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Visionen dichterischen ›Mündigwerdens‹: Poetologische Perspektiven auf Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin Susan Nurmi-Schomers
MAX NIEMEYER VERLAG
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 134
Susan Nurmi-Schomers
Visionen dichterischen ›Mndigwerdens‹ Poetologische Perspektiven auf Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin
Max Niemeyer Verlag T#bingen 2008
n
fr Solvejg, Elias und Malte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet #ber http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32134-2
ISSN 0083-4564
3 Max Niemeyer Verlag, T#bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch#tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul?ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f#r Vervielf?ltigungen, @bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest?ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und EInband: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß . . . . . . . . . . . . 10 1.0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.1. Vorboten der Verwirrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1.1. Törleß zwischen ›Ratio und Mystik‹ . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1.2. Törleß zwischen Sexualität und Mystik. . . . . . . . . . . . 17 1.1.3. Törleß’ Wirklichkeit: Manifestationen ihres Doppelgesichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.2. Stationen sexuell-epistemologischer Verwirrung: Törleß zwischen sexueller Begierde und ›Wissbegierde‹ . . . . . 42 1.2.1. Auf dem Dachboden: Formen der Begierde . . . . . . . . 42 1.2.2. Der ›Kant-Traum‹: Törleß im Widerstreit zwischen ›Sinnlichkeit‹ und ›fremder Klugheit‹ . . . . . . . . . . . . . 51 1.2.3. Eros: Törleß’ mystischer Übungsweg . . . . . . . . . . . . . 69 1.3. Törleß’ Schlussrede im Kontext des Musilschen Oeuvres . . . 77 1.3.1. »Tote und lebendige Gedanken«: das ›Ratioïde‹ und das ›Nicht-Ratioïde‹; Analogie und Gleichnis . . . 78 1.3.2. Ulrich über einige ›Verhaltensweisen‹ des Gleichnisses: Kindheit, ›das Mondnächtige‹ . . . . . 89 1.3.3. Die »dritte Möglichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Rainer Maria Rilke, Puppen und motivisch verwandte Dichtungen; Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . . . . . . . 106 2.0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.1. Kind und Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.1.1. Das Kind im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein: Zwei Gedichtinterpretationen . . . . . . . . 107 2.1.2. ›Kinder-Ding‹ und ›Kunst-Ding‹: Rodin . . . . . . . . . . . 123 2.1.3. Puppe, Ding und ›Kunst-Ding‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2.2. Kind und Gegenüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 V
2.2.1. Das Gegenüber als Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.2.2. Die Geliebte als Gegenüber: Zwei Gedichtinterpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.2.3. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Judasbaum-Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.2.4. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Puppenmotiv 158 2.3. Die ›Puppenseele‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2.3.1. Die seelische Dimension der Kindheits-Dinge . . . . . . 166 2.3.2. Metamorphosen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2.3.3. Spiegelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2.4. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . . . . . . . . . . . . . 192 2.4.1. Malte im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2.4.2. Zwischen Eins- und Getrenntsein: die Pariser Gegenwart der Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2.4.3. Hand- und Spiegelepisode in den Aufzeichnungen . . . 204 2.4.4. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn I . . . . . . . . . . . 213 2.4.5. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn II . . . . . . . . . . 222 3. Visionäre Poetologie. Perspektiven auf Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3.0 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3.1. Erinnerungspoetiken: Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.1.1. Kindheitsvergegenwärtigung: Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 und gedichtete Kindheit bei Rainer Maria Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.1.2. ›Poetiken der Vergegenwärtigung‹: Rilke, Benjamin, Proust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.1.3. Dialektik des Vergessens – Dialektik der Vergegenwärtigung: zum Telos Rilke’schen und Benjamin’schen Erinnerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.2. Steine im Mosaik: Versuch einer Traditionsfindung . . . . . . 275 3.2.1. Rückblicke: Hölderlins (erinnerungs-)poetologisches Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3.2.2. Benjamins frühe Sprachkritik im Kontext der ›kulturdialektischen Methode‹ des Spätwerks . . . . 295 3.2.3. Gefäße des Erinnerns: Rilkes Puppen aus Proustscher / Benjamin’scher Perspektive . . . . . . . . . 306 VI
3.2.4. Zur ›Frage der Darstellung‹: Wege zum ›bildnerischen und intellektuellen Ganzen‹ . . . . . . . . . 315 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sekündärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
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VIII
Einleitung
Manch eine Apologetik der Dichtung attestiert dieser ein utopisches Potential. Man beschwört das dichterische Wort als eine göttliche oder gottähnliche Kraft, eine schöpferische; man lobt es als heilende oder rettende Kraft, als harmonisierende oder versöhnende, spricht ihm eine Wirklichkeit spiegelnde, oder gar erst erzeugende Kraft, eine Zauberkraft zu. Der Glaube an die wie auch immer geartete Kraft bzw. Macht des Poetischen, eine ›poetische‹ Seinsweise, eine ›poetische‹ Wahrnehmungs-, Auffassungs-, Ausdrucks-, ja Erkenntnisweise – je nach der Form, die eine solche Apologetik annimmt – liegt den verschiedensten theoretisch formulierten Vorstellungen einer utopischen Potentialität des dichterischen Wortes zu Grunde. Diese wird aber nicht nur in der Theorie ausgelotet, sondern auch in der Dichtung selbst. Nicht von ungefähr erfolgt Reflexion über Dichtung in der Dichtung – und das heißt in streng poetologischem Sinne in Form von Dichtung – häufig dort, wo dieser eine besonders große Wirkkraft bescheinigt wird: seit dem Sturm und Drang immer wieder, bei Hölderlin etwa, in der Romantik (wohl nirgends so häufig wie dort). Allerdings findet auch das Gegenteil einer solchen Zuversicht in der Kraft, ja der Macht des dichterischen Wortes poetologischen Ausdruck: Vor dem Hintergrund des Holocaust etwa sind Urteile über die Wirkungslosigkeit, die Unangemessenheit oder gar ›Unanständigkeit‹ des dichterischen Wortes gefällt worden. In die Entstehungszeit des Musil’schen und Rilke’schen Oeuvres fällt die Sprachkrise von Hofmannsthals fiktivem Lord Chandos, dessen ›Epoche machender‹ Brief die Aporie einer Dichtung zwischen Macht und Ohnmacht der Sprache darlegt, – wenn nicht zu sagen, vorführt, bedient sich der Briefschreiber doch einer eindringlichen poetischen Sprache, um seine Sprachnot in Worte zu fassen. Dieser Brief verbindet – für das frühe 20. Jahrhundert paradigmatisch – die beiden Komponenten einer poetologischen Dichtung, nämlich das diskursive Reflektieren über Sprache und Dichtung in der Dichtung, und dichterische Selbstreflexion in genuin poetischer Gestalt: in der Fiktion, in Metaphern, in Gleichnissen und anderen der Dichtung zur Verfügung stehenden, ihr eigentümlichen Mitteln, die 1
auf das ihnen innewohnende Moment der dichterischen Selbstreferentialität oft nicht explizit verweisen. Beide in dieser Arbeit zunächst fokussierten Dichter sind in diese lange, hier nur an Hand von Einzelmomenten skizzierte Tradition einer poetologischen Dichtung einzureihen insofern (aber nicht nur), als sie in diskursiver wie poetischer Form über die Aufgabe bzw. dieses Potential der Dichtung reflektieren. Das Besondere an ihrer Poetologie liegt aber in der geradezu programmatischen Betonung der Bedeutung von Entwicklung: der Entwicklung nämlich, die vollzogen werden muss, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die zwei Hauptkomponenten dieser in starkem Maße poetologischen Dichtung scheinen sich gegenseitig zu bedingen: Der dichterisch formulierte Entwicklungsgedanke determiniert ein Stück weit die ›Bestimmung‹, die Dichtung jeweils erhält, und umgekehrt prägt das jeweilige Dichtungsverständnis das dichterisch beschworene dichterische Entwicklungsideal. Nicht zuletzt durch die Koppelung des einen mit dem anderen Gegenstand poetologischer Reflexion erhalten die in Musils und Rilkes Werken evozierten Visionen dichterischen ›Mündig-Werdens‹ teleologischen Charakter: Das Dichtungsideal, dem man sich jeweils verschreibt, erscheint als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der wiederum im Zeichen eines bestimmten Telos steht. Signifikanterweise weisen die hier behandelten Werke bemerkenswerte Affinitäten zu Traditionen visionären Dichtens und Denkens im weitesten Sinne des Wortes auf. Diese betreffen einerseits die Struktur des Entwicklungsgedankens, der einer jeden solchen ›Tradition‹ innewohnt – als Konstituens ihrer visionären Ausrichtung –, und andererseits die Vision, die jede hier erörterte Dichtung auf eigene Weise formuliert: eine wie auch immer geartete Einheitsvision. In dieser Vision gründet denn auch ein wesentliches Moment der bemerkenswerten Affinität zwischen Robert Musil und Rainer Maria Rilke. Das Exponieren der Dichtung als Instrument, sie in Erfüllung gehen zu lassen: hierin besteht die Apologetik der Dichtung, die hier Ausdruck findet. Hier wird es also weniger um die ›Existenzberechtigung‹ der Dichtung an sich gehen. Wie der Titel dieser Arbeit signalisiert, richtet sich das Augenmerk vielmehr darauf, wie Dichtung diesen beiden Autoren zu Folge überhaupt erst entstehen kann, – Dichtung, die ihr volles, ihr mit allem Nachdruck attestierte utopisches Potential realisiert. Die Aufgabe besteht zunächst darin, Entwicklungsparadigmen zu identifizieren, die dem dichterischen Wort eine teleologische Dimension verleihen and dabei Weg und Ziel dichterischen ›Mündig-Werdens‹ im Sinne eines gewissen dichte2
rischen (Selbst)-Verständnisses und – um vorzugreifen – eines auf partikuläre Weise erhobenen Universalitätsanspruchs vorschreiben. Wohlgemerkt erhalten die poetologischen Dichtungen, die solche Paradigmen entwerfen, gleichermaßen eine ›vor-schreibende‹ Funktion: Im Laufe der poetologischpoetischen Reflexion ›findet‹ das Telos erst Ausdruck; es entfaltet sich erst in Folge eines Entwicklungsprozesses, an dessen Ende das interpretatorisch zu erschließende Entwicklungsparadigma Anspruch auf quasi-universelle Gültigkeit erhebt. Diese Dynamik soll im Gang der Interpretation offengelegt werden. Diese Arbeit wird sich also zunächst mit Werken von Robert Musil und Rainer Maria Rilke befassen, die solche Entwicklungsparadigmen entwerfen und diese in Hinblick auf ihre Implikationen für poetologische Sinnbezüge betrachten. Es gilt, wichtige Konstituenten der klassischen Moderne – sofern sie von diesen Autoren vertreten wird – auszumachen und zugleich zu erkunden, inwiefern diese Texte gewisse literarisch-geistige Traditionen ›fortschreiben‹. Gerade das Aufspüren einer visionär zu nennenden Poetologie im Musil’schen und Rilke’schen Werk wirft die Frage nach einer etwaigen Traditionsverbundenheit auf, die der kritischen Beleuchtung bedarf. Allerdings kann der Versuch, Rilkes und Musils Oeuvre im Sinne der Leitthesen dieser Arbeit literarisch und ideengeschichtlich zu kontextualisieren, ohne die intensive Auseinandersetzung mit Texten, die sich nicht ohne weiteres der Interpretation erschließen, kaum gelingen. Als besonders wichtig erweist sich eingehende Deutungsarbeit dort, wo der aufzudeckende poetologische Gehalt sich nicht in diskursiver, sondern in ›uneigentlicher‹ Weise artikuliert. In Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß kommen beide Aspekte einer selbstreflexiven Dichtung zum Vorschein, ja sie vermischen sich zum Teil auf sehr reizvolle Weise. Eine Hauptaufgabe meiner Interpretation bestand darin, die zwei Dimensionen eines poetologischen Sprechens in Musils Roman – das Diskursive und das in ›rein‹ poetischer Weise sich Vermittelnde – in Bezug zu setzen. Die Form, die Entwicklung in Musils Verwirrungen annimmt, ist bemerkenswert. Paradoxerweise zeigt sie sich im wesentlichen in einer einzigen, in der Adoleszenzzeit angesiedelten Episode. Die Eigenwilligkeit, die Partikularität der Darstellung in diesem im weitesten Sinne des Wortes als ›Entwicklungsroman‹ zu bezeichnenden Werk besteht nicht zuletzt darin, dass Musils ›großes‹ Thema (das im später verfassten Mann ohne Eigenschaften einen weit größeren Raum beansprucht als hier) schon Ausdruck findet in dieser prägnanten Episode. Dies macht wohl die ›List‹ aus, von 3
der in Robert Musils Kommentar zum Roman die Rede ist. Als solche bezeichnet Musil nämlich seinen Protagonisten: Törleß sei, so der Autor, »[v]erhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt«. (8, 997).1 Nimmt man das Wort von ›seelischen Zusammenhängen‹ wörtlich, so kann man es auf die Form, die Musils ›großes Thema‹ hier erhält, beziehen: Der Dualismus zweier Erkenntnisprinzipien bzw. zweier Weisen, in der Welt zu sein, der ›eingefasst‹ wird in der doppelgliedrigen Formel des ›Ratioïden‹ und des ›Nicht-Ratioïden‹, manifestiert sich in dieser Entwicklungsgeschichte in Form einer Verschränkung sexueller und epistemologischer ›Verwirrungen‹ – so die These, die ich im Folgenden an Hand einer eingehenden Interpretation des Romans erörtern werde. Als ›List‹, die sich aus der Dynamik eines bestimmten krisenhaften, weil im Zeichen einer in mehrfachem Sinne ›doppelgesichtigen Wirklichkeit‹ stehenden Entwicklungsmoments speist, erhält Törleß, wenn man so will, epische Größe. Er nimmt es mit den großen Themen auf, die auch Ulrich immer wieder beschäftigen werden. Seine Geschichte ist jedoch weniger eine Erfahrungs- als vielmehr eine Erkundungsgeschichte, in der die Struktur des seine Welt, seine Wirklichkeit bestimmenden Dualismus gewissermaßen phänomenologisch erforscht wird. Versteht man Musils Roman – wie dieser ihn an einer Stelle bezeichnet – als »Bildungsroman einer Idee«2, so kann Törleß’ ›Diagnose‹ einer doppelgesichtigen Wirklichkeit als die Idee identifiziert werden, die zum Gegenstand dieses ›Bildungsromans‹ im Musil’schen Sinne wird. Hierin kommt eine Eigenart der Musil’schen Auseinandersetzung mit dem oben genannten Einheitsgedanken – als Antwort auf den von Törleß diagnostizierten Dualismus – zum Ausdruck, nämlich eine ausgeprägte Tendenz zum Essayistischen, zur ›Gedankenprosa‹, die die Verwirrungen in große Nähe zu einigen thematisch verwandten Essays rücken lässt; diese werden denn auch für meine Interpretation des Romans herangezogen. Aber in dem Maße, in dem dieser Roman über das Essayistische – und sei es noch so kunstvoll ausgeführt – hinausgeht, wird er zu mehr als einer reinen ›Ideengeschichte‹, auch zu mehr als einer vom Akt der phänomenologischen Reflexion determinierten Erkundungsgeschichte. In der ›List‹, von
1 2
Robert Musil, Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8, 996f. Werke 7, 831.
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der Musils Selbstkommentar spricht, will heißen: in der kunstvollen Verschränkung von Törleß’ sexuellen und epistemologischen ›Verwirrungen‹, wie sie im fiktiven Geschehen des Romans eingebettet erscheinen, liegt die Kunst, die den Deutungswillen herausfordert. Diese Untersuchung wird sich aber nicht auf Musils ersten Roman und die für seine Deutung relevanten Essays beschränken. Gerade auf Grund der großen Affinität zwischen dem kleinen Prosawerk, das hier im Mittelpunkt steht, und dem großen, unvollendeten, in dem ein Erwachsener an die Stelle der ›relativ einfachen‹, ›bildsamen‹ Gestalt des Adoleszenten tritt, wird zum Grundsätzlichen auch der große ›Entwurf‹ einbezogen. Unter anderem sind im Kontext dieser Arbeit Ulrichs Kindheitserinnerungen von Bedeutung; als nicht minder aufschlussreich erweist sich seine Gleichnistheorie, die in einem ganz besonderen Bezug steht zu der Frage nach der Form, die Entwicklung im Werk dieses Autors annimmt. Der poetologische Gehalt Rilke’scher Dichtung ist weitaus weniger im Diskursiven zu suchen als die Musil’sche, erfolgt dichterische Selbstreflexion bei diesem Autor doch vornehmlich in der Weise des ›uneigentlichen‹, dabei höchst eindringlichen poetischen Sprechens. Das zeigt meine Auseinandersetzung mit den zwei Texten, die im Zentrum dieser Arbeit stehen: der Essay Puppen und Rilkes einziges längeres Prosawerk, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Aber auch die anderen Dichtungen, die zum Gegenstand meiner Rilke-Interpretation werden, unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den hier interpretierten Werken Robert Musils. Die Untersuchung setzt bei der Interpretation einer Reihe von Gedichten an, darunter »Vor Weihnachten« und »Requiem auf den Tod eines Knaben«, in denen eine Dialektik von »Eins- und Getrenntsein« in ganz unterschiedlicher Gestalt zum Vorschein kommt, – dies die Struktur, die ein jedes der hier behandelten Werke Rilkes prägt, so auch eine Reihe von Dichtungen, in deren Mittelpunkt die Figur der Puppe steht, der Rilke den bereits erwähnten Essay mit dem lakonischen Titel widmete. Dieser Essay, der trotz seines Reichtums an werkimmanenten Bezügen bisher wenig Beachtung gefunden hat, offenbart bei näherer Analyse seine weitreichende Bedeutung für zentrale ›Rilke’sche‹ Themen und Paradigmen. Nicht zuletzt die bereits erwähnte dialektische Struktur, die sich aus Rilkes ausgeprägtem Polaritätsdenken speist, manifestiert sich in der ›Phänomenologie‹ der Puppe auf eindringliche Weise. Was dieses Phänomen birgt, wird unter Bezugnahme auf die verschiedensten, in diesem Zusammenhang bedeutsamen Dichtungen ›aufgedeckt‹, darunter einige, die sich mit ›Kinder-Dingen‹ befassen. Aber es gibt auch andere, mit diesem Essay 5
motivisch verwandte Dichtungen, – nicht zuletzt die unvollendete Kindheitselegie –, die im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit erhellend sind. Erst das Lesen dieser Texte als aufeinander verweisender Dichtungen fördert die vielen ›intratextuellen‹ Bezüge und damit auch den ›Sinn‹ der ›Gesamttextur‹ zu Tage. In der Erschließung solcher weit verästelten, ein differenziertes Verständnis des Puppenessays ermöglichenden motivischen Zusammenhänge besteht, wie ich meine, eine zentrale Leistung dieser Arbeit, erweist sich dieser bis dato wenig gelesene Essay letztlich – so meine These – als der verborgene Kern Rilke’scher Poetologie. Im Puppenessay erfolgt Entwicklung in Form der sich wandelnden Beziehung des Kindes zur Puppe und der des Erwachsenen zu dem ›aufgewachsenen‹ Spielzeug, wobei die seinerzeit sehr bekannten Wachspuppen von Lotte Pritzel als Inspirationsquelle für den Essay dienten. Wie sich der Pritzel-Verehrer in einem Brief bekennt, habe der »unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung« geschriebene Essay »vom Ureigensten« gehandelt.3 Die Bezüge, die sich wiederum zwischen dem Puppenessay und Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge herstellen lassen, – dies auch ein Werk, in dem die Erfahrung von ›Eins- und Getrenntsein‹ im Zentrum steht –, verleihen Rilkes brieflichem Bekenntnis poetische Glaubwürdigkeit. Eine wesentliche Affinität zwischen diesen beiden Dichtungen besteht in der ähnlichen Einheitsvision und der Bedeutung, die der Dichtung – als Ergebnis eines seitens des Dichtenden zu vollziehenden Entwicklungsprozesses – für die Erfüllung dieser Vision zukommt. Der poetologische Gehalt der Aufzeichnungen gelangt teils im Gestus diskursiven Reflektierens über die eigene dichterische Entwicklung des Aufzeichnenden zum Ausdruck, teils in Form von poetisch durchdrungenen Visionen und Gleichnissen, die – wie die mehr oder weniger diskursiven Reflexionen auch – sich als interpretationsbedürftig erweisen. Der poetologische Gehalt der vom Puppenmotiv geprägten Dichtungen artikuliert sich gleichermaßen in Teilmomenten; erst durch das ›Zusammenlesen‹ der einzelnen Dichtungen und Fragmente, in denen das Puppenmotiv Eingang findet, lässt er sich kohärent erschließen, entfaltet er seine ganze Wirk- und Aussagekraft. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird es darum gehen, Musils und Rilkes ›Visionen dichterischen Mündigwerdens‹ vor einen erweiterten Horizont zu stellen, den der Blick auf Walter Benjamins Erinnerungspoetik und die hiermit zu verknüpfende Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik 3
Rainer Maria Rilke: Briefe. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim, Ffm. 1987; hier II, 464.
