihren eigenen Gemächern hinunter. Ich hatte keine Zeit, mir über Gars Gefühle den Kopf zu zerbrechen. Shek Kul hatte Laio das Kleid bereits über die Schulter bis zu den Hüften hinuntergezogen und hielt ihre reifen Brüste in den Händen, als ich meine Matratze auf den Gang hinausschleifte und den Segeltuchsack holte, der allen Besitz enthielt, der mir gestattet war. In Zeiten wie diesen war es schlicht unmöglich, so zu tun, 387
als wäre ich nur ein Diener und kein Sklave. Ich war müde und halb verhungert; mein Rücken und meine Schultern schmerzten fürchterlich, und ich hätte genauso gut ein Türpfosten sein können. Shek Kuls Falken wurden manchmal besser behandelt als wir Leibsklaven. Ich fluchte leise, löste die Schnallen meines Kettenhemdes und beugte mich mit ausgestreckten Armen vor, um es abzuschütteln. Der Lärm, den das Kettenhemd machte, als es auf den polierten Holzfußboden klirrte, ließ mich einen Augenblick in Erwartung eines Tadels von Laio erstarren. Doch ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen; Die Geräusche wachsender Leidenschaft, die durch die dünne Tür drangen, hörten kaum einmal auf. Endlich das Gewicht des Kettenhemds von den Schultern zu haben, stellte zwar eine Verbesserung meiner Lage dar, doch meine schmerzenden Muskeln schrien noch immer vor Entrüstung. Wäre es möglich gewesen, zu Sezarre und Grival zu gehen, hätten wir uns gegenseitig mit einigen der hervorragenden Massageölen helfen können, welche die Aldabreshi so sehr schätzen, doch ich wusste, dass ein Sklave bei seiner Dame bleiben musste, hatte diese sich erst einmal für die Nacht zurückgezogen. Es sei denn, natürlich, er saß auf dem Flur wie ein ausgesperrter Hund. Ich durfte nicht einmal darauf hoffen, mich am Morgen in einem ordentlichen Bad einweichen zu können. Laio hatte mir deutlich erklärt, dass nur Festländer sich in ihrem eigenen Dreck suhlten, während ordentliche Leute sich mit frischem Wasser abspülten. Ich rieb mir die Schultern, so gut ich konnte, und versuchte, die lautstarken Forderungen meines Magens zu ignorieren. So hungrig war ich nicht mehr gewesen, seit Laio mir einen Tag lang absichtlich die Mahlzeiten verweigert hatte, weil ich beim Essen offenbar einen Fehler begangen 388
hatte, über den ich mir nie so richtig klar geworden war. Hinter der Tür von Laios Zimmer folgten Shek Kuls Lustschreie inzwischen einem festen Rhythmus, und sie antwortete ihm immer leidenschaftlicher. Aus vergangenen Nächten wusste ich, dass der Kriegsherr trotz seines Alters ein Mann von beachtlicher Ausdauer war, wenn es darum ging, die Schlange durchs Gebüsch zu scheuchen; also schlich ich mich leise auf nackten Füßen davon. Die Pagen, die ständig am Fuß der Treppe warteten, hatten stets Wasser dabei, und ich nahm an, dass ich zumindest etwas zu trinken bekam, um den schlimmsten Hunger zu lindern. Die Treppe befand sich in der Ecke eines hohlen Vierecks, das eine Art Bergfried der Residenz bildete. Die Zimmer der Frauen befanden sich auf der Innenseite dieses Vierecks. Von dort konnte man den zentralen Garten überblicken, der eine besondere Bedeutung besaß, die ich jedoch erst noch ergründen musste. Die Treppe war, wie gesagt, in der Ecke – dort, wo Kaeskas und Laios Räume aufeinander trafen. Ich bewegte mich vorsichtig; schließlich wollte ich Kaeska nicht darauf aufmerksam machen, dass ich meinen Posten verlassen hatte. Als ich die Treppe erreichte, sah ich Lichtstreifen auf dem Holzfußboden, was mir verriet, dass bei Kaeskas Salon noch immer eine Lampe brannte. Ich murmelte einen Fluch und duckte mich, um nicht entdeckt zu werden. »Was werdet Ihr tun, um mir zu helfen?« Kaeskas leise gesprochen Worte vertrieben sofort sämtliche Gedanken an Durst aus meinem Kopf. Sie sprach ein passables Tormalin. Das Blut pochte so laut in meinen Adern, dass ich fast taub wurde, und ich kämpfte darum, meinen Herzschlag wieder zu beruhigen. 389
»Was ich für Euch tun werde, hängt ganz davon ab, was Ihr für mich tun werdet.« Der Akzent des Elietimm war unverkennbar, auch wenn sein Tormalin besser war als Kaeskas. Sein Tonfall war hart und unerbittlich. »Natürlich, ich werde tun, was ich kann.« Kaeska klang unterwürfig, beinahe flehend. »Habe ich es bis jetzt nicht gut gemacht? Ihr habt gesagt, Ihr wärt mit mir zufrieden. Ihr habt gesagt, Ihr würdet mich belohnen ...« »Die Königin der mondlosen Nacht muss angemessen geehrt werden, wenn sie auf Eure Gebete antworten soll.« Der Elietimm klang verächtlich. »Sie braucht Gläubige in jeder Domäne.« Ich zwang mich, langsam und gleichmäßig zu atmen, um mich auf jedes Wort zu konzentrieren. Ich hatte noch nie von dieser Königin gehört, über die er sprach. Wie oft erlebt man auch schon eine Nacht, in der nichts von beiden Monden zu sehen ist? Vielleicht ein einziges Mal in einer Hand voll Jahren. »Ich werde reisen und Eure Lehren verbreiten. Ich habe doch getan, was Ihr verlangt habt, oder? Ich habe Gar gesagt, sie solle sich den Sklaven für Laio sichern ...« Kaeskas Stimme klang immer ängstlicher; dann wurde sie von etwas unterbrochen, das nur ein Schlag sein konnte. Was wusste oder besaß dieser Mann, dass er es wagen konnte, Hand gegen die Frau eines Kriegsherrn zu erheben, ohne besagte Hand im nächsten Atemzug durch das Schwert ihres Leibsklaven zu verlieren? Mit äußerster Vorsicht schlich ich mich in die Ecke und legte mich flach auf den Boden, bis ich unter der Tür hindurchschauen konnte. Kaeska und der Elietimm saßen auf Kissen, zwischen sich einen niedrigen Tisch, auf dem eine Kerze unter einer Art Rauchschale brannte. Der Geruch aus dieser Schale diente je390
doch nicht nur dazu, die Insekten zu vertreiben. Ein Luftzug wehte einen Hauch davon in meine Richtung, und ich erkannte den beißenden, verlockenden Duft von Thassinblättern. Ich hielt die Luft an – und das nicht nur wegen des Rauchs. Thassinnüsse zu kauen, ist eine Sache; es ist eine Gewohnheit, die man nur schwer wieder ablegen kann. In Maßen genossen, richtet es keinen allzu großen Schaden an, außer dass es einem Sinne benebelt und die Zähne verfärbt. Den Rauch einzuatmen, ist jedoch etwas vollkommen anderes. Jeder eingeschworene Mann, der dabei ertappt wurde, wurde alsbald an einen lescarischen Halsabschneider verkauft. Niemand vertraut einem Schwertkämpfer, der jeden Augenblick die Waffe gegen eingebildete dreiköpfige Monster zu erheben droht. Kaeskas Augen waren dunkel und glasig, ihre kunstvolle Schminke verschmiert. Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie wischte ihn mit einer unbeholfenen Bewegung ab, ohne dabei auf das Blut zu achten, das ihr aus dem Mundwinkel rann. »Zeigt mir meinen Sohn«, flehte sie in heiserem Flüstern. Der Elietimm schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einem grausam-zufriedenen Lächeln. Er saß mit verschränkten Beinen und aufrechtem Rücken da; bis zur Hüfte war er nackt, abgesehen von dem goldenen Halsring. Seltsame Symbole waren auf seiner blassen Haut zu sehen; sie bedeckten seine Brust und seine Arme bis zu den ausgebreiteten Händen. Diese Zeichen mussten aufgemalt sein; ich war sicher, vorhin nichts auf seinen Handflächen bemerkt zu haben. Selbst im schwachen Licht der Kerze waren die Augen des Mannes klar und fest; der Rauch schien ihm gar nichts auszumachen, und ich fragte mich, warum das so war. Selbst ich kriegte schon genug davon mit, um exotische Träume zu bekommen – und dabei hielt ich mein 391
Gesicht dicht über dem Boden und atmete so flach, wie ich nur konnte. Wer war dieser Mann, und was machte er hier mit seiner verfluchten Ätherhexerei? »Bitte ...« Kaeska streckte zitternd die Hände aus. »Wenn ich das tue, müsst Ihr etwas als Gegenleistung tun. Die Königin der mondlosen Nacht verlangt Gleichgewicht in allen Dingen.« Der Mann gab vor, nachzudenken, doch ich durchschaute sein falsches Zögern. Er wusste genau, was er wollte. »Alles.« Kaeskas Augen waren nun groß und leer, und ihr Mund stand offen, doch noch immer blickte sie den Elietimm an, als besäße er Saedrins Schlüssel zur Anderwelt. »Dieser Sklave der Frau Laio«, der Eisländer beugte sich vor; sein Blick war eiskalt, »er und seinesgleichen sind Feinde meiner Königin. Ich werde gegen seine Macht ankämpfen müssen, damit Ihr schwanger werden könnt. Tauscht ihn gegen irgendetwas ein. Falls er uns gehört, wenn wir wieder gehen, kann ich mich angemessen um ihn kümmern.« »Ist das Kind erst geboren, wird Mahli die erste Frau sein.« Besorgt legte Kaeska die Stirn in Falten. »Es wird ihre Aufgabe sein, solch einen Tausch abzuschließen.« »Dann erledigt es, bevor das Kind geboren ist«, erklärte der Elietimm knapp. »Falls nötig, kann ich diesen ... Dreck noch heute Nacht beiseite räumen. Zerdrückt noch ein paar mehr Beeren auf seinem Gaumen, und er wird nicht mehr aufwachen.« Er stieß mit dem Fuß gegen etwas, das ich bis jetzt für einen Haufen Kissen und Decken gehalten hatte, doch es war etwas anderes: Es war Irith, der leise stöhnte und sich von dem Tritt wegrollte. Mit dem Gesicht zu mir blieb er liegen. Seine Augen 392
waren halb geöffnet und rot von Blut, und dunkler Schleim troff ihm aus dem Mund. »Shek wird das nicht gefallen«, wimmerte Kaeska. »Einen Sklaven zu züchtigen, ist eine Sache, ihm Than zu verabreichen, etwas vollkommen anderes.« Diese Bastarde! Diese pockenverseuchten Hundesöhne! Ich ballte die Fäuste und musste alle Kraft aufbringen, um meine Wut und meinen Ekel zu beherrschen. Mein Zorn würde Irith nicht helfen – es sah so aus, als würde ihm gar nichts mehr helfen –, aber ich musste so viel von dieser Intrige mitbekommen, wie nur irgend möglich, um Laio ausführlich davon zu berichten und wenn möglich alles zu meinen Gunsten zu wenden. »Wenn Ihr mir schwört, dass Ihr es tut, werde ich Euch noch einmal Euren Sohn zeigen.« Die Stimme des Eisländers klang so süß und verführerisch wie Honigwein. »Ich schwöre.« Kaeska sprach so leise, dass ich sie kaum hören konnte; ihre Stimme war nur ein Flüstern, und ihr Blick war auf die blauen Rauchfäden aus dem Brenner fixiert, die ihre Sinne ins Chaos stürzten. Der Elietimm begann einen leisen Gesang, und mir sträubten sich die Nackenhaare wie einem Hund, der eine verhasste Spur aufgenommen hat. Die fremdartigen Worte und der Rhythmus klangen wie bei Kerrits einfachen Tricks, doch die Kraft in der Stimme des Mannes zeugte von wahrer, selbstbewusster Macht. Ungebeten meldeten sich Erinnerungen an meine Gefangenschaft auf jenen weit entfernten, öden Inseln wieder. Gesänge wie diese hatte ich auch gehört, als ich gelähmt und nackt auf einer Bank gelegen und geglaubt hatte, an Händen und Füßen gefesselt zu sein. Erst später hatte ich erkannt, dass es gar keine 393
Fesseln gegeben hatte, dass sie ein Trugbild gewesen waren, heraufbeschworen von dem, den wir zum ersten Mal den ›Eismann‹ genannt hatten. Der Rauch aus dem Brenner wurde immer dichter; eine Wolke stieg gegen den Luftzug nach oben und begann, sich zu drehen. Ohne in seinem Gesang innezuhalten, legte der Elietimm einen kleinen Gegenstand auf den Tisch. Der Gegenstand funkelte, als die Kerzenflamme plötzlich ein unirdisch helles Licht ausstrahlte. Der Gegenstand war eine Gürtelschnalle in antikem Tormalinstil, und irgendetwas daran weckte eine Erinnerung in mir, auch wenn ich mich beim besten Willen nicht entsinnen konnte, diese Schnalle je zuvor gesehen zu haben. Plötzlich löste sich die wirbelnde Rauchwolke auf, und aus Rauch und Licht bildete sich der grobe Umriss eines Gesichts. Dies aber hatte nichts mit der Magie zu tun, die ich bei Shiv und Viltred gesehen hatte. Während die Thassinschwaden meinen Kopf umkreisten, fühlte ich den Zauber in meinem Geist, und neugierige Finger stocherten in meinem Verstand herum. Zum Glück war der Elietimm völlig auf Kaeska konzentriert, und das Gefühl verging, bevor ich mich verraten konnte. Während ich beobachtete, wie Kaeska immer schneller atmete, als wäre sie von Leidenschaft übermannt, gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Zauber sich irgendwie von ihren Ängsten und Wünschen nährte. Das Gesicht wurde immer klarer. Ich runzelte die Stirn und hatte mir beinahe den Rauch aus den Augen gerieben, doch im letzten Moment erinnerte ich mich an die tödliche Gefährlichkeit selbst des kleinsten Geräuschs und hielt mich zurück. Was ich sah, war genauso wenig ein Aldabreshi-Gesicht, wie die Gürtelschnalle von den Inseln stammte. Durch den Rauchschleier hindurch erblickte ich ein jugendli394
ches Antlitz, vielleicht das eines Jungen, vielleicht auch das eines Mädchens an der Grenze zur Frau. Das Haar war sandblond mit einem Hauch von Rot; das blasse Gesicht von Sommersprossen übersät. Als der Gesang sich veränderte, schlug das unirdische Gesicht die Augen auf. Selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, dass sie blassblau oder grün waren. Kaeska starrte es gierig, ja wahnsinnig an, wobei sie wie ein ertrinkendes Tier nach Luft schnappte. »Mein Sohn, meiner und Sheks«, flüsterte sie, »der Erbe dieser Domäne und meine Zukunft.« Der Rauch begann, mir die Sinne zu vernebeln, aber ich war fest davon überzeugt, dass Kaeska und der Kriegsherr nie ein Kind zeugen würden, das aussah wie das Volk in den Hügeln von Bremilayne, selbst wenn sie Nacht für Nacht rammeln würden wie die Karnickel. Ich wusste nicht warum, doch ich war vollkommen sicher, dass Kaeska aus irgendeinem Grund etwas völlig anderes sah als ich. »Und Ihr werdet ihn zu gegebener Zeit gebären. Eure Rechte als erste Frau werden somit wiederhergestellt, und Ihr werdet hoch über alle Frauen der anderen Domänen aufsteigen, denn der Handel mit meinem Volk wird Euch Metall und Holz einbringen, wodurch sich Shek Kuls Macht immer weiter vergrößern wird. Ihr werdet Euch nie wieder mit den Dieben und Wilden auf dem Festland abgeben müssen, nur noch mit Inselbewohnern wie Ihr selbst, die den Wert von Schönheit und Ehre im Handel verstehen. Ihr werdet für Euren Gemahl eine mächtige Allianz abschließen und ihn zum Ersten unter den Kriegsherrn der Inseln machen, welche Ihr mit Euren neuen Freunden gegen die Räuber und Betrüger des Festlands verteidigen werdet.« 395
Der Elietimm beugte sich vor und blickte Kaeska streng an. »Und Euer Sohn wird all das erben. Er wird aufwachsen und zum Mann erblühen, während das Kind Eurer Rivalin dahinsiechen und sterben wird, solange Ihr der Königin die Ehre erweist und ihren Priestern bedingungslosen Gehorsam leistet.« Damit meinte er ohne Zweifel sich selbst. Langsam schüttelte ich den Kopf und blickte wieder zu Kaeska, während die Erscheinung sich in Rauch auflöste, der vom Nachtwind davongetragen wurde. Das gierige Leuchten verschwand aus Kaeskas Augen; verzweifelt griff sie nach dem sich auflösenden Rauch, und ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. »Zeigt bitte Würde!« Der Elietimm spie einen Befehl, und die Kerze flackerte und verlosch, und der letzte Rauchfaden verschwand in der Dunkelheit. Dann stand er auf und schnaufte verächtlich, als er auf Kaeska hinunterblickte, die mit vor Kummer zuckenden Schultern auf dem Tisch lag. Er stapfte zu einer Nebentür; kaum hatte er den Raum verlassen, machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg zurück zu meiner Matratze vor Laios Zimmer. Ich musste mich sehr darauf konzentrieren, leise zu sein; meine Körperbeherrschung hatte eindeutig unter dem Rauch gelitten, den einzuatmen ich unmöglich hatte vermeiden können. Froh legte ich den Kopf auf die kühle, weiche Baumwolle und schloss die Augen, als der Boden unter mir zu schwanken schien, während der Duft der Droge mich noch immer verführte.
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Die Siedlung auf Kel Ar’Ayen, Herbstäquinoktium, Jahr 1 der Kolonie
Temar marschierte entschlossen über den überfüllten Marktplatz; sein Optimismus war gestärkt von dem Stolz, den er beim Anblick der gelben Steinbauten empfand, die im Licht der untergehenden Sonne leuchteten. Es war zutiefst befriedigend zu sehen, welchen Erfolg er mit der Entdeckung des Steinbruchs erzielt hatte. An der Tanzfläche, wo die Feiernden sich zu Rundtänzen gruppierten, wurde die zunehmende Dunkelheit von Fackeln und Kohlebecken ferngehalten. Ein wenig verwundert bemerkte Temar, dass einige Handwerker, welche die ersten Gebäude dieser Siedlung errichtet hatten, offenbar noch genug Zeit und Material gehabt hatten, Fässer und Kessel aufzustellen, die nun als Blumenkübel dienten. Blühende, improvisierte Gärten verbargen die Mängel der Holzhäuser, welche die Kolonisten den ersten Sommer über beherbergt hatten, und bildeten einen bunten Rahmen für dieses Fest. Nach den Maßstäben der D’Alsennin mochte es ein primitives Fest sein, doch dem Lärm nach zu urteilen, der über den weiten Grund hallte, beabsichtigten die Kolonisten, diesen Feiertag zu einem denkwürdigen Ereignis zu machen, egal woran es ihnen mangeln mochte. Temar nickte den Menschen zu, die an ihm vorübergingen – darunter einige bekannte Gesichter von der Reise – und hoffte, dass ein warmes Lächeln anstelle der Münzen genügte, die er um diese Jahreszeit daheim auf den Straßen zu verteilen pflegte. Der Reichtum, den er heute bei sich trug, war nur für einen einzigen Empfänger bestimmt. 397
Temar atmete tief durch, blieb vor dem Tor von Messire Den Rannions Haus stehen, überprüfte, ob keine Locke aus der Haarklammer gerutscht war und richtete sein altes Wams. Dann hob er das Kinn; schließlich würde er ja nicht der Einzige sein, der noch die letztjährige Mode trug, oder? »Temar!« Ein kräftiger Schlag auf den Rücken überraschte ihn völlig, und fast wäre er auf die Straße gestürzt. »Ha! Hab dich!« »Vahil, du alter Schwachkopf!« Temar schüttelte die Hand ab, die ihn vor dem Sturz bewahrt hatte, strich sein Hemd glatt und klopfte auf seine Tasche, um sich zu vergewissern, dass noch alles da war. »Komm rein.« Vahil war unvermindert gut gelaunt, als er mit dem Heft seines Messers auf das Holztor klopfte. »Alle sehnen sich danach, dich zu sehen.« Der Torwächter öffnete ihnen, und Vahil stürmte mit einem fröhlichen Gruß hinein. »Drianon segne Euch«, murmelte Temar, als er ein wenig verlegen an dem Mann vorbeiging. »Und Euch auch, Junker!« Der Torwächter hob seinen Krug zu einem freundlichen Salut. Temar trat ein Stück zur Seite und betrachtete die Veränderungen, die in den anderthalb Jahreszeiten, da er fort gewesen war, vor sich gegangen waren. Die Gebäude waren noch immer von einem Zaun statt einer Mauer umgeben, doch die Gärten nahmen allmählich Gestalt an. Laternen leuchteten in dürren Obstbäumen, die einen kleinen Weg säumten, und Weinranken wuchsen am Zaun empor. Ein Kräutergarten war angelegt worden, und der Duft der ersten Keimlinge lag in der Luft. Temar fragte sich im Vorübergehen, woher der Kies auf dem Weg kommen mochte; dann erinnerte er sich an den Strand der 398
Anlegestelle. »Euer Verwalter hat viel geleistet«, bemerkte er anerkennend. Vahil schüttelte den Kopf. »Das hat alles Mutter gemacht. Komm, lass uns etwas trinken.« Entschlossen stapfte er zu einem Tisch unter einem schlichten Pflanzengitter, an dem sich scharlachrote Blumen emporrankten. »Genauer gesagt haben Mutter und Jaes, der Pförtner, es gemacht.« Er deutete in Richtung Tor. »Seit wann nennt ihr eure Diener beim Vornamen und umgekehrt?« Temar schenkte sich selbst einen Becher goldenen Weins ein, da nirgends jemand zu sehen war, der ihm diese Arbeit abgenommen hätte. Vahil hielt kurz inne; dann zuckte er mit den Schultern und schnappte sich eine Flasche Rotwein. »Ich weiß es nicht genau. All diese Formalitäten waren nur irgendwie ... seltsam. Hier sind die Dinge ein wenig anders als daheim. Meinst du nicht auch?« Temar nickte, nippte vom Wein und blinzelte ob des säuerlichen Geschmacks, denn der Wein war noch sehr jung. »Ich nehme an, da hast du Recht. Auf jeden Fall ist es flussaufwärts so, wo wir alle hart arbeiten müssen, um voranzukommen. Du hast mich nur ein wenig überrascht.« »Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, Land zu roden, zu säen und zu ernten, als dass sich einer dabei in den Schatten hätte setzen und zugucken können.« Kurz nahm Vahils Gesicht einen nüchternen Ausdruck an. »Nachdem wir die Schiffe verloren hatten, mussten wir alle mit anpacken.« »Wir?« Temar hob fragend die Augenbrauen. »Ja, wir.« Vahil stellte sich der Herausforderung in Temars Blick. »Wir haben eine Menge erreicht, worauf wir stolz sein 399
können, und nun sehen wir einem sicheren Winter entgegen.« »Und was genau hast du getan?«, hakte Temar nach. Vahil trat einen Schritt zurück und verneigte sich elegant. »Ich habe die Ehre, Euch den Sekretär des Ersten Rats von Kel Ar’Ayen zu präsentieren. Oh, tut mir Leid!« Er hob entschuldigend die Hand in Richtung des Mannes, der gerade vorbeiging und mit dem er beinahe zusammengestoßen wäre. »Ja, Temar, gib mir ein paar Stunden, und ich zeige dir Berichte über alles, was seit unserer Ankunft hier gerodet, angepflanzt und geerntet worden ist.« »Vahil Den Rannion, das fröhlichste Männchen im Puff, ist zu einem Erbsenzähler geworden? Das kann ich nicht glauben!« Temar lachte, um sein Staunen zu verbergen. »Damit bist du nicht allein.« Messire Den Rannion erschien neben Temars Schulter; sein Tonfall verriet, wie stolz er auf seinen Sohn war. Dann aber wurde er ernst. »Du bist spät, Vahil. Deine Mutter hat sich schon gefragt, wo du steckst.« Vahil verneigte sich tief und vermied es wohlweislich, darauf zu antworten. »Ich werde zu ihr gehen und mich bei ihr entschuldigen.« Rasch eilte er davon. Sein Vater blickte ihm seufzend hinterher. »Komm, Temar.« Der Messire schob beiseite, was immer ihm Sorgen bereitete. »Einige Leute hier sind begierig darauf zu hören, was du uns zu berichten hast.« Temar prüfte rasch noch einmal den Inhalt seiner Tasche. »Ist Demoiselle Tor Priminale auch hier?« Doch Messire Den Rannion entfernte sich bereits. Temar zuckte mit den Schultern und folgte ihm zu einer Gruppe ernster Männer, die miteinander diskutierten. »D’Alsennin!« Einer der Männer trat vor, um Temar mit einer 400
knappen Verneigung zu begrüßen. »Es ist schön, Euch wiederzusehen.« »Meister Grethist.« Temar lächelte breit. »Wie geht es dem Adler?« »Liegt hoch und trocken auf Land«, versicherte ihm der Seemann. »Die Felsen haben nicht so viel Schaden angerichtet, wie wir befürchtet hatten.« »Das mag ja sein, aber wenn der Katarakt unüberwindbar ist, können wir den Fluss nicht als Weg ins Landesinnere nutzen.« Ein dünner Mann mit müden Augen verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe gehört, die Reparaturen würden fast eine Jahreszeit dauern, um das Schiff wieder seetüchtig zu machen.« Ein größerer Mann mit zurückweichendem Haar steckte seine Hakennase in einen Becher und trank einen tiefen Schluck. Grethist zuckte mit den Schultern und zwinkerte Temar zu. »Was sonst sollten Seeleute den Winter über tun? Es gibt hier doch noch keine Bordelle, oder? Wenn sie nirgends ein steifes Seil weich machen können, dürfte ich keine Probleme haben, sie fürs Kalfatern zu begeistern.« »Im Frühling werden wir Expeditionen die Küste hinaufschicken, Meister Dessmar«, sprach Den Rannion den dünnen Mann ernst an. »Messire Den Fellaemions Karten der ersten Reise zeigen mehrere Flussmündungen, die eine Erkundung wert sind. Es wird einige Jahreszeiten dauern, bis die Leute bereit sind, sich von hier aus allein auf den Weg zu machen, und bis dahin wollen wir Flüsse für sie haben, die schiffbar sind.« Dessmar nickte und schürzte die Lippen. »Vielleicht finden sie dann auch eine Spur von den Schiffen, die bei dem widerwärtigen Sturm verloren gegangen sind.« 401
Der Mann mit dem schütteren Haar fuhr fort, als hätte niemand ihn unterbrochen: »Es ist ja schön und gut, dass der Adler wieder instand gesetzt werden kann, aber mehr als die Hälfte der Fahrzeuge, die es bis hierher geschafft haben, müssen an Land gesäubert und repariert werden. Außerdem müssen Taue und Segel gemacht werden, und wir haben nicht allzu viel Material zur Verfügung. Ich hasse es, auch nur daran zu denken, in welchem Zustand die Planken im nächsten Frühling sein werden.« »Passende Hölzer für die Schiffsbauer zu finden, war einer der Gründe für D’Alsennins Expedition den Fluss hinauf, Meister Suttler.« Messire Den Rannions Tonfall war entspannt, doch Temar sah ein berechnendes Funkeln in seinen Augen. »In der Tat.« Temar nickte. »Wir haben hervorragende Hölzer entdeckt, nicht wahr, Meister Grethist?« »Sobald das Unterholz sein Laub verliert, beginnen wir mit dem Fällen«, bestätigte der Seemann. »Ich habe jene Leute, die nicht in den Minen gebraucht werden, dafür abgestellt, eine Grube auszuheben, wo wir neue Schiffe auf Kiel legen können.« »Wie Ihr seht, Meister Suttler, werden bereits neue Boote die Küste entlang und die Flüsse hinauf segeln, bevor die alten verbraucht sind.« Ein Mann mit rötlichem Gesicht hatte das Gespräch ungeduldig verfolgt. »Nun, Junker, wie sind die Minen so? Wenn wir mehr Interesse an diesem Unternehmen wecken wollen, müssen wir zeigen, dass wir nicht nur die Mittel des Imperiums aufzehren, sondern etwas vorweisen können.« »Wir haben beachtliche Kupfervorkommen in einem Tal am Fluss entdeckt, Meister Daryn«, erklärte Temar selbstbewusst. »Einige der Männer mit Erfahrungen aus Gidesta haben einen Vorstoß auf das Hochplateau unternommen und erklärt, dort 402
wäre Zinn zu finden.« »Das ist sicher nützlich, aber nicht gerade eine Neuigkeit, dass ganz Toremal darüber redet.« Der Mann legte die Stirn in Falten und blickte nachdenklich in seinen Weinbecher. »Komm schon, Sawney, wir sind doch erst am Anfang«, ermutigte Messire Den Rannion Meister Daryn und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wer weiß, was Temar und seine Leute kommenden Frühling hinter dem nächsten Hügel finden.« »Wann werden wir wissen, von welcher Qualität das Erz ist?«, erkundigte sich Meister Daryn. »Die ersten Messungen sind vielversprechend.« Temar zögerte ein wenig. »Ich fürchte, ich verstehe nicht viel von diesem Handwerk, aber die Bergleute sahen sehr zufrieden aus.« Er fragte sich, ob er diesen Männern zeigen sollte, was er in der Tasche hatte, entschied sich aber dagegen. Guinalle sollte es als Erste sehen. »Dann können wir im Frühling Ingots nach Hause schicken?«, wollte Daryn wissen. »Dass eine zweite Flotte gebaut wird, um mehr Siedler hierher zu bringen?« »Da bin ich sicher«, antwortete Temar. »Ihr werdet wunderbare Neuigkeiten zu übermitteln haben.« »Wartet einfach ab.« Messire Den Rannion lächelte breit. »Es ist genau so, wie wir euch gesagt haben: Wir werden die Handwerker daheim mit allem Material versorgen, das sie begehren, während unsere Siedlung hier wächst, und bei unseren Leuten wird ein großer Markt für Erzeugnisse aus der Heimat entstehen. Auf diese Weise werden die Leute zu Hause nicht mehr an rebellische Caladhrier und dergleichen verkaufen müssen.« 403
»Es mag ja kein Gold und Silber sein, aber das Reich ist vielleicht bald schon dankbar für Kupfer und Zinn«, bemerkte Meister Suttler säuerlich. »Bevor wir aufgebrochen sind, hat sich die Lage in Gidesta arg verschlechtert. Seine Kaiserliche Nutzlosigkeit ist inzwischen vermutlich schon weit über den Dalas zurückgetrieben worden.« »Hat dieses Mädchen von Den Fellaemion in letzter Zeit irgendwelche Informationen bekommen?« Sawney wandte sich an Den Rannion. »Es ist ja schön und gut, eine Meisterin der Kunst dabei zu haben, aber ich kann nicht behaupten, dass ich bisher viel von ihr gesehen hätte.« »Demoiselle Tor Priminale hat nach Pflanzen und Kräutern gesucht, die als Ersatz für unsere Medizin dienen könnten.« Temar erkannte, dass er ein wenig überstürzt gesprochen hatte. Messire Den Rannion sprang in die Bresche, um allen über den peinlichen Augenblick hinwegzuhelfen. »Ihr kennt doch die Schwester meiner Frau, Avila, oder? Sie hat die alten Handbücher ihrer Großmutter mitgebracht, und darauf aufbauend haben die Frauen versucht, auf dieser Seite des Ozeans eine neue Apotheke zusammenzustellen.« »Typisch Frau. Denken immer erst an das eigene Wohlergehen.« Meister Suttler grinste spöttisch. Temar lachte mit den anderen, doch er erinnerte sich auch daran, was Guinalle ihm gesagt hatte. Er fragte sich, wie diese Männer wohl denken würden, wenn sie auf einmal keine Seife mehr hätten, um ihr Leinen zu waschen, keinen Beifuß, um die Läuse und Motten aus ihren Kleidern zu vertreiben, und keine Lorbeerblätter, um das Mehl vor Käferbefall zu schützen. Er griff nach Messire Den Rannions Ellbogen, während Meister Dessmar Grethist nach den genauen Bedingungen weiter fluss404
aufwärts befragte. »Ist Guinalle hier?« Temar und hoffte, dass er nicht allzu eifrig klang. »Ich glaube ja.« Den Rannion musterte Temar aufmerksam. »Avila hat mir erzählt, dass deine Expedition im Nachsommer einen ihrer Sammeltrupps getroffen hat. Sie hat schon befürchtet, dass sie euch unnötig aufgehalten haben, weil ihr sie zu ihren Booten zurückeskortiert habt.« Temar schaute sich vorsichtig um und hoffte, dass er nicht errötete. »Ich wollte nicht riskieren, mich vor Den Fellaemion für den Verlust seiner Lieblingsnichte verantworten zu müssen.« »In der Tat.« Den Rannion neigte leicht den Kopf zur Seite. »Ich glaube, sie war bei meiner Frau, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.« »Dann werde ich jetzt gehen und ihr meinen Respekt erweisen.« Erstaunt sah Temar ein Grinsen auf Den Rannions Gesicht. »Geh nur, mein Junge. Sag meiner Frau, dass ich es für eine gute Idee halte, wenn sie ein wenig Zeit mit Mistress Daryn verbringen würde.« Temar nickte und eilte durch den Garten auf die neue, steinerne Halle zu, die inmitten eines Gerüsts rasch Gestalt annahm. »Junker D’Alsennin, nicht wahr? Ich wünsche Euch ein frohes Fest!« Eine Hand auf seinem Arm zwang Temar, stehen zu bleiben, und als er sich umdrehte, sah er ein vage vertrautes und unzweifelhaft hübsches Gesicht. Goldenes Haar war über alten Juwelen zusammengesteckt, die mehr von Schulter und Ausschnitt bedeckten, als er es bei einer Tormalindame erwartete. 405
»Drianons Segen.« Temar verneigte sich tief und versuchte verzweifelt, sich an den Namen der Frau zu erinnern. Als er den Kopf wieder hob, lächelte er erleichtert. »Mairenne, nicht wahr?« »Das stimmt, und ich werde dich Temar nennen, einverstanden?« Veilchenblau umrandete Augen funkelten verführerisch über einer zierlichen Stupsnase und roten vollen Lippen. Das war mal eine Dame, der die Kosmetika nicht ausgegangen waren, dachte Temar. »Temar, da bist du ja.« Vahil erschien an seiner Seite. »Meine Mutter will mit dir sprechen. Entschuldigt uns, Mistress Suttler.« Er packte Temar am Ellbogen und drehte ihn herum, während er sich flüchtig vor Mairenne verneigte. Temar schüttelte Vahils Arm ab; allerdings war er mehr amüsiert als verärgert. »Wie konnte es dazu kommen, dass der alte Suttler sein Messer in so eine Truhe steckt?« »Mairenne hat ihm den Schlüssel im Tausch für ein paar Sprossen die Leiter hinauf gegeben.« Vahil marschierte entschlossen in Richtung Halle. »Sie war auf der Weidenlied, dem Zweimaster, der auf die Sandbänke gelaufen ist, und ihr Mann ist ertrunken. Er war Gerber auf den Ländereien von D’Istrac, glaube ich, aber Mairenne schweigt meist über ihre Herkunft, nun da sie die Frau eines Kaufmanns ist. Halte dich von ihr fern, Temar. Sie hält nach allem Ausschau, was adelig ist, für den Fall, dass der alte Suttler den Winter nicht überlebt.« »Mach dir keine Sorgen. Ich würde sie noch nicht einmal nehmen, wenn sie nackt in meinem Bett läge«, sagte Temar lachend. »Ich erkenne Ärger, wenn ich ihn sehe. Außerdem bist du nicht der Einzige, dessen Charakter geläutert ist.« »Freut mich zu hören«, sagte Vahil lächelnd. »Hier laufen die 406
Dinge vollkommen anders als daheim, zumal die Leute hier wirklich voneinander abhängig sind.« Sie erreichten die Stufen der Halle und gingen hinein. Temar blinzelte, als Rauch in seinen Augen brannte. »Natürlich ist der Herd nur ein Behelf. Als Nächstes bauen wir einen Kamin.« Maitresse Den Rannion führte eine Schar interessierter Besucher durch das Skelett ihres neuen Reiches. »Der Steinmetz ist überzeugt, dass er noch bis in den Nachherbst weiterarbeiten kann. Verglichen mit unserer Heimat ist das Klima hier sehr mild.« »Drianon segne Euch.« Temar setzte zu einer Verbeugung an, als die Maitresse sich zu ihm umdrehte, doch sie trat rasch vor, um ihn an den Schultern zu packen und ihn – sehr zu seiner Verwirrung – warmherzig zu küssen. »Temar, mein Lieber, wie schön, dich zu sehen. Wann bist du eingetroffen?« »Heute Nachmittag. Wir mussten auf die Ebbe warten, um flussabwärts fahren zu können«, erklärte Temar. Er trat einen Schritt zurück, musterte die Maitresse und die anderen Damen von Kopf bis Fuß und breitete bewundernd die Arme aus. »Ich muss mich für meine Erscheinung entschuldigen, da ich euch alle so elegant im neuen Stil sehe.« Mehrere Frauen erröteten und kicherten. Maitresse Den Rannion strich über das enge Mieder ihres grauen Gewands, das um den Hals noch mehr geschmückt war wie das von Mairenne. »Wie sich herausgestellt hat, besitzt Elsire ein großes Talent für das Entwerfen von Kleidern«, erklärte sie mit der Andeutung eines Lächelns, »seit sie erkannt hat, dass sie zwei Kleider aus dem Stoff für eines würde fertigen müssen, wenn sie die Vielfalt ihrer Garderobe erhalten wollte.« »Du wirst nie erleben, dass meine Schwester zweimal das 407
gleiche Kleid zu einem Fest anzieht«, sagte Vahil und grinste breit. »Was habe ich da gehört von wegen Pelzhandel?« »Sie beabsichtigt, ein Vermögen zu verdienen, indem sie die Damen von Toremal erst einmal für die exotischen Pelze interessiert, die unsere Fallensteller bringen, und dann dafür sorgt, dass es eine teure und seltene Ware bleibt.« Temar fragte sich, ob er sich den Hauch von Anspannung in der Stimme der Maitresse nur einbildete. »Ihr erlaubt ihr, Handel zu treiben?« Eine der Damen, deren Figur in der neuen Mode nicht gerade vorteilhaft zur Geltung kam, schwankte zwischen Staunen und Neid. »Auf dieser Seite des Ozeans funktioniert das Leben nun einmal anders. Sehr viel hat sich verändert, warum nicht auch das?« Maitresse Den Rannion zuckte mit den Schultern. »Nun denn, kommt und schaut euch einmal an, wie wir den Ostflügel bauen wollen. Im Augenblick sieht man nur ein paar Striche und Kerben auf dem Boden, doch man kann bereits einen Eindruck gewinnen. Ich sehe dich dann später, Temar.« »Ich würde Elsire gerne mal in so einem Kleid sehen«, sagte Temar zu Vahil, nachdem die Frauen gegangen waren. »Bitte schön.« Vahil deutete mit seinem Weinglas. Temar sah Elsire neben einem Gerüst stehen, das eine offene Tür mit festlichen Girlanden aus unbekannten Blumen stützte. Er schnappte nach Luft, als sein Herz einen Schlag auszusetzen schien, um dann wie ein Pferd loszugaloppieren. Elsire sprach mit Guinalle. Elsires Kleid war leuchtend grün und mit rostbraunen Seidenfaden durchzogen, die wunderbar zu ihrer Haarfarbe passten. Der enge Schnitt betonte ihre schmale Hüfte und den üppigen Busen hervorragend, und ihren blassen Hals schmückte eine mit Bernstein besetzte goldene Kette. Temar nickte aner408
kennend in Richtung Vahil und grinste dann schelmisch. »Sie hat aber noch immer Sommersprossen, nicht?« »Das ist der Preis, den wir Kolonisten für die Arbeit in der Hitze des Tages zahlen müssen«, ahmte Vahil seine Schwester liebevoll nach, und Temar lachte. »Guinalle sieht sehr gut aus«, bemerkte Vahil und blickte Temar von der Seite an. »Wir haben sie oft gesehen, seit sie mit Tante Avila an diesen alten Tränken meiner Großgroßtante arbeitet.« Temar nickte bloß. Er vertraute seiner Stimme nicht mehr, als er Guinalle auf sie zukommen sah. Sie hatte der neuen Kleidermode ihre eigene Note verliehen: tiefe Rockfalten, die innen ein wenig dunkler gefärbt waren als außen, in einer Farbe, die der ihres Mieders entsprach. Um die Schultern trug sie einen schlichten Spitzenschal, der auf ihrem Busen von einer Saphirbrosche zusammengehalten wurde. Temar wurde heiß, als er sich an diese weichen milchigweißen Brüste erinnerte, nackt unter einem Blätterdach, durch das die Strahlen der Sommersonne fielen. »Ich habe gesagt, Guinalle hat uns erzählt, du seist daran interessiert, deine Studien in der Kunst den Winter über mit ihr fortzusetzen«, wiederholte Vahil sichtlich amüsiert. »Was?« Temar sammelte rasch seine Gedanken. »Ja, das stimmt. Ich glaube, das könnte nützlich sein, besonders im Hinblick auf die Expeditionen nächste Saison.« »Temar!« Elsire kreischte vor Freude, was alle Leute in der näheren Umgebung zum Schweigen brachte. »Wie schön, dich zu sehen!« Sie umarmte ihn; ihr Körper duftete und fühlte sich angenehm warm an. »Wann bist du zurückgekommen? Ich will alles darüber hören, jede noch so kleine Kleinigkeit. Du bleibst 409
doch erst einmal bei uns, oder? Hast du schon mit Mutter gesprochen?« »Guinalle!« Temar blickte über Elsires Schulter hinweg und hoffte, dass seine Augen die Worte sprachen, die er nicht über die Lippen brachte. »Ich wünsche dir ein schönes Fest, Temar.« Guinalle war beherrscht, doch Temar freute sich, eine leichte Röte auf ihren Wangen zu sehen. »Ich brauche noch etwas zu trinken«, sagte Vahil. »Was ist mit den Damen?« »Ich habe nur gesagt, dass die Kolonie nicht den Gewinn erwirtschaftet, wie man mich glauben gemacht hat.« Eine raue Stimme dröhnte über das allgemeine Gemurmel hinweg, und alle drehten sich um und sahen Messire Den Rannion einem fülligen Mann in protzigem Samt gegenüberstehen. »Es war von Anfang an klar, dass jeder Gewinn dieser Reise sich auf harte Arbeit gründet.« Den Rannions Tonfall war höflich und eisig zugleich. »Das heißt natürlich, auf der harten Arbeit jedes Einzelnen.« »Meine Lehrzeit liegt schon zu lange zurück, als dass ich noch einmal nach dem Werkzeug greife.« Der kräftig gebaute Mann stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich habe das Recht, eine Vollmacht von meinen Handwerkern zu verlangen, wenn ich es bin, der sie mit Material versorgt, ihre Waren kauft und für deren Verschiffung nach Zyoutessela sorgt. Das ist mein gutes Recht!« »Niemand wird Euch die Lizenz erteilen, faul herumzusitzen und reich zu werden, indem Ihr ein paar Prozente abschöpft, Meister Swire.« »Vater, lass uns doch den Abend genießen. An Festtagen soll 410
man nicht übers Geschäft reden.« Ein Mädchen mit schlichtem Gesicht zupfte erfolglos am Ärmel des rundlichen Mannes; ihr langes blondes Haar war wenig schmeichelhaft zu Zöpfen geflochten, die ihren lange Nase zusätzlich betonten. »Alle starren uns schon an!« »Ich werde es vor den Rat bringen.« Der Mann ignorierte seine Tochter und beugte sich vor, um drohend den Finger gegen Messire Den Rannion zu heben. »Der Rat hat bereits entschieden, dass jeder Handwerker handeln darf, mit wem er will und egal, wie sein Status früher gewesen sein mag, ob Leibeigener oder Geselle.« Messire Den Rannion sprach weiterhin höflich, doch sein Gesicht verriet seine Verachtung. »Sagt mir, Meister Swire, Ihr wart doch Den Muret verpflichtet, bevor Euer Sieur Euch gestattet hat, Euch dieser Unternehmung anzuschließen, oder? Werdet Ihr ihm im Frühling dann auch den ihm zustehenden Tribut schicken?« »Elsire, könntest du bitte Kindra hier rausbringen?« Temar wunderte sich über die Verzweiflung in Vahils Stimme, und so schaute er sich das Mädchen noch einmal an. Sie wirkte geradezu unbeholfen in ihrem lavendelfarbenen Gewand, knochig, mit schmalen Hüften und kaum mehr Busen als ein Brett. »Natürlich.« Elsires Augen funkelten kriegerisch. »Sie sollte nicht schon wieder für ihren Vater leiden.« »Ich komme mit dir.« Guinalle trat einen Schritt vor, doch zu Temars Erstaunen hob Elsire die Hand, um sie aufzuhalten. »Nein, du weißt, wie nervös du sie machst.« Temar beobachtete, wie Vahil die Hände rang, während der Streit sich immer mehr in ein häufiges Hin und Her verwandelte. Die Erregung seines Freundes erstaunte Temar mehr und mehr. 411
»Ich glaube, Ihr solltet lieber Eure eigene Position vor dem Rat verteidigen, anstatt Beschwerde gegen mich einzureichen«, sagte Messire Den Rannion und presste in wachsendem Zorn die Lippen zusammen. »Vielleicht könnt Ihr dann ja auch erklären, warum Ihr weit mehr Vorräte und Futter gekauft habt, als Eure Familie für den Winter braucht. Es würde mich interessieren, wie das zu den Aussagen einiger Handwerker passt, die früher für Euch gearbeitet haben und die feststellen mussten, dass Eure so genannten ›Geschenke‹ mit seltsamen Bedingungen verknüpft sind.« »Kindra, meine Liebe, komm und sieh dir an, was einer der Fallensteller mir heute gebracht hat«, rief Elsire, ohne auf Swires maßlos übertriebene Antwort zu achten. »Es ist so weich und so hell wie Fell, aber die Felle sind weit größer. Es wird dir sehr gefallen. Du musst mir sagen, was du davon hältst, ob es fein genug für ein Kleid ist oder ob man besser Muffs und dergleichen daraus macht. Nicht dass wir hier so etwas brauchen – es sei denn, der Winter wird unerwartet hart –; aber denk nur einmal an die Winter in Toremal und oben im Orelwald. Kennst du die Gegend eigentlich?« Temar sah, wie die Leute Elsire anlächelten, als sie sich bei Kindra unterhakte und sie wegführte wie ein Hirtenhund ein verirrtes Schaf. Nun, da ihre Einmischung Meister Swire und seine Beschwerden erfolgreich hatten auflaufen lassen, wandte sich jeder wieder seinen eigenen Gesprächen zu, und bald war wieder das erste Lachen zu hören. »Ich werde mal nachsehen, wie es Kindra geht.« Vahil warf einen Blick in Richtung seines Vaters. »Könntest du mir wohl den alten Herrn vom Leibe halten?« »Was geht hier vor?« Temar hob fragend die Augenbrauen 412
und blickte zu Guinalle, als Vahil auf die Schatten des Zauns zuhielt, um auf einem Umweg zu Elsire zu gelangen, die einer Schar staunender Mädchen irgendetwas zeigte. »Vahil hat sich ausgerechnet in ein Mädchen verliebt, dessen Vater eine wahre Pest für beide Messires ist, und das schon seit vor unserer Landung.« Guinalles Stimme klang mitfühlend. »Sie entspricht doch gar nicht seinem Geschmack – viel zu unscheinbar«, sagte Temar, ohne darüber nachzudenken. In Gedanken sah er die eleganten Mädchen, um die Vahil in Toremal herumscharwenzelt war. »Du bist wohl ein Meister in diesem Sport, hm?« Temar hätte sich selbst in den Hintern treten können, doch mit unendlicher Erleichterung sah er, dass Guinalle ihn anlächelte. Er spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg, und nur mit Mühe gelang es ihm, nicht rot anzulaufen. »Nicht mehr, nicht seit ich dich getroffen habe.« Wieder klopfte sein Herz so heftig, dass er glaubte, es würde ihm aus der Brust springen. »Nicht seit wir diesen Sommer einander gefunden haben ...« »Temar, darüber ...« Guinalle hob die Hand, und Temar wunderte sich über den Schatten, der plötzlich über ihr Gesicht huschte. »Guinalle!« Bevor sie fortfahren konnte, trat Maitresse Den Rannion durch den Torbogen mit den Girlanden. »Hast du Vahil gesehen?« »Ich glaube, er hatte Durst.« Guinalle blickte zum Weintisch und legte die Stirn in Falten. »O nein«, seufzte Maitresse Den Rannion, als sie zu Elsire und ihren Gefährtinnen hinüberschaute; Kindras blonder Schopf war nirgends zu sehen. »Ich glaube ja, dass sie ein süßes 413
Mädchen ist, und ich weiß, ich bin dumm, mir über Ränge und dergleichen den Kopf zu zerbrechen, nun, da wir alle am selben Strick ziehen, aber ich glaube trotzdem, dass er etwas Besseres haben könnte ... ganz abgesehen von dem Ärger, den es ihm mit seinem Vater einbringen wird.« »Ich werde sehen, ob ich ihn für Euch finden kann«, erbot sich Guinalle. »Danke, meine Liebe, es ist nur ... Dieser furchtbare Mann hat Ancel den Abend verdorben. Er wird außer sich sein, wenn er herausfindet, dass Vahil seine Befehle missachtet und mit ihr gesprochen hat.« Maitresse Den Rannion bemerkte plötzlich ein paar Neuankömmlinge und eilte davon, um sie in Richtung Essen und Wein zu scheuchen. Guinalle wandte sich zum Gehen, doch Temar ergriff ihre Hand. »Nur einen Moment, bitte. Gibt es einen Ort, wo wir unter vier Augen reden können?« Guinalle nickte. »Aber nur einen Moment.« Sie führte ihn um die Halle herum und in die schattige Ecke am Schnittpunkt zweier Zaunabschnitte. Temar griff nach ihr. Er sehnte sich danach, sie zu küssen, doch Guinalle legte ihm die Hand auf die Brust, schob ihn von sich und schaute sich um für den Fall, dass sie jemand beobachtete. »Wir sind hier nicht mehr in der Wildnis, Temar, wo Avila beide Augen zugedrückt hat«, tadelte sie ihn. »Hier reden die Leute, und Gerüchte verbreiten sich schneller als ein Feuer von einem Strohdach zum anderen.« Temar legte ihr die Finger auf die Lippen; seine Hand zitterte vor Leidenschaft. »Dann lass sie reden. Worüber sollen sie sich denn das Maul zerreißen, wenn wir verlobt sind?« Er griff in sein Hemd, drückte Guinalle das wertvolle Leinenpaket in die 414
Hand und schloss ihre Finger um die Seidenschleife. Er hörte, wie Guinalle die Luft anhielt, als sie das Geschenk auspackte und den Edelstein ins Mondlicht hielt, das ein blaues Feuer in den Facetten erzeugte. »Ich weiß, die Kette ist nichts Besonderes. In den Bächen war nicht viel reines Gold zu finden; aber dieser Brillant wird dafür sorgen, dass jedes Mädchen diesseits des Ozeans sich die Haare rauft.« Temar konnte seine Freude nicht länger verbergen, und so stolperte er fast über seine eigenen Worte. »Ich habe einen der Bergleute gebeten, ihn für mich zu schleifen. Nur eine Hand voll von uns ist in die Hügel hinauf gegangen, und ich soll ihnen eine Charta vom Rat besorgen, um sicherzustellen, dass unsere Rechte gewahrt werden. Du wirst einen Mann heiraten, der durchaus eine Familie ernähren kann. Wir verkünden unsere Verlobung noch heute Abend, dann können wir zur Sonnenwende heiraten. Nächsten Frühling segeln wir dann nach Tormalin zurück, wenn du willst, und besuchen deine Familie – natürlich nur, falls du bis dahin nicht schwanger bist.« »Oh, Temar.« Temar war nicht sicher, was er in Guinalles Stimme zu hören erwartet hatte – Aufregung, Freude, Liebe? Auf jeden Fall hatte er nicht mit einer Mischung aus Bedauern und Tadel gerechnet. »Was?« »Ich wünschte, du hättest mit mir gesprochen, bevor du diese Pläne geschmiedet hast.« In ihrer Stimme schwang Verärgerung mit. »Du hast es nicht richtig durchdacht.« Temar war sofort zur Reue bereit. »Tut mir Leid, Geliebte. Ich nehme an, ich hätte das alles etwas feierlicher gestalten sollen, aber nach dem Sommer habe ich nicht mehr geglaubt, dass ich einen Werber schicken müsste, um deine Hand anzuhalten. Ich 415
dachte, diese Dinge hätten wir längst hinter uns gelassen.« »Temar, hör mir zu, ich bitte dich. Ich werde weder dich noch sonst jemand heiraten!« Temar blinzelte. »Was sagst du da?« »Ich habe nicht vor, in den nächsten Jahren zu heiraten, wenn überhaupt jemals.« Guinalle versuchte, Temar die Halskette zurückzugeben, doch er weigerte sich, sie anzunehmen. »Halcarion rette uns! Warum nicht?« Temar hatte das Gefühl, als wäre sein Magen ein einziges großes Loch. »Ich habe hier sehr viel zu tun und trage eine sehr große Verantwortung. Es gibt sehr viele Menschen, die von mir abhängig sind. Ich kann nicht einfach alles fallen lassen, um für dich den Herd zu wärmen. Mein Onkel braucht mich ...« »Er kann mich nicht davon abhalten, dich zu heiraten. Das werde ich nicht zulassen.« Das ergab für Temar keinen Sinn. »Du kannst doch weiter die Kunst praktizieren, wenn es das ist, was dir Sorgen macht. Habe ich im Laufe der Reise denn nicht schon viel von dir gelernt?« »Die Kunst ist weitaus komplizierter, als du dir vorstellen kannst«, sagte Guinalle in scharfem Tonfall. Dann atmete sie tief durch und fuhr ruhiger fort: »Außerdem ist das nicht der Punkt. Bitte, versuch mich zu verstehen. Du sagst, dass du mich heiraten willst? Dass ich deine Kinder gebäre?« »Ich liebe dich«, sagte Temar. »Ich möchte eine Familie mit dir gründen. Was ist falsch daran?« »Hast du vor, am Herd zu bleiben und die Wiege zu schaukeln, wenn meine Pflichten mich rufen? Was ist, wenn ich im Kindbett sterbe?« Guinalle verschränkte die Arme vor der Brust, und ihre Miene war in den Schatten nicht zu deuten, als sie ein Stück von Temar wegrückte. »Das hier ist nicht Toremal mit 416
seinen Zofen und Ammen. Hast du schon oft mit kleinen Kindern und Säuglingen zu tun gehabt? Weißt du, wie viel Arbeit sie machen? Drei meiner Schwestern haben Familien. Nein, ich werde das alles erst auf mich nehmen, wenn ich wirklich dazu bereit bin. Bestimmt nicht, so lange jeder hier zwei, drei Arbeiten zugleich erledigen muss, oder sogar vier, wenn es wieder mal hart auf hart kommt!« »Ich werde dir helfen.« Temar packte allmählich die Wut. »Im Sommer hast du gesagt, mithilfe der Kunst könntest du eine Empfängnis verhüten. Heiraten können wir doch schon einmal. Auf Kinder warten wir dann eben, wenn du darauf bestehst.« »Während jeder die Jahreszeiten zählt und darauf wartet, dass mein Bauch anschwillt? Und wenn dann nichts geschieht, stehen sie in den Ecken und flüstern miteinander. Nein, danke. Es gibt bessere Verwendungen für meine Fähigkeiten. Oh, Temar, versuch doch, die Sache aus meiner Warte zu betrachten. Wenn ich richtig verstanden habe, wirst du doch weiterhin Expeditionen für meinen Onkel und Den Rannion durchführen, stimmt’s?« »Natürlich, das ist meine Pflicht.« »Und was soll ich tun, wenn du auf einer dieser Expeditionen ums Leben kommst? Ich war dabei, als mein Onkel die Nachricht von diesem Erdrutsch bekommen hat, der Frinn und Eusel das Leben gekostet hat. Ich kenne das Wagnis, das du eingehst. Saedrin schütze uns alle – dieser Ort ist schon gefährlich genug für die Leute, die nah an der Küste bleiben.« Guinalle atmete immer schneller; ihr Tonfall blieb jedoch gleich. »Diese Kolonie kann nicht noch mehr Witwen und Waisen unterstützen, und ich will verflucht sein, bevor ich mich mit deinem Großvater als deinem nächsten lebenden Verwandten verheiraten lasse. Ich 417
kann es mir nicht leisten, ein Jahr lang zu trauern, um sicherzustellen, dass ich nicht dein Kind unter dem Herzen trage, bevor ich wieder frei bin.« »Niemand würde so etwas von dir verlangen.« Temar war laut geworden, beruhigte sich aber sofort wieder. »Was du sagst, ist lächerlich.« »Du bist der Letzte deiner Linie. Außerdem besteht meine Familie auf der Einhaltung der Tradition, egal was du denkst.« »Es geht also um deine Familie?« Temar konnte seine Wut nicht länger zügeln. »Mein Name ist also nicht gut genug für euch. Du weißt sehr wohl, dass die D’Alsennin ein uraltes Haus sind und ...« »Wenn ich irgendeinen wohl erzogenen Hengst aus einer beeindruckenden Familie heiraten wollte, hätte ich mich in Toremal schon zehnmal für einen entscheiden können«, unterbrach Guinalle in bissigem Tonfall. »Glücksjäger sind schon hinter dem Geld meines Vaters und seinem Rang her, seit Drianon mir das Leben geschenkt hat. Warum, glaubst du wohl, studiere ich die Kunst? Warum, glaubst du, habe ich darum gebeten, meinen Onkel hierher begleiten zu dürfen?« Ein schlimmer Verdacht keimte in Temar auf. »Du ziehst immer wieder deinen Onkel mit hinein? Ihr seid nicht blutsverwandt, stimmt’s, nur verschwägert. Er hat nicht zufällig die Absicht, die Linie der Den Fellaemion durch eine besonnene Hochzeit zu bereichern, oder? Das wäre wirklich sehr traditionell.« Guinalle schlug Temar mit der flachen Hand ins Gesicht. »Du bist ekelhaft. Du willst es nicht einsehen. Bist du wirklich so sehr von dir überzeugt, dass du glaubst, jedes Mädchen würde sich so unsterblich in dich verlieben, dass es dich heiratet?« 418
»Auf jeden Fall hast du dich diesen Sommer sehr schnell zu mir gelegt!« Temar verzog das Gesicht, als er den Schmerz in seinen eigenen Worten hörte, und plötzlich war er froh, dass die Dunkelheit sein Gesicht verbarg. »Das war etwas anderes. Das war Spaß, und es war schön.« Reue milderte Guinalles Zorn ein wenig. »Aber ich hätte es nie getan, hätte ich gewusst, dass du solch einen Wirbel daraus machst. Es tut mir Leid.« Verwunderung vertrieb alle anderen Gedanken aus Temars Kopf. »Willst du mir damit sagen, dass es nicht dein erstes Mal war?« »Oh, Temar, du hast offenbar wenig Erfahrung mit Jungfrauen.« »Das hätte ich nie von dir gedacht!«, spie Temar wütend hervor. »Wie konntest du nur?« »Wie bitte?« Guinalle trat einen Schritt auf ihn zu. »Woher nimmst du dir das Recht, über mich zu urteilen? Temar D’Alsennin, der Junker, vor dem jede Amme ihre Mädchen warnt. Du hast Vahil einen Schürzenjäger genannt, hm? Wie war denn dein Ergebnis letzte Wintersonnenwende? War da nicht so eine Wette mit den Mädchen? Von wegen, dass du einen Runenstein auf zwanzig Schritt mit dem Messer treffen kannst? Meine Brüder sagten mir, du hattest die beste Sammlung in den Kohorten, und ein paar von den Mädchen haben sich wohl auch die Blumen pflücken lassen, als du deinen Preis eingefordert hast. Dein Ruf eilt dir voraus, Temar. Hast du das nicht gewusst? Wenigstens bin ich diskret!« Temar stand inmitten der Trümmer seiner Hoffnungen. Er war wütend auf Guinalle, wütend auf sich selbst, wütend auf alles. Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, 419
kam Maitresse Den Rannion um die Ecke und blieb unvermittelt stehen, als sie die beiden sah. »Maitresse, es tut mir Leid, ich wollte gerade ...« Guinalle hob die Hand vor den Mund, bevor sie bemerkte, dass sie noch immer die Halskette in den Fingern hielt. »Meine Liebe, was ist das?« Die Maitresse griff nach Guinalles Hand und hob sie ins Licht einer Laterne. »Temar! Wie wunderbar!« Ihre Augen strahlten vor Neugier. »Feiert ihr außer Drianons Fest noch etwas anderes?« »Temar hat mir gerade von den Entdeckungen erzählt, die seine Expedition gemacht hat.« Guinalle versuchte, Temar die Kette zurückzugeben, doch er steckte stur die Hände in den Gürtel. »Es ist ein Geburtstagsgeschenk für Guinalle.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Du bist doch ein Nachsommerkind, nicht wahr, Demoiselle?« Maitresse Den Rannion drehte sich offenen Mundes zu ihm um. »Ist das nicht wieder typisch? Ich habe Messire Den Fellaemion gefragt, ob jemand aus seinem Haushalt dieses Jahr feiert, und er hat mir gesagt, Guinalle sei im Vorwinter geboren! Komm, meine Liebe, lass mich dir die Kette anziehen. So ein Juwel muss man zur Schau tragen.« Sie nahm Guinalle den Schal ab, bevor sie dagegen protestieren konnte, und legte ihr die Kette an. Der Brillant funkelte prachtvoll an ihrem Hals. »Was für ein schönes Geschenk, Temar.« »Ich glaube, dass Messire nach Euch sucht, Maitresse.« Temar deutete durch ein offenes Fenster, hinter dem Messire Den Rannion an einem Herd stand und den Kopf hierhin und dorthin drehte. »Oh, ja, ich glaube, du hast Recht.« Die Maitresse schlang 420
Guinalles Schal um ihren eigenen Hals. »Ich sollte einmal nachsehen, was er will.« »Ich gehe Vahil suchen.« Guinalle entfernte sich rasch von Temar, doch er folgte ihr. »Tut das, Mylady. Ich werde Elsire von diesen dummen Mädchen wegholen, ja? Die Musik hat begonnen, also werde ich den ganzen Abend tanzen, damit die Gerüchteküche brodeln kann. Damit wäre dein Ruf dann wohl gerettet, Guinalle. Mach dir keine Sorgen. Ich werde niemandem sagen, wie hohl er in Wahrheit ist!« Temar stapfte mit langen Schritten an ihr vorbei, packte Elsire um die Hüfte und verneigte sich elegant vor ihr. Guinalle kehrte er den Rücken zu, während er Elsire enger an sich drückte, als für diesen Tanz vonnöten war.
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Der Palast von Shek Kul, Aldabreshin-Archipel 6. Vorsommer
Als ich aufwachte, hatte ich ein lebhaftes Bild im Kopf, ein Traum so klar, dass ich mich an jede Einzelheit erinnern konnte. Ein junger Mann, dessen schwarzes Haar von einer Klammer aus ineinander verwobenen Silberblättern zurückgehalten wurde und der im Stil eines der uralten Familienporträts von Messire gekleidet war. Das also war Temar D’Alsennin, der letzte Nachkomme einer ausgestorbenen Familie und der Mann, dessen Schwert ich nun besaß. Doch es war mehr als nur ein Bild gewesen, mehr als ein Traum. Ich schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an seine widerstreitenden Hoffnungen und Erwartungen an die Zukunft; ich dachte daran, wie er verzweifelt eine Familie hatte gründen wollen, um jene zu ersetzen, die er in seiner Kindheit verloren hatte. Ich fühlte seinen Schmerz ob Guinalles Zurückweisung, seine Verwirrung, und ich konnte seinen ungestümen Flirt mit Elsire verstehen, mit dem er Guinalle wissen lassen wollte, dass auch andere Mütter hübsche Töchter haben. Ich erkannte in ihm die Impulsivität und das übersteigerte Selbstbewusstsein wieder, die mich in die Fänge des Thassinkauens geführt hatten, und vor allem die Kraft seiner jugendlichen Empfindungen, denen die Erfahrung noch nicht ihre Wildheit genommen hatte. Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht über Temars Schwierigkeiten mit Guinalle; wenigstens mussten Livak und ich nur uns selbst zufrieden stellen, wenn wir erst einmal herausgefunden hatten, was wir voneinander und von der Zu422
kunft wollten – falls wir es je schaffen würden. Kurz fragte ich mich, was Livak im Augenblick wohl tat. Es war ein seltsamer Traum gewesen, den ich größtenteils aus Temars Sicht erlebt hatte, und doch war ich gleichzeitig auch getrennt von ihm gewesen. Ich war ein Außenstehender, und doch hatte ich auf merkwürdige Art seine Hoffnungen und Ängste gesehen. Doch was mich am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass ich hätte schwören können, Temar sei der Mann gewesen, der mich in der Nacht des Banditenangriffs geweckt hatte. Was steckte dahinter? Das musste wohl auch ein Traum gewesen sein, oder? Und ich hatte auch die Gürtelschnalle erkannt, mit der der Elietimmpriester – oder wie immer er sich nennen mochte – für Kaeska gezaubert hatte. Es war Temars Schnalle gewesen. Was hatte das zu bedeuten? War es Temars Leidenschaft gewesen, die mich ich Relshaz den Verstand hatte verlieren lassen? Ich hatte keinen Grund, dies zu glauben; trotzdem war ich davon überzeugt. Ich setzte mich auf meiner Matratze auf und lehnte mich gegen die Wand. So früh am Morgen war die Luft noch kühl, und aus den Gärten drang Vogelgezwitscher, während nirgends ein Insekt zu hören war, das mich hätte plagen können. Ich genoss die Ruhe und den Frieden, die nur von den leisen Geräuschen der Haussklaven unterbrochen wurden, die unten ihren Pflichten nachgingen. War diese Erinnerung an ein längst vergangenes Sonnenwendfest die Art von Traum, die Planir der Erzmagier von dem Schwert erwartete? Falls ja, konnte ich beim besten Willen nicht erkennen, was daran so wichtig war, außer vielleicht, dass man wieder einmal sehen konnte, wie schnell ein Mensch den Verstand verlor, wenn er bis über beide Ohren verliebt war. Ich betrachtete das Schwert. Falls das Äthermagie 423
war, dann war sie nicht mehr als eine Kuriosität, ein müder Abklatsch der bösartigen Hexerei der Elietimm. So dachte ich immer weiter nach. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es zu den ärgerlichsten Dingen im Leben eines Sklaven gehörte, dass man kaum Zeit für sich allein hatte. Wie zum Beweis dafür öffnete sich in diesem Augenblick die Tür hinter mir, und Shek Kul kam heraus. Sein Oberkörper war nackt, die Hose nur lose festgemacht, die Tunika achtlos über die Schulter geworfen. Der Kriegsherr trug im Augenblick zwar keinen Schmuck, war aber nicht weniger einschüchternd. Für einen Mann seines Alters besaß er beeindruckende Muskeln, und er strahlte ein schier unglaubliches Selbstbewusstsein aus. Er nickte mir zu und lächelte breit und zufrieden; dann stapfte er den Gang hinunter und pfiff leise vor sich hin. Ich blickte ihm hinterher. Ich beneidete ihn um seine Glück; zugleich verachtete ich ihn und die Seinen, die solch uneingeschränkte Macht über meinesgleichen besaßen. Ich spähte zur halb geöffneten Tür hinein und sah Laio fest schlafend. Sie lag bäuchlings auf Seidendecken. Im Schlaf wirkte ihr Gesicht wie das eines Kindes. Eine Locke war ihr über die Augen gefallen, und ein zärtlicher Sonnenstrahl fiel durch die Lamellen der Fensterläden auf ihren nackten Körper. Eine morgendliche Brise brachte frische Luft in den Raum, der stark nach Parfüm und Sex roch. Ich unterdrückte das Verlangen, meine Matratze lautstark ins Zimmer zu schleifen und mit möglichst viel Krach aufzuräumen; stattdessen zog ich leise die Tür zu und suchte in meinen Sachen nach einer sauberen Tunika. Schritte am anderen Ende des Gangs erschreckten mich, und als ich den Kopf hob, sah ich, wie der Elietimmpriester mich anstarrte. Der Mann war in 424
schlichte, unauffällige Kleider gehüllt, schwarzes Hemd und schwarze Hose, frisch gewaschen und ein wenig ausgebleicht; er sah jetzt nicht im Mindesten bedrohlich aus, eher wie ein einfacher Kaufmann. Lediglich die Augen verrieten ihn, soweit es mich betraf; sie waren so gefährlich wie die eines Hundes, der nur die Peitsche und Gewalt kannte. »Lass mich mal das Schwert sehen«, befahl er plötzlich. Ich schaute ihn aus leeren Augen an und setzte eine Miene höflichen Unverständnisses auf, die ich bei Gar perfektioniert hatte. »Ich weiß, wer du bist, Tormalinmann.« Der Priester stemmte die Hände in die Hüften und blickte verächtlich auf mich hinab. »Du bist nichts. Ich will nur das Schwert. Gib es mir, und ich lasse dich leben.« Ich stand auf, das Schwert in der Hand. Der Priester war kein Narr; er blieb außerhalb meiner Reichweite. Ich legte meine Hand auf das Heft und sah eine seltsame Mischung aus Besorgnis und Erwartung in den hellblauen Augen, die so kalt waren wie der Winterhimmel. »Ich werde mir das Schwert holen – und dich dazu«, stieß er hervor. Mein fortgesetztes Schweigen reizte ihn offenbar. »Du wirst meiner Gnade ausgeliefert sein. Bevor ich mit dir fertig bin, wirst du wimmern wie ein geprügeltes Kind.« »Ich glaube, es ist an mir, mein Eigentum zu züchtigen.« Laio öffnete die Tür mit einer schnellen Bewegung und blickte den Elietimm hochmütig an; ihre Augen waren hart wie Stein. Die Tatsache, dass sie nur ein hauchdünnes Gewand übergestreift hatte, tat ihrer königlichen Ausstrahlung keinen Abbruch. »Euer Benehmen kann man schwerlich als angemessen für einen Gast von Shek Kul bezeichnen«, fügte sie unmissverständlich hinzu. 425
Das Gesicht des Elietimms war mit einem Mal vollkommen ausdruckslos, und er verneigte sich tief vor Laio, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und rasch den Gang hinuntermarschierte. »Was für ein seltsamer Mann.« Laio schüttelte verwirrt den Kopf. »Was hat Kaeska sich dabei gedacht, ihn hierher zu bringen?« Ich ergriff die Gelegenheit. »Ich kann Euch genau sagen, was sie plant. Ich habe sie vergangene Nacht belauscht.« Laios Augen leuchteten auf. »Hervorragend. Ich wusste, dass du irgendwann doch noch lernst, ein guter Sklave zu sein. Hol uns etwas zu essen; dann kannst du mir alles erzählen.« Sie öffnete die Tür zum Balkon und suchte sich ein einfaches, weites Kleid aus dem Haufen auf einer Bank. Dass sie einmal selbst etwas erledigte, war Beweis genug dafür, wie sehr sie an meiner Geschichte interessiert war. Ich eilte los, uns ein üppiges Frühstück aus ungesäuertem Brot, Käse, Obst und Saft zu holen. Ich war noch immer halb verhungert; außerdem hatte ich gelernt, so gut zu frühstücken wie möglich. Immerhin war das die Mahlzeit, welche die wenigsten Überraschung für mich bereithielt. »Nun denn, was hast du gehört?«, verlangte Laio zu wissen. Sie machte es sich auf einem Kissen bequem und griff nach ein paar Beeren. »Erzähl mir alles.« Ich zögerte und fragte mich, wo genau ich beginnen sollte. Ich wusste nicht, was Laio an der Geschichte mit dem Schwert interessieren sollte; ich musste ihr etwas erzählen, was in direktem Bezug zu ihren eigenen Interessen stand. »Nun, zuerst einmal ... ich weiß, woher der Mann kommt. Seine Heimat ist eine Inselgruppe weit im Nordosten von hier, im Herzen des großen 426
Meeres. Es ist ein sehr armes Land. Sie haben dort weder Metall noch Holz oder Tiere, die ihnen Leder liefern könnten. Er belügt Kaeska, was die Waren betrifft, die er liefern kann.« Laio zuckte mit den Schultern, doch ich sah Befriedigung in ihren Augen. »Dann wird sie äußerst dumm dastehen, wenn sie nichts erreichen kann, und darüber wird sie noch mehr an Rang und Ansehen verlieren. Sprich weiter, und iss etwas. Ich habe mir für heute Morgen einiges vorgenommen.« »Die Handelsversprechen sind nur ein Vorwand.« Ich trank rasch einen Schluck. »Er erzählt Kaeska, dass er ihr helfen wird, ein Kind zu bekommen, damit sie ihren Rang als erste Frau wieder einnehmen kann.« Zu meinem Erstaunen lachte Laio herzerfrischend. »Dann ist er ein noch größerer Narr als sie. Kaeska kann keine Kinder bekommen, das wissen wir alle.« Meine nächsten Worte wählte ich mit äußerster Sorgfalt. »Mit Shek Kul mag sie ja keine Kinder bekommen, aber was ist, wenn sie sich diesen Mann zum Liebhaber nimmt und sein Kind zu dem des Kriegsherrn erklärt?« Laio runzelte die Stirn. »Shek Kul hat keine Probleme, Kinder zu bekommen; das können dir Frauen in verschiedenen Domänen bestätigen. Außerdem hat Mahli sorgfältig darauf geachtet, dass ihr erstes Kind tatsächlich von ihm ist. Wie auch immer – wenn nur ein fruchtbarer Mann das Problem wäre, wäre Kaeska schon vor Jahren schwanger geworden.« Nun war es an mir, verwirrt dreinzuschauen. »Hätte Shek Kul nichts dagegen gehabt?« »Ich vergesse immer wieder, wie dumm du manchmal bist. Denk doch mal nach: Der Wind mag ja die Samen verteilen, aber der Bauer erntet die Früchte.« Laio seufzte und schüttelte 427
den Kopf. »Es ist die Pflicht einer Frau, ihrem Mann Kinder zu gebären, aber es ist ihre Angelegenheit, von wem sie sie empfängt. Immerhin sind einige Ehefrauen eng mit ihren Männern verwandt. Manche Männer können keine Frauen schwängern, und wieder andere ziehen es vor, sich glatt zu rasieren. Wie auch immer, wir sind ein Inselvolk; frisches Blut in eine Domäne zu bringen, ist immer von Vorteil. Würden wir uns immer nur untereinander paaren, wären wir inzwischen allesamt nur noch drei Fuß groß und hätten sechs Finger.« Sie warf einen Beerenstängel auf den Boden und nahm sich einen Löffel dunkelgrüner Samen. Ich ließ Honig auf eine Scheibe zähen Brotes tropfen, rollte es um ein kleines Stück weißen Käse und stopfte es mir in den Mund, während Laio weiterredete. »Kaeska ist ohne Zweifel unfruchtbar«, erklärte Laio mit vollem Mund. »Sie ist nun schon fast zwanzig Jahre mit Shek Kul verheiratet, und in all dieser Zeit ist sie kein einziges Mal schwanger gewesen. Würde sie das einfach hinnehmen, könnte sie ihren Status als erste Frau erhalten, indem sie sich das Kind eines Insulaners besorgt und es als ihr eigenes aufzieht, zum Beispiel. Unter zivilisierten Leuten ist es keine Schande, unfruchtbar zu sein. Das Problem ist nur, dass Kaeska es nicht zugeben will. Sie ist oft auf Reisen und lässt Gerüchte verbreiten, dies sei der Grund, warum sie nicht empfängt. Sie macht Shek Kul und sich selbst nun schon seit Jahren lächerlich, aber er muss sie dulden, um den Vertrag mit ihren Brüdern zu erhalten, die Kaeska ebenso sehr unterstützen, wie sie von ihrem Rang profitieren. Außerdem tut Kaeska alles, um Shek Kul dazu zu bringen, sich von ihr scheiden zu lassen, doch er ist zu klug, um ihr das durchgehen zu lassen. Doch weil man ihre Brüder 428
inzwischen aus der Domäne von Danak geworfen hat, muss er ihr nicht mehr den Rang der ersten Frau lassen. Die Allianz ist so tot wie der Fisch von gestern. Nun kann unser Gemahl sich endlich um einen Erben kümmern.« Laio kicherte fröhlich. »Er und Mahli waren schon zugange, als Danaks Blut auf dem Sand noch nicht getrocknet war. Ich werde die Nächste sein, und wenn Gar sich erst einmal von Kaeskas Zurückstufung erholt hat, könnte ich mir vorstellen, dass auch sie ein Kind haben will. Unser Gemahl hat noch nicht entschieden, wie lange er aus ihrem Bett bleibt, nur damit sie weiß, dass er von ihren Intrigen mit Kaeska weiß. Aber ich nehme an, dass Sezarre seine Pflicht durchaus zu erfüllen versteht.« Die Herrin zu besteigen, gehörte zu den Pflichten eines Leibsklaven? Ich hatte keine Lust, hier den lustigen Hengst zu spielen! »Was wird mit Kaeska geschehen?« »Sie wird als vierte Frau enden, es sei denn, sie tut etwas so Dummes, das Shek Kul einen Grund hat, sich scheiden zu lassen.« Laio beugte sich vor und blickte mich ernst an. »Was genau verspricht dieser Fremde ihr? Glaubst du, sie wird sich übernehmen?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich vorsichtig und schluckte einen Bissen hinunter. »Er verspricht ihr auf jeden Fall ein Kind, und ich weiß, dass er Drogen benutzt, um ihr die Sinne zu vernebeln.« »Drogen?« Laio runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich könnte Kaeska nachhaltig in Verruf bringen, wenn ich verbreiten würde, dass sie sich solch eine ekelhafte Festländergewohnheit angeeignet hat. Ihre Verhandlungen werden auch bald darunter leiden. Was ist mit Alkohol? Hast du den auch gesehen?« 429
Ich schüttelte den Kopf. »Wäre das noch schlimmer?« Laio öffnete den Mund, warf dann den Kopf zurück und lachte plötzlich. »Ihr Festländer! Natürlich wäre das schlimmer. Drogen und starker Alkohol vernebeln den Verstand und lassen den Körper verrotten. Jede Domäne, die den Gebrauch von Alkohol und Drogen zulässt, muss mit Kriegern auf ihren Stränden rechnen.« Sie runzelte die Stirn. »Aber das ist noch nicht genug, um Kaeska scheiden zu lassen. Ist da vielleicht noch etwas, das du gegen sie vorbringen kannst?« »Sie hat Thanbeeren bei Irith benutzt«, antwortete ich. »Was ist das?« Laio schaute mich neugierig an. »Eine Pflanze. Ärzte benutzen sie, um einen Trank daraus zu brauen, der Schmerzen vertreibt, aber die Beeren machen süchtig, besitzen eine betäubende Wirkung und sind nach einiger Zeit sogar tödlich.« Laio zuckte mit den Schultern. »Wenn Kaeska ihren Leibsklaven vergiften will, ist das ihre Angelegenheit. Falls sie es zur Gewohnheit werden lässt, wird Shek Kul sie für ihre Verschwendungssucht tadeln, doch abgesehen davon hat er kein Recht in dieser Angelegenheit.« »Sie hat dem armen Kerl die Zunge herausschneiden lassen!«, protestierte ich. Laio hob ihre fein gezupften Augenbrauen. »Wie merkwürdig. Schon vor meiner Geburt waren Stumme nicht mehr in Mode. Aber wir schweifen ab. Wie will dieser Fremde dafür sorgen, dass Kaeska schwanger wird?« Ich zwang mich, diesen weiteren unangenehmen Aspekt des Aldabreshilebens zu ignorieren. »Ich könnte mir vorstellen, dass er Magie einsetzt. Er ist eine Art Zauberer.« »Magie!«, stieß Laio hervor. Ihre Augen leuchteten triumphie430
rend, und sie schlug die Hände vors Gesicht. »Kann Shek Kul sich wegen so etwas von Kaeska scheiden lassen?« »Er kann sie dafür hinrichten lassen!« Laio sah aus wie ein Kind, das eines Morgens aufwacht und feststellt, dass schon Sonnenwende ist. »Du wirst großzügig dafür belohnt, dass du uns die Möglichkeit verschafft hast, sie für solch ein Verbrechen loszuwerden!« »Magie wird mit dem Tod bestraft?« Ich schluckte einen weiteren Bissen hinunter und wäre fast daran erstickt – daran und an meinem Unglauben –, doch Laio war viel zu erfreut, als dass mein Unwissen sie geärgert hätte. »O ja, das ist strengstens verboten. Die Elemente sind heilig. Sie geben uns Leben und nähren uns alle. Das Gleichgewicht zu stören, ist ein Sakrileg, das nur mit dem Leben der Beteiligten gesühnt werden kann.« Ich richtete ein stummes Dankgebet an Dastennin, dass er mich davor bewahrt hatte, irgendwann meine eigene Verbindung zu Zauberern und dergleichen zu erwähnen. »Der Mann hat Thassinrauch bei Kaeska eingesetzt«, erinnerte ich Laio. »Er beeinflusst ihre Sinne, bis diese sie verraten, und er nutzt ihren verzweifelten Wunsch nach einem Kind aus, sie auf seine Seite zu ziehen.« Laio zuckte erneut mit den Schultern; es war eine ihrer Lieblingsgesten. »Mit Unwissenheit kann sie sich nicht vor Shek Kuls Gerechtigkeit verteidigen.« »Was wird geschehen?« »Ich werde sie anklagen, und Shek Kul wird zu Gericht sitzen und deine Beweise gegen ihr Leugnen abwägen.« Laio biss in eine saftige rote Frucht und leckte sich die klebrigen Finger. 431
»Dann werden die beiden hingerichtet.« Das alles klang ein wenig zu einfach, doch ich versuchte, mir meinen Unglauben nicht anmerken zu lassen. »Der Kriegsherr wird das Wort eines Sklaven vom Festland gegen seine erste Frau gelten lassen?« »Du bist jetzt Insulaner; das darfst du nicht vergessen«, ermahnte Laio mich ernst. »Dein Wort ist so gut wie das von Kaeska.« »Wann werdet Ihr sie anklagen?« Ich erinnerte mich daran, dass ich meine eigenen Gründe hatte, diese Angelegenheit rasch zu einem Ende zu bringen. Ich durfte nur nicht vergessen, dass ich nun auf keinen Fall mehr die Gründe für das Interesse des Elietimms an meinem Schwert erwähnen durfte. »Ich werde den Zeitpunkt sorgfältig wählen müssen.« Laios Augen verdunkelten sich, und konzentriert blickte sie ins Leere. »Ich glaube, wir sollten Kaeska erst einmal aussondern. Wenn wir Gar und Mahli wissen lassen, was sie getan hat, wird selbst Gar von ihr abrücken, um nicht ebenfalls hingerichtet zu werden. Das sollte uns einige wertvolle Informationen bringen.« »Wann werdet Ihr es Gar sagen?« Laio blickte mich verärgert an. »Ich werde es Gar überhaupt nicht sagen. Du wirst es Sezarre sagen und der wiederum ihr, sodass sie von selbst zu uns kommen kann, um uns zu erklären, dass sie nur ihrem Verdacht nachgeht und als gute Ehefrau nicht anders handeln kann.« Das hätte ich kommen sehen müssen. »Also gut. Da ist noch etwas. Dieser Mann, der Elietimmpriester ... er will, dass Kaeska mich als ihren Leibsklaven eintauscht. Er ist sehr gefährlich, und wenn Ihr mich lebend haben wollt und noch mit genug Verstand, um Zeugnis abzulegen, solltet Ihr nicht allzu lange 432
warten.« »Was will er von dir?« Laio runzelte die Stirn; dann lachte sie laut. »Vielleicht will Kaeska, dass du der Vater ihres Kindes wirst!« Diese Bemerkung ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Hatte die Vision vielleicht doch Kaeskas Kind gezeigt? Ich schüttelte den Kopf. Nein, der Elietimm wollte das Schwert; das hatte er klar genug gemacht. Laio wischte sich die Freudentränen aus den Augen. »Was will dieser Mann von dir?« Ich nahm mir Zeit, ausgiebig ein Stück Obst zu kauen, bevor ich antwortete. Laio zu erzählen, dass dieser Mann ein verzaubertes Schwert von mir wollte, das auf mysteriöse Art mit mir verbunden war, vermutlich um die Pläne der Zauberer von Hadrumal zunichte zu machen, klang nun wie eine sehr schlechte Idee. »Ich nehme an, er weiß, dass ich ihn entlarven kann, dass ich Euch erzählen kann, wie öde seine Inseln sind und wie wenig er Euch zum Handeln anzubieten hat.« Glücklicherweise war Laio noch immer viel zu glücklich darüber, Kaeska loswerden zu können, dass sie mir diese recht armselige Erklärung durchgehen ließ. Dann erkannte ich, dass das für sie – eine vom Handel besessene Aldabreshi – vollkommen vernünftig klingen musste, ebenso wie Kaeskas Erklärung, der Eisländer wolle eigentlich nur Waren mit dem Archipel tauschen. Ein Klopfen an der inneren Tür erschreckte uns beide, und ich sprang rasch auf, um zu öffnen. Grival stand auf der Schwelle. So erregt hatte ich ihn noch nie gesehen. »Das Kind kommt!« Nur mit Mühe gelang es ihm, sich ein 433
Lächeln abzuringen. »Mahli wünscht Euch an ihrer Seite, Mylady.« »Sag ihr, ich bin auf dem Weg.« Laio kämmte sich mit der Hand durchs Haar und band es dann mit einem Tuch zurück. Auf dem Weg hinaus drehte sie sich noch einmal zu mir um. »Halte dich von allem Ärger fern. Und vielleicht solltest du schon mit Sezarre sprechen.« Ich verneigte mich und blickte ihr hinterher, als sie mit Grival den Gang hinuntereilte.