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eröffnet. Benjamins Auseinandersetzung mit Erinnerung, Dichtung und Geschichte im Kontext seiner Berliner Kindheit um 1900 und der Thesen Über den Begriff der Geschichte sowie seine Proust-Rezeption, die sich als Reaktion auf neue – dichterisch wie philosophisch formulierte – Theorien über Formen und Funktionen des Erinnerns begreifen lässt, bilden den Ausgangs- bzw. Angelpunkt für die Erforschung überraschender Affinitäten zwischen zwei nicht ohne weiteres als wesensverwandt betrachteten Dichtern und Essayisten. Die unerwartete Verwandtschaft zwischen Benjamin und Rilke, die sich bald abzeichnet, lässt sich mit der Formel ›Poetik der Vergegenwärtigung‹ erfassen. Es gilt, ihre jeweilige Formulierung sowie die mit ihr verbundenen Visionen zu beleuchten. Die erweiterte Kontextualisierung der hier untersuchten Werke setzt sich im zweiten Teil des dritten – und zugleich letzten – Kapitels dieser Arbeit fort. Hier wird der Versuch unternommen, die zunehmend komplexen Zusammenhänge zwischen Dichtern und Dichtungen und den darin zum Ausdruck gelangenden visionären Poetologien zu benennen und erforschen im Sinne einer mehrdimensionalen (aber gezwungenermaßen punktuellen und kursorischen) ›Traditionsfindung‹, wobei diese Formel einerseits auf die Etablierung sowie das Fortschreiben einer wie auch immer gearteten Tradition seitens der hier behandelten Dichter gemünzt ist, sich andererseits jedoch auf die zuletzt gestellte Aufgabe dieser Arbeit bezieht: das ›Zusammentragen‹ von Momenten einer in Folge der Interpretationsarbeit sich herauskristallisierenden Tradition. Die Ecksteine des hier vorgenommenen Erkundungsprozesses bilden Friedrich Hölderlins Erinnerungspoetik und die (post-)moderne Rezeption ihres reifen Ausdrucks in den ›Späthymnen‹ durch Benjamins Freund und Kritiker Theodor W. Adorno in seinem programmatischen Aufsatz mit dem Titel »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«. Diese ›Kampfschrift‹ soll hier als eine Art Katalysator dienen für die Auseinandersetzung mit bei Musil, Rilke und Benjamin entdeckten Tendenzen zur Anknüpfung an eine große poetologische Tradition sowie dem ästhetischen Erneuerungswillen, den das jeweilige Werk vor diesem Hintergrund in je unterschiedlicher Weise an den Tag legt. Hierbei verdichtet sich das Bild einer auf Ganzheit gerichteten visionären Poetologie: ein Bild, das die Erinnerungspoetiken Hölderlins, Rilkes und Benjamins zu Aspekten der besagten ›nachzustiftenden‹ Tradition zusammenfügt. Um ihre Konturen zu schärfen, wird die auf das Thema dieser Arbeit enggeführte Beschäftigung mit Hölderlins Poetik des Erinnerns als traditionsstiftendem Moment und ihrer ›späten‹ Rezeption durch Adorno um zwei weitere Hölderlin-Exegesen ergänzt: Jochen Schmidts Studie mit 7
dem Titel Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. »Friedensfeier« – »Der Einzige« – »Patmos«4 und Eric L. Santners Friedrich Hölderlin. Narrative Vigilance and the Poetic Imagination.5 Aus den drei teils opponierenden, teils gleichgesinnten, sich auf jeden Fall gegenseitig ergänzenden – und beleuchtenden – Lesarten entsteht ein multi-perspektivischer Blick auf Hölderlin, der einen fruchtbaren Bezugsrahmen für abschließende Einsichten in poetologische Visionen bzw. visionäre Poetologien liefert. Schmidt präsentiert eine präzise Reformulierung der idealistischen Lesart Hölderlin’scher Späthymnik, gegen die Adorno mit (post-)modernem Bewusstsein ›anschreibt‹; Santner wiederum setzt dieser Interpretation eine alternative, von neuen Prämissen ausgehende entgegen. Der ›Exegetenstreit‹, der sich aus der Gegenüberstellung dieser drei Deutungsansätze formulieren lässt, liefert wesentliche Kategorien für die Auseinandersetzung mit Rilke und Benjamin, aber auch Musil, wobei Benjamin, als Fortschreiber und zugleich Überwindenwollender der besagten visionär-poetologischen Tradition, eine nicht auflösbare Ambivalenz an den Tag legt: Der Bestrebung nach einer Totalität schaffenden Erinnerungspoetik sowie nach einer Ganzheit verheißenden essayistisch-dichterischen Form – die als Zwitterform sich bereits synthesewillig zeigt – steht Benjamins Historismuskritik und die Formulierung der mit ihr einhergehenden ›kulturdialektischen Methode‹ entgegen, die nicht zuletzt als Mittel gegen das nach Totalität strebende Systemdenken der idealistischen Tradition dargeboten wird. Indem Adorno ganz im Sinne eines solch ›methodischen‹ Bemühens gegen das als idealistisch zu bezeichnende Dichtungs- und Geschichtsverständnis angeht, das Hölderlins späten Hymnen bis heute ein- bzw. zugeschrieben wird, bietet sein nicht zuletzt zu heuristischen Zwecken herangezogener Hölderlin-Aufsatz einen fruchtbaren und spannungsreichen Ausgangspunkt für die Ortung der drei hier zu untersuchenden Dichter bezüglich eines ganzen Spektrums an epochenspezifischen und, wie die Untersuchung vornehmlich zeigen will, in starkem Maße verschränkten Themen. Dieses Spektrum reicht von poetischen Formen und Funktionen des Erinnerns über Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik bis hin zur ›Frage der Darstellung‹, wie diese sich insbesondere bei Musil und Benjamin stellt. Um mit Letzterem zu reden, sucht der abschließende, gewissermaßen rondohaft angelegte Teil dieser Arbeit, ein ›intellektuelles und bildnerisches Ganzes‹ zu entwerfen im Sinne der hier vorgenommenen 4 5
Darmstadt 1990. New Brunswick 1986.
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›Traditionsfindung‹. Diese umfasst mehrere Momente: im Hinblick auf die hier zu untersuchenden Dichter die hypostasierte ›Einfindung‹ in eine (erinnerungs-)poetologische Tradition und die ›Er-findung‹ neuer, visionärer Poetologien; auf Seite der Verfasserin das Ausfindigmachen vielschichtiger bedeutsamer Affinitäten mittels der hier dargelegten Lese- und Gedankengänge, die versuchen, die Konturen einer noch ›freizulegenden‹ Tradition zu umreißen.
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Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
1.
1.0. Einleitung Vordergründig stellt Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß (1910) eine Art Entwicklungsroman dar: einen, wohlgemerkt, der sich auf eine Schlüsselepisode im Reifeprozess des Protagonisten und die hiermit verknüpften ›Momente der Verwirrung‹ fokussiert. Diese ›Momentaufnahme‹ eines ›verwirrten‹ Adoleszenten liefert die Perspektive, aus der die zurückgelegte sowie die anvisierte – dichterische – Entwicklung des Zöglings angezeigt wird. Aber der Roman will mehr: Er wird bald zum Vehikel einer umfassenden erkenntniskritischen Auseinandersetzung, die über Törleß’ eigene, lebensaltersspezifische und situationsbedingte ›Verwirrungen‹ weit hinausweist. Dies besagt tendenziell schon der Kommentar des Autors zu seiner Gestalt. Wie dieser schreibt: Der Sechzehnjährige […] ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt. Ein Zustand hemmungsschwacher Reagibilität. Aber die Darstellung eines Unfertigen, Versuchenden und Versuchten ist natürlich nicht selbst das Problem, sondern bloß Mittel, um das zu gestalten oder anzudeuten, was in diesem Unfertigen unfertig ist. Sie und alle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; […]. (8, 997)1
Allerdings ist bei derartigen Selbstkommentaren2 Vorsicht geboten. Und in der Tat: So austauschbar, wie Musil meint, dürfte das gewählte Sujet
1
2
Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8, 996f. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Band- und Seitenzahl der zitierten Passagen aus den Essays und Reden sowie aus dem Mann ohne Eigenschaften stehen hinter der zitierten Passage in Klammern. Die hier zitierten Passagen aus den Verwirrungen des Zöglings Törleß (in Band 6 dieser Ausgabe) werden lediglich mit der in Klammern gesetzten Seitenzahl versehen. Weitere Selbstkommentare Musils zu den Verwirrungen sind in den Tagebüchern zu finden. In: Robert Musil: Tagebücher; Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg.
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als Mittel zum erklärten Zweck nicht sein, zeigt sich doch die in den Verwirrungen ausgetragene Auseinandersetzung auf so enge Weise mit Törleß’ situations- und altersspezifischen ›Verwirrungen‹ verstrickt, dass man in Törleß kein so beliebiges Vehikel sehen darf, keinen so beliebigen ›Wagen, in dem man fährt‹. Gegenstand dieser im Mann ohne Eigenschaften erneut aufgegriffenen Auseinandersetzung, – dort facettenreich beleuchtet und vertieft –, ist der von Elisabeth Albertsen auf den Begriff gebrachte Dualismus von ›Ratio und Mystik‹,3 in denen Musil die »Pole der Zeit« sah (Tb 237), und die Möglichkeit einer Überwindung dieses Dualismus durch eine ›heil-volle‹ Versöhnung der konträren Erkenntnismodi und -ziele, die diese beiden ›Pole‹ bestimmen.4 Wenn man Musils geistigen Standort auf der Werkstufe der Verwirrungen ›zwischen Mach und Maeterlinck‹ ansiedelt – so eine weitere, auf sein Werk gemünzte Formel5 –, bringt man auf anschauliche Weise den, man muss fast sagen, unfreiwillig dualistischen Charakter seines Denkens zum Ausdruck, der sich im von Törleß geführten Kampf mit dem ›Doppelsinn‹ der Wirklichkeit widerspiegelt: Während Ernst Mach hier als Vertreter eines radikal positivistischen Zeitgeists herhalten muss,6 dient Maurice Maeterlinck als Verkörperung eines ›mystischen‹.7 Musils dualistische Sicht auf die Wirklichkeit kommt in der Konstatierung zwei-
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von Adolf Frisé, Hamburg 1976. Im Folgenden werden die Seitenzahlen der aus den Tagebüchern zitierten Passagen anschließend an die zitierte Passage in Klammern nach der Kürzel »Tb« angeführt. Siehe in diesem Zusammenhang unter anderem Tb 143, Tb 171f. und Tb 216. Elisabeth Albertsen: Ratio und ›Mystik‹ im Werk Robert Musils, München 1968, 11. Den epochenspezifischen Charakter eines solchen Dualismus thematisieren u.a. Roger Willemsen und Wolfdietrich Rasch. Siehe Roger Willemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils, München 1984, 31, und Wolfdietrich Rasch: »Der Mann ohne Eigenschaften. Eine Interpretation des Romans«. In: Renate v. Heydebrand (Hrsg.): Robert Musil, Darmstadt 1982, 54–119, hier 71. Jan Aler: »Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach. Robert Musils literarisch-philosophische Anfänge«. In: Fritz Martini (Hrsg.): Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käte Hamburger zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1971, 266–290. Musil promovierte mit einer Untersuchung über Mach. Die 1908 fertiggestellte Arbeit trägt den Titel Beiträge zur Beurteilung der Lehren Machs. Es ist wichtig hervorzuheben, dass Musil keineswegs Machs Wissenschaftsverständnis pauschal ablehnt. Vielmehr bezieht sich seine Kritik darauf, dass Mach Teilwahrheiten zu einem allumfassenden Denksystem erhebt. Vgl. Yvon Desportes: »Vergleichende Untersuchungen eines Stils und einer Philosophie: Ein Werk Musils aus der Sicht Machs«. In: Renate v. Heydebrand (Hrsg.): Robert
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er entgegengesetzter Erkenntnisprinzipien zum Ausdruck: eines ›ratioïden‹ und eines ›nicht-ratioïden‹. Um diese polaren Termini strukturiert sich Musil’sche Erkenntniskritik, wie sie sich in den Verwirrungen wie im Mann ohne Eigenschaften artikuliert. Der Widerstreit zwischen den opponierenden Erkenntnismodi, zwischen den ›Wirklichkeiten‹, die sie ›auf den Begriff bringen‹, liegt Törleß’ ›Verwirrungen‹ zu Grunde. Hieraus resultieren die epistemologischen und ästhetischen Probleme, mit denen der Verwirrte sich in verschiedentlicher Weise auseinandersetzt. Genau genommen kommt Törleß bei seinem fortwährenden Ringen mit diesen Problemen – dargelegt zuletzt in aller diskursiver Ausführlichkeit in seiner Rede vor dem Lehrerkollegium am Ende des Romans – zu keiner auch nur vorläufigen Lösung. Er benennt lediglich die ›Fronten‹, schafft erst das Problembewusstein, legt das Fundament für weiterführende essayistisch-dichterische Reflexionen. Erst Ulrichs ›reifere‹ Auseinandersetzung mit den von Törleß offen gelassenen Fragen, die nicht zuletzt im Rahmen seiner ›Gleichnistheorie‹ neu formuliert werden, zeigen nämlich, wohin die Musil’sche Diskussion um Wege aus einem starren Dualismus letztlich führt. Aus diesem Grund wird der letzte Abschnitt dieser Untersuchung die von Törleß in seiner Schlussrede vor dem Lehrerkollegium zur Sprache gebrachten Themen in den Kontext von Ulrichs vielfältigen Ausführungen über das Gleichnis stellen, wodurch auch der thematisch enge Bezug zwischen Musils Erstlingsroman und seinem unvollendeten Lebenswerk evident wird.8 Aber Törleß leistet nicht nur die ›Vorarbeit‹, auf der Ulrich im späteren Werk aufbauen wird, um zu einer zumindest vorläufigen Antwort auf die Musil’sche Grundfrage zu kommen. Es wäre verkürzt, Törleß (nur) als etwas unbeholfenen Vorreiter Ulrichs zu sehen, denn es erweist sich als bedeutsam, dass die besagte erkenntnistheoreti-
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Musil, Darmstadt 1982, 281–295, hier 287, und Aler: Zögling zwischen Maeterlinck und Mach, 238. In Hinblick auf das Verhältnis zwischen beiden Romanen vgl. Musils Brief an Viktor Zuckerkandl (den Lektor im Hermann-Fischer Verlag, auf den die Rechte auf den Mann ohne Eigenschaften übertragen worden waren) aus dem Jahre 1938, der rückblickend konstatiert: »[…] das Werk […] und das ist nicht der M.o.E. allein, sondern in einem eigentlich nur unwesentlich geringeren Grade gehören auch der Törleß, die Vereinigungen und die Schwärmer dazu, nebenbei die drei Frauen, die Dummheit und die Rilkerede. Das ist nicht altes Eigentum, das einer ungern wegwirft, das sind auch nicht Stationen meiner Dichtung, sondern ihre Teile, aus denen sich eine Auffassung der Dichtung aufbaut […].« (Zitiert in Ernst Kaiser/ Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk, Stuttgart 1962, 72.)
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sche Grundfrage zunächst im Kontext von Törleß’ spezifischer Situation gestellt wird: der Situation eines Menschen, der fast noch Kind, aber auch schon fast erwachsen ist. So gehen die ersten beiden Abschnitte dieser Untersuchung der Frage nach, welche Relevanz Törleß’ altersspezifische Lebenssituation für diese in Form von ›Verwirrungen‹ formulierte Grundfrage letztlich erhält, und das will heißen: inwiefern der Sechzehnjährige vielleicht doch keine ›List‹ darstellt.
1.1. Vorboten der Verwirrungen 1.1.1. Törleß zwischen ›Ratio und Mystik‹ Schon in den ersten Seiten der Verwirrungen manifestiert sich in aller Deutlichkeit der Dualismus zwischen ›Ratio und Mystik‹, der Törleß im Verlauf des Romans so stark beschäftigen wird. Die beiden ersten Erzähleinheiten, die Abschiedsszene am Bahnhof und der vom Erzähler gelieferte Rückblick auf Törleß’ früheres Heimweh, inszenieren gewissermaßen die Kontrapunktik zweier opponierender Weltbilder, deren zumindest vorläufige Unversöhnbarkeit Törleß’ ›Verwirrungen‹ auslösen wird. Die einleitende Passage des Romans dient dazu, Törleß’ emotional-geistige Situation zu Beginn seiner ›Verwirrungen‹ szenisch und sprachlich zu veranschaulichen. Die Szenerie des Geschehens wird zum Ausdruck der inneren Verfassung des Verwirrten. Wie es heißt, haben für Törleß »Gegenstände und Menschen […] etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich […]« (7). Dieses Gefühl drückt sich auch in der Statik und Unpersönlichkeit des Erzählgestus im ersten Absatz aus, und es schlägt sich zudem im homogenen, und dadurch monoton wirkenden Sprachrhythmus nieder, erzeugt vor allem durch die parataktische Grundstruktur der Textpassage und die Parallelkonstruktionen: »Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose […] Licht […]«; »[v]on Zeit zu Zeit […] trat der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der gleichen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf […], zog […] sodann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf, […] verschwand.« (7) Dieser Sprachstruktur entspricht die Optik der Szene. Diese wird von »vier parallele[n] Eisenstränge[n]« beherrscht, zu denen weitere Parallellinien hinzukommen in Form der »von dem Abdampfe in den Boden gebrannte[n]« Striche (7) an deren Seite. Die zur Bahnhofsrampe führende Straße und die Reihen von ›traurigen‹ Akazienbäumen setzen das optische Motiv fort. Dazu der »breite[…], festgestampfte[…] Streifen zwischen 13
Schienenstrang und Gebäude« (7). Auf diese Weise stilisiert sich die Szenerie zu einem leblosen Raster; alles ist »schmutzig«, »dunkel«, »bleich«, »kraftlos«. Der Boden um die Straße herum ist »zertreten«, und auch der Streifen, auf dem die Menschen promenieren, ist »festgestampft«; all dies zeigt etwas ›Festgefahrenes‹ im übertragenen Sinne an. Kontrapunktisch hierzu der anschließende Bericht von Törleß’ anfänglichem, »fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh« (8), das er in Briefen an die Eltern thematisiert hatte. Die Vorgänge jener inneren Welt, die Törleß im Akt des Briefeschreibens erschafft – wie es heißt, »(hob sich etwas) wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben […] in ihm aus dem Meer grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um Tag kalt und gleichgültig umdrängte« (8f.) –, werden denn auch mit dem »schattenhafte[n], bedeutungslose[n] Geschehen im Internat kontrastiert, das Törleß als »gleichgültige Stationen wie die Stundenziffern eines Uhrblattes« (8) erlebt. Während die Uhr – als mechanistisches Messinstrument – den ›ratioïden‹ Erkenntnismodus repräsentiert, stehen die Briefe im Dienste eines ›nicht-ratioïden‹ Erkenntnismodus; in Törleß’ Phantasie zumindest fungieren sie als »goldene […] Schlüssel«, mit denen er »das Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde«. Schließlich entzieht sich das in diesen Schreibversuchen thematisierte Phänomen – die vermeintliche Sehnsucht nach den Eltern – dem rationalen Zugriff, denn der eigentliche Gegenstand dieser Sehnsucht lässt sich nicht einmal benennen. Es wird für Törleß lediglich erkennbar, dass diese Sehnsucht etwas »viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres« (9) darstellt, als er zunächst meinte, »[d]enn der ›Gegenstand dieser Sehnsucht‹, das Bild seiner Eltern, war darin eigentlich gar nicht mehr enthalten« (9), so der Erzähler. Vielmehr erhalten die Eltern den Charakter eines Vorwands; ihr Bild – und darin besteht seine eigentliche Funktion – rief eine[n] grenzenlose[n] Schmerz in [Törleß] empor, dessen Sehnsucht ihn züchtigte und ihn doch eigenwillig festhielt, weil ihre heißen Flammen ihn zugleich schmerzten und entzückten. Der Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst Geißelnden gestreut wird.--- (9)
Es handelt sich hier um eine Art ästhetisch-mystische Ekstase mit negativen (narzisstischen) Vorzeichen, die zwar über das Bild der Eltern – als greifbaren ›Gegenstand der Sehnsucht‹ – ›ver-mittelt‹ wird, ihre Kraft aber offen14
sichtlich nicht aus diesem Bild schöpft, sondern aus einer ›höheren‹ Quelle: Hinter Törleß’ Heimweh nach den Eltern verbirgt sich die Sehnsucht nach ›mystisch‹ zu nennender Vereinigung, wie auch immer sich diese gestalten mag.9 Seine Eltern stellen nicht den eigentlichen Gegenstand seiner Sehnsucht dar, sondern sie erhalten Vorwandcharakter. Törleß’ Erfahrung mit dem Heimweh und die von ihm veranlassten Schreibversuche erhalten also den Charakter einer ›mystischen‹ Vorübung, die den Schreibenden auf ein zukünftiges, wahrlich mystisch zu nennendes Vereinigungserlebnis vorbereiten soll.10 Insofern ist es nur allzu verständlich, dass das Nachlassen des Heimwehs Törleß keine Erleichterung verschafft, sondern vielmehr als Verlust erlebt wird: Als dann sein ›Heimweh‹ weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine endlich erwartete Zufriedenheit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefülltsein in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte. (9f.)
Zwischen der ›Keimzeit‹, der Phase des von Törleß erlittenen Heimwehs also, und einer zu erwartenden Erfüllungszeit legt sich eine Zeit der inneren Leere, in der »diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit« (10) zunächst ›versiegt‹. In dieser befindet sich Törleß zum Zeitpunkt des Romangeschehens: Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen, und an ihre Stelle traten ausführliche Beschreibungen des Lebens im Institute und der neugewonnenen Freunde.
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Musil wird oft angeführt als Kardinalbeispiel für eine ›moderne‹, und das heißt ›gottlose‹ Mystik, so etwa von Hans Dieter Zimmermann in seinem Aufsatz »Die Entstehung der Moderne aus dem Geiste der Mystik«, die – so der Untertitel – »[m]ystische Tendenzen in Philosophie und Kunst eines ›atheistischen‹ Jahrhunderts« untersucht (in: Wolfgang Böhme: Mystik ohne Gott? Tendenzen des 20. Jahrhunderts, Karlsruhe 1982, 9–58). In seinem Aufsatz mit dem Titel »Der schauende Mensch. Ein Vergleich mystischer Erfahrung im Mittelalter und heute« konstatiert Dieter Mieth »den Rückzug in die Form«, wobei »die Gestalt gegen den Gehalt, die Form gegen den Inhalt reklamiert« werde (in: Wolfgang Böhme: Mystik ohne Gott?, 71–85; hier 83). Dem entspricht zweifelsohne eine moderne Tendenz zur Ästhetisierung des ›Mystischen‹, auch bzw. gerade im Werk Musils. Zu Törleß’ Heimweh äußert sich Musil in den Tagebüchern. Siehe insbesondere Tb 961.
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Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der noch fruchtlosen Blüte den ersten Winter erlebt. (10)
Diese Entwicklung schlägt sich in Törleß’ Schreibversuchen nieder. Während zu Zeiten seines Heimwehs die Briefe an die Eltern als ›goldene Schlüssel‹ zu ›wunderbaren Gärten‹ zelebriert wurden, schreibt Törleß jetzt »hier und da eine kleine Erzählung«, hat, wie der Erzähler berichtet, begonnen, ein romantisches Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und seine Augen glänzten. Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewissermaßen nur in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht oder eine Erzählung wann immer, auf jede Aufforderung hin, niederzuschreiben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie ganz ernst, und die Tätigkeit erschien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgendeinem äußeren Zwang Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen, wie ein Schauspieler dazu des Zwanges einer Rolle bedarf. (13)
Äußerlicher Aktivismus – »nur in der Bewegung«, nicht aber in der Kontemplation »lebte sein Geist« – ist jetzt die Triebfeder seiner dichterischen Versuche. Wie wichtig die Kontemplation für die ›mystische‹ Erfahrung ist, betont Musil in den Tagebüchern sowie im Mann ohne Eigenschaften. Die Empfindungen, die den noch kindlichen Törleß zumindest ansatzweise für eine solche Erfahrung empfänglich gemacht hatten, weichen jetzt solchen, die lediglich zu »Reaktionen des Gehirns« erklärt werden: Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Menschen fühlt, jedenfalls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und Handlungen wenig bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, […] dieser letzte, unbewegliche Hintergrund, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich verloren gegangen. (13f.)
Dieser »letzte, unbewegliche Hintergrund« geht wohl deswegen verloren, weil Törleß in eine ganz vom Prinzip des ›Ratioïden‹ beherrschte Welt geraten ist, die Welt des Konvikts als Bildungsinstitution.11 Der Anfang des 11
Gabriele Dreis geht ausführlich auf Musils Schulkritik ein. Musil referierend kontrastiert sie die »zu eindeutigen Formen gerinnende, die ›tote Pädagogik‹« mit der »›lebendigen‹«, deren Zielperspektive es sei, »so Musil, nicht Verfestigung, sondern Verhinderung jeder Verfestigung zu betreiben […]«; nicht »›das Verwirklichen‹, vielmehr ›das Nichtverwirklichte‹ (MoE 275)« sei »als universale
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Romans, der dem Leser diese Welt präsentiert, setzt am Krisenpunkt an: an dem Punkt nämlich, an dem für Törleß die zuvor ›messbare‹ Welt beginnt, ihre ›unmessbare‹ bzw. ›unermessliche‹ Dimension (wieder) zu entfalten. Die dadurch heraufbeschworene Krise wird an Hand eines Gleichnisses veranschaulicht. Den Weg vom Bahnhof haben die Schüler inzwischen zurückgelegt. Am Schulort angekommen laufen sie in zwei Reihen Richtung Stadt: Törleß sah nicht rechts noch links […], – und so fühlte er es: als ob es so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung – Schritt für Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog, einfing und zusammenpreßte. Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren in einen runden, ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als dort ein morschgewordener Wegweiser schief in die Luft hineinragte, wirkte diese, zu ihrer Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie ein verzweifelter Schrei auf Törleß. (16)
Der morsch gewordene Wegweiser scheint einen zweiten Weg zu markieren, der von diesem festgetretenen abweicht. 1.1.2. Törleß zwischen Sexualität und Mystik Wodurch wurde aber die Krise, die die ›Verwirrungen‹ dieses jungen Zöglings ausmacht, nun ausgelöst? Meines Erachtens gibt der Text eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Seit der Zeit, als die »Quelle einer ersten höheren Seligkeit« (10) versiegt war, hatte nämlich »die beginnende Geschlechtsreife [angefangen], sich dunkel und allmählich in [Törleß] emporzuheben« (12) – und zwar bis kurz vor den Punkt, an dem sexuelle Regungen als solche wahrgenommen werden. Das Harren an der Schwelle zum manifesten sexuellen Impuls erzeugt eine Spannung, die Törleß als ein bald sehnsuchtsvolles, bald verängstigtes Warten auf »etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes« (17) erlebt, – so Törleß’ Reaktion auf den Anblick der derben Bauersfrauen und fast nackten Kinder, denen er und seine Freunde auf dem Weg vom Schulort in die Stadt begegnen. Während die erotisch aufgeladene Atmosphäre von Törleß’ Freunden als solche erkannt wird, bleibt Törleß im Unklaren darüber, wodurch die von ihm
Prozessorientierung« anzusehen. Gabriele Dreis: »›Ruhelose Gestaltlosigkeit des Daseins‹. Pädagogische Studien zum ›Rousseauismus‹ im Werk Robert Musils, München 1992, 183.
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erlebte Spannung verursacht wurde, auch wenn er nahe daran ist, die Situation richtig zu erkennen: Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen, schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte. Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete. Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu verstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bildern immer auf etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf …? … Auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes; auf einen ungeheuerlichen Anblick, von dem er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von den Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren Weise mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit … mit einer Beschmutzung an dem Kot der Höfe … zusammenhängen müsse … . (17f.)
Den nur erahnten Hintersinn dieser Bilder – seien es die Bilder der Hinterhöfe, die der Blick durch einrahmende Fenster und Torwege gewissermaßen ›komponiert‹, seien es die alten Malereien in Museen – versucht Törleß zu begreifen, und dabei zeigt sich bald, dass das sich andeutende erotische Moment einen Vorwand darstellt; das Gefühl, »[a]uf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes« (17) zu warten, wird zwar durch die erotische Spannung der Situation ausgelöst – und durch Törleß’ Unfähigkeit, die sexuelle Natur seines Affekts zu erkennen noch gesteigert –, aber das Warten bezieht sich letztlich auf etwas anderes, die konkrete Situation Transzendierendes. Wie es in Form eines ›Gedankenzitats‹ heißt, in dem man eine Abwandlung des eingangs angebrachten Maeterlinck-Mottos unschwer identifizieren kann, ist es für Törleß etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen sollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind … . Dennoch war es zum Schämen. (18)
Die beiden Momente, die für Törleß’ Freunde zumindest überdeutliche ›Bauersfrauerotik‹ und das Ungreifbare, Unbeschreibliche, auf das diese hinzuweisen, das über diese hinauszuweisen scheint, vermischen sich. Da18
her Törleß’ Gefühl, man sehe Dinge, die gar nicht da sind, wenn man versuche, ›es‹ mit Worten zu sagen, denn die Worte beziehen sich auf die unterschwellig erotischen Empfindungen, die der Anblick der Bauersfrauen auslöst, während mit ›es‹ der dahinter bzw. darüber liegende, ›eigentliche‹ Gegenstand der erwartungsvollen Sehnsucht gemeint ist. So wie die Eltern nur die ›Gelegenheitsursache‹ für Törleß’ Heimweh darstellten, fungieren die Bauersfrauen hier nur als eine Art ›Gelegenheitsursache‹ für eine letztlich nicht sexuelle, sondern ›höhere‹ Form der ›Begierde‹, deren Qualität sich eben nicht in Worte fassen lässt. Die spöttische Frage Reitings, »›Hat das Bubi Heimweh?‹« (18), zeigt sich in diesem Kontext als hintersinnig: Sie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Warten auf dieses ›es‹ und Törleß’ anfänglichem Heimweh her. Indem man in der nächsten Erzähleinheit die Rede auf das »geheimnisvolle[…], bizarre[…] Dämmern des esoterischen Buddhismus« (19) bringt, dem Beinebergs Vater sich verschrieben habe, scheint man den Weg weisen zu wollen, der die Erfüllung einer ›höheren‹ Sehnsucht verspricht: den Weg der mystischen Kontemplation, – auch wenn es sich hier nur um eine Art Pseudomystik Arnheim’scher Manier handelt. Die von Törleß erlebte Diskrepanz zwischen dem »kaum merkbare[n] Gedanke[n]« (18) und den Worten, derer man sich bedient, um diesen zu artikulieren, lässt sich darauf zurückführen, dass der Gedanke sich auf den eigentlichen Gegenstand des Wartens bezieht, während die Worte im Bereich des Fassbaren bleiben (müssen) und sich daher an den vordergründigen Anlass für das Gefühl spannungs- und erwartungsvollen Wartens orientieren, sprich: die latent erotische Situation. Das von Törleß formulierte Paradoxon, – dies signifikanterweise eine Neuformulierung des Maeterlinck’schen Mottos –, entpuppt sich letztlich als Scheinparadoxon, denn der wirkliche Grund für die von Törleß bemerkte Diskrepanz ist die Vermengung zweier Formen des Wartens »auf etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes«: einerseits auf das Manifestwerden eines noch nicht zum Bewusstsein gelangten sexuellen Impulses, andererseits auf das, was man vorläufig als die mystische Schau bezeichnen könnte. So wie es in der Episode mit den Bauersfrauen letztlich nur vordergründig um Sexuelles zu gehen scheint, das sexuelle Moment also Vorwandcharakter erhält, erlebt Törleß den Unterricht in der Schule als eine Art Ersatzhandlung, die seine ›Wissbegierde‹ nicht zu stillen vermag. Wie Törleß sich Beineberg gegenüber äußert: ›Von alldem, was wir den ganzen Tag lang in der Schule tun, – was davon hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine etwas für sich
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haben, – du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan genügt, aber man ist dabei leer geblieben, – innerlich meine ich, man hat sozusagen einen ganz innerlichen Hunger … .‹ (23)
Auch hier führt der Erkenntnisdrang über das vordergründige Ziel hinaus und äußert sich in Form eines Wartens auf etwas Unbestimmtes bzw. Unbestimmbares. Törleß spricht vom »›ewige[n] Warten auf etwas, von dem man nichts anderes weiß, als daß man darauf wartet … .‹« (23). Es ist bedeutungsvoll, dass an dieser Stelle im Café-Gespräch zwischen Törleß und Beineberg die Dämmerung einsetzt, »[…] jener Augenblick intensivster Stille, der stets dem völligen Dunkelwerden kurz vorangeht«, und in dem die »Formen, welche sich immer tiefer in die Dämmerung gebettet hatten, und die Farben, welche zerflossen, […] für Sekunden still zu stehen, den Atem anzuhalten (schienen)« (23)12, und dass in Törleß jetzt eine Kindheitserinnerung auftaucht, die sich immer wieder ins Bewusstsein drängt, wenn es dämmert: ›Höre, Beineberg,‹ sprach Törleß, ohne sich zurückzuwenden, ›es muß während des Dämmerns immer einige Augenblicke geben, die ganz eigener Art sind. So oft ich es beobachte, kehrt mir dieselbe Erinnerung wieder. Ich war noch sehr klein, als ich um diese Stunde einmal im Walde spielte. Das Dienstmädchen hatte sich entfernt; ich wußte das nicht und glaubte es noch in meiner Nähe zu empfinden. Plötzlich zwang mich etwas aufzusehen. Ich fühlte, daß ich allein sei. Es war plötzlich so still. Und als ich um mich blickte, war mir, als stünden die Bäume schweigend im Kreise und sähen mir zu. Ich weinte; ich fühlte mich so verlassen von den Großen, den leblosen Geschöpfen preisgegeben … . Was ist das? Ich fühle es oft wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören?‹ (23f.)