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7.
Ein Brief, geschrieben vom Erzmagier Holarin vom Fluss Imat im 3. Jahr des Kaisers Aleonne des Tapferen (ursprünglich im Archiv des Erzmagiers aufbewahrt, Trydeks Bibliothek, Hadrumal)
Mein lieber Dretten, ich habe mit Interesse deine Nachricht über die Zunahme des Handels zwischen Relshaz und dem Aldabreshin-Archipel gelesen. Nun da du in dieser Stadt lebst, ist es von großer Bedeutung, dass du die Grundlagen der feindseligen Haltung der Aldabreshi gegenüber der Magie verstehst, wenn auch nur zu deinem eigenen Schutz. Die meisten Leute werden dir erzählen, dass diese Abneigung sich schlicht auf Vorurteile gründet. In einigen Fällen mag das durchaus so sein, doch die Ursprünge eines solch vorherrschenden Vorbehalts sind weit tief gehender. Ich werde versuchen, es dir im Rahmen der Grenzen unseres gegenwärtigen Wissens zu erklären. Auch wenn die Aldabreshi die Götter nicht anbeten wie wir, ist es doch ein Fehler, sie als tumbe Barbaren abzutun. Die komplexen Philosophien des Archipels ergeben sich aus ihren Beobachtungen der Natur, des Verhaltens von Tieren, des Wachstums von Pflanzen und der sich verändernden Muster von Sternen und Monden. Die Aldabreshi glauben an eine Vielzahl unsichtbarer Mächte, die in der Welt um sie herum am Werk 435
sind. Sie kennen keine Anderwelt; vielmehr glauben sie daran, dass die Essenz, der Geist einer toten Person, ein unberührbarer Teil ihres Haushalts, ihrer Familien bleibt. Verstehe mich nicht falsch: Sie beten nicht ihre Vorfahren an wie die Barbaren des fernen Westens, aber sie betrachten sowohl die Verstorbenen als auch die Ungeborenen als Teil der Lebenden. Stell es dir einfach so vor: Ein Baum wird vom Sturm entwurzelt, und später beginnt genau an dieser Stelle einer seiner Samen zu keimen – Tod, Wachstum und die Aussicht auf neues Leben, alles in ein und derselben Pflanze vereint. Die Aldabreshi glauben, dass alle Dinge, materielle wie immaterielle, sichtbare wie unsichtbare, miteinander verbunden und voneinander abhängig sind; daher auch ihre vielschichtigen Methoden der Wahrsagung, die von allen Schichten der Gesellschaft praktiziert wird. Ein Kriegsherr kann durchaus den Beginn einer Schlacht davon abhängig machen, in welche Richtung ein Vogelschwarm über seinen Kopf hinwegzieht. Seine Aussichten, wenn er hofft, eine Frau zu erringen, können sich mit dem Wurf wertvoller Steine auf eine heiße Metallplatte entscheiden. Die Astronomie der Aldabreshi hat ein Maß an Perfektion erreicht, um das wir sie nur beneiden können. Sie glauben, das Taten zur Zeit einer Mond- oder Sonnenfinsternis einer Person sehr zugute kommen beziehungsweise im Gegenzug den Ruin eines Feindes bedeuten können. Das alltägliche Leben wird auf unterschiedlichste Art von den unbedeutendsten Ereignissen beeinflusst, während größere Ereignisse, wie beispielsweise ein Sturm, durchaus zu Krieg führen können, zu Friedensverhandlungen oder auch zu etwas vollkommen anderem. Es scheint nur wenige feste Regeln zu geben, diese allerdings müssen wir erst noch entdecken. 436
Zufälligen Ereignissen eine solche Bedeutung beizumessen, mag uns seltsam, ja sinnlos erscheinen, die wir auf Generationen des Lernens und der gelehrten Debatte zurückblicken können, aber darum geht es mir nicht. Dieses Glaubensprinzip bildet das Zentrum des Aldabreshi-Lebens, und es ist auch der Schlüssel für ihren Hass auf die Magie. Zusehen zu müssen, wie die Elemente, die alles Leben begründen, von einem Zauberer beeinflusst werden, betrachten sie als obszön und zugleich als Bedrohung. Magie ist eine chaotische, zerstörerische Kraft; sie können sich nicht vorstellen, dass man sie auch zum Guten einsetzen kann. Egal welcher vorübergehende Vorteil mit ihr auch zu erringen sein mag, es ist nichts im Vergleich zum angerichteten Schaden. In ihren Augen könnte man genauso gut einen Wandteppich anzünden, um einen Raum zu beleuchten. Daher wirst du es verstehen, wenn ich dir rate, dich von Aldabreshi-Händlern fern zu halten. Ihre Feindseligkeit ist unabänderlich, und jeder Versuch, sie auf deine Seite zu ziehen, wird dich nur in Gefahr bringen. Erinnere dich an die schrecklichen Torturen, zu denen jene verurteilt werden, die man auf den Inseln des Archipels der Magie überführt.
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Der Palast von Shek Kul, Aldabreshin-Archipel 6. Vorsommer
Ich blickte auf das Chaos, das Laio immer wieder zu erschaffen vermochte, und beeilte mich mit dem Aufräumen. Die bis jetzt beste Gelegenheit, ungestört die Palastanlage zu erkunden, würde ich mir nicht entgehen lassen, Das Schwert schnallte ich um – nur für den Fall, dass der Eisländer hier herumschnüffelte –; das Kettenhemd jedoch ließ ich zurück. Wenn ich es trug, ohne in Laios Nähe zu sein, würde es nur die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Mit hoch erhobenem Kopf stieg ich selbstbewusst die Treppe hinunter und nickte den Pagen zu, die in der Vorhalle über einem mir unbekannten Spiel mit bunten Steinen hockten. Draußen marschierte ich entschlossen in Richtung Haupttor und zerbrach mir den Kopf auf der Suche nach einem Vorwand gegenüber den Torwachen, um mich am Strand nach einer Fluchtmöglichkeit umschauen zu können. Vielleicht hätte ich eine Möglichkeit gehabt, hätte eine der jüngeren Wachen, die vor selbstgerechter Überheblichkeit fast aus ihrer neuen Kettenrüstung zu platzen schienen, Dienst geschoben; diese Art von Soldat kannte ich von meinen Übungen mit Messires Miliz nur allzu gut. Ob die Möglichkeit bestand, sich auf eine Galeere einer anderen Domäne zu schleichen? Andererseits ... was sollte mir das bringen? Der Weg führte um einen Baum herum, dessen messerscharfe Blätter ich zu respektieren gelernt hatte, und ich ging rasch in Deckung, als Kaeska das Palastgelände betrat. Sie trug ein 438
schlichtes weißes Baumwollkleid und einen Schal über dem Kopf, den sie jedoch rasch abnahm, als sie sich dem Tor näherte. Kurz blieb sie stehen und warf einen Blick zurück, während die Wachen das große schwarze Tor für sie öffneten. Sie hielt irgendetwas an die Brust gedrückt. Ich blickte zu den Torwachen. Es waren drei hart dreinblickende Männer, älter als ich und mit einer Generation mehr Erfahrung, was List und Tücke betraf. Ich gab die Hoffnung auf, das Palastgelände verlassen zu können, und lauschte stattdessen auf Kaeskas leise Schritte auf dem steinigen Pfad. Je mehr Beweise ich gegen diese Frau sammeln konnte, desto sicherer würde ich mich fühlen können. Ich nahm einen Pfad zwischen einer dichten Ansammlung der allgegenwärtigen Beerensträucher hindurch, deren dunkle Blätter mir gute Deckung boten. Langsam ging ich weiter und sah Kaeskas glänzendes Haar durch das Dickicht. Kurz darauf sah ich, dass sie auf der Umrandung eines Springbrunnens saß, in dem ein bunt gemischter Fischschwarm lebte und sich tagaus, tagein im Kreis drehte. Ich konnte nicht genau erkennen, was sie tat, und ich rührte mich nicht, bis sie aufstand und entschlossenen Schrittes auf das Hauptgebäude zuhielt. Ich folgte ihr in einiger Entfernung und warf im Vorübergehen kurz einen Blick auf den Brunnen. Was ich dort sah, ließ mich abrupt innehalten. Mehrere Fische trieben auf der Oberfläche. Die blassen Bäuche nach oben gedreht, schlugen sie hilflos mit den Flossen; einer rührte sich nicht mehr. Entschlossen beschleunigte ich meine Schritte, um Kaeska nicht aus den Augen zu verlieren. Ich wollte herausfinden, was sie nun wieder im Schilde führte. Es gab mehrere Brunnen mit 439
Fischen auf dem Gelände, und Kaeska suchte sie der Reihe nach auf, während sie scheinbar entspannt durch den Garten schlenderte. Ihre Wanderung führte sie auch durch jenen Teil der Gärten, wo jede Ehefrau eine Voliere besaß, in der sie die unterschiedlichsten Vögel hielt; manche davon waren bunt und konnten sehr schön singen, während andere keine besonderen Eigenschaften besaßen, außer dass sie vielleicht besser schmeckten, als sie aussahen. All diese Tiere hatten eine Bedeutung, die ich noch nicht verstanden hatte. Als Kaeska schließlich die Stufen zum Hauptgebäude hinaufstieg, fragte ich mich, ob sie nun wohl zu diesen unheimlichen Echsen im Speisesaal ging. Bis jetzt hatte ich nur immer wieder gesehen, wie Laio jeden Morgen einen Vogel auf ihrem Balkon in die Freiheit entließ und aufmerksam dessen Flug beobachtete. Wie das Tier sich verhielt, konnte nachhaltig ihre Stimmung beeinflussen, manchmal für den ganzen Tag. Verfolgte Kaeska irgendein Ziel, indem sie die Fische vergiftete? Oder wollte sie nur die Wirksamkeit des Gifts prüfen, das sie in ihrem Kleid verbarg, bevor sie jemandem eine Dosis verabreichte? Ich beschloss, Laio und Grival zu warnen. Grival würde Kaeska gewiss davon abhalten können, dem Säugling zu nahe zu kommen – hoffte ich zumindest. In diesem furchtbaren Klima waren Neugeborene vermutlich noch anfälliger als anderswo, und vielleicht hoffte Kaeska, den Tod des Kindes als natürliche Tragödie darstellen zu können. Ich kehrte zur Residenz zurück und eilte die Treppe hinauf. Oben hörte ich Stimmen. Als ich den obersten Stock erreichte, kam Mahli gerade um die Ecke; auf der einen Seite wurde sie von Shek Kul gestützt, auf der anderen von Grival. Offenbar ohne mich zu erkennen, blickte sie mich an, als sie plötzlich 440
einen Krampf bekam und heiser aufstöhnte. Dann erschienen Laio und Gar, wischten Mahli über die Stirn, murmelten ihr ermutigende Worte zu und rieben ihr den Rücken, bis der schlimmste Schmerz verebbte. Ungelenk setzte Mahli sich wieder in Bewegung und murmelte eine bemerkenswerte Zahl von Flüchen, ähnlich denen, die Grival auf dem Übungsplatz zu brüllen pflegte. Für mich sah die Frau aus, als wäre sie dem Tod nahe, doch die Hebamme lächelte und nickte, und da niemand in heller Aufregung war, ging ich davon aus, dass sie wussten, was sie taten. Ich für meinen Teil hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was hier geschah; in einem ordentlichen Tormalinhaushalt war die Geburt ein rein weibliches Mysterium. Ich trat vor in der Hoffnung, mit Laio sprechen zu können, doch sie winkte mich verärgert fort. Ich wich wieder zurück; angesichts von Laios Blick war es wohl besser, mich jetzt ein wenig zurückzuhalten. Ich stieg wieder die Treppe hinunter und schritt ein wenig schneller aus, als Mahli einen markerschütternden Schrei ausstieß, der die Fensterläden erzittern ließ, als ich daran vorbeiging. Als ich im Erdgeschoss um eine Ecke bog, stand ich plötzlich Auge in Auge dem Elietimm gegenüber. Diesmal forderte er mich nicht heraus; stattdessen wirkte er überrascht, beinahe ängstlich. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte über den gefliesten Flur, von dem ich wusste, dass er zu den Gästezimmern führte, die jede der Frauen unterhielt. Ich wollte gerade in die entgegengesetzte Richtung, als mich plötzlich Neugier überkam, und ich folgte dem Mann in das Labyrinth, das den untersten Stock der Residenz einnahm. Trotz meiner Furcht wollte ich unbedingt herausfinden, was dieses nette Pärchen ausheckte. 441
Ich vernahm das Klappen einer Tür, die den Haupteingang zu Kaeskas Gästequartieren bildete, und hörte leise Stimmen. Langsam und auf nackten Füßen schlich ich zu der Tür, konnte aber noch immer kein Wort verstehen. Nun, angesichts der Strafen, die hier auf Zauberei standen, würde Kaeska ihre Beschwörungen wohl kaum herausschreien. Ich hielt die Luft an, öffnete die Tür und fluchte stumm, als ich sah, dass innen ein Vorhang davorgezogen worden war. Hinter dem Vorhang vernahm ich ein tiefes Murmeln. »Wenn das Kind geboren ist, wirst du diese Nachricht meinem Vetter Danak Nyl überbringen. Er wird dir sagen ...« Mit wem sprach Kaeska da? »Hinter dir!« In dem Augenblick, da die Stimme in meinem Kopf ertönte, fiel ein Schatten über die Wand vor mir, und als ich mich umdrehte, sah ich den Elietimmpriester einen Streitkolben in die Höhe reißen, um mir damit den Schädel zu zertrümmern. Ich stürmte vor und durch den dünnen Vorhang hindurch, sodass zwar nicht mein Kopf, aber leider noch mein Bein getroffen wurde. Auge in Auge stand ich einer erschrockenen Kaeska gegenüber. Sie war allein. Ich schalt mich einen Narren, dass ich mich von ihnen so leicht in die Falle hatte locken lassen. »Ergreift ihn!« Der Elietimm riss den Vorhang beiseite, während Kaeska mich zu packen versuchte. Sie schrie vor Zorn und Furcht, als ich beide Hände um ihre schmale Hüfte legte und sie gegen den Hexer warf. Die beiden gingen zu Boden. Ich hielt auf die Läden zu, die sich zum Garten hin öffneten, wobei ich über eine Liege springen musste. Ein furchtbarer Schmerz in meinem Bein streckte mich nieder wie ein erlegtes Tier. Schreiend rollte ich mich herum und hielt 442
mir das Bein, wo der Streitkolben mich getroffen hatte. Nachdem ich die Tränen des Schmerzes aus den Augen geblinzelt hatte, blickte ich an mir hinunter und sah elfenbeinfarbene Splitter, die aus dem blutigen Fleisch ragten. Bei Dasts Zähnen, wie hatte er mit nur einem Schlag einen solchen Schaden anrichten können? Während ich vor Schmerz wimmerte, stellte der Bastard sich über mich, um sich an meinem Leid zu weiden; dabei murmelte er eine Beschwörung. Du elender Narr, dachte ich, bot all meine Kraft auf und trat dem Priester mit dem gesunden Fuß vors Knie, sodass er umfiel wie ein gefällter Baum. Er prallte auf die Liege, deren dünne Beine mit lautem Krachen nachgaben. Im gleichem Moment verpasste Kaeska mir einen bösartigen Tritt in die Nieren, doch das kümmerte mich wenig, denn kaum war die Beschwörung des Priesters unterbrochen, verschwand der Schmerz aus meinem Bein, und statt eines blutenden Knochens war nur noch ein blauer Fleck zu sehen. Zitternd vor Wut und Angst rappelte ich mich auf. Der Hundesohn hatte wieder mit meinem Verstand gespielt! Ich stieß Kaeska in den Bauch, was sie von den Beinen riss und in ein Regal mit Vasen warf, die unter ihr zerbrachen. Rasch blickte ich zum Gang; vielleicht hatte der Lärm ein paar Sklaven auf den Plan gerufen, die mir helfen konnten. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und fluchte, als ich infolge einer weiteren Beschwörung die Orientierung verlor; die fremdartigen Worte hallten von den Wänden wider, während alles vor meinen Augen verschwamm. Ich wirbelte zu dem Priester herum und hob die Hände zu seiner verschwommenen Gestalt. Irgendwie war er 443
wieder in den Besitz des Streitkolbens gelangt. Ich wich zurück, als er die Waffe mit beängstigendem Geschick schwang. Mit der freien Hand zog der Eismann einen Dolch unter dem Gürtel hervor und warf ihn Kaeska zu. »Schneid ihm die Kniesehen durch!« »Versuch das mal, du Hure!«, stieß ich hervor, ohne den Blick von dem Elietimm abzuwenden. Der Kerl lächelte bloß. Ich spürte, wie mir das Blut im Kopf zu pochen begann; vor meinen Augen wurde es dunkel, und die Beine drohten mir nachzugeben, als mich das Gefühl überkam, der Boden würde sich zur Seite neigen. Blind griff ich nach meinem Schwert. Als ich meine gefühllosen Finger auf den Knauf legte, hörte ich deutlich Guinalles Stimme in meinem Kopf. »Natürlich kann ein einfaches Wort große Wirkung haben. Versuch das einmal: Tur-ryal, tur-ryal, tur-ryal.« Ich hörte eine Stimme, die nicht meine eigene war, und die sinnlosen Silben wiederholte; allerdings benutzte sie meine Lippen. Das Mädchen sprach erneut. »Siehst du? Ich kann dir kalte Füße machen.« Ich blinzelte, als mein Blick sich wieder klärte, und erleichtert sog ich die Luft in meine Lungen, als ich sah, wie der Kiefer des Priesters in entsetztem Staunen herunterklappte. »Du hast geschworen, dass sie über keine echte Magie verfügen«, spie er, und sein Blick wanderte zu einem Punkt jenseits meiner Schulter. Das zeigte mir, wo Kaeska sich befand; also zog ich mein Schwert und schwang es in weitem Bogen. Wenn ich mich vor Shek Kul dafür verantworten musste, dass ich ihr den Leib aufgeschlitzt hatte, dann war es eben so; ich musste mich zuerst aus dieser Falle befreien. Kaeska schrie, und ich 444
hörte, wie sie zurücksprang und der Dolch klirrend zu Boden fiel. Dann richtete ich das Schwert wieder nach vorn auf den Priester, der sich zwischen mir und dem Garten befand, meinem Fluchtweg. Nun war er derjenige, der zurückwich, doch er begann eine neuerliche Beschwörung, und ich spürte Verwirrung in mir aufsteigen, während gierige Finger den schwachen Schild zu zerreißen versuchten, den Guinalles seltsamer Gesang geschaffen hatte. Ich konnte diesen Kampf nicht gewinnen, nicht unter diesen Bedingungen. Ich brüllte dem Bastard einen Fluch entgegen und hob das Schwert mit beiden Händen über den Kopf, als ich auf ihn zustürmte. Er wich zurück und stolperte dabei über einen niedrigen Stuhl. Ich stieß ihn beiseite und schwang mein Schwert, zerschmetterte die dünnen Läden, sodass ich in den unsicheren Schutz der Gärten fliehen konnte. Ich rannte an mehreren verwunderten Gärtnern vorbei und hielt auf das Übungsgelände hinter den Sklavenquartieren zu, das wir Leibsklaven uns mit den Wachen teilten. Zu meiner großen Erleichterung fand ich dort Sezarre, der über einem Muster im Sand brütete, auf dem er ein Aldabreshispiel spielte. »Dein Bein ...« Er runzelte die Stirn, als er meine zerrissene Hose und die dunklen Flecken auf meinem Bein sah. »Kaeska und ihr Besucher, der weißhaarige Mann«, sagte ich und ließ mich mit einem erleichterten Seufzer auf die Bank fallen. Sezarre riss meine Hose weiter auf und wusch mit einem beißenden Tonikum die Wunde aus. Mir war klar, dass ich von Glück sagen konnte, nicht die volle Wucht des Schlages abbekommen zu haben; der Bastard hätte mir tatsächlich die Knochen brechen und mich zum Krüppel machen können. »Was ist?«, fragte Sezarre drängend, während er mir eine 445
Salbe auf die Schrammen rieb, wie ich es auch schon oft für ihn und Grival getan hatte. »Kaeska will Mahli und den Säugling töten ... Sie ist überzeugt, selbst ein Kind bekommen zu können und wieder zur ersten Frau aufzusteigen.« In leiser Verachtung schüttelte Sezarre den Kopf. »Der Mann ist nicht zum Handeln hierher gekommen. Er will Kaeska helfen, indem er Magie gegen Mahli und Shek Kul einsetzt.« Bei diesen Worten erstarrte Sezarre und blickte mich mit großen Augen an. »Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage.« Ich erwiderte seinen Blick. »Ich habe diese Männer schon früher bei der Arbeit gesehen. Ihre Zauber haben einen Freund von mir getötet, der mir näher gestanden hat als ein Bruder. Diese Magie hat ihm den Verstand geraubt und dafür gesorgt, dass er die Klinge gegen mich erhob.« Der Schmerz in meiner Stimme, während ich von Aiten sprach, machte meine mangelnde Kenntnis der Aldabreshisprache mehr als wett. Sezarre war überzeugt; daran bestand kein Zweifel. »Hast du Laio davon erzählt?« Ich nickte. »Sie wollte es Gar wissen lassen, bevor sie bei Shek Kul Anklage erhebt.« Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über Sezarres Gesicht. »Gar würde sich niemals auf solch einen Plan einlassen«, versicherte er mir. »Keine Magie, niemals! Und niemals würde sie etwas tun, das dem Kind schadet.« »Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Laio hat das auch nie geglaubt.« 446
»Magie«, wiederholte er und verzog angewidert das Gesicht. »Dass Kaeska tatsächlich so tief sinkt ...«Ihm fehlten die Worte, er schüttelte den Kopf. »Sie wissen, dass ich sie entlarven kann.« Ich deutete auf mein verletztes Bein. »Wenn sie können, werden sie mich töten.« »Nicht, solange ich bei dir bin«, erwiderte Sezarre entschlossen, und der Gedanke, seinen Schwertarms an meiner Seite zu haben, war in der Tat beruhigend. »Kannst du laufen?« Ich nickte, stand auf und folgte Sezarre zum Haupttor, wo er den Kommandant der Wache zu sich rief, einen kräftigen, dunkelhäutigen Aldabreshi, den ich schon oft im Gespräch mit Shek Kul gesehen hatte. Ich verstand nicht viel von ihrer Unterhaltung, doch kurz darauf wurden die Wachen am Tor verdoppelt, und Uniformierte in Vierergruppen und mit gezogenen Schwertern schwärmten aus, um das Hauptgebäude zu umstellen. »Wird man Kaeska festnehmen, wenn man sie findet?«, fragte ich Sezarre, als er mit ernstem Gesicht und dem Hand auf dem Schwert zur Residenz zurückmarschierte. »Sie wird sich vor Shek Kul erklären müssen«, antwortete er in drohendem Tonfall. Wir gingen zu Kaeskas Empfangsräumen, wo der zerrissene Seidenvorhang verloren im Wind flatterte. Die Zerstörung im Raum legte beredtes Zeugnis ab von dem, was hier geschehen war. »Warum tut sie so etwas?« Sezarre schüttelte den Kopf. »Wer ist dieser Mann, dass er solch eine Macht über sie besitzt?« »Er ist ein Hexer, der in den Geist eines Menschen eindringen und ihn nach seinem Willen beeinflussen kann.« 447
Wir verließen den Raum durch die Gartentür und beobachteten, wie der Wachkommandant sich mit ein paar Soldaten traf. Die Männer schüttelten den Kopf: Nirgends war etwas von den Gesuchten zu sehen. »Und Kaeska hat auch die Fische getötet«, erinnerte ich mich plötzlich. »Warum?« Die Nachricht schien Sezarre mit Entsetzen zu erfüllen. »Sie will böse Omen für das Kind erschaffen«, spie er angewidert hervor. »Zeig es mir!« Ich führte ihn rasch zu dem vergifteten Brunnen, und Sezarre starrte auf die Hand voll toter Fische, die inzwischen auf dem Wasser trieben. »Wir kümmern uns darum«, sagte er und nickte entschlossen. Sezarre schnappte sich einen erschrockenen Gärtner und befahl ihm, den Brunnen zu leeren und zu säubern; dann ging er mit mir den anderen Fischen, Vögeln und Tieren. Ob die Echsen krank waren, vermochte ich nicht zu sagen; sie saßen teilnahmslos wie eh und je auf ihren Felsen und Ästen, doch Sezarre war zuversichtlich, dass ihnen nichts fehlte. Er erklärte mir, dass diese Tiere eine besondere Bedeutung für den Kriegsherrn hätten, die ich jedoch nicht verstand. Dann entdeckten wir die toten Singvögel, und Sezarre ging zum Palastverwalter, der einen Jungen ausschickte, die traurigen kleinen Leichen vom Boden der Volieren aufzusammeln, die Laio und Mahli gehörten. Die ernsten Gesichtern um mich herum ließen erkennen, dass so etwas weit über schlichte Boshaftigkeit den Haustieren der anderen Frauen gegenüber hinausging, doch niemand schien weiter darüber sprechen zu wollen. Der Palastverwalter redete mit den Torwachen, und ich folgte Sezarre zu einem verschrumpelten alten Mann, der jammernd 448
eine Geschichte vortrug. Sein wortreiches Klagelied wurde erst unterbrochen, als Sezarre ihm erzählte, Kaeska hätte einen Hexer auf die Insel gebracht. Während immer mehr Leute sich daran machten, die Spuren von Kaeskas gemeinen, grausamen Intrige mit den Tieren zu beseitigen, verbreitete sich die Neuigkeit von ihrer Zusammenarbeit mit einem Hexer, und ich fragte mich, wie Laio wohl darauf reagieren würde. Sie würde nicht gerade erfreut darüber sein, dass die beste Rune, die sie in der Hand hielt, bereits ohne ihre Zustimmung ausgespielt worden war. Andererseits erkannte ich, dass ich mir ein beachtliches Maß an Zustimmung erworben hatte; immer wieder nickten die Leute mir freundlich zu und lächelten, und ich erntete Bemerkungen, die ich zwar nicht verstand, die jedoch offensichtlich als Zeichen der Dankbarkeit und Wertschätzung gemeint waren. Es gelang mir sogar, mit einem Eimer toter Vögel und Fische vor das Tor zu kommen, die wir auf einem mit Krabben verseuchten Strandabschnitt verteilten. Unauffällig hielt ich nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau, als plötzlich überall um mich herum aufgeregte Rufe ertönten. Alle blickten freudig aufs Meer hinaus, während sie gleichzeitig zur Baumgrenze zurückwichen. Da das völlig überraschend für mich kam, stand ich plötzlich allein am Strand und schaute auf die riesige Gestalt, die sich langsam durch die Meerenge wand. Es war eine Seeschlange. All die Versicherungen meiner Mutter, dass es so etwas nicht gäbe, dass Seeschlangen nur Kindergeschichten waren wie die Schattenmänner, waren mit einem Mal vergessen, während ich die gewaltige Kreatur beobachtete, die mit ihrer mächtigen Rückenflosse das Wasser teilte. Sie besaß keine Schuppen wie eine Schlange oder ein 449
Fisch; ihre Haut war matt und rau, und sie sah ölig aus, während das Wasser in Rinnsalen an ihr hinunterlief. Ein gewaltiger Kopf ragte für einen Augenblick über die Wellen – ein Kopf so dick wie der Leib und ohne die Andeutung eines Halses. Dann öffnete sich das riesige, mit gelben, nadelspitzen Zähnen bewehrte Maul; die winzigen schwarzen Augen waren fast unsichtbar auf der dunklen Haut. Während die Insulaner die Kreatur voller Ehrfurcht anstarrten, tauchte sie unter und war nach einem letzten Schwanzschlag verschwunden. Eine solche Aufregung, wie sie jetzt um mich herum herrschte, hatte ich noch nie erlebt. Jubelrufe gellten, und der Tumult breitete sich rasch aus, während die Menge mich zum Palast zurücktrug und die Nachricht über die Erscheinung sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Wenn ich von dieser Insel fliehen wollte, würde ich schwimmen müssen. »Was sollte das alles?«, wollte ich von Sezarre wissen, nachdem ich mich durch das Gedränge zu ihm durchgekämpft hatte. »Einen Rek-a-nul zu sehen ... Das ist eines der stärksten Omen, ein großes Zeichen für diesen Tag«, erklärte er mir und lächelte breit. »Du wirst großes Glück haben.« Das mochte ich wohl glauben – falls ich diese Sache überlebte, ohne dass meine eigene Verbindung zur Magie aufgedeckt wurde oder ich mit einem Elietimmmesser im Rücken endete. Den Rest des Tages blieb Sezarre so nah bei mir, dass man glauben mochte, ich hätte seine Börse. Zu meiner großen Erleichterung war nirgends eine Spur von Kaeska oder dem Elietimm zu sehen. Wir marschierten immer wieder durch die Gärten, vorbei an den Brunnen und Volieren, wo Insulaner die toten Vögel und Fische ersetzten. Mahli lag noch immer im Kindbett. Wir hörten ihre Schreie aus dem obersten Stock des 450
Palasts, wann immer unser Weg uns an seinen Mauern vorbeiführte, und jedes Mal tauschten Sezarre und ich einen reumütigen Blick, der keiner Übersetzung bedurfte: Zum Glück würden die Götter nie von uns verlangen, ein Kind auf die Welt zu bringen. Plötzlich ertönten von überall her Freudenrufe, als immer mehr Menschen aus den Türen stürmten – bis jetzt hatte ich gar nicht gewusst, dass hier so viele lebten. Ich folgte Sezarre, als er sich einen Weg durch die Menge in Richtung Residenz bahnte. Von überall her rief man ihm eine Frage zu, und er nickte lächelnd. Ich sah, wie Tonscherben in alle Richtungen wanderten, und plötzlich verstand ich. Die Aldabreshi mochten ja nichts Stärkeres trinken als ihren verwässerten Wein und sich von Tabak und dergleichen fern halten, aber sie waren die eifrigsten Spieler, die mir je begegnet waren. Eines Abends, vor gar nicht allzu langer Zeit, hatte ich Laio und Mahli dabei erwischt, wie sie ein Vermögen an Edelsteinen auf die winzigen Echsen gesetzt hatten, die eine Wand im Speisesaal hinaufkletterten. »Junge oder Mädchen?« Ich zupfte Sezarre am Hemd. »Junge.« Er grinste mich an. »Ich wette fünf Tage Geschirrabwaschen darauf.« Ich lachte und nahm das Stück Ton, das er mir reichte und auf dem irgendetwas in der geschwungenen Aldabreshischrift geschrieben stand. Als wir den obersten Stock der Residenz erreichten, standen Laio und Gar auf dem Gang. Die beiden wirkten vollkommen erschöpft. Die Blutflecken auf ihren Kleidern beachteten sie nicht. Gar trat vor, um Sezarre in einem überraschenden Anflug von Gefühl zu umarmen, und Tränen schimmerten auf ihren 451
Wangen. Verunsichert blickte ich zu Laio, die ebenfalls kurz davor zu stehen schien, in Tränen auszubrechen. Sie schüttelte sich wie ein Kätzchen, das unvermittelt in einen Regenschauer geraten war, und ergriff meine Hand. »Komm, und schau dir unseren kleinen Sohn an.« Ein Junge. Also würde ich fünf Tage lang Tabletts die Treppen hinunterschleppen müssen, während Sezarres Leben ein wenig leichter wurde. Ich folgte Laio zu Mahlis Gemächern, wo die frisch gebackene Mutter in einem Bett lag und sich an Shek Kuls Schulter lehnte. Dieser hielt ein Leinenbündel in der Hand, aus dem ein kleiner schwarzer Haarschopf ragte, der eindeutig darauf hinwies, dass es Shek Kuls eigenes Kind war. Mahli lächelte mich an. Es gelang mir, das Lächeln zu erwidern, auch wenn ich noch nie jemanden gesehen hatte, der so erschöpft wirkte und dennoch bei Bewusstsein war. Shek Kul blickte über ihren Kopf hinweg zu mir und sprach mich zum ersten Mal direkt an. »Das ist mein Sohn, Shek Nai. Du wirst ihn beschützen, als wäre er dein eigen Fleisch und Blut.« Ich betrachtete das winzige, zerbrechliche Gesicht, dessen Augen fest vor der Fremdartigkeit dieser Welt verschlossen waren, und nickte. Das zumindest war keine Bedrohung der anderen Verpflichtungen, die ich eingegangen war. Ich schaute mich nach Laio um und fragte mich, wann sie handeln würde, die Bedrohung zu beseitigen, die Kaeska für das Kind darstellte. Sie musste die Frage in meinem Gesicht gelesen haben, denn sie runzelte die Stirn und winkte mich mit einer matten Bewegung aus dem Zimmer. »Geht es Mahli gut?«, fragte ich, während wir zu Laios Gemächern gingen. Ich wusste nur wenig Ahnung über die Gefah452
ren, die einer Frau im Kindbett drohten, aber ich hatte schon zu viele Männer im meinen Bekanntenkreis gesehen, die sich die Augen ausgeweint hatten, als sie mit der purpurroten Urne in Drianons Schrein gegangen waren. »Sie hat es sehr gut überstanden. Die Hebamme ist erfreut.« Laio nickte. »Die Zeichen des Himmels sind ebenfalls günstig. Wir müssen dafür sorgen, dass die Stellung der Sterne genau aufgezeichnet wird.« Sie blickte nach oben; ihre Gedanken waren woanders, doch das war mir egal. »Wann werdet Ihr Shek Kul von Kaeska und ihrem Hexer erzählen?«, wollte ich wissen. »Wovon redest du?« Laio schenkte sich ein Glas Saft ein. »Ihr Festländer schreibt doch nur auf, wie hoch die Sonne steht und welcher Mond gerade welches Stadium erreicht hat, oder? Kennt ihr den Zeitpunkt eurer Geburt? Wir könnten deine Sterne für dich kartographieren, wenn du möchtest.« Von allen unbedeutenden Dingen erschien mir die Tatsache, dass ich unter dem kleineren Mond geboren war, am unbedeutendsten. »Kaeska und ihr Hexer haben mich heute angegriffen. Schaut Euch mein Bein an. Ich hätte getötet werden können. Sie hat Gift benutzt, um die Fische und Vögel zu töten.« Ich fragte mich mit kaltem Entsetzen, wo das Weibsstück wohl herumgekrochen war, während Sezarre und ich ihre Pläne im Garten zunichte gemacht hatten. Sie hätte jedes Getränk in jedem Raum vergiften können. Ich schlug Laio das Glas aus der Hand. Es zerbrach auf dem Boden, und klebriger Saft spritzte auf uns beide. Laio war viel zu erschrocken, um mich zu tadeln. Fluchend kniete ich nieder, als mein Bein gegen die Bewe453
gung protestierte, steckte einen Finger in die Saftpfütze und führte den Tropfen an meine Lippe. Dann wartete ich gespannt, ob ein Gefühl der Taubheit oder ein Brennen mir das Vorhandensein von Gift verraten würde. Laio hörte mir staunend zu, als ich ihr erzählte, was mir widerfahren war. »Ich werde Euch etwas zu trinken aus der Küche holen«, sagte ich schließlich. »Da können wir wenigstens sicher sein.« Ich machte mich auf den Weg, entschlossen, Laio davon zu überzeugen, Kaeska so bald als möglich anzuklagen. Ich wollte diese Unsicherheit und Furcht nicht länger hinnehmen. Bei meiner Rückkehr fand ich Laio im Bad, wo sie sich ihr mit Blut und Saft verschmutztes Kleid auszog. Ich reichte ihr einen Becher Saft und zog mich verwirrt zurück. Es war mir ziemlich leicht gefallen, ihren verführerischen Formen zu widerstehen, als ich noch geglaubt hatte, der Kriegsherr würde jede Hand, die sie berührte, augenblicklich abhacken. Nun aber schien es mir, als hätten ihre Enthüllungen heute Morgen meine Lust von diesen Ketten befreit. Zu meiner Erleichterung jedoch schien Laio nichts davon zu spüren. Das Haar mit einem Seidentuch hochgebunden und in einem weiten gelben Hausgewand, das ihre Nacktheit nur unzureichend verbarg, trat sie aus dem Bad. Noch immer hatte sie nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. »Wenn du einen Augenblick Zeit hast, bitte Sezarre um grünes öl. Eine frische Pressung.« Ich nickte. »Der Geschmack ist deutlich besser.« Zu meiner Verwunderung errötete Laio. »Ich hätte nie gedacht, dass ihr Festländer an so etwas Gefallen findet.« Ich schaute sie verunsichert an. »Was meint Ihr damit? Auch 454
wir bevorzugen frisch gepresstes grünes öl für unser Gemüse«, erklärte ich vorsichtig. »Wofür verwendet ihr es?« »Um nicht schwanger zu werden!«, kicherte Laio und schlug die Hand vor den Mund. »Nun, da ich gesehen habe, was Mahli hat durchmachen müssen, will ich mir noch ein wenig Zeit mit dem Kinderkriegen lassen.« Jetzt war es an mir zu erröten, und ich fluchte stumm, als ich die Hitze in meinen Wangen spürte. »Wie sorgen die Festlandfrauen denn dafür, dass sie keine Kinder bekommen?« Laios Augen funkelten schelmisch. Ich strich mir mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß es nicht.« Ich unterdrückte eine plötzliche Erinnerung an den Topf mit gesalzenen Zedernrosinen, die mein Vater mir gegeben hatte, bevor er mir am nächsten Tag einen ernsten Vortrag in seiner Werkstatt gehalten hatte, nachdem ich meine ersten Bartstoppeln auf Misaens Altar gelegt hatte. Laio rückte näher an mich heran und legte die Hand auf meinen nackten Arm. Die Härchen darauf sträubten sich wie bei einem Hund. »Wo wir gerade davon sprechen«, schnurrte sie, »wie macht ihr Festländer ...« Ein lautes Klopfen unterbrach sie, und Sezarre steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Bei Mondaufgang wird der Baum gepflanzt«, sagte er zu Laio und verschwand wieder. Der Faden zwischen uns riss. »Ich möchte das blaue Kleid mit dem Federschal«, befahl sie mir brüsk. »Mein Haar werde ich nicht mehr waschen.« Unschlüssig, ob ich Sezarre segnen oder verfluchen sollte, gehorchte ich und war angenehm überrascht, dass man mir noch genügend Zeit ließ, mich zu waschen und eine frische grüne Tunika und Hose anzuziehen, die Grival mir brachte; 455
offenbar handelte es sich dabei um ein Geschenk von Mahli. Als schließlich der halb volle größere Mond am Horizont aufging und der schwarze Stein der Mauern kalt in seinem bläulichen Licht schimmerte, folgte ich Laio die Treppe hinunter und in den inneren Garten im Herzen der Residenz. Ich hielt mich dicht bei ihr; jederzeit rechnete ich mit einer Anweisung oder einem Tadel in dieser erwartungsvollen Atmosphäre, wo sich sämtliche Haushaltssklaven schweigend und respektvoll an die Mauer drängten. Laio stellte sich neben Gar, und ich tauschte einen flüchtigen Blick mit Sezarre. Er neigte den Kopf einen Fingerbreit, und ich sah Kaeska auf der anderen Seite des Gartens. Irith stand hinter ihr. Er schwankte leicht; sein Mund war schlaff, und in seinen Augen war kein Funken Leben zu sehen. Der Elietimm stand neben ihm. Sein Haar wirkte in der Nacht noch weißer, und er hatte die Lippen zusammengepresst, als er mich anstarrte; der Hass zwischen uns war deutlich zu spüren. Ich berührte Laios Schulter und beugte mich leicht vor. »Ich weiß«, murmelte sie. »Warte.« Ein Raunen ging durch die Versammlung, als sich eine Tür öffnete und Shek Kul den Garten betrat. Grival ging neben ihm; er trug eine Silberschüssel, die mit einem Seidentuch bedeckt war. Laio neigte den Kopf ein wenig, um mir zuzuflüstern: »Das ist die ...« Sie suchte nach dem richtigen Wort in Tormalin. »Das kommt mit dem Säugling. Er ernährt sich davon im Mutterleib.« »Die Nachgeburt.« Ich war froh, nicht an Grivals Stelle zu sein. Meine Entschlossenheit, zu Hause zu sein, lange bevor Laio ins Kindbett kam, verdoppelte sich mit einem Mal. Shek Kul trug eine schlichte grüne Tunika, und ohne große Zeremonie begann er, ein tiefes Loch in die fruchtbare Erde 456
zwischen fünf Bäumen von unterschiedlicher Größe zu graben. Grival schüttete den Inhalt der Schüssel dort hinein; dann brachte einer der Gärtner einen kleinen Setzling, den Shek Kul überraschend geschickt über der Nachgeburt einpflanzte. Der Gärtner verneigte sich tief und sagte etwas zu dem Kriegsherrn, der Kaeska daraufhin einen überraschten und unfreundlichen Blick zuwarf. Deren Augen waren fest auf den Boden gerichtet, und ich sah, wie Laio darum kämpfte, sich zu beherrschen, als sie das sah. Gar drehte sich zu mir um. »Das Wachstum des Baumes wird uns Aufschluss über die Gesundheit und die Natur des Kindes geben. Seine Blätter wird man zum Wahrsagen verwenden.« Ich nickte, auch wenn ich der Meinung war, nie zuvor etwas so Unsinniges gehört zu haben. Laio rührte sich erneut, und als Shek Kul sich die Hände an einem Handtuch abwischte, trat sie einen Schritt vor. Ein überraschtes Raunen ging durch die Versammelten, und Laio hob das Kinn – die Dame eines Kriegsherrn vom Scheitel bis zur Sohle. »Mein Gemahl, so wie Ihr Eure Pflicht tut, um Euren neuen Sohn zu schützen, die Hoffnung unserer Domäne, so muss ich handeln, um eine furchtbare Gefahr abzuwenden, die von einer Schlange in unserer Mitte ausgeht.« Ihre klare Stimme hallte von den hohen Mauern wider, und Kaeska riss den Kopf hoch und starrte Laio entsetzt aus großen Augen an. »Ich klage Kaeska Danak der Anstiftung zur Zauberei an, um Euren Sohn zu töten und ihren Platz als Eure erste Frau zurückzuerlangen, indem sie ein Kind der Hexerei gebiert.« Kein bisschen Triumph lag in Laios Stimme, keine Spur ihrer 457
ursprünglichen Schadenfreude; sie klang bloß ehrlich, offen und ernst. Um uns herum schnappten die Menschen hörbar nach Luft, dann erhob sich bestürztes Murmeln. Shek Kul hob die Hand, und die Menge schwieg wie ein Grab. »Ihr bringt eine sehr schwere Anschuldigung vor.« Er wandte sich an Laio. »Welche Beweise habt Ihr?« Laio deutete über die Schulter. »Das Wort meines Leibsklaven.« Sofort richteten sich alle Blicke auf mich. Ich stand vollkommen regungslos da, mit ausdrucksloser Miene, doch meine Gedanken überschlugen sich, während ich mich fragte, was als Nächstes geschehen würde. Shek Kul blickte zu Kaeska; dann musterte er mich, während die Versammlung stumm verharrte. »Ich werde mir diesen Fall morgen bei Sonnenuntergang anhören«, verkündete er schließlich, warf Grival das Handtuch zu und marschierte in den Palast zurück, während die Menge sich in Mutmaßungen erging. Ich versuchte, Kaeska im Auge zu behalten, während Laio voraus in Richtung Treppe ging. Das entsprach nicht dem, was ich erwartet hatte. »Was wird mit Kaeska geschehen?« Ich schaute mich erfolglos nach Wachen um. »Wo wird man sie festhalten? Wo ist das Verlies des Kriegsherrn?« Laio blieb auf der ersten Stufe stehen und blickte auf mich hinunter. »Kaeska wird nicht eingesperrt.« Sie klang verwirrt. »Die Wachen werden in Alarmbereitschaft versetzt. Das sollte ausreichen, sie von Dummheiten abzuhalten.« »Warum?«, wollte ich zornig wissen. »Was denkt sich Shek Kul dabei? Nun, da sie weiß, dass wir ihr auf die Schliche ge458
kommen sind, lässt er ihr eine Nacht und einen Tag Zeit, so viel Schaden anzurichten, wie sie nur kann!« »Genau das kann sie eben nicht. Nachdem sie nun angeklagt ist, sind alle Blicke auf sie gerichtet«, meldete sich Sezarre zu Wort. »Wie auch immer, Shek Kul hat erklärt, sich so schnell wie möglich mit dem Fall zu beschäftigen – schon zu Beginn des ersten Tages nach Anklageerhebung.« Eine der Besonderheiten des Aldabreshilebens war, dass sie den Tag von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang maßen. »Selbst der niederste Sklave hat das Recht, genau zu erfahren, wessen er angeklagt ist, um eine angemessene Verteidigung vorbereiten zu können«, erklärte Laio in bissigem Tonfall. »Zumindest ist das auf den Inseln so.« »Es könnte durchaus sein, dass sie die Gelegenheit zur Flucht nutzt.« Gar runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht wäre das einer Verhandlung sogar vorzuziehen.« Nicht von meinem Standpunkt aus betrachtet, auf keinen Fall. Im Geiste fluchte ich verzweifelt, während ich Laio die Treppe hinauf folgte. Ich wusste viel zu wenig über diesen unheiligen Ort, über ihre bizarren Sitten und seltsamen Ansichten. Ich würde mich völlig auf Laios Führung verlassen müssen, und dieser Gedanke gefiel mir überhaupt nicht. »Welche Form wird die Verhandlung haben?«, wollte ich wissen. »Habt ihr Advokaten, die für euch sprechen? Wird Kaeska jemand haben, der ihre Unschuld verteidigt? Was genau soll ich sagen?« »Die Gerechtigkeit der Aldabreshi ist schnell und sicher«, antwortete Laio knapp. »Shek Kul wird dich vor sich rufen und dich auffordern, ihm deine Geschichte zu erzählen. Kaeska wird darauf antworten, und du kannst dann Einzelheiten widerspre459
chen, wann immer du es für nötig hältst. Shek Kul wird euch zuhören, solange er will, und dann sein Urteil fällen. Wir verstecken uns nicht hinter Fürsprechern und Behauptungen wie die Festländer. Die Wahrheit ist kein totes Tier, an dem sich die Aasfresser gütlich tun.« Diesen Satz musste ich mir merken, um ihn eines Tages Mistal unter die Nase zu reiben. Soweit ich es beurteilen konnte, würde diese Verhandlung so etwas Ähnliches wie ein Standgericht sein; meine Hoffnung bestand darin, dass die legendäre Blutrünstigkeit der Aldabreshi ungeachtet aller Widrigkeiten den Ausschlag gegen Kaeska gab. »Was ist mit den Fischen und den Vögeln? Wann werdet Ihr Shek Kul davon berichten?« »Ich werde ihm nicht davon berichten, und du auch nicht.« Laio stieß die Schlafzimmertür verärgert auf. »Kaeska würde es nur leugnen. Und geben wir den Tod der Tiere erst einmal zu, wird es immerzu Gerüchte geben, dass es vielleicht doch ein gültiges Omen gewesen ist.« Und wenn niemand die Echse erwähnt, die mitten auf dem Esstisch sitzt, dann existiert sie wohl auch nicht. »Ich möchte auch nicht, dass du diesen Angriff erwähnst, von dem du mir erzählt hast, da es keine Zeugen dafür gibt«, fuhr Laio fort. »Sie würden nur Verwirrung verursachen, indem sie auf einen persönlichen Streit zwischen dir und dem Fremden verweisen. Vermutlich würde es dann heißen, du hättest die Anklage nur aus Boshaftigkeit ihm gegenüber erhoben.« Mit einer herrischen Geste untersagte Laio jede weitere Diskussion und machte sich fürs Bett fertig. Schon bald schlief und schnarchte sie mit einer Unbekümmertheit, um die ich sie nur beneiden konnte. Ich lag auf meiner Matratze, das blanke 460
Schwert neben mir, und konnte nicht einschlafen, während meine Ohren auf jedes noch so kleine Geräusch lauschten. So lag ich wach, während die Nacht immer dunkler wurde und schließlich dem Morgengrauen wich.
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Der Palast von Shek Kul, Aldabreshin-Archipel 7. Vorsommer
Ich stand auf dem Balkon und beobachtete, wie die goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne den neuen Tag auf den grünen Flanken des Berges in der Mitte der Insel einleiteten, als ich Laio hinter mir aufwachen hörte. Ich unterdrückte ein Gähnen und drehte mich zu ihr um. Sie schälte sich aus ihrem Kokon aus seidenen Decken. Ihre Augen waren noch vom Schlaf getrübt, und ihr weiches Gesicht verriet ihre Jugend. Doch als sie mich sah, verhärteten sich ihre Züge. »Du siehst furchtbar aus!« Sie warf ihre Decken beiseite. »Bist du die ganze Nacht wach geblieben?« »Ich weiß, was Kaeska im Schilde geführt hat. Ich habe früher schon mit diesen verfluchten Elietimm zu tun gehabt«, sagte ich, und meine Müdigkeit traf mich wie ein Schlag ins Gesicht, nun da ich wieder zu denken und zu reden begann. »Ich wollte nicht, dass sie sich hier hereinschleicht und uns mitten in der Nacht die Kehlen durchschneidet.« »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Laio mit einem Hauch von Verachtung in der Stimme, während sie sich eine alte purpurrote Tunika überstreifte und sich mit der Hand durchs Haar fuhr. Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, ich hätte vermutlich eine passende Bemerkung parat gehabt; so jedoch fiel mir nichts anderes ein, als das Gesicht zu verziehen. »Ich will, dass du heute Abend ausgeschlafen bist, wenn du deine Beweise gegen Kaeska vorbringst«, fuhr Laio sichtlich verärgert fort. »Komm rein.« Sie schlug eine der Decken beisei462
te. »Was?« Ich blinzelte; für Höflichkeiten war ich zu müde. »Du sollst ein wenig schlafen, du Narr.« Ihr Tonfall verriet, dass ihre Geduld fast am Ende war. Ich ging zum Bett und tröstete mich damit, dass Sezarre und Grival inzwischen wieder aufgewacht waren und die Torwachen gewechselt hatten, welche für die Sicherheit der Residenz die Verantwortung trugen. In einem direkten Kampf wären sie Kaeska und ihrem Hexer mehr als ebenbürtig. Nun, da die Intrige aufgedeckt war, würde es die beiden sofort ans Messer liefern, sollte der Elietimm Magie einsetzen. Mein schwerfälliger Verstand war gerade zu diesem Schluss gelangt, als meine Wange mit verführerischer Zärtlichkeit das weiche Kissen berührte. Ich schlief, noch bevor Laios Wärme und Duft in den Decken meine müden Sinne erregen konnten. Lauter Lärm auf dem Gelände unter Laios Gemächern riss mich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und versuchte, die verschiedenen Quellen des Lärms zu identifizieren, als die Tür sich öffnete. Mit pochendem Herzen setzte ich mich auf, sah aber nur Laio, die mich mit einer Mischung aus Sorge und Verärgerung anschaute. »Bist du in der Lage, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen, ohne einzuschlafen?« »Ja«, antwortete ich schlicht. »Ihr hattet Recht. Ein wenig Schlaf hat mir gut getan.« Falls ich erwartet hatte, mein Geständnis hätte ihre Laune verbessert, so hatte ich mich geirrt. »Natürlich hat es dir gut getan!«, rief Laio. »Steh auf, wasch dich, und hol etwas zu essen.« Ich beeilte mich, ihr zu gehorchen; ihre verschränkten Arme und der wütende Blick ermutigten mich nicht gerade, im Bett 463
zu bleiben. Ich unterdrückte den flüchtigen Wunsch, dass ich mich wenigstens einmal ordentlich rasieren können würde, und ging in die Küche hinunter; auf halbem Weg hielt ich kurz an, um ein Fenster zu öffnen und den Stand der Sonne zu überprüfen. Es war spät am Nachmittag, doch ich verschwendete kaum einen Blick auf die Sonne, als ich das wilde Treiben im Garten sah. Ich hatte geglaubt, das Palastgelände sei überfüllt, als die Nachricht von der Geburt des Kindes die Runde machte, doch er war nichts im Vergleich zu dem hier. Es sah aus, als hätte sich die halbe Domäne auf den Weg hierher gemacht. Ich konnte kaum glauben, dass all diese Menschen auf dieser einen Insel lebten. Ein Anflug von Nervosität drohte mich aus der Ruhe zu bringen, und ich schlug unnötig heftig nach einem vorbeisummenden Insekt. »Reiß dich zusammen, Rysh«, ermahnte ich mich selbst. »Der Einzige, den du überzeugen musst, ist Shek Kul. Stell dir einfach vor, es wäre der Sieur, wenn er schlecht gelaunt ist.« Doch das Problem bei der Sache war nicht nur, dass ich den Sieur und seine Launen kannte wie meine Westentasche, während Shek Kul noch immer ein unbeschriebenes Blatt für mich war; hinzu kam, dass ich mich hier nicht auf den Schutz der Eide verlassen konnte, die der Sieur und ich uns gegenseitig bei meinem Dienstantritt geleistet hatten. Ich erkannte, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was Shek Kul mit mir machen würde, sollte er aus einem unerfindlichen Grund zu dem Schluss gelangen, ich hätte das alles nur erfunden. Rasch holte ich Laio eine Mahlzeit und wartete geduldig, bis sie gegessen hatte. »Was wird geschehen, wenn Kaeska für nicht schuldig be464
funden wird?«, fragte ich unvermittelt und ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, als ich selbst zu essen begann; vielleicht würde eine gute Mahlzeit dem Rumoren in meinem Bauch ein Ende machen. Laio schüttelte sich, stand auf und begann, auf dem Balkon auf und ab zu gehen. »Darüber solltest du dir keine Gedanken machen«, antwortete sie in hochmütigem Tonfall. »Erzähl ihm die Geschichte so, wie du sie mir erzählt hast, und Kaeska wird nicht in der Lage sein, sich zu entschuldigen.« Ihre Stimme besaß einen nervösen Unterton, der sein Echo in den Zweifeln fand, die mir im Kopf herumgingen. Ich starrte auf das Fladenbrot in meinen Händen; mir war der Appetit vergangen. »Wirst du dich wohl beeilen!«, stieß Laio plötzlich hervor. »Ich muss mich noch anziehen und fertig machen.« Als ich das Tablett beiseite schob, zwang ich den Tumult aus Zweifeln und Aufregung in eine kleine Kammer in meinem Hinterkopf und warf die Tür ins Schloss. Sollte ich auch nur einen Hauch von Nervosität zeigen, würde Laio die Fassung verlieren, und dann steckten wir beide in Schwierigkeiten. Ich mochte ja die Beweise haben, um Kaeska zu verurteilen, aber Laio war diejenige, die wusste, wie dieses so genannte Rechtssystem funktionierte, welche Argumente Shek Kul beeinflussten und wie Kaeskas Verstand arbeitete,, wenn sie versuchte, ihrem Schicksal zu entgehen. Ich brauchte eine ruhige, selbstbewusste Laio mit scharfem Verstand, damit sie uns einen Weg durch das komplizierte Geflecht bahnen konnte, das der Haushalt des Kriegsherrn darstellte. Ich suchte ihr das extravagante goldene Kleid heraus, das mit leuchtend blauen Seidenfäden durchzogen war, sowie ein 465
kaiserliches Lösegeld an Edelsteinen für ihren Hals, die Arme und die Füße. Ihr Haar steckte ich mit juwelenbesetzten Nadeln so hoch auf, dass sie weit größer erschien, als sie in Wirklichkeit war; überdies war sie durch diese Frisur gezwungen, mit hoch erhobenem Kopf zu gehen. Laio saß die ganze Zeit wie eine Statue da und verzog auch nicht das Gesicht, als ich es ihr im komplizierten Stil einer Aldabreshiadeligen anmalte: Schwarz für Augen und Augenbrauen verbunden mit etwas Azurblau und Gold von ihren Wimpern bis zum Haaransatz; die Wangen wurden dramatisch mit Rouge betont, die Lippen mit einem kräftigen Rot. Als ihr Mund sich der weichen Berührung des Pinsels ergab, hielt meine Hand kurz inne, und unsere Blicke trafen sich. »Hier geht es um mehr als nur um die Rivalität zwischen Ehefrauen oder um eine Unannehmlichkeit, die Shek Kul beseitigt wissen will«, erklärte Laio nüchtern. »Magie zu wirken ist ein wahrhaft widerwärtiges Verbrechen, und es muss bestraft werden. Ich hätte diese Anklage auch dann erhoben, wenn es Mahli gewesen wäre, die du belauscht hättest. Das solltest du wissen.« Ich wusste, dass Laio es ernst meinte, egal was ich von diesem so genannten Verbrechen halten mochte. »Ihr erfüllt Eure Pflicht Shek Kul und der Domäne gegenüber«, erwiderte ich mit dem gleichen feierlichen Ernst. »Ich wiederum werde alles in meiner Macht tun, Euch dabei zu unterstützen.« Laio atmete tief durch; es dauerte einen Augenblick, bis sie meine Worte verarbeitet hatte. Sie ging zum Fenster, um über die Meerenge hinweg zu den entfernten Hügeln zu blicken, und ohne auf die sich unten drängende Menge zu achten, stand sie eine Zeit lang schweigend da und bereitete sich vor. Ich blickte 466
sie an und fragte mich, ob ich weiter mit ihr reden sollte, doch ich entschied mich dagegen und kümmerte mich stattdessen um mein eigenes Erscheinungsbild. Mit Hilfe einer Bürste polierte ich mein Kettenhemd und reinigte dann auch meine Hände. Nachdem ich mich gesäubert hatte, zog ich die grün-schwarze Seidenjacke mit dem Wappen der Domäne über, die ich normalerweise trug, wenn Adelige von anderen Inseln auf Besuch kamen. Ich richtete den Kettenpanzer und wollte gerade mein Schwert umschnallen, als Laio sich wieder bewegte. »Neben der Tür steht eine Truhe«, sagte sie geistesabwesend; ihr Blick war noch immer auf die fernen Hügel gerichtet. Ich drehte mich um und sah eine kleine, mit Bronze beschlagene Truhe aus rotbraunem Holz. Als ich sie öffnete, fand ich einen breiten Gürtel mit in Silber gefassten Edelsteinen, die in Größe und Schnitt geradezu arrogant wirkten. Nachdem ich mir ebenso geschmückte Armschienen angezogen hatte, nahm ich einen Aldabreshikriegshelm heraus; so etwas hatte ich bis jetzt noch nie getragen. Er saß eng am Kopf und besaß einen Kettenschleier, um Hals und Schultern zu schützen, sowie einen Nasenschützer. Ein Silberband lief um den ganzen Helm, auf dem irgendwas in Aldabreshischrift geschrieben stand. Ich setzte den Helm mit einem seltsamen Gefühl der Vorahnung auf. Was da wohl unmittelbar über meinen Augen geschrieben stand? »Nun bist du Insulaner.« Laio nickte zufrieden. Ich brachte ein müdes Lächeln zustande. Auf jeden Fall sah ich so aus, doch bei diesem Schauspiel von Gerichtsverfahren musste ich aller Welt beweisen, dass ich Laios Mann war, Shek Kuls und der Domäne – in dieser Reihenfolge. Wie sollte ich das tun, wenn ich selbst nicht daran glaubte? Ich hatte meinen Eid schon geschworen, lange bevor man mich hierher gebracht 467
hatte, und ich war der Einzige, der ihn wieder zurücknehmen und jemand anderem geben konnte. Meine Loyalität Laio oder Shek Kul gegenüber war keinen Lescaripfennig wert. Ich hatte jede freie Minute damit verbracht, mir einen Fluchtplan auszudenken. Welchen Sinn machte es da noch, wenn ich auf meine Ehre schwor? Ich wandte mich von diesen eher gedanklichen Fragen ab und meiner gegenwärtigen Situation zu. Der Elietimm war mein Problem, er und seinesgleichen, die irgendwie dafür verantwortlich waren, dass ich hier in Sklaverei leben musste. Ich tat das hier nicht für Laio oder die Domäne, ich wollte Rache für mich selbst, auch wenn die unglückliche Schlampe Kaeska dafür schreckliche Qualen leiden musste, falls ich Erfolg hatte. Ich schnappte nach Luft, als ich mich plötzlich an die Visionen erinnerte, die Viltred mir gezeigt hatte. Diese Elietimm stellten eine Bedrohung für alles dar, dem ich die Treue geschworen hatte. Das allein schon rechtfertigte meine Taten hier ... oder? Würde mich ein Erfolg meinen Pflichten näher bringen, die ich mir selbst und aus freiem Willen auferlegt hatte? Und würde ich den Preis für diesen Erfolg – Kaeskas Tod – vor Saedrin rechtfertigen können, wenn die Zeit gekommen war? Es war zu spät für solche Fragen; jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig, als die Sache durchzuziehen. Es war Zeit zu handeln und sich den Konsequenzen zu stellen, je nachdem, wie die Runen fielen. Es war ein Augenblick, wie jeder Soldat sich ihm stellen musste, wenn er sein erstes Jahr in der Miliz überleben wollte. Ich trat an Laios Seite, blickte aufs Meer hinaus und fragte mich, was Livak wohl in diesem Augenblick tun mochte, während ich beobachtete, wie die Schatten länger wurden. Über uns 468
erklang ein Horn, das ich noch nie gehört hatte. In der zunehmenden Dunkelheit sah ich Leuchtfeuer flackern, deren Signal von den entfernten Inseln beantwortet wurde. Was auch immer heute Nacht hier geschehen mochte, es betraf die gesamte Domäne. »Komm.« Laio drehte sich um und ging voraus; sie trug den Kopf hoch erhoben, und ihre Haltung war königlich. Auch ich richtete mich auf, als ginge ich zu einer Privataudienz beim Kaiser, und fiel mit ihr in Gleichschritt. Als wir die Treppe erreichten, traten Gar und Sezarre aus ihren Gemächern. Sie waren ebenso prächtig gewandet, ihre Gesichter ebenso ernst. Seite an Seite und im Gleichschritt verließen wir das Palastgebäude. Schweigend teilte sich die Menge vor uns, bevor sie sich hinter uns wieder schloss, um uns wie die Flut zu folgen. Wir überquerten das Gelände und betraten eine große Halle, in der ich noch nie gewesen war. Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, gelassen zu bleiben, während ich meine Umgebung in mich aufnahm. Dies war Shek Kuls Audienzsaal, der Herz der Domäne, der Sitz seiner Macht. Es war eine weitläufige Säulenhalle mit Wänden aus glänzendem schwarzem Marmor, in den falsche Torbögen aus grünem Stein eingelegt waren, neben denen Fackeln brannten, deren Licht von unzähligen Spiegeln in den Nischen verstärkt wurde. Hoch über unseren Köpfen hatte man die Fenster geöffnet, und eine sanfte Brise brachte frische Luft herein und ließ die seidenen Banner wehen, die vom Dach hingen. Trotz der Geräusche der Menge waren das Rascheln und Flattern der Seide deutlich zu hören. Weihrauchbrenner erfüllten die Luft mit ihrem Duft, und unzählige Fliegenfächer verursachten ein leises klatschendes Geräusch. 469
Unsere Schritte hallten über den Boden, doch das Geräusch ging im Raunen der Masse unter, die sich bereits an den Wänden versammelt hatte; noch mehr drängten sich zur großen Tür herein. Wir schritten das Hauptschiff hinunter bis zu einem abstrakten Symbol aus grünem Marmor, das vor drei breiten Stufen in den Boden eingelassen war. Shek Kul blickte von der Empore auf uns hinunter. Er saß auf einem schweren Thron aus schwarzem, mit Silber und Juwelen eingelegtem Holz. In dramatischem Gegensatz zu uns war der Kriegsherr in schlichtes Weiß gekleidet. Haar und Bart waren schmucklos; nur um den Hals hing ein großer Smaragd an einer Goldkette. Mit einer knappen Geste winkte er Laio und Gar an seine Seite, ohne dabei die Miene zu verziehen. Ich stellte mich an Laios Seite und hätte gern einen Blick mit Sezarre getauscht; das aber wäre nur möglich gewesen, hätte ich den Kopf gedreht. Bevor ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, was Shek Kuls Gewandung wohl bedeuten mochte, ging ein leises Raunen durch die Menge, und die Türwachen traten beiseite, um Kaeska Shek hereinzulassen. In dem Raunen nahm ich einen mitfühlenden Unterton wahr, was mir Grund zur Sorge gab. Kaeska war eine verlorene Gestalt, winzig in der riesigen Halle, und ihre nackten Füße platschten leise über den Marmorboden, während sie sich dem Richterstuhl näherte. Sie hatte das Haar zu einem schlichten Zopf geflochten; ihr Gesicht war ungeschminkt und verletzlich, und sie trug nur ein schlichtes Kleid aus ungebleichter Baumwolle. Zwar ließ ich mir meine Verachtung nicht anmerken, doch ich konnte nicht umhin, rasch einen Blick zu Shek Kul zu werfen, um zu sehen, wie er auf dieses Schauspiel der Reue reagieren würde. Zu meiner 470
Erleichterung glaubte ich, einen Hauch von Spott in seinen dunklen Augen zu sehen. Als ich mich nach dem Elietimmpriester umschaute, sah ich, dass er Kaeska folgte; er hatte den Abstand zu seiner Komplizin gut gewählt, um nicht von ihrem Schauspiel abzulenken. Das laute Knallen der großen Tür riss mich aus meinen Gedanken. Als der schwere Riegel hinunterfiel, kam ich mir ebenso gefangen vor wie Kaeska, während der fiebrige Geruch der Erwartung die Düfte des nächtlichen Gartens vertrieb. Als Shek Kul sich erhob und Kaeska fest anblickte, atmete ich tief durch. »Du wirst der Anstiftung zur Hexerei in meiner Domäne beschuldigt, Frau. Was antwortest du darauf?« »Ich bestreite es.« Kaeskas Antwort war kaum mehr als ein Flüstern, und ein halb ersticktes Schluchzen erregte das Mitgefühl jener Zuschauer, die ihr am nächsten standen. »Dann will ich jetzt die Anklage hören.« Shek Kul blickte zu mir, und ich glaubte, einen Hauch von Ermutigung in seinem Gesicht zu sehen. »Stell dich neben Kaeska«, murmelte Laio, ohne dabei die Lippen allzu weit zu öffnen, und ich marschierte die Stufen hinunter. Zu meiner Freude sah ich einen Hauch von Verzweiflung in Kaeskas Augen, als ich in der Rüstung der Domäne über ihr aufragte. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mir inmitten des grünen Marmorwappens eher nackt vorkam. »Sag nur die Wahrheit, oder trage die Folgen.« Von unten betrachtet, sah Shek Kul noch viel bedrohlicher aus. Ich nahm eine soldatische Haltung ein und begann meine Geschichte, wobei ich auf all meine Kenntnisse der Aldabreshisprache zurückgriff, mich bemühte, so klar und deutlich wie nur möglich zu sprechen, ohne jeden Hauch von Gefühl und in 471
dem Vertrauen darauf, dass nicht ich, sondern die Tatsachen allein diese Frau verurteilen würden. Wieder ging ein Raunen durch die Menge, ebbte ab und wurde wieder lauter, doch ich blickte weiterhin fest aus Shek Kul und sprach mit ihm, als wären wir allein auf den windgepeitschten Ebenen von Dalasor. Als ich schließlich verstummte, war die Spannung in der Luft mit Händen zu greifen. »Was sagst du dazu?«, wollte Shek Kul von Kaeska wissen. »Ich gestehe ...« Sie sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Schluchzen klang überlaut im erschreckten Schweigen in der Halle. »Du ...« Shek Kul war so überrascht, dass er fast aufgesprungen wäre, doch im letzten Augenblick beherrschte er sich. Ich blickte zu Laio. Sie war so blass unter ihrer Schminke, dass ich glaubte, sie würde in Ohnmacht fallen. »Nicht die Hexerei!« Kaeska riss den Kopf hoch, und trotz der Tränen war der Blick ihrer Augen klar und berechnend. »Keine Magie, niemals, o nein, Mylord, ich ...« Ein Schluchzen unterbrach sie. »Ich gestehe die tödliche Schwäche und Torheit, dem Festlandrauch verfallen zu sein. Ich habe nun schon so lange nach einer Heilung für meinen Herzensschmerz gesucht, weil ich keine Kinder gebären kann ... weil mein Blut leer ist und ich die Domäne nicht nähren kann ...« Gequält schloss sie die Augen und schlug sich die Hände vor die Brust, und ihr Mund bewegte sich, ohne dass ein Wort hervorkam. Für eine so schrecklich leidende Frau bietet sie eine tolle Vorstellung, dachte ich. »Auf meinen Handelsreisen – die einzige Möglichkeit, wie ich dieser Domäne dienen kann – habe ich immer wieder von 472
dem Festländerrauch gehört, von dem es heißt, er könne einem die schwerste Last vom Herzen nehmen. Ich war versucht, doch ich habe widerstanden, das müsst ihr mir glauben. Ich habe widerstanden, bis ich hörte, dass Mahli der Domäne jenen Segen bringt, bei dem ich versagt habe. Schmerz, Neid und Eifersucht haben an mir genagt, Mylord, obwohl ich mich doch hätte freuen sollen. Mit dem Schmerz ob meines unfruchtbaren Leibes konnte ich leben, jedoch nicht mit der verabscheuungswürdigen Kreatur, zu der ich geworden war. Ich habe zu dem Rauch gegriffen, um vor mir selbst zu fliehen, vor der Verderbtheit, die in mir schwärte!« Ihre Stimme, die während dieser zunehmend wilden Rede immer lauter geworden war, verwandelte sich in eine heftiges Schluchzen. Kaeska warf sich auf den Boden und versuchte, die Finger in den Stein zu krallen. Ich wahrte die Haltung und verzog keine Mine, doch ein Blick in die Gesichter verriet mir nur allzu klar, welchen Eindruck Kaeska und ich auf die Zuschauer machen mussten: Die winzige, schutzlose Kaeska, die hier die schrecklichsten Geheimnisse ihres Herzens enthüllte, während ich in schillernder Rüstung prahlerisch über ihr stand, die Augen vom Helm verborgen, und mein Schwert baumelte über ihrem entblößten Hals. Die Zuschauer diskutierten immer lauter, bis Shek Kul sich erhob und gemessenen Schrittes herunterkam. »Beruhige dich.« Seine sanften Worte hallten bis in den entferntesten Winkel der Halle, als er sich neben die weinende Frau kniete. Er ergriff Kaeskas Hand, zog sie auf die Knie und wischte ihr mit einem Seidentuch die Tränen aus den Augen. »Warum klagt dieser Sklave dich der Hexerei an?« Innerlich seufzte ich vor Erleichterung, als ich die Entschlossenheit in 473
Shek Kuls Stimme hörte. Kaeska breitete hilflos die Hände aus. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen, ich ... Mylord, vergebt mir meine Torheit, mein Versagen! Ich habe lange Tage der Qual als Sühne für meine Schwäche verbracht. Ich werde Euch eine gute Frau sein. Erhebt Laio und Gar über mich, und ich werde meinen Platz als Letzte der Frauen einnehmen. Meine Übertretungen waren schlimm, doch ich habe meinen Irrtum erkannt. Lasst mich einen neuen Anfang machen, so wie die Geburt Eures Sohnes einen neuen Anfang für die Domäne markiert. Krönt diese freudige Zeit mit dem Juwel der Gnade.« »Wenn dieser Sklave keine Hexerei gesehen hat, was hat er dann gesehen?« Shek Kul stand auf, verschränkte die Hände vor der Brust und blickte mit ernstem Gesicht auf Kaeska hinunter. »Darf ich sprechen?« Die zurückhaltenden Worte des Eisländers riefen ein Zischen der Zuschauer hervor, doch Shek Kuls Blick verriet mir, dass er keineswegs überrascht war. »Ich werde dich anhören.« Der Elietimm trat aus dem Schatten einer Säule, wo er gewartet hatte, ins Licht am Rand des marmornen Wappens. »Ich muss mich in aller Demut für meine Rolle bei dieser Affäre entschuldigen.« Er hielt kurz inne und schüttelte den Kopf, während er die kniende Kaeska betrachtete. »Ich bin es, der Eure Frau mit dem Rauch versorgt hat. Ich hatte die Blätter gekauft, um sie zu mir nach Hause zu bringen; unsere heiligen Männer verwenden diese Blätter, um ihren Geist auf eine höhere Stufe zu heben. Ich habe die schwer wiegenden Gründe nicht gekannt, warum die Aldabreshi sie von ihren Inseln verbannt sehen wollen. Ich habe lediglich versucht, die Verzweiflung Eurer Gemahlin zu lindern, indem ich ihren Geist fort von den 474
quälenden Sorgen führte. Ich wusste nicht, dass ich damit gegen eure Sitten verstoßen habe, und das tut mir von Herzen Leid.« Also war er es, der sich Kaeskas dramatisches Geständnis ausgedacht hatte. »Der Sklave hat an der Tür gelauscht, nicht wahr?« Die Schlange schaute mich noch nicht einmal an. »Die Läden waren geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und kein Vorhang war vor die Tür gezogen, wenn ich mich recht erinnere. Ich nehme an, der Luftzug hat den Rauch zu dem Sklaven getragen und Trugbilder bei ihm hervorgerufen. Bei einem unvorbereiteten Geist ist eine solche Wirkung nichts Ungewöhnliches. Ich habe nicht daran gedacht, dass der Rauch aus dem Raum getragen werden könnte.« Shek Kul blickte mich an. »Was sagst du dazu?« Ich biss mir erst einmal auf die Zunge, um nichts Unüberlegtes von mir zu geben, und zählte dann im Geiste langsam bis drei. »Nein, es war kein Trugbild.« Die Zustimmung in Shek Kuls Augen ob meiner besonnenen Antwort machte mir Mut. »Verzeih mir«, die Worte des Eisländers waren höflich, aber ich hoffte, Shek Kul würde die Feindseligkeit in den Augen des Mannes nicht entgehen, als er sich zu mir umdrehte, »aber wie kannst du dir sicher sein? Es liegt in der Natur eines Trugbildes, die Wirklichkeit bis ins Kleinste nachzubilden.« »Ich habe in meiner Jugend Erfahrung mit dem Rauch gemacht«, sagte ich in nüchternem Tonfall. »Was ich erlebt habe, glich diesem Gefühl ganz und gar nicht.« »Natürlich.« Der Elietimm nickte. »Du bist Festländer, nicht wahr?« Ich wusste, dass die Insulaner diesen Wink verstanden, und 475
Shek Kul legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich bin der Leibsklave von des Kriegsherrn Gemahlin, Laio Shek«, erklärte ich mit fester Stimme. Da war eine schlichte Tatsache und hatte nichts mit Eidbruch oder dergleichen zu tun. »Lassen wir die Frage der Wirkung dieser Droge einmal beiseite«, fuhr der Eisländer glattzüngig fort, »worauf gründet sich dein Vorwurf der Hexerei, der Magie? Auf die Riten, die du gehört und gesehen haben willst? Auf die Worte, die ich in einer Sprache gesprochen habe, von der du selbst sagst, dass du sie nicht verstehst?« Ich nickte; ich hatte nicht vor, mich auf diese Diskussion einzulassen, diente sie doch nur der Verwirrung. Zufrieden neigte der Kerl den Kopf zur Seite und wandte sich wieder an Shek Kul. »Wie ich schon sagte, verwenden die heiligen Männer meines Volkes den Rauch, um eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen. Ich kenne mich ein wenig in den Grundlagen dieser Prozedur aus, die nicht ohne Risiko ist; wir setzen Gesänge ein, um uns mit ihrer Hilfe besser konzentrieren zu können. Das hat der Sklave gehört, jedoch nicht verstanden. Mit Magie hat das nichts zu tun.« »Was ich gesehen habe, war Hexerei.« Ich hob meine Stimme über ein vernünftiges Maß hinaus, und zufrieden hörte ich das Raunen der Menge. »Und ich frage dich noch einmal: Wie kannst du dessen so sicher sein?« Der Elietimm hielt den Blick auf Shek Kul gerichtet. »Ich habe auch früher schon Magie gesehen ...« »Die Festländerscharlatane und die, deren Blut von Hexerei befleckt ist ... Willst du etwa sagen, dass du solche Leute 476
kennst?« Der Eifer des Priesters, mich in Verruf zu bringen, verriet ihn. »Ich habe diese Magie bei Leuten Eures Volkes gesehen, auf den Inseln, die ihr im fernen Ozean bewohnt«, erklärte ich kühn. Der Bastard wusste, dass ich einen Treffer gelandet hatte, und nun suchte er nach einer Abwehrmöglichkeit. »Du sagst, du hättest meine Heimat besucht? Wie bist du dorthin gekommen? Was hast du auf dem weiten Meer getan?« »Ich war auf einem Fischerboot, das der Wind und die Strömung weit vom Kurs abgebracht haben.« Was hatte der Narr geglaubt, was ich sagen würde? Dass ich auf einer Spionagemission gewesen war? Mit einem Zauberer aus Hadrumal, der dem Erzmagier persönlich unterstand? »Also weißt du nicht genau, wo du gewesen bist?« Angesichts der Umstände musste ich das eingestehen. »Hast du viel von der Insel gesehen, auf der du gelandet bist? Wie lange warst du dort?« »Lange genug, um zu wissen, dass Eure Inseln keinen der Rohstoffe besitzen, die Ihr zum Handel anbietet: kein Holz, kein Metall, kein Leder«, antwortete ich. »Lange genug, dass man mir mit Feindseligkeit begegnet ist und mich mit Magie angegriffen hat.« »Du bist kein Fischer. Was hattest du auf einem Fischerboot zu suchen?« Dieser Richtungswechsel brachte mich kurz aus dem Gleichgewicht. Als ich mein Zögern bemerkte, auch wenn es nur einen Augenblick währte, entschied ich mich für die Wahrheit. »Als eingeschworener Mann des Hauses D’Olbriot habe ich Vergeltung gesucht für die feigen und magischen Angriffe auf 477
Familienangehörige meines Herrn.« Ich sagte es nachdrücklicher, als ich beabsichtigt hatte. Die Stimmung in der Halle verlagerte sich, und ich trat mir im Geiste in den Hintern. »Offenbar muss deine Herrin dir deine alten persönlichen Bindungen noch ausprügeln, Tormalinmann.« Der Elietimm blickte mich einen Augenblick lang herausfordernd an; dann zuckte er hilflos mit den Schultern. »Ich glaube, ich kenne diese Inseln, von denen du sprichst, aber ich kann dir versichern, dass ich nicht zu den Bewohnern zähle.« »Ihr habt die Erscheinung ihrer Hexer, und Ihr sprecht ihre Sprache«, erwiderte ich stur. Mir war klar, dass nun sein Wort gegen meines stand. »Ich habe Eure Art der Magie auch schon auf dem Festland gesehen, wo Ihr sie auf bösartigste Weise gegen die Schwachen und Hilflosen gerichtet habt, um zu rauben und zu töten.« Ich konnte den Zorn nicht mehr aus meiner Stimme heraushalten, als ich mich an Messires Neffen erinnerte, blind und blutend, nachdem dieser Abschaum ihm den Verstand herausgeprügelt hatte. Wenn dieser Bastard unbedingt jeden daran erinnern wollte, dass ich Festländer war, dann würde ich diese Rune auch gegen ihn wenden. Shek Kul hob die Hand und kehrte auf die Empore zurück. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und mein Herz schlug immer schneller. »Für mich ist diese Anklage weder zufriedenstellend bewiesen noch widerlegt«, erklärte er, und seine tiefe Stimme hallte durch die Stille. »Es geht um ein schweres Verbrechen. Das muss geklärt werden! Ein Kampf Mann gegen Mann wird die Wahrheit ans Licht bringen – morgen zur Mittagszeit.« Verwirrt blickte ich zu Laio, doch nur um blankes Entsetzen 478
in ihren Augen zu sehen. Sie sprang auf und brachte damit den Saal zum Schweigen, der sich nach Shek Kuls Worten in wilden Spekulationen erging. »Wo ist der Leibsklave von Kaeska Shek, der ihre Unschuld verteidigen soll?« »Ja, wo ist Irith?« Shek Kul blickte zu Kaeska, die sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen konnte, bevor sie abermals verzweifelt zu schluchzen begann. »Er ist tot, mein treuer Diener. Meine Dummheit hat ihn das Leben gekostet. Außer den Rauchblättern habe ich auch ein paar Beeren erstanden, um meinen Geist zu betäube. Ich wusste, dass man nicht mehr als eine davon auf einmal essen darf, doch Irith hat sie gefunden und alle auf einmal heruntergeschlungen!« »Der Kommandant der Wache wird seinen Leichnam untersuchen.« Shek Kuls Ankündigung erfüllte Kaeska mit Entsetzen, sodass sie schwieg und ihren Gemahl anstarrte – diesmal mit echter Verzweiflung in den Augen. Ich wusste nicht, warum sie sich so aufregte. Eine Thanvergiftung ist eine Thanvergiftung; niemand kann herausfinden, wer dahinter steckt. Der Elietimm trat vor, um die Aufmerksamkeit von Kaeska abzulenken; er gab sich demütig und besorgt. »Da es meine unbedachten Taten waren, welche die Dame dieser Anklage ausgesetzt haben, möchte ich Wiedergutmachung leisten, indem ich ihre Ehre verteidige. Ich bin kein Schwertkämpfer, doch kann ich recht gut mit dem Streitkolben umgehen.« Shek Kul blickte ihn an. Nun, da er sein Urteil gefällt hatte, war ihm seine Verachtung deutlich anzusehen. »Das erscheint mir angemessen.« Ich schluckte meinen Widerspruch herunter, als ich Laios flehentlichen Blick sah. Innerlich vor Wut schäumend wartete 479
ich, bis zuerst Shek Kul und dann die beiden Frauen von der Empore hinunterstiegen. Trotz Laios giftiger Blicke nahm Kaeska ihren Platz neben Gar ein. Sezarre trat zwischen mich und den Elietimm, und das war auch gut so. Ich war dermaßen wütend, dass ich dem Bastard am liebsten hier und jetzt das Schwert in den Leib gerammt hätte. Genau das mussten Kaeska und der Hexer die ganze Zeit im Sinn gehabt haben. Wir kehrten in den Palast zurück. Die Wut trieb mich so schnell voran, dass Laio ihren Platz vor mir nur behalten konnte, indem sie bisweilen fast rannte. Kaum waren wir in ihren Gemächern angelangt, drehte ich mich zu ihr um. Es war mir egal, wer oder was uns durch die dünnen Wände hören konnte. »Was soll das von wegen Kampf Mann gegen Mann? Davon habt Ihr nie etwas gesagt! Ihr wart sicher, dass Shek Kul so versessen darauf ist, die Schlampe loszuwerden, dass er kaum zum Luftholen kommen würde! Was geht hier vor?« Ich riss mir Helm und Armschützer herunter und schleuderte beides so wütend zu Boden, dass sich ein Edelstein aus der Fassung löste, doch das war mir egal. »Ich hätte nie gedacht, dass Shek Kul auf ein solches Mittel zurückgreift, um die Wahrheit herauszufinden.« Laio war sichtlich aufgeregt, doch ich hatte andere Dinge im Kopf, als ich mein Kettenhemd auszog. »Wo gibt es denn in einem Kampf Gerechtigkeit? Mit Irith hätte ich ohne Zweifel fertig werden können, egal ob Kaeska nun unschuldig ist oder nicht – das war vermutlich der Grund, warum sie den armen Kerl jetzt endgültig fertig gemacht haben! Nun muss ich gegen diesen verfluchten Hexer kämpfen, der nicht nur hervorragend mit einem Streitkolben umzugehen versteht, sondern auch Magie gegen mich einsetzen wird, dar480
auf möchte ich wetten!« Laio versuchte, meinem schnellen und leidenschaftlichen Tormalin zu folgen. »Das wird er nicht wagen«, erwiderte sie. »Wer soll es denn herausfinden? Wer will denn sagen, dass dieser oder jener kleine Zauberspruch kein Kriegsschrei ist? Wird Shek Kul den Kampf abbrechen, wenn ich zurückweiche und erkläre, dass der Bastard mir den Kopf umdreht? Wie genau funktioniert diese Wahrheitsprüfung?« Ich schwitzte und schüttelte mir fluchend das gepolsterte Wams von den Schultern. »Es ist ein Kampf bis zum Tod – zwei Männer, jeder mit einer Waffe und in Rüstung.« Laio war den Tränen nahe. »Hat der Kampf begonnen, endet er erst, wenn einer tot am Boden liegt. Jeder, der sich aus dem Kampf zurückzieht, wird für schuldig befunden und hingerichtet.« »Egal, auf welche Seite? Wenn ich plötzlich zurückweiche, ist mir eine Fahrt mit Poldrion sicher?« Verunsichert hob Laio die Hände; sie verstand die Bedeutung meiner Worte nicht. »Die Prüfung ist eine ernste Angelegenheit. Shek Kul hätte nie danach verlangt, hatte er es nicht als dringend geboten erachtet. Du sagst die Wahrheit, also wirst du siegen!« Ich blickte sie an und schalt mich einen Narren, weil ich mich auf sie verlassen hatte. Nun sah ich ihre Jugend mit anderen Augen. Ich war hier so weit abgetrieben, dass ich dem erstbesten Leuchtfeuer gefolgt war – nur um festzustellen, dass es mich mitten in eine Nebelbank geführt hatte. »Shek Kul will Kaeska loswerden, aber er will nicht ihr Blut an seinen Händen haben, nicht wahr? Hier geht es nicht um Wahrheit oder Gerechtigkeit. Shek Kul will sie nur nicht selbst 481
verdammen!« Ich war genauso wütend auf mich selbst wie auf Laio. Ich war so versessen darauf gewesen, dem Elietimm die Zähne zu ziehen, dass ich darüber das Denken vergessen hatte. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, meine Wut nun an Laio auszulassen. »Ihr wart ja so zufrieden mit Euch selbst, nicht wahr? Jetzt muss ich gegen den verfluchten Hexer antreten, der mit meinem Verstand machen kann, was er will. Ich hoffe, nun seid Ihr noch ein wenig mehr zufrieden. Morgen um diese Zeit werde ich tot sein, und Kaeska wird man für so unschuldig erklären wie einen Säugling, sodass sie vergiften kann, wen immer sie will. Aber Ihr müsst natürlich auch die guten Seiten betrachten: Ihr und Gar könnt eine schöne Reise nach Relshaz planen, um Euch einen neuen Sklaven zu kaufen. Passt diesmal nur ein bisschen besser auf. Mit ein wenig Glück leben das Kind und Mahli bei Eurer Rückkehr noch!« »Du machst sehr viel Wind ...«, begann Laio mit zitternder Stimme. »Nein, mein Täubchen!« Ich packte sie am Kinn, als sie sich umdrehen wollte, und blickte ihr in die Augen. »Ich stelle mich jedem in einem fairen Kampf – Grival, Sezarre, dem Hauptmann der Wache. Ich vertraue auf mein Können und nehme die Runen, wie sie fallen. Aber das hier ist etwas anderes; das hier ist Magie. Und nicht ehrliche Magie – Luft, Erde, Feuer und Wasser –, sondern eine Form von Hexerei, die in deinen Verstand eindringt und ihn gegen dich selbst richtet.« Ich drückte Laio die Hand auf den Kopf, um meine Worte zu unterstreichen, und spürte, wie sie unwillkürlich zusammenzuckte. »Einer dieser Hundesöhne ist schon einmal durch meinen Kopf getobt. Ich habe versucht, dagegen anzukämpfen, und ich weiß, 482
dass ich es nicht kann!« »Wenn dieser Mann Magie einsetzt, bedeutet das den Tod für ihn und Kaeska ...«, begann Laio, und eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich werde tot sein, bevor jemand es bemerkt!« Ich zog meine Hände zurück und schaute mich im Zimmer um. Eine Karaffe mit schwachem Aldabreshiwein stand auf einem Beistelltisch. Ich setzte an, mir einen Becher einzuschenken, entschied mich dann aber anders und trank direkt aus der Karaffe. »In diesem Drecksloch bekommt man noch nicht mal etwas Ordentliches zu trinken!« Das Klirren der zerbrechenden Karaffe erschreckte Laio so sehr, dass sie vollends in Tränen ausbrach; mich aber brachte es wieder zu Verstand. Ich schüttelte den Kopf. Laio war noch sehr jung. Man durfte von ihr nicht erwarten, um die gleichen Einsätze zu spielen wie Kaeska und dann auch noch zu gewinnen. Das hätte ich wissen müssen. »Hör auf zu weinen.« Ich legte die Hand auf Laios zitternde Schulter. Sie drehte sich um und warf sich an meine Brust, und ihre Tränen drangen durch den dünnen Stoff meiner Untertunika. »Es tut mir Leid«, schluchzte sie. »Es schien mir eine gute Idee zu sein ... ein Möglichkeit, Kaeska loszuwerden. Ich dachte, Shek würde sich freuen, zumal ich im Augenblick kein Kind will ... ich will einfach nicht, nicht nach gestern, und ich habe viel Ärger wegen der Baumwolle, aber wenn Gar mir helfen würde, käme ich schon zurecht, solange Kaeska nicht hier ist, um mir Ärger zu machen, und Nai ist so niedlich; ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm oder Mahli etwas zustoßen würde, und es wäre alles meine Schuld, wenn ich wüsste, dass Kaeska 483
etwas plant und ich nichts tun würde, um sie aufzuhalten ...« Ihr ging der Atem aus, und sie hustete ob der Tränen. Ich seufzte, drückte sie kurz an mich und war überrascht, als sie sich wie ein ertrinkendes Kätzchen an mich klammerte. »Pssst. Was getan ist, ist getan.« Ich war zwar nicht gerade von Zuversicht erfüllt, aber wenn ich gegen den Hexer überhaupt eine Chance haben wollte, brauchte ich ein wenig Schlaf; ich konnte es mir nicht leisten, Laio die halbe Nacht in ihrer Verzweiflung zu trösten. »Lass uns zu Bett gehen.« Laio hob ihr tränennasses Gesicht und legte verwirrt die Stirn in Falten. »Na gut, wenn du willst.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste mich auf den Mund und drückte sich an mich. Das hatte eine unmittelbare Reaktion zur Folge, als mein Körper die Botschaft einen Wimpernschlag vor meinem Verstand empfing. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, um dieses Missverständnis zu beseitigen, schlang Laio mir die Arme um den Hals, um mich näher zu sich heranzuziehen, und öffnete einladend den Mund. Sofort erwiderte ich ihren Kuss, forderte sie heraus, obwohl ich wusste, wie unangebracht das war; aber genauso war mir bewusst, dass ich morgen um mein Leben würde kämpfen müssen, und das mit einem lahmen Bein und gegen einen Hexer, der mit mir machen konnte, was er wollte. Laio fühlte offenbar die Veränderung in mir und presste ihre Schenkel gegen mich. Meine Skrupel wurden immer schwächer, und meine Erregung wuchs. Bei Dast, morgen bei Sonnenuntergang konnte ich tot sein, und wenn der zum Tode Verurteilte schon keine Henkersmahlzeit bekam, nahm ich halt, was mir geboten wurde. Meine Hand glitt hinunter, und ich spielte durch die Seide ihres Kleides hindurch an ihrer Brust; ihre Brustwarze reagierte sofort auf meine Berührung. 484
Dann ging alles sehr schnell. Keiner von uns beiden hielt auch nur einen Augenblick inne, um nachzudenken; beide konzentrierten wir uns nur auf unsere Leidenschaft. Laio kannte Dinge, die in mir die Fragen aufkommen ließen, wo Aldabreshimädchen erzogen wurden, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war. Dennoch hatte sie nichts von einer Hure; sie genoss nur ihren Körper und den meinen. Als sexuelle Erfahrung war das sehr bemerkenswert. Lange Zeit danach, als wir auf dem zerwühlten Bett lagen und der Schweiß über unsere Körper strömte, zog ich eine Decke über uns als Schutz vor der Kälte der Nacht, und so schliefen wir ein. Auch wenn Laio mir eine einzigartige Freude geschenkt hatte, musste ich lächeln, als ich bemerkte, dass meine letzten Gedanken Livak galten.