Im Wesentlichen besteht dieses Kindheitserlebnis in der Erahnung einer sich ex negativo manifestierenden Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die paradoxerweise mittels einer ›Sprache des Schweigens‹ zum Ausdruck komme. Die Erscheinung dieser Wirklichkeit wurde von einem Versinken der Formen, einem Stillstehen der zerflossenen Farben begleitet bzw. bedingt; sie ging also mit einem Vereinheitlichungsprozess einher, der die Konturen der Dinge am helllichten Tag aufhob. Die Dämmerung, wie Törleß sie erlebt, hat eine enge Affinität zu dem, was im Mann ohne Eigenschaften
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Man vergleiche die hier evozierte Stimmung mit der, die die »Atemzüge eines Sommertags« im Mann ohne Eigenschaften beschwört (4, 1240).
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das ›Mondnächtige‹ genannt wird, das uns noch beschäftigen wird.13 Das Entscheidende an diesem in der Kindheit oft wiederkehrenden Erlebnis ist Törleß’ Gefühl, wenn nicht zu sagen Gewissheit, er »(lausche) auf ein ernstes Geheimnis und […] (blicke) mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens«, was er aber »nur für einen Augenblick« aushalten könne. (24) Hierin ähnelt dieses Gefühl dem später erfahrenen ›Heimweh‹ und dem beim Anblick der Bauersfrauen ausgelösten Gefühl, auf »etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes« zu warten; es bildet das Paradigma für viele andere Erfahrungen, die Törleß im Laufe seiner ›Verwirrungen‹ machen wird.14 Das Gefühl der Einsamkeit, das sich bei Törleß’ Beschreibung der Dämmerung zunächst in den Vordergrund gedrängt hatte, erweist sich bei näherer Reflexion jedoch als etwas Nebensächliches, nämlich als die Folge von »dieser zu hohen Anforderung,« »mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens zu blicken« (24), der er sich nicht gewachsen fühlt: »Er fühlte: hierin liegt etwas, das jetzt noch zu schwer für mich ist, und seine Gedanken flüchteten zu etwas anderem, das auch darin lag, aber gewissermaßen nur im Hintergrunde und auf der Lauer: Die Einsamkeit.« (24) Die Einsamkeit erfüllt eine zum Teil ähnliche Funktion wie später das vermeintliche Heimweh: Beide lenken vom eigentlichen ›Geheimnis‹ ab, stellen gewissermaßen vorgeschobene Gefühle dar. Aber das, wovon sie ablenken, empfindet Törleß lediglich als »noch zu schwer« für sich (Hervorhebung der Vf.); er meint also, zu gegebener Zeit sich dem Geheimnis nähern zu können. An dieser Stelle eröffnet sich eine für die in diesem Roman fokussierte Art von Reifung entscheidende Entwicklungsperspektive.15
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Siehe Abschnitt 1.3.2. dieser Arbeit. Kindheit kann im Sinne Albertsens als ›utopische Region‹ verstanden werden, in der erste Erfahrungen dieser Art gemacht werden. Vgl. Albertsen: Ratio und Mystik, 42: »Musil ist mit untrüglicher Witterung den feinsten Spuren des untheologischen mystischen Erlebens in jenen utopischen Regionen nachgegangen, und zwar von Anfang an […]. Die früheste Spur führt zurück in die Kindheit.« Allerdings scheint Albertsen den geradezu zwingenden Bezug zwischen Kindheitserfahrungen dieser Art und jenen, die noch auf sich warten lassen, nicht zu erkennen. Dieser Aspekt wird im Folgenden vertieft. Die Antizipation einer noch nicht erfüllbaren Sehnsucht ist ein Konstituens von Törleß’ Erfahrung wie von der Erfahrung, die Malte in Rilkes Aufzeichnungen macht: Malte wartet darauf, von Gott geliebt zu werden, aber wie es heißt: »Der aber wollte noch nicht.« Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt/Mn. 1987, VI, 946. Vgl. hierzu Ulrich: »Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt.« (3, 1022)
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Im Folgenden wird die Qualität des »Allein- und Verlassensein[s]« (24), der im Hintergrund lauernden Einsamkeit in Form einer ausgedehnten, interpretationsbedürftigen Phantasie charakterisiert. Jene »Welt für sich« (24), d.h. die Welt der Dunkelheit, die nach Anbruch der Dämmerung in Erscheinung tritt, wird zunächst als ein »Schwarm schwarzer Feinde« erlebt, der »über die Erde gekommen [war] und […] jede Spur von [den Menschen] auslöschte« (24). Worüber sich Törleß aber eher gefreut habe, denn er »mochte in diesem Augenblick die Menschen nicht, die Großen und Erwachsenen […] Er war gewöhnt, sich dann die Menschen wegzudenken« (24). In seiner Phantasie verwandelt sich die Nacht in ein »leeres, finsteres Haus« und er, Törleß, solle nun von Zimmer zu Zimmer suchen, – dunkle Zimmer, von denen man nicht wußte, was ihre Ecken bargen, – tastend über die Schwellen schreiten, die keines Menschen Fuß außer dem seinen mehr betreten sollte, bis – in einem Zimmer sich die Türen plötzlich vor und hinter ihm schlössen und er der Herrin selbst der schwarzen Scharen gegenüberstünde. (24)
Törleß’ Phantasiereise ins Innere des leeren, finsteren Hauses, die in der Begegnung mit der Herrin der schwarzen Scharen kulminiert, scheint die zwei Komponenten seiner gespannten Antizipation zu einem Gleichnis zu verschmelzen: Das unheimliche Fremde in der Gestalt der Herrin kann zum einen als gottähnliches Gegenüber verstanden werden, das Hausszenario dementsprechend als mystische Vereinigungsphantasie.16 Für diese Deutung spricht die ungeheuere Potenz der Gestalt und das Motiv des einsam betretenen, hermetischen Zimmers, in dem der Phantasierende der fremden Gestalt auf einmal gegenüber steht. Aber das unheimliche Fremde
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Carl Niekerk deutet diese Episode psychoanalytisch und behauptet, hier gelinge es Törleß, »sich eine matriarchalische Welt herbeizuphantasieren – eine narzißtische Welt, in der er und das Primärobjekt (fast) allein sind. Das Exotisch-Fremde fungiert als Projektionsfläche eines erotischen Verlangens. […] Ein solches Verlangen wird allerdings von unverkennbar ödipal zu deutenden Kastrationsängsten (die Anwesenheit einer dritten Instanz sichtbar im Bilde der ›schwarzen Eunuchen‹) überschattet«, so Niekerk (Foucault, Freud, Musil, 555). Auch unabhängig von den Bedenken, die man meines Erachtens solchen ideologischen Interpretationen gegenüber hegen muss, vermengt Niekerk hier zwei für die Psychoanalyse konstitutive theoretische Konstrukte: den (hier mit dem Begriff der frühkindlichen Symbiose verbundenen) Primärnarzissmus und den Ödipuskomplex. Wollte man in der »Herrin selbst der schwarzen Scharen« eine ›symbiotische‹ Muttergestalt sehen, – und das halte ich für eine mögliche Lesart dieser Passage –, so müsste die Deutung jedoch wesentlich differenzierter unter Berücksichtigung des Textes in all seiner dichterischen Komplexität ausfallen.
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nimmt eine weibliche Gestalt an und erscheint als solche auch als Objekt der – noch nicht entfachten – sexuellen Begierde. Im Folgenden personifiziert Törleß die »Art der Einsamkeit, seit man ihn damals im Stiche gelassen hatte – im Walde, wo er so weinte«. Wie es heißt, hatte sie für ihn den Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit. Er fühlte sie als eine Frau, aber ihr Atem war nur ein Würgen in seiner Brust, ihr Gesicht ein wirbelndes Vergessen aller menschlichen Gesichter und die Bewegungen ihrer Hände Schauer, die ihm über den Leib jagten … . (25)
Dadurch verstärkt sich die erotische Dimension der Herrin-Gestalt, aber zugleich werden ihr weitere Attribute eines gottähnlichen Gegenübers verliehen: Das sich nun entfaltende Szenario erhält Elemente einer mystischen Vereinigung mit einem überwältigenden Gegenüber, wobei die ›Unmenschlichkeit‹ der Erscheinung aufzufassen ist als das Menschenunähnliche17 des göttlichen Gegenübers, dessen Vereinigung mit dem Phantasierenden angezeigt wird durch das ›Einverleiben‹ des fremden Atems und die Auslöschung aller ›menschlichen Gesichter‹ angesichts des Einen. Aber es enthält auch Elemente einer beängstigenden ersten erotischen Begegnung mit dem anderen Geschlecht, – daher die Rede vom »Reiz eines Weibes« und von Bewegungen der fremden Hände, sprich: Liebkosungen. Bemerkenswert ist die Wendung, die Törleß’ Reflexionen jetzt nehmen: Im Folgenden erfährt die Phantasie, die Törleß’ Dämmerungseinsamkeit anschauliche Gestalt verleiht, eine zunehmende Erotisierung. Wie es heißt, habe er diese Phantasie gefürchtet, weil er »ihrer ausschweifenden Heimlichkeit bewußt« gewesen sei; »[…] der Gedanke, daß solche Vorstellungen immer mehr Herrschaft über ihn gewinnen könnten, beunruhigte ihn«. (25) Jetzt steht nicht mehr das mystische Gegenüber hinter der Frauengestalt der Phantasie. Vielmehr erscheint diese eindeutig als Sexualobjekt und verbindet sich in Törleß’ Phantasie mit der erotisierten Gestalt der Bozena, – oder auch des Beineberg. Schließlich hatte Törleß am Anfang desselben Gesprächs mit Beineberg an dessen Hände, an deren »fingernde[…] Beweglichkeit« denken müssen, daran, dass sie »doch eigentlich das Schönste« an seinem Freund seien (21). Gerade an ihnen habe sich
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Vgl. hierzu den Begriff der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ im Kontext der Tradition der ›negativen Theologie‹, der weiter unten ausführlich erörtert wird. Gerhart Baumann stellt diesen Begriff in einen ästhetischen Kontext und eröffnet hiermit einen neuen, ebenso eigenwilligen wie fruchtbaren Ausblick auf diese sonst theologisch gedeutete Formel. Gerhart Baumann: Robert Musil. Ein Entwurf, Freiburg/Br. 1997, 130.
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»der größte Widerwille [konzentriert]. […] Sie hatten etwas Unzüchtiges an sich« (21). So Törleß in Gedanken. Das Unzüchtige an Beineberg scheine sich »[i]n den Händen […] anzusammeln und […] von ihnen wie das Vorgefühl einer Berührung auszustrahlen, das Törleß einen ekligen Schauer über die Haut jagte« (21). Törleß muss feststellen: »[…] schon zum zweitenmal an diesem Tag« habe sich »etwas Geschlechtliches unvermutet und ohne rechten Zusammenhang zwischen seine Gedanken [gedrängt].« (21) Der »eklige Schauer«, den »das Vorgefühl einer Berührung« Törleß »über die Haut [jagen]« lässt, erscheint jetzt wieder in Form des Schauers, den die Bewegung der Frauenhände auslösen, wenn sie in der Phantasie Törleß »über den Leib jagen«. Eine fast wortwörtliche Kongruenz zwischen der Beineberg geltenden Vorstellung und der Einsamkeitsphantasie ist festzustellen. Dass solche letztlich erotischen Vorstellungen und Phantasien als eine Art Ersatz dienen für den Blick »mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens«, dem Törleß sich (noch) nicht gewachsen fühlt, legen die weiteren Beobachtungen des Erzählers über Törleß’ Dämmerungsphantasien nahe: Solche Phantasien werden aufgefasst als »Reaktion auf [jene] Augenblicke, wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon vorbereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen« (25). Also sind jene »empfindsame[n] Erkenntnisse« wohl das, was ein solcher Blick ergeben würde. Vor diesen flüchtet Törleß zwar, aber, wie der Erzähler zu berichten weiß, erweist sich Törleß’ »Vorliebe für gewisse Stimmungen«, womit in erster Linie das durch die Dämmerung hervorgerufene Einsamkeitsgefühl gemeint ist, als »die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens äußerte« (25). Mit diesem »Talent des Staunens« meint der Erzähler Törleß’ »Fähigkeit«, wenn nicht zu sagen Zwang, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden, so daß es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm zurückwichen, sondern als ob er sich selbst von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschütteln könnte.
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Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch füllte später eine weite Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem. (25f.)
In Törleß’ »Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft«, das er »Ereignisse[n], Menschen, Dinge[n], ja sich selbst« gegenüber hegt, entdeckt man ein mystisches Erfahrungsparadigma, das die Tradition der ›negativen Theologie‹18 als Modell der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ formuliert.19 Dieses sei »in seiner Dynamik als zentral für das mystische Denken« 18
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Siehe Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, 5. Den Zusammenhang zwischen Mystik und ›negativer Theologie‹ erörtert Alois M. Haas, indem er konstatiert, Mystik sei aus systematischer Sicht als eine »›manière de parler‹« zu verstehen (so C. Hersent in: In D. Dionysii de mystica theologia librum [1626], zit. in: Michel de Certeau: La fable mystique I: XVIe-XVIIe siècle, 2. Auflage, Paris 1987, 132; siehe Alois M. Haas: Mystik im Kontext, München 2004, 84.) »Insgesamt handelt es sich um eine Rhetorik des Exzesses, in die die negative Theologie mit aller Schärfe eingegangen ist«, so Haas. »Mit Dionysios gesprochen: Die Mystik enthält in sich die positive Redeweise (via cataphatica, positiva) als eine symbolische Theologie, die sie – aus tieferer Einsicht, dass Gott in keiner Weise und genügend ausgesprochen werden kann – durch die via apophatica (negativa) konterkariert, bis dahin, dass Gott als das ›Nichts‹ (aller ihn einengenden Aussagen) bezeichnet werden kann.« Allerdings nennt Haas noch eine dritte Redeweise, denn dieser von den Vertretern der ›negativen Theologie‹ verfolgte »Weg der Gottesbezeichnung wird nochmals transzendiert durch die via excellentiae (hyperoché), in der Gott das Bejahte und Verneinte im Übermaß zugesprochen wird, was dann zu dem führen wird, was Blumenberg als ›Sprengmetaphorik‹ charakterisiert hat.« Haas: Mystik im Kontext, 84f.; siehe Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/ Mn. 1998, 178ff. Schon habe Dionysius Areopagita, wie Haas an anderer Stelle ausführt, »systemtheoretisch die drei entscheidenden Redeweisen über Gott – die kataphatische (bejahende), die apophatische (verneinende und unähnliche Ähnlichkeiten positiv berücksichtigende) und die eminente (die Gott alles im Übermaß zusprechende) differenziert – und damit eine grundlegende theologische Diskurslehre [entworfen], hinter welche die theologische Reflexion nicht mehr zurückkehren kann«. Haas: Mystik im Kontext, 117. Aufschluss über die ›negative Theologie‹ geben unter anderem Michael A. Sells: Mystical Languages of Unsaying, Chicago 1994; Denys Turner: The Darkness of God: Negativity in Christian Mysticism, Cambridge 1995, und Deirdre Carabine: The Unknown God – Negative Theology in the Platonic Tradition: Plato to Eriusgena, Louvain 1996. Haas verweist auf die weitreichende Bedeutung dieses Paradigmas für die Ästhetik, und zwar bis in die Moderne hinein. Er schreibt: »Die dionysische Lehre von den unähnlichen Ähnlichkeiten und ihrer ästhetischen Wirkkraft hat sich über Johannes Scotus (Eriugena) (810–877) und Hugo von St. Viktor (1096–1141) machtvoll ins Abendland verbreitet. Untergründig war diese Lehre
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anzusehen, so Martina Wagner-Egelhaaf. Demnach ist »Gott […] so sehr verschieden von allen menschlichen Begriffen und Vorstellungen, daß er nur über das Bewußtsein seiner Andersheit erfaßt werden kann. Anders gesagt: Gottes Unähnlichkeit ist seine Ähnlichkeit, und seine Ähnlichkeit ist immer seine Unähnlichkeit.«20 Törleß macht diese Erfahrung der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ nun nicht in Hinblick auf Gott, sondern in Hinblick auf »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst«; hier erscheint also ein im christlichen Kontext entstandenes, mystisches Paradigma in säkularisierter Form:21 »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst« treten an die Stelle Gottes als Objekt einer solch mystisch zu nennenden Erfahrung.
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eine ästhetische Befreiung der Kunst vom Zwang der Naturnachahmung; sie öffnete sich ins Geistige und bekam darüber hinaus die adäquaten Mittel, das Geistige im künstlerischen Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit zu spiegeln. Untergründig hat dieses Prinzip die Kunst, auch die bildende, immer wieder in ihrem Widerspruchscharakter geprägt und ihr Leistungen ermöglicht, die über ihr mimetisches Vermögen weit hinausgingen. Noch Hugo Ball hat mit großer Zustimmung das dionysische Konzept in seinem Byzantinischen Christentum referiert, Kurt Flasch hat dieses Lob in Zusammenhang mit Balls DADAGegenwelt gebracht. Mit Recht scheint mir, da sich alle widerspenstige oder geistig orientierte Kunst über untergründige Kanäle mit diesem neuplatonisch gedachten Konzept einer übers Unähnliche hergestellten Ähnlichkeit als einem die Zeiten überdauernden Darstellungsprinzip verbunden erweist.« Haas: Mystik im Kontext, 146. Siehe Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 5. Die Tradition der negativen Theologie reicht weit zurück. Man vergleiche die Formel des vierten Laterankonzils: »Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.« Zit. in Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 16. Vgl. auch Pseudo-Dionysus: »Als Ähnlicher, sofern er Echo, Widerhall und Nachbilder begründet, und als Unähnlicher, sofern gerade hierbei nichts ihm selbst jemals wirklich gleichen kann.« Pseudo-Dionysus Areopagita: Namen Gottes, IX, 1, 129; zit. in Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 16. Überhaupt wohnt der von der Tradition der ›negativen Theologie‹ gesetzten Gottesvorstellung ein hohes Potential für das Paradoxe inne. Wie der bereits zitierte, sehr frühe Vertreter dieser Tradition schreibt: »Sowohl durch Kenntnis als auch durch Unkenntnis erkennen wir Gott. Es gibt von ihm geistiges Begreifen, Verstehen, Wissen, Berührung, Sinneswahrnehmung, Meinung, Vorstellung, Benennung und alles andere, und dennoch wird er weder begriffen, noch erklärt, noch genannt. Er ist nichts des Seienden, aber er wird auch in keinem Seienden erkannt. Er ist ›alles in allem‹ [1 Kor 15,28] und doch nichts irgendworin, er wird aus allem von allem erkannt und doch wieder aus nichts von irgendwem. Zu Recht sagen wir dies über Gott, und aufgrund von allem Seienden wird er in Übereinstimmung mit allem, dessen Ursache er ist, gepriesen.« Pseudo-Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes, übersetzt von Beate Regina Suchla, Stuttgart 1988, 80 (872A). Albertsens auf Ulrich bezogene Worte könnte man auch auf Törleß beziehen: Man gewinne den Eindruck, so Albertsen, »als verwandle sich der Gottesglaube bei
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Eine wesentliche Komponente der mystischen Erfahrung qua Gottesschau besteht im Gefühl der Unbeschreiblichkeit dieser Erfahrung seitens des Schauenden. So auch Törleß in Bezug auf »Ereignisse, Menschen, Dinge«: Wie es heißt, »schienen (sie) ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen«.22 Wie Wagner-Egelhaaf bemerkt, gehört das Erleben der Unzulänglichkeit der Sprache, das Geschaute in Worte zu ›fassen‹, unweigerlich zur mystischen Erfahrung23; »die mystische Wahrheit [werde] verstellt durch das, was Meister Eckhardt ›eigenschaft‹ nennt«; sie hindere »den Menschen an der Erkenntnis der Wahrheit, weil sie sich in Form von Bildern, Vorstellungen und Begriffen zwischen die Gottheit und die Seele schiebt«.24
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Ulrich unter der Hand in eine nur psychische Funktion, als sei Religion eine rein innerlich bleibende Fähigkeit des Bewußtseins.« Jedoch scheint Albertsen sich selbst ein Stück weit zu widersprechen, wenn sie zugleich konstatiert, Musil gehöre »nicht zu jenen ›Dichtern‹, die aus Mythos-Kult und Tiefenpsychologie eine neue Ersatzreligion bauen. Wenn das mystische Streben nach Musil auch innerweltlich bleibt – die Realität läßt in der Immanenz Transzendenz ahnen, […]« Albertsen: Ratio und Mystik, 41 bzw. 40. Vgl. Alois M. Haas’ allgemeines Fazit diesbezüglich: »Die Geschichte der christlichen Mystik wird durch das ganze Mittelalter hindurch von der Spannung, in welche das Gottesbild durch seine prinzipielle, alles um- und übergreifende Nichtreproduzierbarkeit gerückt ist, nicht mehr loskommen.« Haas: Mystik im Kontext, 117. Dies ein vielerorts thematisierter Aspekt der Mystik, der im Zeichen eines ›modernen‹ sprachkritischen Bewusstseins ein besonderes Gewicht erhält. Vgl. u.a. Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Walser, Frankfurt 1985, 290ff. Vgl. auch die wichtigen Schriften von Fritz Mauthner: Wissen und Worte (in: Beiträge zu einer Kritik der Sprache [1901/1902], neu aufgelegt: Leipzig 31923, Bd. 3, Kap. VIII) und Gustav Landauer: Skepsis und Mystik (1903) (neuaufgelegt: Wetzlar, 1978). Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 8. Vgl. Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, Tübingen 1975. Vgl. Haas’ Einschätzung der fundamentalen Bedeutung göttlicher ›Eigenschaftslosigkeit‹ in der Tradition christlicher Mystik: »Gott ist unaussagbar, und er wird deswegen häufig auch im Christentum das Nichts genannt, das man in einer ersten Analyse als das Nichts aller ihn einengenden und auf eine seiner Eigenschaften hin fixierenden Aussagen deuten kann.« Haas: Mystik im Kontext, 89. Vgl. auch Heinrich Seuses berühmtes Wort vom ›Austreiben der Bilder durch Bilder‹: »Aber doch, daz man bild mit bilden us tribe, so will ich dir hie biltlich zoegen mit glichnusgebender rede, als verr es denn múglich ist, von den selben bildlosen sinnen, wie es in der warheit ze nehmen ist, und lang red mit kurzen worten beschliessen. – Aber doch, um Bilder durch Bilder auszutreiben, will ich dir hier mit gleichnishaften Worten bildlich zeigen, soweit es denn möglich ist, wie das von den unbildlichen Gedanken in Wahrheit zu verstehen ist, und die lange Rede mit kurzen Worten beschließen.« In: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften
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Zwar drängt es den mystisch Schauenden zum Versuch, seine Erfahrung Gottes in Sprache zu bringen – davon lebt eine lange Tradition mystischer Bekenntnisliteratur –, doch der Versuch scheitert am grundsätzlichen Unvermögen der Sprache, dieser unmittelbaren und nicht vermittelbaren Erfahrung beizukommen.25 Wie Wagner-Egelhaaf in Bezug auf Mauthner und Landauer sagt: Die auf ihrer Unangemessenheit beruhende Unverbindlichkeit der sprachlichen Zeichen, die immer neue Signifikanten dem unerreichbaren und damit in die absolute Negativität eingehenden Signifikat zuordnet, läßt die mystische Wahrheit als Wortkunst, als Spiel einander ablösender (Be-)Deutungen erscheinen.26
Ulrich zitierend schreibt Wagner-Egelhaaf lapidar: »Gott ist der ›irrationale Rest‹ (5, 1874), der jenseits der Prädikation bleibt, diese aber zugleich motiviert.«27 Wie Albertsen konstatiert: »Gott […] ist die große Unbekannte in einer Gleichung, die es noch zu lösen gilt.«28 Törleß hatte die Erfahrung gemacht, dass Ereignisse, Menschen, Dinge »sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen [scheinen]«. Die »Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam«, markiert die Grenze, über die der Signifikant aufgrund seiner grundsätzlichen ›Unangemessenheit‹ nicht hinaus kommt, hinter der das Signifikat, sei es Gott, Ding oder Mensch, immer bleiben wird – letztlich unerreichbar. Törleß macht sogar die Erfahrung, dass der Versuch, »seine Empfindungen mit […] Gedanken [zu umfas-
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im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte. Hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Neudruck: Frankfurt/Mn. 1961, 190f., zit. in: Haas: Mystik im Kontext, 118. Allerdings muss man unterscheiden zwischen der oft konstatierten Unmöglichkeit, ›Gott‹ – oder allgemeiner gesagt, das Objekt mystischer Ekstase – zu ›benennen‹, und dem Schreiben über mystische Erfahrungen im weiteren Sinne des Wortes. Wie Brosthaus scharfsinnig beobachtet, ist Ulrichs Beschreibung des Zustands, in den er anlässlich des Erlebnisses mit der Frau des Majors gekommen war, »diskursiv durchdrungen«. Es entstehen hierbei »reiche Gedankenverhältnisse; der erzählerische Anteil des Erlebnisses – so unmittelbar es auch erscheinen mag – ist von gedanklichem Interesse erfaßt und überdeckt.« Brosthaus: Entwicklung des aZ, 393. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 61. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 61 bzw. 131. Albertsen: Ratio und Mystik, 40. Allerdings meint Albertsen, der Ausdruck ›Gott‹, scheine »bei Musil oft als Verlegenheitslösung zu stehen, […]«. Ebenda, 40.
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sen]«, diese »desto fremder und unverständlicher« erscheinen lässt.29 Das Bemühen um die gedankliche Erfassung dieser Empfindungen lässt die Kluft zwischen beidem um so größer werden.30 »Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch«, so der Erzähler, »füllte später eine weite Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem« (26).31 In Walter Haugs eminent wichtigem Beitrag zur »Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens«, der die von Seiten der negativen Theologie entwickelte, auf die mystische Unio gemünzte Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ eingehend auf Gehalt und letztliche, auch sprachliche Implikationen hin untersucht, findet man die paradox erscheinende Dynamik beschrieben, die Törleß’ oben dargelegtem Dilemma innewohnt. Haug schreibt: […] je stärker man den Aspekt der Ähnlichkeit betont, um so mehr führt dies zu einem Anschauen Gottes in der Welt; je stärker man die Differenz betont, um so mehr erscheint die Welt als ein Arsenal von Zeichen für eine transzendente Wirklichkeit. Die Erfahrung Gottes in der Welt bzw. über die Welt bewegt sich also in einer Spannung zwischen den Polen der absoluten Identität und der absoluten Differenz. Und dies, da der Mensch in seinem Antworten sich auf den sprachlichen Aspekt einlassen muß, mit einem Gefälle zur Differenz hin.32
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Vgl. Walter Haugs Kommentar zu Mechthilds »prospektiv« entworfenem »Weg zur Unio«: »Je stärker [sie] prospektiv denkt, um so dringlicher geht sie sprechend auf die Differenz zu, die als radikale Trennung gesucht und erlitten wird. Das Gespräch versteht sich hier als Kontaktnahme, die ihr Ziel nicht erreicht, wobei es gerade dies zu seinem Thema machen muß und will.« Walter Haug: »Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens«. In: Kurt Ruh (Hrsg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, 494–508; hier 505. Diese unüberbrückbare Kluft vermittelt Heinrich Seuse im Leben des seligen Heinrich Seuse: (Zweiter Teil, Kapitel 53): »Meine Tochter, nun merke […], daß alle diese Bilder und Erklärungen der bildlosen Wahrheit ebenso fern und ungleich sind wie ein schwarzer Mohr der schönen Sonne; und das kommt von der formlosen, unerkennbaren Einfachheit ebendieser Wahrheit.« In: Heinrich Seuse: Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und herausgegeben von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, 199. Walter Haugs auf Johannes Scotus (Eriugena) gemünztes Wort von der Mystik als »Sich-selbst-Denken des Modells der unähnlichen Ähnlichkeit« könnte in diesem Kontext womöglich Anwendung finden. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 502. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496.
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Zeichnet sich Gott im Sinne Eckhart’scher Mystik dadurch aus, dass Schaffen und Sprechen identisch sind, so »fallen beim antwortenden Menschen«, so Haug, Denken und Sein, Sprache und Gegenstand auseinander. Deshalb stößt er, wenn er auf Gott zugehen will, auf den Widerspruch der unähnlichen Ähnlichkeit. […] Da der Weg [zu Gott] sich […] als ein sprachlicher Akt darstellt, dem diese Identität von Sprechen und Sein gerade fehlt, muß die Sprache sich im Sprechen zurücklassen. Dabei läßt sie zugleich die Gegenständlichkeit zurück, auf die sie sich bezieht. Diese Gegenständlichkeit vermittelt zunächst über die Sprache den Aspekt der Ähnlichkeit; indem man sich aus ihm löst, bewegt man sich auf die Differenz zu. Damit ist die Struktur einer Bewegung vorgezeichnet, über die das mystische Sprechen die Ähnlichkeit in die radikale Unähnlichkeit umbricht, d.h. die Welt und sich selbst aufhebt.33
Haug erkennt dieses Paradigma als grundlegend für die auf Gott ausgerichtete »Wirklichkeitserfahrung und -darstellung« an: »Man kann dies in allen Bereichen und auf allen Ebenen [solcher Erfahrung] durchspielen«, so Haug; »[i]m Prinzip sind alle Oppositionen der endlichen Wirklichkeit in die Dynamik dieses Modells und damit in den mystischen Prozeß überzuführen.«34 Wie Haug aber betont, handele es sich hierbei um kein »dialektisches Modell«: Die Gegenpositionen meinen nicht den schlichten Gegensatz, sondern sie stehen stets für das radikal Andere. Die vielberedeten mystischen Antithesen sind streng genommen keine solchen. Es geht vielmehr in jedem Fall um den Umschlag aus dem Bereich der Ähnlichkeit in die absolute Differenz.35
Soll die im Zeichen Eckhart’scher Mystik definierte Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ auf Törleß’ höchstens im Sinne einer ›säkularen‹ Mystik zu betrachtende Erfahrung und gedankliche Erfassung von »Ereignisse[n], Menschen, Dinge[n]« Anwendung finden, so nur unter Berücksichtigung der veränderten Vorzeichen eines solchen zweischrittigen Prozesses. Eines steht jedenfalls fest: Manifestiert sich hierin ein doppelter Dualismus – Gedanke versus Empfindung bzw. Ähnlichkeit versus Unähnlichkeit –, so ist letzterer auf der Versprachlichungsebene zu fassen, ähnlich wie bei der von Haug beschriebenen Dynamik. Erst der Versuch, Empfindungen in Gedanken, sprich: in Worte zu fassen, stiftet ›Verwirrung‹ und lässt Törleß’
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Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496 bzw. 497. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 497.
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Welt doppelgesichtig erscheinen. Inwiefern und auf welche Weise sich die aus einer langen mystischen Tradition hervorgegangene Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ auf Törleß’ Dilemma letztlich beziehen lässt, wird der weitere Verlauf der Untersuchung zeigen. 1.1.3. Törleß’ Wirklichkeit: Manifestationen ihres Doppelgesichts Die von Törleß empfundene Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit prägt alle bedeutsamen Erfahrungen, die er im Laufe seiner ›Verwirrungen‹ macht.36 Im Folgenden sollen drei Phänomene, in denen die – Törleß’sche – Wirklichkeit ihr Doppelgesicht manifestiert, herausgenommen und auf diese Qualität hin näher betrachtet werden: erstens das Konvikt als eine Art Wirklichkeit im Kleinen, das sich in die ›zwei Welten‹ des Instituts und der Dachkammer aufspaltet, zweitens die Gestalt des Basini, und drittens ein Phänomen, das im Kontext von Törleß’ ›Verwirrungen‹ eine Schlüsselbedeutung erhält und deswegen im Brennpunkt stehen wird, nämlich das Unendliche, wie es sich Törleß eines Nachmittags beim Blick durch die Wolken offenbart. Zunächst präsentiert sich die für heimliche Treffen zwischen Törleß, Beineberg und Reiting benutzte Dachkammer, die als Hauptschauplatz des äußeren wie des inneren Geschehens im Roman dient, als Gegenwelt zur bürgerlichen Welt des Konvikts. Wie es heißt, fühlt sich Törleß gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen. Die eine schien dann die andere auszuschließen. (41f.)
Törleß’ ›zwei Welten‹ manifestieren sich also in Form des vom ›ratioïden‹ Bildungsideal determinierten Konvikts und der »ungeahnte[…] Überraschungen« verheißenden Dachkammer. Die Dachkammer erinnert mit ihren vielen Kulissen und Zwischenwänden sowie dem obligatorischen Revolver an ein Theater – zumal sie zur Aufbewahrung alter Theaterkulissen benutzt wird. Durch ihre Attrappenhaftigkeit erhält sie also Züge einer Pseudowelt. Aber angesichts der vom Institut vermittelten Pseudo36
Vgl. in diesem Zusammenhang Ingrid Witners Ausführungen zur »doppelten Zeitorientierung« im Roman. In: »Zeitperspektive in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: Modern Austrian Literature 12 (1980), 47–68, hier 51.
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vernunft – die Törleß im Laufe seiner ›Verwirrungen‹ als solche zu erkennen meint –, erweist sich die Dachkammer als wirkliches Gegenstück zur schulischen Welt. Institut und Dachkammer dürften als ironische Zerrformen der zwei vom Prinzip des ›Ratioïden‹ bzw. des ›Nicht-Ratioïden‹ determinierten Welten zu verstehen sein, um deren Versöhnung es Törleß vornehmlich gehen wird.37 Für Törleß besteht auch eine potentielle Verbindung zwischen den ›zwei Welten‹, die Institut und Dachkammer zunächst verkörpern. Es sei nämlich möglich, denkt er, nachdem er erkannt hat, welche dunklen Regungen sich im Menschen verbergen, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führe. Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen … . (46f.)
So tut sich ein erster gedanklicher Brückenschlag auf, der die potentielle Versöhnbarkeit der zunächst völlig getrennt erscheinenden ›zwei Welten‹ aufleuchten lässt. Eine zweite Manifestation der doppelgesichtigen Wirklichkeit entdeckt Törleß in der Gestalt des Basini, der in Hinblick auf sein Vergehen »Problematische[s], Fragwürdige[s]« aufwirft, über das man »noch nachdenken müsse« (53), während ihn Törleß auch »verständlich, alltäglich« nennt und seine »klaren Konturen« bemerkt (53). »War nicht«, fragt sich Törleß, »als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte, hinter dessen Gesicht ein zweites, verschwimmendes gestanden?« (60) Basinis zwei Gesichter hatte Törleß schon wahrgenommen, bevor er von seinem Vergehen erfuhr. An ihnen hatte er die Erfahrung von »Ähnlichkeiten und unüberbrückbaren Unähnlichkeiten zugleich« gemacht: »All das war nun in einem Menschen verkörpert, wirklich geworden. Dadurch ging die ganze Sonderbarkeit auf diesen Menschen über. Dadurch rückte sie aus der Phantasie ins Leben und wurde bedrohlich …« (61) Törleß wird klar, dass Basini »bestimmt sei, auch für ihn eine wichtige und bereits unklar erkannte Rolle zu spielen« (61). Basini erweist sich bald als der Schlüssel zu Törleß’ Krise.
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Vgl. in diesem Zusammenhang die in den Tagebüchern gemachten schulkritischen Bemerkungen Musils, v.a. T 668f. und T 671.