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Die Kammer von Planir dem Großen in der verborgenen Inselstadt Hadrumal 7. Vorsommer
»Mach dir keine Sorgen. Ich weiß genau, wo Ryshad ist. Wir haben alles, was wir brauchen, um ihn zu retten.« Selbstbewusst sprach Planir mit Shivs Bild, das winzig und von einem goldenen Licht umrahmt in dem Stahlspiegel erschienen war, vor dem eine einzelne Kerze brannte. »Wie kommst du voran?« Der Erzmagier trug ein Hemd und saß an einem Tisch in einem mit Holz verkleideten Studierzimmer. Die Abendsonne versank hinter den Türmen von Hadrumal, und nur noch vereinzelt fiel ein Sonnenstrahl durch das Fenster neben ihm. »Ich fürchte, Viltred ist ziemlich ... schwierig.« Shivs gedämpfter, dünner Stimme war die Verzweiflung anzuhören. »Er will nur so rasch wie möglich nach Hadrumal. Anderswo fühlt er sich nicht mehr sicher, nachdem Ryshad einfach verschwunden ist.« »Sag ihm, er soll sich wegen Ryshad nicht den Kopf zerbrechen«, wiederholte Planir und ballte unter dem Tisch die Faust, sodass Shiv es durch den Spiegel nicht sehen konnte. »Wir brauchen Viltred, um Lord Finvar davon zu überzeugen, uns die Aufzeichnungen dieses Schreins zu überlassen. Ich zähle darauf, dass der Mann Respekt vor seinem alten Lehrer hat; alles andere hat bis jetzt nicht funktioniert.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Viltred derzeit bei irgendjemandem Respekt bewirken kann«, antwortete Shiv säuerlich. »Er ist alt und müde, und er fürchtet sich vor allem und 486
jedem, von Elietimm bis hin zu Schattenmännern. Es muss jemand anderen geben, den Ihr schicken könnt.« »Casuel? Der ist auf dem Weg nach Toremal, um Junker Camarl bei der Suche nach Material über die verlorene Kolonie zu helfen. Nein, Shiv, ich kann niemanden entbehren.« Der Unterton in Planirs Stimme untersagte jede weitere Diskussion. »Wenn Cas die einzige andere Möglichkeit ist, wird Viltred reichen müssen.« Shiv verzog das Gesicht, lehnte sich im Stuhl zurück, strich sich mit den Fingern durch Haar und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. »Bitte sag Viltred, er soll tun, was er kann. Sag ihm, dies sei eine besondere Bitte von mir an ihn persönlich. Ich verstehe seine Lage, und sobald ihr das Archiv habt, werde ich einen Machtnexus heraufbeschwören, mit dem du Verbindung aufnehmen kannst, um direkt hierher zu kommen.« Planirs Tonfall war freundlich, doch seine Finger trommelten unruhig auf der alten, ausgebleichten Hose. »Ich werde mein Bestes tun, doch Saedrin bewahre mich davor, irgendwann noch einmal das Kindermädchen für einen senilen alten Magier spielen zu müssen«, seufzte Shiv. »Im Augenblick sind wir in Claithe. Sobald wir Livaks Pferd haben beschlagen lassen, machen wir uns wieder auf den Weg. Bei gutem Wetter sind es nur ein paar Tage bis Lord Finvars Lehen.« »Du hast diese Frauen immer noch dabei?« Planir runzelte die Stirn. »Warum?« »Sie wollen uns nicht verlassen, bis sie nicht wissen, was mit Ryshad geschehen ist und mit eigenen Augen gesehen haben, dass Ihr alles nur Menschenmögliche tut, um ihn wieder zurückzuholen.« Shivs Bild zeigte ein reumütiges Lächeln. »Könnt 487
Ihr Euch das vorstellen? Livak bietet uns tatsächlich an, die Bücher für uns zu stehlen, sollte Lord Finvar sich weigern, sie herauszugeben. Allerdings unter der Bedingung, dass der gesamte Rat seine Fähigkeiten aufbietet, um Ryshad zu finden. Wir könnten einen weiteren Vorteil haben: Halice glaubt, den Hauptmann der Wache von Lord Finvar aus ihren Söldnertagen zu kennen. So oder so, wir werden Euch diese Aufzeichnungen besorgen, Erzmagier.« Planir schüttelte den Kopf und grinste. »Ich freue mich, dass du Entschlusskraft zeigst, Shiv. Vergiss aber nicht: Lass Livak nur los, wenn ihr keine andere Wahl mehr habt. Ihre Dienste sind sehr teuer, wenn ich mich recht entsinne!« Shiv lachte, als das Zauberbild sich auflöste, und Planir löschte die Kerze mit einem Wort. Der Erzmagier strich sich mit der Hand übers Gesicht, rieb sich den Nacken und stieß einen leisen Fluch aus, als ein Klopfen an der Eichentür ertönte. »Herein.« »Hat sich schon etwas ergeben wegen dieses Arimelinarchivs von Finvar?« Usara betrat den Raum. Das Gesicht des Magiers war eingefallen vor Müdigkeit. »Hast du inzwischen irgendeine Spur von diesem unheiligen Schwert gefunden?«, konterte Planir, stand auf und ging zu einer schlichten, aber eleganten Anrichte. »Likör?« »Danke, ja. Pfefferminz.« Mit einem lauten Seufzer ließ Usara sich auf einen dick gepolsterten Stuhl fallen und legte die Füße auf einen kleinen Tisch, ohne die Dokumente darauf zu beachten. »Nein. Wir können einfach keinen Kontakt zu dem dreimal verfluchten Ding herstellen.« »Allmählich glaube ich, dass es vielleicht doch besser wäre, wenn D’Olbriots Mann das Zeitliche segnet«, sagte Planir grim488
mig. »Sollte das geschehen, finden wir vielleicht eine Spur von dem Schwert.« »Nur wenn es der Mann ist, der vor uns abgeschirmt ist, und nicht das Schwert.« Usara nippte am Likör und seufzte genüsslich. »Wie dem auch sei, ich kann mir nicht vorstellen, dass D’Olbriot dich weiter in Toremal unterstützen wird, wenn schon wieder ein Mann von ihm verloren geht – und mit ihm ein wertvolles Familienerbstück, das vermutlich sogar in den Händen eines unbekannten Feindes landen wird.« »Ja, da hast du wohl Recht.« Planir starrte in die Tiefen seines eigenen Glases. »Glaubst du, dass Viltred irgendwas Nützliches wird beitragen können? Zu den Weitsichtbemühungen? Und nimm deine Füße von Kalions Vorschlägen zum Neubau der Leitungen zu den Badehäusern, ja?« »Wenn sie ein wenig zerknittert sind, wird es so aussehen, als hättest du sie gelesen.« Der junge Magier zeigte keine Reue. »Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass Viltred etwas zu unseren Bemühungen beitragen könnte. Er war schon ausgebrannt, bevor er vom Arsch Caladhrias gefallen ist, und ich glaube nicht, dass ein paar Jahre unter Bauern dafür sorgen konnten, dass er sich wieder erholt hat. Trotzdem, er wird uns vielleicht nützlicher sein, als er weiß, wenn er uns dieses Archiv besorgt. Wir müssen einen Schlüssel zu diesen unheiligen Träumen finden, damit wir sie kontrollieren können, wenn die Verbindung zu dem Artefakt erst einmal hergestellt ist. Hat Otrick noch irgendwelche anderen Arimelinschreine gefunden, die sich auf die Zeit vor dem Chaos zurückdatieren lassen, oder ist das noch immer der Einzige?« »Bitte? Was hast du gesagt?« Planirs Blick war auf einen dicken Stapel Pergamente unter Usaras Füßen gerichtet gewesen. 489
»Ich sage dir, Sar, es gibt Zeiten, da bin ich versucht, Kalion loszulassen. Soll er doch all seine pompösen Pläne über die Restauration der Zauberei dem Rat vortragen. Ich könnte dann einfach sagen: ›Gut. Ich gebe auf. Übernehmt Ihr das Amt des Erzmagiers, Herdmeister, bis eine ordentliche Wahl durchgeführt werden kann, und Misaen stehe Euch bei!‹« Der Erzmagier streckte die Hand aus und musterte seinen schweren goldenen Amtsring. Der Brillant in der Mitte funkelte im Licht der untergehenden Sonne und fing die Farben der ihn umgebenden kostbaren Steine ein: Saphir, Bernstein, Rubin und Smaragd. »Luft, Erde, Feuer und Wasser ... Wir können damit tun, was wir wollen, nicht wahr, Sar? Jedenfalls glaubt es das einfache Volk. Ich bin der Erzmagier, der mächtigste Mann auf einer Insel von Zauberern mit schier unglaublicher Macht über die Elemente der Welt, in der wir leben. Doch das alles zählt nun nichts mehr, da wir uns Mächten gegenübersehen, die wir noch nicht einmal ansatzweise erklären können.« »Ich bin sicher, dass die entscheidende Auskunft irgendwo dort draußen ist. Wissen geht selten verloren; es wird nur verlegt oder falsch gedeutet.« Usara stand auf, füllte sein Glas nach und bot auch Planir etwas an, doch dieser schüttelte den Kopf. Usara setzte sich wieder, bevor er fortfuhr: »Nur möge Saedrin dafür sorgen, dass wir des Rätsels Lösung finden, bevor die Elietimm ihre Figuren aufgestellt haben und das Spiel ernsthaft beginnt. Ach ja, was Shannet betrifft ... Sie und Troanna gehen einander an die Kehle, weil jede diejenige sein will, die diesem Jungen, diesem Corian, als Erste eine Stellung als Schüler angeboten hat. Ich werde aus den beiden nicht schlau.« Planir stöhnte. »Ist das dieser Junge aus Dustor? Für zwei so ehrwürdige und respektierte Magir können die beiden manch490
mal ganz schön dumm sein. Wo kann ich Shannet morgen finden?« »Morgen früh wird sie mit Otrick in der Neuen Halle arbeiten«, antwortete Usara nach kurzem Nachdenken. »Sie halten eine gemeinsame Vorlesung über den Widerstreit von Luft und Wasser.« »Wenn ich die Gelegenheit bekomme, werde ich mir auch Troanna schnappen. Als Oberste Flutmeisterin sollte ich mich sowieso einmal mit ihr in Verbindung setzen. Schließlich gehen sie Kalions Pläne mit der Wasserversorgung ja auch etwas an.« Ein Hauch von Humor erweckte Planirs Gesicht wieder zum Leben. Usara lachte. »Gewiss, verehrter Erzmagier.« Planir ging vor dem leeren Kamin auf und ab. Die Müdigkeit verschwand aus seinem Gesicht, und beinahe sah es so aus, als fiele ihm die Last von Generationen von den Schultern. »Und nachdem ich das nette Paar wieder versöhnt habe – was kann ich dann tun, um D’Olbriot milde zu stimmen, bis ich eine Spur von seinem Mann gefunden habe?« »Glaubst du wirklich, dass du Ryshad finden kannst?« Usara klang eher überrascht als zweifelnd. »O ja, San Warum? Hast du kein unbedingtes Vertrauen in deinen Erzmagier?« Planir lächelte. Seine Zähne schimmerten weiß und gleichmäßig im zunehmenden Dämmerlicht. Er schnippte mit den Fingern, und überall im Raum erwachten Kerzen zum Leben. »Du solltest besser als jeder andere wissen, dass die Macht dieses Amtes auf mehr beruht als nur auf einem protzigen Ring und der Magie, die er verspricht. In wenigen Tagen sollte ich etwas von Ryshad gehört haben.« »Dann musst du dir jetzt nur noch um Kalion Sorgen ma491
chen.« Die Falten auf Usaras Stirn verschwanden, als seine Stimmung sich besserte. »Ich glaube, die gleiche Spur wird beide ablenken, wenn wir sie nur richtig legen.« Planir hielt kurz inne und blickte aus dem Fenster. »Kalion will wissen, warum wir rund um die Uhr arbeiten und nichts dabei herauskommt. Ich glaube, ich werde ihn über die komplexen Elietimmränke ins Vertrauen ziehen, mit denen sie jeden unserer Züge ins Leere laufen lassen, sodass wir all unsere Kräfte aufbieten müssen, um ihnen entgegenzuwirken. Sieur D’Olbriot werde ich ebenfalls eine Depesche schicken, mit genug düsteren Anspielungen darin, dass er sich über etwas anderes als über seinen verlorenen Hund den Kopfzerbrechen wird.« »Und was für Ränke sollen das sein?«, erkundigte Usara sich lächelnd. Planir breitete die Arme aus. »Das zu erklären, wäre viel zu kompliziert, meinst du nicht? Wie wäre es, wenn wir andeuten würden, dass die Elietimm irgendwie für Ryshads Verhaftung in Relshaz gesorgt haben?« »Glaubst du wirklich, dass sie es waren?« Usara blinzelte überrascht. »Nein. Ich glaube, sie haben die Situation einfach nur ausgenutzt. Nach dem, was Mellitha uns erzählt hat, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass seine Verbindung zu D’Alsennin ihm irgendwie zum Verhängnis geworden ist. Sie hat den Armreif, den er stehlen wollte, als ein altes Stück mit dem Den-RannionWappen identifiziert. Nein, die Wahrheit ist eigentlich gar nicht wichtig, Sar. Erzähl du Kalion über Ryshad nur, was ich dir gesagt habe, wenn er dich danach fragt. Natürlich musst du ihn zur Geheimhaltung verpflichten. Sag ihm, er solle schweigen 492
wie ein Grab. Wir vermuten, dass die Elietimm bei Ryshads Verschwinden im Archipel irgendwie die Finger im Spiel hatten, und dass es mit Sicherheit diese verfluchte Äthermagie ist, die ihn vor uns verbirgt. Kalion wird es Ely und Galen sagen – ganz im Vertrauen natürlich –, und wenn die es erst weitererzählen, hat die Gerüchteküche genug zu tun. Das sollte uns die Zeit verschaffen, Ryshad zurückzuholen. Und bis dahin, so Arimelin es will, werden wir auch das Archiv in den Händen halten und mit ihm eine Spur, wie wir diese Träume zu unserem Vorteil nutzen können.« Der Erzmagier schenkte sich ein zweites Glas ein und hob es gut gelaunt zum Trinkspruch. »So Arimelin es will!« Usara leerte sein Glas. »Ich mache mir allerdings noch immer Sorgen, was im Augenblick mit Ryshad geschehen mag«, fügte er ernst hinzu. Planir nickte. »Das Archipel ist ein gefährlicher Ort«, sagte er. »So Dastennin es will, wird er jedoch nicht verhungern oder in Ketten arbeiten müssen. Auf mehr können wir nicht hoffen.«
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8.
Aus dem Familienarchiv des Hauses Tor Aider, Toremal, aus den Aufzeichnungen des 35. Jahres von Kaisers Aleonne dem Galanten
Mit den besten Grüßen an Dardier, Junker Tor Aider, von seinem Bruder Capriel, Sieur dieses Hauses. Ich freue mich, dir berichten zu können, dass Carrey sich sehr gut von seinen Verletzungen erholt. Das erleichtert Mutter und mich sehr; immerhin ist einem auch der letzte Sohn nicht weniger lieb als alle anderen. Verzeih meine armseligen Versuch, humorvoll zu klingen; ich gestehe, das liegt an meinen strapazierten Nerven. Bis jetzt haben wir keine Spur von den Briganten gefunden, die den Jungen und seine Gefährten auf solch niederträchtige Art überfallen haben; allerdings nehme ich an, dass es zu diesem späten Zeitpunkt auch zu viel verlangt gewesen wäre. Dennoch bereitet es mir nach wie vor große Sorge, dass ein uniformierter Trupp auf den kaiserlichen Straßen ein solches Unheil hat anrichten und spurlos verschwinden können. Ich kann nur vermuten, dass ihre Erscheinung eine wohl berechnete Verkleidung gewesen ist, und dass sie Perücken und Uniformen sofort nach der Tat weggeworfen haben. Vielleicht wollten sie den Verdacht auf das Bergvolk lenken, denn diese haben allesamt blondes Haar und helle Haut, doch nur wenige von ihnen kom494
men zu dieser Jahreszeit so weit nach Süden; also verdächtige ich sie auch nicht. Carreys größte Sorge gilt dem Verlust seines Schwertes, eines zugegebenermaßen alten Erbstücks, das jedoch nur geringe Bedeutung für unser Haus besitzt. Seine Mutter fürchtet, dass dieser Verlust wieder zu den Albträumen und der Schlaflosigkeit führen könnte, welche den Jungen vergangenes Jahr geplagt haben, und ich muss gestehen, dass ich ihre Sorge teile. Während er sich erholt hat, ist es jedoch nicht mehr dazu gekommen, und ich möchte ihn auch nicht mehr darunter leiden sehen. Könntest du dementsprechend deine Unteroffiziere anweisen, dass sie ihre Kameraden dazu anhalten nach dem Schwert Ausschau zu halten – nur für den Fall, dass es irgendwo zum Kauf angeboten wird? Wenn wir die Klinge wiederbeschaffen können, ist es gut, doch meine Hauptsorge ist, dass ich Carrey davon überzeugen muss, dass er keine Schuld am Verlust der Waffe trägt ... Könntest du die Angelegenheit unter vier Augen mit ihm besprechen? Ich wäre dir sehr dankbar.
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Der Palast von Shek Kul, Aldabreshin-Archipel 8. Vorsommer
Ich schaute noch einmal nach dem Stand der Sonne. Sie schien nun fast eine volle Stunde unmittelbar über mir zu hängen, doch wir hatten das Signalhorn noch immer nicht gehört. »Trink mehr Wasser.« Sezarre reichte mir einen Becher, und ich trank gehorsam. Die Sonne ließ den sandigen Boden des Übungsplatzes wie Kohle in einem Ofen glühen, und obwohl wir im Schatten des Badehauses saßen, machte die sengende Hitze uns zu schaffen. »Ja, das ist gut.« Grival wischte ein letztes Mal mit dem geölten Lappen über die Klinge und legte den Schleifstein beiseite. Er hatte wirklich gute Arbeit geleistet: Ich hätte mich mit der Klinge rasieren können. »Danke.« Mit Grivals Erscheinen hatte ich gar nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, er würde bei Mahli und dem kleinen Nai bleiben, doch er war einfach zu mir gekommen und hatte sich daran gemacht, meine Waffe und meine Rüstung zu überprüfen. Jetzt legte er das Schwert neben das Kettenhemd; ich würde beides erst im letzten Augenblick benutzen. »Dieser Mann ist viele Jahre älter als du. Die Hitze, die Rüstung, das Schwitzen ... dass alles wird ihn rascher ermüden lassen als dich«, bemerkte Grival nachdenklich. »Das könntest du zu deinem Vorteil nutzen.« »Wenn es ein fairer Kampf wäre, ja. Ich würde ihn in Bewegung halten, bis er müde wird.« Ich verzog das Gesicht und betrachtete den Kreis, der mit Holzkohle auf dem Sand markiert 496
war. »Aber ich glaube immer noch, dass er eine Möglichkeit finden wird, seine Magie einzusetzen. Könnt ihr euch nicht an Shek Kul wenden und ihn bitten, das Singen zu verbieten?« »Ja. Ich werde es als Belohnung für vergangene Taten von ihm verlangen.« Sezarre nickte. »Sieh du nur zu, dass du ihn so schnell wie möglich fertig machst.« »Ist dein Bein sehr steif? Um einem Streitkolben auszuweichen, wirst du dich schnell bewegen müssen.« Grival wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Eine Klinge mag ja vom Harnisch abprallen, aber ein Streitkolben ... Wenn er zu viele Treffer landet, wird es dich behindern.« »Ich werde versuchen, ihn so früh wie möglich zu verletzten«, erwiderte ich grimmig. »Bei der Anstrengung und der Hitze wird er rasch viel Blut verlieren und schwächer werden. Mit etwas Glück werde ich so auch seiner Magie ein Ende machen.« »Versuch, sein Blut nicht außerhalb des Kreises zu vergießen«, warnte Grival. »Du bist hier, um die Domäne zu verteidigen, aber auch, um die Wahrheit zu bestätigen.« Ich fragte mich, was genau er damit meinte, und blickte wieder zum Himmel hinauf. Die Sonne schien sich kein bisschen bewegt zu haben. »Hat einer von euch so etwas schon einmal gemacht? Eine Wahrheitsprüfung?« Sezarre schüttelte den Kopf. »So ein Kampf ist sehr selten. Ich kann verstehen, dass Laio nicht mit einem solchen Ausgang gerechnet hat.« Ich verzog das Gesicht ob dieses unterschwelligen Tadels; mir war klar, dass er und Grival alles gehört haben mussten, was gestern Abend zwischen mir und Laio geschehen war. Zu meiner Erleichterung behandelten mich alle wie eh und je; 497
außerdem war ich ohnehin zu sehr auf den bevorstehenden Kampf konzentriert, als dass ich Zeit für ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. »Ich habe solch eine Prüfung schon einmal in der Domäne von Lys Izat gesehen.« Grival blickte von seinem Waffenputzzeug auf, das er in einem Baumwollbeutel auf seinen Beinen liegen hatte. »Es ging um eine Mordanklage, aber das ist nun schon drei Jahre her.« »Warum, glaubt ihr, hat Shek Kul sich dafür entschieden?« »Der Kampf wird eine Botschaft an alle Domänen sein«, erklärte Sezarre mit sichtlicher Zufriedenheit. »Eine Botschaft, dass wir hier keine Magie dulden, egal in welcher Form.« »Falls diese Hexer sich in unsere Länder hier einschleichen wollen, werden sie wohl nicht nur Kaeska verführt haben«, fügte Grival hinzu. »Ihr Schicksal wird andere nachdenklich stimmen.« Mir gefiel die Festigkeit in seiner Stimme, die Überzeugung, dass Kaeskas Schicksal bereits besiegelt war. Doch fragte ich mich, ob er Recht hatte: Versuchten auch andere Elietimm, die Aldabreshi zu beeinflussen. Und falls ja – was war ihr Plan? Ich stellte die Frage erst einmal zurück; jetzt hatte ich mich um Wichtigeres zu kümmern. »Kämpft ihr auf dem Festland überhaupt auf diese Art? Mann gegen Mann, meine ich? Hast du Erfahrungen?« Sezarres zögerliche Frage überraschte mich angesichts der Hartnäckigkeit, mit der er und Grival mich immer wieder daran erinnerten, dass ich nun Insulaner und mein vergangenes Leben ohne Bedeutung sei. Ich lehnte mich gegen die Wand des Badehauses, schloss kurz die Augen und versuchte eine Erinnerung an den frischen 498
Frost der Toremalwinter heraufzubeschwören, um mich von der drückenden Hitze des Archipels abzulenken. »Manchmal kämpfen wir Mann gegen Mann, um unser Können unter Beweis zu stellen, wenn die großen Fürsten sich versammeln, um Verträge abzuschließen.« Besser konnte ich Sezarre und Guinalle den Fürstenrat zur Wintersonnenwende nicht erklären. »Jeder Fürst stellt seinen besten Mann, und in einem Wettstreit wird dann der Beste der Besten ermittelt.« Aiten hatte das letzte Mal gesiegt, als wir beide daran teilgenommen hatten, und eine gut gefüllte Börse als Belohnung erhalten, die bei der anschließenden Feier jedoch rasch leer geworden war. Unvermittelt öffnete ich die Augen. Dies war jetzt nicht die rechte Zeit, um sich in Erinnerungen zu ergehen. Ich beschloss, besonders darauf zu achten, wenn der blonde Bastard auf meinen Kopf zielte. Solche Schläge waren in den Kämpfen, wie ich sie kannte, verboten, und ich wollte nicht davon überrascht werden, nur weil ich die gleichen Regeln bei ihm erwartete. »Hast du schon einmal getötet?« »Ja, wenn mir nichts anderes übrig blieb.« Meine leidenschaftslose Antwort ließ die beiden zufrieden nicken. Das Signalhorn ertönte, und wir drei zuckten unwillkürlich zusammen. Ich stand auf und begann mit Dehnübungen. Die Leute strömten aufs Gelände; die ersten, die eintrafen, bekamen die besten Plätze im Schatten der Bäume. Ein paar der Jüngeren beschlossen, den Schatten einer guten Sicht vorzuziehen, oder kletterten auf das Dach des Badehauses, wo sie es sich mit Nüssen und Wasserschläuchen gemütlich machten. Als ich mich umschaute, erkannte ich, dass die meisten freien Insulaner hergekommen waren; wieder eine Gelegenheit, da 499
die Tore weit offen standen, und wieder hatte ich keine Chance, unbemerkt hinauszuschlüpfen. Ich schob den Gedanken beiseite, als Sezarre und Grival mir die Rüstung anlegten, und konzentrierte mich auf den bevorstehenden Kampf. Der Lärm um uns herum nahm zu und kündete von der Ankunft Shek Kuls und seiner Frauen. Unter einem breiten Baldachin auf der anderen Seite des Übungsplatzes hatte man drei Stühle aufgestellt, und Laio und Gar setzten sich gelassen und schlangen sittsam ihre Röcke um die Füße. Die beiden trugen schlichte Alltagskleidung, waren kaum geschminkt und hatte nur wenig Schmuck angelegt. Laio hob die Hand zum Gruß, und ich nickte ihr zu; ihre ruhige Haltung war bemerkenswert. Trotz all der ungezügelten Leidenschaft vergangene Nacht war ihr Verhalten mir gegenüber an diesem Morgen wieder wie eh und je, und ich muss gestehen, dass es mich erleichterte. Shek Kul stand in der Mitte des Holzkohlekreises. Er war im gleichen Stil gekleidet wie die Frauen. Ein Sklave neben ihm hielt einen kleinen, reich beschnitzten Käfig in der Hand. Der Kriegsherr nahm diesen Käfig, öffnete ihn und ließ eine Echse frei. Alle Augen richteten sich auf das winzige Reptil, während es zunächst hierhin, dann dorthin huschte, um schließlich pfeilschnell in einem blühenden Strauch zu verschwinden. Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge, und erleichtert sah ich Sezarre und Grival nickten und mich anlächeln. Was auch immer dieser Unsinn bedeuten mochte, es schien zu meinen Gunsten zu sein. Dann verlor die Menge das Interesse an dem Strauch und teilte sich, um Kaeska und den Eisländer vorzulassen. Kaeska trug ein ähnliches Kleid wie Laio und Gar, doch verdeckte ein Schleier, der mit mehreren Nadeln an ihrem Haar befestigt war, 500
ihr Gesicht. Ich blickte über den Kampfplatz und sah, wie Laio und Gar sie fragend anschauten. »Warum hat sie ihr Gesicht verschleiert?«, fragte ich Grival, als der mir das Kettenhemd an der Hüfte befestigte. »Ist das so üblich?« Ich zog meinen Gürtel noch ein Loch enger, lockerte ihn aber sofort wieder; es behinderte meine Atmung zu sehr. Grival wirkte verwirrt. »Nein.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie Angst, dass ihre Augen sie verraten könnten.« Sezarre hatte den Kampfplatz überquert, um mit Shek Kul zu sprechen. Der Kriegsherr neigte den Kopf und nickte ernst. Sein Blick folgte Sezarres Hand, die auf den Elietimm gerichtet war. Shek Kul winkte den Priester mit einer herrischen Geste zu sich, sprach streng mit ihm und unterstrich jedes einzelne Wort mit schroffen Gesten. Der Elietimm verneigte sich tief und nickte unterwürfig. Langsam ging ich zu der Stelle im Kreis, die für mich markiert worden war, und während ich meine Finger in den schweren Handschuhen bewegte, fragte ich mich, was der Bastard wohl als Erstes versuchen würde. Sein Gesicht verriet mir nichts; unter dem Helm mit dem schweren Nacken- und Wangenschutz war es ohnehin kaum zu sehen. Ich musterte seine Rüstung. Metallschuppen schützten seine Schultern und seinen Bauch über einem Lederpanzer. Bei den Polstern, die ich darunter sehen konnte, musste er schwitzen wie ein Pferd, doch das galt auch für mich; in dieser Hinsicht waren die Runen also gleich verteilt. Mein Bart war bereits schweißnass, aber ich ignorierte das Gefühl. Jetzt war nicht die Zeit, sich von solchen Kleinigkeiten ablenken zu lassen. 501
Die Unterschenkel des Priesters waren mit Stahlschienen geschützt, die Oberschenkel mit dehnbarem Leder. Somit waren die Knie sein wunder Punkt. Alles in allem war ich mit meinem Kettenhemd und dem Helm besser geschützt, besonders dank der ledernen Beinschützer, die Grival irgendwo hervorgezaubert hatte, doch ich trug wesentlich mehr Gewicht mit mir herum, und in dieser Hitze würde das rasch zum Tragen kommen, falls der Kampf zu lange dauerte. Erneut beschloss ich, dieser Sache so schnell als möglich ein Ende zu machen. Ich rückte meinen Helm zurecht und klappte den Nasenschutz herunter. Nachdem wir beide unsere Positionen eingenommen hatten, nahm Shek Kul zwischen Gar und Laio Platz. Kaeska saß auf einem kleinen Stuhl und mit gesenktem Kopf an der Seite. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich nur noch auf den Elietimm, als der Kriegsherr in die Hände klatschte und das Geräusch von den umliegenden Wänden widerhallte. Einen Augenblick lang bewegte sich keiner von uns; dann trat der Elietimm vorsichtig einen Schritt zur Seite, und der Kampf begann. Ich bewegte mich langsam, das Schwert erhoben, wachsam und abwartend. Der Priester verwendete einen langen Streitkolben, eine Fußvolkwaffe mit Stahl verstärktem Schaft und Dornen am runden Kopf. Den Schaft in der Mitte durchzuschlagen, war also unmöglich. Tatsächlich schützte der Stahl sogar nicht nur den Schaft, sondern auch die Hand des Priesters wie die Fechtglocke eines Rapiers – eine ungewöhnliche Waffe. Dann fiel mir der Klingenbrecher in seinem Gürtel auf, und ich beschloss, auch seine andere Hand nicht aus den Augen zu lassen. Diese wurde zum Glück ebenfalls von einem schweren Platten502
handschuh geschützt, was das Ziehen des Klingenbrechers zumindest schwierig machte. Wir umkreisten uns weiter, beide knapp außer Reichweite des anderen; unsere Füße schlurften durch den Sand, und der Schweiß rann uns jetzt schon in Strömen übers Gesicht. Seine Knie waren mein Ziel, doch ich wollte es nicht riskieren, mich noch tiefer zu ducken, um keinen Schlag mit dem Streitkolben gegen den Kopf zu bekommen, Helm hin oder her. Er machte einen raschen Schritt auf mich zu, und ich wich ebenso rasch mit erhobenem Schwert zurück. Der Elietimm zog den Angriff jedoch nicht durch, sondern lächelte mich spöttisch an und schüttelte den Kopf. Ich würde ihm ins Gesicht spucken, wenn ich die Gelegenheit dazu bekam – mal sehen, wie ihm das gefallen würde. Der Verlust der Selbstbeherrschung tötet mehr Männer als das Schwert, erinnerte ich mich an die Worte meines Ausbilders. Ich blieb abrupt stehen, verlagerte mein Gewicht und schlug blitzschnell zu. Beinahe hätte ihn mein von oben geführter Hieb erwischt, doch er fing das Schwert mit dem Keulenkopf auf und versuchte, mir die Waffe mit Hilfe der Dornen aus der Hand zu reißen, während ich ebenso entschlossen versuchte, sie wieder zu befreien, was mir schließlich auch gelang. Der Priester sprang zurück, um einem Hieb zwischen Schulter und Helm zu entgehen, der ihm den Kopf von Hals getrennt hätte, hätte er sein Ziel erreicht. Erneut fing der Bastard meine Klinge auf und setzte all seine Kraft ein, um mir einen weiteren Hieb unmöglich zu machen, bis ich meine Waffe abermals befreite. Nun trat auch ich einen Schritt zurück und suchte nach einer Öffnung in der Deckung des Gegners. Gegen ein anderes Schwert hätte ich es mit einer 503
schnellen Schlagfolge versucht und den tödlichen Hieb geführt, sobald mein Gegenüber auch nur einen Augenblick gezögert hätte. Hier aber bot sich mir diese Möglichkeit nicht – nicht gegen einen Streitkolben, der so gekonnt geführt wurde. Ich vermutete, dass der Eisländer den Kampf hinauszögern wollte, bis die Hitze und das Gewicht meiner Rüstung mich langsamer machten. Im Augenblick waren meine Reaktionen jedoch ein wenig schneller als seine, meine Hiebe ein wenig härter und meine Füße ein wenig schneller auf dem trockenen Sand. Ich ermahnte mich jedoch, nicht zu selbstbewusst zu werden. Ich stieß vor; er parierte. Ich riss mein Schwert rasch für einen weiten Hieb zurück, doch er schlug es beiseite. Als meine Waffe den Kolbenschaft hinunterglitt, warf ich mich mit dem ganzen Gewicht darauf und drängte ihn zurück, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Ich nutzte den Vorteil und ließ eine Serie harter Schläge auf ihn niedergehen, gegen die er sich nur verteidigen, mein Schwert aber nicht mehr fangen konnte. Eine Finte täuschte ihn, und ich landete einen schweren Treffer an seiner Seite. Das scharf geschliffene Schwert drang durch seine Lederrüstung, und die Wucht des Schlages drückte ihm die Rippen ein. Während er sich am Rand des Kreises entlang zurückzog, suchte ich nach einer Gelegenheit, seine Knie zu treffen, worauf er einen Schritt zurücksprang und einen Gegenschlag führte, den ich nur um Haaresbreite ausweichen konnte. In diesem Augenblick fühlte ich die Magie zum ersten Mal: ein Kratzen und Klopfen; hartnäckige Finger, die in meinen Verstand eindringen wollten. Ich biss die Zähne zusammen und stürzte auf den Bastard zu. Links und rechts griff ich in raschem Folge an, bis sich eine Lücke auftat, und ich stieß nach seinem Bauch. Gerade noch rechtzeitig drehte er sich zur Seite, 504
während mein Schwung mich vorwärts trug. Dann standen wir keuchend da; unsere Helme berührten sich fast, während unsere Hände zwischen unseren Körpern gefangen waren. Entsetzt sah ich, dass er die Lippen nicht bewegte. Kein Wort von ihm selbst hatte den Dämon geweckt, der Poldrions Aufmerksamkeit entgangen war, um meinen Geist zu fressen! Wer war es dann gewesen? Ich stieß den Elietimm von mir fort, doch er rückte sofort mit neu erwachtem Eifer gegen mich vor. Nun hatte ich keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, wer diesen verfluchten Zauber wob, während ich mich duckte und jede Verteidigung versuchte, um wieder die Oberhand zu bekommen. Und die ganze Zeit wurde das Gefühl stärker, dass irgendetwas meine Verteidigung untergrub, sodass sie mehr und mehr in sich zusammenfiel ... Vor Verzweiflung ließ ich abermals einen Hagel von Hieben und Stößen auf den Elietimm niedergehen. Ich opferte meinen eigenen Schutz für diesen einen Angriff und musste ein paar schmerzhafte Treffer einstecken, doch es gelang mir, dem Priester mehrere Wunden an Armen und Beinen zuzufügen. Zufrieden zog ich mich wieder zurück, wobei ich sorgfältig die Blutlachen im Sand mied. Nun, da blutende Wunden ihm allmählich die Kraft raubten, musste der Elietimm sich erst einmal auf die Verteidigung verlegen. Urplötzlich drohte ein markerschütternder Lärm meinen Kopf zu zerreißen. Kalte Klauen gruben sich in meinen Geist, krallten sich darin fest und stürzten meine Sinne ins Chaos. Die heiße Luft vor meinen Augen begann zu flimmern, und unter meinen Füßen spürte ich nichts mehr. Die Geräusche der Menge verhallten, während ich nach Luft schnappte und stolperte; meine Knie waren wie Wasser, und mein Kopf drehte sich. Irgendein 505
Instinkt bewahrte mich vor einem Keulenhieb, der den Kopf von den Schultern gerissen hätte; dann aber konnte ich nur noch zuschauen, wie der Bastard sich auf den nächsten Schlag vorbereitete. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, während ich mit dem Furcht erregenden Hass rang, der in meinem Innern tobte. Dann geschah etwas Unfassbares. Mein Schwert fing den Schlag ab und lenkte ihn zur Seite. Meine Füße folgten der Bewegung, verlagerten geschickt mein Gewicht mal hierhin, mal dorthin, und meine Arme führte eine Reihe wuchtiger Hiebe und Stöße. Ich konnte dem wilden Kampf um meinen Verstand nur staunend zuschauen, als irgendein Geist die Kontrolle über meinen Körper übernahm und alles abwehrte, was mir der Eisländer mit seiner Magie entgegenschleuderte. Vage war ich mir einer langen, schattenhaften Hand bewusst, die sich über meine Finger legte, als diese den Schwertgriff packten, und das Sonnenlicht fing sich im blauen Stein eines großen Siegelrings. Mein Verstand hinkte meinem Körper ein, zwei Schritt hinterher, denn noch immer kämpfte ich gegen die magischen Klauen an, die mich in die Dunkelheit hinabreißen wollten. Die Gefühle und Gedanken eines anderen waren in meinem Innern, lenkten jede meiner Bewegungen. Ich fühlte Eifer, Entschlossenheit und jugendliche Kraft – und vor allem einen unversöhnlichen Hass auf den Elietimm und seinesgleichen; zugleich aber war ich irgendwie von diesen Gefühlen getrennt, wie in einem Fiebertraum. Der Priester rutschte auf dem blutigen Sand aus und ging geschwächt von meinen Schlägen Boden. Aus einer weit entfernten Ecke meines Geistes heraus beobachtete ich, wie lange Hände Schlag um Schlag auf den Rücken, Kopf und 506
Hände Schlag um Schlag auf den Rücken, Kopf und Schultern des Elietimm regnen ließen, während dieser sich herumrollte, mit den Füßen trat und mit dem Streitkolben die scharfe Klinge abzuwehren versuchte, die ihm durch die Rüstung ins weiche Fleisch drang ... Blut, überall war Blut. Eine Stimme, die nicht meine eigene war, kam über meine Lippen. Sie sprach Tormalin in einem archaischen Tonfall, den ich nur aus Balladen und Gerichtssälen kannte. »Kehre zu deinem Herrn zurück und sag ihm, dass dieses Land uns gehört. Was wir der Wildnis abgerungen haben, werden wir bis zum letzten Mann verteidigen!« Der Priester starrte mich in blankem Entsetzen an; sein Gesicht war blass unter einer Maske aus Schweiß und Blut. Er murmelte eine Beschwörung – und war plötzlich verschwunden. Vor meinen Augen war nur noch der blutgetränkte Sand. Um den Kampfplatz herum begannen die Menschen zu schreien, ich aber hörte nur die Schreie in meinem Kopf. » Was ist das? Wer bist du? Wo bin ich?« Ich sank auf die Knie, riss mir Helm und Handschuhe herunter und presste die Hände an den Kopf, während ich all meine Kraft aufbot, um die fremde Präsenz aus meinem Innern zu verjagen. Mit einer Plötzlichkeit, die mich nach Luft schnappen ließ, war sie verschwunden, und in meinem Kopf herrschte Leere inmitten eines ohrenbetäubenden Tumults. Ich blickte auf meine Hände; sie gehörten wieder mir. Kein Schatten lag auf ihnen, doch ich sah einen schmalen Abdruck um den Mittelfinger meiner Schwerthand, als würde ich normalerweise einen Ring mit einem großen Stein in der Mitte tragen, den ich nun aus irgendeinem Grund verloren hatte. 507
»Rhya Shad, bist du verletzt?« Ich hob den Kopf und sah den Hauptmann der Wache besorgt auf mich hinunterblicken. »Ich hab ein paar Beulen und Schrammen, aber ansonsten geht es mir gut.« Ich drehte mich nach Grival und Sezarre um und fragte mich, warum sie nicht als Erste an meiner Seite gewesen waren. Was ich sah, stimmte mich mehr als zufrieden. Grival hatte Kaeskas Gesicht in den Dreck gedrückt und kniete auf ihren Beinen, während er ihr die Hände auf den Rücken fesselte. Sezarre wiederum benutzte ihren Schleier, um sie damit zu knebeln, wozu er ihren Kopf brutal an den Haaren in die Höhe riss. Diese Hexe, diese verfluchte, mörderische Hure – der bösartige Zauber war ihr Werk gewesen. Kein Wunder, dass sie einen Schleier getragen hatte. Ihr Pech war nur, dass der Hexer geflohen war und sie ihrem Schicksal überlassen hatte. »Rhya Shad!« Shek Kuls Ruf brachte die Menge zum Schweigen, sodass ich das verstörte Zwitschern der Vögel in einem nahen Baum hören konnte. Ich rappelte mich auf und schwankte ein wenig, da meine Knie noch immer auf die Befehle eines anderen zu warten schienen. Stolpernd überquerte ich den blutigen Sand. »Die Wahrheit selbst verurteilt Kaeska, und sie wird den Preis dafür bezahlen«, verkündete der Kriegsherr in leidenschaftslosem Tonfall. »Ich glaube, dass du selbst vom Makel der Magie frei bist; das Omen von Rek-a-nul ist Beweis genug dafür. Dennoch besteht die Gefahr, dass die Kameraden des Hexers dich suchen werden, um ihn zu rächen. Deshalb kann ich dich nicht hier behalten. Ich muss meine Domäne schützen.« Shek Kul verschränkte die Arme vor der Brust und blickte mich an. »Du wirst diesen Ort verlassen, sobald die Hinrichtung der Hexe 508
vollzogen ist.« Der Kriegsherr machte auf dem Absatz kehrt und marschierte vom Übungsplatz. Gar packte Laio unter dem Ellbogen, und Grival und Sezarre wuchteten Kaeska in die Höhe. Grobe Hände packten sie an der Schulter und ließen nicht zu, dass sie das Gleichgewicht wiedererlangte, nachdem sie gestolpert war; stattdessen schleifte man sie auf den Knien über den Kiesweg. Jemand warf mir einen Wasserschlauch zu, und ich leerte ihn gierig, bevor ich einen Becher dünnen Weins nahm, den mir der Palastverwalter reichte. Er lächelte breit, doch die Furcht in seinen Augen strafte dieses Lächeln Lügen. Dann folgte ich dem Hauptmann der Wache zur Kaserne, wo ich mich auszog und wusch, während meine Gedanken sich ob der unerwarteten Wendung der Ereignisse überschlugen. Ich rieb meine zahlreichen Verletzungen mit einer von Sezarres Salben ein, als ich hinter mir ein überraschtes Murmeln hörte. Ich drehte mich um und sah, dass die Wachen eine breite Gasse gebildet hatten. Shek Kul stand dort und betrachtete mich nachdenklich. »Lass mich das machen.« Er streckte die Hand aus. Und ich gab ihm den Salbentopf. Ich spürte, wie er die Salbe auf eine besonders bösartige Verletzung auf meiner Schulter rieb. »Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, in vieler Hinsicht, indem du mich von Kaeska befreit hast«, sagte er. »Ich wusste, dass sie nach dem Tod ihres Bruders immer gefährlicher würde. Und sie wusste, dass ich einen Erben für die Domäne zeugen und ihre Machenschaft nicht mehr dulden würde, nachdem ich die Allianz, die mit unserer Eheschließung einherging, nicht mehr benötigte. In vieler Hinsicht bist du ein guter Sklave. Ich weiß, dass Laio auch so denkt, und wenn du genug Zeit 509
hast, kannst du ihr manches beibringen. Du erinnerst mich an einen Falken, den ich einst besessen habe; er war zu spät gefangen worden und konnte deshalb nur mit Härte erzogen werden. Er war tapfer und furchtlos, ein schneller Flieger, doch stets kam er nur widerwillig zur Hand zurück.« Shek Kul reichte mir den kleinen Topf über die Schulter, und ich drehte mich zu ihm um. »Stets hat der Vogel sehnsüchtig zu den Bergen geschaut«, fuhr der Kriegsherr fort, »selbst wenn er mit Haube auf der Stange saß. Zu guter Letzt habe ich ihm die Fesseln abgenommen und ihn fliegen lassen. Das ist die einzige Belohnung, die ich auch dir geben kann ...« Ich öffnete den Mund, doch er hob die Hand und gebot mir Schweigen. »Aber da ist noch die Frage der Magie.« Der Blick seiner Augen war hart, als er mich musterte. »Irgendetwas stimmte nicht an diesem Kampf. Ich kann nicht sagen, was es war ... schon als die große Schlange erschien, während du am Strand gestanden hast, hätte ich dich beinahe unter dem Verdacht der Hexerei hinrichten lassen. Jetzt aber lasse ich dich gehen, unter der Bedingung, dass du schwörst, nie mehr zurückzukehren. Schwöre es bei allem, was dir heilig ist.« Ich schluckte. Mein Mund war plötzlich trocken. »Ich schwöre. Möge Dastennin mich ertränken und nackt an den Strand werfen, sollte ich diesen Eid je brechen.« Shek Kul nickte zufrieden. »Dies hier wird dir freie Fahrt durchs Archipel gewähren.« Er reichte mir ein mit Edelsteinen besetztes goldenes Medaillon, dessen Wert mir nach meiner Rückkehr ein schönes Leben sichern konnte. »Ich danke Euch«, sagte ich. Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Jetzt zieh dich an, und wir werden uns um die Verräterin 510
kümmern«, sagte der Kriegsherr mit plötzlich harter Stimme. »Als ihr Ankläger endet deine Verantwortung erst mit ihrem Tod.« Ich zog meine Kleider an und folgte ihm gehorsam. Dabei fragte ich mich mit einem leichten Gefühl der Übelkeit, was genau ich nun zu sehen bekommen würde, als wir das Palastgelände verließen und zum Ufer marschierten. Kaeska lag an Händen und Füßen gefesselt auf einer großen Holzplattform unmittelbar über der Flutmarke. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, als ich sah, dass man ihr Mund und Augen mit heißem Wachs verschlossen hatte. Sie blähte die Nase, um so viel Luft einzuatmen, wie sie noch konnte. Shek Kul betrachtete sie für einen Moment leidenschaftslos; dann holte er einen großen Stein vom schwarzen Sand des Strandes und legte ihn auf Kaeskas Brustbein. Sie zuckte zusammen, als wäre es ein glühendes Stück Kohle, doch sie konnte den Stein nicht abschütteln, gefesselt wie sie war. Als Shek Kul mir zunickte, holte ich einen faustgroßen Stein und legte ihn widerwillig neben den seinen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, nicht in Kaeskas verzerrtes Gesicht zu sehen. »Du wirst bei ihr bleiben, bis sie tot ist.« Shek Kul marschierte davon, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, und ich sah mich einer langen Schlange von Insulanern gegenüber, die alle ihren Teil zu Kaeskas Bestrafung beitrugen. Manche weinten, andere freuten sich hämisch, doch alle vergrößerten sie das Gewicht der Steine, das Kaeska langsam zu Tode quetschen würde. Gar kam am späten Nachmittag, als Kaeska bereits um jeden Atemzug kämpfen musste. Sie stellte sich neben mich, nachdem 511
sie ihren eigenen, nicht allzu großen Stein mit ernstem Gesicht dem Berg hinzugefügt hatte. Ich hatte Mühe, die sorgfältig berechnete Grausamkeit dieser Hinrichtungsmethode zu verstehen. »Warum schlägt man ihr nicht einfach den Kopf ab?«, fragte ich. »Weil ihr Blut den Boden verunreinigen würde?« Gar schüttelte ernst den Kopf. »Ihr Mund ist verschlossen, damit sie niemanden verfluchen kann, und ihre Augen sind geschlossen, damit ihr Blick niemanden befleckt. Kaeska hat ein schweres Verbrechen gegen die gesamte Domäne begangen, gegen das Volk und das Land, und an dieser Art der Hinrichtung beteiligen sich alle. Wenn sie tot ist, wird man all ihre Besitztümer auf den Leichnam legen und sie verbrennen, um alles zu vernichten, was sie je mit diesem Ort verbunden hat. Die See wird die Asche davontragen – und mit ihr die Besudelung.« Sie seufzte. »Ich weiß, wie ihr Festländer über uns redet. Ihr betrachtet uns als blutrünstige Wilde, die ständig Krieg gegeneinander führen. In Wahrheit schätzen wir das Leben, schätzen es, sogar sehr hoch. Wenn wir ein Leben nehmen müssen, sorgen wir dafür, dass die Art des Todes eine bestimmte Bedeutung hat.« Wie zuvor Shek, so warf auch Gar keinen Blick zurück, als sie den Strand verließ und zwischen den Insulanern hindurch zurück zum Palast ging. Noch immer kamen Leute, um an diesem mir unverständlichen Ritual teilzuhaben. Einige Zeit später erschien auch Laio mit einem großen Stein, den zu tragen sie all ihre Kraft kostete; sie musste ihn sich irgendwo auf dem Palastgelände besorgt haben. Schnaufend hob sie ihn vor die Brust und ließ ihn hart auf den Haufen fallen, der Kaeska bedeckte. Ein leises Wimmern kam über die 512
Lippen der gequälten Frau. Laio sprang zurück, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden, und schaute sich wild um. Als sie mich sah, setzte sich neben mich auf den Sand unter den Bäumen. »Ich wollte, dass es schneller zu Ende ist«, sagte sie leise. »Dein Stein wird dazu beigetragen haben«, versicherte ich ihr. »Wo gehst du jetzt hin?« Laios Stimme bebte. Ich nahm ihre kleine Hand und drückte sie tröstend; mir war egal, ob es in dieser Umgebung unangebracht war oder nicht. »Ich werde schon zurecht kommen, wenn ich erst einmal von den Inseln fort bin. Ich werde zu meinem alten Herrn zurückkehren.« Ich rang mir ein Lächeln ab. Laio deutete auf den Hafen, wo mehrere große Galeeren vor Anker lagen; durch den Kanal zwischen den Inseln kamen weitere herein. »Dieses purpurrote Banner ist das Zeichen von Sazac Joa. Wenn ich mit dem Kapitän rede, wird er dich mitnehmen. Ich werde auch dafür sorgen, dass all deine Sachen an Bord gebracht werden.« »Das ist nett von dir.« »Es ist nicht ganz uneigennützig«, gestand Laio. »Shek Kul hat mir befohlen, dafür zu sorgen, dass du nichts zurücklässt, das die Domäne beflecken könnte.« Laio stand auf, und klopfte sich den Sand vom Kleid, wandte sich zum Gehen und sagte über die Schulter: »Ich werde Sezarre schicken, dass er dir etwas zu essen bringt.« »Danke«, rief ich ihr hinterher. Dann atmete ich tief durch und prüfte noch einmal Kaeskas Puls. Ihre Haut war kalt, der Schlag ihres Herzens schwach, aber noch deutlich zu spüren. 513
Ich seufzte und setzte mich wieder, um meine düstere Wache fortzusetzen. Es dauerte drei Tage und Nächte, bis Kaeska tot war.
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Die Küste östlich der Siedlung, Kel Ar’Ayen 34. Nachfrühling, Jahr 2 der Kolonie
»Wie ist das Flussbett, Kapitän?« Temar blickte von seinem Tagebuch auf, als der wettergegerbte Seemann sich breitbeinig vor ihn stellte, um das Schwanken des Schiffes auszugleichen. »Es geht. Der Anker hält. Der alte Adler wird hier eine Weile sicher liegen können.« Der kräftige Seemann klopfte liebevoll gegen den Mast. Ein Lächeln zeigte sich auf seinem ledrigen Gesicht und ließ die tiefen Falten etwas weicher erscheinen, die ein Leben in Wind und Sonne in seine Haut gegraben hatten. »Ich habe Meig gesagt, er soll auf Flut und Strömung achten.« »Gut.« Temar erhob sich von seinem Platz neben dem Achtermast und streckte die verspannten Schultern; beinahe war er versucht, sich in dem strahlenden Sonnenschein das Wams von den Schultern zu reißen. Er blickte zu der breiten Flussmündung. Dicht bewaldete Hügel fielen steil zu einem Kiesstrand ab und wanden sich entlang der Ufer eines breiten braunen Flusses weit ins Landesinnere; der Fluss versprach einen verlockenden Zugang zu den Mysterien dieses Landes. Eine frische Brise wehte den Duft des Waldes zum Schiff. Temar atmete tief ein. »Sie hätten doch mit Sicherheit hier angelegt, um Vorräte aufzunehmen, oder, Meister Grethist?« Der Kapitän nickte. »Sie hatten Kopien der Karten des Sieurs, die dieser angefertigt hat, als er mit dem Seefahrer diese Küste entlanggefahren ist. Die Karten reichen noch sechs Tagesreisen weiter. Dieser Ort hier ist als guter Ankerplatz markiert, an dem es Wild und Frischwasser gibt.« 515
Temar ging zum Heck und beugte sich seufzend über die Reling. »Wo sind sie? Könnte ihnen irgendein Unglück widerfahren sein? Ich nehme an, dass sich die Dinge seit den Zeiten des Seefahrers geändert haben. Beispielsweise könnten neue Sandbänke entstanden sein. Wie alt sind die Karten? Achtzehn, neunzehn Jahre?« »Ich kenne Meister Halowis.« Der Seemann verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ebenfalls zum Ufer. »Er weiß, dass man achtgeben muss, wenn man in fremden Gewässern segelt. Wie auch immer – wäre ihnen etwas zugestoßen, hätten wir bereits eine Spur gefunden. Wir haben ja auch das Wrack der Windspiel entdeckt, und die ist schon vergangenes Jahr verloren gegangen. Auch wenn die Winterstürme sie in ihre Einzelteile zerlegt haben; ihre am ganzen Strand verstreute Ladung war noch deutlich zu sehen.« »Sie könnten in einen Sturm geraten sein«, sinnierte Temar. »Schließlich sind sie schon zur Mitte des Vorfrühlings aufgebrochen, da niemand bis zum Äquinoktium hat warten wollen, weil das Wetter so schön gewesen ist.« »Das muss dann aber ein sehr schlimmer Sturm gewesen sein, wenn er alle drei Schiffe erwischt hat, dass keines es mehr ans Ufer schaffte und niemand überlebt hat.« Grethist schüttelte stur den Kopf. »Von einem solch schweren Sturm hätten auch wir etwas mitbekommen – entwurzelte Bäume und dergleichen.« Temar zuckte mit den Schultern. »Und was glaubt Ihr, ist ihnen widerfahren? Sind sie krank geworden, oder haben wilde Tiere sie gefressen, als sie an Land gegangen sind? Wir reden hier über mehr als achtzig Mann ... Dastennin stehe ihnen bei.« »Ich werde das Beiboot aussetzen lassen.« Der Kapitän legte 516
die Stirn in Falten. »Falls sie hier an Land gegangen sind, müssten wir Feuergruben oder ähnliches finden; dann hätten wir wenigstens eine Vorstellung davon, wann sie gelandet sind und wie viele sie noch waren. Vielleicht sind sie auch den Fluss hinaufgefahren. Er scheint mir ein gutes Stück schiffbar zu sein. War das nicht ohnehin Teil ihres Auftrags?« »Ihr habt vermutlich Recht.« Temar nickte. Seine Sorge ließ ob dieses vernünftigen Gedankens ein wenig nach. »Trotzdem, wir wissen nicht, was in diesen Wäldern herumschleicht. Sorgt dafür, dass Eure Männer Waffen mitnehmen – Schwerter und Schiffsäxte und dergleichen. Wir sollten keine unnötigen Risiken eingehen.« Temar stand neben Grethist und beobachtete, wie die Mannschaft das Beiboot in die glitzernde Flussmündung hinunterließ; mit lautem Knall, der von den Hügeln widerhallte, schlugen bald darauf die Ruder ins Wasser. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Temar?« »Demoiselle.« Temar drehte sich um und verneigte sich formvollendet vor Guinalle. Sie ignorierte seine Begrüßung und knickste theatralisch vor ihm, was allerdings besser zu einem prächtigen Seidengewand gepasst hätte als zu dem schlichten grauen Kleid, das sie trug. »Irgendetwas stimmt nicht«, erklärte sie ernst. »Ich fühle etwas Sonderbares ... eine Bedrohung ...« »Sei bitte leise.« Temar schaute sich rasch um für den Fall, dass jemand diese beunruhigende Erklärung mitbekommen hatte, doch zu seiner Erleichterung blickten alle Seeleute dem sich entfernenden Beiboot hinterher. »Was genau willst du mir damit sagen?« »Genau weiß ich es eben nicht«, gestand Guinalle hilflos und 517
schob die Hände wenig elegant unter ihren geflochtenen Gürtel. »Ich kann nicht den Finger darauf legen, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Avila und ich haben versucht, mit jemandem Kontakt aufnehmen. Die Expedition mag ja verloren sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen Überlebenden gab und ...« »Aber du kannst niemanden finden«, unterbrach Temar sie. Guinalle verzog das Gesicht. »Stimmt. Es ist, als würde ich versuchen, durch einen dichten Nebel zu blicken.« »Du hast doch selbst gesagt, dass es seltsame Nebenwirkungen haben kann, wenn man die Kunst auf einem Schiff anwendet«, erinnerte Temar sie. »Vielleicht liegt es auch daran, dass wir auf dieser Seite des Meeres sind. Die Weitsicht ...« »Es ist etwas anderes als die Weitsicht«, unterbrach Guinalle. »Weitsicht ist eine Fähigkeit, die ich schon vor Jahren gemeistert habe. Das hier ist etwas anderes, Temar. Dort draußen lauert eine Gefahr, und jeder muss die Augen offen halten. Avila fühlt es auch ...« Temar hob die Hand, um ihr Schweigen zu gebieten, und runzelte die Stirn. »Also gut. Was soll ich tun? Du sagst, wir würden in Gefahr geraten, aber du kannst nicht sagen, durch wen oder was. Aber schau dich einmal um! Die Männer sind schon angespannt genug; sie haben Freunde und Verwandte auf den Schiffen, die wir suchen. Sie haben Angst, dass sie keine Spur von ihnen finden.« Er erkannte, dass seine Worte härter klangen, als er beabsichtigt hatte, und so nahm er sich ein wenig zurück. »Bitte, versteh mich. Es ist ja nicht so, als würde ich dir nicht glauben. Ich bin nur nicht bereit, eine ohnehin schon schlimme Situation noch zu verschlimmern, indem ich vor einer Gefahr warne, ohne die Frage beantworten zu 518
können, um was für eine Gefahr es sich handelt. Wenn du mir etwas Eindeutiges erzählen kannst, das ich der Mannschaft erklären kann, werde ich handeln – und nur dann. Wir haben schon genug Probleme; da müssen wir keine unbegründeten Ängste schüren.« Guinalle presste zornig die Lippen aufeinander, i und ihre Wangen röteten sich. »Natürlich, Junker, ich gehorche. Ich werde tun, was ich kann.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte wütend davon. Temar blickte ihr mit einer Mischung aus Reue und Verzweiflung hinterher. Wann würde er sich endlich wieder mit Guinalle unterhalten können, ohne dass einer von ihnen beiden gleich beleidigt war? Er tat sein Bestes, ihr aus dem Weg zu gehen, seit sie ihm klargemacht hatte, dass sie nichts von ihm wissen wollte – Saedrin verfluche sie –, doch angesichts der ernsten Lage hatte Den Fellaemion darauf bestanden, dass Guinalle und ihre beste Schülerin an der Suchaktion teilnahmen. »Hat Demoiselle Euch etwas berichten können?«, riss Meister Grethists höfliche Frage Temar aus seinen Gedanken. »Nichts Wichtiges.« Temar lächelte. Der Seemann zog einen Beutel aus der Tasche seiner Segeltuchtunika und schob sich ein Kaublatt in den Mund, bevor er auch Temar eines anbot. »Die lange Reise, keine Antworten ... Die Männer fangen an, Fragen zu stellen. Habt ihr gehört, wie es der anderen Expedition ergangen ist, die nach Süden gefahren ist?« »Ja, natürlich.« Temar lehnte das Blatt mit einem Kopfschütteln ab. Im Geiste schalt er sich für seine eigene Dummheit, dass er die Nachricht nicht mit Meister Grethist geteilt hatte. »Ich hätte es Euch sagen sollen. Es tut mir Leid. Den Berichten 519
zufolge verläuft die Küste gut vierhundert Meilen genau nach Süden; dann wendet sie sich nach Osten und Norden und in einen großen Sund, in den ein Fluss mündet, der gut zweihundert Meilen landeinwärts reicht. Nach den Berichten, die wir erhalten haben, eignet sich das Land dort hervorragend für die Viehzucht; allerdings gibt es dort wenig Bauholz.« Die Miene des Kapitäns hellte sich auf. »Das klingt vielversprechend. Wenn ich mir die vielen Kälber und Lämmer ansehe, die dieses Jahr zur Welt gekommen sind, lohnt es sich wohl, darüber nachzudenken.« »Es sieht in der Tat sehr gut aus«, stimmte Temar ihm zu. »Messire Den Rannion redet bereits über die Gründung einer neuen Siedlung noch vor Ende des Jahres. Sofern wir es beurteilen können, sind es nur ein paar hundert Meilen über Land, von den Minen sogar noch weniger.« »Vielleicht, aber das Gelände ist steil und hart.« Grethist lachte. »Bis sie eine ordentliche Straße dorthin gebaut haben, werde ich gerne in den Sund segeln, schon deshalb, um ihn einmal zu sehen.« Temar lächelte. »Ich würde jederzeit mit Euch segeln, Meister Grethist.« Von oben erklang ein Ruf. Der Seemann drehte sich um, und Temar wandte sich wieder seinem Tagebuch zu und blätterte zu den Aufzeichnungen jenes Tages zurück, als Guinalle ihm kurz nach dem Aufbruch zu dieser Reise die Nachricht von der Südexpedition überbracht hatte. Sie stammte doch von einem von Guinalles neuesten Adepten, oder? Die Kunst hatte die Verbindung zwischen dieser Flottille und dem Heimathafen aufrecht erhalten; fast jeden Tag waren Informationen hin und her gegangen. Aber was war der Nordexpedition widerfahren? Was 520
war mit den Schiffen geschehen, die sie nun suchten, dass sie spurlos verschwunden waren, ohne ein Zeichen der Adepten an Bord? Wer oder was konnte die Kunst so stark beeinflussen? Und wie tüchtig waren die Adepten gewesen, die sich der Expedition angeschlossen hatten? Temar unterdrückte ein Gefühl der Reue, weil er selbst sein Studium der Kunst im Laufe des Winters abgebrochen hatte, denn er hatte es nicht mehr ertragen können, Guinalle jeden Tag zu sehen. »Segel voraus!« Temar riss den Kopf zum Krähennest herum und klappte ungläubig den Mund auf. Von erregten Seeleuten hin und her gestoßen, bahnte er sich einen Weg an die Reling und sah einen Dreimaster unter vollen Segeln die Landzunge umrunden. »Wer ist das?«, rief hinter ihm die Stimme eines Mannes, der nichts sehen konnte. »Sieht aus wie die Lachs!« lautete die Antwort. Ein zustimmendes Raunen ging durch die Reihen der Seeleute, und erste Freudenrufe wurden laut. Temar blickte zu dem näher kommenden Schiff und versuchte, die Rune am Bug zu erkennen; sie wurde jedoch von der Gischt fast verdeckt. »Temar! Temar!« Guinalles lautes Rufen riss Temar wieder von der Reling weg. Er drängte sich zwischen den freudig jubelnden und pfeifenden Seeleuten hindurch zum Heck, wo Guinalle händeringend neben dem Kapitän stand. Der Seemann hatte die Stirn in Falten gelegt und beschattete die Augen mit der Hand, um das rasch näher kommende Schiff besser sehen zu können. »Sie haben keine Flagge gesetzt, nicht einmal ihr Banner. Angesichts der Situation hätte ich irgendein Signal erwartet«, 521
murmelte Grethist, und Zweifel schlich sich in seine Stimme. »Ich kann sie nicht erreichen, Temar.« Guinalle packte ihn am Arm. »Irgendetwas stimmt nicht auf diesem Schiff!« Temar blickte an ihr vorbei zum Kapitän. »Unsere Jungs kann ich klar und deutlich sehen«, fuhr Grethist langsam fort, »aber weder arbeiten sie in den Wanten, noch kümmern sie sich um die Segel.« »Und mir ist jeder Geist auf diesem Schiff verschlossen, Temar!«, erklärte Guinalle aufgeregt. »Ich kenne ein paar von der Mannschaft. Von hier aus müsste ich sie erreichen können!« »Setz ein Signal, Meig!«, rief der Kapitän. »Sehen die denn nicht, dass wir vor Anker liegen?« Unruhe breitete sich unter der wartenden Mannschaft aus, während das lange gesuchte Schiff mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Flussmündung zuhielt. »Temar!« Guinalle schüttelte ihn am Arm, eine Geste der Furcht und der Verzweiflung. »Die werden voll mit der Breitseite gegen uns krachen, wenn ...« Der Seemann schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Meig, kapp den Anker! Alle Mann in die Wanten und Segel gesetzt! Wir müssen weg von hier! Haltet Euch fest, Mylady.« Der Kapitän sprang vom Achterdeck, während die Mannschaft sich beeilte, das Schiff in Bewegung zu setzen. Noch immer hielt der Dreimaster mit mörderischer Absicht auf sie zu. Temar packte mit der einen Hand die Reling und griff mit der anderen nach Guinalle, als die beiden Schiffe mit ohrenbetäubenden Krachen aufeinander trafen. Guinalle wurde von den Beinen gerissen, auch Temar sank auf die Knie. Mehrere Männer stürzten aus den Wanten ins schäumende Wasser, doch ihre Schreckensschreie gingen im Lärm an Deck unter. 522
Temar rappelte sich langsam auf, während die beiden Schiffe sich schwankend und mit flatternden Segeln wieder ein Stück voneinander lösten. Als er nach einer Antwort auf diese Wendung der Ereignisse suchte, sah er die Männer der Lachs zusammensinken, und andere Gestalten erschienen auf Deck, warfen Enterhaken herüber und zogen die beiden Schiffe wieder näher zueinander heran. Ein Seemann, der sich verzweifelt an die Reling klammerte, wurde zwischen den Schiffswänden zerquetscht. Sein gequältes Schreien ging jedoch im Heulen der in schwarzes Leder gekleideten Gestalten unter, die mit Kurzschwertern und Äxten bewaffnet auf die Adler sprangen. Die Seeleute schnappten sich, was immer sie finden konnten, um sich damit zu verteidigen: Klampen, Haken und Segelmesser. Temar sprang übers Geländer des Achterdecks, zog sein Langschwert und überraschte mehrere der Angreifer, deren Blut sich auf dem Deck verteilte, als sie unter seinem Ansturm fielen. Die anderen zogen sich ein Stück zurück und musterten Temar mit kalten blauen Augen, während er nach einer Lücke suchte. Die Männer besaßen allesamt strohblondes Haar und trugen durch die Bank weg mit Nieten beschlagene schwarze Lederrüstungen. Sie waren Soldaten, erkannte Temar mit einiger Verspätung. Wo kamen sie her? »Kappt die Entertaue!« Grethists Brüllen hallte über den Tumult hinweg; es hätte selbst den wildesten Sturm übertönt. Temar sprang vor, um eine Hand voll Seeleute zu beschützen, die verzweifelt auf die dicken Taue der Enterhaken einschlugen. Als einer der Angreifer mit einem Haken im Auge schreiend vor ihm aufs Deck fiel, trat Temar ihm das Metall in den Schädel 523
und stieß den Leichnam beiseite. Immer mehr Angreifer strömten über die Reling. Temar wich aus, duckte sich und parierte. Seine langjährige Übung bewahrte ihn vor Schaden – bis ihm plötzlich eine Klinge den Hemdsärmel zerfetzte, was Temar an seinen mangelhaften Rüstschutz erinnerte, obwohl er mit seinem Lederwams immer noch besser dran war als die Seeleute mit ihrer Segeltuchkleidung. Jeder noch so schwach geführte Hieb konnte ihm eine blutende Wunde zufügen, und Blutverlust konnte er sich nicht leisten, wenn er seine Kraft erhalten wollte. Er fing eine herabsausende Axt ab und stieß sie beiseite, um die Verteidigung des Mannes zu öffnen. Mit einem schnellen Stoß traf er den aus dem Gleichgewicht geratenen Soldaten zwischen Hals und Schulter, und trotz des Lederpanzers drang die Klinge tief in Fleisch und Knochen ein. Die Axt fiel aufs Deck, und der Mann wankte blind zur Reling und fiel über Bord. »Passt auf eure Füße auf!«, rief Temar, als er die fallen gelassene Waffe nach hinten trat, damit der erstbeste Seemann sie sich schnappen konnte. Als sein nächstes Opfer in einem Schwall von Blut zu Boden sank, nachdem er ihm die Beine abgetrennt hatte, rückten gleich zwei Gegner gegen Temar vor, doch er besaß dank seiner schweren Waffe einen Reichweitenvorteil, und schon bald hatte er sie ebenfalls zu Boden gestreckt, wo ein paar Seeleute die Arbeit mit ihren Messern beendeten. Der Angriff geriet ins Stocken, als die Mannschaft sich um Temar sammelte und all die Erfahrung aus unzähligen Tavernenschlägereien zum Tragen kam. Die Männer bissen, traten, spuckten und schlugen; sie duckten sich unter den Schwertern und Äxten hindurch, um ihre behelfsmäßigen Waffen mit verheerender Wirkung zum Einsatz zu bringen. Dann ging ein 524
Schaudern durch die beiden Schiffe, als die Adler versuchte, sich loszureißen. Hinter Temar ertönte ein Schrei, und er riss den Kopf herum. Einem Seemann war es gelungen, einen Enterhaken zu lösen, wobei er sich schwer an der Hand verletzt hatte. Nun sank er auf die Knie und schrie, während er sich den Kopf hielt, und blankes Entsetzen lag in seinen weit aufgerissenen Augen. Im nächsten Moment fiel er ganz zu Boden, wand sich von Krämpfen geschüttelt und heulte wie ein Hund. Entsetzt schaute Temar sich nach dem Grund für diese überraschende Wendung der Ereignisse um. »Temar!« Guinalles Ruf hallte über das Chaos hinweg. Temar sah sie sofort. Sie kniete auf dem Achterdeck. Ihr Rock war über und über mit Blut besudelt, während sie versuchte, einem sterbenden Seemann zu helfen. Temar hielt nach schwarz gewandeten Gestalten Ausschau, die Guinalle bedrohten, konnte aber keine entdecken. »Er ist es! Dieser Mann! Vorne am Bug! Er ist der Mann, der die Kunst beherrscht!«, rief Guinalle mit vor Anstrengung heiserer Stimme. Plötzlich begann sie, wild zu kreischen, und ihre Finger krallten nach ihren eigenen Augen; erst im letzten Augenblick bekam sie sich in die Gewalt. Sie fiel nach vorn und blieb einen Augenblick, der Temar wie eine Ewigkeit erschien, so liegen; dann richtete sie sich langsam wieder auf und biss die Zähne zusammen. »Töte ihn!«, schrie sie schrill wie ein tödlich getroffener Falke. Temar blickte zu der reglosen Gestalt am Bug der Lachs, atmete tief durch und versuchte, die Situation einzuschätzen. Die Mannschaft der Adler hielt dem Angriff stand, und die Luft hallte von ihren Flüchen wider. Ein farbiges Flattern über ihren 525
Köpfen erregte Temars Aufmerksamkeit. Hoch oben in den Wanten wurden Signale gesetzt, um das Beiboot mit Verstärkung und Waffen zurückzurufen. Diese Bastarde!, fluchte Temar lautlos. Sie hatten hinter der Landspitze gewartet, bis die Hälfte der Besatzung als Suchmannschaft an Land gegangen und die Adler somit entscheidend geschwächt war. Guinalle mochte sie ja nicht gesehen haben; aber irgendwie hatte dieser Hundesohn in dem langen Umhang das Tormalinschiff ausspioniert, während er die unschuldigen Kolonisten wie Marionetten auf Deck hatte stehen lassen. Im selben Augenblick, als Temar diese Gedanken durch den Kopf schössen, fiel ein Unglücklicher kopfüber aus den Wanten über ihm; Meig machte keine Anstalten, seinen Sturz irgendwie abzufangen, und mit lautem Krachen schlug der Mann auf das Deck und brach sich sämtliche Knochen. Temar stellte einen Fuß auf die Reling. Mit einer Hand griff er nach einem Seil, während die beiden Schiffe aneinander rissen und Planken zersplitterten. Das Schwert in der anderen Hand, straffte Temar die Schultern und richtete sich auf. »Wer kämpft an meiner Seite?«, rief er, während er sorgfältig den Abstand zwischen den beiden sich nun wieder näher kommenden Schiffen abschätzte. Temar lächelte, als er zur Antwort hinter sich ein blutrünstiges Heulen hörte; dann drückte er sich mit aller Kraft ab, segelte durch die Luft und landete auf allen vieren auf dem anderen Schiff. Dumpfe Schläge hinter ihm kündeten von der Ankunft einer Hand voll weiterer Männer von der Adler, die darauf brannten, ihre frisch erbeuteten Waffen endlich zum Einsatz zu bringen. Der Feind reagierte rasch auf diesen überraschenden Gegen526
angriff, und eine Gruppe der blonden Kämpfer stürmte in enger Formation das Deck hinunter. Temar bereitete sich auf den Kampf vor, sein langes Schwert gegen den Feind gerichtet, doch mit halbem Auge beobachtete er die große Gestalt am Bug, deren blondes Haar im Wind flatterte. Ein goldenes Band schimmerte am Hals des Mannes, während er all seine Aufmerksamkeit und seine Fähigkeiten auf das andere Schiff richtete, um den Angriff zu unterstützen. Eine Axt sauste auf Temars Kopf zu, doch er wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab und trieb den Gegner zurück. Einen Schritt nach dem anderen rückte Temar langsam vor, hieb und stach und achtete darauf, sich nicht zu weit von den anderen zu lösen, um den Feind geschlossen zum Rückzug zu zwingen. Er konzentrierte all seine Bemühungen auf die Gegner vor ihm und vertraute auf den Schutz der Männer hinter sich und die Entschlossenheit der Verteidiger auf der Adler. Schritt für Schritt kamen Temar und seine Mitstreiter dem Mann am Bug näher, als dieser sich plötzlich zu ihnen umdrehte und die Arme hob. Hass verzerrte sein Gesicht, als er sie in einer unbekannten, harten Sprache anspie. Die Luft vor Temar begann zu flimmern, und die Gesichter vor ihm verzerrten und verzogen sich. Das Deck unter seinen Füßen fühlte sich plötzlich rau und uneben an; es schien, als würde er auf einer steinigen Straße stehen. Temar trat einen Schritt vor, doch er verlor den Halt, und überall um ihn herum ertönten das Fauchen und Knurren wilder Tiere, die nach Blut gierten. Temar sträubten sich die Nackenhaare, als ihn all seine Instinkte zur Flucht mahnten und Schreie des Entsetzens von den Männern hinter ihm erklangen. Temar schüttelte den Kopf in wildem Trotz und wühlte in seinen Erinnerungen nach jenen 527
Verteidigungen, die Guinalle ihn gelehrt hatte, bevor ihre Freundschaft in die Brüche gegangen war. »Tur ryal myn ammel!«, rief er und schloss für einen Moment die Augen, um all seine Kraft einzusetzen, die Berührung des Hexers abzuschütteln. Dann schlug er die Augen keuchend wieder auf. Zu seiner unendlichen Erleichterung konnte er wieder klar sehen; auch die Seeleute hinter ihm schienen sich gefangen zu haben. Kurz fragte sich Temar, was die Beschwörung, an die er sich erinnert hatte, eigentlich genau bewirken sollte ... egal. Die Schreie der Feinde auf der Adler wurden plötzlich lauter, doch nun hallten sie mehr von Bestürzung denn von Triumph wider. Ein Zittern ging durch das Deck, und ein weiterer lebloser Körper rollte Temar vor die Füße, und wieder trat er ihn beiseite. Plötzlich erhoben sich auf dem anderen Schiff Tormalinstimmen zu lautem Triumphgeschrei, und Spottrufe mischten sich mit Flüchen. Temar blickte kurz hinüber und sah, wie mehrere der schwarz gewandeten Angreifer die Waffen fallen ließen und kreischend vor einem Schrecken zurückwichen oder sich zu Boden fallen ließen, den nur sie sehen konnten. Einer von ihnen fiel über die Reling und verschwand im gischtenden Wasser, als die beiden Schiffe wieder gegeneinander prallten. Die Soldaten, die Temar und seinen Männern gegenüberstanden, wichen zu den Stufen zurück, die zum Bug hinaufführten; ihre Waffen dienten nun der Verteidigung und nicht mehr zum Angriff. Temar blickte zu dem feindlichen Hexer und sah Bestürzung gemischt mit Hass auf dem schmalen, faltigen Gesicht, während der Mann zu Guinalle starrte, die nun, umgeben von einem 528
schützenden Ring aus Seeleuten, aufrecht auf dem Achterdeck stand und unsichtbare Zerstörung über die Angreifer brachte. Während Temar sie beobachtete, stürzte eine Hand voll blonder Krieger schreiend auf sie zu, fielen jedoch vor dem Ring aus Holz und Eisen, noch bevor sie ihre Waffen überhaupt erheben konnten. Der Hexer hob die Hand – eine unmissverständliche Drohung. Doch eine plötzliche, heftige Bewegung des Schiffes brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Auch Temar musste sich an der Reling festhalten; dennoch konnte er sich ein wildes Lachen nicht verkneifen. »Das Beiboot!« Einer der Seeleute schüttelte Temar an der Schulter, und Temar nickte grimmig und zufrieden, als er sah, wie die Bootsmannschaft mit kampfbereiten Waffen über die Reling der Adler kletterte und sich ihr frischer Zorn wie eine Flut über die Angreifer ergoss, welche die schwarz gewandeten Gestalten wie Treibholz hinwegspülte. Das Deck schwankte wieder unter Temars Füßen, und er bemerkte, dass inzwischen fast alle Enterhaken gelöst worden waren. »Wir müssen zur Adler zurück!«, rief er über die Schulter. Langsam und mit erhobenen Waffen zogen sie sich zurück für den Fall, dass der Feind sich plötzlich auf sie stürzen sollte. Mehrere der blonden Soldaten verfolgten sie, blieben aber knapp außer Reichweite und riefen ihnen Herausforderungen in ihrer seltsamen Sprache zu. »Beachtet sie nicht!« Temar schüttelte den Kopf in Richtung eines Seemanns, der kurz stehen geblieben war und darauf brannte, sich mit seiner erbeuteten Axt in den Kampf zu stürzen. Temar tastete in seinem Wams nach dem Wurfdolch. Sich auf diese Art zurückzuziehen, war ja schön und gut, aber es 529
ging zu langsam vonstatten. Die Schiffe stemmten sich gegen die Haltetaue, und immer öfter hörte er ein Schnappen, wenn eines dieser Taue riss, denn der Zug, den die Segel der Adler auf die verbliebenen Leinen ausübten, wurde immer größer. Als sie die übrig gebliebenen Enterhaken erreichten, legte Temar den Dolch wurfbereit in die Hand, und erleichtert hörte er ermutigende Rufe vom anderen Schiff, die ihnen Hilfe und Seile für die Rückkehr anboten. »Macht euch bereit, dass ihr zurückgeht«, befahl er, schätzte die Entfernung und den Wind ab und fragte sich, ob er es schaffen würde. »Wann?«, wollte einer der Seeleute in seiner Nähe wissen. »Jetzt!«, rief Temar. Er trat einen Schritt vor und riss die Hand in einer fließenden Bewegung hoch und zurück. Das funkelnde Messer flog über das Schiff und bohrte sich als schimmerndes silbernes Etwas in die Brust des Hexers. Dessen Schmerzensschrei brachte die schwarz gekleideten Soldaten sofort zum Stehen, die sich gerade auf die Seeleute stürzen wollten, die sich nun nicht mehr angemessen verteidigen konnten, da sie auf die Adler zurückkletterten. Als blonde Köpfe sich hierhin und dorthin drehten, ergriffen Temar und seine Männer die Gelegenheit zur Flucht auf die Adler, wo Messer und Äxte nur darauf warteten, auch die restlichen Taue zu kappen. »Setzt die Segel und haltet aufs offene Meer zu!«, brüllte Kapitän Grethist. Seine Stimme jagte die Seeleute die Wanten hinauf, egal ob ihre Füße noch rutschig vom Blut waren und ungeachtet ihrer Verwundungen. Die Adler flog über die Wellen davon, während die Lachs sich nun der Gnade von Wind und Strömung ausgesetzt sah und schwarze Gestalten sich an den Tauen zu schaffen machten. 530
»Wir können die Lachs doch nicht einfach so zurücklassen!«, protestierte eine Stimme. »Und wie sollen wir sie zurückholen?«, fragte Grethist verächtlich; doch sein Zorn war ihm deutlich anzusehen, als er neben den Steuermann stapfte. »Sollen diese Bastarde sich eine Weile um sie kümmern – aber nur so lange, bis wir wieder zu Hause sind und eine Flotte aufgestellt haben, um diese verdammten Hundesöhne Dastennin vor die Füße zu werfen!« Trotziges Kriegsgeschrei erhob sich nach dieser Ankündigung, und die Männer schrien der Lachs Beleidigungen hinterher, die sich nun endlich in Bewegung gesetzt hatte und langsam in Richtung der fernen Landspitze kroch. »D’Alsennin!« Temar blickte zum Heck des Schiffes. Er sah die große, hagere Gestalt von Avila Tor Arrial auf dem Achterdeck, die versuchte, Guinalle zu stützen, die der Ohnmacht nahe war. »Kommt. Lasst mich.« Temar drängte sich zum Achterdeck durch und nahm Guinalle in die Arme; sie war kreideweiß. »Bringt sie in unsere Kabine.« Avila wehrte die erschrockenen Fragen der Seeleute mit einem herrischen Blick ab und öffnete alle Türen bis zur Kabine der beiden Frauen. Sanft legte Temar Guinalle in die schmale Koje und ballte die Fäuste in hilfloser Verzweiflung, während Avila Guinalles Gürtel löste und ihr den Kragen aufknöpfte, um ihren Puls zu fühlen. Dann beugte die ältere Frau sich dicht zu Guinalle hinunter und grunzte zufrieden, als sie deren Atem auf ihrer Wange spürte. »Sie wird schon wieder. Sie ist völlig erschöpft.« Avila legte Guinalle liebevoll die Hand auf die Stirn; ihre vom Kräutermischen braun gefärbten Finger hoben sich scharf von Guinalles blasser Haut ab. 531
Temar wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder wütend auf Guinalle, weil sie ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte. »Sie glaubt immer, alles alleine tun zu können«, platzte er heraus. »Ist es das erste Mal, dass sie sich so überanstrengt hat? Warum kann sie ihre Kräfte nicht besser einteilen?« Avila goss Wasser in eine flache Schüssel und hielt kurz inne, ein Leinentuch in der Hand. »Guinalle muss so viel tun, weil es an anderen ausgebildeten Geistern fehlt, die ihr die Last erleichtern könnten«, erklärte sie. »Würden sich genügend Leute melden, sich in der Kunst ausbilden zu lassen, wäre ihr Leben um Vieles einfacher. Das Problem ist, dass viele Freiwillige aufgeben, sobald die Studien schwieriger werden.« Sie verbarg die Verachtung in ihrer Stimme und ihren Augen nicht, als sie zu Temar blickte und sich eine Locke grauen Haars aus der Stirn strich. »Ich hatte meine Gründe, und außerdem habe ich meine Pflichten«, sagte Temar. Erneut blickte er zu Guinalle; ihre Wangen bekamen wieder etwas Farbe. »Messire Den Fellaemion verlangt zu viel von ihr«, sagte er widerwillig und hasste sich selbst für diese Worte. »Messire Den Fellaemion ist krank.« Avila verspritzte ein duftendes Öl aus einer kleinen Flasche und legte das damit angefeuchtete Tuch auf Guinalles Stirn. »An manchen Tagen hält nur noch Guinalles Kunst ihn auf den Beinen.« Temar starrte sie offenen Mundes an. »Das meint Ihr doch nicht ernst, oder?« »Todernst, Junker!«, sagte Avila und wischte sich die Hände an ihrem schlichten braunen Kleid ab. »Ohne Guinalle würde er dieses Jahr nicht überleben. Also hat sie ihm all ihre Kraft und Zeit geschenkt und auch noch ihre anderen Pflichten erfüllt.« 532
»Und was soll ich jetzt tun?«, wollte Temar wissen. »Hört auf, ständig nach einem Vorwand zu suchen, irgendwohin zu segeln, um im stillen Kämmerlein wegen Guinalle zu schmollen.« Avila funkelte ihn an. »Ihr seid der offensichtliche Nachfolger von Den Fellaemion, Junge! Bleibt und lernt von ihm. Übernehmt etwas von der wirklichen Arbeit in der Kolonie und hört auf, in der Gegend herumzuziehen, wann immer Euch jemand Gelegenheit dazu gibt. Wenn Den Fellaemion weniger zu tun hat, wird er auch Guinalle weniger abverlangen müssen. Vielleicht hat sie ja dann einmal Gelegenheit, ein wenig von ihrer Kraft zu sparen. Reißt Euch zusammen, D’Alsennin! Ich habe beobachtet, wie Ihr Euch Guinalle gegenüber benehmt. Drianon weiß, dass Ihr nicht der erste Junge seid, der einen Korb bekommen hat, und Guinalle ist nicht die erste Frau, die sich wichtigeren Aufgaben gegenübersieht, als Ehefrau und Mutter zu sein!« Aufgestauter Kummer brach sich Bahn, bevor Temar seine Zunge im Zaum halten konnte. »Ich soll wohl auch noch dankbar dafür sein, dass sie diese Aufgaben auf sich genommen hat, ja? Guinalle hat immer wieder Euren Namen erwähnt, als ich herauszufinden versuchte, warum sie sich gegen mich gewandt hat. Nur weil Ihr beschlossen habt, nie zu heiraten, gibt das Euch nicht das Recht, Euch in das Glück anderer einzumischen.« Avila blickte ihn ruhig an, doch in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich hätte geheiratet, D’Alsennin, wäre mein Verlobter nicht derselben Pockenepidemie zum Opfer gefallen, die so viele aus Eurem Haus in die Anderwelt geführt hat. Mein Vater ist ebenfalls gestorben, und meine Mutter wurde zum Krüppel. So wurde es meine Aufgabe, sie in den nächsten vier Jahren zu 533
pflegen, war ich doch die jüngste und damit am wenigsten begehrte Tochter. Danach – und nachdem so viele gestorben waren – hatte ich keine Gelegenheit mehr zu heiraten. Aber Ihr habt Recht. Ich habe Guinalle ermahnt, erst einmal nachzudenken, bevor sie sich einen Ehemann nimmt und sich der Herausforderung von Kindern stellt. Es ist ja nicht so, als gäbe es einen Mittelweg, nicht hier, nicht jetzt. Guinalle hat eine hervorragende Erziehung genossen, und Ihr bieten sich Möglichkeiten, von denen ich nur träumen konnte. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, wenn sie das alles für einen selbstsüchtigen Junge wegwerfen würde, der noch grün hinter den Ohren ist!« Guinalle rührte sich in ihrer Koje und griff mit zitternder Hand nach ihrer Stirn. Temar betrachtete sie einen Augenblick; dann, da er seiner Stimme nicht mehr vertrauen konnte, machte er stumm auf dem Absatz kehrt und warf hinter sich die Tür ins Schloss.