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In Beinebergs philosophischen Reflexionen und in Törleß’ Erlebnis der Unendlichkeit ist eine erste Antwort auf die Frage nach Basinis besonderer Bedeutung zu finden, die in der darauf folgenden Dachkammerszene noch evidenter wird. Beinebergs Diskurs, Törleß’ Unendlichkeitserlebnis und die dramatische Szene in der Dachkammer mit Basini als zentralem Akteur stehen alle im Zeichen einer säkularisierenden Rezeption mystischer Traditionen. Unmittelbar bevor Törleß der zwei Gesichter Basinis gewahr wurde, hatte Beineberg Rechenschaft abgelegt über sein Vorhaben, Basini zu quälen. Dieses hatte er an Hand einer (pseudo)-mystischen Philosophie zu rechtfertigen versucht. Der Mensch sei »an zwei Fäden geknüpft« (59) – man vergleiche Törleß’ ›zwei Welten‹ – und er, Beineberg, sei gewillt, »dem zweiten Faden (zu folgen)« (59), will heißen, den Weg der mystischen Erleuchtung zu gehen. Mittels einer fragwürdigen Argumentation legitimiert Beineberg seine Absicht, Basini zu quälen, und zwar als Weg, den ›ersten Faden‹ zu ›zerreißen‹, was notwendig sei, um dem zweiten folgen zu können: Solche Menschen wie Basini […] bedeuten nichts – eine leere, zufällige Form. Die wahren Menschen sind nur die, welche in sich selbst eindringen können, kosmische Menschen, welche imstande sind, sich bis zu ihrem Zusammenhange mit dem großen Weltprozesse zu versenken. Diese verrichten Wunder mit geschlossenen Augen, weil sie die gesamte Kraft der Welt zu gebrauchen verstehen, die in ihnen gerade so ist wie außer ihnen. Aber alle Menschen, die bis dahin dem zweiten Faden folgten, mußten den ersten vorher zerreißen. Ich habe von schauerlichen Bußopfern erleuchteter Mönche gelesen, und die Mittel der indischen Heiligen sind ja auch dir nicht ganz unbekannt. Alle grausamen Dinge, die dabei geschehen, haben nur den Zweck, die elenden nach außen gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie nun Eitelkeit oder Hunger, Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer abziehen, das jeder in sich zu erwecken vermag. (59)
Indem er sein (angebliches) Mitleid mit Basini unterdrücke, überwinde er »die elenden nach außen gerichteten Begierden«, in diesem Fall eben das Mitleid, so Beineberg. Nur so könne er ›die Seele schauen‹, und »[…] wem es ganz gelingt, seine Seele zu schauen, für den löst sich sein körperliches Leben, das nur ein zufälliges ist; es steht in den Büchern, daß solche direkt in ein höheres Reich der Seelen eingingen« (60). Letztlich will Beineberg die geplante Tortur geradezu als Opfer verstanden wissen: ›Gerade daß es mir schwer fällt, Basini zu quälen, […] ist gut. Es erfordert ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, – eine bloße äffende, äußerliche Ähnlichkeit.‹ (60)
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Wenn Beineberg von einer »bloße[n] äffende[n], äußerliche[n] Ähnlichkeit« des »bloße[n] Menschsein[s]« spricht, meint er wohl: mit dem Heiligen. Erst durch die Überwindung der »elenden nach außen gerichteten Begierden« erhalte der Mensch, so die Implikation, eine wirkliche, d.h. ›innere‹ Ähnlichkeit mit Gott. Auch hier begegnen wir also dem Phänomen der unähnlichen Ähnlichkeit. Beineberg geht aber nicht vom grundsätzlichen, immerwährenden Zusammenhang und Widerspruch zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit aus, der im Sinne der negativen Theologie die Beziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert, sondern postuliert eine nur äußerliche Ähnlichkeit und somit letztlich eine Unähnlichkeit zwischen ›Mensch‹- und ›Gottsein‹ auf einer niedrigen und eine wohl ›innerlich‹ zu nennende Ähnlichkeit zwischen beiden auf einer höheren, Körper und Sinne hinter sich lassenden Stufe. Sein Rezept ist entsprechend einfach und einleuchtend: den ›ersten Faden zerreißen‹. Er pervertiert mystisches Gedankengut, indem er meint, einen anderen Menschen quälen zu müssen, um selbst »in ein höheres Reich der Seelen [eingehen]« (60) zu können. Aber obwohl Beinebergs Erleuchtungslehre eine Zerrform mystischer Spiritualität darstellt, liefert er immerhin die Kategorien, mit denen Törleß in Hinblick auf Basini operiert. In seiner Vorstellung tritt Basini sozusagen an die Stelle Gottes als Verkörperung der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ sowie, in Anlehnung an dieses Paradigma, als Verkörperung einer zweigesichtigen Wirklichkeit, wie auch immer diese aussehen mag. Im Laufe der Verwirrungen wird die ganze Tragweite der Beziehung zwischen Törleß und Basini ersichtlich. Zunächst einmal verknüpft sich diese Wahrnehmung Basinis auf undurchsichtige Weise mit Törleß’ Erfahrung des Unendlichen, wie es sich ihm an jenem Nachmittag im Park offenbart, prägen doch beide Momente die gleiche – bald paradigmatische Bedeutung annehmende – ›unähnliche Ähnlichkeit‹, die gleiche ›Zweigesichtigkeit‹. Signifikanterweise erfolgt Törleß’ Unendlichkeitserlebnis inmitten der Aufregung über Basinis Vergehen, das auch Anlass gab zu Beinebergs oben erörterten Überlegungen. Kurz nach dem Gespräch mit Beineberg war Törleß im Park spazieren gegangen und hatte sich ins Gras gesetzt. Wie wir lesen, »blinzelte« er gerade unbestimmt träumend zwischen den sich entblätternden Kronen zweier vor ihm stehender Bäume hindurch«, als er »plötzlich bemerkte […], – und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, – wie hoch eigentlich der Himmel sei. Es war ein Erschrecken. Gerade über ihm leuchtete ein kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken« (62). Gerade die räumliche Begrenzung des Himmels durch die diesen einrahmenden 34
Bäume bzw. Wolken – dadurch ist nur ein kleiner Ausschnitt für Törleß sichtbar – lässt den Himmel seine ganze Unbegrenztheit offenbaren. Indem seine ›horizontale‹ Dimension vor den Augen des Schauenden verringert erscheint, erweitert sich dessen vertikale Dimension um so mehr. Die physische Begrenzung führt nur zu einer Verstärkung der ›metaphysischen‹ Entgrenzung. Der »fortwährend weiter, ins Unendliche« sich zurückziehende Himmel, der ›vertikale‹ Himmel also, hat zum einen Ähnlichkeit mit dem begrenzten, ›horizontalen‹, unterscheidet sich aber zugleich von ihm insofern, als er auf Grund seiner Tiefendimension für das menschliche Auge nicht fass- bzw. erfassbar ist: In seiner Unendlichkeit unterscheidet er sich von der Begrenztheit des durch zwei Bäume bzw. Wolken abgesteckten, ›horizontalen‹ Himmels. Vor dem thematischen Hintergrund dieses ›Verwirrung‹ stiftenden Erlebnisses lässt sich die Beziehung zwischen ›vertikalem‹ und ›horizontalem‹ Himmel in Analogie setzen zur Beziehung zwischen Gott und Mensch, die im Sinne der negativen Theologie eine der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ ist: So wie der ›endliche‹ Himmel in einer Hinsicht den ›unendlichen‹ nachbildet, bildet der ›endliche‹, will heißen, begrenzte Mensch Gott – als das Unendliche, Unbegrenzte –, nach, aber hinsichtlich ihrer Transzendenz unterscheiden sich der ›unendliche‹ Himmel und Gott vom ›endlichen‹ Himmel, dem ›endlichen‹ Menschen. Hierin gründet ihre Unähnlichkeit. Die Vergleichbarkeit zwischen Törleß’ Unendlichkeitserlebnis und der mystischen Gotteserfahrung erstreckt sich auch auf den Versuch, eine solche Erfahrung in Worte zu fassen. So wie der Mystiker beim Versuch, seiner Gotteserfahrung sprachlichen Ausdruck zu verleihen, dabei immer wieder feststellen muss, dass er mit Worten nur annähernd an das Erlebnis heranreicht, das Erlebnis selbst sich jedoch nicht sprachlich ›greifen‹ lässt, gelingt es auch Törleß nicht, sich des immer weiter in die Ferne sich zurückziehenden Himmels zu bemächtigen. Dies hatte er versucht, und zwar zunächst mit Hilfe einer imaginierten Leiter, dann mit Blicken. Wie es heißt: »Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hineinsteigen können.« (62) Aber, – so zeigt sich die grundlegende Paradoxie des Erlebnisses erneut –, je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war doch, als müßte man ihn einmal erreichen und mit den Blicken ihn aufhalten können. Dieser Wunsch wurde quälend heftig. Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile zwischen die Wolken hineinschleuderte und als ob sie, je weiter sie auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe. (62)
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Die sprachkritische Dimension dieser Vergleiche liegt nah. Blicke und Pfeile stehen hier für Worte bzw. Begriffe, mittels derer das Phänomen erfasst werden soll.38 Die Erfahrung der ›Un-zuläng-lichkeit‹ des Wortes hatte Törleß bereits in Bezug auf die »Ereignisse, Menschen, Dinge« gemacht, gegenüber denen er »das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen […] Verwandtschaft hatte«. Hier war von einer »Scheidelinie« die Rede, »die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam« (25). Törleß spürt die Kluft zwischen der Erfahrung des Unendlichen und den Worten, die diese Erfahrung sprachlich einholen sollen: ›Freilich gibt es kein Ende‹, sagte er sich, ›es geht immer weiter, fortwährend weiter, ins Unendliche.‹ Er hielt die Augen auf den Himmel gerichtet und sagte sich dies vor, als gälte es die Kraft einer Beschwörungsformel zu erproben. Aber erfolglos; die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes, so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstande, aber von einer ganz anderen, fremden, gleichgültigen Seite desselben redeten. (62f.)
Ähnlich Törleß’ früherer Versuch, das ›Überraschende‹, ›noch nie Gesehene‹, ›ganz Stumme‹ in Worte zu fassen: »[…] ›aber dann ist es‹«, so Törleß, »›auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind … .‹« (18). Den Begriff des Unendlichen hatte Törleß zunächst nur als blutleeren Terminus aus dem Mathematikunterricht gekannt; das Wort hatte sich bisher nur von seiner ›ratioïden‹ Seite gezeigt: Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestellt. Es kehrte immer wieder; irgend jemand hatte es einst erfunden, und seither war es möglich, so sicher damit zu rechnen wie nur mit irgend etwas Festem. Es war, was es gerade in der Rechnung galt; darüber hinaus hatte Törleß nie etwas gesucht. (63)
Auf einmal offenbart sich dem Verwirrten eine zweite, sprich: die ›nichtratioïde‹ Dimension dieses Wortes: Und nun durchzuckte es ihn wie mit einem Schlage, daß an diesem Worte etwas furchtbar Beunruhigendes hafte. Es kam ihm vor wie ein gezähmter Begriff, mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte und der nun plötzlich entfesselt worden war. Etwas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes schien durch die Arbeit irgendwelcher Erfinder hineingeschlä-
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Vgl. in diesem Zusammenhang Willemsen: Existenzrecht der Dichtung, 147.
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fert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar geworden. Da, in diesem Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte. (63)
Im Zuge dieser epiphanen Erkenntnis erhält das Phänomen der Unendlichkeit, wie zuvor Basini, zwei Gesichter. Zum einen stellt es eine Abstraktion dar, der man sich zum Rechnen bedienen kann, solange man im Bereich logischer, nach Musil ›ratioïder‹ Denkstrukturen bleibt. Zum anderen enthält es aber »[e]twas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes«, worin für Törleß sein ›wahres‹ Wesen liegt. Das implizierten jedenfalls Törleß’ Gedanken; mit dem »gezähmte[n] Begriff könne man lediglich »seine kleinen Kunststückchen« machen, während das, was von ihm »hineingeschläfert worden« sei, das weitaus größere Wirkungs- (und Bedrohungs-)Potential entfalte.39 Die Unendlichkeitserfahrung wird zum Paradigma für die Art, wie Törleß »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst« im Ganzen erlebt: Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte. Gewiß: es gibt für alles eine einfache, natürliche Erklärung, und auch Törleß wußte sie, aber zu seinem furchtsamen Erstaunen schien sie nur eine ganz äußere Hülle fortzureißen, ohne das Innere bloßzulegen, das Törleß wie mit unnatürlich gewordenen Augen stets noch als zweites dahinter schimmern sah. (64)
Das gilt für Beineberg und Reiting, und in besonderem Maße für Basini und »die Vorstellung dessen, was mit dem geschah«, – eine Vorstellung, die Törleß signifikanterweise »völlig entzweigerissen« hatte (63). Diese Vorstellung […] war bald vernünftig und alltäglich, bald von jenem bilderdurchzuckten Schweigen, das allen diesen Eindrücken gemeinsam war, das nach und nach in Törleß’ Wahrnehmung gesickert war und nun mit einem Male beanspruchte, als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu werden; genau so wie vorhin die Vorstellung der Unendlichkeit. (63f.)
Das ›Wilde‹, ›Lebendige‹, das ›über den Verstand Gehende‹, das Törleß hinter den alltäglichen und vernünftigen Erscheinungen vermutet, meint
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Vgl. in diesem Zusammenhang Albertsens Ausführungen über den Prozess und die Konsequenzen der Begriffsbildung und die positive Komponente des (noch) nicht begrifflich Erfassten in: Albertsen: Ratio und Mystik, 66f.
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er schon längst zumindest erahnt zu haben. Es ist etwas, von dem er sich bedroht fühlt: Törleß fühlte nun, daß es ihn von allen Seiten umschloß. Wie ferne, dunkle Kräfte hatte es wohl schon seit je gedroht, aber er war instinktiv davor zurückgewichen und hatte es nur zeitweilig mit einem scheuen Blick gestreift. Nun aber hatte ein Zufall, ein Ereignis seine Aufmerksamkeit verschärft und darauf gerichtet, und wie auf ein Zeichen brach es nun von allen Seiten herein; eine ungeheure Verwirrung mit sich reißend, die jeder Augenblick aufs neue weiter breitete. (64)
Das Gefühl, eine andere Dimension – die des Unendlichen – zu erahnen, ähnelt dem, auf »etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes« zu warten, das sich beim Anblick der Bauersfrauen eingestellt hatte, und es ähnelt auch dem Gefühl, »auf ein ernstes Geheimnis« zu lauschen, das sich bei Anbruch der Dämmerung breitmachte. Ich hatte konstatiert, dass sich hinter jenem zu ›belauschenden‹ Geheimnis zum einen die Erfahrung der sexuellen Vereinigung, zum anderen die der unio mystica verbirgt. Auch das Unendlichkeitserlebnis erhält diese beiden Komponenten. Wenn Törleß sagt, er sei vor den »ferne[n], dunkle[n] Kräften […] zurückgewichen«, die das Unendliche in sich berge, erinnert das an seine Scheu vor der »Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens zu blicken«, die er »nur für einen Augenblick [habe] aushalten können«, so dass »seine Gedanken […] zu etwas anderem, das auch darin lag, [flüchteten]« (24). Ich hatte diese Passage dahingehend ausgelegt, dass mit dem Blick »mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens« die Erfahrung der mystischen Einheit mit dem Anderen gemeint sei, und dass das andere, »das auch darin lag«, sich als sexuelle Vereinigungsphantasie identifizieren ließ. Die Kette von Erinnerungen, die das Unendlichkeitserlebnis bei Törleß auslöst, stellt denn auch einen deutlichen Zusammenhang mit der Dämmerungseinsamkeit her, die eine solche Phantasie evoziert hatte, denn Törleß muss jetzt an »jene Kindheitserinnerung« denken, »in der die Bäume so ernst und schweigend standen wie verzauberte Menschen«. Auch die Tatsache, dass Törleß »den Himmel riesig und schweigend auf sich herunterstarren [fühlt]«, verknüpft das Unendlichkeitserlebnis mit dem ursprünglichen Dämmerungserlebnis, bei dem »die Bäume schweigend im Kreise« gestanden und ihm zugesehen hatten (24). Törleß’ nächster Einfall – »jene Gedanken bei Bozena« – lässt die erotische Dimension des Dämmerungserlebnisses sichtbar werden. Danach kommt ihm »jener Augenblick der Stille im Garten vor den Fenstern der Konditorei« in den 38
Sinn, »ehe sich die dunklen Schleier der Sinnlichkeit niedersenkten«. Als Nächstes fallen ihm Beineberg, Reiting und Basini ein; auch sie erscheinen in einem erotischen Licht. Das ›Fremde‹, ›Unwirkliche‹, das Törleß »oft während des Bruchteils eines Gedankens« an ihnen empfindet, dürfte ihre Geschlechtlichkeit sein, die Törleß abwehrt, indem er dies zu etwas ›Fremdem, Unwirklichem‹ macht. Im Laufe des Gesprächs in der Konditorei hatte Törleß Beinbergs schöne und zugleich ›unzüchtige‹ Hände bemerkt, und es hatte sich daraufhin »etwas Geschlechtliches unvermutet […] zwischen seine Gedanken [gedrängt]« (24). In den »dunkle[n] Kräften«, vor denen Törleß »instinktiv [zurückweicht]«, kann man also – auf einer Ebene zumindest – nach außen projizierte sexuelle Impulse sehen, die auf einmal über ihn ›hereinbrechen‹, »eine ungeheure Verwirrung mit sich reißend«, wie es heißt (64), zumal mit dem »Zufall« – dem »Ereignis«, das »seine Aufmerksamkeit verschärft und darauf gerichtet« hatte – der Vorfall mit Basini gemeint ist. Es ist signifikant, dass Törleß’ Gefühl des völligen ›Entzweigerissenseins‹ sich gerade in der »Vorstellung dessen, was mit [Basini] geschah«, manifestiert: Diese sei einerseits »bald vernünftig und alltäglich« gewesen, andererseits »von jenem bilderdurchzuckten Schweigen, das allen diesen Eindrücken gemeinsam war« (63f.). Im ›bilderdurchzuckten Schweigen‹ verbergen sich auch Törleß’ abgewehrte sexuelle Regungen. Man erinnere sich an die Bauernhöfe, die Törleß als eine Reihe von Bildern erlebte, alten Malereien ähnlich. Vor solchen Bildern stehend war ihm das Gefühl überkommen, »auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit«, zudem auf »etwas ganz Stummes« zu warten (17f.). Dieses »bilderdurchzuckte […] Schweigen, das allen diesen [in den oben aufgezählten Erinnerungen und Einfällen enthaltenen] Eindrücken gemeinsam war […] und nun mit einem Mal beanspruchte, als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu werden« (63f.), entpuppt sich also auf einer Ebene als Ausdruck sexueller Inhalte.40 In ihm manifestiert sich eine zuvor verschlossene Dimension der Wirklichkeit, die sich Törleß eröffnet, aber nur ansatzweise. Die in diesem Zusammenhang geübte Sprachkritik – wie es heißt, scheint die »einfache, natürliche Erklärung nur eine ganz äußere Hülle fortzureißen, ohne das Innere bloßzulegen« (64) – resultiert aus dem allmählichen Sichtbarwer-
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In der, wenn man so will, ›Doppelbesetzung‹ des »bilderdurchzuckten Schweigens« als (latent) sexuellen und mystischen Moments (vgl. die bereits erwähnte mystische Dimension dieser Formel) begegnet man erneut der vielerorts konstatierten Verquickung von Mystik und Sexualität.
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den einer zuvor verschlossenen Dimension der Wirklichkeit, die sich aber (noch) der vollständigen Erkenntnis des Verwirrten entzieht. Entsprechend dem Doppelgesicht solcher Geheimnisse, auf die Törleß ›lauscht‹, kann das Wort vom ›bilderdurchzuckten Schweigen‹ jedoch auch mystisch gelesen werden,41 eignet es sich doch als Formel zur Charakterisierung der ›um-schreibenden‹ Versprachlichung mystischer Gotteserfahrungen, wie sie eine reiche Bekenntnistradition vorführt – eine Tradition, im Übrigen, mit der Musil bestens vertraut war. In der Formel eines ›bilderdurchzuckten Schweigens‹ findet man die beiden Konstituenten eines mystischen Sprechens vereinigt: die Notwendigkeit, in Gleichnissen zu reden und das letztliche Versagen der Sprache im ›Angesicht‹ Gottes. In Verbindung mit dem Wort vom ›bilderdurchzuckten Sprechen‹ äußert Törleß einen sprachkritischen Gedanken, der das fundamentale Paradoxon des mystischen Sprechens in etwa formuliert: »Immer aber ist es so, daß das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen.« (65) Beim Aussprechen dieses Paradoxons fällt Törleß eine Szene aus der Kindheit wieder ein, in der ihm die Diskrepanz zwischen unmittelbarem und sprachvermitteltem Erleben bewusst geworden war: Ihm fiel ein, daß er einstens, als er mit seinem Vater vor einer jener Landschaften stand, unvermittelt gerufen hatte: o es ist schön, – und verlegen wurde, als sich sein Vater freute. Denn er hätte ebenso gut sagen mögen: es ist schrecklich traurig. Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren. Und heute erinnerte er sich des Bildes, erinnerte sich der Worte und deutlich jenes Gefühles zu lügen, ohne zu wissen, wieso. (65)
Törleß sucht nach einer neuen Sprache, nach Möglichkeiten, das Erleben erfassbar zu machen, sprich: nach dem, was den mystisch Bekennenden vornehmlich beschäftigt: »Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.« (65)
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Zur Bildhaftigkeit des mystischen Sprechens vgl. Hermann Kunisch (Hrsg.): Ein Textbuch aus der altdeutschen Mystik, Hamburg 1958, 11. Vgl. Ulrichs Rede in Bezug auf die Qualität kontemplativer Entrückungserlebnisse, vom »Geheimnis [einer] betäubenden, tief vertrauten Bildwerdung« (B 54a.), zitiert in Brosthaus: Entwicklung des aZ, 429.
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In Hinblick auf Musil’sche Erkenntniskritik könnte man aber auch sagen, hierin äußere sich Törleß’ Bedürfnis, zwei Erfahrungsweisen, und folglich ›zwei Welten‹ – die auf ›ratioïde‹ und ›nicht-ratioïde‹ Weise erfahrbaren – zu verbinden, zu integrieren. »Brücke«, »Vergleich« sind die ersten, tentativen Lösungsformeln, die diesem Bemühen gelten. Auf dem Wege ›ratioïden‹ Erkennens allein sei keine ›restlose Einsicht‹ zu erlangen, so der Sinn folgenden Gleichnisses: »Es war, als ob er [Törleß] eine unaufhörliche Division durchführen müßte, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang […].« (65) Beim Erlebnis der Unendlichkeit des Himmels erwies sich der mathematische Begriff des Unendlichen denn auch als unfähig, das Phänomen hinreichend zu erfassen. Erkenntniskritisch betrachtet verweist der »hartnäckige[…] Rest«, der »immer wieder […] heraussprang«, auf die Dimension der Wirklichkeit, die sich dem ›ratioïden‹ Zugriff versperrt; im Sinne einer mystischen Lesart liegt es nahe, hierin ein Gott geltendes Gleichnis zu sehen, wobei der »hartnäckige […] Rest« Gott in seiner Menschenunähnlichkeit und somit Unfassbarkeit darstellt. Angesichts der Erkenntnis, dass es ihm nicht gelingen kann, dem Himmel sein ›Geheimnis‹ zu ›entreißen‹, stellt sich bei Törleß »das Gefühl einer tiefen Einsamkeit« ein, das an die zuvor geschilderte, als Kind erlebte Einsamkeit im Walde anklingt, wobei der Himmel hier an Stelle der Bäume tritt: »Der Himmel schwieg. Und Törleß fühlte, daß er unter diesem unbewegten, stummen Gewölbe ganz allein sei, er fühlte sich wie ein kleines lebendes Pünktchen unter dieser riesigen, durchsichtigen Leiche.« (66) Während er als Kind aus einem Gefühl der Überforderung heraus – aus Scheu vor der »Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens blicken« zu müssen – in die im Hintergrund ›lauernde‹ Einsamkeit geflüchtet war, wird die hier erlebte, ähnlich geartete Einsamkeit durch ein Gefühl der Unfähigkeit verursacht, – der Unfähigkeit, in solche Beziehungen überhaupt Einblick zu bekommen, veranschaulicht durch das Licht, das »einen milchigen Schimmer« annimmt und »wie ein bleicher kalter Nebel vor seinen Augen [tanzt]« (66). Während das Himmelslicht an Wärme und Lebendigkeit verliert, regt sich aber die Mauer. Sie ist es jetzt, die »sich über ihn [beugt …] und ihn schweigend [ansieht]«. Aber dieses Schweigen ist belebt: »Von Zeit zu Zeit kam ein Rieseln herunter, und ein unheimliches Leben erwachte in der Wand.« (66) Törleß wird des Lebens gewahr, das die Mauer in sich birgt: »Neben ihm, in einem feuchten, düsteren Winkel wucherte Huflattich und spreitete seine breiten Blätter zu phantastischen Verstecken den Schnecken und Würmern.« (66) Im Anblick der unerreichbaren Tiefe des Himmels 41
wendet sich Törleß dem Leben in der Mauer zu, das er jetzt als »das einzig Lebendige in einer zeitlosen schweigenden Welt … . .« (66) wahrnimmt. Lebendig wohl deshalb, weil es keine ›Verwirrung‹ stiftet: Törleß muss sich ihm nur zuwenden, und es erschließt sich dem Betrachtenden sogleich. Wenn es heißt, »der helle Tag (schien) selbst zu einem unergründlichen Versteck geworden zu sein, und das lebendige Schweigen umstand Törleß von allen Seiten« (66), scheint hiermit der Weg in eine diesseitige Unendlichkeit gewiesen zu werden, eine Unendlichkeit, die sich in der tageshellen Natur offenbart.42
1.2. Stationen sexuell-epistemologischer Verwirrung: Törleß zwischen sexueller Begierde und ›Wissbegierde‹ 1.2.1. Auf dem Dachboden: Formen der Begierde In der Szene auf dem Dachboden, in der Basini auf qualvolle Weise zur Rechenschaft gezogen wird für sein Vergehen, – so der äußere Anlass für die an ihm ausgeführten sadistischen Exerzitien –, kulminiert die äußere Handlung des Romans. Zugleich stellt sie einen Höhepunkt der inneren Handlung dar und lässt Törleß’ ›Verwirrungen‹ in ihrer ganzen Komplexität erscheinen. Es lohnt sich also, diese Szene eingehend zu betrachten. Zunächst zum Geschehen selbst: Anfangs wartet Törleß, aus der Beobachterposition heraus, auf das Erscheinen Basinis. Dem Befehl Reitings und Beinebergs, auf dem Dachboden zu erscheinen, war dieser gefolgt. Während Basini sich auf die Mitte des Raumes zubewegt, legt Beineberg eine Blendlaterne frei, – die einzige Lichtquelle im Raum –, und die Dunkelheit wird von einem »Kegel tanzenden Staubes« unterbrochen, in dessen Feld Basini dann eintritt: »[…] im nächsten Augenblicke tauchte in der breiten Basis des Lichtkegels das – in der zweifelhaften Beleuchtung aschfahle – Gesicht Basinis auf.« (69) Wie zu einer Photographie erstarrt die Erscheinung: »Basini lächelte. Lieblich, süßlich. Starr festgehalten, wie das Lächeln eines Bildes, hob es sich aus dem Rahmen des Lichtes heraus.« (69) Törleß wird von diesem Anblick in Beschlag genommen. Die Erscheinung fixiert sich vor seinem inneren Auge. Er ist so sehr davon gebannt, dass er
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Vgl. in diesem Zusammenhang Brosthaus’ Thematisierung der Lichtsymbolik im Mann ohne Eigenschaften, besonders in Bezug auf die ›Atemzüge eines Sommertags‹ (Brosthaus: Entwicklung des aZ, 410ff.).
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»das Zittern seiner Augenmuskeln« (69) fühlt. Es folgen Gewalttaten, die Laterne kippt um, jetzt beleuchtet die Laterne nicht mehr Basini, sondern »ihr Licht [fließt] verständnislos und träge zu Törleß’ Füßen über den Boden hin … .« (69).43 Damit verfinstert sich der Schauplatz der äußeren Handlung, so dass Törleß, der bisher seine ganze äußere und innere Aufmerksamkeit auf die Erscheinung Basinis gerichtet hatte, die daraufhin einsetzenden sadistischen Handlungen lediglich akustisch verfolgen kann. Der »viehische[n] Lust mit hinzuspringen und zuzuschlagen« gibt sich Törleß nicht hin; vielmehr liegt »[ü]ber seinen Gliedern […] mit schwerer Hand eine Lähmung« (69f.). Statt zu horchen, was mit Basini passiert, schaut Törleß jetzt dem Licht zu, »das sich zu seinen Füßen in einer Lache er[gießt]« (70). Dem Richtungswechsel der Blendlaterne folgend, – die nun nicht mehr das äußere Geschehen um Basini, sondern Törleß selbst bzw. seine Füße beleuchtet –, lenkt Törleß seine Aufmerksamkeit jetzt auf sich selbst: Dabei beobachtete er sich selbst. Aber so, als ob er eigentlich ins Leere sähe und sich selbst nur wie in einem undeutlichen Schimmer von der Seite her erfaßte. Nun rückte aus diesem Unklaren – von der Seite her – langsam, aber immer sichtlicher ein Verlangen ins deutliche Bewußtsein. (70)
Das immer stärker werdende Verlangen zieht »ihn […] auf die Knie; auf den Boden«, treibt »ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen«, er fühlt »durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz schlagen« (70). Törleß muss schließlich »[z]u seinem Befremden [erkennen]«, »daß er sich in einem Zustande geschlechtlicher Erregung« (70) befindet, eine Tatsache, die er jetzt folgendermaßen reflektiert: Es ging von den Augen aus, – das fühlte er nun, – von den Augen aus wie eine hypnotische Starre zum Gehirn. Es war eine Frage, ja eine … nein, eine Verzweiflung … oh es war ihm ja bekannt …: die Mauer, jener Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung … dasselbe! dasselbe! … ›Ist
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Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die Licht im Mann ohne Eigenschaften erhält. Brosthaus weist auf die leitmotivische Verwendung der Lichtsymbolik in diesem Roman hin, auf die allmähliche ›Aufhellung‹, die »das Erlebnis der Geschwister zum taghellen mystischen Augenblick« begleitet, wobei »die verschiedenen Modifikationen des Lichts symbolische Funktionen [annehmen]. […] dabei erscheint das Licht in verschiedenen formalen Aggregatzuständen; – metaphorisch, gleichnishaft, im Vergleich oder als wirkliches Licht; es ist Lampenlicht oder das Licht der Gestirne; es ist ein Leuchten der Gegenstände, unsichtbar sichtbare Helligkeit, seelische Erleuchtung, Glanz der Erkenntnis oder ›verklärtes‹ Gefühl.« Brosthaus: Entwicklung des aZ, 408f.
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es nicht wie ein Auge?‹ sagte er und wies auf den über den Boden fließenden Lichtschein. (70f.)
Das diffuse Gefühl, »[e]s ging von den Augen aus«, bezieht sich wohl zunächst auf Basini, überträgt sich aber bald auf den Lichtschein selbst: »›Mir ist dieses Licht‹«, sagt Törleß, »›wie ein Auge. Zu einer fremden Welt. Mir ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht. Ich möchte es in mich hineintrinken … .‹« (71)44 Er spürt schließlich »›[e]in Bedürfnis, sich in dieser Licht-Lache zu wälzen, – auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu kriechen, als ob man es so erraten könnte … .‹« (71). Törleß ahnt, dass er in Ansätzen einer ›zweiten Welt‹ gewahr geworden ist, die seinen Kameraden verschlossen geblieben ist bzw. daß er diese Ereignisse mit einem Sinne mehr in sich aufnahm als seine Gefährten.[…] Er wußte es ja schon ganz genau, daß für ihn etwas aufgespart war, das immer wieder und in immer kürzeren Zwischenräumen ihn mahnte; eine Empfindung, die für die anderen unverständlich war, für sein Leben aber offenbar große Wichtigkeit haben mußte. Nur was diese Sinnlichkeit dabei zu bedeuten hatte, wußte er nicht, aber er erinnerte sich, daß sie eigentlich schon jedesmal dabei gewesen war, wenn die Ereignisse angefangen hatten, nur ihm sonderbar zu erscheinen, und ihn quälten, weil er hiefür keinen Grund wußte. (71)
Die ganze Episode ist in höchstem Maße hintersinnig. Letztlich dient das äußere Geschehen nur als Vorwand für das Geschehen auf Törleß’ innerer Bühne. Zuvor hatte Törleß in Basini die Verkörperung einer zweigesichtigen Wirklichkeit gesehen. Aber Basini fungierte nicht nur in sich als Konkretisierung einer dualistischen Wirklichkeit, sondern übernahm in Bezug auf Törleß die Rolle des Du, des Anderen. Im Sinne der gleichlautenden, aus der Tradition der negativen Theologie stammenden Formel war Basini aufgrund seiner ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ gewissermaßen an die Stelle Gottes getreten: In Törleß’ Empfinden ist Basini ihm ähnlich und unähnlich zugleich. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Törleß bot sich Basini als
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Zwei Bezüge lassen sich hier herstellen. Zum einen scheint der Text auf christliche Ikonographie anzuspielen, d.h. auf den seit dem 15. Jahrhundert geläufigen Topos des Auges Gottes, das in Darstellungen oft von einem Strahlenkranz umgeben ist und als Symbol göttlicher Allwissenheit erscheint; vgl. Lexikon für Theologie und Kirche. Hrsg. von Walter Kasper, Freiburg 1993, Band I; zum anderen spielt der Text wohl auf erkenntnistheoretische und mystische Vorstellungen göttlicher Erleuchtung an, auf deren Vielfalt ich hier aber nicht eingehen kann. Vgl. Werner Beierwaltes: »Erleuchtung« (in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1972, 712–717).
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Identifikationsfigur, als ›Doppelgänger‹ an; aufgrund seiner Unähnlichkeit wiederum verkörperte Basini das fremde Gegenüber, das Andere, – aber auch: den Anderen. In der Dachbodenszene wird diese Beziehung zwischen Basini und Törleß in Szene gesetzt. Törleß’ Wahrnehmung der beleuchteten Gestalt Basinis inszeniert eine Art mystische Gottesschau in hochgradig profanisierter Form, bei der das schauende Subjekt der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Gegenübers zugleich gewahr wird. Dieser Akt wird aber nicht vollzogen, denn in Folge der Handgreiflichkeiten auf der äußeren Bühne kippt die Laterne um. Das Licht fließt jetzt in Törleß’ Richtung, »[sickert] in die Fugen zwischen den Balken und erstickt […] in einem staubigen, schmutzigen Dämmern« (70). Dies signalisiert einen Richtungswechsel von der objektgerichteten – hier profanisierten – ›Gottesschau‹ zur Selbstschau, zur ›Selbstbelichtung‹. Was nun einsetzt, ist denn auch ein entsprechender Prozess, bei dem Törleß, der Bewegung des Lichtes folgend, allmählich Selbsterkenntnis erlangt. Wenn es heißt, das Licht habe sich zunächst »zu seinen Füßen in einer Lache [ergossen]«, so entspricht dies Törleß’ Empfinden, »als ob er eigentlich ins Leere sähe und sich selbst nur wie in einem undeutlichen Schimmer von der Seite her erfaßte«. Allmählich rückt Törleß aber – bildhaft gesprochen – ins Zentrum des Blickfelds, will heißen, in den Schein der Blendlaterne, und das Subjekt erlangt Kenntnis vom eigentlichen innerpsychischen Geschehen. Törleß wird der sexuellen Begierde bewusst, die er Basini gegenüber spürt: »Nun rückte aus diesem Unklaren – von der Seite her – langsam, aber immer sichtlicher ein Verlangen ins deutliche Bewußtsein.« (70) Im Bild von der »mächtige[n] Blutwelle«, mit der Törleß sein Verlangen, das »daherflutend den Kopf benommen« habe, vergleicht, wird eine implizite Parallele zwischen Lichtflut und Blutwelle gezogen. Die Verbindung zwischen Törleß und dem Sexualobjekt Basini wird mittels einer Blutwelle, die zwischen Törleß und der idealisierten, sprich: die Stelle Gottes einnehmenden Gestalt des Basini mittels einer ›Lichtwelle‹ hergestellt. Auch hier kommt es, wie bei den bereits gedeuteten Erlebnissen ähnlicher Art, zu einer Verquickung von sexuellem ›Vereinigungs‹-Trieb und Sehnsucht nach mystischer Vereinigung.45 Diese manifestierte sich bereits in Törleß’ Bedürfnis, sich in dieser
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Die mystische Sprache erhält mitunter eine stark erotisierte Komponente. Thomas Pekar geht dezidiert psychoanalytisch vor und betrachtet »Augenlust und Augenblick« – dies der Titel des Kapitels über Die Verwirrungen in seiner MusilMonographie – aus der Perspektive der Triebproblematik. In Bezug auf die
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Licht-Lache »zu wälzen«. Der eigenwillige Neologismus ›Licht-Lache‹ lässt natürlich an eine Blutlache denken. Dass Törleß’ Erlebnis auf dem Dachboden letztendlich in einer Art mystischer Schau kulminiert, legen Törleß’ anschließende Reflexionen nahe. »Es ging von den Augen aus« – so Törleß’ unmittelbare Reaktion darauf, dass »es« ihn »wieder hinunter[zog]« (70). Zwar ist hierin zunächst ein sexueller Impuls zu sehen, den Törleß schon vorher wahrgenommen hatte: »Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen«, hieß es. Zunächst dürften also die Augen, von denen »es« ausgehe, Basinis sein; Törleß scheint ausdrücken zu wollen, dass sie eine erotische Wirkung auf ihn ausüben: eine erotische ›Ausstrahlung‹ haben, die ihn sexuell erregen. Aber auf einmal redet er nicht mehr von ›den Augen‹, sondern von einem einzigen, und meint damit das Licht: »›Ist das nicht wie ein Auge?‹ sagte er und wies auf den über den Boden fließenden Lichtschein.« (71) Dieser zweite Bezug erweist sich als der wesentliche; Törleß kann bald in aller Klarheit artikulieren: »›Mir ist dieses Licht wie ein Auge. Zu einer fremden Welt.‹« (71) Die Welt, die dieses Licht erschließen soll, dürfte jene ›zweite Welt‹ sein, die in der Dämmerungseinsamkeit, aber auch beim Anblick der Bauersfrauen sich ansatzweise kundtat. Das suggeriert auch der gestammelte Einfall in Zusammenhang mit Törleß’ Versuch zur Beschreibung der besonderen Wirkung, die ›jenes Auge‹ auf ihn ausübe: »Es war eine Frage, ja eine … nein, eine Verzweiflung … oh es war ihm ja bekannt …: die Mauer, jener Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung … dasselbe, dasselbe!‹« (71) Auch jetzt, wie bei diesen früheren, bald erotischen, bald mystischen Erlebnissen, bleibt es bei einer Ahnung: »›Mir
Dachbodenszene schreibt er: »Trieb und gesteigerte Wahrnehmung sind hier durch das Augenmotiv miteinander verbunden. Durch das Zurückdrängen seiner Triebregungen, die bei Reiting und Beineberg im Schlagen ihren Ausdruck findet, gelingt Törleß eine außerordentliche Wahrnehmungssteigerung, die ihn – im Nadelöhr des Augenblicks – bis an einen mystischen Erfahrungsraum heranführt.« (Pekar: Sprache der Liebe, 50) Der Verweis auf einen »mystischen Erfahrungsraum« wird nicht weiter vertieft, ebenso wenig wie andere eingestreute Verweise ähnlichen Inhalts. Dabei scheint mir die Verbindung zwischen sexueller und (eher ersehnter bzw. imaginierter als vollzogener) mystischer Erfahrung für die Dachbodenszene von konstitutiver Bedeutung zu sein, so dass man das Augenmerk auf das Zusammenspiel dieser beiden Erfahrungen richten sollte, will man der Komplexität des Geschehens beikommen. Meines Erachtens ist ein psychoanalytischer Deutungsansatz hier wenig fruchtbar, wenn nicht zu sagen, irreführend, will man die Bedeutung dieser Szene für den Roman als Ganzes erschließen.