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Eine Handelsinsel in der Domäne von Sazac Joa, Aldabreshin-Archipel 20. Vorsommer
Ich trat aus dem Boot auf den Sand und hob mein Gepäck heraus, ohne dass jemand mir half. »Vielen Dank«, sagte ich höflich, doch niemand antwortete, und ich ging davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es fiel mir jedoch schwer, trotz ihres Mangels an Höflichkeit wütend auf die Aldabreshi zu sein. Wie immer sie ihre Nachrichten mit Flaggen und Leuchtfeuern verbreiten mochten – die Kunde von Kaeskas Schicksal hatte sich wie ein Lauffeuer im Archipel verbreitet, und Shek Kuls Zeichen gewährte mir zwar Passage auf allen Schiffen, ließ mich zugleich aber als den Festländer erkennen, der die ganze Angelegenheit ins Rollen gebracht hatte. So war es keine Überraschung, dass ich überall, wo ich durchkam, wie ein Aussätziger behandelt wurde. Langsam ging ich den Strand hinunter und betrachtete die Banner der einzelnen Fahrzeuge auf der Suche nach dem gelbroten, an das mich der letzte Kapitän widerwillig verwiesen hatte; es war das Banner der nächsten Domäne, die ich auf dieser quälend langsamen Reise durchs Archipel durchqueren musste. Ich seufzte. Die Sonne versank hinter einer Felseninsel im Westen, und mir gefiel der Gedanke gar nicht, wieder eine Nacht am Strand verbringen und hoffen zu müssen, dass mich niemand im Schlaf ausraubte oder gar erstach. »Du bist weit weg von Zuhause, Tormalinmann.« Diese unerwartete Begrüßung war freundlich genug, dass ich nicht sofort nach meinem 535
Schwert griff. Nach meinen Erfahrungen in letzter Zeit würde ich diese Klinge vermutlich erst wieder ziehen, wenn sich ein ganzer Trupp Elietimm auf mich stürzte. Ich drehte mich um und sah einen kleinen Mann mit kupferfarbener Haut; er trug eine schäbige Tunika und grinste mich an. Er war bartlos und kahl wie ein Ei; mit der entsprechenden Kleidung hätte er auf jedem Dock entlang des Golfs von Lescar herumlungern können. Tatsächlich besaß sein Tormalin einen deutlichen LescariUnterton. »Ich könnte das Gleiche von dir behaupten, stimmt’s?« Ich blickte ihm in die dunklen Augen, um die Ernsthaftigkeit seiner Antwort abzuschätzen. »Vielleicht, aber heutzutage habe ich eigentlich gar keine richtige Heimat – abgesehen von meinem Schiff natürlich. Das ist sie, die Amigal!« Stolz deutete er auf eines der kleineren Fahrzeuge, das in der schmalen Meerenge vor Anker lag. Trotz der Aldabreshi-Takelung und der fremdartigen Anordnung von Masten und Segeln war es ungefähr von der gleichen Form und Größe wie die Boote, welche die Golfküste von Tormalin hinunterfahren und eine beachtliche Menge Ladung mit nur wenigen Seeleuten transportieren konnten. Das an sich war schon interessant angesichts des Übergewichts an mächtigen Galeeren um uns herum, doch faszinierender waren noch die weißen Wimpel, die an einer langen Leine vom Mast bis zum Heck aufgezogen waren. Dieses kleine Schiff besaß die Erlaubnis, gleich in einer ganzen Hand voll Domänen Handel zu treiben. Leidenschaftslos musterte ich den Mann, der mich noch immer breit anlächelte, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du von mir?«, wollte ich wissen. »Ich habe mir gedacht, vielleicht würdest du gerne ein Ge536
schäft mit mir abschließen«, antwortete der Mann. »Ich weiß, wer du bist, Tormalinmann. Du bist der Sklave der jungen Laio Shek, der dabei geholfen hat, dass die Asche dieser verfluchten Hexe Kaeska jetzt im Meer treibt.« Er wischte sich mit der Hand über den Mund – eine unterbewusste Geste, die ich in letzter Zeit nur allzu häufig gesehen hatte, sobald die Leute mich erkannten. »Ich könnte mir vorstellen, dass du ordentlich dafür bezahlen würdest, schneller nach Hause zu kommen, anstatt die ganze nächste Jahreszeit von einer Galeere auf die andere hüpfen und darauf hoffen zu müssen, dass dich nicht vielleicht doch jemand über Bord wirft – für den Fall, dass du trotz allem mit Magie verseucht sein solltest.« Ich fragte mich, womit der Kerl seinen Lebensunterhalt verdiente, wenn das seine Vorstellung von einer Geschäftsverhandlung war. Leider hatte er im Großen und Ganzen Recht. »Und wohin könntest du mich bringen?«, fragte ich. Bis jetzt erwiderte ich sein Lächeln nicht. »Nahe genug ans Festland, dass du dir von dort eine direkte Passage in einen der caladhrischen Häfen besorgen kannst. Nach Attar oder Claithe, was immer du willst.« Ich dachte darüber nach. Der nördlichste AldabreshiKriegsherr hatte die Caladhrier vor gut einer Generation von den Golfinseln vor ihrer Küste vertrieben, und soweit ich gehört hatte, gab es seit einer Hand voll Jahren geregelte Handelsbeziehungen zwischen den einstigen Feinden. Sofern es mich betraf, lagen Attar und Claithe am vollkommen falschen Ende des Golfs von Lescar, aber wollte ich wirklich das gesamte Archipel auf diese Art durchqueren, um dann nach einem der wenigen Schiffe zu suchen, das die profitable, aber gefährliche Fahrt nach Zyoutessela wagte, wo es sich den Winden und 537
Strömungen stellen musste, die um das Kap der Winde tosten? Wenn ich Caladhria erreichte, war der Weg nach Hause noch lang, besonders, da zu dieser Jahreszeit der Krieg in Lescar wieder in vollem Gang war. Trotzdem – zumindest wäre ich in der Lage, einen Brief an Messire zu schicken, und es bestand immer die Möglichkeit, eine direkte Passage über den Golf von Relshaz nach Toremal zu bekommen. Ich erinnerte mich an die Edelsteine, die ich am Boden meines Seesacks gefunden hatte, ein Abschiedsgeschenk von Laio. Wenn ich wollte, konnte ich meine eigene Galeere kaufen – natürlich nur an einem zivilisierten Ort. Ich betrachtete den kleinen Mann und fragte mich, was er wohl unter ›ordentlicher Bezahlung‹ verstand. »Wie heißt du?«, fragte ich und entspannte mich ein wenig. »Dev.« Er streckte die Hand mit der Handfläche nach oben aus, eindeutig eine Lescarigeste, denn dort gilt es als größte Höflichkeit, dem Gegenüber zu zeigen, dass man keinen Dolch im Ärmel hat. Ich schüttelte ihm die Hand. »Schön, dich kennen zu lernen, Dev. Ich bin Ryshad.« Ich schaute mich auf dem Strand um, wo es vor Menschen nur so wimmelte, während kleine Boote Waren und Passagiere auf und von den größeren Schiffen brachten. Der Duft von frischem Essen stieg von kleinen Feuern und Kohlenbecken auf, die in einer Reihe vor den Bäumen standen, und mein Magen begann zu knurren. »Ich habe Hunger. Dieser Bastard von Kapitän hat darauf bestanden, mich an Land zu bringen, bevor die Mannschaft sich zum Essen gesetzt hat.« Das war mir auf dieser unangenehmen Reise nun schon allzu oft passiert; da hier niemand verstand, was es heißt, für eine Mahlzeit zu bezahlen, konnte ich mir 538
nichts zu essen kaufen. Egal wie viele Mahlzeiten um mich herum zubereitet wurde, trotz meines ganzen Vermögens bekam ich keinen Bissen davon ab. »Dann komm. Du kannst mit mir essen.« Dev führte mich zu einem Unterstand aus Ästen, wo eine fette Frau dünnflüssigen Teig in eine Pfanne goss und die Pfannkuchen mit einer Mischung aus verschiedenen Töpfen belegte, bevor sie sie zusammenrollte. »Was ist am mildesten gewürzt?«, fragte ich Dev vorsichtig und beobachtete, wie er nach Fleisch verlangte, das in irgendetwas eingelegt war, das ich inzwischen als sehr scharfen roten Pfeffer kannte. Woher der Mann auch stammen mochte, er lebte offenbar schon lange genug im Archipel, dass seine Zunge jegliches Gefühl verloren hatte. »Der Fisch, würde ich sagen!« Dev lachte. Er nannte der Frau den Namen seines Schiffes, und sie nickte zufrieden, als sie die Wimpel am Mast flattern sah. »Was ist ein Amigal?«, fragte ich und biss vorsichtig in meine Mahlzeit. Tatsächlich war die Füllung sogar essbar, auch wenn ich bis heute nicht verstehe, warum die Aldabreshi Fisch nicht einfach so essen. »Ein Amigal ist ein Vogel hier auf den Inseln«, erklärte Dev, während er seinen gefüllten Pfannkuchen hinunterschlang. »Er verbringt das halbe Jahr damit, gen Süden zu fliegen, und die andere Hälfte geht es dann wieder zurück. So ein verrücktes Biest!« »Und du machst es genauso?« »Mehr oder weniger, obwohl ich eigentlich nie weiter als bis zur Domäne von Neku Riss segele.« Dev schluckte den letzten Bissen hinunter und winkte der Frau, ihm einen weiteren 539
Pfannkuchen zu machen. »Wie ist es dazu gekommen, dass du Shek Kuls ältestes Problem für ihn gelöst hast?« Bei diesen Worten drehten sich sämtliche Köpfe in der Nähe zu uns um. Alle kannten den Namen, und viele beherrschten genügend Tormalin, um den Sinn von Devs Frage zu erfassen. Blätter raschelten, als diejenigen, die uns am nächsten standen, langsam von uns wegrückten – eine Reaktion, an die ich mich inzwischen gewöhnt hatte. Kurz und knapp berichtete ich Dev, was geschehen war. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, so viel Misstrauen und Angst vor den Elietimm auf dem Archipel zu verbreiten, wie ich nur konnte. Als ich Kaeska das erste Mal erwähnte, legte Dev mir die Hand auf den Arm. »Wisch dir den Schmutz von den Lippen, wenn du diesen Namen sprichst«, warnte er mich, »und nenne sie niemals Kaeska Shek. Sie ist nicht mehr mit dieser Domäne verbunden.« Ich nickte und fragte mich, wie viele Leute ich auf meiner bisherigen Reise wohl beleidigt oder verärgert hatte, weil mir dies bis jetzt unbekannt gewesen war. Damit war meine Entscheidung getroffen. Was immer Dev als Bezahlung von mir wollte – wenn ich es ihm geben konnte, gehörte es ihm. Ich wollte so schnell wie möglich fort von diesen unheiligen Inseln und ihrem gnadenlosen Volk. »Wie bist du überhaupt auf einer Sklavenauktion in Relshaz gelandet?«, erkundigte sich Dev und blickte mich neugierig an, nachdem ich meine Geschichte beendet hatte. »Ich war für. meinen Patron in Relshaz«, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. »Man hat mich überfallen, Straßenräuber wahrscheinlich. Einer von ihnen hat mich von hinten niedergeschlagen. Ich bin im Gefängnis wieder aufgewacht, und 540
sämtliche Zeugen haben geschworen, ich hätte irgendeinen pockenvernarbten Kaufmann überfallen, den ich nie zuvor gesehen hatte. Die gierigen Bastarde haben sich nicht mit dem zufrieden gegeben, was ich in meiner Börse hatte; sie wollten wohl mal sehen, was sie für mich bekommen.« »Ich hätte nie geglaubt, dass ein eingeschworener Mann sich einfach so erwischen lässt.« Dev schüttelte den Kopf und lachte leise. »Da bist du nicht der Einzige«, sagte ich zerknirscht. »Mein Patron wird vielleicht darüber hinwegsehen, aber meine Kameraden werden mich daran erinnern, bis ich alt und grau bin.« »Komm.« Dev stand auf, und wir gingen zu einem kleinen Boot am Strand. Ein Junge lehnte sich dort auf ein einzelnes Ruder, das in den Sand gerammt war, um das Boot festzuhalten. Dev drehte sich zu mir um und steckte die Hände in das ausgefranste Seil, das ihm als Gürtel diente. »Nun denn, was bietest du mir für die Fahrt, Tormalinmann?«, fragte er und neigte leicht den Kopf zur Seite. »Was verlangst du?« »Wie wäre es mit etwas Flitter?« Seine Augen wanderten gierig zu dem goldenen Symbol mit dem Smaragd, das Shek Kul mir gegeben hatte und das ich offen auf der Brust trug; irgendwann hatte ich nämlich festgestellt, dass es besser war, es zur Schau zu stellen, wollte ich mein Leben behalten. Ich verzog das Gesicht und sog zischend die Luft ein. »Das ist mein einziger Schutz, solange ich auf diesen Inseln bin«, erwiderte ich. »Ohne dieses Medaillon ist mein Leben nichts mehr wert.« »Bei mir bist du sicher.« Dev zeigte sich hartnäckig, und sein Blick wich nicht ein einziges Mal von dem Schmuckstück. 541
»Wie wäre es, wenn ich es dir gebe, sobald ich sicher auf einem caladhrischen Schiff bin?«, bot ich widerwillig und nach längerem Schweigen an. Dev legte die Stirn in Falten und dachte darüber nach. »Dein Wort darauf?«, fragte er schließlich. »Mein Wort darauf. Dastennin soll mich ersäufen, wenn ich es breche«, erwiderte ich. »Und wenn Dastennin keine Rache an mir üben sollte, dann mein Patron Messire D’Olbriot. Du kennst ihn doch, oder? Ich werde dich wohl kaum übers Ohr hauen, wenn ich mich nachher vor ihm verantworten muss.« Die Falten auf Devs Stirn glätteten sich wieder. »Das ist wahr. Dann komm.« Ich war froh, dass wir nun beide zufrieden waren: Dev, weil er bekommen würde, wovon er glaubte, dass es mein einziger Besitz war, und ich, weil ich die Existenz des kleinen Schmuckbeutels nicht hatte enthüllen müssen, den Laio mir in den Seesack eingenäht hatte. Wir erreichten Devs Schiff, und ich folgte ihm an die Reling, wobei ich mich erfolglos nach der Mannschaft umschaute. Dev lachte. »Hier gibt es nur dich und mich. Mein Partner wurde bei einem Kampf vor einiger Zeit erstochen. Du wirst für die Heimfahrt arbeiten müssen. Wenn du aus Zyoutessela stammst, kennst du dich doch bestimmt auf einem Boot aus.« »Heißt das dann nicht, dass du eigentlich mich bezahlen müsstest?«, sagte ich lächelnd. »Das Geschäft gilt. Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr.« Ich ließ ihn seinen kleinen Triumph genießen. »Wenn du es sagst.« »Lass uns etwas trinken.« Dev hob eine Klappe am Bug des kleinen Schiffes, die in einen überfüllten Laderaum voller klei542
ner Fässer führte. Nachdem er die Leiter hinuntergestiegen war, reichte er eines der Fässer zu mir herauf, und wir machten uns auf den Weg in eine ebenso beengte Kabine am Heck des Schiffes, wo ich meine Decke an der Stelle ausbreitete, die Dev mir zuwies. Dieses Schiff war offensichtlich dafür ausgelegt, möglichst viel Ladung zu transportieren, und wenn ich beim Segeln helfen musste, glaubte ich nicht, dass mir viel freie Zeit bleiben würde. Dev zog einen Stuhl unter einem kleinen Tisch hervor und schlug das Fass geschickt an. Ich nahm den Becher, den er mir reichte, leerte ihn durstig – und wäre fast erstickt. Das war nicht der dünne Aldabreshiwein, den ich erwartet hatte, sondern eine Art dunkler Branntwein. »Ich wette, es ist verflucht lange her, seit du zum letzten Mal was Ordentliches zu trinken hattest«, lachte Dev und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Was ist das für ein Zeug?«, keuchte ich und versuchte, nicht mehr zu husten. Den nächsten Schluck trank ich vorsichtiger. »Es wird aus Honigwaben hergestellt.« Dev schenkte sich einen zweiten Becher ein, doch ich winkte ab. Es gibt nur sehr wenige Leute, denen ich genug vertraue, um mich in ihrer Gegenwart zu betrinken, und Dev würde ich noch nicht einmal an das unterste Ende dieser Liste setzen. Trotzdem war es ein angenehmes Gefühl, endlich wieder das wärmende Gefühl vom echtem Alkohol zu spüren. »Ich dachte immer, alle Aldabreshi würden diese Pferdepisse trinken, die sie Wein nennen.« »Es gibt immer einen Markt für das Verbotene.« Dev kicherte, doch ich konnte nicht behaupten, dass ich es sonderlich lustig fand. Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht, auf einem Schiff 543
zu fahren, das bis oben hin voller Schmuggelware war. »Ist das Eis, über das du läufst, nicht sehr dünn?«, fragte ich. »Ich passe schon auf, wo ich hintrete«, erwiderte Dev leichthin. Ich trank einen weiteren Schluck. Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass er keinen Fehltritt machte, solange ich an Bord war. Und falls doch ... Nun, Shek Kuls Medaillon und ich wären beim ersten Anzeichen von Ärger sofort vom Schiff herunter. »Gut, du kannst die Wache übernehmen. Ich gehe noch mal an Land, um ein wenig Handel zu treiben«, sagte Dev. Ich folgte ihm auf Deck und suchte mir einen bequemen Platz am Mast, während er nach dem Fährjungen rief. »Wann soll ich dich zurückerwarten?«, rief ich ihm hinterher, als Dev sich in der Nussschale des Jungen vom Boot entfernte. Dev blickte zu den Sternen hinauf, die inzwischen am dunkler werdenden Himmel erschienen waren. »Gegen Mitternacht.« Ich winkte ihm und setzte mich aufs Deck. Ich würde mich sicherlich nicht entspannen, aber meine Laune hatte sich bereits deutlich gebessert – und das nicht nur wegen des Alkohols. Ich schlang die Arme um die Knie und beobachtete das Treiben an den Ankerplätzen um mich herum. Laternen streckten ihre langen gelben Finger über das dunkle Wasser aus, und Stimmen hallten von den verschiedenen Schiffen zu mir herüber; Stimmen diskutierten, manche stritten, und während die Nacht weiter fortschritt, sangen immer mehr. Die Sterne wanderten langsam über meinen Kopf, und der größere Mond zog am kleineren vorbei, der fast voll war. Nach und nach verloschen die Lichter auf den Galeeren, und Stille kehrte ein. Die Feuer am Ufer brannten herunter, und die meisten Fährleute zogen 544
ihre Boote über die Flutgrenze. Ich hielt die Luft an, als ich unter meinen Füßen ein leises Geräusch hörte. Ich lauschte. Dann hörte ich es erneut – ein Kratzen und ein Klopfen, das nicht aus dem Laderaum, sondern aus der Heckkabine kam. Auf jedem anderen Schiff hätte ich Ratten dafür verantwortlich gemacht; aber ich hatte die drastischen Maßnahmen gesehen, mit denen die Aldabreshi Ungeziefer von ihren Inseln fernhielten, und ich glaubte nicht, dass Dev hier noch handeln würde, wenn eine Ratte auch nur ein Schnurrhaar an seiner Reling zeigte. Beim nächsten Geräusch war mir alles klar. Ratten mochten für Nager ja ungewöhnlich klug sein, doch Schubladen zu öffnen, hatten sie meines Wissens noch nicht gelernt. Ich zog die Sandalen aus und schlich zur Luke, leise wie eine Katze auf der Jagd. Dort angekommen zog ich einen dünnen Aldabreshidolch aus meinem Gürtel, packte das Tau, das als Türöffner diente, riss die Luke auf und sprang im selben Augenblick in die Kabine. Ich war bereit gewesen, mir alles zu schnappen, was mir in der Dunkelheit begegnen würde, doch nun sah ich im schwachen Licht einer Kerze ein abgemagertes Mädchen. Ihre Augen waren große blaue Flecken in ihrem blassen Gesicht, und ungewaschenes Haar fiel über ihre schmalen Schultern. Nichtsdestotrotz packte ich sie am Hals. Die Göre hatte meinen Seesack geöffnet und verschiedene meiner Besitztümer auf dem Boden verteilt. Ich hob den Dolch, sodass sie ihn sehen konnte. »Was tust du da?« Ihre Augen hatten Schwierigkeiten, sich auf die blanke Klinge zu konzentrieren. Ihr Kiefer hing herunter, und ihr Atem stank nach Thassin. Ich verzog das Gesicht. Das Mädchen starr545
te mit trüben, blutunterlaufenen Augen auf die Klinge. »Mach dir keine Sorgen wegen Repi. Sie ist vollkommen harmlos. Sie sucht nach Thassin, Than, alles ... nach Kaublättern, wenn du welche hast.« Devs Stimme erschreckte mich, und ich funkelte ihn durch die Luke hindurch an. »Sie hat nicht genug Verstand, auch nur daran zu denken, dich auszurauben.« »Verflucht, Dev, du hättest mir davon erzählen sollen«, protestierte ich. »Ich hätte sie töten können.« »Ich nehme an, noch nicht einmal das hätte sie bemerkt.« Dev rutschte die Leiter herunter und schnippte mit den Fingern vor den leeren Augen des Mädchens. »Bett«, sagte er und öffnete die Tür zum Hauptladeraum. Sein Tonfall und seine Art erinnerten mich an früher, wenn ich meinen Hund zurechtgewiesen hatte. Beim zweiten Versuch schaffte es das Mädchen durch die Tür und rieb sich den Arm dort, wo sie sich beim ersten Versuch gestoßen hatte. Dev blickte sie verächtlich an, als Repi sich auf einen Haufen Decken fallen ließ. »Was ist sie? Eine Art Werbeschild für eine deiner Waren?«, fragte ich wütend. »So etwas ähnliches.« Dev zog seine Tunika aus und kletterte sorglos in seine Hängematte. »Sie ist auch auf dem Rücken ganz gut, wenn du sie vorher mit Riechsalz ein wenig aufgeweckt hast. Bedien dich ruhig. Sie wird alles tun, was du willst, solange sie glaubt, dass für sie eine Reise in die Schatten dabei rausspringt.« Ich wusste nicht einmal ansatzweise, was ich dazu sagen sollte; also stopfte ich meine Sachen wieder in den Seesack, verschloss ihn mit einem festen Knoten und hing ihn an den Haken meiner Hängematte. Als ich mich zum Schlafen niederlegte, ermahnte ich mich, dass dieses zwielichtige Schiff noch 546
immer meine beste Hoffnung war, möglichst schnell von diesen verfluchten Inseln herunterzukommen. Kurz nach Sonnenaufgang lichteten wir den Anker, und Dev steuerte uns geschickt durch die schmale Meerenge hindurch auf offenes Wasser. Was immer ich sonst von ihm halten mochte, auf jeden Fall war er ein hervorragender Seemann. Ich arbeitete nach seinen Anweisungen an den Tauen und übernahm das Kochen. Dabei lernte ich dann, dass Devs Vorliebe für scharfe Gewürze sich sogar bis auf die schlichtesten Speisen erstreckte, und Repi war nur selten in einem Zustand, da ich sie nahe an eine offene Flamme heranlassen durfte. Ich rollte mein Kettenhemd zusammen und verstaute es ganz unten in meinem Seesack, und darin wiederum Laios Edelsteine. In einfache Baumwolle gekleidet versuchte ich, so unauffällig wie möglich auszusehen. Shek Kuls Medaillon hatte ich ins Hemd gesteckt, nicht zuletzt, um Dev nicht in Versuchung zu führen, es sich früher zu holen als vereinbart. Ich vermutete, dass es keiner allzu großen Versuchung bedurfte, ihn dazu zu bewegen, mir mitten in der Nacht die Kehle durchzuschneiden. Tatsächlich wartete ich stets, bis er schlief, bevor auch ich die Augen schloss, und morgens weckte ich mich früh mit einem alten Soldatentrick. Während wir uns die lange Kette des Archipels hinaufarbeiteten, legten wir an verschiedenen Ankerplätzen an. Einige davon waren geschäftige Handelsplätze wie der, an dem ich Dev getroffen hatte, andere abgeschiedene Buchten, wo Männer in kleinen Ruderbooten verstohlen längsseits kamen, um mit Dev zu handeln. Ich hielt mich aus allem heraus und ging nur an Land, wenn ich etwas zu essen brauchte, und bei mehr als einer Gelegenheit auch, wenn Dev Männer mit an Bord brachte, 547
die unter Deck ihren Spaß mit Repi haben wollten. Alles in allem sah ich ein vollkommen anderes Inselleben als das, was Laio mir gezeigt hatte. Nun, ihr Rat hatte sich ja auch in anderen Dingen nicht als sonderlich zuverlässig erwiesen. Von Zeit zu Zeit fragte ich mich, wie es ihr wohl erging – ihr, Gar, Mahli und dem Säugling. Nach zehn Jahren im Dienst von Messire war ich es gewöhnt, fremde Orte zu besuchen, wo ich mir jedes Mal Freunde machte, nur um sie nach etwa einer Jahreszeit für immer wieder zu verlassen. Trotzdem, ich wusste, dass ich mich an Laio stets erinnern würde, und das nicht nur, weil sie mir ihren Körper und ihre Juwelen geschenkt hatte. Ich fragte mich, ob sie überhaupt eine Ahnung hatte, wie wertvoll der Schmuck war, den sie mir eingepackt hatte. Sie mochte ja einen anderen Glauben haben als ich, dennoch beschloss ich, nach meiner Rückkehr Weihrauch in Drianons Schrein für sie zu verbrennen, dass er sie sicher durch die Zeit im Kindbett brachte. Auch für Grival und Sezarre würde ich ein Gebet sprechen, obwohl ich mich nicht so recht entscheiden konnte, welcher unserer Götter der geeignete für sie war: Trimon oder Talagrin. Ich richtete meine Gedanken auf solche Dinge, wann immer das Leben auf dem kleinen Schiff unerträglich wurde. Es fiel mir immer schwerer, das Verlangen zu unterdrücken, Repi vor Devs Misshandlungen zu schützen. An manchen Tagen war das schlimmer als an anderen, besonders wenn einige der Männer, die Dev an Bord brachte, eine Vorliebe für Gewalt zeigten. »Warum gibst du dem armen Mädchen nicht mal eine Gelegenheit, sich zu erholen?«, stieß ich eines Tages hervor, als Dev neben ihr kniete und ihr den schlaffen Kopf hob, um ihr etwas Rauch in die Nase zu blasen; ein großer blauer Fleck verunstal548
tete ihre Wange. Der Geruch der schwelenden Blätter reizte mich, und ich machte mir Sorgen, dass die Stimmen in meinem Kopf wieder freigelassen wurden, sollte ich zu viel davon einatmen. Ich hatte schon genug Schwierigkeiten mit den immer lebhafteren Träumen von dem jungen D’Alsennin. Ich wollte verflucht sein, wenn ich ihn noch einmal im wachen Zustand in meinen Geist lassen würde; inzwischen hatte ich die Stimme nämlich erkannt, die ich beim Kampf mit dem Elietimmpriester gehört hatte. Hätte ich es für möglich gehalten, alsbald an eine andere ordentliche Klinge zu kommen, ich hätte das verfluchte D’Alsennin-Schwert nur allzu gerne ins Meer geworfen und mich anschließend dem Sieur gestellt, da ich sein Ehrengeschenk verloren hatte. Unglücklicherweise mahnte mich der gesunde Menschenverstand, dass es nicht gerade von Weisheit zeugte, ohne Waffe das Archipel zu bereisen. Dev verzog das Gesicht und ließ Repis Kopf aufs Deck fallen. »Die dumme Gans hat schon wieder Than mit Alkohol gemischt. Kein Wunder, dass Ful die Geduld mit ihr verloren hat; da kann man ja gleich mit einer Strohpuppe rammeln.« Ich schluckte die Worte hinunter, die förmlich danach schrien, dass ich sie sagte, und blickte über die Reling zum Ufer. Wir lagen allein in einer sicheren Bucht; ich bemerkte, dass der Baumbestand hier dünner war, eher wie in den Wäldern Südcaladhrias. Mit ein wenig Glück war ich in ein paar Tagen von diesem Schiff herunter, wenn ich mich nicht völlig verrechnet hatte. »Rauch? Ich kann Repi nicht wecken, und totes Fleisch mag ich nicht besteigen, da können wir uns genauso gut ein wenig die Sinne vernebeln.« Dev blies in die Glut in seinem Brenner und legte noch ein paar Blätter nach; dann nahm er einen tie549
fen Atemzug, bevor er mir die Schüssel mit dem Horngriff reichte. Ich schüttelte den Kopf und wich vor dem Qualm zurück. »Du willst es doch, gib’s zu.« Dev lachte. Seine Augen wurden immer dunkler und größer, während das Gift sich in seinem Kopf ausbreitete. Ich sparte mir die Mühe, darauf zu antworten; er hatte nämlich Recht. In letzter Zeit hatte ich den Rauch unfreiwillig so oft eingeatmet, dass das alte Verlangen wieder erwacht war, von dem ich geglaubt hatte, ich hätte es schon lange überwunden. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mir Entschuldigungen überlegt, ein bisschen Rauch zu atmen. Die Versuchung, mich für eine Weile zu verlieren, war ungeheuer groß: nur ein Abend, ohne an Kaeskas furchtbaren Tod denken zu müssen ... oder an meine Sorge, wie Messire wohl meine neuen Erfahrungen bewerten würde ... einmal nicht gegen die Träume von D’Alsennin ankämpfen, die ich am liebsten verdrängen und verschweigen würde, wodurch ich zwar meinen Eid brechen würde, doch außer mir würde das ja niemand wissen. In manchen Nächten hielt mich nur eins davon ab, der Versuchung zu erliegen: die Furcht vor D’Alsennins Geist, den ich in meinem Unterbewusstsein eingesperrt hatte. Am folgenden Tag zeigte Dev keinerlei Nachwirkungen des Rauchs; gut gelaunt brachte er uns wieder aufs Meer hinaus. »Heute geht es auf die offene See«, verkündete er beim Frühstück. »Es wird ein wenig rauer, und wir müssen auf den Wind aufpassen.« »Dann lass Repi unter Deck«, sagte ich knapp, »oder binde sie irgendwo fest.« Dev lachte, als hätte ich einen köstlichen Scherz gemacht; 550
also kehrte ich ihm den Rücken zu und kümmerte mich um das Segeln des kleinen Schiffs, das nicht fürs offene Meer gebaut war, wie ich feststellen musste, als wir den Schutz der Inseln verließen. »Nimm die Pinne und dreh sie in den Wind!«, rief Dev mir zu. Ich eilte, ihm zu gehorchen, als er das Heck verließ, während das Schiff auf beängstigende Weise durchgeschüttelt wurde. Ich streckte die Hand nach dem Ruder aus, griff aber daneben, als ich ein rotes Licht um Devs Finger sah. Das rubinfarbene Zauberfeuer spiegelte sich in seinen Augen. »Du bist ein verfluchter Zauberer!«, stieß ich hervor und packte das Ruder gerade noch rechtzeitig, um das Schiff auf Kurs zu halten. »Ich berichte dem Erzmagier persönlich und kann einen Sitz im Rat haben, wann immer ich will«, bestätigte Dev, als er die Hände ausbreitete und eine Feuersäule hoch in den Himmel über unseren Köpfen jagte. »Nicht dass ich einen solchen Sitz haben will – noch nicht jedenfalls. So zwischen den Inseln hin und her zu segeln, ist ein schönes Leben. Wenn ich mir mit meinen Entdeckungen in Hadrumal ein wenig Respekt erkaufen kann, umso besser. Dieses Jahr werde ich hier allerdings überwintern. Du bist eine nette Beute für mich.« Er lachte ob meiner entsetzten Miene. »Ich habe dich gesucht, seit Shek Kul in Relshaz Segel gesetzt hat. Was hast du denn geglaubt? Dass der Erzmagier dich auf dem Archipel vergessen wird? Nicht wenn diese Elietimm so vieles auf sich nehmen, um dich und das Schwert in die Finger zu bekommen!« Er freute sich hämisch. Wenn wir in Sichtweite von Land gewesen wären – ich wäre über Bord gesprungen und hätte es mit allem aufgenommen, was unter den Wellen lauern mochte. 551
So aber trat ich einen Schritt auf den grinsenden Mann zu, bevor ein heftiges Schwanken des Schiffes mich wieder zur Vernunft brachte. »Ich bin ein Tormalin, ein eingeschworener Mann. Ich verantworte mich vor meinem Patron, vor niemandem sonst, du Bastard«, rief ich Dev zu. »Wenn Planir mich haben will, wird er sich erst vor Messire D’Olbriot erklären müssen!« »Das ist bereits erledigt.« Dev lachte. »Du bist so sicher übergeben worden wie damals, als man dich in Relshaz verkauft hat!« Ich hätte ihn geschlagen, wäre in diesem Augenblick nicht ein Segel am Horizont aufgetaucht. Viereckige Segel und drei Masten – das war ein Tormalinschiff, ein Schiff von jener Art, wie ich sie im Hafen von Zyoutessela gesehen hatte, so lange ich denken konnte. Ich blinzelte in die Sonne und versuchte, die Flagge am Mast zu identifizieren; verzweifelt hoffte ich, das D’Olbriot-Wappen darauf zu sehen. Sollten die Zauberer mal versuchen, mich gegen meinen Willen von einem Schiff von Messire zu bekommen! Ich konnte Devs Geschichte nicht glauben, dass mein Patron mich ohne meine Zustimmung der Befehlsgewalt eines anderen unterstellen würde, besonders nicht der des Erzmagiers. Der Dreimaster kam rasch näher. Ich ignorierte Devs Proteste, ließ das Ruder Ruder sein und sammelte mein Zeug zusammen. Als das Schiff längsseits kam, war ich für die Leine bereit, die man mir zuwarf; ich band meinen Seesack daran und winkte dem Seemann am anderen Ende, den Sack hochzuziehen. Dann wurde eine Strickleiter zu mir hinuntergelassen, und ich wartete auf den geeigneten Augenblick, sie mir zu schnappen. »Schuldest du mir nicht was für die Fahrt?«, rief Dev halb im 552
Zorn, halb im Spott. Ich steckte einen Arm durch die Leiter und stellte meine Füße hinein, bevor ich mich zu ihm umdrehte. »Glaubst du wirklich?« »Mit so einem Medaillon kann ich viel für den Erzmagier tun«, erklärte er mit ernstem Gesicht. »Außerdem hast du es mir geschworen.« Und einen Schwur würde ich nicht brechen, nicht wegen eines so elenden Hundes. Ich spie auf das Deck, bevor ich mir das Medaillon vom Hals riss und es hinüberwarf. Voller Verachtung schaute ich zu, wie Dev sich auf die schimmernde Scheibe stürzte. Mein Zorn wurde immer größer, und so beschloss ich, schnell zu verschwinden, sonst würde ich ihn tatsächlich umbringen. Rasch kletterte ich an Bord des Dreimasters. Ein freundlicher Seemann half mir über die Reling, seiner Kleidung und seinem Benehmen nach der Herr des Schiffes. »Ihr und Dev seid also nicht gerade die besten Freunde geworden, hm?«, erkundigte er sich amüsiert. »Der Mann ist ein verfluchtes Stück Dreck!« In diesem Punkt würde ich meine Meinung auch so rasch nicht ändern. »Kennt Ihr die Geschichte von dem Maskierten, dessen Maske an ihm haften blieb, weil er Ostrins Gastfreundschaft missbraucht hatte, ohne es zu wissen?« Der Seemann nickte in Richtung von Devs Boot, das sich immer weiter entfernte. »Das ist Devs Problem. Er spielt dieses Spiel schon viel zu lange, um nicht bei lebendigem Leibe als Zauberer gehäutet zu werden.« Ich beobachtete, wie das kleine Schiff sich Wind und Wellen zum Trotz rasch entfernte. Soweit es mich betraf, entschuldigte keine Maskerade Repis Leiden. Trotzdem, weder ich noch sonst jemand vermochte ihr zu helfen. Aber wenigstens war ich Dev jetzt los. Ich drehte mich zu dem Kapitän um. 553
»Wohin segeln wir? Relshaz oder Col? Ich weiß nicht genau, auf welcher Seite des Kaps von Caladhria wir uns befinden.« Der Seemann lachte. »Entschuldigung, Freund, aber wir sind nach Hadrumal unterwegs.« »Hadrumal kann warten. Ich bin ein eingeschworener Mann von Messire D’Olbriot. Meine Treue gehört ihm.« Ich dachte an das Vermögen, das ich in meinem Seesack verborgen hatte. »Es soll Euer Schaden nicht sein, wenn Ihr mich aufs Festland bringt. Ich werde die Passage bezahlen.« »Nicht für sämtliche Edelsteine des Archipels würde ich mich mit dem Erzmagier anlegen.« Der Seemann schüttelte entschlossen den Kopf. »Ihr fahrt nach Hadrumal, Freund, ob es Euch gefällt oder nicht.«
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9.
Aus dem Archiv der Gilde der Meisterseefahrer, Peorle, ein Brief von Meister Obrim Eschale an seinen Sohn im 10. Jahr des Kaisers Inshol des Schroffen
Dastennin segne dich, Pennel, und alle, die mit dir segeln. Es bereitete mir große Sorgen, als ich hörte, dass du im Frühjahr eine Fahrt nach Hadrumal unternehmen willst. Ich würde dir raten, diese verfluchte Insel weiträumig zu umfahren, wäre ich nicht zuversichtlich, dass du nie dort landen wirst. Du Narr, weißt du denn nicht, dass die Zauberer, die diesen Ort erschaffen haben, nur jenen Schiffen gestatten, sie zu finden, welche sie eingeladen haben? Du wirst die verborgene Insel noch nicht einmal sehen, geschweige denn die magische Verteidigung des Hafens durchfahren. Du riskierst nur, zusammen mit deiner Mannschaft auf offener See verloren zu gehen, und das für eine sinnlose Suche. Ich habe mit unterschiedlichen Seeleuten gesprochen, die das Geld des Erzmagiers genommen haben, um unglückselige Jünglinge und Mädchen als so genannte ›Lehrlinge‹ zu den ältesten Zauberern zu bringen, und keine zwei Geschichten stimmen überein. Einige sind tagelang gesegelt, nur um sich plötzlich von Nebel umgeben zu sehen, den nicht einmal der stärkste Wind vertreiben konnte. Dann hat der Nebel sich auf magische 555
Weise wieder gelichtet und das Eiland enthüllt, das sie gesucht haben. Andere erzählen von verzauberten Strömungen, die plötzlich ihre Schiffe packten, sie trotz Wind und Segel hierhin und dorthin trugen, bis sie plötzlich Land vor sich sahen. Keine zwei Schiffe waren gleich lang unterwegs, keine zwei Logbücher stimmen überein – bis auf einen Punkt: Hat ein Kapitän erst einmal das Geld des Erzmagiers angenommen und die Segel nach Hadrumal gesetzt, ist die Sonne nach den ersten drei Tagen auf See nicht mehr zu sehen; das findet sich in allen Berichten. Verstehe mich nicht falsch, es gibt Tageslicht, nur die Sonne ist hinter einem Zauberschleier verborgen, sodass niemand mehr die Position bestimmen kann. Diese Zauberer wollen nicht gefunden werden, mein Sohn. Respektiere ihre Wünsche oder riskiere ihren Zorn. Du kennst genauso gut wie ich die Geschichten über die Rache, welche die Zauberer an jenen nehmen, die sich ihnen widersetzen. Willst du, dass man dir die Augen aus dem Kopf schmilzt? Warum, glaubst du wohl, sind diese Leute ins Meer getrieben worden, wenn nicht, um uns alle vor ihren unmenschlichen Kräften zu beschützen und ihrer ungezügelten Gier nach Macht? Lass dich nicht vom Gold des Erzmagiers blenden, mein Sohn. Lass dich nicht vor den Gefahren blenden, die Hadrumal umgeben, Gefahren größer noch als jedes Riff und jede Sandbank Was ist der Sinn einer solchen Reise? Diese Zauberer sind am Leben normaler Menschen nicht interessiert. Man kann dort keinen Handel treiben; es gibt keine Güter zu verschiffen. Man riskiert nur sein Leben auf der Suche nach diesen unheiligen Kräften. Ich würde es als klüger betrachten, blind ins Archipel zu segeln und darauf zu hoffen, nicht von den stählernen Fängen der Barbarenschiffe auseinander genommen zu werden. Hast du in all den 556
Jahren, da ich versucht habe, dir Weisheit beizubringen, so wenig gelernt? Was wird deine Mutter dazu sagen?
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Die verborgene Inselstadt Hadrumal 29. Vorsommer
Hadrumal war größer, als ich gedacht hatte. Nicht dass ich hätte sagen können, was genau ich erwartet hatte – irgendein kahles, felsiges Inselchen vielleicht mit hohen unzugänglichen Klippen, sturmumtost und hinter gewaltigen Gischtwolken verborgen? Möglich; aber sicherlich hatte ich keine Insel mit langen Sandstränden, bewaldeten Ebenen und grünen Hügeln erwartet, auf denen eine Art Vieh graste. Als das Schiff mit mir, seinem unfreiwilligen Passagier, in die schmale Mündung eines kleinen Flusses einbog, sah ich Docks und Kais, Lagerhäuser und Bootswerften, wie man sie überall entlang der Küste von Col bis Toremal findet, wo ein örtlicher Fürst einen kleinen Ankerplatz in einen angenehmen Hafen für vorbeifahrende Schiffe verwandelt hat. In der Mittagshitze dieses Sommertages ging es ruhig am Hafen zu. Nur einige wenige Leute standen auf der Mole, um das Schiff festzumachen und die Laufplanke auszulegen. Ich lehnte an der Reling und erging mich in düsteren Gedanken, als ich eine vertraute Stimme hörte. »Ryshad, hier rüber!« Als Shiv mich das letzte Mal so begrüßt hatte, war ich froh gewesen, ihn zu sehen. Ernst schaute ich mich nach ihm um und beantwortete sein wildes Winken mit einer zwanglosen Geste. »Danke für die Fahrt, Kapitän.« Ich verneigte mich ironisch vor dem Herrn des Schiffes, als ich an ihm vorbeiging, um mein 558
Gepäck zu holen. »Wo geht es als Nächstes hin?« »Col.« Er zuckte mit den Schultern. »Bitte gebt das an den Kaiserlichen Kurierdienst.« Ich reichte ihm ein doppelt versiegeltes Pergament. »Das ist ein Brief an meine Mutter.« Er nickte. »Gern.« Wenigstens war mir diese Last vom Herz genommen. Ich hatte mich gefragt, ob ich auch an Messire schreiben sollte, oder besser noch an Camarl, der vielleicht mehr Mitgefühl für mich zeigte, doch ich hatte mich dagegen entschieden. Diese Zauberer sollten sich ruhig nützlich machen und mir eine Möglichkeit zur Verständigung eröffnen, nachdem ich die Lage erst einmal eingeschätzt hatte. »Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dich wiederzusehen!« Shiv schlug mir auf die Schulter. »Komm. Ich soll dich sofort zu Planir bringen.« »Warum?« Ich wollte von Anfang klarstellen, dass meine Tage als Sklave vorüber waren. Meine Enttäuschung am Kapitän des Schiffes auszulassen, war sinnlos gewesen; der hatte schlicht nur getan, was man ihm befohlen hatte, und das musste ich respektieren. Nun jedoch fühlte ich Zorn in mir aufkeimen. Wenn Planir glaubte, dass er mich oder meine Seele gekauft hatte, würde rasch herausfinden, was er sich da eingehandelt hatte. »Er will dich treffen, dir gratulieren, alles hören, was du zu erzählen hast«, antwortete Shiv. »Deine Erfahrungen können uns viel verraten, Informationen, die wir gegen die Elietimm einsetzen können. Planir benötigt sie sofort.« Ich nickte. Ich hatte kein Problem damit, Planir wissen zu lassen, wo ich stand. Wenn er sich mit mir streiten wollte, sollte 559
er; das beunruhigte mich nicht im Mindesten. Je schneller alles klar war, desto schneller konnte ich diesen verfluchten Ort wieder verlassen und zu meinem eigenen Leben zurückkehren. Kurz fragte ich mich, wo Livak wohl sein mochte. Ich drehte mich zu Shiv um und wollte ihn danach fragen, doch irgendetwas in seinem Gesicht schreckte mich davon ab. Von den Zweifeln und der Zurückhaltung, die Shivs Verhalten bei unserer letzten Begegnung geprägt hatten, war nichts mehr zu sehen. Er wirkte wesentlich selbstsicherer und deshalb auch distanzierter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein Haar war auf Kinnlänge geschnitten, und er trug ein formelles Gewand mit einem geflochtenen Lederband als Gürtel. Da ich nicht sicher war, ob er noch zu meinen Verbündeten zählte, nun, da er mit beiden Beinen auf dem Boden von Hadrumal stand, beschloss ich, die Frage nach Livak zurückzustellen. Ich warf meinen Seesack über die Schulter und folgte Shiv das Dock hinauf zu einem versumpften Ausläufer des Flusses, wo eine massive Brücke auf eine Straße führte, auf die Misaen persönlich stolz gewesen wäre. Dicht aneinander liegende Steine bildeten einen festen Grund, und Gräben zu beiden Seiten dienten als Abfluss für die gewölbte Oberfläche. Ich versuchte, nicht allzu beeindruckt zu sein, als ich zum ersten Mal die Stadt der Zauberer sah. Immerhin, verglichen mit Toremal oder Zyoutessela war sie nicht größer als ein durchschnittlicher Marktflecken. Die Straße wand sich über eine breite, flache Ebene. Große Hallen aus weichem grauem Stein säumten sie in Abständen; dazwischen erhoben sich die langen, spitzen Dächer einfacherer Gebäude. Jedes dieser Gebäude war von Mauern umgeben, und an den Ecken ragten Türme empor. 560
Hadrumal vermittelte den Eindruck einer wartenden, einer wachsamen Stadt. Die großen Gebäude ragten immer höher über mir auf, je näher ich kam. Dann erschien die Sonne hinter den Wolken; wie durch Alchemie glühte der Stein plötzlich golden und einladend, und die Glasfenster glitzerten wie Juwelen. Doch dieser Augenblick verging und ich sah, wo kleinere Häuser, Werkstätten, Geschäfte und dergleichen die Lücken zwischen den bedrohlich wirkenden Festungen geheimnisvollen Lernens füllten. Die Stadt besaß keine Stadtmauer, wie ich bemerkte. Was schützte die Bewohner in Zeiten der Gefahr? Die Kunst der Zauberer, vermutlich. Ich fragte mich, wie sicher diese Art Schutz wohl sein mochte. Unbewusst verlangsamte ich meinen Schritt, wodurch ich immer weiter hinter Shiv zurückfiel, der schließlich stehen bleiben und auf mich warten musste; als er sich umdrehte, schaute er verwirrt, weil ich so weit zurückgeblieben war. Es dauerte seine Zeit, bis ich ihn wieder eingeholt hatte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und legte den Seesack auf die andere Schulter. Auf der Straße ging es geschäftig zu. Männer und Frauen jeden Alters und in jeglicher Art von Kleidung gingen hierhin und dorthin; das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihre gedankenverlorene Aura und die unbewusst arrogante Art ihrer Haltung. »Hier lang.« Shiv führte mich durch einen uralten Torbogen und über einen gepflasterten Hof, wo meine Sandalen auf den hohlen Steinen widerhallten. Dann stieß er eine Tür auf und sprang leichtfüßig eine dunkle Eichentreppe hinauf; er schien es eilig zu haben. Ich folgte ihm bewusst langsam, während ich mir überlegte, was ich Shivs Erzmagier wohl sagen sollte. 561
»Ryshad Tathel, wie schön, Euch wiederzusehen.« Planir hockte über einem in Leder gebundenen Buch, als Shiv die schwere Eichentür öffnete, ohne um Einlass gebeten zu haben, und er sprang sofort auf und streckte mir die Hand zur Begrüßung entgegen. Ich nickte anerkennend. Planir sah fast noch genauso aus wie beim letzten Mal, als ich ihn getroffen hatte: dunkel, fein geschnittenes Gesicht und auf den ersten Blick jünger, als er in Wirklichkeit sein musste. Seine Augen waren so undurchschaubar wie eh und je, seine Pläne und Ränke so verborgen wie die erdabgewandte Seite des kleineren Mondes. Er war schlicht in einem nicht zuzuordnenden Stil gekleidet: Es war weder ein tormalinisches noch ein soluranisches Gewand, weder übermäßig geschmückt noch schlicht. Mich beeindruckte das nicht sonderlich. Ich hatte schon viele Adelige gesehen, die sich mit Absicht schlicht kleideten, um den Soldaten die Nervosität in ihrer Gegenwart zu nehmen. Die meisten scheiterten kläglich. »Ich war zutiefst beunruhigt, als ich gehört habe, was Euch widerfahren ist, doch alle haben mir versichert, wenn überhaupt jemand entkommen könnte, dann Ihr.« Planir lächelte mich breit an und deutete auf eine Sammlung von Karaffen und Gläsern. »Kann ich Euch eine Erfrischung anbieten?« Ich war versucht, nach Bier zu fragen, ließ es dann aber. »Nein, danke.« Seine Schmeichelei konnte er auch ruhig für sich behalten. »Bitte, setzt Euch.« Planir nahm wieder auf seinem eigenen Stuhl Platz und beugte sich ein Stück vor. Ein freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Ihr habt dort gute Arbeit geleistet, Ryshad. Wir waren nicht einmal sicher, ob es eine Elietimmbedrohung auf dem Archipel gab, auch wenn wir auf562
grund der Informationen, die Ihr vergangenes Jahr beschafft habt, so unsere Vermutungen hatten. Wir haben guten Grund, Euch wieder einmal dankbar zu sein. Bevor wir überhaupt bemerkt haben, dass die Elietimm versuchen, sich auf dem Archipel einzuschleichen, habt Ihr die Bastarde bereits durch einen solchen Skandal in Verruf gebracht, dass spätestens zur Sonnenwende das gesamte Archipel darüber Bescheid wissen wird. Dann wird Saedrin eher seine Schlüssel verlieren, als dass die Elietimm jetzt noch eine Allianz mit den Inselbewohnern schmieden könnten!« »Das alles war Zufall.« Ich setzte mich, aber nur weil mir der Seesack auf meiner Schulter allmählich zu schwer wurde. »Und es war auch Zufall, dass ich noch am Leben bin, denn ich habe mir keine Illusionen gemacht, dass mir jemand dort draußen helfen würde.« Planir lehnte sich im Stuhl zurück, und sein Lächeln verschwand. »Ich kann verstehen, dass Ihr das Gefühl gehabt haben müsst, man hätte Euch im Stich gelassen«, sagte er ernst, »aber das war keineswegs der Fall. Dev ist bei weitem nicht mein einziger Agent auf den Inseln.« Darauf antwortete ich nicht; es war mir auch egal, ob Planir die Verachtung in meinem Gesicht persönlich nahm oder nicht. »Nun denn, lasst uns Eure Geschichte hören«, sagte Planir, stand wieder auf und ging zu einem Tisch unter einem der großen Fenster, von wo er auf Hadrumal hinunterblicken konnte. »Ich bin in Relshaz verkauft worden; man hat mich zum Sklaven der Dame eines Kriegsherrn gemacht, und ich musste eine andere dieser Damen denunzieren, um meine eigene Haut zu retten.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete 563
auf die Reaktion des Erzmagiers. Shiv, der am Kaminsims lehnte und mich stirnrunzelnd anschaute, beachtete ich nicht. »Da steckt noch verdammt viel mehr dahinter, und das wisst Ihr, Mann!« Planir verschränkte ebenfalls die Arme und gab seine Schmeicheleien auf. »Wir vermuten, dass die Elietimm sowohl für Eure Versklavung als auch für Euren Kauf durch Shek Kuls Frau verantwortlich waren. Es ist das Schwert, Ryshad. Wir haben schon immer geglaubt, dass es von großer Wichtigkeit ist. Die Elietimm haben uns seine Bedeutung verraten. Sie wollten das Schwert so verzweifelt, dass sie aus ihrer Deckung hervorgekommen sind.« Ich war nicht im Mindesten überzeugt von dieser Erklärung. Meine Vermutung ging eher dahin, dass der junge D’Alsennin irgendwie in Relshaz geweckt worden war; die Elietimm hatten die Situation nur ausgenutzt. Und dieser Zauberer hier versuchte so ziemlich das Gleiche. »Dann war ich also die Ziege, die die Wölfe aus dem Wald locken sollte, ja?« »Nicht absichtlich, aber ich gebe zu, dass das Ergebnis das Gleiche war.« Planir nickte gelassen. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, warum sie bereit gewesen sind, solche Risiken auf sich zu nehmen, um das Schwert in die Finger zu bekommen.« »Ihr wollt das Schwert? Es gehört Euch.« Ich zuckte mit den Schultern. Messire würde ich damit nicht beleidigen, nicht wenn er meine Version der Geschichte hörte. »Dann könnt Ihr Euch jemand anderen suchen, der D’Alsennins Träume für Euch träumt.« Planir schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Ich fürchte, so geht das nicht, Ryshad. Ist die Verbindung erst einmal hergestellt, gibt es kein Zurück mehr. Außer Euch wird niemand 564
die Echos von D’Alsennins Leben hören können, selbst wenn wir das Schwert in sämtlichen Kohorten herumgehen lassen würden.« Ich blickte ihn ausdruckslos an. »Also können wir jetzt genauso gut weitermachen und sehen, was wir daraus lernen können«, fuhr Planir fort. »Was habt Ihr über den Mann gehört, dem diese Klinge gehört hat? Was könnt Ihr uns über die Kolonie und deren Schicksal sagen?« »Nur wenig.« Ich zuckte mit den Schultern. Planir blätterte durch eine Hand voll Dokumente, bis er einen versiegelten Brief gefunden hatte, den er ohne ein Wort an mich übergab. Ich biss die Zähne zusammen, als ich die Handschrift von Messire D’Olbriots Schreiber erkannte. Ich brach das Wachs und war überrascht, nur ein paar Zeilen in Messires eigener, ungeübter Schrift zu finden: Dastennin möge dafür sorgen, dass du diesen Brief erhältst, Ryshad, und dass du sicher den Gefahren des Archipels entkommen bist. Ich will nicht so tun, als würde ich alles verstehen, was ich über verlorene Magie und in Träumen verborgene Mysterien gehört habe, aber du sollst Folgendes wissen: Die Männer aus dem Eis sind Feinde, Feinde unseres Hauses und Feinde des Imperiums. Eine Bedrohung, der wir uns mit unseren Schwertern allein nicht stellen können. Im Augenblick ist der Erzmagier unsere beste Hoffnung auf Verteidigung, und unter Berufung auf die Eide, die uns aneinander binden, beauftrage ich dich, ihm alles zu sagen, was du weißt, und ihm mit deiner Kraft zu dienen, selbst bei Gefahr für dein Leben. Du bist in meinen Dienst geschworen, und so befehle ich es dir.
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Also hatte Dev sich geirrt, als er gespottet hatte, man hätte mich an die Zauberer verkauft. Dies hier war weit schlimmer; man forderte meine Ehre heraus. Ich unterdrückte einen Anflug von Wut auf Messire, weil er mir eine Last auf die Schultern legte, ohne zu wissen, wie lange und wohin ich sie würde tragen müssen. Dann erinnerte ich mich an die Vision des Elietimms mit dem Kopf des Kaisers auf einer Pike, und ich seufzte laut. »Ich hoffe, du wirst Messire D’Olbriots Wort nicht entehren, nachdem er mir persönlich deine Mitarbeit und deinen guten Willen versprochen hat, Ryshad«, sagte Planir, während er eine vergilbte Karte auf dem polierten Tisch ausbreitete, deren Ecken er mit Büchern, einem leeren Pokal und einem rostbraunen Stein beschwerte. »Erzähl mir von deinen Träumen, bevor du von Shiv getrennt worden bist, besonders von jenen in der Nacht, da ihr angegriffen worden seid.« Ich zerknüllte Messires Brief in der Hand, blickte zu einer Wetterfahne hinaus und begann mit meinem Bericht. Ich beschrieb alles so detailliert und leidenschaftslos wie in jedem Bericht an Messire. Shiv winkte mir, ein wenig langsamer zu reden. Während er sich Notizen machte, erinnerte ich mich an die Zeit, als man mich ausgeschickt hatte, um ein Massaker an Marketenderinnen aufzuklären, die an der Grenze zwischen Lescar und den Ländereien der D’Olbriot niedergemetzelt worden waren. Das war keine angenehme Aufgabe gewesen, aber sie musste getan werden. Ein eingeschworener Mann musste seinen Befehlen folgen, und sein Eid beschützte ihn – so war es nun einmal. Ich redete und redete. Planir stellte viele Fragen, einige so offensichtlich, dass sie mich verärgerten, andere vollkommen 566
unverständlich. Ich bekam nicht mit, wie er und Shiv nach Wein und Brot klingelten, aber ich aß und trank dankbar, während wir das Geschehen noch ein zweites Mal durchgingen. »Da ist noch mehr, nicht wahr?« Planir beugte sich über die Karte und maß etwas ab. Dann warf er das Lineal auf den Tisch und drehte sich mit leuchtenden Augen zu mir um. »Was meint Ihr damit?« Ich würde ihm mit Sicherheit keine genaue Schilderung meiner Nacht mit Laio geben, wenn er das wollte. »Die Träume, Ryshad, die Träume«, sagte Planir leise. »Erzähl mir von den Wachträumen.« Ich atmete tief durch, konnte mich aber nicht zu einer Antwort durchringen. Ich wollte nicht über die Gefühle reden, die sich in letzter Zeit immer wieder aus meinem Unterbewusstsein emporzukämpfen versuchten, wann immer ich in meiner Wachsamkeit nachließ. »Ich kann dir helfen.« Planir nahm ein Buch von einem Stapel auf dem Fensterbrett. »Wir haben ein uraltes Archiv aus einem Schrein der Arimelin geborgen und viel über die Traumkunde der Alten gelernt. Wir haben eine Möglichkeit, deinen wachen Geist zu verschließen, sodass wir diese Träume erreichen und direkt erfahren können, was wir wollen. Wenn wir dich dann aus der Trance erwecken, werden die Träume verschwunden sein. Dann werden dich nie wieder Visionen quälen.« Dieses Angebot war so verführerisch, dass irgendwo ein Haken sein musste, besonders wenn der Erzmagier mit der Sache zu tun hatte. »Was genau hofft Ihr zu erfahren?«, fragte ich verwirrt. »Ich habe Euch alles gesagt, woran ich mich erinnern kann, und um 567
ehrlich zu sein, kommt mir nichts davon sonderlich wichtig vor. Wie auch immer – das Unternehmen ist gescheitert, nicht wahr?« »Die Kolonie ist sicherlich verloren gegangen, das ist wahr, aber wir wollen sie noch immer finden, nicht nur von ihr hören. Wir versuchen nicht nur, für die Gelehrten die Lücken in den Archiven zu schließen.« Planir schenkte sich Wein ein und bot auch Shiv ein Glas an, der sein Tintenfass verschloss und seine Notizen beiseite legte. »Wenn wir der Bedrohung durch die Elietimm entgegenwirken wollen, müssen wir mehr über diese Äthermagie wissen, jene Macht, welche die Alten die ›Kunst‹ genannt haben. Nach dem zu urteilen, was du uns erzählt hast, ist klar, dass in der Kolonie Menschen in dieser Kunst ausgebildet worden sind. Vielleicht gibt es dort Aufzeichnungen, Archive, womöglich sogar Ausbildungsanleitungen.« »Jetzt lasst den Schrein aber mal im Dorf.«, spottete ich. »Wann war das? Vor sechsundzwanzig Generationen? Falls sie wirklich etwas hinterlassen haben, ist es längst zu Staub zerfallen!« »Vielleicht ja, vielleicht nein.« Planir kümmerte meine offene Verachtung nicht. »Wir können viel mit Luft und Feuer tun, mit Erde und Wasser, um selbst die beschädigtsten Pergamente wiederherzustellen. Vergiss nicht, auf was für Mittel ich zurückgreifen kann, Ryshad. In Hadrumal finden sich die größten Geister der Magie. Wie auch immer, ich bin durchaus bereit, das Risiko einzugehen, nichts zu finden. Im Gegensatz dazu wirst du in jedem Fall ein Land mit beachtlichen Ressourcen entdecken. Ich weiß sehr wohl, dass dein Patron bereits viel Geld und Mühe aufgewendet hat, um eine 568
Spur von Den Fellaemions Expedition zu finden, und er würde die Kolonie nur zu gern im Namen der D’Olbriot in Besitz nehmen. Ein Dienst wie dieser würde dich der Beförderung zu einem auserwählten Mann schon deutlich näher bringen, nicht wahr?« An diesem Köder hingen eine Reihe Haken. Nein, für einen Mann, mit dem man niemals um Geld spielen würde, war der Erzmagier so subtil wie ein Bulle auf dem Weg zu den Kühen auf der Nachbarweide. Hielt er mich wirklich für so dumm? »Habt Ihr das schon einmal gemacht? Mit anderen Leuten, denen Ihr ein Artefakt angedreht habt?« »Es ist nicht ohne Risiken«, meldete Shiv sich aus der Ecke. »Ein Mädchen haben wir bis jetzt nicht wieder wecken können.« »Es lässt sich nicht leugnen, dass es gefährlich werden kann«, bestätigte Planir ernst. »Die Schuld daran trage ich allein. Wir haben das Experiment mit ihr gewagt, bevor wir das Archiv in Händen hatten und damit auch die Informationen, die wir eigentlich gebraucht hätten. Natürlich musst du erst einmal gründlich über alles nachdenken, bevor du dich auf solch ein Unternehmen einlässt. Da du aber gesagt hast, der junge D’Alsennin hätte eine Grundausbildung in Äthermagie gehabt, werden wir dadurch vielleicht auch eine Möglichkeit finden, das Mädchen wieder ins Leben zurückzuholen.« Wenn er mich schon nicht in Versuchung führen konnte, ließ der Erzmagier mir zumindest keine Möglichkeit, aus der Sache herauszukommen, ohne dass ich mich wie eine armselige Laus fühlte. Ich schüttelte den Kopf, als ich mein Glas leerte und in der Stadt die achte Stunde des Tages eingeläutet wurde. Nach meiner Zeit auf dem Archipel waren die Glocken ein seltsam vertrautes Geräusch, besonders inmitten dieser beunruhi569
genden Umgebung. »Du brauchst Zeit, darüber nachzudenken.« Planir nahm eine Robe von einem Haken hinter der Tür und zog sie über sein schlichtes Hemd. Ich muss zugeben, dass die Verwandlung mich ein wenig überraschte. Es war keine sonderlich prächtige Robe, gut geschnitten und aus mattschwarzer Seide, doch der hohe Kragen ließ Planir das Kinn heben, was ihm ein gebieterisches Aussehen verlieh. Unter der Robe waren seine breiten Schultern deutlicher zu erkennen als unter dem weiten Hemd, und als er den Raum verließ, flatterte das Gewand um ihn herum wie die Flügel eines Falken. Ich blickte zu Shiv. »Wenn das seine Vorstellung davon ist, jemanden zu überzeugen, würde Planir es im Fürstenrat nicht weit bringen.« »Du kannst so viele Rosen in einen Misthaufen stecken, wie du willst, er stinkt noch immer.« Shiv zuckte mit den Schultern. »Planir weiß, dass du schon viel in den Provinzen herumgekommen bist, Rysh. Glaub mir, du solltest es als Kompliment auffassen, wenn der Erzmagier offen mit dir spricht. Komm.« Shiv schnappte sich meinen Seesack. Ich folgte ihm die Treppe hinunter und auf den Hof, wo zu allen Seiten die Steingebäude über mir aufragten, ihre Schatten waren lang und kalt. Ein Frau überquerte den Hof. Sie blickte zu mir, und zwei Jünglinge, die aus einer Tür traten, hielten in ihrem Gespräch inne und starrten mich an, bevor sie davonrannten. Für eine Stadt, die so dicht am Ufer gebaut war, roch es in Hadrumal kaum nach Meer, und ich spürte, wie mir der Staub uralter Steine in die Lungen drang. »Ich nehme an, du willst nicht in der Halle wohnen. Ich habe Pered bereits gesagt, dass du bei uns bleibst.« Shiv redete unbe570
kümmert weiter, während er uns auf die Hauptstraße hinausführte und sich Richtung Inselinneres wandte, wo ich zu meiner Erleichterung sah, dass die riesigen Hallen bald normalen Häusern aus grauem Stein und Ziegeldächern wichen. Hier fanden sich all die anderen Geschäfte, die den Zauberern die Freiheit gaben, ihre geheimnisvollen Studien zu verfolgen: Schreiber, Buchhändler, Apotheken und nicht wenige Tisanehäuser, wo die jüngeren Magier ihre Pergamente beiseite legten und über einer Tasse dampfenden Kräutersuds Gerüchte austauschten. Auch Zauberer mussten essen, wie es schien: Vor den entsprechenden Läden stapelten sich Obst und Gemüse. Marktweiber priesen ihre Waren an und erzählten sich den neusten Klatsch. Kinder hingen an ihren Röcken, und ein paar der älteren spielten mit einem Stoffball auf der Straße. Ein kleiner Haufen Abfall lag um ein umgestürztes Fass im Graben, und zwei Männer stritten sich, wer es vom Karren hatte fallen lassen. Hadrumal kam mir nun immer weniger fremdländisch vor, doch ich ermahnte mich, mich von dieser Vertrautheit nicht zur Sorglosigkeit verfuhren zu lassen. »Wir ziehen es vor, hier unten zu leben. Die meisten anderen Magier geben keinen Pfifferling darum, ob man nun mit einem Mann, einer Frau oder einem Esel schläft, doch es gibt immer einige, die rationalistisch genug denken, um sich beleidigt zu fühlen. Du erinnerst dich doch an Casuel, oder? Wie auch immer, wir finden es so besser. Nägel, die herausstehen, neigen dazu, eingeschlagen zu werden.« Shiv hatte mir den Rücken zugekehrt, als er durch eine Lücke zwischen zwei Karren hindurchging. Deshalb erlaubte ich mir, das Gesicht zu verziehen. Zwar war ich mir noch immer nicht sicher, wie die Begegnung mit Shivs Partner verlaufen würde, 571
aber alles war besser, als in einer dieser düsteren Hallen zu nächtigen, wo ganze Rudel von Zauberern mich anstarrten wie ein sterbendes Tier. Ich kam mit Shiv doch ganz gut zurecht. Dann erinnerte ich mich an einen Gedanken, der mich schon bei meiner Ankunft umgetrieben hatte, doch nun hielt ich ihn fest. »Wo ist Livak?«, erkundigte ich mich und trat vom Bordstein neben Shiv. »Sie ist Halice besuchen. Es gibt hier ein paar soluranische Gelehrte, die ihr mit ihrem Bein helfen wollen. In den Traditionen ihrer Heiler hat sich ein wenig Äthermagie erhalten – aber das hast du doch gewusst, oder?« Ich musste zugeben, dass ich kaum an Halice und ihre Probleme gedacht hatte, nachdem wir getrennt worden waren. Ich schüttelte mich im Geiste und beschloss, meine frischen Erinnerungen erst einmal beiseite zu schieben und mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Gab es eine Magie, die eine solch schwere Wunde heilen konnte, noch dazu, wenn sie über mehrere Jahreszeiten verwachsen war? So etwas zu sehen, wäre wirklich faszinierend gewesen; wichtiger noch: Solch eine Nachricht musste sofort an Messire weitergeleitet werden. Ich hatte noch nicht viele Männer gesehen, denen man Beine oder Arme hatte abnehmen müssen, um sie vor dem Wundbrand zu bewahren, doch der eine Mann, der die Ärzte weinend angefleht hatte, ihn nicht zu verstümmeln, hatte mir gereicht; damals hatten Aiten und ich Dienst an der Grenze zu Lescar geleistet. Die Erinnerung tat gut, dass ich nicht der einzige Mensch mit Problemen war. »Was ist mit Viltred?« »Er ist wieder in seiner alten Halle und sucht jeden, mit dem 572
er in die Lehre gegangen ist und der noch lebt. – Wir sind da.« Er öffnete eine stabile Tür und scheuchte mich in eine bescheidene Behausung hinter einer verwitterten Terrasse. Ich blinzelte, da meine Augen sich nach dem Sonnenlicht draußen an das Dämmerlicht gewöhnen mussten; dann sah ich, dass die Front vor den unteren Räumen als Werkstatt eingerichtet war. Ein Schreibtisch war so angeordnet, dass er das meiste Licht abbekam; darauf stapelten sich ordentlich Pergamente, Farben und Bindemittel. Verschwommen erinnerte ich mich daran, gehört zu haben, dass Shivs Partner ein Kopist, ein Buchmaler oder dergleichen war, auf jeden Fall aber kein Zauberer, was für mich das Wichtigste war. »Pered!« Shiv betrat einen der hinteren Räume und rief dann die gewundene Treppe hinauf. »Nein, er muss ausgegangen sein. Vermutlich kauft er etwas zu essen. Fühl dich wie Zuhause, Rysh. In der Küche steht Wein, aber du kannst natürlich auch Tisane haben. Ich muss noch etwas erledigen, bin aber gleich wieder zurück.« Bevor ich protestieren konnte, war er schon zur Tür hinaus, die er mit lautem Knall hinter sich ins Schloss zog. Da ich in der Werkstatt nichts durcheinander bringen wollte, ging ich in die Küche und war ein wenig überrascht, als ich einen modernen Holzkohleherd fand, in dem es noch ein wenig glühte, sodass die Luft stickig war. Abgesehen davon war der Raum nur wenig bemerkenswert. In einem Regal mir gegenüber standen mehrere Kräutertöpfe. Ich öffnete ein paar, schnüffelte daran, schürte den Herd und setzte einen Kessel Wasser auf; dann jedoch entschied ich, doch keinen Tisane zu mir zu nehmen, und so nahm ich den Kessel wieder herunter und ging in den kleinen Hof auf der Rückseite des Hauses. 573
Shivs Nachbarn hielten sich offenbar Hühner, sogar ein Schwein, doch Pferch und Stall auf diesem Hof waren leer. Ich nahm ein paar Kiesel und versuchte mein Glück, einen großen weißen Stein auf dem Dach des Schweinestalls zu treffen. Tatsächlich traf ich ihn jedes Mal, und ich wollte mir gerade neue Munition suchen, als ich hinter mir die Tür hörte. »Du solltest dein Geld damit verdienen, Krähen mit den Steinen zu verjagen. Du bist ziemlich geschickt«, lobte mich eine fröhliche Stimme. »Mag sein, aber das ist eigentlich nicht mein Talent«, sagte ich, ohne nachzudenken. Die Stimme lachte. »Das hört sich interessant an. Du musst Ryshad sein. Ich bin Pered.« Ich drehte mich um, neugierig, an was für einem Mann Shiv wohl Gefallen gefunden hatte. Wie bei der Stadt Hadrumal selbst wusste ich nicht, was ich erwartet hatte. Ich besaß zwar genug Verstand, um nicht einen als Frau verkleidete Mann zu erwarten, aber mit einem stämmigen Kerl mit glattem Gesicht, hellbraunem gelocktem Haar und haselnussbraunen Augen hatte ich auch nicht gerechnet. Sein Tormalin war hervorragend, sein Akzent der von Col, und ich erinnerte mich an den Ruf der Stadt, jeden Menschen sein eigenes Leben leben zu lassen. »Wessen Talent ist es dann, wenn nicht deins?« Pered setzte sich auf eine Bank, um den Sonnenschein zu genießen, verschränkte die Arme vor der Brust und streckte gelassen die muskulösen Beine aus. Ich warf meinen letzten Stein, der einen Splitter aus meinem Ziel schlug. »Ich habe ein ganz gutes Auge, aber dieses besondere Talent gehört einem Mann, der schon viele Generationen 574
tot ist und dessen Erinnerungen irgendwie meine Träume durcheinander bringen.« So formuliert, klang das ziemlich unwahrscheinlich, doch Pered wirkte nicht im Mindesten überrascht. »Dann hat unser ehrenwerter Erzmagier dich also in einem seiner Ränkepläne gefangen, ja?« Mir gefiel das Selbstbewusstsein in seiner Stimme, und ich glaubte, dass Pered und ich durchaus Freunde werden konnten. »Wie eine Spinne die Fliege in ihrem Netz.« Ich nickte. »Das hat alles mit der verlorenen Kolonie zu tun und dieser unbekannten Magie, die die ganzen Zauberer herumflattern lässt wie Hühner, stimmt’s?« Pered schüttelte den Kopf. »Das ist eigentlich auch ganz gut so, wenn du mich fragst. Ein paar von denen könnten zur Abwechslung wirklich mal etwas Demut lernen.« Nein, entschied ich, wir würden mit Sicherheit Freunde werden. »Shiv hat dir davon erzählt?« »Genug.« Pered zuckte mit den Schultern. »Wie ist er denn so?« »Bitte?« »Dieser Junge, der die Nächte kaputt macht, der mit dem guten Wurfauge – wie ist er so?« Ich schaute Pered an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Erzmagier hatte mich viele Dinge gefragt, mir sehr viele Einzelheiten über die Kolonie entlockt und weit mehr Informationen bekommen, als ich überhaupt geglaubt hatte, gehabt zu haben, aber er hatte nicht ein einziges Mal nach dem jungen D’Alsennin gefragt. »Er ist kein schlechter Junge. Über Frauen muss er noch viel lernen, aber er wird schnell erwachsen und beginnt sich seiner 575
Verantwortung zu stellen. Er besitzt Charakter, der aber noch geschliffen werden muss.« Es war irgendwie seltsam, so über Temar zu sprechen. »Wie sieht er aus? Kannst du ihn beschreiben?« Pered zog ein Stück Papier aus seiner Brust- und ein Stück Holzkohle aus seiner Hosentasche. Ich schloss die Augen, um mir Temar deutlicher vorstellen zu können, und Pered zeichnete schnell, während ich sprach. »Er ist ein dünner Junge«, schloss ich. »In ein paar Jahren wird er wohl kräftiger geworden sein, aber im Augenblick ist er mehr in die Höhe als in die Breite gewachsen. Sein Gesicht ... Ich nehme an, man könnte es ein Wolfsgesicht nennen, langes Kinn, dünne Lippen, eckig, wenn du weißt, was ich meine. Auf jeden Fall besitzt er die Augen eines Wolfs, hellblau, was sehr ungewöhnlich ist, wenn man bedenkt, dass er schwarzes Haar hat.« »Wie trägt er sein Haar?« »Lang, glatt, meist hat er es zurückgebunden.« »So ungefähr?« Pered drehte die Zeichnung zu mir herum, und ich lächelte unwillkürlich. »Bist du sicher, dass du kein Zauberer bist? Allerdings ist seine Nase nicht so groß, und seine Augenbrauen sind etwas feiner, aber deine Zeichnung gleicht ihm mehr als die meisten Porträts, die ich bis jetzt gesehen habe. Als Kopist ist dein Talent verschwendet.« Es war ein seltsames Gefühl, dieses Bild zu sehen, auch wenn es nicht perfekt war. Das Gesicht des Jungen war so lebendig wie in meinen Träumen und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten auf der anderen Seite des gnadenlosen Ozeans. Fast empfand ich so etwas wie Zuneigung für D’Alsennin. Außerdem 576
schuldete ich dem Jungen etwas. Er hatte mich vor dem Hexer gerettet. »Wie mein Vater immer gesagt hat, als ich bei ihm in die Lehre gegangen bin: Das Kopieren ist ein ehrliches Geschäft, und es bringt Brot auf den Tisch.« Pered grinste. »Wenn Shiv irgendwann die Nase voll hat, sich von Planir herumkommandieren zu lassen, und wir endlich das nächste Schiff woandershin nehmen, werde ich mich wohl an der Porträtmalerei versuchen. Bis dahin übe ich mich einfach in Geduld und mische meine Tinten.« »Macht es dir nichts aus, das Shiv jedes Mal springt, wenn Planir an der Leine zieht?«, fragte ich neugierig. »Doch«, antwortete Pered schlicht. »Aber das ist Shivs Entscheidung, und ich muss es respektieren, wenn ich mit ihm zusammen sein will. Der Trick ist, dass Shiv wieder lebend und unversehrt zurückkommt, nachdem alle Runen gezogen sind, egal welches Spiel der Erzmagier auch immer spielen mag. Das musst du auch tun, vertrau mir.« Das Gespräch entwickelte sich in eine seltsam ernste Richtung, besonders angesichts der Tatsache, dass wir uns gerade erst kennen gelernt hatten. »Du scheinst sehr gut informiert zu sein. Shiv muss dir mehr erzählt haben, als du gesagt hast.« Pered schüttelte den Kopf. »Nicht Shiv – Livak. Wie auch immer, als Erstes musst du herausfinden, was du eigentlich wirklich willst. Dann musst du dafür sorgen, dass das, wovon Planir dich überzeugen will, dir genauso viel bringt wie ihm. Pass auch auf, wenn er offen und ehrlich mit dir ist. Bei ihm hat alles irgendeinen Haken.« Ich seufzte. »Ich will bloß nichts mehr mit dieser ganzen verdammten Sache zu tun haben. Ich will wieder normale, unsin577
nige Träume träumen von sprechenden Fischen und dergleichen. Ich will wieder mein eigenes Leben führen können.« »Dann halte den Blick aufs Ziel gerichtet, und lass weder Planir noch sonst jemanden dich vor dem Wurf ablenken.« Pered hob die Hand und stand auf. »Ich glaube, ich habe die Straßentür gehört.« Wir gingen in die Küche; die Innentür öffnete sich, und Shiv kam ins Zimmer. Als er zur Seite trat, stand hinter ihm Livak, die sofort die Arme um mich schlang und ihren roten Schopf unter mein Kinn grub. Ich atmete ihren Duft ein, während ich ihr Haar küsste, und spürte, wie sie mich fest an sich drückte. Diese eine Umarmung war mehr wert als eine ganze Jahreszeit in den Armen von Laio Shek. Ich hätte hier ewig so stehen bleiben können, hätte Shiv nicht zum Herd gehen müssen, um den Kessel aufzusetzen. »Was gibt es zum Essen, Shiv?« Livak spähte in einen Korb voll Gemüse, der neben dem blank geschrubbten Tisch stand. Die Mahlzeit bestand aus einer kräftigen Suppe. Shiv schöpfte das Fett ab und fügte etwas Knochenmark hinzu, während wir anderen Gemüse schälten und es ebenfalls in die Suppe gaben. Ich ertappte Livak dabei, wie sie mich nachdenklich anblickte, und hob fragend die Augenbraue. »Willst du den Bart behalten?«, fragte sie und lächelte schwach. »Gefällt er dir nicht?« Ich hoffte, dass sie Nein sagte. Sie neigte den Kopf zur Seite und dachte kurz darüber nach. »Nun ja ...« Das genügte. »Shiv, kannst du mir dein Rasiermesser borgen?« 578
Shiv lachte. »Sicher, aber an deiner Stelle würde ich noch eine Weile warten, bevor ich es benutze. Wenn du dir einen solchen Bart im Hochsommer abrasierst, besonders nachdem du so lange Zeit auf dem Archipel verbracht hast, bekommst du ein geflecktes Gesicht. Vertrau mir. Ich habe das schon mal versucht!« Pereds Künstlerseele war sofort von diesem Bild fasziniert. »Wann hast du denn einen Bart getragen?«, fragte er. »Kurz nachdem ich nach Hadrumal gekommen bin«, antwortete Shiv. »Ich dachte, das würde mich älter machen und ein paar der älteren Magier dazu veranlassen, mich ernster zu nehmen.« »Und es hat nicht funktioniert?«, fragte Livak und lächelte schelmisch. »Nein.« Shiv schüttelte reumütig den Kopf. »Das Einzige, was die älteren Magier beeindruckt, ist dein Können im Umgang mit den Elementen.« Es dauerte nicht lange, und wir setzten uns zu einem äußerst wohl schmeckenden Abendessen. Was auch immer die Zauberer tun mochten, irgendjemand auf dieser Insel produzierte ausgesprochen gutes Rindfleisch, und obwohl ich den Wein zwar nicht identifizieren konnte, war er doch von einer Qualität, wie ich sie nur zu Feiertagen gewöhnt war. Am Besten war jedoch, dass wir während der Mahlzeit über über alles Mögliche redeten, nur nicht über Planir, magische Träume oder verlorene Kolonien. Es war beinahe so, als hätte sich mein Leben sich wieder normalisiert. Als Shiv schließlich aufstand, um die Teller in die Spüle zu legen, blickte Pered in die Nacht hinaus. »Du kannst gern bleiben, Livak. Es macht keinen Sinn, jetzt wieder in die Halle zu579
rückzugehen. Halice wird ohnehin schon schlafen, wenn sie auch nur annähernd so müde ist, wie wir es waren. Ich bereite dein Bett in der Dachkammer vor, oder wird das im hinteren Schlafzimmer reichen?«, erkundigte er sich zum ersten Mal mit einem Hauch von Schalk in der Stimme. Ich blickte zu Livak, die ihr Lächeln im Weinbecher verbarg. »Ein Bett reicht. Ich will euch nicht zu viel Mühe machen.« »Dann könnt ihr zwei auch abwaschen.« Shiv warf mir ein Geschirrtuch zu und verschwand mit Pered die Treppe hinauf. »Du spülst, ich trockne ab«, sagte Livak und riss mir das Geschirrtuch aus der Hand. »Danke«, erwiderte ich, bevor ich den Kessel vom Herd nahm, um kochendes Wasser ins kalte Spülbecken zu gießen. Der Dampf ließ mich blinzeln. »Du, Halice und Pered, ihr scheint recht gut miteinander auszukommen.« »Das stimmt«, bestätigte Livak. »Halice mag ihn sehr.« »Wie geht es ihr?«, erkundigte ich mich verspätet. »Besser.« Livak nickte. »Viel besser.« »Dann hat Shiv sein Wort also gehalten.« Ich war froh, dass das Ganze wenigstens etwas Gutes gebracht hatte – für Halice zumindest –, auch wenn ein selbstsüchtiger Teil von mir sich vor allem freute, weil Livak endlich von dieser Last befreit war. »Als wir hier ankamen, blieb ihm auch nichts anderes übrig.« Livak lachte. »Wie das?« Ich war fasziniert und hielt kurz in meiner Arbeit inne. »Nun, da war dieses Archiv, das Planir so verzweifelt haben wollte«, begann Livak und grinste verschmitzt. »Das aus dem Schrein von Arimelin?« »Genau. Nun, Lord Finvar, der alte Grauschopf, dem es ge580
hörte, war wild entschlossen, es niemals herauszugeben. Er hatte es sich in seinen senilen Kopf gesetzt, dass Zauberer, die sich mit Naturwissenschaften beschäftigen, nur einen Schritt vom Rationalismus entfernt sind, und niemals hätte er heilige Texte gottlosen Zauberern übergeben, da es den Zorn wer weiß was für einer Gottheit auf ihn herabbeschworen hätte.« »Was hat seine Meinung geändert?« Ich lächelte nun ebenfalls. »Es gab eine Reihe äußerst seltsamer Vorzeichen.« In spöttischem Staunen schüttelte Livak den Kopf. »Beispielsweise ist der alte Junge mitten in der Nacht aufgewacht und musste feststellen, dass sich die Möbel bewegt hatten, während er schlief. Dann hat er antike Runensteine auf seinem Schreibtisch gefunden, was ihn davon überzeugt hat, jemand wolle ihm auf mysteriösem Wege eine Nachricht zukommen lassen. Sein gesamter Haushalt wurde befragt, und natürlich verdächtigte er zuerst Shiv und Viltred, doch die wurden rund um die Uhr von seiner Miliz überwacht; deshalb konnten sie unmöglich verantwortlich sein.« »Natürlich nicht.« Ich nickte ernst. »Und was hat ihn endgültig überzeugt?« »Oh, als er eines Morgens aufwachte und seine Geburtsrunen auf dem Boden fand, obwohl er im obersten Stock seiner Feste geschlafen und das Zimmer ein unzugängliches Fenster hatte.« »Unzugänglich?« Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen. »Ja, genau«, bestätigte Livak und zog den Ärmel hoch, um mir einen tiefen Kratzer zu zeigen, der langsam verheilte. »Unzugänglich – und noch dazu verdammt schmal.« Beide brachen wir in lautes Lachen aus; dann jedoch senkte 581
sich ein verlegenes Schweigen auf uns herab. »Weißt du, ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, sagte Livak plötzlich. Ein Hauch von Röte zeigte sich unter ihren Sommersprossen, als sie in die Dunkelheit blickte. »Das hätte auch leicht geschehen können«, sagte ich in so gelassenem Tonfall, wie ich konnte. »Ich bin froh, dass ich dich hier gefunden habe. Ich konnte wirklich darauf verzichten, den ganzen Weg nach Relshaz zurückzulaufen, um dich dort zu suchen.« Unsere Blicke trafen sich einen langen Augenblick, bis Livak sich umdrehte, um einen Teller auf den Tisch zu legen. »Ich habe nachgedacht ... Wenn das Angebot noch steht, werde ich für eine Weile mit dir nach Zyoutessela kommen. Was immer die Soluraner mit Halices Bein machen, es wird sehr lange dauern, bis weit in den Nachherbst, haben sie gesagt.« »Das würde mir gefallen«, sagte ich. Nur mit Mühe konnte ich ein Zittern aus meiner Stimme halten. »Ich meine, ich will dir nichts versprechen, und ich werde mir auch noch nicht das Haar wachsen lassen«, fuhr Livak rasch fort; »aber wir könnten mal sehen, wie es so geht, obwohl du natürlich immer noch ein eingeschworener Mann bist ...« »Im Augenblick«, sagte ich. »Darüber denke ich gerade nach. Vielleicht ist es an der Zeit, mein Eidgeld wieder zurückzugeben und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.« Nun hatte ich ausgesprochen, was allmählich in mir gewachsen war. Livak starrte mich offenen Mundes an. »Und was wirst du dann tun?« »Mir einmal Vanam anschauen, vielleicht.« Ich hatte Livaks Heimatstadt noch nie gesehen. »Ich meine, womit wirst du dein Geld verdienen?« Livak legte 582
die Stirn in Falten. »Sag ja nicht, dass du als Söldner nach Lescar gehen willst.« Das war ein schlechter Scherz, und ich sah echte Sorge in Livaks Augen. »Geld wird kein Problem sein.« Ich grinste sie an und holte meinen Seesack. Als ich Laio Sheks Geschenke auf dem Tisch ausbreitete, wurden Livaks Augen so rund und hell wie die Smaragde in dem Armreif, nach dem sie zuerst griff. »Was für eine Art Dienst hast du eigentlich geleistet, dass man dich so gut bezahlt?«, kicherte sie. Ich zwinkerte ihr zu. »Das werde ich dir zeigen, sobald wir im Bett sind.« Livak lachte und strich staunend mit der Hand über ein paar weitere Stücke. Dann blickte sie mich scharf an. »Mit dem, was du hier hast, könnten wir uns schon morgen ein Schiff besorgen und von hier verschwinden. Ich kenne Leute, die das zu Geld machen können, und wir könnten es einfach darauf ankommen lassen, dass die Zauberer uns nicht finden. Ich habe Freunde, die uns verstecken würden. Du musst nicht tun, was Planir von dir verlangt; du könntest einfach gehen.« »Ich weiß, und ich habe auch schon darüber nachgedacht«, gestand ich. »Aber dann wäre es nicht zu Ende, stimmt’s? Es würden immer Fragen offen bleiben ... Was wäre, wenn? Nein, ich will als freier Mann davongehen. Ich will, dass niemand mehr einen Anspruch an mich hat.« Das aber bedeutete, dass ich Planir und seine Zauberer ihr Ritual würde durchführen lassen müssen, um an D’Alsennins Erinnerungen zu gelangen. Der Gedanke an Äthermagie in meinem Kopf, die all meine Verteidigungen niederriss, jagte mir einen Schauder über den Rücken, aber das war der Preis dafür, wenn ich die Schatten der Vergangenheit aus meinem Geist 583
verbannen wollte. Ich betrachtete das Vermögen auf dem Tisch und schüttelte Kopf angesichts der Ironie der ganzen Sache. Dann schaute ich zu Livak, die mich aufmerksam beobachtete. »Macht es dir etwas aus?«, fragte ich sie. »Ich muss das ein für alle Mal zu Ende bringen.« Sie nickte. »Ich wusste, dass du es tust«, erklärte sie schlicht. »Ehrlich gesagt, möchte ich dich anders auch gar nicht haben.« Ich nahm sie in die Arme und zog sie an mich. »Planir hat vor, mich in eine Art Halbschlaf zu schicken, eine Art Ritual, um zu diesen verfluchten Träumen vordringen zu können.« Ich schauderte unwillkürlich. »Ist das erledigt, sollten wir endlich gehen können.« Livak verstärkte den Griff um meine Brust. »Ich werde bleiben. Ich werde an deiner Seite sein, wenn jemand in deinem Kopf herumwühlt. Außerdem«, ihre gute Laune kehrte zurück, »hier in Hadrumal kann man gut absahnen. Es gibt Zauberer hier, die über Tausende von Meilen miteinander reden können, aber von den Runen haben sie keine Ahnung. Gib mir eine halbe Jahreszeit, und ich habe eine Schatzkammer so voll wie deine.« »Spätestens dann wird Planir uns loswerden wollen.«
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Flussaufwärts, südlich der Siedlung Kel Ar’Ayen 12. Nachfrühling, Jahr 3 der Kolonie
»Das wär’s dann wohl. Jeder Ausbruchsversuch ist so gut wie Selbstmord.« Den Fellaemions Tonfall war so kalt und gefühllos wie ein winterliches Schneefeld. »Ist jedes Schiff versenkt?« »Sie sind allesamt in Stücke gehauen.« Avilas Stimme bebte, als sie sich mit zittrigen Händen die Schläfen rieb. Die Augen hatte sie fest geschlossen, um sich besser von der Weitsicht zu erholen. »Die Eindringlinge haben die Flussmündung versperrt.« Temar konnte es nicht länger ertragen. Er stieß den Stuhl zurück und ging vor der feuchten Höhlenwand auf und ab. »Worauf warten sie dann noch? Warum kommen sie dann nicht und bringen es zu Ende? Wir sitzen hier wie Ratten in der Falle.« Er hatte das Gefühl, die Höhlenwände würden ihn erdrücken, und er klatschte so laut in die Hände, dass es schmerzte. Bei Misaen, er hasste es, so eingesperrt zu sein. »Warum sollten sie sich beeilen?« Messire Den Fellaemion rieb sich mir der knochigen Hand über sein blutleeres Gesicht. »Sie können sich Zeit lassen, können sich ausruhen und ihren Männern erst einmal was zu essen geben. Wir gehen doch nirgendwo hin, oder?« Der trockene Tonfall des Kommandanten machte Temar die Niederlage noch einmal bewusst; aber er wollte es einfach nicht akzeptieren. »Vielleicht können wir doch entkommen. Wir sollten uns tiefer in der Höhle umsehen«, drängte er und unterdrückte das ungute Gefühl, das auch ihn bei dem Gedanken überkam, noch tiefer in die Erde vorzudringen. »Wir sollten sofort damit be585
ginnen, einige der Spalten weiten und sehen, wohin es uns führt. Wir wissen, dass mindestens ein Fluss hier irgendwo unter der Erde fließt. Wenn Wasser diese Höhlen gegraben hat, muss es auch irgendwo wieder herausgekommen sein. Vielleicht gibt es einen Weg, der uns außerhalb der Sichtweite dieser Bastarde wieder an die Oberfläche führt. Dann könnten wir zu dem neuen Hafen fliehen, den die Viehhirten im Laufe der letzten Jahreszeit errichtet haben. Sie haben von den Eindringlingen doch nichts gesehen, nicht wahr, Avila? Das hast du doch selbst gesagt.« Temar biss sich auf die Lippe und setzte sich wieder, als er sah, dass niemand seinen Worten Beachtung schenkte. Den Fellaemion richtete seine Aufmerksamkeit auf den soeben eintreffenden Vahil. Der junge Mann hielt ein zerknittertes Pergament in der Hand. »Unsere Vorräte sind sehr begrenzt, Messire. Nur noch wenige Tage, und wir werden die Rationen kürzen müssen. Wir haben genug Brot für ein paar Mahlzeiten sowie Käse und dergleichen, was immer sich die Leute auf der Flucht haben schnappen können; viele sind jedoch mit leeren Händen gekommen. Es ist uns gelungen, ein paar Sack Hafermehl von den Schiffen zu holen sowie einen kleinen Vorrat an Gemüse; Fleisch oder Wein jedoch gibt es kaum. Außerdem ist es viel zu gefährlich, die Leute zum Essenholen hinauszuschicken.« Vahils sonst so feste Stimme war so farblos wie sein Gesicht. »Als im Morgengrauen der Angriff begann, waren viele kaum in der Lage, sich selbst und ihre Familie zu retten, geschweige denn etwas anderes. Manche tragen sogar noch ihre Nachtgewänder. Wir haben ein paar Decken, aber nicht einmal annähernd genug, besonders nicht für die Verwundeten. Überdies sind zwölf Kinder von ihren Eltern getrennt worden.« Bis jetzt hatte Vahil 586
leidenschaftslos Bericht erstattet, nun aber lag Kummer in seiner Stimme. »Wir müssen davon ausgehen, dass sie verloren sind – die Eltern, meine ich.« Temar schloss die Augen, als seine eigenen qualvollen Erinnerungen wiederkehrten. Er sah Messire Den Rannion in einer Blutlache, seine Eingeweide im Dreck verteilt und das Schwert noch immer in der Hand, die ihm abgeschlagen worden war, als er versucht hatte, seine Leute zu verteidigen. Die Edelsteine an seinen Ringen hatten im Morgenlicht gefunkelt, da die Angreifer viel zu sehr aufs Blutvergießen versessen waren, als dass sie sich die Zeit genommen hätten, ihre Opfer auszurauben. Noch schlimmer war die andere Hand gewesen, die blind nach dem Messire gegriffen hatte – die Hand der Maitresse. Ihr weißes Haar war in die blutige Erde getrampelt gewesen, ihr freundliches Gesicht zerschmettert von einem Schildbuckel. Stiefelabdrücke auf ihrem Nachtgewand verrieten, wie achtlos der Feind über sie hinweggetrampelt war. »Avila, warum gehst du dir nicht mit Vahil etwas zu trinken holen?« Bei Guinalles sanften Worten öffnete Temar die Augen und verdrängte das schreckliche Bild. »Nein, andere leiden größere Not als ich ...«, begann Vahil; trotzdem folgte er Avila, als diese seine Hand ergriff und sich ein Lächeln abrang. Den Fellaemion blickte zu Guinalle. In dem trüben Licht, das durchs Gestrüpp vor dem Höhleneingang fiel, sah er fast so grau aus wie die Wand, an der er saß. »Was hast du mir zu sagen, meine Liebe?« Die Mischung aus Liebe und Leid in Guinalles Augen, als sie auf ihren Onkel blickte, zerriss Temar das Herz. 587
»Wir haben uns um die Verwundeten gekümmert, so gut es ging – mit der Kunst und der wenigen Medizin, die wir retten konnten.« Guinalle schob unbewusst einen blutigen Ärmel über den Ellbogen. »Die meisten sind jetzt versorgt, und Ostrin sei Dank haben viele nur leichte Verletzungen davongetragen. Doch es gibt auch welche, für die wir kaum etwas tun können.« »Hast du feststellen können, wie viele Adepten entkommen sind?« Temar wunderte sich über die Dringlichkeit von Den Fellaemions Frage. »Fast alle.« Bitterkeit lag in Guinalles Stimme. »Wir haben uns wesentlich besser verteidigen können, als die Angreifer die Kunst einsetzten.« Temars schauderte, als er an die Schrecken des letzten Sonnenaufgangs dachte. Schreie hatten ihn aus einem angenehmen Traum geweckt. Furchtbares Kreischen hatte die Luft zerrissen, als die Angreifer mit ihren Schiffen gelandet waren, um über die wehrlosen Kolonisten herzufallen. Unbewusst griff Temar in die Luft, als er sich daran erinnerte, wie er sein Schwert gepackt hatte und aus seinem Bett in Den Rannions Haus gesprungen war. Draußen stand bereits alles in Flammen. Frauen und Kinder flohen vor dem Feuer – nur um von gierigen Schwertern niedergestreckt zu werden, während das Inferno weitertobte. Temars Herz schlug immer schneller, während er darüber nachdachte, was er hätte anders machen können. Wie hätte er die Männer rascher um sich sammeln können, die sich mit den erstbesten Waffen, die sie hatten finden können, um ihn geschart hatten, um das schwache Holztor zu verteidigen? Eisige Finger schlossen sich um Temars Herz, und kalter Schweiß sammelte sich in seinem Nacken, als er erneut ihre Schreie hörte. Unwillkürlich zuckte er zusammen, als er sich an die 588
Kunst erinnerte, die einem nach dem anderen den Verstand geraubt hatte, sodass sie nur dagestanden und darauf gewartet hatten, von den Angreifern mit ihren Äxten gefällt zu werden wie morsche Bäume. Eine Träne kullerte Temar über die Wange, und er blickte an sich hinunter und sah, das seine Knöchel weiß von dem harten Griff waren, mit dem er sein Schwert umklammert hielt. »Dir blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen, Temar.« Den Fellaemion legte ihm eine dürre Hand auf die seine. »Saedrin sei Dank, dass du wenigstens genug von der Kunst verstehst, um dich verteidigen zu können, sonst hätten wir auch dich verloren.« Temar vertraute seiner Stimme nicht; also blickte er nur schuldbewusst zu Guinalle. In ihren Augen sah er jedoch nur Verständnis und Mitgefühl, und für einen Moment machte das alles nur noch schlimmer. »Wer ist dieses verfluchte Volk?«, fragte er heiser. »Warum tun sie das?« »Da jeder Verhandlungsversuch zur Folge hatte, dass unsere Gesandten von einem Geschosshagel empfangen wurden, ist das schwer zu sagen.« Messire Den Fellaemions freudloses Lächeln hätte selbst auf einer Totenmaske nicht fehl am Platze gewirkt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir diesen Konflikt noch auf dem Verhandlungswege lösen können.« »Ich habe eine Idee, woher sie kommen könnten«, begann Guinalle zaghaft. »Was?«, verlangten Temar und Den Fellaemion im selben Atemzug zu wissen. »Wie?« »Als ich ihre Angriffe abgewehrt habe, kam es zu einem unerwarteten Kontakt mit jemandem, der die Kunst noch nicht so 589
gut beherrscht.« Guinalle wirkte ungewöhnlich zurückhaltend. »Vergangene Nacht, als ich sicher war, dass der Jüngling schlafen würde, bin ich in seinen Erinnerungen eingedrungen.« »Die Risiken ...« Temar wollte protestieren, doch Den Fellaemions Blick brachte ihn zum Schweigen. »Was kannst du uns erzählen, meine Liebe?« »Sie kommen von einem Ort weit nördlich von hier, von kleinen, öden Inseln, die dicht beieinander im Herzen des Ozeans liegen.« Guinalle blickte in eine unbestimmte Ferne, als sie erneut die Bilder sah, die sie gestohlen hatte. »Es ist ein kalter, erbarmungsloser Ort. Nur wenige Bäume wachsen dort, und überall sind graue Felsen. Sie haben nur sehr wenig dort ... und was sie haben, stehlen sie einander. Blut für Land gilt als gerechter Preis. Das Leben erneuert sich zur gegebenen Jahreszeit, doch das Land endet am Ufer.« Guinalle Stimme wurde tiefer, und sie sprach mit hartem Akzent. »Die Kunst erhebt die Priester zu Herrschern über dieses Volk. Widerstand löschen sie im Geist aus, und sie töten mit Gedanken. Einigkeit ist alles, wenn sowohl Natur als auch Kultur dich mit Feinden umgeben, die jederzeit gegen dich losschlagen können.« Sie schauderte, und ihre Stimme wurde wieder normal. »Sie haben etwas entdeckt, was sie als ein Land unermesslicher Reichtümer betrachten, und sie werden es mit niemandem teilen, was immer sie es kosten mag«, endete sie leise. Bevor Temar etwas sagen konnte, stand Den Fellaemion auf und nahm Guinalle in die Arme. »Mein liebes Kind, solche Einsichten mögen ja wertvoll sein, aber du bist immer noch wertvoller.« Ein Hauch von Tadel schlich sich in seine Stimme. »Deine Fähigkeiten sind deine einzige Verteidigung gegen das Böse ihrer Kunst, und wir dürfen deine Sicherheit nicht gefähr590
den. Du wirst einen solchen Kontakt nie wieder versuchen.« Temar kam ein Gedanke. »Ist es dir gelungen, Kontakt mit der Heimat aufzunehmen, mit Zyoutessela, Toremal, mit irgendeinem Ort, der uns Hilfe schicken könnte?« Guinalle schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, doch irgendetwas hält mich davon ab, eine Art Rauch, der die Reichweite meiner Kunst begrenzt.« »Hast du versucht, mit ein paar der anderen zusammenzuarbeiten?« Den Fellaemion blickte sie fragend an. »Das habe ich, und das war sogar noch schlimmer. Von allen Seiten sind die feindlichen Hexer auf uns eingedrungen.« Guinalle schauderte, als sie sich daran erinnerte. »Nur mit Mühe sind wir ihrem Netz entkommen. Larasion möge doch ihre Saat verdorren lassen!« »Also müssen wir uns auf uns selbst verlassen«, erklärte der Messire grimmig. »Wir sind schon weit in der Segelsaison«, protestierte Temar halbherzig. »Neue Schiffe werden nach hier unterwegs sein, die die Blockade durchbrechen können, wenn wir eine halbe Jahreszeit lang aushalten, vielleicht sogar weniger. Wie nahe müssen sie sein, damit du Kontakt zu ihnen aufnehmen kannst, Guinalle, ohne dich selbst zum Ziel zu machen?«, fügte er rasch hinzu. Den Fellaemion seufzte. »Es kommen keine Schiffe, Temar, weder in dieser Jahreszeit noch in einer anderen.« Temar starrte zuerst Den Fellaemion an, dann Guinalle, die errötete und den Kopf hängen ließ. »Was meint ihr damit?« »Dieses Jahr wird es keine neuen Kolonisten geben, Temar.« Den Fellaemion konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht verbergen. »Letztes Jahr hatten wir schon wenige. Mit den letz591
ten Schiffen sind ein paar Briefe für mich gekommen, von meinem Haus und auch von anderen, und alle haben das Gleiche gesagt. Nemith treibt das Imperium in den Ruin. Er verwehrt seinen Truppen angemessene Unterstützung, während er sie gleichzeitig wie ein Wahnsinniger immer weiter vorwärts treibt. Niemand hat Geld oder Männer für überseeische Unternehmungen übrig. Die Provinzen brennen, Temar. Wir sind hier auf uns allein gestellt.« »Ihr habt das den ganzen Winter gewusst?« Temar starrte auf Den Fellaemions bleiches Gesicht mit den eingefallenen, doch immer noch ruhigen und strengen Augen. »Was für einen Unterschied hätte es denn gemacht, wenn wir diese Nachricht verbreitet hätten?«, verlangte der alte Mann zu wissen. »Was hätte es uns denn gebracht, Niedergeschlagenheit und Zweifel zu säen, wo wir gerade eine so gute Ernte eingefahren hatten? Wir konnten uns auf einen guten Winter freuen und uns darauf vorbereiten, unser Gebiet zu gegebener Jahreszeit weiter auszudehnen. Ich sah keinen Grund, dass weitere Männer und Frauen aus Tormalin kommen, wenn ohnehin keine kommen wollten.« Temar öffnete den Mund, um zu widersprechen, ließ es dann aber. Er kam sich wie ein Narr vor, als ihn die Wucht von Den Fellaemions Worten wie ein Schlag traf. »Und ich war so sicher, dass wir die Eindringlinge erst einmal vertrieben hatten!«, erinnerte er sich verbittert. »Dass der Verlust der Lachs das Ende von allem war.« »Wir alle haben das geglaubt«, sagte Guinalle. »Es ist sowohl meine Schuld wie die jedes anderen, Temar.« »Wir können hier doch nicht einfach wie die Ratten in der Falle hocken und darauf warten, dass uns irgendwer die Schä592
del einschlägt!« Temar sprang auf, riss ein paar Farne von der Wand und blickte in den blauen Himmel hinaus. Die ersten Wolken färbten sich golden; die Dämmerung war nicht mehr fern. »Es gibt noch eine andere Wahl, Temar«, begann Guinalle zögernd und warf einen raschen Blick zu ihrem Onkel. Den Fellaemion nickte zustimmend. »Es gibt eine Möglichkeit, wie wir uns mit Hilfe der Kunst in den Höhlen verstecken können, bis es uns gelingt, Hilfe aus Tormalin zu rufen. Wir können uns vor den Augen der Angreifer verbergen.« Temar blinzelte verwirrt. »Wie? Und selbst wenn wir uns verbergen können, wie sollen wir überleben? Du hast doch gehört, was Vahil über unseren Mangel an Vorräten gesagt hat. Verflucht, Guinalle, es müssen annähernd tausend Menschen hier sein, und bevor die Sonne untergeht, werden noch mehr ihren Weg hierher finden, so sie diesen Hunden entkommen können! Auch um die Wasserversorgung ist es schlecht bestellt. Und überleg, wie kalt es gestern Nacht gewesen ist. Ein Schiff nach Toremal zu schicken, um Hilfe zu holen, wird fast eine ganze Jahreszeit dauern, vielleicht sogar noch länger, wenn es daheim wirklich so schlecht steht, wie Messire glaubt!« Entschlossen schüttelte er den Kopf und ignorierte die Furcht vor dem Eingesperrtsein in diesen kalten, feuchten Höhlen. »Wie groß das Risiko auch sein mag, wir müssen einen Weg hier raus und über Land zur neuen Siedlung finden. Benutze deine Kunst, um uns dabei zu verbergen, damit diese mörderischen Bastarde uns nicht finden und in Stücke hauen.« »Selbst wenn wir hier herauskämen, wäre die Hälfte der Leute tot, noch bevor wir den ersten Bergzug überquert hätten, Temar.« Den Fellaemion blickte die grob gehauenen Stufen 593
hinauf, die man provisorisch in den Fels geschlagen hatte, um Zugang zur Haupthöhle zu haben. Temar folgte seinem Blick zu den Menschen, die sich um die wenigen Habseligkeiten drängten, die sie hatten retten können, und die in den Schrecken ihrer Erinnerung dahinvegetierten. Die bedrückende Stille hatte etwas von Niederlage, endgültiger Niederlage; nur gelegentlich waren das Wimmern eines Kindes oder ein leiser Schmerzenslaut zu vernehmen. »Wir können doch nicht einfach so aufgeben!«, protestierte Temar in dem verzweifelten Versuch, seine eigene Entschlossenheit aufrecht zu erhalten. »Wir können uns in einem Schlaf verbergen – einem Schlaf, hervorgerufen von der Kunst«, flüsterte Guinalle und blickte mitfühlend auf das armselige Häuflein, das von den einst so optimistischen Kolonisten übrig geblieben war. »Wir können diesen Leuten Ruhe verschaffen, alles Leben und alle Gedanken anhalten, so Arimelin will, bis Hilfe kommt, um diese Eindringlinge zu verjagen.« »Wie?«, wollte Temar wissen. »Es gibt eine Möglichkeit, Geist und Körper zu trennen.« Guinalle schüttelte sich das Haar zurück und kramte in ihrer Tasche nach irgendetwas, um es festzubinden. »Diese Technik wird nur selten eingesetzt ...«, kurz geriet ihre Stimme ins Wanken, »in der Regel nur bei sehr schweren Krankheiten. Der Geist, das Bewusstsein, die Essenz des Menschen wird an etwas gebunden, das er schätzt und zu dem er eine Beziehung hat. Solange der Geist in Stasis in dem Artefakt lebt, schützt ein Zauber den Leib, bis beide wieder vereint werden.« »Und wie willst du das anstellen, noch dazu mit so vielen Menschen?« Temar starrte sie an und reichte ihr ein Lederband 594
aus seinem Wams. »Wir brauchten einen kleinen Trupp, der sich über Land in die neue Siedlung durchschlägt. Und du hast Recht, Temar, es gibt einen Weg aus den Höhlen. Bergleute haben ihn vor einiger Zeit entdeckt. Er ist schwierig und schmal; an einigen Stellen geht es nur unter Wasser weiter, aber mit der entsprechenden Vorsicht ist er durchaus begehbar, so Misaen es will.« Erregung brachte trügerische Farbe auf Den Fellaemions eingefallene Wangen. »Wir werden einen ausgewählten Trupp ausschicken«, sagte er, »alles Kämpfer, die sich gut in der Wildnis zurechtfinden und unbemerkt an den Angreifern vorbeikommen können, natürlich mit Hilfe der Kunst, wenn wir einen Adepten entbehren können. Sie können die Artefakte mitnehmen, in den die Seelen der Betreffenden wohnen.« »Sollen die Hirten zurückschlagen und uns zu Hilfe eilen?« Temars Zweifel kämpften mit seiner Hoffnung. »Nein.« Den Fellaemion schüttelte entschlossen den Kopf. »Sie sollen die Segel setzen und fliehen, Dastennin schütze sie! Temar, du hast für dein Haus in den Kohorten gedient. Wie sollen Bauern und Hirten es mit ausgebildeten Soldaten aufnehmen, die noch dazu in der Überzahl sind und sich in einer leicht zu verteidigenden Position befinden – von der Kunst einmal ganz zu schweigen? Nein, sobald das Wetter es erlaubt, müssen sie so schnell wie möglich nach Zyoutessela zurücksegeln. Dann müssen sie die Hilfe jedes Hauses mobilisieren, das hier Verwandte oder Untertanen hat. Die sollen dann eine Flotte zusammenstellen und diese weißhaarigen Dämonen auf ihre öden Inseln zurückjagen.« »Glaubt Ihr, dass die Hilfe noch rechtzeitig eintreffen wird?«, fragte Temar, der den erstaunlichen Vorschlag noch immer 595
nicht ganz verarbeitet hatte. »Könnten die Truppen schnell genug gesammelt werden, um noch vor dem Herbst hier zu landen?« »Könnte der Sieur eines Hauses seine Hilfe verweigern, wenn er Artefakte mit der Lebensessenz eines jeden hier in den Händen hält? Könnte er reinen Gewissens seinen Brüdern und Söhnen gegenübertreten, wenn er diese Seelen dazu verdammen würde, auf ewig eingefroren zu sein, weit weg von ihren Körpern, die in einer Höhle schlafen?« Den Fellaemion sprach leise, doch seine Augen waren so hart wie Stahl. »Ich verstehe, was Ihr meint«, sagte Temar. »Wie könnten sie sich da verweigern?« »Dann wirst du uns also helfen?«, fragte Guinalle und blickte Temar flehend an. »Wir müssen unsere Leute hier davon überzeugen, dass es unsere einzige Hoffnung ist. Wir müssen uns auf die Loyalität berufen, die sie mit jedem unserer Namen verbindet, und wir müssen ihnen genügend Informationen geben. Wenn sie nicht fest an unseren Plan glauben, geht es nicht.« Temar nickte. Im Geiste prüfte er den Plan bereits auf Fehler und Möglichkeiten. »Nun denn, wen wollt Ihr über Land schicken?«, fragte er Den Fellaemion. »Die mit Verwandten in der neuen Siedlung wären am Besten geeignet ...« »Sie werden die Ersten sein, die Guinalle in Schlaf versetzt«, unterbrach ihn Den Fellaemion. »Denk doch einmal nach, Temar. Diese Leute haben einen Albtraum durchlitten.« »Das verstehe ich nicht.« Temar runzelte die Stirn. »Denk nach, Junge.« Der Messire rieb sich mit einer blutleeren Hand über die Lippen. »Wenn wir Menschen, die unvorstellbare Schrecken überlebt haben, zu ihren Freunden und 596
Verwandten schicken – wer von ihnen wird dann noch eine Last mit sich nehmen wollen, egal wie wertvoll sie sein mag? Ich will diese Leute nicht als Feiglinge verdammen, aber sei realistisch, Temar. Wir müssen Männer schicken, die eher ihr Leben als diese Artefakte verlieren würden. Mehr als das: Wir müssen den Siedlern am neuen Hafen allen Grund geben, so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren und dort einen Aufstand zu veranstalten, wenn nötig, um Hilfe hierher zu bekommen, damit sie die Leben ihrer Lieben wiederherstellen können.« Temar sah, dass Guinalle von diesen Worten ebenso erschüttert war wie er. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor die Eindringlinge der Küste nach Süden folgen und die neue Siedlung finden. Es geht hier um mehr als nur darum, unser eigenes Leben zu schützen«, fuhr Den Fellaemion fort, und seine Augen blickten in eine unbestimmte Ferne. »Ich weiß nicht, wie diese mörderischen Bastarde in dieses Land gekommen sind, aber ich werde ihnen nicht unsere großen Schiffe überlassen, damit sie damit übers Meer fahren und über das ahnungslose Imperium herfallen können, besonders nicht, wenn das Chaos dort sich so sehr verschlimmert hat. Dastennin sei Dank, dass wir sie alle nach Süden geschickt haben, damit sie in den geschützteren Gewässern instand gesetzt werden. Wenn wir hier sterben müssen, dann soll es so sein, aber ich habe mein Leben lang die Ehre meines Hauses verteidigt, selbst mit einem Nichtsnutz und Narr als Kaiser.« Guinalle und Temar blickten sich unsicher an. Temar verdrängte die Vorbehalte, die er noch hegte, und straffte die Schultern. 597
»Ich werde Euch nicht enttäuschen, Messire«, erklärte er und versuchte seine Angst vor der Reise durch die engen, gefährlichen Höhlen zu unterdrücken. »Bitte, legt diese Last auf meine Schultern.« »Guinalle, könntest du gehen und Avila helfen, damit die Leute hier etwas zu essen bekommen? Warmes Essen, wie wenig es auch sein mag, wird ihnen wieder etwas Mut verleihen.« Guinalle blinzelte. Offensichtlich überraschte es sie, einfach weggeschickt zu werden; dennoch stand sie gehorsam auf und stieg vorsichtig über die rutschigen Stufen in die Höhle. »Du wirst die Überlandexpedition nicht führen, Temar«, erklärte Den Fellaemion. »Ihr denkt doch nicht daran, selbst zu gehen, Messire ...«, protestierte Temar erregt. »Nein. Ich weiß, dass ich nicht mehr die Kraft dazu habe.« Den Fellaemion schüttelte den Kopf. »Dieser Runenwurf geht an Vahil.« »Aber ...« »Hört mich zu Ende an, Junker.« Den Fellaemion verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und blickte Temar in die Augen. »Vahil hat Elsire in der neuen Siedlung, und ich weiß, was ich darüber gesagt habe, wer gehen soll und wer nicht. Aber dies ist ein besonderer Fall. Der Gedanke, Elsire zu retten, ist so ziemlich alles, was Vahil im Augenblick noch auf den Beinen hält, nachdem seine Eltern vor seinen Augen niedergemetzelt worden sind. Ich werde ihm diese Stütze nicht nehmen, und wichtiger noch, ich brauche Vahil und besonders auch Elsire, um Hilfe vom Imperium zu verlangen. Als Neffe und Nichte des Sieurs eines der mächtigsten Häuser im Süden wird man ihre Forderungen hören, dessen bin ich sicher. Ihr Onkel 598
wird alles in Bewegung setzen, diese Forderungen zu erfüllen; tut er es nicht, ist er für alle Zeit entehrt.« »Und D’Alsennin ist ein totes Haus mit wenig oder gar keinem Einfluss – wollt Ihr das damit sagen?« Temar konnte seine Verbitterung nicht verbergen. »Wohl kaum. Dein Großvater wird Nemith höchstpersönlich an den Ohren packen und dem elenden Kerl im Notfall sogar Verstand einprügeln.« Den Fellaemion lächelte schwach. »Nein, ich will dich nur hier haben, an Guinalles Seite, für den Fall, dass etwas Unerwartetes geschieht.« »Was meint Ihr damit?« Temar hob den Blick. Den Fellaemion seufzte. »Guinalle vertraut darauf, dass diese ungewöhnliche Idee funktionieren wird, und dass es ihr gelingt, die Höhle zu verbergen. Ich muss gestehen, dass ich da meine Bedenken habe. Wir wissen nicht genau, zu welchen Leistungen in der Kunst die Angreifer fähig sind, und ich mache mir Sorgen, dass sie euch finden und irgendwie wieder zum Leben erwecken. Guinalle musste zugeben, dass man den Körper benutzen kann, um den Geist aus weiter Ferne zu rufen. Außerdem wird das, worin sie ihren Geist aufbewahren wird, ohnehin bei ihr bleiben müssen, denn sie ist diejenige, die euch alle in Schlaf versetzt.« Er blickte zu Guinalle, die neben einem weinenden Kind kniete. »Natürlich schwört sie, dass sie ihre letzte Kraft dazu aufwenden würde, das Imperium zu warnen und ihr eigenes Herz zum Stillstand zu bringen, sollte sie von den Eindringlingen geweckt werden. Aber ich fürchte, dass diese Fremden, sollten sie in der Lage sein, sie zu wecken, auch dazu imstande sind, ihr den Willen zu nehmen. Sollte das geschehen, Temar, möchte ich, dass du vor allen anderen sie verteidigst und der Kolonie 599
ein letztes Mal die Ehre erweist, und sei es nur, indem du den erschlägst, der die Kunst gut genug beherrscht, euch wieder ins Leben zurückzuholen, auch wenn es dich das Leben kosten sollte. Ich weiß, dass ich mich dabei auf dich verlassen kann, Temar. Ich wüsste keinen, dem ich diese Aufgabe sonst anvertrauen würde.« Temar fand keine Worte inmitten des Chaos von Gefühlen, bis schließlich eine Frage nach einer Antwort verlangte. »Aber Ihr werdet doch auch hier sein, Messire, oder?« »Nein, Temar.« Den Fellaemion ging zum Rand des Alkovens und blickte in das dunkelgrüne Tal unter ihnen, wo die Schatten immer länger wurden. »Geh ein Stück, Temar. Wir können die Wachen kontrollieren.« Temar atmete tief durch, während sie sich vorsichtig an den Abstieg machten. Dort, wo die Sonne nie den Fels erreichte, war er glatt von Tau. Als sie aus den Schatten traten, drehte Temar sein Gesicht in die letzten Strahlen der Sonne; die feuchte Kälte der Höhle saß ihm in den Knochen. Den Fellaemion rieb sich die dürren Hände; seine langen Fingernägel wirkten fast blau auf der blassen Haut. »Ich sterbe, Temar«, sagte er schlicht. »Guinalle hat sich nur aus einem Grund mit diesem Ritual beschäftigt. Sie wollte mich davon überzeugen, mich in einem solchen Schlaf nach Bremilayne zurückschicken zu lassen, wo die Adepten des Schreins von Ostrin die Krankheit in meinem Körper vielleicht vernichten können.« Er lächelte, diesmal voller Zärtlichkeit. »Das liebe Mädchen hasst es zu verlieren. So hat es angefangen«, fuhr er fort. »Aber inzwischen ist es mehr als unwahrscheinlich, dass man mich würde wiederbeleben können, falls mich nicht bereits der Zauber tötet. Da ich weiß, dass Saedrin bereits hinter der 600
Tür auf mich wartet, sehe ich außerdem keinen Sinn darin, zu schlafen, nur um zum Sterben wieder geweckt zu werden. Ich möchte ein letztes Mal in meinem Leben etwas Großes tun. Ich werde ein Schiff mit den Gefallenen bemannen und es gegen die Blockade lenken.« »Das ist Selbstmord«, sagte Temar leise. »Es ist eine Ablenkung«, widersprach Den Fellaemion mit funkelnden Augen. »Wenn Vahil sich auf den Weg durch die Höhlen gemacht hat, werde ich einen Tag später ablegen. Das sollte die Eindringlinge genau in dem Augenblick beschäftigen, da er das Höhlensystem verlässt. Außerdem lenkt es sie vom Tal ab. Ich werde Saedrin mit dem Schwert in der Hand und mit einem Gebet an Dastennin auf den Lippen begrüßen. Ich glaube nicht, dass er mir diese Verschwendung von Leben übel nehmen wird, Temar.« »Wahrscheinlicher ist, dass Poldrion Euch kostenlos in die Anderwelt bringt.« Temar blinzelte die Tränen weg und starrte auf einen Strauch. Als hinter ihnen Blätter raschelten, drehten sich beide um und sahen Guinalle, die sich vorsichtig einen Weg durchs Unterholz bahnte. »Wenn wir es so machen wollen, müssen wir es bald tun«, erklärte sie, als sie näher kam. »Im Augenblick sind alle noch so entsetzt darüber, was geschehen ist, dass keiner widersprechen wird, nicht einmal so einem seltsamen Vorschlag.« Sie lächelte in einem Anflug von Humor. »Wenn wir noch länger warten, werden die Leute sich mehr und mehr ihrer Situation bewusst. Entweder bricht dann Panik aus, oder ihr werdet es mit einer Hand voll unterschiedlicher Fluchtpläne zu tun bekommen. Auch mache ich mir Sorgen um die Gebrechlichen und Verwundeten. Sie werden die Nächte hier nicht lange 601
überleben.« Den Fellaemion nickte. »Durch eine Verzögerung können wir nichts gewinnen. Wir werden sie füttern, so gut wir können; dann werde ich zu ihnen sprechen. Temar, geh und hilf Vahil. Guinalle, ruf deine Adepten zusammen und findet heraus, wie ihr am Besten bei dieser Aufgabe zusammenarbeiten könnt. Und sorg dafür, dass uns niemand mit der Kunst belauscht. Ich will diesen Eindringlingen nicht verraten, wo genau sie uns finden können.« Temar kam ein Gedanke. »Wie sollen wir wiedererweckt werden, wenn Hilfe eintrifft?« »Die Adepten des Schreins von Ostrin, wo ich studiert habe, werden wissen, was zu tun ist«, antwortete Guinalle selbstbewusst. »Denen, die gehen, werden wir erklären, wie wichtig es ist, dass die Ostrinpriester davon erfahren.« »Ist so etwas überhaupt schon mal gemacht worden?«, erkundigte sich Temar, als Neugier seine Furcht besiegte. Guinalle zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Aber ich weiß nicht, weshalb uns das von dem Versuch abhalten sollte.« »Das ist der Geist, der das Haus Priminale auf den kaiserlichen Thron gebracht hat!« Den Fellaemion lachte und drückte Guinalle an sich. Sie kehrten in die Höhle zurück. Dabei fiel Temar zum ersten Mal auf, wie sehr der alte Mann sich beim Gehen auf Guinalles schmale Schultern stützte. Temar ließ sie mit Avila reden und machte sich auf die Suche nach Vahil, der lustlos Frauen und Kindern Befehle erteilte, die genauso leer dreinblickten wie er. Dennoch schien die Stimmung sich nach einer warmen Mahlzeit wieder zu bessern. Als der Lärmpegel stieg, erkannte Temar die Dringlichkeit von 602
Guinalles Forderung, den Plan so rasch wie möglich in die Tat umzusetzen, denn hier und da wurden bereits Fragen gestellt, und erste Diskussionen kamen auf. »Meine Freunde!« Den Fellaemions Stimme hallte durch die Höhle und brachte die Stimmen zum Schweigen. »Ihr alle wisst, wie ernst unsere Lage ist, und ich muss euch noch weitere schlimme Neuigkeiten mitteilen. Jene, die tapfer genug waren, bei den Schiffen zu bleiben, haben heute Morgen versucht, den Fluss hinunterzufahren, um aufs offene Meer durchzubrechen und Hilfe zu holen. Ich will euch nicht anlügen, meine Freunde – sie sind gescheitert.« Der Messire hob seine Stimme, um das plötzlich einsetzende Weinen und Wehklagen zu übertönen. »Sie haben ihr Leben geopfert, um uns zu verteidigen, und Saedrin wird sie persönlich in die Anderwelt führen, zweifelt nicht daran. Dies allerdings bedeutet, dass wir für den Augenblick hier gefangen sind, mit nur wenig Nahrung und Brennmaterial – oder zumindest wollen unsere Feinde, dass wir glauben, gefangen zu sein, und dass wir verzweifeln.« Temar ließ den Blick über die Zuhörer schweifen und sah, wie sich ob dieser seltsamen Erklärung hier und da erste Gesichter fragend hoben. Sie wunderten sich, als sie den Trotz in Messires Stimme vernommen hatten und suchten nach Hoffnung und Trost. »Wir alle haben gesehen, auf welche finstere Art die Eindringlinge die Kunst einsetzen.« Offene Verachtung lag in Den Fellaemions Stimme. »Sie wissen nicht, dass auch wir über genug Können in der Kunst verfügen, um ihren bösen Plänen entgegenzuwirken. Im Augenblick mögen wir hier ja gefangen sein, aber wir haben die Möglichkeit, Hilfe zu holen – und sie wird kommen, zweifelt nicht daran! Während wir darauf war603
ten, habe ich beschlossen, dass die Kunst uns vor dem Mangel schützen soll. Demoiselle Guinalle und ihre Adepten werden uns in einen Zauberschlaf versetzen, eine Erholung von Arimelins Gnaden, durch den unsere Trauer und unsere Wunden heilen werden. So werden wir vor Entdeckung sicher sein, bis der Zorn des Imperiums auf diese Wilden niedergehen und sie den Tag bereuen lassen wird, da sie zum ersten Mal einen Fuß auf dieses Land gesetzt haben!« Ein überraschtes, verwirrtes Raunen ging durch die Menge. Den Fellaemion hob die Hand, um erneut Schweigen zu gebieten. »Während wir schlafen, wird Junker Den Rannion einen ausgewählten Trupp durch die Höhlen ins andere Tal führen und von dort zur neuen Siedlung im Süden. Er wird unseren Freunden und Familien versichern, dass es uns gut geht und anschließend alle mit den großen Seeschiffen nach Hause bringen, um dort Hilfe zu organisieren, die diese elenden Straßenköter aus dem Land jagen wird, das zu zähmen wir so hart gearbeitet haben!« Vereinzelt brandete Applaus ob dieser Ankündigung auf. Zum ersten Mal seit dem Schreckensmorgen sah Temar einen Funken Leben in den Augen seines Freundes Vahil, als dieser entschlossen den Kopf hob und die Schultern straffte. »Diese Aasgeier sollen sich ruhig eine Weile an den hohlen Knochen ihres Sieges gütlich tun, aber ich schwöre euch, dass sie schon bald in die Flucht geschlagen werden. Genießt eure Mahlzeit, meine Freunde, und verzeiht mir, dass sie so mager ausfällt. Danach werden wir uns niederlassen, um diese Belagerung in Ruhe und Frieden zu überstehen. Wenn wir wieder aufwachen, verspreche ich euch ein besseres Mahl, bevor wir dann unsere Kolonie wieder aufbauen.« Das unerschütterliche 604
Selbstvertrauen, das in Den Fellaemions Worten zum Ausdruck kam, hatte eine nachhaltige Wirkung auf die demoralisierten Menschen. Temar hörte Fragen von allen Seiten. Wie würde dieser Schlaf wohl sein? Was würden sie finden, wenn sie wieder aufwachten? Doch niemand stellte den Vorschlag an sich in Frage. »Werdet Ihr mit Junker Den Rannion gehen?« Eine kräftige Frau, die Temar als ehemalige Leibeigene erkannte, packte ihn am Arm. »Nein.« Er schüttelte den Kopf und zwang sich, so selbstbewusst zu klingen wie Den Fellaemion. »Dafür gibt es keinen Grund. Ich werde hier mit euch warten, um sicherzustellen, dass einer unseren Rettern einen vollständigen Bericht geben kann. Wenn du gegessen hast, schlage ich vor, dass du dich fertig machst. Wickele dich warm ein, wenn’s geht.« Die Frau nickte – aus gewohntem Gehorsam, wie Temar erkannte. Ein Gehorsam, an den sie sich inmitten dieser Katastrophe klammern konnte. Temar drängte sich durch die Menge. Die Adepten der Kunst wurden von Fragestellern umringt; besonders Guinalle bedrängte man lautstark. »Du musst dich nur um eines kümmern: Such dir einen Gegenstand aus, der dir besonders am Herzen liegt, etwas, woran dein Geist sich festhalten kann, während ich den Zauber wirke.« Guinalle beruhigte soeben eine junge Mutter, die kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, während sie ihre drei Kinder an sich drückte. »Aber ich habe nur so wenig ...« Die Lippen der Frau zitterten. »Das geht schon«, beruhigte Guinalle sie freundlich. »Behalte 605
du den Ring, dann können wir die Halskette deiner ältesten Tochter geben.« Die Frau legte die Hand an den Hals. »Meine Mutter hat sie mir gegeben. Ich trage sie immer. Ich wollte eigentlich ...« »Sie kann die Kette haben. Hier, den Anhänger machen wir an diese Schleife«, unterbrach Guinalle sie. Sanft nahm sie der Frau die Kette ab und zog das Seidenband aus ihrer Börse. »Die Kleine kann das haben. Das ist auch eine gute Wahl. Wenn die Mädchen daran gewöhnt sind, es dich tragen zu sehen, wird es ihre Aufmerksamkeit umso besser aus sich ziehen, und das ist gut für die Kunst.« Sie hob die Stimme ein wenig, um sich an diejenigen zu wenden, die in unmittelbarer Nähe standen. »Nach so einem Ding müsst ihr alle suchen – ein kleines Schmuckstück oder dergleichen, das eine besondere Bedeutung für euch und die euren hat.« Guinalles selbstbewusster Tonfall geriet nur ein wenig ins Wanken, als ihr Blick auf das älteste Kind der jungen Mutter fiel. Sie schaute sich um, und Temar sah ein stummes Flehen in ihren Augen. Er trat vor und kniete sich neben den Jungen. Er war ein schlanker kleiner Kerl mit kupferfarbenem Haar und großen Augen so blau wie der Frühlingshimmel. »Hättest du das hier gern, damit die Dame ihren Zauber bei dir wirken kann?« Temar nahm seinen Gürtel ab und schlang das Lederband zweimal um die schmale Hüfte des Jungen, der daraufhin stumm nickte und Temar mit großen Augen anstarrte. »So. Jetzt musst du dich nur auf diese Gürtelschnalle konzentrieren«, fuhr Temar fort. »Das ist ein Erbstück des Hauses D’Alsennin. Verwahre es für mich. Wenn du wieder aufwachst, wirst du mein Page und kannst es behalten. Abgemacht?« 606
Der Junge nickte wieder. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen, und Temar drehte sich zur Mutter um. »Wie du siehst, können wir alle etwas finden, wenn wir einander helfen.« Temar ergriff Guinalles Hand und drückte sie ermutigend, was ihm ein leichtes Lächeln von ihr einbrachte, das ihm das Herz erwärmte. »Wir müssen es schnell tun. Das ist der Schlüssel zum Erfolg«, erklärte Guinalle entschlossen. »Dann lass uns anfangen«, erwiderte Temar und machte sich an die Arbeit. Er legte den Jungen zwischen seine Schwestern und wickelte die drei in eine warme Decke. »Bleibt liegen«, befahl er ihnen sanft. »Ihr müsst nur die Augen zumachen und daran denken, was ihr Besonderes habt.« Guinalle kniete sich neben die Kinder und lächelte ermutigend. »Habt ihr alle etwas, woran ihr euch festhalten könnt?« Die Kinder nickten, und das kleinste Mädchen zog die Hand unter der Decke hervor, um Guinalle eine silberne Blüte zu zeigen. »Die ist wirklich sehr hübsch.« Guinalle schloss dem kleinen Mädchen und seiner Schwester die Augen. Auf ihr Nicken hin tat Temar es ihr bei dem Jungen gleich. Leise sang Guinalle die komplizierten Worte der Kunst. Die Klänge erfüllten die Höhle, während Temar beobachtete, wie die Adepten mit der langwierigen Aufgabe begannen, die Kolonisten in magischen Schlaf zu versetzen. Er blickte wieder auf die Kinder. Sie rührten sich nicht mehr, waren steif vom Zauber; ihre Atmung hatte aufgehört, und ihre Gesichter waren weiß 607
wie Kreide. Temar zitterte, als er sich plötzlich an einen Schrecken aus seiner Kindheit erinnerte. Es war der Morgen gewesen, an dem er endlich den Mut aufgebracht hatte, wieder in sein Spielzimmer zu gehen nach all den furchtbaren Tagen, da er nicht hatte verstehen können, warum sein Vater und seine Brüder und Schwestern so plötzlich von ihm gegangen waren. Er hatte die Tür geöffnet und sich mit einem Mal den gemalten Gesichtern der Puppen seiner Schwestern gegenübergesehen. Stumm und reglos hatten sie dagesessen; nie wieder sollten sie von glücklichen Händen und kindlicher Phantasie zum Leben erweckt werden. »Ich kann nicht ...« Temar erstickte an den Worten, doch als er den Kopf hob, blickte er in die durchdringenden Augen Avilas, die gerade die reglose Mutter der Kinder niederlegte. Die Warnung und Verachtung in ihrem Blick sorgten dafür, dass er sich zusammenriss. Er streckte die Hand aus, um Guinalle aufzuhelfen. »Wer ist der Nächste?« Am Ende ging alles schneller, als er für möglich gehalten hätte. Temar ließ den Blick durch die Höhle schweifen, als die letzten Sonnenstrahlen zum Eingang hereinfielen. Er sah Reihe um Reihe regloser Gestalten, die sich in den Schatten verloren. Sie hatten die Hände vor der Brust verschränkt wie ... Nein, es waren keine Leichen, sie schliefen bloß. Sie ruhten sich von den Schrecken aus, die über sie gekommen waren, und warteten in der Anderwelt dank Arimelins Gnade, bis sie sich erholt hatten. »Werde ich träumen?« Temar drehte sich zu Guinalle um, als sie gerade die Hände von Avilas Stirn nahm. Die ältere Frau war nun im Griff der Kunst erstarrt; in den Händen hielt sie eine reich verzierte Kleiderfibel. Sie war die letzte der Adepten 608
gewesen, die sich niedergelegt hatte. »Was?« Guinalle blickte Temar mit trüben Augen an. Sie war zu Tode erschöpft. »Egal.« Temar nahm Guinalle in die Arme und spürte, wie sie vor Erschöpfung zitterte. »Bist du sicher, dass du es schaffst? Willst du dich nicht erst einmal ausruhen, bevor du weitermachst?« Ein Teil von ihm wollte irgendwie hinauszögern, schlafen gelegt und unter der Erde begraben zu werden. Guinalle fiel das Atmen schwer, und ihr Puls flatterte. »Ich ... Ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich weitermachen«, stammelte sie. »Irgendetwas beeinträchtigt die Kunst. Es wird immer schwieriger. Ich weiß nicht, wie lange ich den Schutzzauber noch aufrecht erhalten kann, bevor ich dem Angriff erliege.« »Sie weiß, was sie tut, Temar. Komm. Du bist der Letzte, der einschlafen muss.« Temar drehte sich um und sah Vahil hinter sich stehen. Das Gesicht des jungen Den Rannion war hart und ausgezehrt. Für den beschwerlichen Marsch durch die Höhle war er in altes Leder gehüllt. Der kleine Trupp, der ihn begleitete, war damit beschäftigt, die verschiedenen Gegenstände einzupacken, die die Seelen der Kolonisten beherbergten. »Worauf willst du dich konzentrieren?«, fragte Guinalle. Ihre Stimme war schon wieder ein wenig kräftiger geworden. Temar schnallte sein Schwert ab. »Darauf.« Er betrachtete die Klinge, die Gravur, stieß die Waffe in die Scheide und umklammerte das Heft, so fest es ging, um seine Hände am Zittern zu hindern. »Dann leg dich hin.« Guinalle kniete sich neben die Decken, die für ihn bereit lagen, und Temar zwang sich zu gehorchen. 609
Er zuckte unwillkürlich zusammen, als Guinalles eiskalte Finger seine Stirn berührten. »Ich sehe dich dann, Temar.« Vahils Stimme schien aus immer größerer Entfernung zu kommen, während die Tentakel des Schlafs sich um Temars Geist schlossen. »Kämpfe nicht dagegen an, Liebster«, hörte er Guinalle murmeln. Ihre Worte klangen immer verzerrter, als der Boden sich unter ihm aufzulösen zu schien. Er fiel, drehte sich, sein Atem ging immer schneller, Panik brannte in seiner Kehle, Taubheit breitete sich in seinen Beinen aus, in seiner Brust, seinen Armen, seinem Kopf, erstickte ihn ...
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Die verborgene Inselstadt Hadrumal 30. Vorsommer
Ich starb. Ich erstickte. Eine eiserne Hand zerquetschte meine Brust. Während ich vergeblich nach einem letzten Atemzug rang, die Augen blind und mein Gehör seltsamerweise noch immer am Leben verhaftet, versuchte ich den Worten einen Sinn zu entnehmen, die über mir widerhallten. »Versorg ihn mit Luft, Otrick! Sar, wärme sein Blut, bevor wir ihn ganz verlieren.« Der Druck ließ ein wenig nach, und die Benommenheit klang ab, sodass ich eine feuchte, zitternde Hand auf meiner Stirn spüren konnte. Ich versuchte, sie abzuschütteln, konnte den Kopf aber nicht bewegen. Schlimmer noch: Ich konnte auch Arme und Beine nicht rühren. Ich versuchte zu sprechen, versuchte, diese Leute zu verfluchen – wer immer sie sein mochten –, aber ich brachte nicht einmal ein Stöhnen heraus. Wenigstens konnte ich hören, und das bedeutete ja wohl, dass ich noch nicht tot war ... »Planir, ich glaube, wir haben es. Lass mich ...« Ein Schwall unsinniger Worte, von einer anderen Stimme gesprochen, hallte in meinem Kopf wider und zerstreute die Albträume, die versuchten, mir den Verstand zu rauben. Im selben Augenblick, da mir dies bewusst wurde, konnte ich die Hand wieder bewegen, wenn auch so schwach wie ein Säugling. Erschöpfung überwältigte mich, und ich ließ mich in einen hilflosen Schlaf treiben. »Nein! Lass ihn nicht los, lass ihn nicht los!« Irgendein Bastard stach mir etwas Spitzes in die Hand, und ich brachte ein leises, 611
protestierendes Stöhnen zustande. Ich wollte, dass dieses Chaos endlich verschwand. Ich wollte schlafen, endlich wieder tief und fest schlafen ... »Atme, Ryshad, atme!« Nun schlug er mir ins Gesicht. Ich öffnete mühsam die Augen und sah ein verschwommenes Gesicht und verwirrende Bewegungen am Rande meines Blickfelds. Nach und nach erkannte ich das Gesicht als das eines Mannes in mittleren Jahren mit kurzgeschorenem braunem Haar über einem runden Gesicht mit dunklen Augen und großer Nase. Ein Silberschimmer an seiner Hand erregte kurz meine Neugier, doch diesen Schimmer zu identifizieren, erforderte zu viel Kraft; also schloss ich die Augen wieder. »Ryshad!« Diese Stimme war mir vertraut, und das lenkte mich von den Verlockungen des Schlafes ab. Wer ist sie?, fragte ich mich benommen. Sie klang aufgeregt. Was hatte ich falsch gemacht? »Wach auf, Ryshad. Komm zu uns zurück.« Die erste Stimme klang nun verärgert; also öffnete ich die Augen wieder und sah abermals ein Gesicht – das Haar von der Farbe des Herbstes, die Augen sommergrün. Das war das Gesicht, das zu der vertrauten Stimme gehörte, erkannte ich aus irgendeinem Grunde. Ich hustete und konnte wieder etwas leichter atmen. Mein Verstand fügte sich langsam wieder zusammen. »Livak?« Das war ihr Name, erinnerte ich mich. Ich versuchte zu sprechen, doch mein Verstand schien irgendwie nicht mit meiner Stimme verbunden zu sein. Dann versuchte ich es erneut und brachte ein Krächzen zustande, das von einem Druck auf meine taube Hand belohnt wurde, ein willkommenes Gefühl, auch wenn es mir den Eindruck vermittelte, dicke Winterhandschuhe zu tragen. 612
»Ryshad, bist du wieder bei uns?« Dies war wieder die erste Stimme, und mit etwas Mühe konnte ich nun auch sie einordnen: Planir. Es war dieser Bastard von Erzmagier, der, der mich überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte. Die Wut, die dieser Erkenntnis folgte, musste irgendwie meinen Verstand entfacht haben, denn sofort wusste ich wieder, wer und wo ich war. Ich hustete erneut und roch den unverkennbaren Geruch von Thassin. »Ich habe gesagt, keine Drogen, Zauberer.« Ich drehte den Kopf und starrte ihn wütend an. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es notwendig war.« Planir entschuldigte sich nicht, was mich auch nicht überraschte. »Tonin hat uns erklärt, deine Verteidigungen gegen sein Ritual seien einfach zu stark gewesen, um sie ohne Thassin einzureißen.« »Tut mir Leid. Ich weiß, was ich gesagt habe, aber Ihr müsst verstehen, dass niemand Erfahrung mit so etwas hat.« Die Stimme klang reumütig, und aufgrund ihres soluranischen Akzents wusste ich, dass ich auch sie vor wenigen Augenblicken gehört hatte: Tonin, das war sein Name, der Gelehrte und Mentor von der Universität Vanam, der mit seinen Studenten Hadrumal besuchte, um die wenigen ätherischen Zauber zu studieren, die man bis jetzt entdeckt hatte. »Habt Ihr bekommen, was Ihr brauchtet, Zauberer?«, fragte ich mit heiserer Stimme. Ich selbst wagte nicht, mich noch einmal daran zu erinnern, aus Furcht, wieder in den Strudel der Zauberei hinabgezogen zu werden. »O ja, Ryshad.« Mein Verstand fühlte sich noch immer weich an, kraftlos. Der Jubel in der Stimme des Erzmagiers erfüllte mich nicht mit annähernd so viel Angst, wie ich haben zu müs613
sen glaubte. »Danke. Vielen, vielen Dank«, fuhr der Zauberer fort und krempelte die Ärmel seiner schlichten schwarzen Robe hoch. »Du warst eine größere Hilfe, als du dir vorstellen kannst. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich habe viel zu tun, und du musst dich erholen. Otrick, Usara ... Kommt bitte mit mir.« Die drei Zauberer schwebten ohne ein weiteres Wort aus dem Raum, und ich war allein mit Tonin und Livak. Es gelang mir, mich auf die Seite zu drehen und mich auf den Ellbogen aufzurichten. Ich war zu Tode erschöpft – warum, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Livak saß auf einem Stuhl neben dem Bett, auf dem ich lag, und rieb sich die Hände. Eine rote Linie zeugte davon, dass sich ein Ring oder dergleichen mit großem Druck in ihr Fleisch gegraben hatte. »War ich das?«, fragte ich entsetzt. »Entweder du oder dieser D’Alsennin, ich bin nicht sicher«, antwortete sie, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, vertrieb aber nicht das Entsetzen in ihren grünen Augen. »War es sehr schlimm?« Es gelang mir, meine Stimme ruhig zu halten, was unter den Umständen eine beachtliche Leistung darstellte. Livak schauderte unwillkürlich. »Es war seltsam«, sagte sie langsam und nach kurzem Schweigen. »Das warst nicht du. In dem, was du gesagt hast, wie du dich benommen hast, ja, wie du dich bewegt hast, war nichts mehr von dir, nichts mehr von Ryshad Tathel. Es war alles dieser Junge, dieser D’Alsennin. Er trug deine Haut und blickte aus deinen Augen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, als sie sich an das Bild erinnerte. »Deine Augen, Rysh, sind vollkommen blau geworden, und so hell wie 614
Eis. Arimelin schütze mich, aber das war böse!« Ich griff nach ihrer Hand, und nach kurzem Zögern und einem Seufzer gab sie sie mir. Ich klammerte mich an sie wie ein Ertrinkender, während wir einander anblickten und uns zusammen an Aitens Tod erinnerten. »Es tut mir Leid, dass Ihr das habt durchmachen müssen«, begann Tonin zögernd und zupfte geistesabwesend an den Fransen seines Wamses. »Ich muss gestehen, dass ich auf einen erleuchtenderen Kontakt gehofft habe, besonders angesichts Eurer besonderen Beziehung zu dem Schwert von D’Alsennin; doch was dann geschah, erwies sich als weit dramatischer als alles, was ich erwartet hatte. Auf jeden Fall hatte ich keine Ahnung, dass es so gefährlich werden würde. Ich werde mich sofort der Frage widmen, warum es so war ...« Das Entsetzen in seiner Stimme ließ, mich erkennen, dass ich etwas Schrecklicheres durchlebt haben musste, als mir bisher in meiner Benommenheit bewusst gewesen war. Ich blickte wieder zu Livak. »Wenigstens ist jetzt alles vorbei. Keine Träume mehr, keine Stimmen mehr in meinem Kopf.« Sie schaute zu Tonin, und ich folgte ihren Blick, um zuerst einen erstaunten, dann einen schuldbewussten Gelehrten zu sehen. »Es ist doch vorbei, oder?«, verlangte Livak drohend von dem Mann zu wissen. »Nun ...«Tonin drückte sich nervös seine Notizen an die Brust; für einen Mann mit solch einer Statur und solch einem Rang in der Gelehrtengemeinschaft war ein wenig zu schüchtern, und seine Hände waren zu weich; außer Papier und Feder waren sie nichts gewöhnt. »Hat Planir mich angelogen?« Es gelang mir, mich aufzuset615
zen, und instinktiv schaute ich mich nach dem Schwert um. Noch immer arbeitete mein Verstand nur langsam, und ich dachte darüber nach, die Klinge gegen den Erzmagier einzusetzen, bevor ich mich daran erinnerte, dass es die verfluchte Waffe gewesen war, die mich überhaupt erst in diesen Albtraum gestürzt hatte. »Niemand hat Euch die Unwahrheit gesagt, jedenfalls nicht absichtlich.« Tonin trat näher, und seine Stimme wurde fester. »Es ist nur, dass uns nicht klar gewesen ist, womit wir es eigentlich zu tun haben. Wir alle sind von den nur teilweise vorhandenen Informationen fehlgeleitet worden. Wir haben geglaubt, diese Träume seien ein Echo der Vergangenheit, das irgendwie von diesen Artefakten übertragen wurde. Jetzt wissen wir es besser. Das tatsächliche Bewusstsein des einstigen Eigentümers schlummert in diesem Gegenstand und kommuniziert mit dem unbewussten Geist dessen, der den Gegenstand in der Gegenwart besitzt. Diese Wirkung hat man zweifellos weder vorausgesehen noch beabsichtigt.« »Temar hat viel mehr getan, als nur mit meinem unbewussten Geist kommuniziert«, knurrte ich. »Wollt Ihr mir etwa sagen, dass er noch immer in meinem Kopf haust?« »Ich fürchte, im Augenblick ja«, seufzte Tonin mit aufrichtiger Reue. »Ich werde mich sofort an die Arbeit machen, alle Referenzen in diesem Arimelin-Archiv durchgehen und sehen, was ich für Euch tun kann.« Einen Augenblick war ich versucht, ihn zum Ziel meiner wachsenden Wut zu machen, doch mein Gefühl für Gerechtigkeit hielt mich zurück. Es war nicht Tonins Schuld; wenn man ihm glauben konnte, trug nicht einmal Planir die Verantwortung. Außerdem hatte ich immer mehr das Gefühl, dass die für 616
mich ungewöhnlichen Wutanfälle nicht die meinen, sondern Temars waren. Als es mir schließlich gelang, die Füße auf den Boden zu setzen, fühlten meine Beine sich so schwach an, als hätte ich vier Tage lang mit hohem Fieber im Bett gelegen. »Also habe ich mein Leben und meinen Verstand für nichts riskiert?« »O nein!« Tonin blickte mich besorgt an. »Jetzt wissen wir, was mit den Kolonisten in Kel Ar’Ayen geschehen ist ...« Während er sprach, kehrte der Bild der riesigen Höhle voller regloser Gestalten wieder zu mir zurück. Ich schnappte nach Luft und hielt mich am Bett fest. Ich hörte, wie die Decke unter meinen Fingern zerriss, während mein Herz raste und das Blut in meinen Schläfen pochte, bis es mir gelang, die Tür zu der Vision zuzuschlagen. »Ryshad?« Ich hörte Unsicherheit in Livaks Stimme. »Ja.« Ich öffnete die Augen, blinzelte sie an und versuchte mich an einem beruhigenden Lächeln, was mir offenbar kläglich misslang. »Saedrin schütze uns, ich hasse das!«, platzte sie heraus. Die Wut in ihrer Stimme war nur ein schwaches Echo meines eigenen Zorns. In dem schwachen Versuch, mich gegen die Wogen der Verzweiflung zu stemmen, die von allen Seiten über mich hereinbrachen, klammerte ich mich an diesen Zorn. Die Tür ging auf. »Wie geht es ihm?« »Komm herein, Shiv«, sagte ich müde. »Ich bin bei Bewusstsein. Mit einer besseren Nachricht kann ich dir im Augenblick leider nicht dienen.« Was immer Shiv in meinem Gesicht sehen mochte, es erschütterte ihn. Schuldbewusst blickte er zu Livak, die ihn mit finstere Miene anfunkelte. 617
»Ich wollte wissen, ob du wieder mit mir nach Hause kommen willst, wenn du dich dazu in der Lage fühlst.« Shiv warf einen kurzen Blick zu Tonin. »Aber wenn du noch hier bleiben musst ...« »Ich komme mit.« Unsicher stand ich auf, und Livak legte meinen Arm um ihre Schultern, um mich zu stützen, so gut sie konnte. »Es wäre vielleicht besser, wenn Ihr noch eine Weile wartet ...«, sagte Tonin, als wir in Richtung Tür gingen. »Nein.« Ich atmete tief durch und packte den Türgriff. »Findet einen Weg, um Temar D’Alsennin ein für alle Mal aus meinem Kopf zu verjagen.« Draußen erkannte ich überrascht, dass die Sonne hoch am wolkenverhangenen Himmel stand; es war Mittagszeit. Hatten wir nicht erst kurz nach dem Frühstück mit diesem Unsinn begonnen? Ich hatte Shiv mit einer Nachricht zu Planir geschickt, dass dieser sich zur zweiten Stunde des Tages bereithalten sollte, und pflichtbewusst erschien ich dann, setzte mich und konzentrierte mich auf Tonins unverständlichen, archaischen Gesang. Natürlich hatte ich mit einer unangenehmen Erfahrung gerechnet, doch nie damit, dass ich mich so völlig verlieren würde. Wenn der junge D’Alsennin für diese lange Zeit die vollständige Kontrolle über meinen Kopf gehabt hatte, war es kein Wunder, dass ich mich jetzt seltsam fühlte. »Komm.« Shiv ergriff meinen anderen Arm. Ich stützte mich auf ihn und Livak und stolperte in Richtung meiner zweifelhaften Zuflucht, Shivs kleinem Haus. Während die dramatischen Ereignisse noch immer in meinen Erinnerungen widerhallten, wirkte es sehr eigenartig, Frauen mit Einkaufskörben auf der Straße zu sehen, Männer, die Reisig und Feuerholz auslieferten 618
und Kinder, die Seilhüpfen spielten – das normale Leben und Treiben. Wir zogen ein paar neugierige Blicke auf uns. Die Leute mussten glauben, dass ich mich schon früh am Tag betrunken hatte; aber das war die Geringste meiner Sorgen, während ich noch immer mit Temars Erinnerungen rang. Ich sah noch immer Avila, wie sie auf dem Schiff versuchte, Guinalle festzuhalten, als diese das Bewusstsein verlor, und Den Fellaemion, der sich bei der Versammlung in der Siedlung auf Guinalle stützte, und Vahil, der einen Verwundeten auf ihrer panischen Flucht vor den angreifenden Elietimm trug. Die Sommersonne wärmte meinen Rücken, doch die Kälte dieser weit entfernten und lange vergessenen Höhle war tief in meine Knochen eingedrungen und nagte trotz der Hitze in Hadrumal an mir. Als Pered schließlich die Tür für uns öffnete, zitterte ich wieder – und das nicht nur vor Müdigkeit. Pered schaute mich an und warf sofort einen anklagenden Blick zu Shiv. »Ich hoffe, Planir ist jetzt zufrieden«, sagte er. »Bring ihn in die Küche.« Halb lag, halb saß ich auf einer mit Decken gepolsterten Bank und fühlte mich allmählich ein wenig besser, ein Vorgang, der jedoch von einer beachtlichen Menge weißen Branntweins beschleunigt wurde. Während der Alkohol mich wärmte, fragte ich mich einen Augenblick lang, ob es wirklich gut war zu trinken, aber ich wusste nicht, wie irgendetwas meine Lage noch weiter hätte verschlimmern können. Ich zwang mich, langsam und tief zu atmen und erinnerte mich daran, wie langwierig die Erholung von einem Fieber oder einer schweren Verletzung sein konnte. Es war alles nur eine Frage der richtigen Einstellung, oder? Dies hier war schlicht eine andere Art von Verwundung, und damit würde ich fertig wer619
den. Die Beherrschung zu verlieren, war sinnlos; das brachte mir nichts ein. Hatte ich das nicht schon vor langer Zeit gelernt? Genug! Ich hatte mir geschworen, dass ich von nun an das Ruder selbst in die Hand nehmen würde, und damit konnte ich gleich hier anfangen. Tapfere Worte ... solange nur ich sie hörte. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, während ich auf die Rückkehr der Erinnerungen wartete. Shiv verschwand eine Weile die Treppe hinauf und kehrte in einer grünen formellen Robe über einer eng geschnittenen Hose wieder zurück. Pered richtete ihm den Kragen, doch sein Blick war noch immer wütend, als sie sich kurz umarmten. »So. Und was geschieht jetzt, Shiv?«, verlangte Livak zu wissen. »Planir hat für heute Nachmittag eine Ratsversammlung einberufen«, antwortete Shiv, was uns alle zum Schweigen brachte. »Er möchte, dass auch du erscheinst, Ryshad.« »Er ist nicht in der Verfassung, eine Rede zu halten«, beschwerte sich Pered. »Er soll ja auch keine Rede halten, sondern nur zuhören und seine Meinung sagen, wenn er will«, erwiderte Shiv. »Er soll erfahren, was Planir vorhat.« Er drehte sich zu mir um. »Du bist tief in diese Sache verwickelt, Rysh. Deshalb hält Planir es für angebracht, dass du an der Entscheidungsfindung teilnimmst.« »Was denkst du?« Ich blickte zu Livak. »Ich hasse es«, antwortete sie schlicht. »Ich traue keinen Zauberern, tut mir Leid, Shiv, so war es schon immer.« »Ich muss das durchstehen«, murmelte ich, »wenn ich meinen Eid mit wenigstens einen Rest von Ehre zurückgeben will.« Livak knirschte hörbar mit den Zähnen. »Ich weiß, aber es 620
beschert mir dennoch eine Gänsehaut.« »Das verstehe ich.« Schweigend setzten wir uns zum Essen. Ich nahm mir ein Stück Brot, stellte aber fest, dass es mir Übelkeit verursachte, und so schob ich es erleichtert von mir, als eine große Glocke über der Stadt ertönte, und Shiv aufsprang. »Der Rat wird zusammengerufen«, erklärte er angespannt. »Komm.« Livak und ich blickten einander kurz an und folgten Shiv zur Tür. »Ich sehe euch dann.« Pered winkte uns hinterher. Sorge kämpfte mit Zorn auf seinem Gesicht, als er seinem Partner nachschaute, der bereits ein gutes Stück vorausgeeilt war. Ich war unendlich erleichtert, dass inzwischen wieder ein wenig Kraft in meine Beine zurückgekehrt war. Ich wollte nicht auf Livak gestützt vor diesem Rat erscheinen, egal wie dringend Planir mich dabei haben wollte. Langsam gingen wir zur Halle, wo Shiv bereits unruhig im Torbogen stand. »Dort entlang«, sagte er unnötigerweise und ging zu einer Tür voraus, die mit genug Eisen verstärkt war, um auch dem schwersten Rammbock zu widerstehen. Die Tür öffnete sich zu einer kleinen Treppe, an deren Ende ein weiteres düsteres Portal wartete. Siegel waren in das Holz geschnitzt, und schwere Eisennieten sicherten die Beschläge. Ich zeigte mich nicht allzu beeindruckt. Ich hatte schon mehr als einmal im Audienzsaal des Kaisers in Toremal gestanden. Und zuckte nur zusammen, als ich mich an die Vision der Zerstörung erinnerte, die die Elietimm über diesen Ort bringen würden. Die Ratskammer selbst jedoch war beeindruckend. Es dauerte einen Augenblick, bis ich bemerkte, dass sie keine Fenster be621
saß, so gut war sie beleuchtet. Das Licht stammte jedoch nicht von der Sonne, sondern von einem hell strahlenden Ball unter der gewölbten Decke – ein deutliches Zeichen für die Magie, die hier ihr Zentrum hatte. Der Raum war kreisrund. Dunkle Eichenstühle in den unterschiedlichsten Stilen und verschiedensten Alters standen ringsum an den Wänden, jeder in einer gesondert für ihn angefertigten Nische. In der Mitte befand sich eine leere, kreisförmige Empore unmittelbar unter dem Ball, und ich fragte mich, wer sich wohl dorthin stellen mochte, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich jedenfalls nicht, soviel stand fest. Dann strömten Zauberer jeden Alters und in den unterschiedlichsten Gewändern in die große Kammer. Die meisten gehörten allerdings der älteren Generation an, doch auch zwei der jüngeren kamen hinzu. Einige trugen Gewänder, wie sie am Kaiserhof nicht prunkvoller zu finden waren, während andere aussahen, als kämen sie soeben aus einem Tisanehaus. Nicht jeder setzte sich sofort; hier und da bildeten sich kleine Gesprächsrunden. »Hier.« Shiv führte uns zu drei schlichten Stühlen in unmittelbarer Nähe der großen Tür. Ich lehnte mich zurück, beobachtete die Szene und suchte nach Hinweisen, in welche Richtung die Beratung sich entwickeln würde. Für einen Moment kehrte Stille ein, als Planir mit Otrick und Usara im Schlepptau den Raum betrat; alle drei trugen formelle Roben aus schimmernder Seide. Ich erinnerte mich an den alten Zauberer, diesen Otrick, von unserer Reise zurück von den Eisinseln. Damals hatte er nicht besser als ein Pirat ausgesehen und mit den Händen die Winde geleitet, die das Elietimmschiff vernichtet hatten, das uns auf den Fersen gewesen war. Nun war er von Kopf bis Fuß 622
der erhabene Magier, als er über den gelben Steinboden schritt. Sein azurfarbenes Gewand war reich bestickt; schwach konnte man die blaue Gestalt eines Drachens inmitten der gestickten Wolken erkennen. Usara trug eine bernsteinfarbene Robe anstelle seiner schlichten braunen, in der ich ihn bis jetzt immer gesehen hatte. Vorn war die Robe mit Silberfäden durchwirkt; das komplexe Muster war eingerahmt von Edelsteinen. Da Usara ansonsten eher zaghaft wirkte, fiel seine Entschlossenheit jetzt umso mehr auf; er ging hoch erhobenen Hauptes und hielt einen goldenen Stab in der Hand. Planir erreichte seinen Sitz und machte auf dem Absatz kehrt, um den Blick über die wartenden Zauberer schweifen zu lassen; unwiderstehlich zog er alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war ganz in Schwarz gewandet. Die Stickereien auf seiner Robe waren in unauffälligem Braun gehalten; nur der Kragen vermittelte mit seinem Pelzbesatz einen Hauch von Prunk. Planirs Augen funkelten gefährlich. Er erinnerte mich an einen Raben, der wartete und beobachtete, um schließlich über den Regenbogen zu den Schattenmännern zu fliegen, deren Reich jenseits dem der Sterblichen lag. Während ihr Erzmagier schweigend dastand, gingen die anderen Zauberer zu ihren Sitzen. Als Letzter nahm ein fetter Mann in weitem Umhang, den protzige Flammenzungen zierten, auf einem blank polierten Stuhl mit hoher Lehne Platz. Planir hob die Hand, und ich erwartete, dass er das Wort ergriff; stattdessen hörte ich ein metallisches Flüstern neben mir an der Tür und drehte mich um. Ich beobachtete, wie die mächtigen Eisenbeschläge sich plötzlich bewegten und die Tür immer dichter verschlossen, bis sie schließlich eine einzige, undurch623
dringliche Metallwand war. Livak und ich blickten einander unschlüssig an. »Ihr alle habt einen Bericht darüber bekommen, was Mentor Tonin mit seinem Ritus, durch das Schwert des D’Alsennin und mit tapferer Unterstützung von Ryshad Tathel, für uns herausgefunden hat.« Ich blickte gleichgültig drein, als Planir anerkennend in meine Richtung nickte. Dann fuhr er fort: »Die Zeit drängt. Daher gebe ich die Debatte frei.« Die Zauberer blickten einander verwundert an; offenbar war diese Eile nicht üblich. Ich war nicht überrascht, als sich der fette Mann in Rot als Erster erhob. »Erzmagier, ich glaube, dass diese Forschungen nun eindeutig als abgeschlossen betrachtet werden können. Ihr habt uns nun schon seit mehreren Jahreszeiten erklärt, Euer Ziel bestehe darin, das Schicksal der Kolonie aufzuklären, und nun habt Ihr die Antwort gefunden. Natürlich ist es stets interessant, eine Lücke in den historischen Aufzeichnungen zu füllen – und es ist eine seltene und bemerkenswerte Leistung, wie ich hinzufügen möchte –, aber nun gibt es nichts mehr zu diesem Thema zu sagen. Die Kolonie ist gescheitert, die Leute sind verloren, und wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf dringendere Angelegenheiten richten.« Der Zauberer nahm eine herrschaftliche Haltung ein, indem er eine fette, beringte Hand auf die Brust legte. »Es ist an der Zeit, dass die Zauberei eine aktivere Rolle auf dem Festland spielt, und ich kann mir dafür keine geeignetere Zeit vorstellen als jetzt, da solch eine Bedrohung den Fürsten von Tormalin so große Sorgen bereitet. Während Mentor Tonin und seine Gelehrten an ihren Forschungen arbeiteten, haben wir auf Eure Bitten hin Ruhe bewahrt, Erzmagier, doch nun müssen wir 624
handeln. Ich weiß, dass Eure Bescheidenheit nicht zulassen wird, alles Lob entgegenzunehmen, Planir, aber dieser Rat sollte wissen, dass Ihr in Eurem Amt als Erzmagier alle nur erdenklichen Mühen auf Euch genommen habt, um die Abgesandten dieser Eisländer ausfindig zu machen, die in diesem Augenblick versuchen, die Sicherheit von Tormalin und der Meeresküste zu untergraben. Es muss die Aufgabe dieses Rates sein zu entscheiden, wie wir das Festland von diesem Ungeziefer befreien können. Dadurch werden wir nicht nur ihre Ränke zunichte machen, wir werden auch unser Recht beweisen, an den Entscheidungen der Herrschenden überall teilzuhaben.« »Ihr seid sehr sicher, dass Ihr die Elietimm mit Euren Fähigkeiten vertreiben könnt, Kalion«, meldete sich eine kräftige Frau in Purpurrot barsch zu Wort und erhob sich von ihrem Stuhl mir gegenüber. »Darf ich fragen, wie Ihr eine Magie bekämpfen wollt, die wir nicht im Mindesten verstehen?« »Mir fehlen noch immer die Beweise, dass diese Äthermagie tatsächlich eine so große Gefahr darstellt, wie behauptet wird.« Kalions Antwort war überheblich genug, dass ich mit den Zähnen knirschte. Er hatte kaum lange genug gesessen, dass sein breiter Arsch eine Delle ins Kissen drücken konnte, da war er auch schon wieder aufgesprungen. »Die Gelehrten, die diese Äthermagie nun schon seit mehreren Jahreszeiten untersuchen, haben bis jetzt nur ein paar Jahrmarktskunststücke und Kuriositäten vorzuweisen.« Livak blickte finster; ich wusste, dass sie sich an die schreckliche Wirkung der Elietimm-Magie erinnerte, deren Zeuge wir auf den Inseln der Eisländer geworden waren. Ich blinzelte ob einer plötzlichen Erinnerung, die von Temar stammen musste – eine Erinnerung an sein Schiff, die Adler, an die Körper der 625
Mannschaft in der Takelage –, und nur mit Mühe konnte ich ein Schaudern unterdrücken. »Ich glaube eher, Ihr habt nicht verstanden, um was es geht, Kalion.« Die Frau ließ sich von der überheblichen Art des Mannes nicht aus der Ruhe bringen. »Die Frage ist nicht, was wir mit dieser Magie anfangen können, sondern wozu die Elietimm damit in der Lage sind.« »Die Informationen des Erzmagiers machen solche Fragen ja wohl überflüssig.« Kalion winkte ab. »Wenn seine Schlussfolgerungen stimmen – und ich bin sicher, dass es so ist –, sind die Grundlagen für diese Magie zusammen mit dem Imperium vernichtet worden.« »Was ist mit all diesem Unsinn im Archipel, mit diesem Kult der Dunklen Königin?«, wandte ein Zauberer mit Lescariakzent ein und blickte von einer Hand voll Notizen auf. »Ist das kein eindeutiger Versuch der Elietimm, einen Fokus für ihren Glauben zu schaffen, sodass sie ihn als Machtbasis verwenden können?« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte sein Nachbar. »Glaubt Ihr, das ist ein Hinweis darauf, dass sie nur bis zu einer gewissen Entfernung auf die Quelle ihrer ätherischen Macht zurückgreifen können? Sind sie auf irgendeine Art von dieser Quelle abgeschnitten, sobald sie das Festland betreten?« Ich blickte weiter ausdruckslos drein, als andere Zauberer sich der Diskussion anschlossen und Kalion sich widerwillig setzte; allerdings beugte er sich vor, um zu gegebener Zeit sofort wieder aufspringen zu können. Würde der Adelsrat von Tormalin seine Debatten so führen, die großen Häuser hätten das Chaos nie überlebt. Gehörte es nicht zu den Aufgaben des 626
Erzmagiers, die Diskussionen im Rat zu leiten? Ich blickte zu Planir und sah einen Ausdruck in seinen Augen, der erkennen ließ, dass alles genauso lief, wie er wollte. »Ich habe noch einige wichtige Fragen, was den Zusammenbruch dieser Äthermagie betrifft.« Ein kleiner, aber kräftiger Mann in Blau erhob sich auf der anderen Seite der Kammer. »Diese neue Geschichte verrät uns viel über den Verlust der Kolonie, aber ich verstehe noch immer nicht, wie diese Kunst, diese Äthermagie oder wie immer wir sie nennen wollen, vernichtet worden ist. Ich dachte, der einzige Zweck all dieser riskanten Experimente hätte darin bestanden, genau das herauszufinden. Welcher Fortschritt ist denn in dieser Hinsicht erzielt worden?« »Wir haben diesem Problem unsere ganze Aufmerksamkeit geschenkt, Rafrid«, meldete Usara sich zu Wort und ging rasch mit dem Stab in der Hand in die Mitte des Raums. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass alles eine Frage des Gleichgewichts ist. Ich möchte euch alle daran erinnern, dass die Konzepte der Harmonie und Symmetrie grundlegende Bestandteile der antiken Tormalinreligion waren, auch wenn diese Dinge in den Liturgien späterer Zeiten verzerrt worden sind.« Während er sprach, hob er den Stab auf Höhe seiner Augen; dann nahm er die Hand weg, und das schimmernde Metall schwebte frei in der Luft. »Der Gelehrte Geris Armiger hat festgestellt, dass diese Äthermagie ihre Macht aus dem unterbewussten Potenzial des menschlichen Geistes bezieht, eine Fähigkeit, die wesentlich verstärkt wird, wenn viele Menschen einen Glauben teilen. Verzeiht, ich weiß, dass ihr alle die entsprechenden Abhandlungen gelesen habt.« Ein Blick durch den Raum verriet mir, wer sie wirklich gele627
sen hatte und wer nicht, und wem ich nicht bei einer Partie Runen gegenübersitzen wollte. Ich sah ein schwaches Lächeln in Usaras Augen, als er sich ebenfalls umschaute und sich kurz vor Planir verneigte, bevor er fortfuhr: »Mentor Tonins Forschungen legen den Schluss nahe, dass dieses Potenzial ein kollektives Phänomen ist, ein Machtreservoir ohne feste Grenzen. Ich bin sicher, dass er euch gerne die Fakten darlegen wird, falls ihn nachher jemand befragen will. Im Augenblick genügt es zu wissen, dass zwei Gruppen, die beide auf Äthermagie zurückgreifen, sich absolut konträr gegenüberstehen können – in ihrem Glauben, ihrem Ehrgeiz, in allem –, und doch sind sie durch das zugrunde liegende Prinzip miteinander verbunden.« Mit einer Handbewegung erschienen zwei Waagschalen an dem vor Usara schwebenden Stab; eine war mit schwarzen, die andere mit weißen Kristallen gefüllt. »Demoiselle Guinalle hat die praktische Anwendung der Kunst gelernt, aber ich habe bisher keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie oder auch ihre Lehrer die Grundlagen dieser Macht verstanden haben. Ihre Jugend allein bedeutet schon, dass sie das Phänomen nicht allzu lange studiert haben kann. Unsere Schlussfolgerung lautet wie folgt: Indem sie eine solch große Zahl von Menschen aus der Gleichung entfernte, einschließlich einer unverhältnismäßigen Zahl in der Kunst Ausgebildeter, hat Guinalle Tor Priminale das gesamte Gerüst der Macht ins Ungleichgewicht gebracht.« Usara schnippte mit den Fingern. Die weißen Kristalle fielen zu Boden, dicht gefolgt von den schwarzen, als deren Schale nach unten sackte. Er verneigte sich, als man ihm hier und da applaudierte. Dann nahm er den Stab aus der Luft, und Waag628
schale und Kristalle verschwanden. »Das ist ja alles sehr interessant, aber wir sollten uns an die Tormalin wenden ...« Der Zauberer Kalion war sofort wieder aufgesprungen. Nur mit Mühe konnte er seinen Ärger verbergen, weil Usara ihm mit seinem theatralischen Vortrag die Schau gestohlen und so von dem eigentlichen Thema abgelenkt hatte, das Kalion diskutiert haben wollte. »Bitte, gestattet auch uns anderen, an dieser Diskussion teilzunehmen, Herdmeister.« Eine winzige, verschrumpelte Frau in einer zerknitterten grasgrünen Robe stützte sich auf einen reich geschnitzten, krummen Stock. Trotz ihrer Winzigkeit schnitt ihre Stimme durch den Raum wie ein heißes Messer durch Wachs. Sie blickte Usara tief in die Augen. »Junger Mann, es fällt mir schwer zu glauben, dass diese Leute mit all ihrer Gelehrsamkeit, von der wir gehört haben, die Grundlagen ihrer Kunst tatsächlich so schlecht verstanden haben, dass ihnen ein solcher Fehler unterlaufen sein soll. Kein Magier hier würde solch einen Fehler begehen. Selbst Lehrlinge, die gerade erst ihr erstes Jahr hinter sich haben, würden so etwas vermeiden!« Einer jüngeren Zauberer in Grau mit einem diskreten scharlachroten Kragen stand auf. Nachdenklich hatte er die Stirn in Falten gelegt; sein sicheres Auftreten zeugte davon, dass er sich in dieser ehrenwerten Gesellschaft keineswegs unwohl fühlte. »Shannet, ich glaube, genauer müsste man sagen, dass kein Lehrling heutzutage Gelegenheit hätte, solch einen Fehler zu begehen. Hier in Hadrumal können wir auf zwanzig Generationen der Forschung und der Gelehrsamkeit zurückgreifen; unser Verständnis der Elementarmagie ist in der Tat groß. Aber wir haben auch alle die Tagebücher jener gelesen, die mit dem ersten Erzmagier Trydek auf diese Insel gekommen sind, nicht 629
wahr? Jene frühen Magier haben mit rein empirischem Wissen gearbeitet, mit Bruchstücken dessen, was uns heute zur Verfügung steht. Das wenige Wissen, das diese ersten Magier besaßen, stammte aus den unterschiedlichsten Traditionen und war willkürlich gesammelt worden. Die frühe Geschichte von Hadrumal ist eine Geschichte der Experimente, eine Geschichte von Versuch und Irrtum. Viele Generationen lang ist unsere Magie angewendet worden, ohne ihre Natur wirklich zu verstehen. Ich sehe keinen Grund dafür, warum es bei den Alten mit ihrer Kunst anders gewesen sein sollte.« »Angesichts der Tatsache, dass sie ihre Macht als von den Göttern gegeben betrachteten, warum sollten sie dann überhaupt das Bedürfnis verspürt haben, ihren Ursprung zu erforschen?«, mischte sich ein weiterer junger Zauberer ein; allerdings machte er sich nicht die Mühe aufzustehen. »Wer will überhaupt mit Bestimmtheit behaupten, dass es wirklich ein Fehler gewesen ist?« Ein großer, dürrer Mann in ockergelber Robe stand kurz auf. »Vielleicht hat dieses Mädchen ja genau gewusst, was sie tat. Vielleicht hat sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Vielleicht hat sie ihre Leute gerettet und gleichzeitig den Feind mit nur einem Zauber besiegt.« Die Zweifel, die mich ob dieses Gedankens überkamen, wurden von Temars Reaktion in meinem Kopf bestätigt. »Aber was ist mit der Wirkung, die es auf das tormalinische Imperium hatte?«, fragte eine mütterlich aussehende Frau. »Zugegeben, die armselige Herrschaft von Nemith dem Letzten hatte die Macht des Reiches zu diesem Zeitpunkt bereits ernsthaft untergraben, aber es war der Zusammenbruch der Magie, der zum endgültigen Untergang des Imperiums geführt hat!« »Ihr werdet feststellen, dass alle Schriften über Harmonie und 630
Gleichgewicht aus der Zeit unmittelbar nach dem Chaos stammen.« Neben Usara war ein nervös aussehender junger Mann aufgesprungen. Es schien, als hätte er noch mehr zu sagen, doch er verlor die Nerven und setzte sich wieder. Ich biss die Zähne zusammen und ignorierte die abschweifenden Gedanken, die meine Aufmerksamkeit erringen wollten; stattdessen konzentrierte ich mich weiter auf die Debatte, die sich nun der Natur der Forschung von der Magie zuwandte. Das meiste war mir jedoch zu hoch; also beobachtete ich Planir und Kalion. Letzterer wurde zunehmend verärgert ob seiner Unfähigkeit, die Diskussion in die gewünschte Richtung zu lenken. Ich war nicht sicher, aber ich glaubte, einen kurzen Blickkontakt zwischen Planir und dem Zauberer Rafrid zu sehen, bevor sich dieser erneut erhob. »Ich glaube, wir alle können Usaras Schlussfolgerung als Arbeitsgrundlage akzeptieren, bis stichhaltige Beweise sie widerlegen. Habe ich Recht?«, sagte Rafrid in sanftem Tonfall. »Diese Debatte mag ja interessant sein, aber ich würde gerne einmal hören, welchen Schritt Mentor Tonin und seine Gelehrten als Nächstes für sinnvoll erachten.« Alle Blicke richteten sich auf Tonin, der sich daraufhin langsam und mit einem Stapel Pergamente im Arm erhob. »Nun, da wir das Arimelin-Archiv aus Claithe haben, um damit die Dimaerion-Traditionen aus Ostsolura zu vervollständigen, bin ich guter Hoffnung, dass wir den Versuch wagen können, Körper und Geist dieser antiken Tormalin wiederzuvereinen – natürlich nur in den Fällen, wo wir die Artefakte haben und entsprechend zuordnen können. Unser Verständnis der niederen Prinzipien der Äthermagie hat sich in den vergangenen Jahreszeiten erheblich vergrößert, und ich glaube, Riten gefunden zu haben, 631
die das, was die Kunst getrennt hat, wieder verbinden können.« Meine eigene Hoffnung ob der ruhigen Worte Tonins fand ihr Echo in einem Gefühl der Sehnsucht in meinem Hinterkopf. Plötzlich war ich fest davon überzeugt, dass Temar mich ebenso rasch wieder loswerden wollte wie ich ihn. Rafrid wartete geduldig, während ein Raunen durch die Versammelten ging, das schließlich verebbte, als die Magier zunächst einander und dann wieder Rafrid anschauten. Er ließ, seinen Blick durch den Raum schweifen. »Sollten wir über diese Möglichkeit nachdenken?« »Natürlich«, antwortete die Frau, die als Erste auf Kalion reagiert hatte. »Denkt doch nur einmal an all die Informationen, die sie uns geben könnten – Informationen über die Äthermagie und all die Geheimnisse, die mit den Alten in der Zeit des Chaos untergegangen sind.« Sie warf einen harten Blick zu dem fetten Zauberer in Rot. »Dann werden wir genau wissen, mit was wir es bei diesen Elietimm und ihrer seltsamen Magie zu tun haben.« »Diese Leute sind nun schon ... wie lange verschollen? Fünfundzwanzig Generationen?«, spottete der kahle Mann in Braun. »Und Ihr schlagt ernsthaft vor, sie wieder zum Leben zu erwecken? Ihre Familien sind längst tot, ihre Besitztümer in alle Winde verstreut. In vieler Hinsicht sind diese Leute ebenfalls so gut wie tot. Ich weiß, dass viele Gelehrte am Untergang des Imperiums interessiert sind, aber ich halte es nicht gerade für vernünftig, diese Unglücklichen in unsere Welt zu befördern, wo sich so viel verändert und nur wenig aus ihrer Zeit überlebt hat – und das einfach nur, um eine geistige Neugier zu befriedigen. Was geschehen ist, ist geschehen. Diese Menschen sollte man ruhen lassen. Ein solcher Rettungsversuch, so lange nach 632
den Ereignissen, bringt gar nichts.« »Oh, das weiß ich nicht«, meldete sich wieder einer der jüngeren Magier, und abermals stand er nicht auf. »Lest doch einmal die Primärquellen, Galen. Schaut Euch die Sprache und die Ideen an. Denkt einmal darüber nach, wie viel Wissen im Chaos verloren gegangen ist. Ich sage, wir Menschen der heutigen Generation haben mehr mit den Menschen des alten Imperiums gemeinsam als mit jenen in den Generationen dazwischen.« »Darin stimme ich zwar nicht notwendigerweise mit Euch überein, Reis; aber gehe ich Recht in der Annahme, dass die Träume, die diese Artefakte hervorgerufen haben, darauf hindeuten, dass diese Leute alles andere als ruhen?« Ein ernst dreinblickender Mann mittleren Alters blickte zu Tonin. »Ist es nicht so?« »Ich würde davon ausgehen, dass die Intensität und die Detailliertheit der Träume das Verlangen des Subjekts spiegelt, von dem Zauber befreit zu werden.« Tonin nickte selbstbewusst. Ich konnte seine Schlussfolgerung nur bestätigen. »Nun da wir dieses Wissen besitzen, ist es doch wohl unsere Pflicht, die Unglücklichen von ihrem Untod zu befreien, oder?«, meldete sich plötzlich eine schlichte junge Frau in bescheidenem rosafarbenem Kleid und errötete ob ihres eigenen Wagemuts. »Wir können sie doch nicht zu einer Ewigkeit in den Schatten verdammen, weder in dieser noch in der nächsten Welt, und sie Poldrions Dämonen ausliefern. Solch ein Schicksal sollte nur die Schlimmsten aller Menschen befallen, nicht diese Unschuldigen.« Den Mienen der Versammelten nach zu urteilen, gelangte ich zu dem Schluss, dass religiöses Gedankengut unter den Zauberern nicht allzu weit verbreitet war. Das Mädchen setzte sich 633
wieder, zog den Kopf ein und schlang den Schal enger um die Schultern. Ich erinnerte mich daran, sie vergangenes Jahr schon einmal getroffen zu haben. Sie hieß ... Allin, ja, das war ihr Name. »Ihr habt gesagt, Ihr könntet diese ... diese Wiedererweckung versuchen?« Eine kleine Frau in teurem türkisfarbenem Gewand stand auf, legte die schlanken Hände zusammen, neigte den Kopf zur Seite und blickte zu Tonin. »Wenn ich Euch richtig verstanden habe, seid Ihr Euch mit den Riten aber nicht sicher. Ihr habt sie mehr oder weniger aus verschiedenen Traditionen zusammengesetzt. Ist das korrekt?« »Ich glaube, dass wir genug wissen, um den Versuch zu wagen«, erwiderte Tonin vorsichtig. »Ich schlage vor, dass unser vorrangiges Ziel die Frau Guinalle sein sollte. Ihre Fähigkeiten könnten unser Wissen ergänzen und uns dabei helfen, die restlichen Kolonisten wieder ins Leben zurückzuholen.« »Aber was, wenn ein Fehler in Eurem Ritual ist? Wenn ein wichtiges Stück fehlt?«, hakte die elegante Frau nach. »Was wird dann geschehen? Bedeutet Versagen den unwiderruflichen Verlust des magisch entfernten Geistes? Seid Ihr bereit, derartige Folgen zu riskieren?« »Ely hat durchaus nicht Unrecht. Sind alle potenziellen Informationsquellen ausgeschöpft worden?«, erkundigte sich ein anderer Zauberer nachdenklich. »Vielleicht sollten wir noch ein oder zwei Jahreszeiten warten, um sicherzugehen, dass wirklich alles vorhandene Wissen gesammelt worden ist.« »Wir haben bereits eine Botschaft nach Bremilayne geschickt«, warf der Gelehrte hastig ein. »Sie sollen nachsehen, was sie vom Schrein Ostrins in Erfahrung bringen können, da dieser in D’Alsennins Geschichte eine besondere Rolle spielt.« 634
»Was ist mit dem Mädchen, das Ihr noch immer nicht wecken könnt, Mentor Tonin? Was wird aus ihr?«, verlangte eine Stimme zu wissen. »Darf ich etwas sagen?« Ein Magier in farbloser Arbeitskleidung hob die Hand. »Wenn man für diesen Ritus sowohl den Körper als auch das Artefakt braucht, bleibt die Frage vollkommen akademisch, solange wir die Höhle nicht gefunden haben. Diese Diskussion ist irrelevant, bis wir wissen, wo wir suchen müssen. Schlagt Ihr etwa vor, dass wir das Meer auf der Suche nach diesem unbekannten Land überqueren, Erzmagier?« Planir blieb sitzen, als er den Kopf in Richtung des Fragestellers drehte. »Natürlich ist das von wesentlicher Bedeutung, Herion, sollte der Rat entscheiden, diese Angelegenheit weiter zu verfolgen. Allerdings ist das kein so erstaunlicher Vorschlag, wie es den Anschein haben mag. Mit Hilfe des Hauses D’Olbriot haben wir Kopien der Karten entdeckt, die Den Fellaemion auf einer seiner früheren Expeditionen angefertigt hat. Angesichts der Tatsache, dass wir uns schon vergangenes Jahr auf den offenen Ozean hinausgewagt haben, um Messire D’Olbriots Mann von den Eisinseln zu retten, kennt Wolkenmeister Otrick nun die in den östlichen Gewässern vorherrschenden Strömungen und Winde. Mehr noch, nun da die Geschichte dieser Kolonie aufgedeckt worden ist, haben sowohl Messire D’Olbriot als auch Kaiser Tadriol persönlich ihr Interesse bekundet, dieses Land zu finden, und uns alle erdenkliche Unterstützung angeboten.« Ich sah, wie der fette Zauberer, Kalion, listig die Augen zusammenkniff, während er diese Information in seine Berechnungen einarbeitete. Ein rundlicher Mann von mittlerer Größe stand auf und we635
delte mit der Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »In diesem Fall sollten wir darauf warten, was diese Tormalin bei einem Versuch entdecken. Was haben wir davon, wenn wir selbst ein solches Risiko eingehen? Soweit wir wissen, könnten diese Körper inzwischen vollkommen verrottet, von einem Steinschlag begraben oder von wilden Tieren gefressen worden sein.« »Mentor Tonin hat uns doch erklärt, dass die Fähigkeit eines Artefakts, Träume zu übertragen, davon abhängt, dass der mit ihm verbundene Körper noch intakt ist!« Eine ungepflegte Frau, deren Alter schwer zu schätzen war, sprang auf. In verächtlichem Tonfall fuhr sie fort: »Das hättet Ihr eigentlich wissen müssen, hättet Ihr seine Abhandlung aufmerksam gelesen, Edlow.« Diesen Worten folgte eine erregte Debatte auf breiterer Front. Der Streit wurde immer lauter, als überall Diskussionen entbrannten zwischen jenen, die sich für eine Rettung der Kolonisten aussprachen, und jenen, die die ganze Idee ablehnten. »Was geschieht jetzt?«, fragte ich Shiv. Ich musste mich nahe zu ihm hinüberbeugen, um mich bei all dem Lärm überhaupt verständlich zu machen. »Behalte Planir im Auge«, riet er mir. In seinen Augen war ein Lächeln zu erkennen, auch wenn seine Miene nach wie vor sachlich war. Der Erzmagier wechselte ein paar Worte mit Otrick und Usara; dann sprang er rasch auf das Podium in der Mitte des Raums. Schweigen senkte sich über die Versammlung, und Planir verneigte sich tief vor den Zauberern. »Der Magier Viltred Sern will zu euch sprechen. Ich bitte euch, seinen Worten die gebührende Aufmerksamkeit zu schen636
ken.« Die Stimme des Erzmagiers klang autoritär, während Viltred, den ich bis jetzt gar nicht bemerkt hatte, in Richtung Podium ging. Der alte Zauberer stützte sich auf einen dünnen Stock, doch er hatte wieder ein wenig Farbe bekommen im Vergleich zu damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und seine Kleidung war nich mehr verschlissen, sondern neu. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig und selbstsicher, und der alte Mann schien an Statur zu gewinnen, während er den Blick über die Versammlung schweifen ließ. »Ihr debattiert darüber, ob ihr die verlorenen Siedler von Kel Ar’Ayen wieder zum Leben erwecken sollt oder nicht, als wäre das irgendeine akademische Übung ... als hättet ihr alle Zeit der Welt, zu einer Entscheidung zu kommen, die euch den Erfolg garantiert.« Sein trüber Blick schweifte über die sitzenden Zauberer, und seine Stimme bekam einen bissigen Tonfall. »Hebt mal einen Augenblick die Köpfe von euren eng beschriebenen Schriftrollen und verstaubten Büchern. Denkt einmal darüber nach, was in der wirklichen Welt geschieht, während wir hier diskutieren. Der Erzmagier hat euch doch erzählt, was seine Agenten ihm berichtet haben, oder? Diese Eismänner, diese Elietimm, sind seit der vorletzten Jahreswende bei den Aldabreshi unterwegs, und nun wissen wir auch warum. Sie verbreiten ihren Kult, die Anbetung der Königin des Dunklen Mondes. Welches Ziel verfolgen sie dabei? Auch das wissen wir jetzt. Diese Elietimm schaffen sich ein Reservoir ätherischer Macht für ihre Hexerei, und diese Macht wird mit jedem Konvertiten größer. Glaubt ja nicht, dass die Missionierung aufhören wird. Der Kult einer mächtigen weiblichen Göttin wird bei den Frauen der Kriegsherrn viele Anhängerinnen finden, egal 637
welcher Philosophie sie auch sonst anhängen mögen.« Viltred hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf. »Lassen wir einmal die Frage der Magie beiseite. Was tun diese so genannten Priester sonst noch? Die Erfahrungen von D’Olbriots eingeschworenem Mann haben eindeutig gezeigt, dass die Elietimm aktiv daran arbeiten, ihren Einfluss im Archipel auszuweiten, und zu diesem Zweck schrecken sie vor kaum etwas zurück. Bin ich der Einzige hier, dem es Sorgen bereitet, wenn ein feindliches Volk jene unter seine Kontrolle zwingt, die so viel Anteil an den Entscheidungen der Kriegsherrn haben? Schaut einmal in die Zukunft: Was würde wohl geschehen, wenn ein gemeinsamer Kult die Domänen eint? Wohin wird sich dann der Blick der Aldabreshi wenden, wenn sie sich nicht länger gegenseitig misstrauisch beäugen?« Viltred marschierte am Rand des runden Podiums entlang, während er sprach, und seine Worte wie Peitschenhiebe über den Köpfen der Zauberer knallten. »Noch eine Frage: Über welche Macht hat dieser Priester geboten, dass er das Selbstvertrauen besaß, einem Kriegsherrn der Aldabreshi in seinem eigenen Palast zu trotzen? Offenbar reichten seine Fähigkeiten zumindest aus, um sich der Gefahr zu entziehen, nachdem seine Magie Ryshads Willen nicht hat überwinden können. Lasst uns einen Augenblick lang darüber nachdenken. Wir können uns auch an einen anderen Ort versetzen, wenn es notwendig ist, aber was ist mit seiner Dominanz über den Geist? Diese Äthermagie besitzt Facetten, mit denen wir es nicht aufnehmen können, egal wie stark unsere Zauber in anderen Bereichen auch sein mögen. Wir wissen, dass diese Elietimm die alte Magie weiterhin nutzen, auch wenn sie deren Quelle verloren haben. Denkt doch einmal über die 638
Implikationen dessen nach, was man euch sagt! Die Elietimm haben wieder das Meer überquert, ein Unterfangen, von dem wir wissen, dass es magischer Hilfe bedarf, sei sie nun ätherischer oder elementarer Natur. Offensichtlich hat sich ihre Magie wieder erholt. Nun sind sie in der Lage, ihr Wissen dazu zu benutzen, das Meer zu überqueren, und das seit wann? Seit zwanzig oder mehr Generationen zum ersten Mal! Ihre Position ist eine Position der Stärke, zweifelt nicht daran.« Der alte Zauberer trat einen Schritt zurück in die Mitte des Podiums, über dem das Zauberlicht ob der Erregung des Sprechers eine bläuliche Farbe angenommen hatte. »Wir sind hier nicht zusammengekommen, um über so etwas zu diskutieren! Wir stehen einer sehr realen Gefahr gegenüber. Die Männer, die im Augenblick ihr Gift unter den Aldabreshi verbreiten, stammen aus demselben Volk wie jene, welche die Siedlung auf Kel Ar’Ayen auf barbarischste Art und mit tödlicher Magie verwüstet haben. Lest die Geschichte, die euch D’Olbriots Mann von den letzten Tagen D’Alsennins erzählt hat und seinen Versuchen, die belagerten Kolonisten zu verteidigen. Fragt euch selbst, wie ihr euch gegen diese Magie verteidigen würdet, wenn sie gegen Hadrumal zum Einsatz käme. Vergesst dabei aber nicht, dass wir diese Magie des Geistes nicht nutzen können, egal wie viel wir darüber lernen. Nicht einmal der schwächste Magiegeborene ist in der Lage, die einfachsten Tricks eines Lescari-Eremiten nachzuvollziehen. Unsere Magie ist mächtig, aber ich ziehe es vor, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Das beste Schwert der Welt ist nutzlos, wenn der Gegner eine Pike oder eine Armbrust benutzt!« Viltred breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Nicht dass diese Elietimm an Hadrumal interessiert wären, natürlich 639
nicht – nicht wenn sie weit reichere und hilflosere Beute erlegen können! Falls diese Elietimm beschließen, Tormalin in diesem Augenblick mit Krieg zu überziehen, wer oder was soll das Land dann verteidigen? Bei allem nötigen Respekt vor Mentor Tonin und seinen Gelehrten, bei uns ist Äthermagie heutzutage nur noch eine Ansammlung von Aberglauben und halb erinnerten Gesängen. Unsere Äthermagier können sich noch nicht einmal ansatzweise mit den Elietimm messen. Können wir Magier sie mit unserer eigenen Magie besiegen? Vielleicht, aber ich teile nicht Herdmeister Kalions Selbstsicherheit in dieser Sache. Oder genauer gesagt: Würde man es uns überhaupt gestatten? Kann sich irgendeiner von euch vorstellen, dass der Kaiser von Tormalin uns erlaubt, in seinem Land Feuer, Flut und Sturm heraufzubeschwören, selbst wenn es seiner eigenen Verteidigung dient? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, es sei denn, die Lage ist wahrlich verzweifelt. Wie lange, glaubt ihr wohl, würden diese Hexer brauchen, um sich auf dem Festland festzusetzen, wenn sie es darauf anlegen?« Viltred packte seinen Stock und schüttelte den versammelten Zauberern die Faust entgegen. »Egal wie groß die Risiken auch sein mögen, ob wir nun im Meer ersaufen oder die schlafenden Kolonisten zu ewigem Wahnsinn und Dunkelheit verdammen, ich sage euch, dass wir es uns nicht leisten können, darüber zu debattieren, ob wir nun den Versuch wagen oder nicht! Die Frage müsste eher lauten, ob wir es uns leisten können, es nicht zu versuchen. Sollen wir es darauf ankommen lassen, uns der Äthermagie der Elietimm zu stellen, ohne auch nur einen Menschen unter uns zu haben, der diese Leute kennt und weiß, wozu sie wirklich in der Lage sind? Macht keinen Fehler. Diese Bedrohung ist real, und sie wird nicht einfach so wieder ver640
schwinden. Wir wissen, dass sie bereits im Geheimen unsere Widerstandsfähigkeit untergraben. Ihr habt alle von ihren Angriffen auf Tormalinschreine während des Winters gehört. Warum sollten sie das wohl tun, wenn nicht, um auch noch unser letztes Wissen über Äthermagie zu vernichten? Ich selbst bin nur hier, weil ich vor ihnen fliehen musste. Die Elietimm haben mir einige Dinge gestohlen, die aus der verlorenen Kolonie stammen und die ich auf meiner Reise mit Azazir gefunden habe.« Viltred hielt einen Augenblick inne. Ich wusste, dass er gegen das Verlangen ankämpfte, den Rat an den Spott zu erinnern, mit dem er früher stets den Berichten über die Reise begegnet war, und ich konnte ihn verstehen. Der alte Zauberer kämpfte jedoch gegen dieses Verlangen an und fuhr in hartem Tonfall fort: »Und da ist noch eine Frage! Ryshads Zeugnis beweist das große Interesse der Elietimm an Artefakten aus Kel Ar’Ayen, mehr noch als meine eigenen Erfahrungen. Das D’AlsenninSchwert in die Finger zu bekommen, war so wichtig für diesen so genannten Priester, dass er nicht nur einen Mord riskierte, sondern auch bereit war, seine Magie im Herzen des Archipels zu wirken, ungeachtet der Gefahren, die damit verbunden waren. Wie wichtig muss eine Queste wohl sein, wenn jemand die Qualen riskiert, welche die Kriegsherrn für das Verbrechen der Magie bereithalten? Fragt euch selbst: Warum wollen die Elietimm diese Artefakte? Ich weiß es nicht, aber ich würde mein letztes Hemd darauf verwetten, dass es nichts Gutes für die Kolonisten bedeutet, wenn wir sie nicht vorher retten! Im Namen der Moral und der Vernunft: Wie könnten wir nicht versuchen, sie wiederzuerwecken?« 641
Chaos brach in der Kammer aus, als die Zauberer versuchten, alle gleichzeitig zu sprechen. Überall sprangen sie auf und schrien einander an, ohne noch irgendwelche Formalitäten zu beachten. Viltred kehrte zu seinem Platz zurück und setzte sich. Er verschränkte die Arme vor der Brust, atmete schwer, und Leidenschaft glühte in seinen Augen. Planir saß mit ruhigem Gesicht auf seinem Stuhl, doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich ein listiges Funkeln in seinen Augen. Seine gelassene Haltung hatte unterschwellig auch etwas Angespanntes an sich, das mich an einen jagenden Reiher erinnerte, der nur auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen. Ich konnte nicht sehen, woran der Erzmagier diesen Moment erkannte, doch Planir sprang plötzlich auf, und ein Ebenholzstab erschien in der Luft und sprang ihm in die Hand. Der Fuß des Stabes traf den Steinboden mit solch einem Knall, dass sofort Stille in der Kammer herrschte. Während die Magier wie erstarrt zu Planir blickten, stieg dieser aufs Podium. »Setzt euch. Diese Debatte hat nun lange genug gedauert. Wir haben eine klare Wahl – handeln oder nicht handeln. Nehmen wir das Wissen, das wir haben, und versuchen wir, die Siedler von Kel Ar’Ayen zu retten, oder tun wir nichts und machen einfach mit unseren Forschungen weiter, als würden die Elietimm gar nicht existieren?« Er stieß den Stab aufs Podium, und der hohle Knall hallte in der großen Kammer wider, während die Zauberer wieder zu ihren Sitzen eilten. »Wer ist dafür, zu handeln?« Überall im Raum hoben Zauberer die Hände, einige mit Papieren darin, andere mit Stäben. Lichtstrahlen gingen von ihnen aus und sammelten sich in der Mitte des Raums zu einem strahlenden, vielfarbigen Muster aus Licht. 642
»Wer ist dagegen?«, wollte Planir wissen. Die restlichen Zauberer riefen ihre Macht herbei und sandten Schatten ins Licht, dunkle Tentakel, die es immer schwächer werden ließen. Das Muster hing in der Luft, und die Farben wirbelten auf verwirrende Art umeinander herum. Ich blinzelte und beugte mich zu Shiv, sorgfältig darauf bedacht, nicht den smaragdfarbenen Strahl zu berühren, der von seiner Hand ausging. »Was soll das?« Shiv hielt den Blick weiter auf den verschlungenen Regenbogen über uns gerichtet. »Der Rat trifft seine Entscheidungen nicht nur aufgrund der Mehrheit der Stimmen, sondern auch aufgrund der Stärke des Willens derjenigen, die an der Abstimmung teilnehmen«, erklärte er leise. »Schau!« Ich beobachtete, wie Farben und Schatten miteinander rangen und seltsame Spiegelungen auf die nach oben gewandten Gesichter der Versammelten warfen. Die Schatten wuchsen, dämpften das Licht, konnten es aber nicht zum Verlöschen bringen und verschwanden plötzlich, als Licht so hell wie die Sonne sich durch die Dunkelheit brannte. »Genug.« Planir stieß seinen Stab ein drittes Mal auf den Boden, und die Farben verschwanden, bis nur noch ein gleißendes weißes Licht übrig war. »Der Rat hat beschlossen zu handeln. So sei es!«
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10.
Aus der Korrespondenz von Leorn Den Lirel, letzter Gouverneur von Caladhria im 7. Jahr von Nemith dem Tollkühnen; aufbewahrt im Tempelarchiv zu Col
Sonnenwendgrüße von Leorn an seinen Bruder Jahon. Ich weiß nicht, wie lange dieser Brief brauchen wird, um dich zu erreichen, aber ich bin überzeugt, dass die kaiserlichen Kuriere sich weiterhin durchkämpfen werden, egal was uns anderen widerfahren mag. Ich weiß nicht, was du über die Lage hier gehört hast, aber nimm das Schlimmste davon und verdopple es. Hier herrscht ein einziges blutiges Chaos. Aus der Heimat erhalten wir keine Unterstützung, und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte, also habe ich den Versuch jetzt aufgegeben. Mach dir keine Sorgen. Ein Schiff liegt für mich bereit um mich nach Hause zu bringen, sollten die Kämpfe sich über den Ferl ausdehnen. Amille besteht darauf, hier die Sonnenwende zu feiern; danach aber werde ich sie und die Kinder sofort nach Hause schicken. Der Schimmel mag ja in meine Bibliothek eingedrungen sein, aber nicht in meinen Verstand! Bitte sag Mutter, sie könne sie zur Mitte des Nachsommers erwarten. Wir werden bei ihr bleiben müssen, bis wir unsere Pächter und Leibeigenen herausholen können; also vergiss nicht, sie zu benachrichtigen, sobald dieser Brief dich erreicht. 644
Wie du dir sicher vorstellen kannst entspricht das hier nicht gerade dem, was ich mir von diesem Posten erwartet habe; aber da der Kaiser die Kohorten für seinen wahnwitzigen Plan zur Eroberung Gidestas abzieht, weiß ich nicht mehr, wie ich die kaiserliche Herrschaft hier noch auf echt erhalten soll. Seit dem Äquinoktium hat kein Einheimischer mehr Steuern gezahlt, und ich kann noch nicht einmal eine Volkszählung durchführen, um die Listen auf den neuesten Stand zu bringen. Meine Beamten zeigen einen bemerkenswerten Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Gründe zu finden, im Gouverneurspalast zu bleiben, anstatt dass sie ihre Pflicht auf dem Lande erfüllen. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass ich ihnen deswegen Vorwürfe mache, und ich werde sie mit Sicherheit nicht ausschicken, um mit Feder und Tinte gegen Briganten und Plünderer zu kämpfen. Die meisten von ihnen verbringen ihre Zeit damit, äußerst zweifelhafte Besitzurkunden für Ländereien auszustellen, die sie nach dem offiziellen Ende der Tormalinherrschaft zu übernehmen gedenken. Ich schlage vor, dass du augenblicklich damit beginnst, unseren Besitz hier zu liquidieren, diskret, aber schnell; in Caladhria kann man keinen Profit mehr machen. Vielleicht ist es der Mühe wert, nach Gelegenheiten in Lescar Ausschau zu halten. Nach der Ermordung von Statthalter D’Evoirs wird es zu Panikverkäufen kommen, was uns vielleicht das ein oder andere Schnäppchen bringen könnte. Wie ich gehört habe, planen die Vögte, sich in ihren Steuerbezirken festzusetzen und eine eigene Herrschaft aufzubauen. Ich nehme nicht an, dass sie diesem Weinschlauch die Treue schwören werden, der sich heutzutage Kaiser nennt, aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was uns das kümmern sollte, falls sich die Gelegenheit ergibt, Profit aus 645
der Sache zu schlagen. Nemiths närrischer Ehrgeiz muss uns inzwischen das eigene Gewicht in Weißgold gekostet haben, und je eher Poldrion ihn in die Anderwelt befördert desto besser – jedenfalls soweit es mich betrifft. Wenn ich gehe, werde ich die Statuen des Kaisers persönlich in die Jauchegrube werfen. Oh, fast hätte ich es vergessen: Ich habe keine Ahnung, was Den Fellaemion im Sinn gehabt hat, als er das letzte Mal losgesegelt ist Bei all der Verwirrung, die heutzutage um uns herum herrscht könnte ich dir nicht einmal sagen, wie viele Jahre das nun her ist ich wüsste auch sonst niemanden, der es dir berichten könnte. Ich glaube, Den Rannion hatte irgendetwas damit zu tun, doch der gegenwärtige Sieur scheint sehr erpicht darauf zu sein, die Angelenheit unter den Teppich zu kehren. Also nehme ich an, dass die Sache gescheitert ist.
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Die verlorene Siedlung von Kel Ar’Ayen 42. Nachsommer
»Das ist ganz anders als unser Ausflug vergangenes Jahr«, bemerkte ich zu Shiv, während das Schiff des Zauberers sanft an seinem Ankerplatz in der breiten Flussmündung schwankte. Es war eine Erleichterung, endlich den Stürmen entkommen zu sein, die übers offene Meer peitschten, und ich drehte mein Gesicht in die warme Spätsommersonne, die hier merklich heißer war, als ich sie um diese Jahreszeit Zuhause erwartet hätte. Ich lächelte ob des angenehmen Gefühls der Wärme auf meinem glattrasierten Gesicht. »Wenn ich schon den Ozean überqueren muss, dann bitteschön in einem gut gebauten Dreimaster mit den mächtigsten Ratsmitgliedern an Bord, die Wind und Wetter lenken. Die Nussschale beim letzten Mal war nicht so gut, wie ich gestehen muss.« Shiv grinste mich an. »Findest du nicht auch? Selbst Livak hat kaum unter Seekrankheit gelitten.« Im Augenblick wollte ich nicht über Livak reden. »Wann werden wir anderen an Land gehen?« Ich nickte in Richtung der Ruderboote, die gerade einen Trupp Söldner auf dem nahen Strand absetzten. Shiv runzelte die Stirn. »Darüber scheint noch Uneinigkeit zu herrschen. Die meisten Magier wollen eine Weile an Bord bleiben. Sollen doch Halice und ihre ... äh ... ›Partner‹ das Terrain erst erkunden.« »Die Suche wäre mit Sicherheit schneller vorbei, wenn wir Magie zur Unterstützung hätten.« Verwirrt drehte ich mich zu 647
Shiv um. Reumütig schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis meine hoch geschätzten Kollegen sich daran gewöhnt haben, mit Kämpfern zusammenzuarbeiten, egal was Planir von ihnen verlangen mag.« Ich blickte die Reling hinunter zu Halice. Sie sprach mit dem Kommandanten der Söldner, einem massigen Mann mit Namen Arest, der sich vor allem durch seine unbeugsame Haltung und seinen ungebildeten dalasorianischen Akzent auszeichnete. Mangel an Bildung bedeutete jedoch nicht Mangel an Klugheit; Bauernschläue funkelte in Arests Augen, und nach dem, was Livak mir erzählt hatte, hatte er in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle in den Lescarikriegen gespielt. Wichtiger war jedoch noch die Tatsache, dass er kein Problem damit hatte, Halice als gleichwertig zu behandeln; er beugte sich dicht zu ihr, und gemeinsam diskutierten sie ihre nächsten Züge. Kurz fragte ich mich, ob sie früher vielleicht einmal ein Paar gewesen waren; sie strahlten eine gewisse Vertrautheit aus, doch ich schob diese Frage als unbedeutend beiseite. Dann blickte ich auf Halices Bein, das nun schon wesentlich gerader war und auch wieder Gewicht tragen konnte, obwohl es noch immer nicht ganz verheilt war. Ich fragte mich, welche Rolle sie wohl noch in diesem besonderen Spiel spielen würde. Nach der Entscheidung des Rates hatte Planir sich sofort daran gemacht, die Reise zu organisieren. Dabei hatte er jedoch sehr zu seinem Unmut feststellen müssen, dass all die Agenten und Spitzel, die er mit gutem Geld für ihr Fähigkeiten bezahlte, anderswo dringende Geschäfte zu erledigen hatten. Es war Halice gewesen, die vorgeschlagen hatte, sich nach Söldnern umzusehen, die die Sommersonnenwende in Carifate verbrach648
ten. Offenbar waren die Schlachten zwischen Parnilesse und Triolle im Nachfrühling und Vorsommer ungewöhnlich blutig gewesen – natürlich war es wieder einmal zu keiner Entscheidung gekommen –, und das selbst ernannte neutrale Gebiet von Carif war von unzähligen Söldnern aus zerschlagenen Korps überschwemmt worden, die allesamt nach einer Arbeit Ausschau hielten, die ihnen das gleiche Geld bei weniger Risiko versprach. Halice hatte sich als überaus nützlich für den Erzmagier erwiesen und dank ihrer zahlreichen Kontakte eine kampferfahrene Truppe von Söldnern zusammengestellt, die noch genug gesunden Menschenverstand besaßen, sich von den Massakern in den zentralen Herzogtümern fern zu halten. Nach ein paar Jahren verhältnismäßiger Ruhe hatte ein Wurf von Raeponins Runen das Chaos wieder nach Lescar zurückgebracht. Ich dachte an Aitens Familie und hoffte, dass Messires Gold ihnen entweder Sicherheit oder eine Fluchtmöglichkeit kaufen konnte. Shiv und ich beobachteten, wie der zweite Trupp von Kämpfern und Kämpferinnen sein Zeug zusammenpackte und ein letztes Mal Rüstung und Waffen prüfte. Zugegebenermaßen waren die Söldner ein arg verlotterter Haufe, und vermutlich machte das die Zauberer unruhig. Fast alle hatten Narben an den Händen und im Gesicht, sowohl alte, weiße als auch blaue, frische; einige davon waren überdies hässlich angeschwollen, was von einer mangelhaften Versorgung durch die Heiler zeugte, wie ein eingeschworener Mann sie normalerweise erwarten darf. Ihre Kleidung bestand vorwiegend aus Leder, schwarz und braun mit nur wenigen Farbtupfern; darüber trugen sie Fellmäntel oder schlicht gegerbte Haut anstatt des feinen Wollstoffs, wie ein Patron ihn seinen Männern gibt. Ich schluckte 649
einen plötzlichen Schmerz herunter, als ich mich daran erinnerte, wie Aiten in ähnlichem Aufzug vor Messire erschienen war. »Halice hat gesagt, dies wären so ziemlich die Besten, die sie hat finden können.« Shiv strich sich unbewusst seine eigene makellose Tunika glatt und richtete die silberne Gürtelschnalle aus, die Pered ihm vor unserem Aufbruch gegeben hatte. »Offenbar haben sie den Großteil ihrer Beute nicht für Kleidung ausgegeben, hm?« »Wer will schon im Kampf hübsch aussehen? Ich nehme an, sie stecken ihr Geld in ihre Schwerter. Solche Handwerkskunst ist nicht gerade billig.« Die zerlumpten, schmutzigen Kleider der Söldner standen in augenfälligem Gegensatz zu ihren Rüstungen und Waffen; sie waren auf alles vorbereitet, was ihnen über den Weg laufen konnte. Die meisten trugen zwei Schwertern sowie mehrere Messer in Gürtel und Stiefeln; viele besaßen außerdem noch einen Bogen, einen Streitkolben oder einen Speer. Blank poliertes Metall spiegelte das Licht der heißen Sonne, während die Rüstungen eher matt gehalten waren; gerade erst hatten die Krieger sie vom Rost befreit, der sich durch die salzige Luft bei der Überfahrt auf Platten und Ketten gebildet hatte. Ich selbst war auch gezwungen gewesen, meinen Spiegel fast jeden Tag zu polieren, wenn ich mich beim Rasieren nicht schneiden wollte, doch zumindest brauchte ich mich nicht so sehr um meine Rüstung zu kümmern. Arest stieg die Leiter ins Beiboot hinunter, und Shiv und ich hielten unwillkürlich die Luft an, als Seil und Holz protestierend unter seinem Gewicht knarrten. Der Mann trug einen vollen Harnisch samt Kopfschutz, Arm- und Beinplatten, sowie sein Schwert, einen Schild und einen Rucksack. Nachdem er schließlich sicher im Boot saß, atmeten wir beide tief durch. 650
»Ich glaube nicht, dass den irgendjemand aus dem Flussbett ziehen kann, wenn er mit dem ganzen Zeug reinfällt«, sagte Livak fröhlich, als sie sich neben uns an die Reling lehnte. Lächelnd drehte ich mich zu ihr um. Ich hatte sie auf dieser Reise selten gesehen, da sie sich rasch mit den Söldnern verbrüdert hatte, während ich durch meinen Eid verpflichtet war, ständig bei Planir zu bleiben. »Was glaubst du? Ob sie in einem Kampf nützlich sein werden?«, fragte sie mich und lächelte herausfordernd. »Ja, würde ich sagen.« Ich hatte die Krieger auf der Reise unauffällig beobachtet. Die meisten besaßen die Arroganz eines Hahns auf dem Mist, wie man sie oft bei Söldnern findet, doch die regelmäßigen Übungen, die sie während der Überfahrt machten, hatten ihnen meinen Respekt eingebracht. Auf jeden Fall fühlte ich mich bei ihnen wohler als ich in Gegenwart der Agenten des Erzmagiers, falls Darni, den wir im vorigen Jahr kennen gelernt hatten, ein typisches Beispiel für diese Leute war. Zu erfahren, dass der widerlich überhebliche Kerl im Augenblick in Solura herumhing, um die Pläne des Erzmagiers zu fördern, konnte man nicht gerade als Enttäuschung bezeichnen. »Sie sehen so aus, als könnten sie es mit den meisten Gegnern aufnehmen und zumindest ein Unentschieden erzwingen, wenn nicht sogar einen Sieg«, sagte ich. »Nun, wie sieht der Plan aus?« »Lasst uns sie fragen.« Livak stieß einen lauten Pfiff aus. Halice drehte sich um und winkte uns zu warten, als zwei weibliche Söldner mit einer Frage zu ihr kamen. Beide waren kleiner als Halice. Die eine war schlank und besaß lockiges haselnussbraunes Haar und ein feines, herzförmiges Gesicht, das in seltsamem Gegensatz zu ihrem schweren Kettenhemd und dem 651
Helm stand. Die andere war einer der wenigen Söldner, die keine Rüstung trugen; stattdessen hatte sie sich ein Lederwams mit unzähligen Taschen für alle möglichen Messer übergestreift. Mit ihrem offenen, freundlichen Gesicht sah sie so aus, als könne sie genauso gut einen Marktstand oder einen Haushalt führen, anstatt ihre Dienste an den Meistbietenden zu verkaufen. Halice beantwortete brüsk ihre Fragen und gesellte sich dann zu uns. Ihr Gang war gleichmäßiger geworden, und ich fragte mich erneut, wie weit ihre Verletzung schon geheilt worden war. Vielleicht würde sie in Zukunft eher ein Korps organisieren, als mit ihm zu kämpfen. Vielleicht war es der Beginn einer neuen Laufbahn. »Wie lautet der Plan?«, fragte Shiv sofort. »Rosarn nimmt seine Kundschafter und marschiert mit ihnen einmal um die Ruinen; dabei wird er alle Landmarken notieren, damit wir uns besser orientieren können.« Halice deutete auf die Frau in Leder, die nun mit einem jungen Mann über einem Pergament hockte; in dem Burschen erkannte ich einen von Mentor Tonins Schülern. Er hieß Parril oder so ähnlich. »Minare und seine Jungs suchen uns einen Ankerplatz, damit wir näher heranfahren können und nicht ständig die Leute mit Booten hin und her transportieren müssen.« Sie verzog das Gesicht und blickte zu Shiv. »Das würde sehr viel schneller gehen, würden ein paar von euch Zauberern uns helfen.« Ich fluchte und packte die Reling, als vor meinen Augen plötzlich alles verschwamm und die Pflanzen am Ufer verschwanden, sodass ich steinerne Anlegestellen sah, wo jetzt nur noch ein paar Felsbrocken am Ufer lagen, sowie Häuser, die um einen Marktplatz herum standen. Ahnungslos gingen die Men652
schen hier ihrer Arbeit nach, ohne die drohende Elietimmgefahr auch nur zu ahnen. »Was ist?« Livak blickte mich besorgt an. »D’Alsennin«, antwortete ich knapp und ließ die Reling langsam wieder los. »Ich erinnere mich an Dinge, die er hier gekannt hat.« Ein Hauch von Kummer huschte über Livaks Gesicht. »Das gefällt dir nicht, stimmt’s?«, forderte ich sie heraus. Das war vermutlich ein Fehler, aber ich hatte die Nase voll davon, wie sie mir auf der Reise aus dem Weg gegangen war. »Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist«, erwiderte sie, »und es tut mir Leid, aber diese Äthermagie hat Geris und Aiten getötet. Einer dieser Elietimm-Bastarde ist in meinen Verstand eingedrungen und hätte mich auch fast zum Wahnsinn getrieben. Allein die Vorstellung, dass jemand in deinem Kopf herumspukt, jagt mir Schauder über den Rücken.« »Ich habe es unter Kontrolle«, erwiderte ich, und es gelang mir nur mit Mühe, meine Stimme nicht wütend zu erheben. »Das glaube ich nicht.« Livak schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war blass unter den Sommersprossen, von denen sie durch Wind und Sonne noch mehr bekommen hatte. »Als wir das letzte Mal das Bett geteilt haben und du vor Leidenschaft dahingeschmolzen bist, haben deine Augen sich verändert, und du hast mich wieder Guinalle genannt. Ich sehe ständig einen anderen, der mich aus deinen Augen anblickt, besonders wenn du müde bist.« Es gelang mir, meine Zunge im Zaum zu halten und die wütende Antwort hinunterzuschlucken, die von Temar stammen musste, und diese Erkenntnis machte mir klar, dass Livak die Wahrheit sprach. Ich sah Tränen in Guinalles smaragdfarbenen Augen, die ihre vorgebliche Entschlossenheit 653
Augen, die ihre vorgebliche Entschlossenheit Lügen straften. Ich atmete tief durch, wohl wissend, dass jeder weitere Streit für uns ebenso tödlich sein konnte wie der zwischen zwei Adlern, die ihre Krallen in den Körper des jeweils anderen gruben, um dann gemeinsam auf einen Felsen hinabzustürzen. Ein Zittern durchfuhr meinen Körper ... Ich wusste nicht, ob die Erinnerung an dieses Bild aus der Kindheit meine oder Temars war. Wieder atmete ich tief durch und blickte zu Shiv, der verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Halices Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Arest wird mit Lessay und seinem Trupp gehen«, fuhr sie fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Wir müssen eine Verteidigungsstellung finden ... eine, von der aus man das Ufer sehen kann, wäre am Besten.« »Du willst Den Rannions Haus.« Die Worte waren mir über die Lippen gekommen, bevor ich etwas dagegen tun konnte, und ich biss auf die Zähne. Halice schaute mich abschätzend an. »Wo ist das? Wie sieht es dort aus?« Ich blickte landeinwärts, doch der mir unvertraute Fluss und das Ufer bedeuteten, dass ich Temars Erinnerungen nicht zuordnen konnte. »Vieles hat sich verändert.« Ich runzelte die Stirn. »Das Land verändert sich nun mal im Laufe der Generationen«, sagte Shiv nachdenklich. »Direkt an der Meeresküste, wie in deiner Heimat, ist es vielleicht nicht so auffällig, aber große Flüsse wie dieser hier formen das Land. An ihren Mündungen schwemmt das Meer Sand hinein, wodurch die Küstenlinie zu jeder Jahreszeit anders aussieht.« 654
Ich beachtete ihn nicht. »Zum Schluss war es ein großes, steinernes Gebäude, umgeben von einer Mauer und mit einem Torhaus. Auch wenn die Dächer eingefallen sind, die Grundmauern müssten noch stehen.« Ich blinzelte, als sich Dinge, die ich in der Werkstatt meines Vaters gelernt hatte, auf seltsame Art mit Temars Erinnerungen an Den Rannions Heim vermischten. »Es lag auf der anderen Seite einer kleinen Bucht mit dem Hauptkai und besaß einen eigenen Zugang zum Fluss.« »Dann wollen wir mal sehen, ob wir es finden können.« Halice drehte sich um und winkte Lessay, dem dritten von Arests Unteroffizieren. Mit seinen schweren, genagelten Stiefeln stapfte er auf uns zu. Er war gut eine Handbreit größer als ich, dünn wie eine Bohnenstange, und hatte das lange blonde Haar zu einem Rattenschwanz zurückgebunden. Seine blauen Augen funkelten fröhlich, und seine Stimme hatte inzwischen einen Lescariakzent angenommen, woher er ursprünglich auch stammen mochte. Ich verstand immer noch nicht, wie er und Arest so gut zusammenarbeiten konnten angesichts der Tatsache, dass der Kommandant sich mit Härte durchsetzte, während Lessay seine Männer mit Scherzen und guter Laune auf seine Seite zog. »Ryshad glaubt einen Ort zu kennen, der für ein Lager geeignet wäre«, erklärte Halice. »Sprich weiter«, forderte Lessay sie auf. Ich war froh, dass er Halice einfach beim Wort nahm. Arest hingegen war jene Art Mann, die jede Münze am liebsten eingeschmolzen hätte, um ihren Wert zu prüfen. Ich atmete tief durch und versuchte, die Mündung mit Temars Augen zu betrachten ... Oder war das falsch? Sollte er nicht besser durch meine Augen schauen? Ich schüttelte den Kopf und suchte in 655
meinen Erinnerungen nach irgendwelchen Träumen von der Siedlung. Plötzlich schmolz die Szenerie vor mir dahin, und das sommerliche Licht wich der Winterdämmerung. Warme orangefarbene Flammen trotzten der Kälte des Jahresendes. Der eisige Wind wehte den Duft von Weihrauch zu mir heran, während über anderen Feuern wohl riechendes Fleisch gebraten wurde. Lachen und Musik hallten von den Hügeln wider. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als mir der Wind Schneeregen in die Augen wehte, doch als ich die Hand hob, war mein Gesicht trocken. »Ryshad?«, fragte Livak sanft. Ich blickte auf meine Finger. Die Nägel waren blau von Kälte, was sich nun jedoch rasch wieder änderte, als Livak mir tröstend die Hand auf die meine legte. »Es ist da drüben.« Ich betrachtete die Szenerie mit anderen Augen. Temars Erinnerungen ließen Bäume und Dickicht verschwinden und zeigten mir Häuser und Straßen auf eine verwirrende Art. »Siehst du den Spalt da am Horizont? Zieh eine gerade Linie von dort nach unten ... da, wo die Felsen übers Wasser hinaushängen. Die Bucht verlief ungefähr von dem einsamen Baum da bis zu dem Ding mit den gelben Blüten. Die Grundmauern des Hauses müssten sich demnach in dem hohen Gras da befinden, oder was immer es sein mag.« »Dann los.« Lessay stieß einen durchdringenden Pfiff aus und winkte das Ruderboot vom Strand herein. »Maraide, Jervice, holt Äxte.« Das Beiboot war unangenehm voll beladen, als wir uns vom Schiff abstießen, und hatte für meinen Geschmack viel zu wenig Freibord. Wir schafften es jedoch ohne Probleme an Land und holten Hilfe von Minares Trupp, der inzwischen die Nase 656
voll davon hatte, knietief durch den Schlamm zu waten, um irgendwelche Felsbrocken herauszuholen – einen Ankerplatz freizumachen, war ein mühseliges Geschäft. Selbstbewusst führte ich die Söldner über das Gelände der ehemaligen Siedlung zu Den Rannions Haus; dabei hatte ich das Gefühl, mich über vertrauten Boden zu bewegen. Meine Stiefel trafen auf Stein, und ich blieb stehen und blickte auf das in seltsamen Winkeln zerbrochene Pflaster des Marktplatzes hinab. »Passt auf, wo ihr hintretet!«, rief ich über die Schulter zurück und ging vorsichtig weiter. Ich prüfte jeden einzelnen Stein, bevor ich mein Gewicht darauf verlagerte. Ich drehte mich um, als hinter mir jemand fluchte, und ich sah, dass einer der Söldner bis zum Schienbein in schlammigem Wasser versunken war. Arest trat neben mich. Er hatte das Schwert gezogen und musterte das zunehmend dichtere Unterholz auf allen Seiten. Ein großer Vogel mit seltsam krummem Schnabel flog aus einem nahen Busch und flatterte mit lautem Krächzen davon. »Das ist es.« Ich hob die Hand, um auf die Umrisse der efeubewachsenen Mauern zu zeigen, die in dem dichten Pflanzenbewuchs nahezu unsichtbar waren. Arest nickte langsam. »Wo ist das Haupttor?« Ich deutete nach links. »Um den Strauch mit den violetten Früchten herum.« Die Umrisse des Gebäudes waren immer deutlicher zu sehen, je näher wir kamen, und ich musste mich gegen Temars Erinnerungen wehren, um nicht davon überwältigt zu werden. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich darauf, das Gebäude so zu sehen, wie es gewesen war, ohne mich dabei von den Wogen der Trauer und der Reue hinforttragen zu lassen, die an 657
die Türen meines Geistes klopften. »Hier ist das Torhaus!« Der Söldner Minare, ein kleiner, aber kräftig gebauter Mann von unerschütterlich guter Laune winkte uns mit seiner Hellebarde. Ich blieb ein Stück zurück, um die anderen die Ranken und Büsche wegschlagen zu lassen; dann sah ich den noch immer intakten Torbogen, der nun jedoch deutlich niedriger war, als hätte die vom Wind herbeigetragene Erde über die Generationen hinweg versucht, das Tor zu ersticken. Das harte Holz des Tores war noch immer da, nur war es jetzt dunkel und mit Ranken bewachsen und ließ sich nicht mehr bewegen. »Sollen wir es einschlagen?« Minare verzog das sonst so fröhliche Gesicht und stützte sich auf seine Hellebarde. »Noch nicht«, sinnierte Arest, während er nachdenklich seinen Blick über die Mauern schweifen ließ, die noch immer über uns aufragten. »Vielleicht brauchen wir es unversehrt. Gibt es noch einen anderen Weg hinein? Es macht keinen Sinn, ein Loch in unsere eigene Verteidigung zu schlagen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.« Als ich ihn fragen wollte, gegen was er sich denn verteidigen wollte, überkamen mich wieder Temars Erinnerungen an den Angriff der Elietimm. Ich dachte eingehend nach. »Auf der Rückseite gibt es ein Ausfalltor.« Arest trat einen Schritt zurück und blickte die Mauer hinunter. »Ich würde gerne wissen, was da drinnen ist«, murmelte er zu sich selbst. »Lasst mich mal.« Livak drängte sich an einem Söldner vorbei, der sich mit angewidertem Gesichtsausdruck die zerkratzte Hand rieb, und prüfte die fingerdicken Ranken auf ihre Festigkeit. Dann grinste sie uns an. »Wenn ich schreie, würdet ihr 658
dann bitte das Tor einschlagen, Shiv?« »Sei vorsichtig.« Ich unterdrückte einen Beschützerinstinkt, der wieder einmal Temar gehören musste. Ich wusste gut genug, dass Livak auf sich selbst aufpassen konnte. »Natürlich«, erwiderte sie gelassen und kletterte geschickt die Mauer hinauf. Langjährige Erfahrung ließ ihre behandschuhten Hände immer wieder Halt finden. Als sie die Mauerkrone erreichte, spähte sie kurz darüber hinweg und zog sich dann vorsichtig auf die Reste des Wehrgangs. »Das sieht ein wenig unsicher aus«, sagte sie. »Ich glaube, ich komme wieder runter.« Ich schaute mich um und sah eine Mischung aus Furcht und Erwartung in den nach oben gewandten Gesichtern der Söldner, während wir schweigend warteten und die Zeit so langsam verrann wie das braune Wasser des breiten Flusses. »Kommt, Jungs. Suchen wir das Ausfalltor.« Minare legte seine Hellebarde über die breite Schulter und blickte zu Arest, um dessen Zustimmung einzuholen. Auf das Nicken des großen Mannes hin begannen er und eine Hand voll anderer sich einen Weg durchs Unterholz am Fuß der Mauer zu bahnen. »Sobald wir den Ankerplatz freigeräumt haben, brauchen wir die Hilfe von euch Zauberern.« Arest drehte sich unvermittelt zu Shiv um und ragte drohend über dem kleineren Mann auf. »Es ist ziemlich dumm, meine Jungs ihre Kräfte vergeuden zu lassen, wenn ihr die Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen könntet. Es macht uns nichts aus, hart zu arbeiten – dafür werden wir ja bezahlt –, aber es gibt eine Grenze, was ich von meinem Trupp verlange.« »Ich verstehe. Ich werde mit Planir reden«, beeilte sich Shiv zu antworten. 659
»Ist da draußen noch wer?« Livaks Stimme klang durch das Tor hindurch gedämpft, doch ihre Verärgerung war deutlich genug. »Habt ihr mich nicht rufen hören?« »Was hast du gefunden?«, rief ich. »Das Ausfalltor zum Beispiel«, lautete die Antwort. »Minare und seine Leute machen es gerade frei.« »Lasst uns gehen.« Arest klatschte in die Hände, und alle setzten sich in Bewegung und stapften den freigeräumten Pfad am Fuß der Mauer entlang. Ich musste mich ducken, um durchs Ausfalltor zu gelangen; zweifelnd musterte ich den brüchigen Stein des Türsturzes. Der Hof war erstaunlicherweise frei von Gestrüpp. Die blassen Linien von Kieswegen schimmerten schwach durch niedrig wachsendes Gras und Kräuter hindurch. Als ich darauf trat, stieg mir der Geruch von Thymian und Minze in die Nase und machte mich leicht benommen. Das Dach der Haupthalle war eingefallen, doch die Wände standen noch, und trotz des Schmutzes und des Bewuchses war noch deutlich zu sehen, wie gut der Stein gewesen war. Ich atmete tief durch, als ich ein schattenhaftes Bild des Ortes sah, wie er einst gewesen war. Aus den großen, längs unterteilten Fenstern der Halle war warmes Licht gefallen, als Temar sie zum letzten Mal gesehen hatte, und die Harfenmusik der Maitresse hatte sich mit dem Lärm auf dem Hof vermischt, wo die Pferde der Gäste angebunden waren. Nun da die Kolonie sich eingelebt hatte und die ersten Fohlen geboren waren, gab es genügend Pferde zum Reiten. In der Küche neben der Halle war es äußerst geschäftig zugegangen. Die beiden neuen Dienerinnen verteilten das Essen, auch an die Arbeiter im Hof, die ihnen hinterherpfiffen und dabei nicht nur auf Honig fürs Brot, sondern auch von 660
ihren Lippen hofften. In den Werkstätten neben dem Tor wurde so spät Abends nicht mehr gearbeitet. Die Werkzeuge waren nach harter Arbeit beiseite gelegt worden und gut verstaut. Das große, mit Pech versiegelte Tor stand einladend offen, und die Wachen saßen auf einer Bank und begrüßten jeden mit Namen. Nun herrschte Stille, abgesehen vom schweren Schritt der Söldner, die sich daran machten, das Gelände zu säubern. Seltsame Worte tauchten in den Gesprächen auf, als immer mehr Leute den Hof betraten. »Wie sicher ist die Mauer?« Arests Stimme riss mich aus Temars Erinnerung, und ich schaute mich um. Arest rief zu Minare, der mit seinen Jungs am anderen Ende des Hofes die Mauer von den Ranken befreite: »Irgendwelche Schäden, um die wir uns Sorgen machen müssten?« »Bis jetzt nicht!«, antwortete der Söldner, ohne sich umzudrehen. »Ich glaube, ich kann das für euch feststellen.« Planirs Stimme zog sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Der Erzmagier duckte sich durch das Ausfalltor und legte seine langen Finger auf den Türsturz. Ein knisterndes bernsteinfarbenes Licht tanzte um seine Finger und schien im Mauerwerk zu verschwinden. »Da.« Planir deutete auf ein Mauerstück, das vollkommen unter überhängenden Blättern verborgen war. »Ein Baum hat die Grundfesten auseinander gesprengt; jetzt hat die ganze Mauer Risse. Vermutlich stürzt schon alles ein, wenn eine etwas zu fett geratene Eule darauf landet.« Ich schaute mich nach Livak um und entdeckte ihren roten Schopf, als sie über einen Haufen heruntergefallener Balken kletterte, die den Eingang zur Halle versperrten. Sie sah mich und winkte mir lächelnd zu, während sie zu den Söldnern hin661
unterblickte, die zu schwer gepanzert und zu ungeschickt waren, ihr zu folgen. »Wie sollen wir das Zeug hier wegbekommen, Zauberer?«, rief sie zu Planir. »Ich zeig es dir.« Otrick erschien aus dem Nichts, und ein blaues Licht schnappte sich Livak, hob sie in die Luft und setzte sie neben mir ab. Kreidebleich klammerte sie sich an mich, und ich war froh, einen Grund zu haben, sie in den Arm zu nehmen. »Verfluchte Zauberer«, murmelte sie zitternd und funkelte Otrick wütender an, als es normalerweise der Fall war. Das gleiche azurblaue Licht kam nun auch von ein paar anderen Zauberern, während immer mehr Leute durch das Ausfalltor hereinströmten. Ich beobachtete offenen Mundes, wie riesige Balken aus der Halle gehoben wurden, um sich dann wie von selbst ordentlich vor der Schwachstelle in der Mauer zu stapeln, die Planir uns gezeigt hatte. Und ich war nicht der Einzige, der vor Staunen den Mund nicht mehr zubekam; den Söldnern ging es genauso. »Glaubst du, irgendeiner von denen würde sich dazu überreden lassen, bei einem ordentlichen Korps anzuheuern?«, scherzte Arest in dem glaubhaften Versuch, die Haltung zu bewahren. »Mit dieser Hilfe könnten wir jeden auf den Lescarithron setzen!« Im Geiste machte ich mir eine Notiz, den Söldnerführer von Kalion fern zu halten, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass der Herdmeister lieber mit Herzögen und Fürsten Umgang pflegte als mit den Männern, die diesen ihre Macht erhielten. In eine weite Hose gekleidet, die viel praktischer war als seine ansonsten so protzigen Roben, befahlt der fette Magier soeben einem von Tonins Schülern, seine Decke unter einem behelfs662
mäßigen Zelt auszulegen, das zwei andere unter großen Schwierigkeiten errichteten. Ein paar mitfühlende Söldner gingen zu ihnen hinüber, nahmen den Gelehrten Plane und Seile ab und hatten den Unterstand ein paar Augenblicke später errichtet. »Als Erstes müssen wir herausfinden, wie die Siedlung aufgebaut ist. Wir brauchen eine Art Stadtplan.« Arest wandte sich in einem Tonfall an den Erzmagier, der keinen Widerspruch duldete. »Sonst können wir die nächsten paar Jahreszeiten mit Unkraut jäten verbringen und hätten noch nicht einmal die Oberfläche angekratzt.« Planir blickte mich an. Seine grauen Augen waren so unergründlich wie das Meer. »Du könntest uns hier eine Menge Zeit und Arbeit ersparen, Ryshad. Shiv hat mir erzählt, du hättest den Palast gesehen, wie Temar ihn gesehen hat.« Ich warf Shiv einen wütenden Blick zu, worauf er leicht errötete. »Tut mir Leid, aber der Erzmagier musste es wissen«, sagte er entschuldigend. »Das könnte uns wohl helfen, nehme ich an ...« Unter anderen Umständen hätte mich Arests Misstrauen zutiefst verärgert, aber jetzt war nicht die richtige Zeit zum Kräftemessen. »Ich bin nicht bereit, D’Alsennin in meinem Kopf loszulassen, wenn Ihr es wollt, Erzmagier«, erklärte ich entschlossen. Es fiel mir auch so schon schwer genug, Temars Erinnerungen in meinem Hinterkopf einzusperren. Arest fuhr fort, als hätte ich gar nichts gesagt. »Aber ich würde mich lieber auf bewährte Magie verlassen. Wir brauchen euch Zauberer, damit ihr zeigt, wie das Land ausgesehen hat, als dieser Ort gebaut wurde. Tut, was ihr könnt, um die wichtigsten Gebäude und Plätze zu ermitteln – den Markt zum Bei663
spiel. Dort könnten wir Metallarbeiten finden, sogar Edelsteine und andere Wertsachen, die Maewelins Zähnen widerstanden haben. Ihr habt gesagt, alles, was wir fänden, gehöre uns.« Die Herausforderung in seinem Ansinnen war unverkennbar. »Ich habe meine Kollegen schon so ziemlich das Gleiche gesagt«, erwiderte Planir, um Frieden bemüht. »Vorrang hat aber offensichtlich die Weitsicht, um die Informationen zu bestätigen, die Mentor Tonin im Laufe seiner Forschungen gesammelt hat. Wir müssen diese Höhle so schnell wie möglich finden, aber ihr werdet selbstverständlich von den Magiern unterstützt, die nicht direkt daran beteiligt sind oder vorerst nicht gebraucht werden.« »Ich könnte ihnen helfen, Erzmagier. Für die Weitsicht braucht man mich nicht.« Ich drehte mich um und sah einen der jüngeren Zauberer, einen Mann, der ein paar Jahreszeiten jünger war als ich. Er trug ein graues Wams mit rotem Kragen; ich erkannte ihn von der Ratsversammlung. »Danke, Naldeth, das wäre sehr hilfreich.« Planir verneigte sich knapp. »Entschuldigt mich.« Ich folgte Naldeths Blick und sah, dass er Maraide beobachtete, das Mädchen mit den glänzenden Locken. »Weißt du, ob sie die Begleiterin von jemandem ist?«, fragte er mich mit einem begehrlichen Funkeln in den Augen. Ich muss zugeben, dass die Reaktionen der Zauberer auf die Söldner wirklich amüsant waren. Auf dem Schiff hatten die wildesten Gerüchte die Runde gemacht, als wir nach Carif unterwegs gewesen waren, und ich erinnerte mich, dass Naldeth eine der Quellen dieser Geschichten gewesen war – Geschichten von aufregenden Abenteuern und unvorstellbaren Schätzen, die mit der Wahrheit nun wirklich nichts zu tun hatten, wie Aiten 664
mir einmal versichert hatte. Ihn hätte das Ganze mit Sicherheit köstlich amüsiert, da war ich sicher. »Keine der Frauen hier ist die ›Begleiterin‹ von jemandem oder die Kurtisane der Kommandanten«, erklärte ich dem Zauberer mit fester Stimme. »Sie sind wegen ihres Könnens im Umgang mit Waffen hier, und falls du an mehr interessiert bist, schlage ich vor, du wartest, bis die Dame Interesse an dir bekundet. Eine falsche Bewegung, und du bekommst deine eigenen Eier zum Frühstück serviert.« »Oh.« Zu meiner Erleichterung ließ Naldeth den Kopf hängen. Diese Art von Unruhe würde der Harmonie der Expedition nicht gerade gut tun; außerdem hatte ich auf der Reise mehr als einmal gesehen, wie Maraide zufrieden Planirs Kabine verlassen hatte, wenn mich Temars Erinnerungen wieder einmal nicht hatten schlafen lassen. Nun rief selbst dieser flüchtige Gedanke wieder Visionen von Den Rannions Haus hervor; die Vergangenheit drang von allen Seiten auf mich ein. Ich blinzelte und versuchte, die Spannung aus meinem Nacken zu reiben; die Erinnerungen zu vertreiben, fiel mir immer schwerer. Eine Folge von Pfiffen verkündete die Ankunft von Rosarns Trupp, und ich sah, wie sie sich mit Äxten und Kampfmessern vor dem Ausfalltor sammelten, bevor sie hereinkamen. »Wenn du helfen willst, ist das deine Chance«, sagte ich zu ihm. »Komm, lass uns rausgehen. Ich will mich selber mal umsehen.« Rosarn nickte und ging auf den Hof zurück, um seine Leute wieder einzusammeln, die sich rasch verstreut hatten. In Wahrheit wollte ich die Siedlung gar nicht erkunden; ich wollte einfach nur weg von diesem Ort, bevor ich gänzlich den Kontakt zur Wirklichkeit verlor. Als wir den Hof überquerten, kam Livak zu uns gerannt, ergriff meine Hand und blickte mich 665
besorgt an. Ich drückte ihre Hand zur Beruhigung, obwohl mir ganz und gar nicht danach zumute war, während wir Rosarns knappen Befehlen zuhörten. »Ich will genau wissen, wo diese Siedlung anfängt und wo sie aufhört, und ich will wissen, in welchem Zustand sich die Gebäude befinden«, erklärte Rosarn. »Gebt auf Schlangen, Skorpione und dergleichen acht. Wenn ihr etwas anderes seht, merkt euch Farbe und Größe; das müssen wir dann alle wissen. Ich nehme an, die meisten größeren Viecher werden weglaufen, wenn wir genügend Lärm machen, aber seid vorsichtig für den Fall, dass irgendwo etwas anderes in einem Loch lauert. GroßThorfi, du übernimmst den Teil da, Klug-Thorfi, geh links die Straße runter.« »Du hast doch nichts dagegen, wenn wir mitkommen?« Ich hob höflich die Hand und versuchte ob der Unterscheidung der beiden Thorfis nicht zu lachen. Die Söldner schienen damit vertraut zu sein. Naldeth trat zu uns und nickte mir erwartungsvoll zu. »Das ist Naldeth«, erklärte ich an Rosarn gewandt. »Er ist ein Zauberer, der uns gerne helfen würde.« Rosarn nickte. »Du solltest lieber mit mir kommen, Zauberer. Du bist doch ein eingeschworener Mann, Ryshad, stimmt’s? Dann kannst du dir ja deinen eigenen Weg suchen, aber pass auf.« Wir folgten den Söldnern auf die andere Seite der Mauer und betrachteten die scheinbar undurchdringliche Masse von Grünzeug, das die gesamte Kolonie zu bedecken schien; hier gab es mehr Grünschattierungen, als ich es je im Leben für möglich gehalten hätte. Zu meiner Erleichterung blieb das, was ich sah, fest in der Gegenwart verankert. »Ihr zwei, da rüber.« Rosarn blickte zurück und winkte uns 666
auf die andere Seite eines von Ranken bewachsenen Hügels, während der Rest des Trupps sich verteilte, um ähnliche Formationen unter dem Gestrüpp zu untersuchen. Livak zog ihr Schwert, schob es unter die Ranken und schnitt ein großes Stück weg, sodass der graue verwitterte Stein darunter zum Vorschein kam. Zuhause hätte ich das Gestrüpp als Efeu bezeichnet, doch die Blätter dieser Pflanze waren lang und glatt. Ich griff nach meiner eigenen Klinge, entschied mich dann jedoch anders. Ich musste nicht unbedingt häufiger zu Temars gefangenem Geist Kontakt aufnehmen, als unbedingt nötig. »Wir machen das zur falschen Jahreszeit«, bemerkte Livak. »Es wäre einfacher, wenn wir gewartet hätten, bis das Zeug abstirbt.« »Hier gedeihen die Pflanzen bis weit in den Nachherbst hinein«, erklärte ich geistesabwesend, während ich nach einem Stock griff, um damit in den Büschen zu stochern. »Oh.« Livak blickte mich unsicher an, bevor sie einen weiteren Klumpen des wuchernden Zeugs herausschnitt. Ich versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen, und nahm mir vor, sofort mit Mentor Tonin zu sprechen, sobald er ins Lager gekommen war. Bei Dasts Zähnen, ich musste das einfach unter Kontrolle bekommen, wenn ich meinen Verstand bewahren und meine Beziehung zu Livak erhalten wollte; scheiß auf Planirs Pläne. Ein fremdartiger, kleiner schieferfarbener Vogel flatterte mit einem seltsamen Flöten aus dem Gebüsch und erschreckte uns beide, als er seine Artgenossen mit dem Alarmruf weckte, die daraufhin von überall her aufflatterten. Plötzlich war die Luft voll bläulicher Schwingen. »Glaubst du, das hier ist ein Gebäude?«, fragte Livak, nach667
dem der Tumult sich gelegt hatte. Ihre Stimme klang entschlossen, während sie die glatte Steinoberfläche betrachtete, die sie entdeckt hatte. Ich stieß meinen Stock zwischen die Blätter und auf den Stein. Dies wiederholte ich zweimal, bis ich mit einem dumpfen, feuchten Ton belohnt wurde. »Ich würde sagen, da ist eine Tür oder ein Fensterladen.« Livak machte sich daran, die dichten Ranken vor der besagten Stelle zu entfernen, während ich mich umdrehte, um zu sehen, was die anderen machten. Mehrere Gruppen versuchten so ziemlich auf die gleiche Art wie wir das Mauerwerk freizulegen. Wenn man sich umschaute, sah es allmählich so aus, als hätte hier tatsächlich eine Stadt gestanden. »Es ist eine Tür«, verkündete Livak zufrieden. Ich klopfte mit dem Stock gegen das alte, wurmzerfressene Holz und spürte, wie es nachgab. Türgriff und Scharniere waren nur noch dunkle rostfarbene Flecken auf dem Holz, und vom Wind herbeigetragener Dreck versperrte die Sicht auf den unteren Teil der Tür. Die würde sich nie öffnen lassen, nicht solange Dastennin die Meere beherrschte. Ich wich einen Schritt zurück und trat das Holz ein. Ich ging nicht sofort hinein, sondern wartete, dass erst alles herauskam, was immer dort drin sein mochte. »Verflucht!« Livak sprang zur Seite, als ein Schwarm Schaben in alle Richtungen davonhuschte, und ich trat hart auf etwas, das für meinen Geschmack viel zu viele Beine hatte. »Was gibt es da für ein Problem?«, rief Rosarn plötzlich von irgendwo hinter einem Busch. »Krabbelviecher!«, antwortete ich. »Nichts, worüber ihr euch Sorgen machen müsstet.« Livak und ich grinsten uns reumütig an, und ich spähte vor668
sichtig ins düstere Innere. »Da drüben ist ein verschlossenes Fenster«, bemerkte Livak, und ich ging um das Gebäude herum, um das morsche Holz mit meinem Stock einzuschlagen. Damit hatten wir genug Licht, um die halb eingefallene Decke zu sehen und den riesigen Riss entlang der Rückwand. »Bleib an der Tür«, warnte ich Livak, während ich vorsichtig hineinging. »Das Zeug da oben könnte jederzeit runterkommen.« »Es hängt schon eine ganze Weile so. Ich nehme nicht an, dass es ausgerechnet heute einstürzen wird«, erwiderte sie spöttisch, während sie mit ihrem Schwert in dem Müll herumstocherte, der den Boden bedeckte. Ich versuchte zu erkennen, in was genau sie da eigentlich herumwühlte. »Was hast du da?« »Fassbretter, würde ich sagen, Ringe, Nägel ... etwas, das vor vielen Generationen vielleicht mal ein Scharnier gewesen ist.« Ich runzelte die Stirn und schaute mich noch einmal um. Die Lagerhäuser mussten näher am Ufer, genauer gesagt, am Hafen gelegen haben. »Was Interessantes?« Rosarn erschien neben meiner Schulter, und ich trat einen Schritt zurück, damit er zum Fenster hereinschauen konnte. »Eigentlich nicht.« Livak hustete, und eine Brise trug den Geruch von Moder zu uns. »Und wie sieht es bei dir aus?«, erkundigte ich mich. Rosarn hielt ein kleines geflecktes Tier in die Höhe; Blut klebte an dem erstarrten Maul. »Nun, wenn wir mehr davon finden, bekomme ich wenigstens ein Paar neue Handschuhe. – Nein, wir finden nur leere Gemäuer und Müll. Ich bin aber 669
eigentlich gekommen, um euch zu sagen, dass euer Zauberer glaubt, in dem Felsüberhang dort drüben gäbe es Höhlen.« Rosarn blickte mich mit einem Lächeln auf den Lippen an. »Sie scheinen nicht groß genug zu sein, als dass diejenigen dabei sein könnten, die ihr sucht. Aber ich dachte, wir sehen mal nach, ob nicht vielleicht etwas Gefährliches in den Büschen lauert. Warum kommt ihr zwei nicht mit mir, und wir gehen ein bisschen kundschaften? Vielleicht finden wir ja noch mehr von denen hier«, fügte er hinzu und hing die dürre Beute über einen Stock. Livak grinste ihn an, und nach einem raschen Blick auf das zerfallene Mauerwerk nahm er den langen Weg durch die Tür, um sich zu uns zu gesellen. Mir blieb keine andere Wahl, als mein Schwert zu ziehen und die wild wuchernden Pflanzen niederzuhauen, während wir uns einen Weg in den kühlen Schatten des Felsvorsprungs bahnten; doch zu meiner Erleichterung rührte Temar sich nicht in meinem Hinterkopf. »Hier ist etwas.« Naldeth duckte sich unter einem niedrigen Ast hindurch und verschwand in einem dunklen Loch. Rosarn folgte ihm fluchend. »Das ist eine Art Höhle«, schallte die Stimme des Zauberers zu uns hinaus. Ungeduldig riss ich den Ast beiseite und fluchte, als das Ding zurückschnappte und mir mit seinen verdammten Dornen den Arm zerkratzte. »Wie weit geht sie rein?« Livak war vor mir. Sie schlüpfte an dem widerlichen Ast vorbei und griff in ihren Beutel, um einen Feuerstein und eine missgestalte Kerze herauszuholen. Das gelbe Licht flackerte in der Schwärze und zeigte uns eine niedrige Höhle. Temars Angst vor solchen Orten drängte ich rasch beiseite. 670
»Was ist das?« Naldeth ließ einen Ball Zauberlicht auf seiner Handfläche erscheinen und ging zur anderen Seite der Höhle, wo sein rotes Licht irgendetwas weiß schimmern ließ. »Knochen?« Mein Herz schlug schneller, obwohl ich mir immer wieder sagte, das sei nicht von Bedeutung. Ich schloss die Augen – und plötzlich sah ich wieder den letzten Morgen der Kolonie. Menschen rannten, schrien und flohen vor den erbarmungslosen Klingen der Elietimm, die aus dem Nichts gekommen waren. Die goldenen Köpfe der Eismänner glänzten im Licht der aufgehenden Sonne, während sie die unglücklichen Kolonisten wie Korn niedermähten. Hatten wir welche zurückgelassen, die sich dann ängstlich in irgendeiner kleinen Höhle versteckt hatten, nur um dort an ihren Wunden oder vor Durst zu sterben? »Das ist ein Tier. Aber ich weiß nicht, was für eins«, erklärte Rosarn verwirrt. Ich riss die Augen auf, und das Bild des Gemetzels verschwand in der Dunkelheit der Höhle. »Seht euch das mal an.« Staunen lag in Livaks Stimme, als sie mit beiden Händen einen sehr großen, breiten, gewölbten Schädel aufhob. Ich schaute ihn mir genauer an und strich mit dem Finger über das eine große Loch in der Mitte der Stirn. »So was habe ich noch nie gesehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Rosarn?« Der Söldner kniete neben einem Haufen verdreckter und zerbrochener Knochen und blickte nun zu uns hoch. »Nein, noch nie«, sagte er. »Aber ich sag euch was. Das hier ist eine Art Nest. Schaut, an denen hier ist herumgekaut worden. Man kann die Bissspuren deutlich sehen. Irgendwer oder irgendwas hat die Knochen aufgebrochen, um an das Mark heranzukommen.« 671
Nachdenklich drehte Livak den riesigen Schädel. »Wie groß muss es sein, dass es so ein Vieh zur Strecke bringen kann?« »Groß genug, dass ich ihm nicht über den Weg laufen will«, sagte Rosarn. »Lasst uns gehen.« »Gibt es hier noch etwas anderes außer Knochen?« Naldeth scharrte mit den Füßen in ein paar Splittern herum. »Falls wir einen Topf oder so etwas finden, könnte ich mit Hilfe des Feuers seinen Ursprung feststellen. Daran arbeite ich jetzt schon eine Weile, und Planir hat gesagt ...« »Leuchtest du mit Zauberlicht darauf?« Rosarn klang höflich, aber skeptisch. Naldeth schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, man setzt ihn richtig in Brand, und das Zauberlicht reflektiert manchmal interessante Dinge, bevor das Objekt verbrennt.« Mir wurde plötzlich übel. »Sag mal, ihr habt das doch nicht mit irgendwelchen Artefakten aus der Kolonie gemacht, oder?« »Was? Nein, nein. Wir haben darüber nachgedacht, aber Planir hat es verboten, bis ich bessere Ergebnisse liefern konnte.« Naldeth lächelte breit. »Das hat er gut gemacht, stimmt’s?« »Es gibt keine frischen Spuren«, erklärte Livak plötzlich. »Was immer hier gelebt haben mag, es ist schon lange fort.« Sie drehte mit dem Stock einen kleineren Schädel herum. Zuhause hätte ich das dazugehörige Tier einen Dachs genannt, doch die Zähne von dem hier passten nicht dazu. »Es gibt noch mehr Höhlen, die wir erkunden könnten«, sagte Naldeth eifrig. »Vielleicht, aber erst nachdem wir uns mit den Gelehrten abgesprochen haben. Sonst werfen wir nur ständig weitere sinnlose Fragen auf.« Entschlossen schüttelte Rosarn den Kopf. »Aber wir sollen doch nach dieser Höhle suchen, nach den 672
Kolonisten«, protestierte Naldeth. »Hier sind sie nicht«, sagte ich. Dass ich mir dessen vollkommen sicher war, wunderte mich schon gar nicht mehr. »Und wo sind sie dann?«, verlangte Rosarn zu wissen. Ich konnte nur hilflos den Kopf schütteln. »Ich weiß es nicht – noch nicht.« Wir alle blinzelten und rieben uns die Augen, als wir aus der Höhle und wieder in den hellen Sonnenschein traten. »Also gut, ihr zwei macht da drüben weiter.« Rosarn stapfte davon, um sich um ein paar Söldner zu kümmern, die irgendein Tier neckten, das zwischen zwei eingestürzten Wänden kauerte. Livak blickte mich an und zuckte mit den Schultern. Wir machten weiter damit, die alles bedeckenden Ranken abzuschlagen, doch wir enthüllten nur immer mehr leere und in sich zusammengefallene Gebäude. Ich wurde allmählich müde und hatte Durst, als Livak sich plötzlich aufrichtete und in Richtung Anwesen deutete. »Rauch!« Ich drehte mich um und sah die dünne blaue Rauchfahne eines Lagerfeuers, die in der windstillen Luft schnurgerade nach in den heißen Mittagshimmel stieg. Im selben Augenblick rief Rosarn nach uns. »Essen! Alle Mann zurück ins Lager!« Wir bahnten uns einen Weg durch das schon arg gelichtete Unterholz und kehrten zu Den Rannions Anwesen zurück, wo inzwischen ein richtiges Feldlager Gestalt angenommen hatte. »Nun, wer erzählt?«, fragte Halice, während sie mir ihrem Messer in ein paar kleinen Tieren herumstocherte, die über einem guten Feuer vor sich hin brieten. Livak und ich stellten uns in die Schlange, um unseren Teil abzubekommen. 673
»Jede Menge nichts Besonderes«, erklärte einer der Söldner und biss ein Stück von dem Bein ab, dass er in den Fingern hielt. »Alles leer.« »Wenn du mich fragst, war das auch nicht anders zu erwarten.« Ein schmalgesichtiger Mann, der das Problem seines zurückweichenden Haars dadurch gelöst hatte, dass er sich den Schädel gleich ganz kahl rasiert hatte, griff in seinen Rucksack und holte ein Fladenbrot heraus. »Dieser Ort ist doch angeblich geplündert worden, oder? Angriff im Morgengrauen, viele Leute im Nachthemd erschlagen?« Ich nickte, als er mich fragend anblickte; darüber zu sprechen, traute ich mich nicht, solange ich die Türen zu meinem Geist vor Temars Erinnerungen verschlossen halten musste. »Aber wo sind die Knochen?«, fragte der Kahlköpfige und ließ seinen Blick über die Söldner schweifen. »Ja, ich weiß, es gibt Aasfresser, und die ganze Sache ist lange her, aber, bei Saedrins Eiern, man hätte glauben sollen, dass wir zumindest ein paar Knochen finden – in diesen Gebäuden vielleicht, sicherlich in jenen, die nicht ausgebrannt sind.« »Aasfresser hätten die Knochen verstreut, aber sie wären immer noch da. Diese Viecher fressen dort, wo immer sie was finden«, pflichtete eine ältere Frau ihm bei. Ungerührt nagte sie an ihrem Knochen. »Das ist eine Schande«, bemerkte ein Mann mittleren Alters im Gewand eines Gelehrten. »Wenn ihr wenigstens einen Schädel für uns finden würdet. Es gibt da ein paar nekromantische Rituale, die wir versuchen könnten. Ich hätte gern gesehen, was dabei herauskommt.« Die Bemerkung ließ alle einen langen Augenblick schweigen. »Die Knochen sind egal. Was ist mit anderen Dingen?« Ein 674
stämmiger Mann blickte über die Schulter zu uns, denn er saß mit dem Rücken zum Kreis, um den Eingang im Auge behalten zu können. »Vor vier Jahren war ich in Thurscate, als die Draximal es sich zurückgeholt haben. Die Stadt war vor gut einer Generation gefallen, und seitdem hatte sich niemand darum gekümmert. Überall lag alles mögliche Zeug herum. Viele Dinge verrotten, das stimmt, aber nicht Keramik, Münzen und dergleichen. Ich nehme an, dieser Ort ist vollkommen geplündert und nicht einfach nur verlassen worden.« »Wer sollte das getan haben?« Ich war neugierig zu sehen, wie weit diese angeblich ungebildeten Krieger diese Fragen verfolgen würden. Auf jeden Fall hatten sie während der Überfahrt die Ohren offen gehalten. Rosarn reichte mir ein Stück Fleisch, das ich mir mit Livak teilte. »Gestern Abend haben wir darüber gesprochen, was mit den Elietimm geschehen sein könnte, die hier waren, als die alte Magie versagt hat«, sinnierte er, »ich und Lessay. Sie konnten unmöglich in ihre Heimat zurück, nicht ohne ihre Magie. Andererseits sieht es nicht so aus, als hätten sie sich hier niedergelassen. Wo sind sie also hin?« »Ist das wichtig?«, fragte Livak mit vollem Mund und leckte sich das Fett von den Fingern. »Es waren alles Männer, nicht wahr? Spätestens nach ein paar Generationen wären sie ausgestorben gewesen, egal ob ein paar von ihnen nun auf der anderen Seite getanzt haben oder nicht.« Das rief allgemeines Lächeln hervor, und das Gespräch wandte sich allgemeineren Themen zu, während angelockt vom Duft des gebratenen Fleisches weitere Söldnergruppen zurückkehrten. Irgendwann bemerkte ich, dass Livak nachdenklich in den undurchdringlichen Wald starrte, und ich tippte sie auf die 675
Schulter, um ihr noch etwas Brot anzubieten. »Oh, danke.« Sie riss sich ein Stück ab und kaute, noch immer nachdenklich, darauf herum. »Hat Misaen sich deinen Verstand geborgt?«, fragte ich lächelnd. »Was? Ach, ich frage mich nur, wie weit sich dieses Land erstreckt. Weißt du es?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, niemand hatte vor dem Ende der Kolonie Gelegenheit, das herauszufinden.« »Ich mag es ja, draußen auf dem Land zu sein, auch wenn ich in der Stadt geboren und aufgewachsen bin, solange es Felder, Weiden oder Wälder sind«, fuhr Livak fort. »Aber ich bin noch nie an so einem Ort gewesen, wo es keine einzige Straße gibt, egal wie weit man auch reist, keine Dörfer und keine Städte, wo man ein warmes Bett und ein Bad bekommen kann, wenn man eins braucht. Hier gibt es in alle Richtungen nur Wildnis. Das ist schlimmer als Dalasor.« Livak klang eher fasziniert als beunruhigt, und ich folgte ihrem Blick zu dem geheimnisvollen Wald und den fernen Hügeln, die wer weiß wohin führten. Wie viel hatte der Gott des Feuers dem Herrn des Meeres abgequatscht? Wie lange dauerte es wohl, bis Dastennins Reich wieder begann und ein bis jetzt unbekanntes Meer an eine unbekannte Küste brandete? »Deshalb sind die Kolonisten hierher gekommen. Sie wollten ein leeres Land finden, ein Land für jene, die beim Rückzug des Imperiums alles verloren hatten.« Ich lehnte mich gegen einen umgestürzten Baumstamm und trank einen tiefen Schluck von dem stark verdünnten Wein in meiner Feldflasche. »Ich nehme an, deshalb wollten die Elietimm es auch. Du erinnerst dich doch sicher daran, wie arm und übervölkert ihre Inseln sind.« 676
Ich bot Livak die Flasche an. Es schien, als wolle sie etwas auf meine Bemerkung erwidern, doch Arests harte Stimme kam ihr zuvor. »Los. Weiter geht’s. Und hört auf mein Horn bei Sonnenuntergang.« Viele murrten widerwillig, als wir uns langsam wieder erhoben, was in jeder ordentlichen Miliz sofort mit dem Knüppel bestraft worden wäre. Auch eingeschworene Männer würden ihren Eid niemals durch solche Geräusche beflecken. Ich seufzte. Angesichts meiner Sorgen kam mir das alles immer unbedeutender vor. Arest beachtete das Murren gar nicht, und zu einem offenen Protest kam es nicht, als alle sich wieder an ihre langwierige und sinnlose Arbeit machten. Im Laufe des Nachmittags fiel es mir zusehends schwerer, meine Geduld zu bewahren und mich zu konzentrieren. Meiner Wut verschaffte ich durch ausgiebige Flüche auf Temar, auf Planir und selbst auf Messire Luft, weil sie mich in diesen Sumpf gelockt hatten. Ich konnte mich anstrengen, wie ich wollte, ich versank nur immer tiefer darin. Aber wenn man in einen Sumpf gerät, gilt die Regel: nicht wehren, auf Hilfe warten. Und was bedeutete das für mich? Wer würde mich aus diesem Morast herausziehen, wenn nicht ich selbst? Planir würde meinen eingesunkenen Kopf eher als Laufsteg benutzen, wenn es seinen Zwecken diente, und Messire hatte mich an den Erzmagier zur freien Verfügung gegeben. Was waren die Eide, die wir einander gegeben hatten, jetzt noch wert? »Genug!« Der laute Klang von Arests Horn und das Brüllen, das folgte, waren die angenehmsten Geräusche, die mir seit langer Zeit untergekommen waren. Ich warf einen Ast beiseite, mit dem ich gerade eine weitere verrottete Tür eingeschlagen 677
hatte, hinter der sich nur wieder Müll verbarg, und lief rasch zum Ufer unter dem Anwesen, wo die Söldner soeben ein Fass dünnes Bier anschlugen. Sie tranken durstig, schlangen die Reste des Mittagessens herunter und schüttelten die Köpfe über den unergiebigen Tag. Viele zogen sich aus, um den Schweiß und den Dreck des Tages in der Flussmündung abzuwaschen. Das schien mir eine sehr gute Idee zu sein, und ich wickelte meine Kleider zu einem Bündel zusammen und sicherte es mit meinem Schwertgürtel. »Nimm das mit zurück, ja?«, rief ich Livak zu und winkte als Antwort auf ihr Nicken, bevor ich mich ins braune Wasser stürzte und hinausschwamm. Es war nicht vergleichbar mit dem Schwimmen im klaren, sauberen Wasser des Meeres meiner Heimat, doch so nah an der Küste führte der Fluss genug Salz, um mir ein angenehmes Prickeln auf der Haut zu bescheren. Ich reagierte mich mit kräftigen Schwimmzügen ab, konzentrierte mich nur auf meine Geschwindigkeit und meine Atmung und fand so Erleichterung von den geistigen Kämpfen, die ich inzwischen nahezu ununterbrochen ausfechten musste. Als ich den Kopf drehte, um Luft zu holen, glaubte ich, jemand anderen zu sehen, der versuchte, ein Rennen mit mir zu schwimmen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich einen Schopf schwarzen Haars. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, doch als ich mich schließlich ausruhen musste, fand ich mich allein im Wasser wieder. Ich war gegen einen Schatten aus den fremden Gedanken in meinem Unterbewusstsein geschwommen. Frische Erinnerungen kreisten in meinem Kopf, als ich mich einen Augenblick einfach treiben ließ. Ich ballte die Fäuste in machtloser Wut und schwamm langsam ans Ufer. Widerwillig kehrte ich dann in die Umarmung der Mauern zurück, und meine müden 678
Glieder zitterten ein wenig. »Das war eine beachtliche Leistung.« Shiv reichte mir ein Handtuch, und ich trocknete mich flüchtig ab und zog mir das Hemd über, das er mir als Nächstes anbot. »Wo ist Planir?«, wollte ich wissen. »Er spricht da drüben mit Arest«, antwortete Shiv und blickte mich ob meiner barschen Art verwundert an. Ich schaute ihn kurz an. Da stimmte etwas nicht. Eine nicht greifbare Erinnerung neckte mich, zerbrechlich wie ein Schatten. Ich schloss die Augen und versuchte, sie zu fangen. Die Gerüche des Sommers wehten zu mir in einer Brise heran, und ich roch den Wald, den Stein und einen Hauch von Salz und Seetang, der vom Fluss weiter unten stammte. Ich rang mir ein Lächeln ab, um Shiv zu beruhigen, atmete tief durch und strich mir mit der Hand über das nasse Haar. Dann unterbrach ich den Erzmagier in seinem Gespräch. »Ryshad«, begrüßte Planir mich höflich, doch ich sah die Frage in seinen Augen, währen Arest mich verärgert anstarrte. »Sie ist nicht hier, sie ist noch nicht einmal in der Nähe«, sagte ich plötzlich. »In der Höhle hat es nie nach Meer gerochen. Der Wald war auch anders ... harziger, aromatischer. Wir suchen am falschen Ort!« Ich schrie fast, als mich eine untypische Wut erfüllte – Wut auf mich selber, weil es mir nicht früher aufgefallen war; Wut auf Temar, weil er die Kolonisten so weit ins Landesinnere geführt hatte; Wut auf all diese verfluchten Gelehrten und Zauberer, weil sie nicht gründlicher gearbeitet hatten. Es war doch so offensichtlich. Überall drehten sich Köpfe nach mir um, und eine Stimme rief etwas vom Wehrgang; Arest beruhigte sie rasch. 679
»Und wo sind sie dann?«, verlangte Planir zu wissen und verschränkte die Arme. Auch ohne Robe strahlte er Autorität aus. »Die Minen, dorthin sind sie geflohen, flussaufwärts.« Ich schüttelte Temars Erinnerungen ab und drehte mich zu Shiv um. »Kannst du auf diese Entfernung noch deine Weitsicht einsetzen?« »Ich kann es versuchen«, antwortete er. Planir hob die Hand. »Nein, Shiv, nicht heute Abend.« Wir beide starrten ihn offenen Mundes an. »Es ist schon spät. Alle sind müde«, erklärte Planir mit fester Stimme. »Wenn die Kolonisten so viele Generationen geschlafen haben, macht ein Tag mehr oder weniger auch nichts mehr aus.« Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Livak nahm mich in den Arm. »Komm«, sagte sie. »Er hat Recht. Heute haben wir alle genug getan. Hilf uns noch schnell in der Halle; dann können wir uns einen guten Platz zum Schlafen suchen.« »Das wäre vermutlich das Beste«, gestand Shiv. »Ich bin ziemlich erschöpft, nachdem ich dabei geholfen habe, den Ankerplatz freizumachen.« Widerwillig gab ich nach und ließ mich von Livak über den geschäftigen Hof führen. Einen Teil meiner Wut reagierte ich ab, indem ich alles mögliche Krabbelgetier aus den hintersten Ecken der Halle jagte, doch auch danach schäumte ich noch innerlich. »Ich denke, wir sollten hier unseren Claim abstecken«, verkündete Livak und legte ihr Bündel und meine schwere Rüstung neben den niedrigen Rest einer Innenwand, der uns ein gewisses Maß an Schutz bieten würde. »Hier ist es ganz nett, glaube ich.« 680
»Gut.« Ich versuchte, mich wieder zu beruhigen und schaute mich um, ob sich jemand bereits ums Essen kümmerte. Halice verteilte Eintopf und Brot. »Wer hat dich denn zum Quartiermeister gemacht?«, erkundigte sich Livak, als wir mit Essenfassen an der Reihe waren. Halice begrüßte uns mit einem schwachen Lächeln. »Dieses verfluchte Bein muss doch für irgendetwas gut sein.« Hungrig schlang ich einen Löffel Eintopf hinunter und nickte Halice anerkennend zu. »Auf jeden Fall hast du Talent dafür.« »So habe ich bei den Söldnern angefangen«, bemerkte sie zu meiner Überraschung. »Ich habe als Köchin angeheuert, erst bei einem Handelszug und später bei einem Korps. Dort habe ich dann das Kämpfen gelernt.« Sie lächelte mich an. Halice wirkte entspannter, als ich sie je gesehen hatte, und das nicht nur, weil sie wieder zwei einigermaßen gesunde Füße hatte. »Was hast du denn gedacht? Dass ich mir einfach ein Schwert geschnappt habe und auf Abenteuersuche gegangen bin? Wer so etwas tut, landet entweder tot im Graben oder angekettet in einem Puff.« Lachen von allen Seiten war die Reaktion auf diese Worte. »Wenigstens ist mir so ehrliche Arbeit erspart geblieben«, fuhr Halice mit einem noch breiteren Grinsen fort. »Es ist nicht schlecht, es zur Abwechslung mal langsam angehen zu lassen.« »Wie kommen die Gelehrten voran?« Ich versuchte, sie nicht allzu sehr um ihre Zufriedenheit zu beneiden, und blickte auf der Suche nach Ablenkung zu dem dicht gedrängten Haufe an Tonins Feuer. »Sie scheinen sehr zufrieden mit sich zu sein«, antwortete Halice mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme. »Tonin hat Parril in den Gesängen unterwiesen, mit denen sie hoffen, die schlafenden Kolonisten wieder zum Leben erwecken zu 681
können.« Livak blies auf einen Löffel heißen Fleischs und Gemüses und zuckte unwillkürlich zusammen, als sie es hinunterschluckte. »Jetzt müssen wir bis zum Morgen warten?«, fragte sie resigniert. »Erst dann können wir das Ganze auflösen?« »Dann warten wir«, bestätigte Halice, doch auch ihr war die Ungeduld deutlich anzumerken. Ich unterdrückte das wütende Verlangen, sie zu fragen, worum, in Dastennins Namen, sie sich überhaupt Sorgen machten. Ich war schließlich derjenige mit einem schlafenden Tormalin im Hinterkopf. Ich konnte kaum noch an etwas anderes denken, kämpfte aber sowohl gegen meine wachsende Müdigkeit als auch gegen Temars immer stärkere Versuche an, aus meinem Unterbewusstsein auszubrechen.
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Dunkelheit, durchbrochen nur von bruchstückhaften Träumen
Zuerst war da nichts, kein Gefühl, kein Licht, kein Geräusch. Es schien, als hätte er nie etwas anderes gekannt als diesen dunklen, verzauberten Schlaf. Qualvoll pulsierte Blut in einem toten Glied; das Bewusstsein kehrte wieder zurück, alte Furcht, alte Verzweiflung. Einst vertraut und erkannt wanden sich Emotionen träge über altbekannte Pfade. Temar erwachte im Nichts; Schwärze drückte auf ihn hinab. Dann begann Entsetzen an den Ecken seines Geistes zu kratzen und nagte an seiner Entschlossenheit, diese Prüfung zu überstehen. Die Unsicherheit wuchs und spornte die Erkenntnis an, dass er nichts spüren konnte, nichts. Auch ein immer schnellerer Herzschlag brachte keine Erleichterung, ein rasender Puls, der sein Blut in Brand setzte und die Wut wieder entflammte, die ihn dazu trieb, alles zu bekämpfen, was ihn bedrohte. Kein Schweiß stand ihm auf der Stirn, um ihn zu kühlen, kein uralter Instinkt warnte ihn vor drohender Gefahr, indem er ihm die Nackenhaare sträubte. Körperlos trieb er durch eine formlose Leere. Als das Verlangen zu schreien nicht länger unterdrückt werden konnte, verlor er sich in einem Übelkeit erregenden Entsetzen, als er feststellen musste, dass er keinen Mund zum Schreien besaß, keine Stimme, die er hätte erheben können. Nackte Furcht überwältigte ihn, und er schrie lautlos auf, um sich wieder in dem erstickenden Zauber zu verlieren. Schuldgefühle plagten ihn, die von den Bewegungen eines 683
wilden Meeres hinweggerissen wurden, wo ein gewaltiger Sturm ein schwankendes Schiff in seinen Fängen hielt. Über ihm zuckten Blitze; unheimliche Funken stoben von den Planken auf und über Mast und Reling des kleinen Bootes sinnlos aufs offene Meer hinaus. Ein Mann kämpfte mit dem Ruder, an das er sich mit einem dicken Tau gefesselt hatte. Temar hörte deutlich die Gedanken des verzweifelten Seefahrers. Er würde sich aus dem Sturm herauskämpfen oder mit dem Schiff untergehen. Wenn er seine wertvolle Ladung nicht retten konnte – sowohl die lebende als auch jene, die in verzauberten Schlaf gefallen war –, sollte Dastennin ihn für die Ewigkeit mit Poldrions Dämonen im Fluss der Schatten ertränken. Es war Vahil, erkannte Temar, als kurz ein Teil seines Bewusstseins wieder zurückkehrte, bevor es ihm erneut aus den Fingern glitt. Das Echo von Schritten in einer weitläufigen Halle war das Nächste, woran er sich erinnerte. Es waren entschlossene Schritte. »Habt Ihr über unsere Petition nachgedacht?«, fragte eine weibliche Stimme aus unbekannter Richtung. Temar hatte Mühe, noch etwas anderes zu sehen außer einer trüben grauen Masse, die um ihn herumwirbelte. »Habt ihr eigentlich eine Vorstellung davon, was ihr da von mir verlangt?« Das war die Antwort eines Sieurs; die Stimme klang selbstbewusst genug dafür. »Selbst wenn es uns gelänge, eine solche Expedition zu organisieren, könnten wir nicht vor Frühlingsende segeln. Während das Imperium an allen Ecken und Enden auseinander fällt, verlangt ihr von mir, Männer und Material aufzuwenden, um einen neuen, weit gefährlicheren Feind zu suchen. Damit würden wir diesen Plünderern doch nur 684
einen Vorwand liefern, sich auch auf uns zu stürzen!« »Wir können sie doch nicht einfach so im Stich lassen!« Elsire weinte, erkannte Temar verschwommen; er sehnte sich danach, sie zu trösten. »Haben wir denn Eure Erlaubnis, Verbindung mit dem Ostrin-Schrein in Bremilayne aufzunehmen?« Vahils Stimme klang vor Erregung rau – sein Schmerz war ein leuchtender Leitfaden in dem bleiernen Nebel, der Temar umgab. »Natürlich dürft ihr das«, antwortete der Sieur müde. »Gebe der Heiler, dass sie euch werden helfen können, auch wenn ich euch warnen muss, dass die Priester im Augenblick genug eigene Probleme haben.« Temars Bewusstsein schreckte vor der großen Verzweiflung des Sieurs zurück und löste sich in grauem Dunst auf. Der Duft von Thymian, zermalmt von den Hufen galoppierender Pferde, mischte sich mit dem beißenden Staub der Straße und dem Schweißgeruch des Tieres. Ein Schrei ertönte, und Temar hörte von allen Seiten Flüche, als Schwerter in seinem schlafenden Geist Funken schlugen. Harnische klapperten und knarrten, und der Knall einer Peitsche trieb die Verzweifelten weiter voran. Ein furchtbares Gefühl von Dringlichkeit ergriff von ihm Besitz – Verzweiflung vermischt mit einer Arroganz, die sich schon bald in Furcht, Unsicherheit und Schmerz verwandelte. Der Biss des Schwertes war im Geist so tief wie auch im Körper, und Temar kämpfte vergebens darum, die Panik abzuschütteln, die von ihm Besitz ergriffen hatte, und deren Tentakel ihn genauso sicher nach unten zogen wie Seetang einen Schwimmer. Plötzlich empfand er einen schrecklichen Schmerz, der dann einer noch weit furchtbareren Leere wich, 685
bis die Dunkelheit ihn wieder zu sich holte. »Was genau bist du, und wie komme ich an deine Geheimnisse heran?« Temar wachte erschrocken auf und sah einen Mann mit Hakennase und strohblondem Haar, der sich über ihn beugte. Angst erfüllte ihn, doch im selben Augenblick erkannte er, dass der Mann mit den durchdringenden blauen Augen nicht auf ihn, sondern auf etwas neben ihm blickte. Er selbst war noch immer körperlos, nicht mehr als ein Schatten, der nach Poldrion rief, um eine Passage in die Anderwelt zu bekommen, erkannte Temar. Wer war dieser Mann? Erinnerungen versuchten, das Knäuel zu entwirren, zu dem Temars Verstand geworden war. Helle Köpfe im Licht der aufgehenden Sonne erschienen vor seinem geistigen Auge, und ein furchtbares Gefühl von Gefahr keimte in Temar auf, als der blonde, kaltäugige Mann leise eine Beschwörung zu murmeln begann; ein fauler Gestank überlagerte das Bild, das Temar sah. Diesmal griff er verzweifelt nach den Nebeln des Zaubers, die ihn verbargen, und er fiel wieder in die schützenden Tiefen, wo er sich vor der bösartigen Berührung des Hexers verstecken konnte. Licht verbrannte ihn wie Feuer. »Komm schon, Viltred! Beweg dich! Sie haben uns fast eingeholt!« Der Sprecher stand in einem Tor. Seine Augen funkelten; sein Gesicht war bleich, und sein rötliches, mit Weiß durchsetztes Haar flatterte im Wind. Sein Gefährte eilte ihm hinterher; er war mit einer willkürlichen Sammlung von Juwelen, Waffen und Schmuck beladen. Der erste Mann rannte. Seine langen Beine flogen über das kurze Gras, während sein kleinerer, kräf686
tigerer Gefährte hinter ihm herwankte. Sein bis auf den Boden reichender azurblauer Mantel drohte, ihn bei jedem Schritt zu Fall zu bringen. Temar schwieg in machtloser Qual, als die kleinsten Gegenstände seinem Griff entglitten und auf dem unebenen Boden verloren gingen. Pfeile schlugen zu allen Seiten im Boden ein; doch als Temar schon glaubte, die beiden Männer würden den Pfeilen nie entkommen, wurden die Geschosse von unsichtbaren Händen aus der Luft gerissen, und ein helles blaues Licht strömte aus den Fingern des Rothaarigen. »Hier, Azazir, es ist hier!« Plötzlich standen sie am Rand einer Klippe. Schwarze Basaltsäulen bildeten eine gefährliche Treppe, die zu einem kleinen Fischerboot hinunterführte, das scheinbar ohne Anker auf den schäumenden Wogen tanzte. »Pass auf, wo du hintrittst!«, rief der Rothaarige mit einem Hauch von Wahnsinn in der Stimme, während er mit der Sicherheit einer Katze die tückischen Stufen hinuntersprang. Der jüngere Mann war weitaus vorsichtiger; vor jedem Schritt prüfte er den Stein. Gischt spritzte über ihn; die bittere Kälte drang ihm in Fleisch und Knochen, und der Abstieg war lang und gefährlich. Rufe über ihnen signalisierten die Ankunft der Verfolger, doch als schwarz gewandete Krieger sich auf der Klippe sammelten, und ein paar der Kühneren sich an den rutschigen Abstieg wagten, erreichte der Rothaarige das kleine Boot. Sicher und gelassen stand er in dem schwankenden Gefährt und hob die Hände. Grünes Licht sammelte sich um ihn herum und ließ sein schmales Gesicht überirdisch leuchten. Wo die Gischt auf die Felsen traf, blieb sie haften und sammelte sich. Aus Tropfen wurden Rinnsale, die sich auf dem Weg die schwarzen Steine 687
hinunter zu einem Bach vereinten, der an Händen und Füßen riss. Als der jüngere Mann den Schutz des kleinen Bootes erreichte, ließ er seine Last fallen und wob sein eigenes Netz aus blauem Licht. Windböen rissen an Köpfen und Schultern, eisige Luft zerrte an Beinen und Füßen. Schreiend stürzte der Erste seinem Schicksal in den schäumenden Fluten entgegen. Der Zweite griff panisch nach seinem Nachbarn, doch nur, um ihn mit sich hinunterzureißen, und gemeinsam wurden sie auf den erbarmungslosen Felsen zerschmettert, bevor das Meer sich ihre Leichen holte. Eine wilde Freude erfüllte Temar, doch bevor er sich daran festhalten konnte, strömte wieder der wirbelnde Nebel über ihn hinweg. Temar wurde von einer Sehnsucht erfüllt, wie er sie noch nie empfunden hatte. Guinalle. Sie war verschwunden, nicht verloren, sondern versteckt, ein in der Erde vergrabenes Juwel wie der feinste Edelstein, den Misaen je geschliffen hatte. In makelloser Schönheit schlafend, wartete sie darauf, sich jenen zu enthüllen, die sie suchten. Temar sah ein Bild von grünen Augen vor ungebleichtem Leinen in einem Wust von rötlichbraunem Haar, und Entschlossenheit erfüllte ihn. Er musste diesem ... diesem ... was auch immer es war, entkommen und einen Weg finden, Guinalle zu retten. Mit weniger würde er sich nicht zufrieden geben.
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Die Ruinen des Anwesens von Den Rannion, Kel Ar’Ayen 43. Nachsommer
»Bist du wach?« Livak richtete sich auf einen Ellbogen auf und blickte mich neugierig an. Ihre Augen wirkten groß im Licht der Monde, der große abnehmend, der kleine zunehmend; war Letzterer voll, begann der Vorherbst. Ich nickte und seufzte laut. »Jetzt ja.« »Hast du geträumt?«, fragte sie mit einer Unsicherheit in ihrer Stimme, die ich allmählich hassen gelernt hatte. »Die Träume eines anderen, soweit ich es beurteilen kann.« Ich setzte mich auf und streckte mich, um die Steifheit aus meinen Schultern zu vertreiben. Temar mochte ja unter Schrecken leiden, die durch seine körperlose Form noch verschlimmert wurden, doch ich mochte wetten, dass ich körperlich genug für uns beide litt, wenn ich mir anschaute, wie seine Träume mir des Nachts die Muskeln verdrehten. »Ich glaube, ich habe etwas von dem gesehen, was Temar über die Generationen hinweg wahrgenommen hat, wann immer jemandes Gefühle stark genug gewesen sind, um eine Verbindung zu ihm herzustellen – falls das irgendeinen Sinn ergibt.« Selbst im schwachen Mondlicht sah ich, dass Livak mich zweifelnd und verwirrt anblickte. Furcht jagte mir einen Schauder über den Rücken, als ich darüber nachdachte, was wohl geschehen würde, wenn Temars Träume auch mich einschlössen. Würde ich mich selbst durch seine Augen sehen? Ich setzte mich auf und blickte zu einem schwachen grünen Glühen, das 689
Shivs Zauberfeuer verriet. »Jetzt werde ich wohl nicht mehr schlafen können«, flüsterte ich. »Ich gehe mir die Beine vertreten.« »Wie du willst«, erwiderte Livak schläfrig und zog sich die Decke über den Kopf. Als ich mich Shiv näherte, sah ich, dass er sich leise mit Tonin unterhielt. Zwischen den ausgestreckten Beinen des Mentors stand eine kleine Truhe, und ich erkannte das schwache Schimmern von Gold im Zauberlicht. »Rysh.« Shiv blickte auf und lächelte mich freundlich an. »Kannst du nicht schlafen?« »Nicht ohne dass mein ungebetener Gast meine Träume übernimmt«, erwiderte ich so gelassen, wie ich konnte. »Wir haben darüber gesprochen, wie wir bei der Weitsicht morgen vorgehen sollen«, erklärte Shiv. »Habt Ihr damit gerade sagen wollen, dass Ihr wieder von der Kolonie geträumt habt?« Tonin hob neugierig den Blick; also griff ich in seine Truhe, um weiteren Fragen zuvorzukommen. »Was ist das?« Ich holte eine kleine Brosche heraus und ließ sie sofort wieder fallen, als ein Funke auf mich übersprang wie bei einem Katzenfell, das man zu lange reibt. »Ein paar der Artefakte aus der Kolonie.« Tonin nahm vorsichtig einen Ring heraus und wickelte ihn liebevoll in Seide. »Jetzt müssen wir nur noch die Leute finden, denen diese Sachen gehören«, seufzte Shiv laut genug, dass ein paar Köpfe unter ihren Decken hervorlugten. »Geht das bitte ein wenig leiser?« Die wütende Frage stammte von einem dunklen Bündel, in dem ich mit einigem Erstaunen Viltred erkannte. Ich hätte gedacht, dass der alte Zauberer auf dem Schiff bleiben würde, wenn man ihm die Wahl ließ. 690
»Erinnert dich etwas davon an irgendwen oder irgendwas?« Tonin hielt mir die kleine Truhe hin, und zögernd griff ich nach einem schlichten Goldring von der Art, wie ihn bei mir daheim die Männer noch immer ihren Frauen geben, als Erinnerung an die ersten Schritte ihres Kindes. Ich legte ihn mir auf die Hand und lockerte vorsichtig die Fesseln, mit denen ich Temar in meinem Geist gefangen hielt. Nichts geschah, was mich absurderweise enttäuschte. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Tonin nahm mir den Ring wieder ab und legte mir eine Gürtelkette über die Hand, die ganz leise klirrte, als Schlüssel, Messer und Börse daran sanft hin und her schwangen. Noch immer fühlte ich nichts, gab die Kette zurück und nahm Tonin die Truhe aus der Hand. Zum größten Teil enthielt sie Ringe, manche schlicht, andere mit üppigen Gravuren versehen, und ein paar mit großen Steinen besetzt. Auch Siegelringe waren darunter, die über Generationen hinweg vom Vater an den Sohn weitergereicht worden waren, bevor sie nun endlich wieder über den Ozean gesegelt waren, um ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben zu werden. Die Juwelen auf einigen der Schmuckstücke glitzerten sanft im Mondlicht. Ich griff tiefer hinein und fand einen schmalen Dolch in einer Elfenbeinscheide. Ein Lötfleck zeigte, wo das Heft repariert worden war – nach einem Streit mit Vahil, wie ich mich erinnerte –; ansonsten aber befand sich Den Domesins Schmuckstück, mit dem er seine edle Geburt hatte beweisen wollen, noch immer in hervorragendem Zustand. Ich lächelte, als ich mich an Albarns Verdruss erinnerte, nachdem er als Sohn eines Freisassen entlarvt worden war, dessen Familie bei der Flucht aus Dalasor ums Leben gekommen war. Der Augenblick ging vorbei, als Viltred von einem Husten691
krampf gepackt wurde und Tonin sofort zu ihm eilte, um ihn aufzusetzen. »Viltred, alles in Ordnung?« Ich drehte mich um und sah, wie Tonin dem alten Zauberer besorgt die Hand auf die Stirn legte. Selbst in diesem schwachen Licht kam mir Viltreds Farbe ungesund vor. »Was glaubst du denn?« Verärgert schlug der alte Zauberer Tonins Hand beiseite; dann jedoch packte ihn ein weiterer Anfall, der ihn nach Luft schnappen und die Hände auf die Brust drücken ließ. »Trink das.« Tonin ignorierte die aufbrausende Art des Alten und hielt ihm eine kleine Phiole an die bleichen Lippen. »Vertrau mir. Ich habe zuerst Heilkunst studiert, bevor ich mich der Äthermagie zugewandt habe. Ich sollte in den Konvent von Daemarion aufgenommen werden, als mein Vater entschied, ich solle erst noch mal was von der Welt sehen, bevor ich eine solch wichtige Entscheidung traf. Vanam hat mir von Anfang an gefallen. Irgendwie habe ich nie den richtigen Zeitpunkt gefunden abzureisen; dann habe ich meinen Silberring bekommen, und schon saß ich wieder am nächsten Vorhaben ...« Das beiläufige Geplapper des Mentors machte es Viltred unmöglich, ihn zu unterbrechen. Was auch immer in diesem Trank sein mochte, auf jeden Fall linderte er den Husten des Zauberers und ließ ihn wieder leichter atmen. »Ich glaube, wir alle sollten jetzt noch ein wenig schlafen«, sagte Tonin entschuldigend und schloss seine Truhe. Shiv gähnte. »Gut. Ich sehe dich dann am Morgen, Rysh.« Ich nickte und machte auf dem Absatz kehrt, kehrte aber nicht zu meiner Nische neben Livak in der großen Halle zurück. Ich hätte unmöglich wieder schlafen können, nicht solange 692
sämtliche Erinnerungen Temars an diesen Ort in meinem Kopf nach Aufmerksamkeit schrien. Vorsichtig schritt ich zwischen den schlafenden Gestalten hindurch und kletterte die Mauer zu einem Absatz hinauf, wo ich meine Füße auf einen alten, verwitterten Kragstein legen konnte. Ich atmete tief durch und machte es mir bequem, um auf den Morgen zu warten. Dann würde das alles aufhören, schwor ich mir; andernfalls würde Planir ein paar Fragen mit meinem Schwert an der Kehle beantworten müssen. Nur dass es nicht dein Schwert ist, ermahnte ich mich selbst; es gehört Temar, und es ist Temars Stil, Antworten mit dem Schwert zu erzwingen, nicht deiner. Ich hoffte, das entsprach der Wahrheit; allmählich fiel es mir immer schwerer, Temar und mich auseinander zu halten. Im Laufe der Nacht fand ich ein gewisses Maß an Trost in den regelmäßigen Schritten der Wachposten und in ihren leisen Gesprächen, wann immer sie Wachwechsel hatten. Schließlich ging die Sonne mit der Schnelligkeit auf, die Misaen für dieses Land für angebracht gehalten hatte, und von meinem Aussichtspunkt aus konnte ich beobachten, wie unser kleiner Trupp im Schutz der Mauern lag, die zu allen Seiten von milchigweißem Nebel umgeben waren. Zusammengerollte Gestalten regten sich und krochen aus ihren Decken, um sich zu erleichtern, einen Schluck zu trinken oder sich bei einem Stück Brot leise miteinander zu unterhalten. Die letzte Nachtwache wickelte sich dankbar in ihre Mäntel, zog die Kapuze über den Kopf und fluchte über die, die in der Nähe zu laut redeten. Ich sprang von der Mauer und ging auf den Erzmagier zu, kaum dass dieser sein Zelt verlassen hatte. Als Halice mir im Vorübergehen etwas zu essen anbot, winkte ich verärgert ab. »Wann könnt ihr mittels Weitsicht nach diesen Minen su693
chen, Planir?«, fragte ich ohne ein Wort des Grußes. »Sobald die Magier wach sind, die ich brauche, und etwas gegessen haben«, antwortete der Erzmagier. Er zeigte sich ein wenig überrascht ob meines frühen Erscheinens. »Wen braucht Ihr?« Ich war fest entschlossen, mit dem Schauspiel zu beginnen, sobald die Fiedler auf der Bühne waren. »Kann jemand bitte Viltred wecken?«, sagte Planir über die Schulter, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Ich bin schon wach, Erzmagier«, sagte der alte Zauberer gereizt. Er hielt einen dampfenden Becher Tisane in der Hand und rieb sich mit knochigen Fingern den Arm. »Was soll ich tun?« »Weitsehen«, antwortete Planir knapp. »Sar, wo steckst du?« »Hier.« Usara gähnte ausgiebig und verzog das Gesicht, während er sich mit zitternder Hand die Augen rieb. »Tut mir Leid. Ich habe es gestern wohl ein wenig übertrieben, als wir diesen Kanal im Flussbett freigeräumt haben.« Er nickte mir zur Begrüßung zu, zuckte aber unwillkürlich zusammen, als ich mich zu ihm umdrehte. »Was starrst du mich so an?«, fragte ich. »Ich glaube, die meisten von uns empfinden es als irritierend, wenn deine Augenfarbe sich so plötzlich verändert«, erwiderte Planir an Usaras Stelle. »Es ist in jedem Fall eine Wirkung, auf die ich in den Aufzeichnungen nie gestoßen bin, aber von den Träumen stand ja auch nirgends etwas geschrieben.« Mentor Tonin erschien neben mir und strich sich sein mit Tinte beschmiertes Wams glatt, bevor er einen Stapel Pergamente von einem aufmerksamen Schüler entgegennahm, den ich als seinen Schützling erkannte, Parril, einen Jungen aus Ensaimin mit drahtigem Haar, den ich für kaum alt genug hielt, eine Lehre 694
für kaum alt genug hielt, eine Lehre abgeschlossen zu haben; dennoch trug er den Silberring, den Vanam seinen Gelehrten verlieh. »Danke, dass Ihr erlaubt habt, schon so früh mit der Weitsicht zu beginnen, Erzmagier. Ich weiß Eure Freundlichkeit sehr wohl zu schätzen.« »Wo ist Naldeth?« Viltred schaute sich verärgert um, und der junge Magier drängte sich rasch durch eine Gruppe Krieger. »Wozu braucht Ihr mich?« »Für den Nexus.« Planir krempelte die Ärmel hoch, während Shiv eine flache Schüssel auf einen groben Holztisch stellte. Dann goss er Flusswasser in die Schüssel, und mit einem Fingerschnippen ließ er smaragdfarbenes Zauberlicht darin erscheinen. Dessen Strahlen spiegelte sich auf einem Kreis staunender Gesichter; die Söldner hatten sich um uns geschart und schauten schweigend zu. Ich unterdrückte das Verlangen, ihnen zu sagen, sie sollten gefälligst verschwinden und ihre Neugier auf etwas anderes richten. Viltred legte die Hand auf den Rand der Schüssel, und nun schimmerte sie mit einer Mischung aus blauem und grünem Licht. Usara nickte Planir zu, legte seine eigenen Hände auf die Seiten der Schüssel, und der Kreis der Farben bekam einen gelblichen Unterton. Dann streckte Naldeth die Hände über das Wasser aus, und ein Hauch von Rot schlich sich in das wirbelnde Muster. Das Wasser drehte sich immer schneller, und das flüssige Licht verwandelte sich in einen bunten Strudel, bis Planir beide Hände hineinsteckte und die Schüssel widerhallte wie das Läuten einer großen Tempelglocke. Ich hörte, wie ein Raunen durch die Reihen der Söldner ging, doch Planirs stahlgraue Augen fesselten meinen Blick. »Schau hin und sag mir, was du erkennst.« Der Erzmagier 695
breitete die Hände aus, und ein Bild erschien zwischen ihnen, ein Kreis mitten in der Luft, umrahmt von sich stetig verändernden Zauberfarben; die Klarheit der Vision inmitten des Morgennebels ließ mich staunen. Das Bild bewegte sich, bis ich die breite Flussmündung erkannte, wo das Schiff der Zauberer vor Anker lag. Ich blinzelte, während meine Augen schworen, dass ich mich bewegte, während meine Ohren ihnen widersprachen und mein Magen irgendwo in der Mitte war. Ich hatte noch nie unter Seekrankheit gelitten, doch nun hatte ich mit einem Mal mehr Verständnis für Leute wie Livak. Der Fluss flog unter dem magischen Spiegel davon. Die Ufer wurden immer schmaler und steiler; Wasser schäumte über Stromschnellen, und das weite Grasland der Küstenregion wich immer dichteren Wäldern, die bis zum Ufer hinunterreichten. Ich schwankte leicht, während die Vision mich davon überzeugte, dass ich irgendwie über diese Landschaft flog; es war jedoch nicht der Flug eines Vogels, sondern ein magischer Flug ohne jede Mühe. Vergeblich versuchte ich, am Rand des Bildes vorbeizuschauen – und dabei hätte ich es beinahe verpasst. »Da! Ein Stück zurück, am näher liegenden Ufer, das ist der Eingang zu der Kluft!« Ich rang mit den Worten, als Temars Erinnerungen schreiend aus ihrem Gefängnis ausbrachen, und ein Gefühl der Dringlichkeit, das ich nicht erklären konnte, erfüllte mich mit Angst. Planir schloss einen Augenblick die Augen, und das Bild wirbelte umher. Flüstern und Raunen verrieten mir, dass ich nicht der Einzige war, dessen Magen sich bei diesem Anblick drehte. Das Sonnenlicht in dem Zauber fiel in eine Kluft, ein schmales Tal, wo Farne und Büsche fast vollständig einen reißenden Bach verbargen, der rauschend zum Fluss hinabströmte. 696
»Wo genau ist das?«, wollte Planir wissen und betrachtete die Vision aufmerksam. »Von der Bergbausiedlung ein Stück flussaufwärts.« Ich gab die Antwort, bevor mir überhaupt bewusst war, dass ich sie kannte. »Temar und Den Fellaemion ist es gelungen, die Überlebenden mit Booten herauszubringen. Dann sind sie zu den Minen marschiert, um so weit wie möglich von den Molen wegzukommen.« Eine Flut von Erinnerungen drohte mich zu überwältigen: das Schreien, das Weinen, die Wutausbrüche, als jene, die nur noch ihr Leben zu verlieren hatten, in die unwegsamen Hügel kletterten. »Wissen wir, wo das ist, Sar?« Der Erzmagier drehte sich zu dem jüngeren Zauberer um, dessen Gesicht vor Anstrengung verzogen war, während er all seine Kraft auf den Zauber konzentrierte. »Ja«, antwortete er knapp. Planir klatschte in die Hände, und die unheimliche Vision war verschwunden; nur ein schwaches Muster davon war vor meinen Augen geblieben, die ich mir nun eifrig rieb. Der Ring der Söldner löste sich auf. Neugier und Zweifel lagen in ihren Stimmen, während sie das Gesehene leise diskutierten. »Erzmagier!« Kalion drängte sich zu uns durch; seinem fetten Gesicht war die Wut deutlich anzusehen. »Herdmeister«, begrüßte Planir ihn mit ausgesuchter Höflichkeit. »Warum hat man mich für diese Weitsicht nicht geweckt? Ich dachte, dass ich die erste Wahl gewesen wäre, um den Nexus zu verankern, und ...« »Erzmagier!« Alle drehten sich zu Shiv um. Er beugte sich noch immer über die flache Silberschüssel, nur dass er nun 697
alleine zauberte. »Mir ist die Idee gekommen, mir mal den Fluss auf der anderen Seite der Wasserscheide anzusehen. Vielleicht, dachte ich mir, kommt man von dort ja besser dorthin. Jetzt seht Euch einmal an, was ich gefunden habe!« Wir drängten uns um ihn und blickten in das schimmernde Wasser. In der Schüssel waren drei Schiffe zu sehen, die sicher in ruhigem Gewässer lagen. Sie ankerten in einer kleinen Bucht, die ich von Temars Begegnung mit der gekaperten Lachs her kannte. Die Gesichter meiner Gefährten um mich herum waren todernst. »Dort haben die Elietimm die Schiffe der Kolonie angegriffen«, erklärte ich Tonin, der daraufhin nachdenklich nickte und ein altes Stück Pergament entfaltete. Auf dem Bild in der Schüssel sah keines der Schiffe größer aus als ein Kinderspielzeug; doch auf Kinderspielzeugen liefen keine winzigen Gestalten herum, jedenfalls nicht außerhalb von Hadrumal. »Könnte das eine Täuschung sein?«, fragte ich plötzlich und erinnerte mich an die Illusionen, welche die Eisländer auch früher schon mit tödlichem Erfolg eingesetzt hatten. »Ich wüsste nicht warum«, antwortete Planir nachdenklich. »Sie haben keinen Grund anzunehmen, dass wir hier sein könnten.« »Bist du sicher?« Otrick drängte sich neben den Erzmagier. »Sind sie uns vielleicht hierher gefolgt?« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Planir. »Könntest du den Radius vergrößern, Shiv? Zeig mir etwas von der Küste. Nein ... da ... das Lager sieht gut ausgebaut aus. Ich würde sagen, das ist eine Art Basis, um das Landesinnere zu erkunden. Zurück zu den Schiffen, wenn du so freundlich wärst, Shiv ... Schaut. 698
Dieses Schiff hat nur eine Hilfstakelung, und bei dem Schiff, das etwas höher liegt, sieht man deutlich Algenbefall vom langen Liegen.« Der Erzmagier hob den Blick und schaute uns an. »Ich würde sagen, das ist eine Expedition, die den Sommer hier verbracht, Erkundungsvorstöße gemacht und Karten gezeichnet hat. Doch es scheint offensichtlich zu sein, dass das Interesse der Elietimm an diesem Land genauso drängend ist wie unseres.« Er wandte sich an mich. »Falls Messire D’Olbriot hier wieder eine Kolonie errichten will, furchte ich, dass er ein paar der anderen Bewohner wird hinauswerfen müssen.« »Diese Arbeit können wir dem Sieur gerne abnehmen«, sinnierte Kalion und legte die Stirn in Falten. »Das ist der Feind, nicht wahr?« Arest drängte Kalion beiseite, blickte in die Schüssel und verzog düster das Gesicht, als der fette Magier versuchte, seinen Platz zurückzuerobern, bevor er sich einen besseren besann. »Danke, dass Ihr Euch zu uns gesellt habt«, begrüßte Planir den Krieger mit einem Hauch von Ironie. »Nun, was wollt ihr unternehmen?«, wollte der hünenhafte Söldner wissen. »Wenn ich mir die Größe ihrer Schiffe so anschaue, haben sie vier- bis fünfmal so viele Männer wie wir. Wenn sie uns finden, sind wir tot. Entweder müsst ihr sie töten oder gefangen nehmen.« »Wie weit sind sie entfernt?«, erkundigte sich Planir nachdenklich bei Shiv. »Nicht mehr als eine Hand voll Tage per Schiff.« »Zu nah.« Der Erzmagier verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Ihr habt Recht, Korpsmeister. Wir dürfen nicht riskieren, dass sie in uns in den Rücken fallen, sobald sie 699
Wind von uns bekommen.« »Ihr wollt sie einfach töten?« Tonin riss entsetzt die Augen auf. »Nennt mir einen guten Grund, warum wir es nicht tun sollten«, entgegnete Arest. »Wenn sie uns finden, werden sie uns erschlagen, ohne mit der Wimper zu zucken!« »Solche Entscheidungen sind Teil des Preises, den man bezahlen muss, wenn man sich an den höchsten Tisch setzt.« Kalion schien die Aussicht auf die Vernichtung so vieler Menschen nicht im Mindesten zu stören. »Das ist eine Frage der Staatskunst, Mentor.« »Ich werde die Bastarde aus dem Spiel werfen.« Otricks Augen sprühten blaues Feuer, als er die Hände über die Schüssel hielt. »Ich möchte sie nicht unnötig in Alarmbereitschaft versetzen.« Planir legte Otrick warnend die Hand auf den Arm. »Nutze Wind und Wasser. Arbeite mit Shiv zusammen, und wirf die Schiffe einfach auf die Felsen da. Das wird für den Augenblick genügen.« »Keine Drachen?«, fragte Otrick und blickte den Erzmagier an wie ein Terrier, der sich auf einen Mastiff stürzen will. »Keine Drachen«, bestätigte der Erzmagier in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Livak schlüpfte neben mich, während wir alle mit unverhohlener Neugier zuschauten, wie die beiden Magier die Köpfe übers Wasser beugten. Der Himmel über den winzigen Schiffen verdunkelte sich. Wolken trieben vom Meer heran, zuerst weiß, dann grau und schließlich drohend schwarz. Blitze zuckten aus den dunklen Wolkentürmen hervor – ein seltsamer Anblick, wenn man den 700
nachfolgenden Donner nicht hörte. Wo das Wasser gerade noch klar und blau gewesen war, war es nur weiß von Schaum, als die Wellen an Ankerketten zerrten, und die Schiffe buckelten wie wilde Pferde. Die winzigen Gestalten an Bord rannten hierhin und dorthin, refften Segel und befestigten losgerissene Taue. Wir sahen, wie sie vor etwas zusammenzuckten. Hagel ging auf die Schiffe nieder, und schließlich rissen die Wellen die Anker vom Meeresboden los und trieben die Schiffe unerbittlich in die tödliche Umarmung des Felsenufers. Ich spürte, wie Livak neben mir ihr Gewicht verlagerte. »Geh zur Seite, Schlampe.« Viltreds harte Worte überraschten mich, und als ich den Kopf hob, geschahen drei Dinge binnen eines Atemzugs. Livak zog einen Dolch aus dem Gürtel und stürzte sich auf den alten Zauberer, jedoch nur, um sofort von Kalions rotem Feuerblitz zurückgeschleudert zu werden. Viltred ignorierte sie beide und legte stattdessen die Hände um Otricks ebenso dürren Hals; sein Sturmlauf war so rasant, dass er dabei den Tisch mit der Schüssel umwarf. Der Relshazrizauberer war zwar nicht groß, aber groß, genug, da Otricks robuste Persönlichkeit in einem eher zerbrechlichen Körper lebte. Viltred hatte ihn sofort zu Boden geworfen und bot all seine Kraft auf, um dem Wolkenmeister den Hals zu brechen. Ich drehte mich nach Livak um. Benommen hockte sie auf dem Boden und rieb sich die verbrannten Hände. »Alles in Ordnung?« »Seine Augen, Rysh, seine Augen!« Auf diese Worte hin packte ich ein Büschel von Viltreds Haar, riss ihm den Kopf zurück und sah in seinen Augenhöhlen nur schwarze Leere. 701
»Elietimmmagie!«, rief ich. Kaum war es heraus, betäubte ein furchtbarer Schmerz meine Hände, die daraufhin in mein eigenes Gesicht schlugen und mich auf die Knie schickten. Ein bernsteinfarbener Blitz zuckte hörbar durch die Luft, und durch Tränen des Schmerzes hindurchsah ich, wie Viltred sich in den Ketten von Planirs Zauber wand. »Tonin, tu etwas!«, brüllte der Erzmagier wütend und fluchte, während Viltred sich in seinen Fesseln wand. Blaues Feuer kroch die goldenen Bänder hinauf und setzte Planirs Ärmel in Brand. Der Erzmagier verzog das Gesicht vor Schmerz, doch seine Konzentration ließ nicht nach. Der Mentor breitete seine Pergamente auf dem feuchten Gras aus und warf sie nacheinander beiseite; dann begannen er und Parril mit einem zitternden Gesang. Livak griff nach mir, und ich half ihr auf die Beine, obwohl ich selbst kaum stehen konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Shiv und Naldeth sich um den gefallenen Otrick kümmerten, während Kalion einen Kreis aus Feuer um Planir und Viltred wob; Letzterer kämpfte noch immer wie ein Wilder gegen die magischen Fesseln an. Dann zerriss ein Schrei die Morgenluft, und Viltred brach zusammen. Sämtliche Magie verschwand, und die Söldner riefen uns von allen Seiten erschrocken Fragen zu. Planir lief zu Viltred und nahm ihn in den Arm. Die mörderische Wut in seinem Gesicht stand in krassem Gegensatz zu der Sanftheit, mit der er Puls und Atmung prüfte. Mentor Tonin wühlte hektisch in seinen Taschen herum, doch als er die kleine Phiole schließlich fand, musste er erkennen, dass seine Medizin nicht mehr benötigt wurde. »Haben wir es geschafft? Haben wir ihn wieder zurückgeholt, bevor sein Herz versagt hat?«, fragte der Gelehrte mehr sich 702
selbst als uns. Planir schüttelte nur den Kopf; unbändige Wut funkelte in seinen stählernen Augen. »Passt auf die Eindringlinge auf!« Temars Stimme ertönte so laut in meine Kopf, dass ich unmöglich glauben konnte, dass die anderen im Lager es nicht ebenfalls gehört hatten. Erschrocken sprang ich auf und schob alle Fragen betreffs Viltreds Tod beiseite. »Passt auf die Elietimm auf!«, brüllte ich nur einen Augenblick, bevor schwarz gewandete Gestalten wie aus dem Nichts mitten unter uns erschienen, und schon bald troffen ihre blanken, hungrigen Klingen vom Blut der überraschten Opfer. Die Söldner reagierten rasch und stürmten los, sich der Herausforderung zu stellen, doch es dauerte nur einen Augenblick, bis ihnen auffiel, dass der Feind an ihnen vorbeilief, um wahllos Gelehrte und Zauberer abzuschlachten. Livak an meiner Seite lief ich zu Planir. Minare rannte mit einem Trupp zu uns herüber; alle wollten wir die Zauberer beschützen, die sich verzweifelt im Kreis um ihren Erzmagier geschart hatten. Tonin wiederum versuchte, zu einer seiner Schülerinnen durchzukommen, einer jungen Frau, deren dunkelblaue Augen blind und leblos in den Himmel starrten. Ihr Tod war offensichtlich, doch Tonin war das offenbar egal. Plötzlich brachten zwei Söldner ihn brutal zu Fall und schleppten ihn in Sicherheit. »Mach, dass du hinter mich kommst, du Narr«, verfluchte Minare den weinenden Mentor und stieß ihn dem verwirrten Parril in die Arme. »Sie ist nur noch ein totes Stück Fleisch, und du solltest jetzt erst mal deinen eigenen Arsch retten!«
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Minares Jungs bildeten einen bedrohlichen Ring aus Stahl um die Magier. Die Klingen nach außen gerichtet, schlugen sie auf die Angreifer ein, die sich immer wieder vorwärts warfen. Inzwischen wurden sie auch von hinten angegriffen, doch es kümmerte sie nicht. Sie hatten nur ein Ziel – den Tod der Zauberer, auch wenn es sie das eigene Leben kostete. Ich parierte einen Hieb nach meinen Knien und schlug selbst von unten nach oben, um dem Mann die Hand abzuschlagen. Kurz trafen sich unsere Blicke, und ich sah Wahnsinn und Hass in den eisigen blauen Augen lodern. Das Leben strömte mit dem Blut aus der klaffenden Wunde, doch der Eisländer riss den Dolch aus dem Gürtel, um sich selbstmörderisch an mir vorbei auf Shiv zu stürzen. Während ich mit ihm rang und unsere Füße auf dem blutgetränkten Boden wegzurutschen drohten, schlich Livak sich unter ihn und stieß ihm das Messer ins Gekröse. Der Elietimm verkrampfte sich in meinen Armen; dann warf er den Kopf zurück, und Schaum spritzte zwischen seine blutleeren Lippen hervor. Ich stieß den Kerl von mir; er starb, noch bevor er den Boden berührte. Eine große Flammenwolke griff nach der fernen Sonne, und ich sah, wie Kalion den Boden um sich herum in Brand steckte. Ein Häuflein panischer Gelehrter krallte sich in sein Wams, während die Flammen gierig an ihren Stiefeln leckten. Die Hand voll Elietimm, die dem Feuersturm entkommen waren, starben durch die Hand von Lessay und seinen Kriegern, die hinter ihnen herangekommen waren und darauf brannten, sich an jenen zu rächen, die sie so schmählich hatten überraschen können. Binnen weniger Augenblick erschallte Arests harte Stimme durchs Lager, dessen steinerne Mauer sich als vollkommen 704
unzulänglich zur Verteidigung erwiesen hatte, und die Söldner eilten, um Wasser, Verbandsmaterial und Salben für die Verwundeten zu holen. Ich nahm Livak in die Arme, nachdem sie ihre Dolche weggesteckt hatte, und wir schauten uns nach Halice und Shiv um. Sie waren zusammen. Shiv war kreidebleich, während Halice ihm den blutigen Ärmel aufriss. »Ich habe Kleider, die ich weniger oft hab nähen müssen als dich, Zauberer«, bemerkte sie rau, aber mitfühlend, und wusch den Dreck aus dem tiefen Schnitt über Shivs Handgelenk. »Wer immer dich den Umgang mit einer Klinge gelehrt hat – die Verteidigung hat er dabei offenbar vergessen. Ich werde dir wohl oder übel ein paar Lektionen erteilen müssen!« »Lasst das! Shiv! Zu mir!« Planir hob die arg zerbeulte Silberschüssel vom Boden auf, als er auf uns zukam. Dann wischte der Erzmagier mit der Hand über die Schüssel, und die letzten Reste des Morgennebels wurden hineingezogen und lagerten sich als kleine Lache auf dem schmutzverschmierten Boden ab. »Deine Hand.« Planir ergriff Shivs vom Blut glitschige Finger. Auch Planirs Hände waren verletzt; die Verbrennungen von Viltreds Feuer waren deutlich zu sehen. Ein vielfarbiger Blitz erschuf ein Bild in der Schüssel, ein Bild der Bucht, in der die Elietimmschiffe gelegen hatten, doch nun waren weder sie noch das Lager zu sehen, nicht mal eine Spur davon. »Scheiße!«, fluchte der Erzmagier. »Tonin, mach, dass du herkommst!« Der noch immer zitternde Mentor spähte in die Schüssel, schüttelte langsam den Kopf und rang mit den Händen. »Sind sie noch immer da? Verstecken sie sich, oder sind sie woanders hin?«, wollte Planir wissen. 705
Erneut schüttelte Tonin den Kopf. »Ich habe keine Möglichkeit, das herauszufinden, Erzmagier.« »Wir Kämpfer haben drei Tote und eine Hand voll Verwundeter, zwei davon schwer«, erklärte Arest, nachdem er zu uns gekommen war. »Was ist mit den Gelehrten?« Parril blickte unglücklich um Tonins Schulter herum. Tränen zogen bleiche Streifen durch den Dreck auf seinem Gesicht. »Sie haben Keir und Levia getötet, Mentor ...« Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Das bedeutete, dass zwei von drei Gelehrten entweder tot oder verwundet waren ... und dabei verließ mich auf sie und ihr Wissen, um mich von Temars Tyrannei zu befreien. »Was ist mit den Zauberern?« Arest schaute sich um und fluchte. Ich folgte seinem Blick und sah Kalion neben einer reglosen Gestalt knien. Es handelte sich um einen der beiden Mantelträger, die sich auf der Reise so geflissentlich um das Wohlbefinden des Herdmeisters gekümmert hatten, ein jungenhafter Zauberer, dessen Namen ich mir nie gemerkt hatte. Als der fette Zauberer sich erhob, war sein Gesicht geschwollen und purpurn; in seinen Augen brannte eine Wut, die furchtbare Rache versprach. »Holt Shannet und ihr Mädchen vom Schiff«, befahl Planir und ließ sowohl Shivs Hand als auch die Schüssel los. »Arest, bilde mit deinen Männern einen Verteidigungsring, während wir arbeiten. Kalion, hierher, wenn es Euch beliebt. Seid so nett, und errichtet mit Shannet zusammen eine Barriere um diesen Ort, und tarnt ihn gleich auch. Ihr könnt jeden dafür einsetzen – außer mir, Usara und Shiv.« Kalion nickte. Entschlossenheit zeigte sich auf seinem Gesicht, nun da er eine Aufgabe hatte. »An mir wird nichts vor706
beikommen außer Glut im Wind!« »Und für den Wind werde ich sorgen«, krächzte Otrick heiser und rieb sich mit zitternder Hand den Hals. Der Erzmagier wirbelte auf dem Absatz herum, um Tonin herausfordernd anzufunkeln. »Mentor, wer ist Euer fähigster noch unverletzter Adept?« »Parril«, antwortete Tonin zitternd und blickte zu seinem Schüler neben sich. »Dann arbeitet mit allen anderen zusammen, ob verwundet oder nicht, um uns vor dieser Äthermagie zu verbergen und zu beschützen«, befahl der Erzmagier in strengem Tonfall. »Und fangt sofort damit an, wenn es Euch nichts ausmacht.« »Was wollt Ihr von dem Jungen?«, fragte Tonin und kramte wieder einmal in seinen Pergamenten herum. »Ihr werdet flussaufwärts gehen, Gelehrter.« Planir packte den jungen Gelehrten, der ihn offenen Mundes anstarrte, und drehte ihn zu mir um. »Ryshad, wir müssen diese Höhle finden, und zwar schnell. Du und Shiv, ihr werdet das Boot nehmen. Sar kommt ebenfalls mit, und nehmt euch so viele von Arests Söldnern, wie er entbehren kann. Die Elietimm werden so schnell wie möglich hierher kommen. Wenn sie das Meer überquert haben, steht ihnen vermutlich Magie zur Verfügung, mit der sie das Wetter beeinflussen können; also dürfte ihre Ankunft nicht lange auf sich warten lassen. Kalion, Otrick und ich werden die Flussmündung eine Zeit lang halten können; aber je schneller ihr die Kolonisten findet, desto glücklicher werden wir alle sein!« Ich fühlte Temars wilde Freude in meinem Hinterkopf. »Natürlich, Erzmagier«, erwiderte ich, auch wenn es mir nicht leicht fiel. 707
»Ich kann für euch kundschaften, und Minare können wir um ein paar seiner Leute bitten«, meldete sich Livak, die gerade Shivs Arm festhielt, während Halice die Nadel ansetzte. »Geh den Fluss rauf, Rysh«, sagte Halice. »Geh und such ihn, während wir uns hier um alles andere kümmern.« Ich tat, wie mir befohlen, und der Morgen war erst halb vorbei, da hatten wir das Schiff bemannt und für die Flussfahrt umgerüstet. Ich stand an Deck und blickte zum Den-RannionAnwesen. Nirgends war ein Kopf in dem Grünzeug zu sehen, obwohl ich nur allzu genau wusste, dass Bogenschützen nun jeden noch intakten Teil des Wehrgangs bewachten, bereit, jederzeit einen tödlichen Pfeilhagel auf die Feinde niederregnen zu lassen. Ebenso unsichtbar war Kalions Magie, die das gesamte Areal mit einer Verteidigung aus elementarem Feuer umgab, wie Shiv mir versicherte, während Planirs Macht unter unseren Füßen entlangkroch, und Otrick uns die Winde brachte. Parril hatte die ätherische Verteidigung geprüft, indem er wiederholt versucht hatte, mit seinen Kollegen Kontakt aufzunehmen, und jedes Mal hatte er an Selbstvertrauen dazu gewonnen, wenn er dabei versagt hatte. »Bist du sicher, dass du es richtig machst?«, wollte Livak von dem jungen Gelehrten wissen – einen Augenblick, bevor ich eine taktvollere Version der gleichen Frage hatte stellen können, doch Parril schien nicht im Mindesten beleidigt zu sein. »Ziemlich sicher, Mylady«, antwortete er im kultivierten Tonfall von Selerima, einer der großen Handelsstädte in WestEnsaimin. »Ich bin einer der Besten in dieser Kunst, soweit wir sie bis jetzt verstehen«, fügte er stolz hinzu. »Weißt du, was du tun musst, um die Kolonisten wieder zum Leben zu erwecken?«, fragte ich und versuchte, mir meine Ver708
zweiflung nicht anmerken zu lassen. Immerhin hatte ich inzwischen herausgefunden, dass Parril deutlich älter war, als ich zunächst vermutet hatte; er besaß bloß ein kindliches Gesicht mit seiner Stupsnase und Sommersprossen. Seine reumütigen haselnussbraunen Augen verrieten mir, dass er diese Art von Reaktion durchaus gewöhnt war, als er bestätigend nickte und Tonins kleine Truhe an die Brust drückte. »Auf der Reise werde ich weiter an meinen Theorien arbeiten«, versicherte er mir ernst. Das Wort ›Theorie‹ hatte etwas beunruhigend Unsicheres an sich; aber daran konnte ich wohl nichts ändern. Außerdem hatte der Junge sich immerhin einen Silberring als Zeichen seiner Gelehrsamkeit verdient. Ich winkte Halice zu, die daraufhin den Söldnern zunickte, die mit ihr am Ufer warteten. Sie warfen die Haltetaue des Schiffes ins Wasser, worauf ich die Hand in Richtung Shiv hob, der neben dem Kapitän am Ruder stand. Gegen Strömung und Flut, ohne einen Fetzen Segel an den Masten und mit Bogenschützen in den Wanten, fuhr das Schiff flussaufwärts, erst langsam, dann schneller, und die Gischt vor seinem Bug leuchtete in grünem Licht. »Jetzt werden wir die Sache zu Ende bringen, so Arimelin will«, murmelte Livak, stellte sich neben mich und bot mir einen Becher Tisane an. Ich trank einen Schluck der dampfenden Flüssigkeit, und die Kräuter brannten mir im Hals. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte ich sie. »Ich würde verstehen, wenn du nie mehr auch nur in die Nähe von Äthermagie kommen willst.« »Und bei Planir bleiben? Riskieren, von einem Elietimm aufgeschlitzt zu werden, der sich für einen Schattenmann hält, oder von Kalion gebraten zu werden, wenn er ein bisschen zu 709
übereifrig wird?« Livak schüttelte den Kopf. »Da würde ich lieber einen von Poldrions Dämonen zu einer Partie Runen herausfordern, um eine kostenlose Überfahrt in die Anderwelt zu bekommen!« »Welch aufmunternder Gedanke.« Ich trank einen weiteren Schluck Tisane und verzog das Gesicht. »Nun, ich bin froh, dass du bei mir bist, nachdem du mich auf der Überfahrt so offen gemieden hast.« »Ich musste viel nachdenken.« Livak blickte in Richtung der nächsten Flussbiegung. »Ich musste entscheiden, ob ich dich so sehr will, dass ich dich so nehmen würde, wie du jetzt bist.« »Und?« »Ja.« Livaks Blick blieb hart. »Doch ich werde dafür sorgen, dass alles getan wird, um diesen D’Alsennin ein für alle Mal aus deinem Kopf zu jagen.« Trotz der ernsten Lage fühlte ich mich mit einem Mal seltsam glücklich. Während ich beobachtete, wie wir am Ufer vorbeiglitten, das mir unbekannt, Temar aber vertraut war, fiel es mir immer schwerer, die Verteidigung in meinem Unterbewusstsein aufrecht zu erhalten. Wir erreichten die Kluft im selben Augenblick, da die Sonne hinter den moosbewachsenen Felshängen über uns versank. Der Kapitän lenkte das Schiff vorsichtig in einen toten Arm und verzog das Gesicht, als ein Knarren unter dem Rumpf verriet, dass wir über den Grund rutschten. »Und wohin jetzt, Shiv?«, fragte ich, als die beiden Zauberer und Parril sich zu mir und Livak an die Reling gesellten. »Ich habe keine Ahnung. Ich meine, es ist der richtige Ort, das steht fest, aber ich kann nicht bestimmen, wo die Höhle ist.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mit Weitsicht gesucht, 710
und da ist nichts, gar nichts.« »Irgendetwas hält mich davon ab, auf der anderen Seite dieses Grabens unter der Erde zu suchen.« Usara legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Das muss etwas zu bedeuten haben.« »Parril?« Ich blickte zu dem jungen Gelehrten, der sich schützend ein Pergament vor die Brust drückte und die Augen weit aufgerissen hatte. »Tut ... Tut mir Leid«, stammelte er, »aber ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken.« »Was anderes konnten wir ja wohl auch nicht erwarten, wenn der Ort vor Äthermagie abgeschirmt ist.« Livak gelang es, nicht allzu verächtlich zu klingen. »Lasst uns Usaras Führung folgen. Buril und Tavie, ihr kommt mit uns.« Offenbar reichte Halices Wort, um Livak eine gewisse Autorität über die Söldner zu verleihen, und die beiden Genannten kletterten rasch ins Beiboot, während die restlichen Krieger zurückblieben, um das Schiff zu bewachen. Ich folgte ihnen langsamer. Meine Gefühle waren zunehmend verwirrt. Einerseits weigerte ich mich, Kontakt zu dieser uralten Magie aufzunehmen, andererseits wollte ich unbedingt Temar aus meinem Schädel bekommen, damit ich nicht ständig dagegen ankämpfen musste, dass er seinen Schatten auf meine Augen und Hände warf. Als wir schließlich einen Felsvorsprung mit einem kräftigen Baum erreichten, an dem wir das Schiff festmachen konnten, war ich leicht benommen. Das Gefühl wurde schlimmer, kaum dass ich mit den Füßen auf der Erde stand, und mit jedem Schritt in die schmale Kluft drehten meine Sinne sich immer wilder und verwirrender, während ich den Eindruck hatte, die Felswände würden gegen mich vorrücken und jeden Moment über mir zusammenzubrechen. 711
»Es ist sinnlos. Ich kann keinen Höhleneingang finden«, sagte Usara merklich verärgert. »Hier gibt’s auch nichts«, rief einer der Söldner, ein stiernackiger Mann mit harten Gesichtszügen und gebrochener Nase. »Und hier auch nicht«, bestätigte sein Kamerad. Er hieß Tavie, ein stämmiger Schläger mit beachtlichem Bierbauch. Livak blickte von einem schmalen Grat herunter, auf dem sie wie eine Bergziege entlang lief. »Es sieht aus, als wäre hier niemand mehr gewesen, seit Misaen es erschaffen hat«, bemerkte sie. »Shiv?« »Was?« Der Zauberer blickte von einer Pfütze auf, wo er seine Magie gewirkt hatte. »Nein, ich sehe nichts, das uns nützlich sein könnte.« Mit todernstem Gesicht drehte er sich zu mir um. »Der Einzige, der diese Höhle finden kann, ist Temar D’Alsennin.« Meine erste Regung war, nach dem Schwert zu greifen; stattdessen steckte ich die Hände in den Gürtel. »Was meinst du damit?« »Du musst dafür sorgen, dass Temar uns den Weg zeigt.« Usara verschränkte die Arme vor der Brust. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, Ryshad.« Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich wollte meinen Trotz hinausschreien, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Livak rutschte an einem Baum herunter, trat zu mir, nahm mein Gesicht in die Hände und blickte mir in die Augen. »Schau mich an, Rysh«, sagte sie leise. »Arimelin schütze uns, ich will das nicht noch einmal sehen, aber nur wenn wir diese Höhle finden, wirst du ihn wieder los, stimmt’s? Bei Saedrins Eiern, ich weiß, was wir von dir verlangen, ich weiß es besser als jeder andere, aber du musst es tun, um dich selbst zu retten.« 712
Sie hatte Recht, verflucht sollte sie sein. Und verflucht sei der Tag, an dem Messire mir dieses unheilige Schwert gegeben hatte. Was blieb mir für eine Wahl? Der Tod? Wenn ich Temar D’Alsennin hinter mir lassen könnte, damit er seinen eigenen Handel mit Saedrin abschließt – wäre es dann wirklich so schlimm, in die Anderwelt überzugehen und zu sehen, was das Leben dort zu bieten hatte? Ich war so müde, so verflucht müde, erschöpft von dem immer härteren Kampf, meine Verteidigung gegen Temar aufrecht zu erhalten. Ich war nicht einmal mehr sicher, ob ich mich selbst noch kannte, so viel hatte sich in den vergangenen Jahreszeiten geändert. Konnte ich mir selbst vertrauen? Nicht wirklich, aber eines wusste ich: Ich konnte Livak vertrauen. Ich ergriff ihre zitternde Hand und küsste sie mit trockenen Lippen. Dann schloss ich die Augen, legte die andere Hand auf das Heft des Schwertes und verlor mich in einer bodenlosen Dunkelheit.
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Die Bergbausiedlung von Kel Ar’Ayen 43. Nachsommer
Temar blinzelte und stolperte. Er war verwirrt, plötzlich aufrecht zu stehen, und so packte er einen in der Nähe stehenden Baum, um sich zu stützen. Warum war er an diesem Ort aufgewacht? Oder war dies wieder nur einer dieser quälenden Träume, die der Zauber ihm bescherte, einer von jenen, wo ihm plötzlich die Normalität aus den Fingern gerissen und er wieder ins Dunkel gestürzt wurde? Nein, das war Wirklichkeit; das war Tageslicht. Er spürte den unebenen Fels unter seinen Füßen und die feuchten Blätter an seiner Hand. Er roch die grüne Frische der Blumen und Sträucher um ihn herum, und er atmete die feuchte, warme Luft tief ein. Dies war die Wirklichkeit, keine Vision einer verbotenen Realität, die ihn zum Wahnsinn verführte. Die erste Freude schwand jedoch rasch und wich einem unangenehmen Kopfschmerz und einem tückischen Gefühl von Schwäche in den Gliedern. War er krank gewesen? Er erinnerte sich verschwommen an das Fieber in seiner Kindheit. Nein, daran sollte er besser nicht denken. Als er damals wieder aus dem Fieberwahn erwacht war, hatte er seinen Vater und seine Geschwister für immer verloren. Das war nun schon so lange her, dass er sie vermutlich nicht einmal erkennen würde, wenn er sie irgendwann in der Anderwelt traf. Neben ihm sprach zögernd eine Stimme, und Temar runzelte die Stirn. Er konnte dem seltsamen, rasch dahingeplapperten Satz keinen Sinn entnehmen. Wer war dieser Mann? Offenbar 714
stammte er aus einem fernen Land und sprach eine fremde Zunge. Er schien gut zehn Jahre älter als Temar zu sein, ein wenig größer, und er besaß langes schwarzes Haar und gelbliche Haut. Auch seine Kleidung war recht seltsam. Ein blutiger Verband ragte unter den Überresten des Ärmels eines Leinenhemds hervor. »Temar D’Alsennin?«, versuchte der Mann es erneut, diesmal langsamer. Auch wenn der Akzent nach wie vor hart klang, erkannte Temar seinen eigenen Namen. Er nickte vorsichtig und stellte die offensichtliche Frage: »Wer bist du?« Der Mann runzelte die Stirn; dann tippte er sich auf die Brust und sagte langsam: »Shiv.« Das war nicht gerade eine aufschlussreiche Antwort, und Temar fragte sich, warum der Fremde so unruhig wirkte. Kurz schloss er die Augen und durchforstete seine Erinnerungen, wobei er auf seiner verzweifelten Suche nach den letzten Augenblicken, bevor der Zauber ihm seinen Geist genommen hatte, das Chaos aus seinen Träumen beiseite stieß. Das war’s. Mittels der Kunst hatte man ihn einschlafen lassen, um sicher auf Hilfe warten zu können. Temar öffnete die Augen wieder und trat herausfordernd auf den Mann zu. »Wie bin ich hierher gekommen?« Der Mann zuckte hilflos mit den Schultern und blickte an Temar vorbei zu jemandem hinter ihm. Wütend über sich selbst, weil er sich so hatte überrumpeln lassen, wirbelte Temar herum und fand sich einer Übermacht gegenüber. Er trat einen Schritt zur Seite, damit die Felswand seinen Rücken schützte. »Wir sind hier, um Euch zu helfen«, sagte ein Junge, der ein paar Jahre jünger war als Temar. Sein stupsnasiges, bleiches 715
Gesicht war angespannt, und er hielt ein kleines Buch in der Hand, das voller uralter Notizen und Pergamentfetzen war. »Mein Name ist Parril, und ich weiß etwas über Zauberei.« Er wählte seine Worte mit äußerster Sorgfalt; dass er es ernst meinte, war offensichtlich. »Über das, was Ihr als die Kunst kennt«, fügte er rasch hinzu. Das war ja alles schön und gut, doch Temar sorgte sich mehr um die anderen Leute, die er sah. Zwei kräftige Männer, die wie Leibwächter aussahen, standen ein Stück den Hang hinauf und blickten ihn neugierig an, während eine verführerische Blume mit zerzaustem rotem Haar unmittelbar vor ihm stand. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte ihn mit grasgrünen Augen hasserfüllt an. Temar schreckte ein wenig vor diesem Blick zurück. Er fragte sich, wie er diese Dame beleidigt haben mochte – obwohl ›Dame‹ wohl etwas übertrieben war angesichts ihrer Hose und dem Wams eines Mannes. Das letzte Mitglied dieser Bande von Briganten war ein ruhiger Mann von durchschnittlicher Größe mit dünnem, sandfarbenem Haar und listigen Augen. Er trug eine Art lange Robe und keine Waffen – jedenfalls keine, die Temar sehen konnte. War er eine Art Priester? Temar schaute sich erneut um und erkannte mit einiger Erleichterung, dass nur die beiden auf dem Hang sowie die Frau Waffen zu tragen schienen. Falls es zu einem Kampf kommen sollte, waren die Runen also doch nicht so sehr gegen ihn. Dann legte er die Hand in die Hüfte und atmete beruhigt auf, als er das Schwert an seiner Seite spürte, und instinktiv blickte er zu der Waffe hinunter. Was er sah, erschütterte ihn zutiefst. Es war nicht seine Hand. Diese hier war älter, breiter, mit Waffenöl unter den Nägeln und kleinen Narben auf den Knöcheln. Es war die Hand von jemandem, der hart arbeitete ... und die 716
andere Hand sah genauso aus. Temar streckte die Hände von sich. Er konnte sein Zittern nicht beherrschen und sperrte entsetzt den Mund auf. Das waren die Hände eines Handwerkers; kein Mann von edlem Geblüt besaß solch grobe Finger. Der große Saphirring, der seinem Vater gehört hatte, war ebenfalls verschwunden, doch ein tiefer Eindruck am Mittelfinger bewies eindeutig, dass er einst dort gewesen war. Hatte er den Verstand verloren? War er schlussendlich doch dem Wahnsinn unterlegen, der ihn immer wieder in der Dunkelheit des Zaubers gequält hatte? Das Entsetzen drohte ihn zu überwältigen. Taumelnd sank er auf die Knie, ohne auf die spitzen Steine zu achten. Die Szene vor ihm bewegte und veränderte sich; alles war verzerrt, als blicke er durch ein billiges, schlechtes Glas. »Komm.« Der Mann mit Namen Shiv packte ihn unter den Armen und half ihm aufzustehen. Temars Sicht klärte sich wieder, doch die Verwirrung wuchs, als er feststellte, dass er eigentlich größer war als dieser Mann, nicht kleiner. Er blickte an sich hinunter und sah lange, muskulöse Beine in einer fleckigen Lederhose, die bis zu Stiefeln hinunterreichte, die viel größer und länger waren, als sie eigentlich hätten sein sollen. Temar war sicher, niemals eine derartige Fußbekleidung besessen zu haben. Was war mit ihm geschehen? Der Schreiber, oder was immer er war, eilte auf seine andere Seite. »Ihr steht unter einem Zauber, den Lady Guinalle über Euch gewirkt hat. Wir sind hier, um Euch und Eure Gefährten wiederherzustellen, falls wir die Höhle finden könnten, in der sie verborgen sind.« Guinalle! Alle anderen Sorgen waren vergessen, als Temar 717
diesen einen Namen in den langsam gesprochenen Worten hörte. Guinalle würde ihm helfen! Sie würde wissen, warum er sich auf so Furcht erregende Art verwandelt hatte! Sie würde all die Fragen beantworten können, die ihn spöttisch und drohend umkreisten! »Wo ist Guinalle?« Der Mann mit dem Verband schien seine Gedanken gehört zu haben. Temar schüttelte die Hände des Mannes ab und verzog das Gesicht; langsam kehrte das Gefühl in seine Hände und Füße zurück. »Was wollt ihr von Guinalle?« »Wir wollen sie wiederherstellen, sie wecken«, antwortete der Junge mit dem Buch zögernd. »Wir brauchen ihre Hilfe, um uns gegen die Eindringlinge von jenseits des Meeres zu verteidigen«, meldete sich der nachdenkliche Mann in Braun. Auch er sprach mit diesem seltsamen Akzent und wählte seine Worte mit großer Sorgfalt. Das rothaarigen Mädchen sagte etwas Schnelles, Wildes, wovon Temar kein einziges Wort verstand; für ihn war ihre Sprache nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Geräuschen. Der Junge kramte in einer Tasche und hielt Temar einen Ring hin, einen angelaufenen, verbeulten Bronzering, in den ein Wappen graviert war, das man jedoch nur noch als Schatten erkennen konnte. Es war das Wappen des Hauses Den Rannion, und der Ring glich jenen, wie Pächter sie trugen, um jedermann ihren Rang und Status zu zeigen. »Vahil!« Die Erinnerung kehrte wieder zu Temar zurück, und eine schwache Hoffnung keimte in ihm auf. »Vahil hat es nach Hause geschafft? Hat er euch geschickt?« Der Mann mit Namen Parril zögerte, doch die beiden anderen Unbewaffneten antworteten im Chor: »Das hat er, denn wir 718
brauchen Eure Hilfe im Kampf gegen die Männer aus dem Meer.« Temar schauderte, als er sich plötzlich an die Eindringlinge erinnerte. »Sind sie hier?« »Noch nicht, aber sie sind unterwegs«, antwortete der Mann mit dem Verband. »Wir müssen die Höhle finden, bevor sie hier eintreffen«, fügte der Mann in Braun hinzu und brachte damit den Jungen zum Schweigen, der immer verwirrter dreinschaute. Temar schloss für einen Moment die Augen, rieb sich mit der Hand über den schmerzenden Kopf ... und hielt unvermittelt inne, als er kurze Locken spürte. »Was ist mit mir geschehen?«, fragte er; allerdings mehr, um seiner Qual Ausdruck zu verleihen, als in Erwartung einer Antwort. Der Rotschopf spie ihm etwas zu, doch der Mann mit dem Verband wies sie mit schnell und seltsam gesprochenen Worten zurecht. »Guinalle wird dich wiederherstellen können.« Der braun gewandete Mann trat einen Schritt vor und bot Temar die blasse Hand an. »Wir wollen keinem von euch schaden. Wir wollen euch helfen.« Temar streckte eine zittrige Hand aus und ergriff die dünnen Finger seines Gegenübers. Kontakt mit einem anderen Lebewesen stärkte ihn. Dies hier war mit Sicherheit kein Traum, keine Illusion aus Furcht und verworrenen Erinnerungen. »Wo ist Guinalle?«, fragte der Mann. Sein Gesicht war freundlich, doch Anspannung lag in den Augen. Guinalle würde alle Antworten haben, dachte Temar erneut. Guinalle würde wissen, was zu tun ist. Vielleicht wusste sie 719
sogar, wer diese seltsamen Leute waren, die Vahil geschickt hatte. Er musste Guinalle finden! Er drehte sich um und ließ den Blick durch die Kluft schweifen. Zu seiner Verzweiflung war sie weit dichter bewachsen, als er sie in Erinnerung hatte, und der Bach rann inzwischen schäumend in Richtung Fluss. War das überhaupt der richtige Ort? Kleine Eichen hielten sich entschlossen in Felsspalten fest, und ihre Äste wandten sich zum Licht. Auch Eschen und Haselnusssträucher wuchsen hier. Während der Winterstürme musste es zu schweren Erdrutschen gekommen sein, wenn das Land sich so verändert hatte, überlegte Temar verzweifelt. Während er mühsam am Bachbett entlangkletterte, suchte er an den Felswänden nach einem Hinweis auf den Eingang. Panik keimte in Temar auf, und er drehte sich unvermittelt um. Die Fremden beobachten ihn und warteten. »Sucht, verflucht noch mal!«, schrie er plötzlich wütend. »Helft mir!« »Nach was suchen wir denn?«, rief der junge Parril nach einer kurzen verlegenen Pause. »Nach einem schmalen Felsvorsprung, der zu in den Stein gehauenen Stufen führt. Von dort gelangt man in eine kleine Höhle, die in eine weitaus größere mündet.« Temar schaute sich hilflos um. »Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte.« »Denk an Guinalle«, sagte der Mann mit dem Verband, während er über die Felsen kletterte. »Lass dich von deinen Instinkten leiten.« Während der Mann sprach, war Temar plötzlich fest davon überzeugt, dass Guinalle sich in unmittelbarer Nähe befand. Er drehte sich im Kreis wie ein Hund, der nach einer Fährte suchte. 720
Dann setzte er sich rasch in Bewegung und ließ seinen fremden Körper blind durchs Bachbett stolpern, bis er gegen den Fuß einer tückischen Geröllhalde stieß. Temar blinzelte, um wieder klarer sehen zu können. Seine Schläfen pochten. Als er nach oben schaute, sah er in der Ferne eine ihm vertraute Hügelkette vor dem blauen Himmel und vor sich die schweren Steine, die den Höhleneingang versperrten. »Sie ist hier«, sagte Temar hilflos. Das rothaarige Mädchen kletterte rasch und geschickt über die Felsen ein Stück den Hang hinauf und dann auf die lange, gefährliche Halde. Einer der Schwertkämpfer versuchte, ihr zu folgen, verlor jedoch den Halt, fiel und erntete nur Schrammen und Beulen für seine Mühen. Das Mädchen spie ihm etwas hinterher, das nur Flüche sein konnten, und der Mann errötete verlegen und ging zum Bach, um seine Wunden zu kühlen. Langsam kletterte das Mädchen die Halde hinauf. Alle schauten ihr schweigend zu. Es herrschte vollkommene Stille, abgesehen von gelegentlich herunterrollenden Steinen, die das Mädchen dann und wann lostrat. Kurz hielt sie an, um an einem größeren Felsen Halt zu suchen, blickte nach unten und rief die ersten Worte, die Temar bei ihr verstand. »Passt auf eure Köpfe auf!« Sie begann, Steine ins Wasser hinunterzuwerfen, deren Platschen laut von den Felswänden widerhallte. Schon bald war ein dunkler Fleck an der Felswand zu erkennen, ein Loch in der Flanke des schmalen Tals. »Sei vorsichtig, Livak!«, rief der Mann mit Namen Shiv, als die Rothaarige vorsichtig die Beine herumschwang und durch die kleine Öffnung kroch. Temar stand einfach nur da und blickte wie alle anderen zum Loch im Fels hinauf. 721
»Ja! Hier ist es!« Das Gesicht des Mädchens Livak erschien wieder in der Bresche, bleich, aber triumphierend; ihre Stimme klang nun weitaus freundlicher für Temars Ohr. »Sieh zu, dass du da wegkommst, ich mache den Eingang frei!«, rief der Mann in Braun nach oben und krempelte entschlossen die Ärmel hoch. Das Mädchen nickte und kletterte rasch auf einen Felsvorsprung über der Öffnung. Temar sah offenen Mundes zu, wie der Mann die Hände auf die Felsen zu seinen Füßen legte und ein unheimliches goldenes Glühen die Halde hinaufwanderte. Zunächst mit Flüstern, das jedoch rasch zu einem wilden Grollen anwuchs, flossen die Felsen, die Felsen, wie Wasser beiseite. Welle um Welle rollte aus dem Eingang, bis dieser vollständig freigelegt war. Ein letztes Rumpeln ging durch die Halde, und ein paar Steine kullerten vor Temars Füße; dann verschwand das Glühen. Er starrte den Mann an. »Was bist du?« »Mein Name ist Usara.« Der Mann lächelte und verneigte sich. »Ich bin Zauberer.« Staunend schüttelte Temar den Kopf. »Ich wirke Magie, aber nicht auf die gleiche Art wie Lady Guinalle. Mein Kollege Shiv und ich, wir folgen einem anderen Pfad.« »Komm!« Livak, der Rotschopf, funkelte Temar erneut böse an. »Bringen wir’s hinter uns!« Die tückische Halde hatte sich in einen sicheren Weg verwandelt, und Temar lief immer schneller, um endlich den Höhleneingang zu erreichen. An der Schwelle blieb er kurz stehen und blinzelte in die Dunkelheit, doch die alte Angst vor solchen Orten war nichts im Vergleich zu dem Verlangen, endlich Guinalle zu finden. Ein Glühen an seiner Seite ließ ihn sich umdre722
hen, um nach einer Fackel zu greifen, doch was er sah, war eine blassgelbe Flamme, die unbekümmert auf der flachen Hand des Zauberers flackerte. »Mach dir keine Sorgen.« Der andere, Shiv, hob seine eigene Hand, um ein grünliches Licht zu erschaffen, das sich in den nackten Felsen zu spiegeln schien. »Hilf uns nur, Guinalle zu finden.« Temar musste nicht noch einmal gedrängt werden, sich von diesen seltsamen Leuten mit den noch seltsameren Talenten zu entfernen. Er eilte die groben Stufen hinunter, hinter sich das rätselhafte Licht, als die anderen ihm folgten. Am Fuß der ungleichmäßigen Treppe blieb er kurz stehen und schaute sich in der riesigen Höhle um. Sein Herz klopfte in seiner Brust, doch mit jedem Pulsschlag kehrten Kraft und Mut zu ihm zurück. Die Höhle war von den Bergleuten stark vergrößert worden, erinnerte sich Temar. Sie hatten sie aus dem lebenden Fels herausgehauen; Kerben in der Wand zeigten noch, wo Pickel und Spitzhacke getroffen hatten. Die Decke war zerklüftet und unregelmäßig gewölbt wie gefrorene Wellen. Die Luft war still und nicht übermäßig kalt; dennoch jagte die unheimliche Stille Temar einen Schauder über den Rücken. Er zwang sich zu einem weiteren Schritt, als seine ungewollten Gefährten sich hinter ihm drängten. Sie betraten die riesige Höhle wie ein Mann, und ihre Schritte hallten hart durch die düstere Stille. Unruhig drängte sich der Junge mit dem Buch an Temar vorbei, während die beiden Kämpfer sich staunend anschauten und dann zum Eingang zurückblickten. Die beiden Männer mit dem unnatürlichen Licht traten links und rechts neben Temar und ließen das Leuchten bis in die entferntesten Winkel der Höhle dringen. Niemand betrat jedoch die eigentliche Höhle, 723
bemerkte Temar überrascht; das überließen sie dem Mädchen Livak. Vorsichtig trat sie einen Schritt vor, dann noch einen. Es waren die leisen Schritte eines Diebes auf Sandboden. Sie ging zwischen Strohsäcken und Matratzen hindurch, groben Betten aus dicht zusammengepackten Mänteln und Decken. Über ihrem Kopf schwebte das blasse Licht des Zaubers, um ihr an jeder freien Stelle eine reglose Gestalt zu enthüllen: Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, bärtige Handwerker, gesetzte Matronen, Kinder, die sich in Erinnerung an jenen ersten, kurzen Schlaf im Bauch ihrer Mutter zusammengerollt hatten. Temar beobachtete, wie das grünäugige Mädchen sich langsam zwischen den erstarrten Körpern hindurch bewegte, und sein Kopf pochte vor Anspannung. Die meisten sahen friedlich aus, als würden sie schlafen; andere hatten die Stirn in Falten gelegt oder die Gesichter vor Furcht verzogen. Hier glitzerte eine Träne in einem Auge; dort stand ein Mund halb offen wie zu einem letzten Protest. Einige trugen Verbände; altes Blut war schwarz und braun. Diese Leute schliefen nicht. Sie waren ungewöhnlich blass und unnatürlich steif. Vorsichtig legte Livak einem jungen Mann die Hand auf die Wange und schauderte. »Das ist, als würde man eine Marmorstatue anfassen«, sagte sie leise, und ihre Worte wurden als Echo durch die gesamte Höhle getragen und hinauf in die Dunkelheit unter der Decke. »Wo könnte Guinalle liegen?« Parril zupfte zögernd an Temars Ärmel. Seine Augen waren groß und schwarz im schwachen Licht der Zauberer. Temar runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher. Sie dürfte die Letzte gewesen sein, die sich schlafen gelegt hat, nachdem sie die Höhle und damit auch die Kunst versiegelt hat, also ...« 724
Seine Worte verhallten, als er sich umschaute. Sein Blick blieb an einem Feldbett haften, das ein Stück abseits der ordentlichen Reihen stand. Er eilte darauf zu; der Junge folgte ihm. Verzweifelte Hoffnung keimte in Temar auf, und Tränen traten ihm die Augen. »Sie ist wunderschön«, sagte der Junge. Temar fand keine Worte, ihm darauf zu antworten, als er auf Guinalles reglose Gestalt hinunterblickte. Sie trug schlichtes cremefarbenes Leinen unter einem groben, ungefärbten Wollkleid. Ihr volles, haselnussbraunes Haar war der einzige Farbklecks an ihr. Einzelne Locken waren an ihr blasses Gesicht gefroren, das so weit entrückt wirkte wie der entferntere der beiden Monde. Zwischen ihren Brüsten schimmerte eine Kristallphiole mit silbernem Verschluss, und sie hielt ein ordentlich gefaltetes Pergament in den Händen. Temar streichelte ihr übers Haar, doch wo es einst weich und fließend wie Seide gewesen war, war es nun hart und steif. »Wenn sie das ist, dann mach voran.« Livak erschreckte sowohl Temar als auch Parril, als sie plötzlich auf leisen Sohlen neben ihnen erschien, sich bückte und Guinalle das Pergament aus der Hand nahm. »Los, Parril, jetzt musst du dich nützlich machen.« Sie warf Temar einen giftigen Blick zu, und er spürte wieder diesen stechenden Schmerz im Kopf. Der Junge, Parril, blätterte hastig in seinem Buch, und seine Lippen bewegten sich stumm, während er mit den Fingern über eine Seite fuhr. »Richtig«, schnaufte er schließlich und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Ich glaube, ich kann es.« Er nahm die Kristallphiole und schloss Guinalles weiße Finger darum. Dann entfaltete er das Pergament und blickte blinzelnd auf die fließende Schrift. Endlich räusperte er sich und begann 725
zu lesen. »Ais margan arsteli sestrinet ...« Seine zittrigen Worte hallten durch die große Höhle, und eine furchtbare Schwäche überkam Temar, sodass er hilflos auf alle viere sank. Das Gesicht dicht vor dem Guinalles, bemerkte er, dass sie nun grau statt weiß geworden war, und einen schrecklichen Augenblick sah er den Schädel unter ihrer makellosen Haut. Irgendetwas tief in Temar schrie vor Schmerz und Zorn, doch diese einsame, gequälte Stimme ertrank sofort in einem körperlosen Heulen, das von allen Seiten auf ihn eindrang. Der faulige Geruch einer Leichenhalle drohte ihn zu ersticken, und er rang nach Atem. »Nein«, keuchte er, »nein, hör auf, du bringst uns um!« »Hast denn überhaupt keinen Rhythmus im Blut? Trimon verfluche dich, du unmusikalischer Hohlkopf!« Livak riss Parril das Pergament aus der Hand. »Ais marghan, ar stelhi, sess thrinet torre ...« Ihre klangvolle Stimme hallte hoch und klar in der Leere, während sie die Kadenz in der alten Zunge sang, und Temar blinzelte sich die Tränen der Verzweiflung aus den Augen. Dann hörte er ein weiteres Geräusch. Zuerst leise und zögernd begann Guinalles schlafende Gestalt zu atmen, und Temar sah, wie der Kuss des Lebens ihre Lippen rosa färbte. Blut wärmte ihre blassen Wangen, und die unnatürliche Steifheit verschwand aus ihrem Leib und ihren Kleidern. Die Falten ihres Kleides entspannten sich und legten sich um ihren Körper; dann bewegten sich die Locken, als der Atem sie erreichte. Plötzlich erzitterte sie am ganzen Leib und schlug die Augen auf; neugierig und verwundert blickte sie die Gesichter über sich an. Niemand sagte ein Wort. Guinalle runzelte verwirrt die 726
Stirn. Sie streckte die Hand aus und berührte Temars Gesicht, der neben ihr kniete; sein Herz strömte über von Gefühlen, sodass er keinen Laut hervorbachte. »Bist du wirklich? Ich habe von dir geträumt, in einem fernen Land, weit weg von deiner Familie und deinen Freunden. Ist das auch wieder ein Traum?« Temar ergriff ihre feine Hand, um sie zu wärmen. »Das ist kein Traum. Du bist jetzt wach, Guinalle. Vahil hat Hilfe geschickt, um uns alle zu retten!« Guinalle setzte sich unvermittelt auf; tiefe Verwirrung lag in ihrem Blick. Dabei rollte die Kristallphiole über ihren Rock, fiel zu Boden und zerbarst. Der starke Geruch von Parfüm ließ sie nach Luft schnappen. »Ich erinnere mich, ich erinnere mich! Der Schlaf, die Höhle ...« Sie schaute sich mit großen Augen um und riss sich von Temar los. »Guinalle«, sagte Temar mit tränenerstickter Stimme und griff nach ihr. Der bestürzte Blick, den sie ihm zuwarf, traf ihn mitten ins Herz. »Wer bist du?«, fragte sie, plötzlich vorsichtig geworden, und zog sich ein Stück von ihm zurück. »Was willst du von mir?« »Ich bin es. Temar.« Er verstand das nicht. Warum erkannte sie ihn nicht? »D’Alsennin ist irgendwie im Körper eines unserer Gefährten wieder zum Leben erweckt worden«, sagte Livak zu Guinalle. Sie zwang sich, deutlich und langsam zu sprechen; für Temar hatte sie nur einen kurzen, hasserfüllten Blick übrig. »Dieses Schwert hat irgendetwas damit zu tun ... was, weiß ich nicht genau. Du musst Temar wieder in seinen eigenen Körper schicken. Und bete zu Arimelin, dass unserem Gefährten nichts geschehen ist!« 727
Guinalle rieb sich die Augen, als hätte sie noch mit den Nachwirkungen ihres langen Schlafs zu kämpfen. Dann hob sie den Kopf und musterte Temar aufmerksam. »Ja, jetzt sehe ich es ... die Augen, die Gesten, all das kenne ich, aber das Gesicht, der Körper ... kein Wunder, dass ich dich nicht erkannt habe, Temar.« »Was sagst du da?« Nun war es an ihm, sich instinktiv zu verteidigen. »Ich weiß, dass ich mich verändert habe, aber der Zauber ...« »Sieh mich an.« Guinalle studierte seine Augen, und er sah Verwunderung in ihrem Gesicht. »Sieh dir einmal deine Hände an«, forderte sie ihn auf. »Fühl dein Haar.« Sie strich ihm mit den Fingern über die kurzen Locken. »Was tust du da?«, rief Temar. »Kennst du mich denn nicht?« »Ich kenne dich, Temar D’Alsennin – niemand kennt dich besser –, aber nicht in dieser Verkleidung«, sagte Guinalle, und zum ersten Mal schimmerte ein Hauch ihres alten Wesens durch. »Du musst diesen Mann zurückkehren lassen und dich wieder schlafen legen, bis wir dich auf ordentliche Art wecken können. Du hast gegen die Kunst angekämpft und sie verdreht, sie zerbrochen, sodass sie in den Geist eines unschuldigen Mannes hat eindringen und seinen Körper hat stehlen können! Das war nie beabsichtigt.« Temar hielt ihrem Blick nicht stand. Er schaute wieder auf seine Hände und sah erneut die sonnengebräunten, rauen Handwerkerhände anstatt der schmalen, feinen eines Edelmannes, und von dem Siegelring seines Hauses war keine Spur zu erblicken. Furcht packte ihn, und seine Feigheit stieß ihn ab. »Ich kann nicht. Ich kann das nicht noch einmal durchmachen«, flüsterte er und erinnerte sich an das Ekel erregende, 728
erstickende Gefühl des Ertrinkens, als ihm der Zauber seinen Geist gestohlen hatte. »Das kann ich nicht tun. Verlang das nicht von mir!« »Dann willst du als Dieb weiterleben, der diesem Mann den Leib gestohlen hat?« Guinalles haselnussbraune Augen wirkten hart im grünen Zauberlicht, ihr Tonfall war unnachgiebig. »Wo willst du dann noch hingehen? Auf beiden Seiten des Ozeans ist für solch eine Abscheulichkeit kein Platz!« Temar schnappte unter der Wucht ihrer Worte nach Luft, und die Tränen traten ihm in die Augen. »Wie kannst du so etwas sagen?« Vorsichtig stand Guinalle auf und streckte die Hand aus. »Komm mit mir, wer immer du sein magst.« Noch ein wenig unsicher auf den Beinen, ging sie durch die Reihen der Schlafenden. Die Fremden, die Temar an diesen Ort begleitet hatten, folgten in einiger Entfernung. Die rothaarige Frau kramte in ihrem Gürtelbeutel und legte die andere Hand gefährlich auf einen ihrer Dolche. Guinalle erreichte eine einsame Gestalt in einer Nische. Sie lag auf dem Rücken, die Hände vor der Brust gefaltet, doch die Finger umschlossen nur Luft. Temar blickte auf sich selbst hinunter, auf sein schmales, eckiges Gesicht, die blutleeren Lippen und die dünnen schwarzen Augenbrauen, die sich scharf von der blassen Haut abhoben – harte Striche über geschlossenen, blinden Augen. »Wir haben dich hier hinuntergebracht, nachdem wir die Kunst an dir angewendet haben«, murmelte Guinalle und blickte in eine unbestimmte Ferne. »Vahil hat dein Schwert genommen. Er und Den Fellaemion sagten mir Lebewohl; dann habe ich mich selbst schlafen gelegt.« Sie schaute sich in der Höhle um und seufzte. »Ich habe mich so einsam gefühlt, so unendlich 729
einsam.« »Jetzt bin ich ja hier.« Wieder kämpfte Temar mit den Tränen. »Nein, bist du nicht. Du bist nicht mehr als ein böser Traum, der diesen Mann quält. Du kannst nicht in diesem Körper leben, ohne dass ihr beide wahnsinnig werdet.« Guinalle schüttelte den Kopf. »Temar, hör mir zu. Vertrau mir. Du musst dich noch einmal den Fesseln der Kunst ausliefern, bis ich dich wieder zu dir selbst zurückbringen kann.« »Das ... Das kann ich nicht!«, rief Temar. »Wie kannst du das von mir verlangen?« Von plötzlicher Wut erfüllt, packte er sie und kämpfte mit dem Verlangen, sie so lange zu schütteln, bis sie ihn verstand. »Um der Liebe willen, die wir einst geteilt haben«, erwiderte Guinalle so sanft, dass Temars Wut verrauchte. »Das bist doch nicht du, Temar, oder?« Temar starrte sie entsetzt an, dann die fremden Hände, mit denen er Guinalle gepackt hielt, und schließlich seine eigenen. Plötzlich hallte ein wilder Zorn durch seinen Kopf; ein wütendes Verlangen nach Freiheit hämmerte gegen seinen Schädel und machte ihn blind, taub und stumm. Der Augenblick ging vorüber, doch der Angriff brachte ihn ins Wanken. »Ich kann mich der Dunkelheit nicht noch einmal stellen«, flehte er; er konnte nicht anders. »Vertrau mir.« Guinalle legte ihm die kühlen Hände auf die Schläfen, und der Schmerz in seinem Kopf ließ ein wenig nach. »Leg das Schwert in deine eigenen Hände zurück«, sagte sie ruhig. »Alles wird gut, Liebster.« Kurz blickte sie beruhigend zu den Fremden, die still und angespannt warteten. Mit ungeschickten Fingern löste Temar den Schwertgürtel 730
und schob die Waffe in die gefühllosen Hände jenes Körpers, der einst der seine gewesen war. Dann überkam ihn Schwäche, und er kniete nieder. Die Kraft in seinen Beinen verließ ihn, als Guinalle mit tränenerstickter Stimme einen Gesang anstimmte. Der Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung, der aus seiner Kehle drang, jagte das Blut durch Temars Adern, doch als er blind aufzustehen versuchte, fiel er nach vorn – und wusste nichts mehr.
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Kel Ar’Ayen 43. Nachsommer
Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, lag ich über einem Körper, so kalt und hart wie Stein. Entsetzt stieß ich mich von ihm ab und stellte fest, dass ich schwach wie ein halb ertrunkenes Kätzchen war und ebenso wenig sprechen konnte. Ich schnappte nach Luft, schlang die Arme um die Brust, und Übelkeit stieg in mir auf und drohte, mich zu ersticken. Eine Hitzewelle trieb mir den Schweiß aus den Poren. Ich war benommen, und mein Kopf klingelte wie ein ganzer Glockenturm. Ich schluckte, denn meine Kehle war rau von den gequälten Schreien eines anderen Mannes. »Pssst, lass mich.« Livak war neben mir, zog mich fort und setzte mich an die raue Wand einer Höhle. Sie kniete vor mir, packte mich an den Schultern und blickte mir in die Augen. »Ryshad?« Ich nickte, und sie warf sich an meine Brust und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals, wo ich ihre erleichterten Tränen spürte. Dann legte auch ich die Arme um sie und drückte sie an mich, zunächst schwach, dann mit immer größerer Kraft. Das Verlangen, mich zu übergeben, verschwand, und ich spürte, wie der Schweiß auf meiner Haut in der Kälte der Höhle rasch abkühlte. »Geht es dir gut?« Ich erkannte Guinalle sofort, doch während ich ihre Stimme in meinen Träumen immer klar und deutlich gehört hatte, hatte ich nun Mühe, ihren langsamen, seltsam klingenden Worten zu folgen. 732
»Ja, es geht mir gut ...« Ich nickte, so gut ich es mit Livaks dickem Haar konnte, das mich beinahe erstickte. »Erinnerst du dich ...?«, begann Guinalle zögernd. Ich hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ja«, antwortete ich knapp. »Es ist egal. Ich möchte nicht darüber sprechen.« Guinalle brachte ein halb reumütiges, halb erleichtertes Lächeln zustande und drehte sich zu Temar um. Ich löste mich aus Livaks Umarmung, rappelte mich auf und blickte auf den Körper des Mannes hinunter, gegen dessen Geist ich in meinem Kopf nun schon so lange angekämpft hatte. Livak gesellte sich zu mir und legte mir den Arm um die Hüfte. Temar sah sehr jung aus, und ich erkannte mit überwältigender Erleichterung, dass ich von seiner Unsicherheit, seiner Unbeherrschtheit, von all seinen jugendlichen Fehlern befreit war. Nicht dass diese böse Erfahrung keine Spuren bei mir hinterlassen hätte; aber darum würde ich mich zu gegebener Zeit kümmern. Im Augenblick reichte es mir zu wissen, dass ich wieder Herr in meinem Kopf war. Liebevoll legte Guinalle die Hand auf Temars wächserne Stirn, und ich schauderte, als unsichtbare Finger meine eigene Haut wie ein schattenhaftes Echo berührten. »Alles in Ordnung?« Livak trat vor mich und schaute mich besorgt an; dabei stieß ihr Fuß an einen Dolch auf dem Boden. Ich erkannte ihn als ihren, und ich bückte mich, um ihn aufzuheben. »Sei vorsichtig damit.« Livak nahm ihn mir rasch ab und stieß die Klinge wiederholt in einen Fleck feuchter Erde, bis das ölige Zeug auf der Klinge verschwunden war. »Was hattest du denn damit vor?« Ich starrte sie verwundert an. 733
»Seine Lordschaft war nicht gerade erpicht darauf, deinen warmen Körper wieder gegen seinen kalten einzutauschen.« Livak funkelte Temars reglose Gestalt an. »Ich wollte ihm gerade die Entscheidung abnehmen, als er nachgegeben hat. Sollte er sich doch mit einer Dosis Than im Blut gegen den Runenwurf wehren.« Ich drückte Livak an meine Brust. »Danke für deine Sorge, aber mach dem Jungen keine zu großen Vorwürfe.« Ich schloss die Augen, als ich mich kurz an das widerwärtige Gefühl erinnerte, in einer endlosen Dunkelheit eingesperrt zu sein, abgeschnitten von jedweder Empfindung. »Nachdem ich einen Eindruck davon bekommen habe, was er durchgemacht hat, kann ich nicht behaupten, dass ich mich anders verhalten hätte.« Die Welt durch Temars Augen zu sehen, hatte mich an die Macht jugendlicher Gefühle erinnert, an diese Mischung aus Furcht und Ungestüm, die mich zuerst zum Thassin und dann in den Dienst von Messire getrieben hatte. Livak schnaufte und murmelte irgendetwas vor sich hin, als die anderen sich vorsichtig näherten. Die Söldner wirkten besonders unruhig. »Was tun wir jetzt?«, wollte Tavie in trotzigem Tonfall wissen, verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust und hob die Lippe wie ein Hund die Lefze. »Wir sind hierher gekommen, um diese Höhle zu finden, und hier ist sie. Was nun?« Ich blickte zu Shiv und Usara, diese wiederum zu Parril schauten. »Nun, ich habe viele der kleinen Gegenstände dabei, die wir für vielversprechend halten«, sagte er. »Sollen wir mal schauen, wen wir wieder zum Leben erwecken können?« Fragend blickte er zu Guinalle. »Lass mich einmal sehen.« Sie streckte die Hände aus, und 734
Parril gab ihr vorsichtig die kleine Truhe und hockte sich neben sie, um sie zu öffnen. Guinalle untersuchte die Ringe und Schmuckstücke und blickte dann mit großen Augen zu uns hinauf. »Wie lange haben wir geschlafen?« Verunsichert tauschte ich einen Blick mit Shiv und Usara, doch Parril antwortete sofort: »Ungefähr vierundzwanzig Generationen, soweit wir es beurteilen können.« Guinalles Mund klappte auf, und sie starrte den Jungen ungläubig an. »Was? Wie? Ich meine ...« Die unzähligen Fragen in ihrem Kopf machten es ihr unmöglich, auch nur ein Wort hervorzubringen, und Parril legte ihr unbeholfen den Arm um die Schulter in dem sinnlosen Versuch, sie zu trösten. »Wir sind gekommen, um Euch zu finden, denn wir benötigen Eure Hilfe gegen den Feind, der diese Kolonie vernichtet hat.« Usara kniete sich vor Guinalle, ergriff ihre Hände und blickte ihr in die Augen. »Alle Eure Fragen werden zu gegebener Zeit beantwortet, aber im Augenblick brauchen wir Eure Hilfe. Eure Kunst ist bei unserem Volk schon lange in Vergessenheit geraten, und die Elietimm, die Männer, die euch angegriffen haben, setzen sie nun gegen uns ein. Werdet Ihr uns helfen?« Guinalle kämpfte um eine Antwort. »Ich ...« »Stellt alles andere erst einmal zurück, und denkt nur über diese eine Frage nach.« Usaras Stimme war ruhig und beruhigend, aber ich hörte auch die Dringlichkeit hinter seinen Worten. »Wir benötigen Eure Hilfe, sonst werden noch mehr Menschen durch die Hand dieser Eindringlinge sterben.« Guinalle blinzelte und rieb sich mit zitternder Hand die Tränen aus den Augen. »Was ich tun kann, werde ich tun«, seufzte sie. 735
»Sollen wir das wirklich so machen?« Parril schaute sich in der großen Höhle um; Unsicherheit lag in seinen Augen. »Ich meine, in der Theorie hörte sich das alles schön und gut an, aber ...« »Was sollen wir denn sonst tun, nachdem wir jetzt schon so weit gekommen sind?« Shiv zog ein Pergament aus Parrils Buch. »Ich glaube nicht, dass wir Guinalle einfach so hier zurücklassen können. Ist das hier eine Liste jener Leute, von denen ihr glaubt, dass sie die ursprünglichen Besitzer dieser Artefakte sind?« Parril stand hastig auf. »Das haben wir aus den Träumen geschlossen – die häufigsten Bilder, die wir gesehen haben. Seht Ihr? Diese Gürtelkette hier, alles deutet darauf hin, dass sie einer älteren Frau mit auffälligen Pockennarben gehört, und ...« Shiv drückte die Liste dem kleinen Gelehrten in die Hand. »Lies sie vor. Tavie und Buril, ihr kommt mit mir und sucht nach Leuten, auf die seine Beschreibungen zutreffen könnten.« Die Söldner blickten sich verunsichert an, bevor sie sich zu Shiv und Usara gesellten und langsam durch die Höhle schritten, während Parril laut die nicht gerade schmeichelhaften Beschreibungen der Leute auf seiner Liste vorlas. »Oh, ihr Götter.« Guinalle unterdrückte ein zögerndes Lächeln. »Mistress Cullam hat sich immer lieber als robust oder kräftig bezeichnet, aber nicht als fett« »Kannst du das schaffen?« Livak blickte Guinalle zweifelnd an. Die schlanke Frau hob das Kinn, und in ihren Augen flackerte Entschlossenheit. »Das kann ich, aber zuerst sollten wir so viele Adepten der Kunst wecken wie möglich. Sie werden mich dabei unterstützen, die anderen zurückzuholen.« 736
»Kannst du sie für uns identifizieren?« Ich trat einen Schritt in Richtung der anderen. »Einen Augenblick.« Guinalle drehte sich zu Temars regloser Gestalt um. »Ich kann ihn nicht länger in der Dunkelheit lassen.« Sie kniete nieder, um ihre Hände auf Temars zu legen, die das Schwert umklammert hielten. Ich packte Livaks Finger so hart, dass sie zusammenzuckte. Wieder spürte ich die schattenhafte Berührung wie einen kalten Luftzug, doch das Gefühl ging vorbei, und ich empfand eine seltsame Erleichterung, als Temar seinen ersten Atemzug tat. Als er die Augen öffnete, drückte Guinalle ihn an sich, und Livak und ich gingen davon, um das Paar allein zu lassen. »Wie kommt ihr voran?« Auf meine Frage hin blickte Shiv von der winzigen Gestalt eines Kindes auf; in der Hand hielt er eine Emailblume an einer Kette. »Ziemlich gut, aber insgesamt haben wir Artefakte für nur gut ein Drittel, selbst wenn wir die mit einrechnen, die noch in Hadrumal sind.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sollten vorsichtig sein, wen wir aussuchen, um ihn zu wecken. Ich hoffe, Guinalle kann die Leute erkennen. Ich möchte kein Kind wecken, dessen Mutter noch immer so gut wie tot ist.« Ich blickte über die Schulter zu Guinalle und Temar, die sich noch immer einander in den Armen lagen und sich Trost spendeten. »Sie sagt, wir sollten versuchen, möglichst viele Adepten der Kunst zu wecken«, erklärte ich. »Kannst du ...« Shiv zögerte. »Ich meine, glaubst du ...« »Ich kann mich noch immer an die Träume erinnern, wenn es das ist, was du mich fragen willst.« Ich brachte ein schwa737
ches Grinsen zustande, doch als ich meine Erinnerungen an die Träume durchsuchte, war die Furcht verschwunden, die dort so lange auf mich gelauert hatte. Nun konnte ich mich an sie erinnern wie an eine Geschichte, die ich einmal gehört hatte, wie an etwas, das jemand anderem widerfahren war, falls überhaupt. Ich ging ein kleines Stück und deutete auf eine dünne Frau mit einem Fleck getrockneten Blutes auf den eingefrorenen Händen. »Das ist Avila. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sich eine Brosche ausgesucht hat, eine mit Rubinen und kleinen rosa Diamanten.« »Es war eine Kleiderfibel, und sie hat eine Inschrift auf der Unterseite«, sagte Guinalle, als sie zu uns trat. Zitternd schlang sie die Arme um die Brust. »Es war ein Geschenk ihres Verlobten, eines Junkers namens Tor Sylarre.« »Ihr erinnert Euch noch an solche Details?« Parril legte Guinalle seinen Mantel um die Schultern, und sie dankte ihm mit einem Nicken. »Natürlich«, antwortete sie und lächelte schwach. »Immerhin war das erst gestern.« Ich spürte jemanden hinter meiner Schulter, und als ich mich umdrehte, stand Temar dort. Livak zuckte in meinem Arm zusammen, und ich drückte sie an mich, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich muss mich für mein Verhalten entschuldigen«, begann der junge Mann steif. Ich konnte den Kampf zwischen Stolz und Verlegenheit nachvollziehen, den er auszufechten hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das konntest du nicht wissen«, erklärte ich mit fester Stimme. »Ich trage dir nichts nach.« Erleichtert bemerkte ich, das ich meinte, was ich sagte, womit ich sogar mich selbst ü738
berraschte. Doch nachdem ich – wenn auch nur kurz – erlebt hatte, was es hieß, im eigenen Kopf gefangen zu sein, konnte ich dem Jungen keinen Vorwurf machen. »Ich sollte es wieder gut machen.« Temar zeigte sich hartnäckig. »Behalte das Schwert. Es ist das einzige Ding von Wert, das ich besitze.« Sein Blick wirkte verloren, während er sich an diesen letzten Faden seiner Ehre klammerte. Entschlossen schüttelte ich den Kopf. »Nein, das kann sich nicht annehmen.« Ein Zittern in meiner Stimme verriet mir, dass ich meine Selbstsicherheit noch nicht ganz zurückgewonnen hatte. »Ich bestehe darauf ...« Temar versuchte, mir die Waffe in die Hand zu drücken, also nahm ich sie hinter den Rücken. »Es hat mir nie gehört«, erklärte ich, diesmal fester. »Ich will es nicht!« Irgendetwas in meiner Stimme musste ihn überzeugt haben. Er errötete und schnallte sich stumm die Waffe wieder um. Ich beobachtete, wie er sich nach Guinalle umschaute und dann zu ihr ging. Sie war inzwischen auf der anderen Seite der Höhle; Parril stand aufmerksam neben ihr. »Dein Messire hat dir das Schwert gegeben«, bemerkte Livak und blickte Temar noch immer wütend hinterher. »Ja, das hat er, und jetzt sieh dir an, was es mir eingebracht hat«, erwiderte ich grimmig. Ein erschrockener Schrei hallte durch die Höhle, und wir sahen, wie Guinalle Avila umarmte. Die ältere Frau rieb sich mit einer zitternden Hand die Augen, während sie mit der anderen die Fibel umklammerte, als wäre das Schmuckstück das einzig Echte in ihrer Welt. Shiv gesellte sich zu ihnen. Seine Sorge war ihm deutlich 739
anzusehen, während Parril nach einem herausfordernden Blick von Temar verunsichert ein Stück von Guinalle zurückwich. Avila rappelte sich zitternd auf, stieß Shivs helfende Hand beiseite und ging zu einer Frau, die neben drei Kindern unter einer groben Decke lag. Ihre Worte waren auf diese Entfernung nicht zu hören, doch ich beobachtete mit wachsender Verzweiflung, wie Shiv den Kopf schüttelte und zuerst auf eins und dann auf noch ein Kind deutete; irgendetwas funkelte zwischen seinen Fingern. Parril trat vor und kramte in seiner Truhe; schließlich schüttelte auch er hilflos den Kopf und deutete auf die Frau und das mittlere Kind. Das Blut pochte in meinen Ohren, als ich mich an die Gürtelschnalle erinnerte, mit der Kramisak Kaeska verzaubert hatte. Ich hatte keine Ahnung von ihrer Bedeutung gehabt – wie denn auch –, doch nun nagten Schuldgefühle an mir. Hätte ich sie mir doch geholt! Wann würde diese Familie wieder im Sonnenlicht vereint sein und nicht mehr in diesem kalten Felsengrab vor sich hin dämmern? Avilas Schluchzen durchbrach die Stille, bis Guinalle sie so weit tröstete, dass sie sich wieder in der Gewalt hatte. »Ich will nichts mehr davon sehen oder hören!« Ich wirbelte herum, um dem Zwielicht der Höhle zu entkommen. »Ja, lass uns von hier verschwinden«, stimmte Livak mir zu. »Wir sollten die Leute auf dem Schiff wissen lassen, was hier vor sich geht, und etwas zu essen besorgen. Das könnten sie hier brauchen, wenn sie die Leute aufwecken.« »Daran habe ich gar nicht gedacht«, gestand ich. »Aber Halice.« Livak grinste. Die Furcht und die Anspannung verschwanden endlich aus ihren grünen Augen; sie waren wieder so weich und sanft wie Blätter in der Sonne. Ich hatte mei740
ne Pflicht für meinen Patron getan, für die Zauberer und für die verlorenen Kolonisten von Kel Ar’Ayen. Sollte nun ein anderer die Fragen beantworten, die Entscheidungen treffen und sich um die Probleme kümmern – für eine Weile zumindest. Livak und ich sammelten die Söldner, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren, und ließen sie Feuerholz sammeln und Essen für jeden bereiten, der aus der Höhle kommen würde. Wir beide suchten uns dann ein abgeschiedenes Plätzchen, wo ich Livak bewies, dass ihr von nun an meine ungeteilte Aufmerksamkeit gehörte, wann immer sie danach verlangte. Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich so ausgeruht wie schon seit Jahreszeiten nicht mehr. Ich ließ Livak in den Decken liegen, die wir geteilt hatten, und ging zum Flussufer hinunter, um mir den Schlaf aus den Augen zu waschen. Dort fand ich einen mürrischen Shiv, der in einen Becher Wasser starrte. »Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte ich und grinste. »Morgen, Rysh.« Shiv blickte auf. »Wie fühlst du dich, jetzt wo du wieder ganz du selbst bist?« Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er seine eigenen Worte hörte, und ich lachte. »Ziemlich gut. Es ist nett, mal keinen Logiergast in meinem Kopf zu haben. Was machst du hier?« »Ich versuche, mittels Weitsicht zur Siedlung zu blicken.« Shiv schüttelte den Kopf. »Nur dass Kalion eine derart starke Barriere errichtet hat, dass ich den Fokus nicht halten kann. Na ja, ich nehme an, sie werden uns sofort zurückrufen, sollte es Ärger geben.« Ich nickte. »Wie viele habt ihr insgesamt geweckt?« »An die fünfhundert – wie du auch wissen würdest, hättest 741
du vergangene Nacht nicht so die Sau herausgelassen«, antwortete Shiv und lächelte angespannt. »Das war kein Fest, das kann ich dir sagen. Wir mussten allen erklären, was geschehen ist, und das mit Worten, die wenigstens ein bisschen Sinn ergaben.« Ich blickte zum Schiff, das sich in der Strömung in die Haltetaue legte. »Ihr werdet mehrere Fahrten unternehmen müssen, und selbst dann sind die Leute noch wie die Heringe eingepfercht«, bemerkte ich. »Die meisten werden hier bleiben; sie sind viel zu verwirrt, um im Augenblick irgendetwas anderes zu tun.« Shiv leerte seinen Becher in den Fluss. »Ein paar von den Söldnern bleiben ebenfalls, um die Höhle im Notfall zu verteidigen, während wir mehrere Ätherzauberer den Fluss hinunter zu Planir bringen werden, um zu entscheiden, was als Nächstes zu tun ist.« »Shiwalan!« Wir drehten uns beide um und sahen Guinalle, die zu uns kam. »Gibt es ein Problem?« »Was hast du gerade gemacht?« Guinalle wirkte verwirrt, und ihre Wangen waren rot vom Laufen. Shiv blickte in seinen Becher. »Man nennt das Weitsicht. Ich glaube, so etwas könnt ihr auch? Allerdings glaube ich, dass wir weiter sehen können ...« »Und damit hast du unsere Köpfe für jeden Angriff geöffnet, den ein Adept gegen uns richten könnte!« Guinalle schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade meinen eigenen Weitsichtzauber gewirkt, um mich zu vergewissern, dass keine Angreifer in der Nähe sind, und ich habe dich sofort gefunden, wehrlos wie ein Neugeborenes.« Shiv verzog das Gesicht. »Dann haben sie auf diese Weise also Viltred bekommen.« 742
»Wen? Egal.« Guinalle legte verärgert die Stirn in Falten. »Der Punkt ist, dass ich eine beachtliche Konzentration der Kunst entlang der Küste spüren kann. Ich weiß, nicht, was für ein Zauber dort gewirkt wird – noch nicht –, aber nach allem, was Parril mir vergangene Nacht erzählt hat, müssen es die Eindringlinge sein.« »Dann sollten wir so rasch wie möglich zur Siedlung zurück.« Ich stand auf; mit der Erholung war es erst einmal vorbei. »Sorg dafür, dass genug zurückbleiben, um die Höhlen zu verteidigen; aber wenn Planir Ärger ins Haus steht, brauchen wir alle Kämpfer und Zauberer, die wir entbehren können.« Shiv nickte. »Sar und ich haben gestern Abend schon darüber gesprochen und nach Routen gesucht, die hierher führen – für den Fall, dass die Elietimm Wind davon bekommen haben, weshalb wir hergekommen sind. Dieser andere Fluss ist der einzige schnelle Weg hierher; also haben wir ihn heute Morgen ein gutes Stück flussabwärts versperrt.« »Wie habt ihr das gemacht?«, fragte Guinalle. »Sar hat sich um die Felsen gekümmert und ich um das Wasser.« Shiv grinste. »Weißt du ...« »Das kannst du ihr auf dem Schiff erzählen.« Ich hielt kurz inne, als ich verwirrt bemerkte, dass ich ja kein Schwert mehr trug. »Wir müssen uns beeilen ... und ich brauche ein neues Schwert.« »Nimm meine Ersatzklinge.« Als wir wieder auf dem Schiff waren, reichte Tavie mir eine recht ordentliche Waffe, die für meinen Geschmack allerdings etwas zu schwer war und eine schartige Klinge besaß. »Natürlich ist das nicht annähernd so gut wie dieses Imperiumsschwert«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Das ist kein Problem«, versicherte ich ihm. Die Waffe war 743
vermutlich nur eine Hand voll Kupfer wert, doch ich nahm sie mit Freuden. Nun da Shiv die Strömung auf seiner Seite hatte, fuhren wir den Fluss schnell genug hinunter, dass die wiedererweckten Kolonisten staunend den Mund öffneten. Ich bemerkte, dass Guinalle die ganze Fahrt über mit Usara diskutierte, während Temar die beiden mit offensichtlicher Verärgerung beobachtete. Ich ging zu ihm an die Reling; aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstand, fühlte ich mit ihm. »Wenn sie dich nicht will, Junge, macht das keinen Unterschied, wie sehr du sie auch begehrst«, sagte ich. »Danke, aber ich verstehe nicht ganz, was dich das angeht«, erwiderte er steif. »Dank dir geht es mich etwas an; schließlich warst du fast die ganze letzte Jahreszeit in meinem Kopf.« Ich hob die Hand. »Nein, ich mache dir keinen Vorwurf. Das haben wir ja schon besprochen. Ich dachte nur, vielleicht würdest du gern von den Erfahrungen profitieren, die ich in deinem Alter gemacht habe.« Nach kurzem Schweigen lächelte Temar mich leicht an. »Ich habe all meine älteren Brüder verloren, weißt du?« »Ich weiß, und ich habe meine jüngere Schwester verloren; also habe ich niemanden mehr, den ich herumschubsen kann.« Während das Schiff den Fluss hinunterglitt, standen Temar und ich am Bug und unterhielten uns. Wir tauschten Geschichten über unsere Familien und Freunde aus und fanden heraus, wie viel wir gemeinsam hatte, sodass die Kunst eine Verbindung zwischen uns nicht hatte verhindern können. Auch bekam ich einen Eindruck davon, warum meine beiden älteren Brüder, Hansey und Ridner, Mistal und mich bisweilen sehr anstrengend fanden. Nach einer Weile gesellte sich Parril zu uns und gab einige seiner Theorien über ätherische Verbindungen zum 744
Besten, doch sein Gerede ergab für mich nur wenig Sinn. Der Mittag kam und ging, und wir umrundeten eine Flussbiegung und sahen drei große Schiffe, die in der Mündung ankerten. »Bei Dasts Zähnen!«, fluchte ich. »Elietimm!« »Sie müssen sie vom Lager aus gesehen haben.« Livak kletterte auf die Reling, um bessere Sicht zu haben. »Warum hat niemand Alarm geschlagen? Was haben die vor?« Der Rauch von mehreren Lagerfeuern stieg träge hinter den Mauern des Anwesens auf. Ich sah die Wachen patrouillieren; sie hatten die Bögen gelassen über die Schultern gelegt. Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten! »Das ist ein Schutzzauber, ein sehr mächtiger Zauber. Irgendjemand auf diesen Schiffen nutzt die Kunst, um eure Leute sehen zu lassen, was sie nun schon seit Tagen sehen.« Guinalle stand neben mir. Ihr Gesicht war blass, aber entschlossen. »Schaut. Der Zauber muss auch die Soldaten dort verbergen. Sie haben Männer für einen Überraschungsangriff an Land gebracht.« Ich sah kleine Trupps schwarz uniformierter Krieger vorsichtig durchs Unterholz schleichen und die ahnungslosen Zauberer einkreisen. »Saedrin soll sie holen!« Ich drehte mich um und sah Shiv zu der fernen Mauer schauen. Um seine Finger schimmerte es grün; allerdings achtete er darauf, das Zauberlicht zu verbergen, dass es uns nicht an die Elietimm auf dem Fluss verriet. »Es nützt nichts. Ich kann niemanden erreichen.« »Der Versuch, Kalions Verteidigung zu durchbrechen, ist so, als würde man gegen den Wind pissen«, stieß Usara wild hervor. »Er ist nicht umsonst Herdmeister.« »Was kannst du tun?«, fragte ich Guinalle. »Kannst du diesen 745
Schutz-, Tarn- oder was auch immer Zauber brechen? Kannst du unsere Leute sehen lassen, was wirklich dort draußen ist?« Guinalle schaute den Fluss hinunter und ließ ihren Blick über die Ufer und die fremden Schiffe schweifen. »Solange ich nicht weiß, wer diesen Zauber wirkt, kann ich nichts dagegen unternehmen. Und selbst dann ist die Kraft vielleicht zu groß, besonders wenn mehrere Leute zusammenarbeiten.« Sie verzog das Gesicht. »Wir müssen etwas tun, worauf sie nicht vorbereitet sind. Wir müssen sie ablenken, sodass sie die Tarnung fallen lassen. Angriffe mit der Kunst erwarten sie; das spüre ich daran, auf welche Weise sie der Barriere begegnen, die Parrils Freunde aufrecht erhalten. Wer immer das macht, ist ein Meister der Illusion.« »Dann lasst uns direkter vorgehen.« Usara sandte einen Strahl ockerfarbener Magie in den Fluss. Das Wasser begann zu brodeln, und Schlamm und Pflanzen wurden vom Flussbett heraufgetragen. »Ich werde ihnen etwas schicken, das sie nicht erwarten.« »Ich helfe dir.« Shiv breitete die Hände aus, und ein dunkles, moosgrünes Licht leuchtete aus den Tiefen hinauf. Plötzlich raste die Magie davon und auf die Elietimmschiffe zu. Als sie näher kam, brach eine riesige Gestalt in einer Explosion aus Schaum und Lärm aus dem Wasser. Die Seeschlange auf dem Archipel war schon gewaltig gewesen, doch gegen das, was die beiden Zauberer aus Schlamm und Wasser heraufbeschworen hatten, war sie bloß ein kleiner Wurm. Das Untier stieg höher als der höchste Mast aus dem Wasser, ließ sich hinunterfallen und schlug das Schiff glatt in zwei Teile. Zerbrochene Planken bohrten sich in seinen Leib, während es den Kopf hin und her warf, um zappelnde Gestalten aus dem Wasser zu fischen und 746
herunterzuschlingen. Taue wurden hinuntergelassen, als die anderen Schiffe sofort die Anker kappten, um die Flucht zu ergreifen. Segel flatterten im Wind, während das Untier tauchte, nur um sich zwischen den Schiffen und dem offenen Meer wieder zu erheben. Dann schoss die riesige Bestie den Fluss hinauf und rammte das zweite Schiff mit der Breitseite, worauf es sich so weit auf die Seite legte, dass Wasser in die Schotten strömte. Gleichzeitig schlug das Ungeheuer gnadenlos mit dem Schwanz nach dem verbliebenen Schiff, und Trümmer flogen in den Fluss. »Ihr Zauberer habt es euch wohl zur Aufgabe gemacht, die Schiffsbauer nicht arbeitslos werden zu lassen, was?«, rief Livak von irgendwo hinter mir. Ich hörte die Söldner jubeln, während sie sich auf den Kampf vorbereiteten. »Das sollte nun wirklich jedermanns Aufmerksamkeit erregt haben!« »Gib mir irgendetwas Glänzendes, rasch!«, rief Usara Livak zu. »Und eine Kerze ... irgendwas, das brennt.« Er schnippte mit den Fingern, um ein Bündel Zunder zu entfachen, und drehte die Flamme so, dass sie sich auf dem Zinnteller eines Söldners spiegelte. »Otrick, antworte mir, verflucht!« »Was ist? Sar, bist du das?« Trotz des stark beeinträchtigten Zaubers war das ungläubige Staunen des alten Magiers deutlich zu erkennen. »Seht ihr die Schiffe denn nicht?«, rief Usara. »Sag Kalion, er soll die Barriere einreißen. So kann ich nicht richtig mit dir sprechen!« »Das sind ja Elietimmschiffe! Bei Saedrins Eiern, wo kommen die denn her ...?« »Sie landen Truppen, um euch anzugreifen! Macht euch be747
reit die Mauer zu verteidigen!«, brüllte Usara, als der Zauber rasch an Kraft verlor. »Nehmt euch jeden vor, der ein Metallhalsband trägt!«, rief ich, als das Licht verlosch. »Glaubst du, das hat er noch gehört?« Usara schüttelte den Kopf. Blankes Entsetzen funkelte in seinen Augen. »Irgendetwas ist mit Otrick geschehen!« Angesichts des Chaos, das um ihre Schiffe ausgebrochen war, hatten die Elietimm ihre Tarnung aufgegeben und stürmten nun offen auf Den Rannions Anwesen zu; ihre rauen Kriegsschreie hallten über das Wasser bis zu uns. »Bring uns an Land!«, rief Livak den Kapitän an. »Wir können einen Gegenangriff unternehmen.« Buril hatte sich mit seinen Kameraden beraten. »Schickt uns gegen sie, Junker«, drängte einer der Kolonisten Temar, und seine Gefährten nickten zustimmend. »Wir haben mit denen noch eine Rechnung zu begleichen!« Ein Blitz brachte alle zum Schweigen, als plötzlich schwarze Wolken aus dem Nichts erschienen; magische Lanzen warfen die schwarzen Krieger durch die Luft und versengten das Gestrüpp. Wo eine Abteilung der Elietimm versuchte, ein Feuer auszutreten, zuckten purpurrote Flammen aus dem Boden, packten einen von ihnen am Arm und brannten sich trotz aller Versuche, das Feuer zu löschen, bis auf den Knochen durch. Auch sprangen sie auf jeden über, der versuchte, dem Unglücklichen zu Hilfe zu eilen, bis schließlich nur noch Asche übrig war. Schreie der Angst und des Schmerzes mischten sich unter die Kampfrufe. »Glaubst du, sie brauchen unsere Hilfe überhaupt?«, hörte ich einen der Söldner seinen Kameraden fragen. 748
»Da drüben! Er ist da drüben!« Guinalle deutete aufgeregt zum anderen Ufer, wo die Ruinen eines einstigen Wachturms zu sehen waren. »Ihr Hexer, er ist da drüben!« »Kapitän, könnt Ihr uns zu dem alten Kai bringen?«, rief ich dem Seemann zu. »Wir müssen schnell dorthin, aber wir wollen uns bei der Landung nicht in Stücke hauen lassen!« »Überlass das uns.« Shiv nickte Usara zu, und die große Schlange verschwand; nur ein paar Schiffbrüchige blieben zwischen den Trümmern zurück. Unser Schiff flog jedoch förmlich über das Wasser, glitt über den von der Ebbe freigelegten Schlamm hinweg und blieb dann sicher an der Flutgrenze liegen. Die Söldner sprangen über die Reling aufs trockene Gras, das schon bald vom Blut der Elietimm getränkt war, die sich unserem Überraschungsangriff stellten. Nach den ersten Erfolgen geriet unsere Attacke jedoch ins Wanken, als eine Hand voll unserer Kämpfer auf die Knie sank. Die Luft um uns herum fühlte sich plötzlich schwer an, beinahe so, als käme ein Sturm auf. Ich fragte mich, ob der Zauber irgendeines Magiers fehlgeschlagen war. Dann rappelte eine Frau sich langsam auf. Es war Jervice, Halices Freundin. Ich sah, dass ihre Augen schwarz wie Pech waren. »Drianon vergib mir ...«Als Livak diese Worte flüsterte, schleuderte sie auch schon einen Wurfpfeil, und Jervice fiel zu Boden, bevor sie ihr erhobenes Schwert in den Schädel des Mannes neben ihr hauen konnte. Andere hatten nicht so viel Glück; ich sah, wie mehr als ein Kolonist hinterrücks auf geradem Wege zu Saedrin geschickt wurde. Grelle Wut stieg ich mir auf, und ich schlug einen der verhexten Männer mit bloßer Faust zu Boden. »Tror mir’al, es nar’an.« Guinalle begann irgendwo in meiner 749
Nähe zu singen. »Parril, wiederhol das, und hör nicht auf, wenn dir dein Verstand lieb ist!« Als sich ein steter Rhythmus bildete, ließ das Druckgefühl nach, und unser Angriff gewann wieder deutlich an Schwung, aber auch an Wut. »Schnappt euch die Kommandanten! Die mit Gold und Silber am Hals!«, hörte ich Temar brüllen. Livaks Wurfpfeile zischten an meinem Ohr vorbei, und mehrere Feinde brachen zusammen. »Da drüben!« Guinalle zerrte Parril hinter sich her, packte mich mit der anderen Hand und deutete dann auf den zugewachsenen Fuß des Wachturms. »Er ist da drin.« »Temar!« Ich deutete auf den Turm und schaute mich um. »Tavie, Buril, zu mir! Ihr anderen auch!« »Halte den Schutzzauber aufrecht!« Guinalle ließ Parrils Hand los, und ich bemerkte die Druckstellen, die ihre Finger auf seiner Hand hinterlassen hatten. »Jetzt liegt es an euch. Ich muss ihn von der Quelle der Kunst abschneiden.« Ungeachtet der Gefahr rannte sie in Richtung Turm. Livak und ich sprangen an ihre Seite und kämpften uns durch das Gedränge. Als wir den Eingang erreichten, schickte Sar seine Magie von irgendwo hinter uns und riss die Tür auseinander. Nachdem wir uns von diesem Schreck erholt hatten, stürmten Temar und ich als Erste hinein. Jene, die uns entgegentraten, starben schnell, denn ich kannte jede Bewegung Temars im Voraus. Das schien übrigens in beide Richtungen gut zu funktionieren. Als ich zur Seite sprang, und ein Elietimm mich verfolgen wollte, erwartete ihn bereits Temars Schwert, das seine Eingeweide auf dem Boden verteilte. Als dann ein zweiter Mann glaubte, er könne sein Schwert auf Temars ausgestreckten Arm niedersausen lassen, trieb ich ihm meine grobe Klinge 750
in den Schädel. Der Rest der Elietimmwachen starb durch die Schwerter jener, die an unserer Seite kämpften. »Die Treppe rauf!« Guinalle stand an die Wand gepresst. Blut schimmerte auf ihrem Rock, und ihre Augen starrten auf die Balken über ihrem Kopf. Livak baute sich vor ihr auf, um sie zu beschützen, doch an Buril und Tavie, die sich auf der Schwelle festgesetzt hatten, kam ohnehin niemand vorbei. Die beiden kräftigen Söldner waren über und über mit Blut bedeckt; ein Teil davon war ihr eigenes, doch sie ließen nicht einen Augenblick in ihrer Entschlossenheit nach, keinen der Elietimm mehr Zuflucht im Turm suchen zu lassen. »Komm.« Temar stellte den Fuß auf die unterste Stufe, die im Innern des Turms an der Wand nach oben führte, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Wir rannten mit erhobenen Schwertern die schmalen Stufen hinauf, bereit, jeden zu erschlagen, den wir fanden, als wir plötzlich hilflos von einer unsichtbaren Mauer abprallten und ein schrecklicher Schmerz durch meinen Kopf schoss. Ich schnappte nach Luft und starrte ungläubig in die Kammer im ersten Stock. Er war es, der Priester aus Shek Kuls Domäne – Kramisak, der Bastard, der geflohen war und mich zurückgelassen hatte, um über Kaeskas qualvollen Tod zu wachen. Ruhig saß er in einem Kreis aus unheimlichem Licht, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, als er uns höhnisch zunickte. Bis zur Hüfte nackt, hatte er die Hände erhoben, die abermals mit schwarzen Siegeln bedeckt waren – ein deutlicher Kontrast zu seiner weißen Haut und seinem weißen Haar. »Ich werde mich später um dich kümmern, Tormalinmann. Im Augenblick habe ich einen größeren Fisch am Haken.« Ich funkelte ihn an und winkte Temar, den Kreis auf der an751
deren Seite zu erproben. Wir fanden heraus, das wir zwar um den Hexer herumgehen konnten, ihn aber nicht zu erreichen vermochten. Und das Licht auch nur mit dem Schwert zu berühren, sandte einen furchtbaren Schmerz durch den Arm. Während ich den Hexer umkreiste, blickte ich über den Fluss, um zu sehen, wie die Schlacht verlief. Die Mauern des Lagers waren in scharlachrote Flammen gehüllt. Naldeth oder Kalion mussten sämtliche Schlingpflanzen in Brand gesteckt haben, was darauf schließen ließ, dass der Kampf nicht gut für uns lief. Wo waren Otricks Blitze, die den Ehrgeiz der Elietimm schon im vorigen Jahr zerschlagen hatten? »Das ist ein Schutzzauber, ein sehr starker.« Guinalle stand oben auf der Treppe und blickte über Livaks Schulter. Livaks Gesicht war kreideweiß, aber entschlossen; ich wusste, welche Überwindung es sie gekostet haben musste, sich wieder so weit der Elietimmmagie zu nähern, die ihr im vergangenen Jahr solche Qualen bereitet hatte. Kramisaks Aufmerksamkeit geriet für einen Augenblick ins Wanken, und der Kreis leuchtete plötzlich heller, doch Guinalle hob die Hand und stieß eine rasche Silbenfolge aus, und was immer der Bastard gegen sie versucht haben mochte – es verpuffte im Nichts. »Livak, vertraust du mir?« Guinalle trat neben sie; keinen Moment ließ sie den Hexer aus den Augen. »Glaub mir – was er auch tut, ich werde damit fertig. Halte meine Hände, wiederhole meine Worte, und wisse, dass er uns nichts tun kann.« Entsetzt riss Livak die Augen auf, doch sie ergriff Guinalles blassen, feinen Hände mit ihren eigenen, von der Sonne gebräunten, und wiederholte den geheimnisvollen, rätselhaften Gesang, den die jüngere Frau anstimmte. Guinalles archaischer Akzent, den man seit Generationen nicht gehört hatte, ver752
mischte sich mit der Kadenz von Livaks Waldvolkblut. Die Lieder, die ihr Vater in ihrer Kindheit für sie gesungen hatte, hatten sie den Rhythmus einer verlorenen Magie gelehrt. »Nein, das könnt ihr nicht!« Kramisak sprang mit einem Wutschrei auf, als der Lichtkreis flackerte und verlosch. Er packte einen Streitkolben, der auf dem Boden lag, und stürzte sich auf Guinalle. Ich stürmte vor, um ihn abzufangen, und hielt die Keule mit der schartigen Klinge meines Schwertes auf. Er spie mich an und verfluchte mich in seiner eigenen Sprache, bevor er mir einen vertrauten Gesang entgegen zischte. Ich sog die Luft ein, verspürte jedoch keine Verwirrung, die mich zu überwältigen drohte und keine Benommenheit, die mir den Verstand raubte. »Tochter einer Hure! Mutter von Ungeziefer!« Kramisak versuchte erneut, sich auf Guinalle zu stürzen, doch mit einem Tritt in den Magen schleuderte ich ihn nach hinten und vor die gegenüberliegende Wand. »Jetzt ist es an der Zeit für einen Kampf unter Männern, du räudiger Bastard«, hörte ich mich sagen. »Wir haben noch eine Rechnung offen, Scheißefresser.« Temar stellte sich hinter mir auf, um dafür zu sorgen, dass Kramisak weder Guinalle noch Livak erreichen konnte, falls er an mir vorbeikommen sollte. »Ich habe schon einmal gegen dich gekämpft, Tormalinmann, und das kann ich noch einmal«, knurrte der Hexer und packte seinen Streitkolben mit beiden Händen. Heute nicht, dachte ich und drosch auf ihn ein, bis ich seinen Streitkolben beiseite schlagen und einen Treffer auf seinem linken Arm landen konnte. Doch sein eigenes Blut zu sehen, schien Kramisak noch mehr in Wut zu versetzen, und er stürzte 753
sich auf mich wie ein rasendes Tier. Doch trotz seiner Wildheit war es mir ein Leichtes, seinen Schlägen auszuweichen. Er schien nicht fähig zu sein, meine Bewegungen vorauszuahnen, im Gegenteil; immer wieder lief er in meine Schläge hinein, anstatt sich dagegen zu verteidigen. Wieder traf ich ihn. Eine tiefe Wunde auf dem Oberarm war die Folge, die seine Schläge deutlich schwächte. Trotzdem gelang es ihm, mein Bein zu treffen; dadurch aber öffnete er seine Deckung für einen Seitenhieb. Ich schlug zu, und seine Rippen schimmerten weiß durch das blutige, zerfetzte Fleisch hindurch. Dieses schartige Schwert sägte an ihm wie an Holz, und ich legte nun alle Kraft in meine Schläge. Er kämpfte gegen Temar, wie ich plötzlich fassungslos erkannte. Kramisak hatte nicht verstanden, dass der Geist, gegen den er vor Shek Kul gekämpft hatte, der eines anderen gewesen war. Er kämpfte gegen Temar und unterlag gegen mich. Wie würde Temar auf diesen Angriff reagieren?, fragte ich mich rasch. Er würde ihn parieren – ungefähr so. Ich trat in die andere Richtung, brachte mein Schwert über Kramisaks Streitkolben und riss ihm die Kehle auf. Blut strömte über meine Hand, während der Unglaube in den Augen des Elietimms langsam schwand, als er nach vorne kippte. Ich bückte mich und schnitt den Gürtel mit der antiken Gürtelschnalle von der Leiche. Siegesschreie ertönten von den Söldnern, die draußen kämpften. Ich trat ans Fenster, um nachzuschauen, was da vor sich ging. Zu meiner großen Überraschung hatten jene Elietimm, die noch lebten, die Waffen weggeworfen. Nun knieten sie im Sand, hatten die Arme ausgebreitet und flehten offensichtlich um Gnade, die ihnen von den Söldnern eher gewährt wurde als von den Kolonisten: Sie metzelten die meisten Eis754
männer rücksichtslos nieder, bevor die Söldner sie aufhalten konnten. Jenseits des Flusses verloschen die Feuer am Anwesen plötzlich. Shiv verschwand in einem azurblauen Lichtblitz und ließ die Kolonisten, die er mit Blitzen verteidigt hatte, staunend zurück. Einen Augenblick später tauchte er keuchend neben mir auf. »Ist es vorbei?«, wollte ich wissen. Temar stand neben mir, während Livak und Guinalle sich an der Treppe noch immer die Hände hielten. »Für den Augenblick!« Shiv stieß ein wildes Triumphgeheul aus und umarmte mich. Ich erwiderte die Geste, ohne zu zögern, bevor ich mich auf Livak stürzte und sie leidenschaftlich küsste.
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11.
Aus dem Familienarchiv des Hauses Den Rannion, Bremilayne
Von Lyal, Sieur Den Rannion, an Ingaret, Messire Den Perinal, überbracht von Mural Arman, einem Mann von durchschnittlicher Größe mit rotem Haar und blauen Augen. Er hat eine Narbe auf dem Schwertarm und das Brandzeichen eines Pferdediebs auf der linken Hand. Mein lieber Vetter, ich schreibe dir, um dir die traurige Nachricht zu übermitteln, dass mein geschätzter Vater Vahil, der Sieur dieses Hauses, am 44. Tag des Vorsommers Saedrins Gnade übergeben worden ist. Ich bitte dich, diese Nachricht an meine geliebte Tante, deine Mutter, Maitresse Elsire, weiterzugeben, und dies auf solche Art, wie du es angesichts ihres Alters und ihrer Gebrechen für angemessen hältst. Ich überlasse es dir, ob du ihr sagst, dass Vaters letzte Worte ihren Eltern galten, den Freunden seiner Jugend und dem Kummer über irgendeinen nicht erfüllten Eid. Leider muss ich berichten, dass vor allem Letzteres ihm große Pein bereitet hat; demzufolge habe ich ihm versprochen, die verlorene Kolonie zu suchen, wenn die Umstände es erlauben. Ich weiß, deine Mutter spricht auch noch davon. 756
Unter uns – ich kann nur beten, dass Saedrin meinen Vater in dieser Angelegenheit beruhigen kann, sonst steht zu befürchten, dass sein ruheloser Geist für die nächsten Generationen durch diese Hallen wandern wird. Unsere Situation ist nicht so verzweifelt wie die anderer, doch Misaen wird eher die Monde stillstehen lassen, als dass ich die Mittel habe, den Enttäuschungen des alten Mannes hinterherzujagen, zumal ich nur halb erinnerte Geschichten und unvollständige Aufzeichnungen habe, die mich führen können. Die Kämpfe sind für den Augenblick an uns vorübergegangen, und ich stehe in Verhandlungen mit verschiedenen Häusern, um Sieur D’Aleonne zu unterstützen. Ich würde gerne deine Meinung in dieser Angelegenheit hören, und natürlich wüsste ich auch militärische Unterstützung wohl zu schätzen, sollte die Lage in eurer Gegend sich festigen. Vielleicht interessiert es dich auch, dass Sieur D’Istrac mich wegen einer Verlobung meiner Tochter Kindra mit seinem ältesten Neffen angesprochen hat. Wie steht es um deine Verhandlungen mit D’Evoir?
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Kel Ar’Ayen 22. Vorherbst
»Bist du bereit zu gehen?« Shiv schlenderte den Kai hinunter; sein Gepäck hatte er nachlässig über die Schulter geworfen. »Ich glaube ja.« Ich blickte zum Tor des Den-RannionAnwesens hinauf, das nun freigeräumt und notdürftig instand gesetzt war. Halice und Livak waren tief ins Gespräch versunken. Halice trug Arbeitshose und Wams, während Livak sich mit ihrem Rucksack an die Mauer lehnte. Ich rieb mit der Hand über meine Tasche, um mich zu vergewissern, dass das Pergament mit Halices Bericht über die Heilung ihres Beines noch immer dort war. Wenn ich meinen Eid zurückgab, würde ich eine vollständige Darstellung abliefern müssen. »Es hat mich ziemlich überrascht, als sie erklärt hat, sie wolle bleiben«, bemerkte Shiv. »Wie hat Livak es aufgenommen? Ich weiß, dass sie schon lange eng befreundet sind.« »Sie will vor allem, dass Halice zufrieden ist.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, sie ist traurig, und sie hat alles getan, um Halice umzustimmen, aber wenn alle Runen geworfen sind, ist es Halices Entscheidung. Das kann Livak ihr nicht abstreiten.« »Weißt du warum?« Shiv sah neugierig aus. »Ich habe mich nicht getraut, sie zu fragen.« »Halice sagt, sie hätte genug von den Kämpfen in Lescar, genug davon, jede Saison Freunde zu verlieren, nur damit ein Jahr später alle Runen neu gemischt werden. Ich kann nicht sagen, dass ich es ihr zum Vorwurf mache. Das war auch einer der Gründe, warum mein Freund Aiten nichts mehr mit dem 758
Bürgerkrieg zu tun haben wollte. Nun glaubt Halice, einen Ort gefunden zu haben, an dem ihre Fähigkeiten nützlich sind, und sie hat das Gefühl, hier für eine Sache zu kämpfen, die es wert ist.« Ich verzog das Gesicht und fragte mich, wo ich jetzt so eine Sache finden sollte. »Ich hoffe, sie wird dieses Jahr nicht mehr kämpfen müssen«, sagte Shiv und legte die Stirn in Falten. »Bis wir mehr Leute hier herüberbekommen, sind sie sehr verwundbar.« Ich schüttelte den Kopf und deutete auf die Mauern des Anwesens, wo Leute die Zinnen und den Wehrgang reparierten. »Die meisten Söldner bleiben ebenfalls, und mit all den Kolonisten, die wir wecken konnten, sollten sie gut über den Winter kommen. Die Gefangenen lassen sie Häuser und Verteidigungsanlangen bauen und schicken sie aus, um alles zu sammeln, was irgendwie essbar ist.« »Ich finde es immer noch seltsam, dass so viele von ihnen so plötzlich aufgegeben haben.« Shiv schüttelte den Kopf. »Woher sollen wir wissen, dass keine Hexer darunter sind?« »Guinalle ist sicher.« Ich zuckte mit den Schultern. »Sie hat immer wieder in ihren Köpfen herumgestochert, sobald einer von ihnen nur falsch geguckt hat. Parril hat mir erklärt, das alles habe etwas mit der Hierarchie in der Elietimmkultur zu tun.« Ich tat mein Bestes, um den ernsten Tonfall des jungen Gelehrten nachzumachen. »Nachdem ihr Anführer tot war, blieb ihnen keine andere Wahl, als sich dem Anführer jener zu unterwerfen, die stark genug waren, ihn zu besiegen.« »Das klingt ziemlich unwahrscheinlich«, bemerkte Shiv düster. »Vergiss nicht, dass diese Inseln nicht wie Lescar sind, wo man sich Jahr für Jahr an die Kehle geht und das halbe Land 759
niederbrennt und plündert. Wenn die Elietimm wie die Lescari kämpfen würden, hätten sie nur noch Steine zum essen und Seewasser zum trinken.« »Vielleicht.« Shiv wirkte nicht überzeugt. »Die Gefangenen stellen keine Bedrohung dar, Shiv. Und wenn sie morgen alle am Fieber sterben, kommt die Kolonie auch ohne sie zurecht.« Ich würde ihnen jedenfalls nicht hinterhertrauern, dachte ich und gab im Stillen zu, dass ich Shivs Vorbehalte bis zu einem gewissen Punkt teilte. »Nein, alle hier werden sicher über den Winter kommen; dieses Jahr werden die Elietimm das Meer nicht mehr überqueren können. Besser noch, der Verlust ihrer Expedition wird sie im Frühjahr erst mal nachdenken lassen – falls sie überhaupt davon erfahren haben, was ich bezweifle.« »Hat jemand eine Erklärung dafür gefunden, wie diese Bastarde an Kopien alter Tormalinkarten gekommen sind? An die Karten von diesem Den Fellaemion oder wie er heißt?« »Nicht dass ich wüsste.« Ich versuchte gelassen auszusehen. Über Planirs Bitte wollte ich nicht nachdenken, meinen möglichen neuen Status zu benutzen, um diese Frage für Messire zu untersuchen. »Ich glaube kaum, dass es wichtig ist.« »Hoffentlich hast du Recht.« Shiv seufzte. »Ich nehme an, das ist ein Vorteil, den wir ihnen gegenüber haben. Wir können das Meer so spät im Jahr noch überqueren, auch wenn Trimon weiß, dass ich mich ohne Otricks und Viltreds Hilfe nicht gerade darauf freue.« »Dastennin schenke uns eine sichere Überfahrt«, stimmte ich ihm zu. Auch ich freute mich nicht gerade auf die Überfahrt angesichts der drohenden Herbststürme im Nacken. »Und was willst du jetzt tun?« Shiv kramte in seiner Tasche 760
und reichte mir einen kleinen Hornbecher. Ich hielt ihn fest, während er ihn mit Wasser füllte, das schon bald leicht zu dampfen begann. »Komm schon, sag’s mir«, drängte er, als er ein paar Kräuter in das Wasser warf. »Ich habe gesehen, dass du mit Planir gesprochen hast. Was hat er gesagt?« Ich reichte Shiv seinen Tisane. »Offenbar hat der Erzmagier unserem alten Freund Casuel Briefe für Messire mitgegeben, bevor wir auf unsere Reise aufgebrochen sind. Wie auch immer, Cas sollte vor Ort bleiben, um Messire sofort über Erfolg oder Misserfolg unserer Reise informieren zu können.« »Und?«, wollte Shiv wissen. »Und Messire glaubt, dass ich vom eingeschworenen zum auserwählten Mann befördert werden sollte«, erklärte ich trocken. »Aber das ist doch eine Ehre, oder?«, fragte Shiv zweifelnd, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Das könnte es sein, wenn ich einverstanden bin.« Ich nickte. Wieder blickte ich zu Livak, die gerade Halice umarmte. »Ich habe noch die ganze Heimfahrt, um mich zu entscheiden. Hast du noch einen Becher?« Ich wollte mit niemandem darüber diskutieren, bevor ich nicht mit Livak gesprochen hatte. »Und was hast du als Nächstes vor?« »Nachdem ich das Äquinoktium mit Pered in Col verbringe, meinst du?« Shiv grinste, als er mir den Tisane reichte, doch sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich ernst, als er sich einen zweiten Becher machte. »Planir wird jeden Magier, der nur halbwegs Verstand besitzt und atmen kann, daran setzen, so viel wie möglich über Äthermagie zu lernen ... ‘tschuldigung, die Kunst, sollten wir sie jetzt besser nennen. Anschließend wird er dann wohl sämtlichen Universitäten, Archiven und 761
Schreinen mit Blitz und Feuer drohen, bis sie auch das letzte bisschen Information herausgerückt haben, das sich mit magischen Traditionen beschäftigt. Saedrin weiß, dass wir unser Wissen bisher teuer erkauft haben.« »Viltreds Visionen haben ihm nicht wirklich etwas genutzt, nicht wahr?«, bemerkte ich. »So viel zu seiner glorreichen Zukunft, in der wir alle festliche Gewänder tragen.« »Wahrsagungen sind umso genauer, je näher sie dem entsprechenden Zeitpunkt liegen.« Shiv zuckte mit den Schultern. »Die Warnung vor den Elietimm war deutlich genug. Wäre er geblieben, hätte er es nicht überlebt, keine Frage.« Vielleicht. Ich zögerte, dann entschloss ich mich doch, Shiv etwas zu fragen, das mir schon eine ganze Weile im Kopf herumgegangen war. »Diese Visionen, die Plünderung des Palasts und dann wir alle in Samt und Seide – waren die alle echt? Oder sollte es mich nur an meinen Eid binden und Livak verführen, bei euch mitzumachen?« Shiv blickte mich scharf an. »Hast du das wirklich geglaubt? Nein, Rysh, die Visionen waren echt, auch wenn sie nicht eingetreten sind. Gut, ich habe gehofft, dass es Livaks Aufmerksamkeit erregen würde, am Tisch eines Sieurs zu spielen, aber so etwas würde ich nicht fälschen. Ich weiß, dass du ein Mann von Ehre bist. Für was für einen Magier hältst du mich?« Ein Tumult am Tor des Anwesens bewahrte mich davor, mir eine Antwort überlegen zu müssen. Ich beobachtete, wie eine langsame Prozession zum Kai hinunterkam. Fünf Bahren wurden von grimmig dreinschauenden Söldnern getragen, eine von Planir, Kalion, Usara und Naldeth. »Hat Otrick sich noch mal gerührt?«, fragte ich Shiv. Der Zauberer schüttelte den Kopf und knirschte mit den Zäh762
Zähnen. »Nein, nicht seit dieser Elietimmabschaum ihm den Verstand geraubt hat.« Das Wasser in meinem Becher begann plötzlich zu kochen. »Wie geht es Kalions Hand?« Der fette Zauberer litt offensichtlich Schmerzen, die von seiner dick verbundenen Hand stammten, als Seeleute den Zauberern halfen, ihre zerbrechliche Last aufs Schiff zu schaffen. All seine Studien hatten ihn nicht vor dem Schaden gewarnt, den er sich selbst zufügen konnte, wenn er einen Mann, und sei es ein so schmächtiger Kerl wie Otrick, mit der bloßen Faust niederstreckte. »Guinalle hat das meiste schon geflickt.« Shiv brachte ein Lächeln zustande. »Wie es scheint, wird unser ehrenwerter Herdmeister auch weiterhin in der Lage sein, seine Schüler mit Flötenkonzerten zu langweilen. Trotzdem, es war ein geringer Preis, um Otrick zu retten. Ich hoffe, dass wir einen Weg finden werden, den alten Piraten wieder ins Leben zurückzuholen.« Die schmächtige Gestalt der uralten Zauberin Shannet folgte der Bahre; in ihren dünnen Armen hielt sie eine schlichte Urne mit mattgrauen Verzierungen. Mir kam ein Gedanke. »Wer wird Mellitha das mit Viltred sagen?« Ich hoffte, der Erzmagier würde ihre Trauer respektieren. »Kalion hat angeboten, ihr die Urne zu bringen, da Viltred ansonsten keine Familie hatte.« Shivs Stimme klang gereizt, doch ich verstand warum. Ich fragte mich, warum Planir Kalion Gelegenheit gab, eine so wichtige Bürgerin einer so bedeutenden Stadt zu besuchen, wo er ohne Zweifel Absprachen treffen würde, sich mit den Mächtigen von Relshaz zu unterhalten. »Ich würde sagen, Mellitha ist Kalion mehr als ebenbürtig, Shiv.« 763
»Vielleicht«, räumte Shiv ein und lächelte. »Und die anderen, die niedergestreckt wurden?« Ich beobachtete, wie die reglose Gestalt der Frau Jervice an Bord getragen wurde. »Was meint Guinalle?« Ich blickte zu dem schlanken Mädchen. Sie hatte sich in einen warmen Mantel gewickelt, den ich als Usaras erkannte, und gab Parril ein Blatt mit Instruktionen. »Sie sagt, es könnte möglich sein.« Shiv versuchte, hoffnungsvoll dreinzublicken. »Es ist alles eine Frage des richtigen Ansatzes.« »Gebe Dastennin, dass ihr ihn findet«, sagte ich. »Irgendein Gott hat auf jeden Fall einen boshaften Sinn für Humor«, bemerkte Shiv unglücklich, »wenn er so etwas geschehen lässt, nachdem wir gerade noch rechtzeitig eingetroffen sind, um den Angriff zu vereiteln.« »Guinalle betrachtet es genau anders herum.« Usara gesellte sich zu uns; er wirkte traurig und müde. »Sie glaubt, dass die Elietimm im selben Augenblick ihren Angriff begonnen haben, als sie bemerkten, dass wir den Fluss hinunterkommen.« Shiv zuckte mit den Schultern. »Bleibst du, Sar, oder kommst du mit uns?« »Planir will mich in Hadrumal haben; also muss ich seinem Befehl Folge leisten«, antwortete Usara. Sein Blick folgte Guinalle, als sie von der Anlegestelle wieder zum Tor hinaufging. »Im Augenblick sollte man nicht mit ihm diskutieren.« »Ich habe gehört, Naldeth wollte nicht hier bleiben«, sagte ich und lachte. »Ich glaube nicht, dass Naldeth Planirs Reaktion sehr amüsant gefunden hat.« Usara blickte mich streng an. »Chamry scheint glücklich zu sein«, bemerkte Shiv. »Ich 764
glaube, sie hat die Nase voll davon, Shannets jüngste Schülerin zu sein.« »Ich nehme an, Mentor Tonin ist es nicht gelungen, Guinalle davon zu überzeugen, mit ihm nach Vanam an die Universität zu gehen, oder? Hattest du mehr Erfolg bei ihr, Sar?«, fragte ich mit todernstem Gesicht. Usara verriet sich durch die plötzliche Röte in seinen Wangen. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Rysh. Nein, ich unterstütze Guinalles Entscheidung. Natürlich muss sie hier bleiben, um jene zu beschützen, die wir noch wiedererwecken müssen, wenn schon aus keinem anderen Grund.« »Also wirst du wieder hierher zurückkehren, sobald du eine Lösung für sie gefunden hast?«, erkundigte sich Shiv. »Ich oder Parril – oder jeder, der das Wissen findet, das wir brauchen«, antwortete Usara. »Ich glaube nicht, dass du hier viel Konkurrenz hast.« Shiv klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Ich hielt den Mund. Guinalle beharrte taktvoll darauf, Parrils offensichtliche Anbetung zu ignorieren, sowohl um der Gesundheit des Jungen willen als auch um Temar davor zu bewahren, ständig darum ringen zu müssen, seine Eifersucht im Zaum zu halten. Ich konnte Temar von hier aus sehen. Er saß auf einem leeren Fass und wirkte wie ein geprügelter Hund, während er beobachtete, wie die Liebe seines Lebens von ihm ging. Ich schüttelte den Kopf, als ich mich an die Leiden meiner Jugend erinnerte. »Bitte, entschuldigt mich«, sagte ich, ging zu Temar und schlug ihm auf die Schulter. »Hast du deine Entscheidung schon getroffen?« Er blickte zu mir auf. »Was sollte ich denn tun, wenn ich mit 765
dir kommen würde? Soll ich deinem Sieur D’Olbriot den Eid schwören? Ich habe weder ein Haus noch einen Namen, zu denen ich zurückkehren könnte.« »Die Praxis des Eids wurde von Männern geschaffen, die in den Zeiten des Chaos nach dem Fall des Imperiums zu Treibgut geworden sind«, sagte ich und war überrascht, dass es mir plötzlich wieder eingefallen war. Einige von Temars Zeitgenossen hatten vermutlich zu den Ersten gehört, die den Eid abgelegt hatten. Ein Funke von Interesse erhellte Temars düsteres Gesicht. »Wirklich?« Ich nickte. »Der Sieur bietet Sicherheit, und im Gegenzug schwört man ihm die Treue.« Eine Stimme erklang in meinem Geist. Noch einmal hörte ich Messires Worte, als er hoch über mir auf der Empore stand, während ich vor all den Jahren zu seinen Füßen kniete. Wie es die Tradition verlangte, waren wir beide allein in der großen Halle. »So wie meine Mauern dir Zuflucht bieten sollen ...« »So wird mein Schwert Euch verteidigen.« »So wie meine Nahrung dich stärken soll ...« »So wird meine Stärke Euch dienen.« »So wie mein Herd dich wärmen soll ...« »So wird mein Herzblut Euch gehören.« Das war der Kern des Ganzen, nicht wahr? Das waren die Worte, über die ich würde nachdenken müssen, während ich die Loyalität meines Sieurs gegen seinen Eid und gegen meine eigenen Taten abwog. Ein Ruf vom Wasser her riss mich aus meinen Gedanken. »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit für eine Entscheidung«, sagte 766
ich. »Was? Oh. Nein, ich weiß.« Temar seufzte laut. »Was für eine Entscheidung?«, fragte Livak, als sie zu uns trat und den Arm um meine Schultern legte. »Ob ich gehen oder bleiben soll.« Temar blickte zu ihr hinauf. »Wirf eine Rune.« Livak zuckte mit den Schultern. »Keine Entscheidung ist endgültig. Komm mit uns nach Zyoutessela. Messire D’Olbriot hat dich doch eingeladen, oder? Wenn es dir nicht gefällt, springst du einfach wieder aufs nächste Schiff hierher.« »Was nicht vor Frühling nächsten Jahres ablegen wird.« Ich hielt es für besser, Livaks fröhliche Sorglosigkeit um ein wenig Nüchternheit zu bereichern. Ich blickte an ihr hinunter und musterte die dicke Wollhose unter dem dicken Wams. »Ich weiß, es ist ein bisschen viel verlangt, Liebste«, sagte ich, »und ich erwarte nicht sofort eine Antwort, aber wäre es wohl möglich, dass du einen Rock trägst, wenn du meiner Mutter das erste Mal begegnest?« ENDE
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