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ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht.‹« (71) So weiß Törleß nicht, wie er Einblick in diese fremde Welt erlangen soll. Er spürt jedenfalls das Bedürfnis, das Licht in sich »hinein[zu]trinken«, »›sich in dieser Lache zu wälzen, – auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu kriechen, als ob man es so erraten könnte … .‹« (71). In Törleß’ Erlebnis auf dem Dachboden offenbart sich ihm, wenn auch nur in Ansätzen, der ›zweite‹ Weg, den der schräg in die Luft ragende Wegweiser markiert hatte: der mystische. In diesem Kontext wird der von der Blend-Laterne erzeugte, Törleß wie das Auge zu einer fremden Welt vorkommende Lichtschein zur Repräsentanz des göttlichen Lichtes, das in der mystischen Schau erblickt wird.46 Wenn Törleß den Impuls spürt, dieses Licht in sich ›hineintrinken‹, sich in der ›Licht-Lache‹ wälzen zu wollen, erinnert das an die Sehnsucht manch eines Mystikers, er möge sich in Gott ›auflösen‹.47 Überhaupt scheint die Episode das in Szene zu setzen, was Plotin als Vorgang der in die mystische Einung mündenden ›Selbstdurchlichtung‹ beschreibt. Zur Entstehungszeit der Verwirrungen hatte Musil die einschlägige Stelle bei Plotin exzerpiert: ›Bei der intellektuellen Anschauung sieht der Intellekt die intellegiblen [sic!] Objekte mittels des Lichts, das auf sie das Ur-Eine ausgießt und beim Anschauen dieser Objekte sieht es in Wahrheit das intelligible Licht. Aber sobald es seine Aufmerksamkeit den belichteten Objekten zuwendet, sieht es nicht ganz rein das Prinzip, das sie erhellt; wenn es dagegen die Objekte vergißt, welche es betrachtet, u. nur die Klarheit anschaut, die diese sichtbar macht, sieht es das Licht selbst u. das Prinzip des Lichts. Aber nicht außer sich betrachtet der Intellekt das intelligible Licht. Er gleicht darin dem Auge, das ohne äußeres […] Licht […] wahrzunehmen, plötzlich von einer Klarheit getroffen wird, die
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Vgl. hierzu Brosthaus’ Ausführungen über die Lichtsymbolik im Mann ohne Eigenschaften. Der ›andere Zustand‹ werde in Beschreibungen häufig »als ein auf einen äußersten Helligkeitsgrad gesteigertes Licht« charakterisiert, »das sich mithin zum Paradoxon steigert. So heißt es an einer Stelle: »›[…] das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles […].‹« (3, 751) Wie Brosthaus ausführt, ergebe sich »eine Steigerung von anfänglich schwacher Helligkeit bis zur äußersten Verklärung der Welt und Allgegenwart des Lichts.« Brosthaus: Entwicklung des aZ, 409f. Vgl. stellvertretend für eine vielfältige Metaphorik Bernhard von Clairvauxs Abhandlung (in englischer Übersetzung) On Loving God. Die höchste Stufe einer Annäherung an Gott besteht darin, ihn um sich selbst willen zu lieben. »When a feeling of this kind is experienced, the soul, drunk with divine love, forgetful of self, and seeming to be a broken vessel, goes completely into God, and cleaving to God becomes one spirit with him.« Bernard of Clairvaux: Treatises II (The Steps of Humility, On Loving God), Cistercian Fathers Series 13, Kalamazoo, Michigan 1974, 1.
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ihn selbst eignet, oder von einem Strahle, der aus ihm selbst hervorquillt […] oder wenn es unter dem Drucke der Hand das Licht gewahrt, das es in sich hat. Dann sieht es, obwohl es nichts Äußeres sieht; es sieht sogar mehr als in jedem andern Augenblick, denn es sieht das Licht. Die andren Objekte, die es vordem sah, indem es davon erleuchtet ward, waren nicht das Licht selbst. Desgleichen, wenn der Intellekt das Auge irgendwie vor andren Objekten schließt, um sich auf sich selbst zu beschränken, so sieht er, in dem er nichts sieht, nicht ein fremdes Licht in fremden Formen leuchten, sondern sein eigenes Licht.‹48
Den Prozess der ›Selbstdurchlichtung‹, wie ihn Plotin hier beschreibt, scheint die vordergründig banale Handlung auf dem Dachboden inszenieren zu wollen. Das zeigt die Bewegung der Blend-Laterne. Gilt seine Aufmerksamkeit zunächst den, um Plotin zu zitieren, »belichteten Objekten«, – in diesem Fall Basini –, ›vergisst‹ er die Objekte bald. Dieses Abwenden von den Objekten signalisiert das Umkippen der Laterne, dessen Licht jetzt Törleß selbst, oder zumindest seine Füße, beleuchtet: Die Welt der Objekte ist jetzt von Dunkelheit verhüllt. Um mit Plotin zu reden, »sieht« Törleß »das Licht selbst und das Prinzip des Lichts«, zumindest annäherungsweise. Eine wirkliche ›Selbstdurchlichtung‹ im Sinne Plotins, worin der Intellekt »dem Auge [gleicht], das ohne äußeres […] Licht […] wahrzunehmen, plötzlich von einer Klarheit getroffen wird, die ihm selbst eignet, oder von einem Strahle, der aus ihm selbst hervorquillt«, und somit den Weg zur mystischen Einung bahnt, in Folge der »die Beziehung von Sehen und Gesehenem, Denken und Gedachtem, Leuchten und Erleuchtetem endlich in den identifizierenden Grund Eines Aktes zurückgenommen wird«,49 gelingt Törleß hier nicht. Hier betreibt er lediglich Vorübungen. Zu einer Aufhebung der Polarität zwischen schauendem Subjekt und geschautem Objekt kommt es nicht.50
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Tb 135 (Heft 24: 1904/1905). Vgl. Beierwaltes: »Erleuchtung«, 714. Meister Eckhart scheint diese Möglichkeit grundsätzlich in Abrede zu stellen, wenn er die Asymmetrie des Bespiegelungsverhältnisses zwischen Gott und dem Menschen herausstellt. In einer eindrucksvollen Predigt schreibt er: »Es fragt sich, wo das Sein eines Abbildes am eigentlichsten sei: im Spiegel oder in dem, wovon es ausgeht? Es ist eigentlicher in dem, wovon es ausgeht: Ich habe ein Bild, ich gebe ein Bild ab, und ich mache mir ein Bild. Solange der Spiegel unverändert meinem Gesicht gegenübersteht ist mein Bild darin; fiele der Spiegel hin, dann zerfiele dieses Bild. Das Sein des Engels abhängt davon ab [sic!], daß ihm die göttliche Vernunft gegenübersteht, in der er sich erkennt. ›Gleichsam ein Morgenstern mitten im Nebel‹. Ich wende mich dem Wörtchen ›quasi‹ zu, das heißt ›gleichsam‹, das nennen die Schüler in der Schule ein Ad-verb: ein Bei-Wort. Das ist, was ich in allen meinen Predigten behandle. Das Allereigent-
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Aber statt in eine Art (profanisierte) mystische Schau zu münden, unterstreicht das Geschehen signifikanterweise die Bedeutung Basinis gerade in seiner Funktion als (Sexual)-Objekt. Schon in Beinebergs Konzept wurde Basini funktionalisiert: Beineberg wollte ihn als Mittel zur Läuterung auf dem ›mystischen‹ Weg der purgatio, illuminatio und perfectio51 benutzen. Die sadistischen Handlungen, die im Dunkeln vollzogen werden, dienen laut Beinebergs Beteuerungen genau diesem Zweck. Und für Törleß wird er im Laufe des Geschehens erneut zum Sexualobjekt. Schließlich ist das Erkennen, zu dem die ›Selbstdurchlichtung‹ Törleß verhilft, kein Erkennen Gottes, sondern ein Erkennen seiner sexuellen Erregung, die dem zuvor ›belichteten Objekt‹ gilt. Hier manifestiert sich in aller Komplexität die Verquickung von Wissbegierde und sexueller Begierde, die sich als ein
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lichste, was man von Gott sagen kann, das ist ›das Wort‹ und ›die Wahrheit‹. Gott nannte sich selber ein Wort. Der heilige Johannes schrieb: ›Im Anfang war das Wort‹ [Io 1,1], und das bedeutet, daß der Mensch ein Bei-Wort zu diesem Wort sein soll. […] Es gibt einmal das geschaffene Wort – das ist der Engel und der Mensch und alle Schöpfung. Es gibt weiterhin das gedachte und geschaffene Wort, mit dem ich es vermag, Abbilder in mir zu schaffen. Außerdem gibt es ein Wort, das ungeschaffen und ungedacht ist. Das entäußert sich nie, sondern es ist immer in dem der es spricht; es ist immer in einem Empfangen begriffen im Vater, der es spricht und es bleibt in ihm.« Meister Eckhart: Deutsche Predigten. Eine Auswahl auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi«, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001, Predigt Q9, 55;57. Die sprachkritische Dimension Törleß’scher ›Verwirrung‹ ist eher mit dieser Ausformung mystischen Gedankenguts als mit dem Plotin’schen Identitätsgedanken vereinbar. Allerdings entwickelt Eckhart ein ähnliches auf Identität basierendes Szenario, wenn auch auf der Prämisse der völligen Auflösung des ›Geschaffenen‹, sprich: der menschlichen Existenz, wenn er predigenderweise schreibt: »Der Mensch, der sich […] im Willen Gottes gründet, der will nichts anderes, als was Gott ist und was Gottes Wille ist. […] Er ist frei und aus sich selbst herausgegangen, und von allem, was er empfangen kann, muß er frei sein. Wenn mein Auge die Farbe sehen soll, dann muß es von aller Farbe frei sein. Wenn ich blaue oder weiße Farbe sehe, dann sieht sie in dasjenige in meinem Auge hinein, das da die Farbe sieht. Was da hineinsieht, ist dasselbe, das mit dem Auge gesehen wird. Das Auge, in dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, in dem Gott mich sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben. Der Mensch, der so in Gottes Liebe steht, der soll sich selbst tot sein und allen geschaffenen Dingen, so daß er auf sich selbst so wenig achtet wie auf einen, der tausend Meilen weg ist. Der Mensch bleibt in der Ausgeglichenheit und bleibt in der Einheit und bleibt sich ganz gleich; ihn wandelt keine Ungleichmäßigkeit an. Dieser Mensch muß sich selbst und alle Welt zurückgelassen haben.« Meister Eckhart: Deutsche Predigten, Predigt Q 12, 67. Vgl. Beierwaltes: »Erleuchtung«, 716.
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konstitutives Element aller Törleß’schen Verwirrungen herausschält.52 Törleß’ sexuelle und epistemologische ›Verwirrungen‹ sind denn auch nicht auseinander zu dividieren. Nirgendwo im Roman zeigt sich dies so deutlich wie in Törleß’ ›Kant-Traum‹ – wie er im Folgenden genannt wird. Dieser Traum, und was der Träumende dazu empfindet und denkt, birgt den Schlüssel zum Verständnis der von Törleß erlittenen sexuell-epistemologischen Krise und thematisiert dabei eine weitere Dimension des Dualismus, der dieser Krise zu Grunde liegt.
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Interessant in diesem Zusammenhang ist Andrew Webbers Interpretation des Romans: »Sense and Sensuality in Musil’s Törless«. In: German Life and Letters 41:2 (January 1988), 107–130. Webber konstatiert »[a] correlation of sexual desire and the quest for ontological sense: the quest motivated by what might be called epistemological desire, tracing its course in the domain of language […] the unholy marriage of philosophy and sexuality is forged inwardly by the meshing of Törleß’s intellectual enterprise and his sexual needs.« (107f.) Webber geht aber nicht auf den meines Erachtens offensichtlichen Bezug dieser Thematik zur mystischen Tradition ein, sondern liefert eine rein psychoanalytische Lesart. Seiner These nach obliegen Törleß’ sexuelle Begierde und ›Wissbegierde‹ dem von Freud beschriebenen Mechanismus der Verschiebung; darin liege ihre paradigmatische Affinität: »The common character of the different orders of desire lies in the element of deferral which invariably separates the subject from his ostensible objects.« (108) In diesen Kontext stellt Webber das in verschiedenen Varianten anklingende Motiv der Unendlichkeit: »The correlation of sexual and epistemological desire is constructed around the recurrent references to the infinite perspective […] adumbrated in the form of the endless railway tracks […] sustained thereafter by such key motifs as the problem of imaginary numbers, the inability of the eye to encompass the infinity of space, and the perpetually retreating horizon as a metaphor for the bounds of perception.« (108) Nach Webber gilt die menschliche Begierde dem »wahren Objekt«, in seinen Worten ist sie »bound to strain eternally after the true object, even as this remains inimical to desire’s grasp« (108). Webber konstatiert die konstitutive Unerreichbarkeit dieses ›wahren Objekts‹ und folgert: »[…] it is thus the fate of desire to be lodged in objects which are mere metonymic representations of its true object. The metonymic object, by dint of its partitive or virtual nature, is bound to disappoint, and thus to deploy desire perpetually beyond it.« (108) Dieses Phänomen macht Webber an Törleß’ Beziehung zu Basini paradigmatisch fest: »This is the paradigm established in Törleß’s ›desire‹ for Basini: ›sein Begehren sättigte sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über Basini hinaus‹ (T 109).« (108) Das ›wahre‹ Objekt stellt in dieser Lesart Törleß’ Mutter dar. Sie sei das begehrenswerte, aber eben unerreichbare Sexualobjekt seiner vom Ödipalkonflikt determinierten Begierde. Stellt man Webbers psychoanalytische Lesart der hier gebotenen mystischen Lesart gegenüber, so ist interessant festzustellen, dass Basini, als zumindest vorläufiges bzw. vordergründiges Objekt der Begierde, in beiden Fällen Vorwandcharakter erhält: im einen Fall als Ersatz für die unerreichbare Mutter, im anderen als Ersatz für den unerreichbaren Gott bzw. das unerreichbare Ur-Eine.
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1.2.2. Der ›Kant-Traum‹: Törleß im Widerstreit zwischen ›Sinnlichkeit‹ und ›fremder Klugheit‹ Bevor ich mich mit dem ›Kant-Traum‹ sowie den ihn begleitenden Empfindungen und Gedanken des Träumenden befasse, empfiehlt es sich, Törleß’ Auseinandersetzung mit den imaginären Zahlen kurz zu betrachten, wurde doch seine – wohlgemerkt flüchtige – Kant-Lektüre durch sie motiviert. Törleß’ Beschäftigung mit den imaginären Zahlen resultierte daraus, dass es dem Schüler nicht gelungen war, das vom Licht der Blendlaterne Verborgene zu ›erraten‹. Er hofft nun, im Unterricht und speziell in der »Geschichte mit den imaginären Zahlen« »etwas von dem angedeutet [zu] finden«, was er sucht (73). Die imaginären Zahlen erweisen sich aber bald, wie der mathematische Begriff des Unendlichen, als sehr begrenzt. Sie sind zwar zur Durchführung funktionaler rechnerischer Operationen fähig, – das auch mit durchaus greifbaren Anwendungsmöglichkeiten –, Törleß stört sich jedoch an der Tatsache, dass die Rechnungseinheit Wurzel aus minus 1 letztlich eine mathematisch-logische Unmöglichkeit darstellt, die von den Mathematikern nicht weiter problematisiert wird. Er reflektiert diesen Sachverhalt: Aber bleibt nicht trotzdem etwas ganz Sonderbares an der Sache haften? […] In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung etwas Schwindliges; als ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich Unheimliche ist mir aber die Kraft, die in solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig landet. (74)53
Für Törleß werden die imaginären Zahlen, wie sie in der Mathematik verwendet werden, zum Sinnbild für das, was im Mann ohne Eigenschaften als Denkmodus der ›Eindeutigkeit‹, man könnte auch sagen: des ›Ratioïden‹, bezeichnet wird. Das Rechnen mit ihnen führt zwar zu folgerichtigen
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Hinter der abgegriffenen, und daher für gewöhnlich sinn-los erscheinende Redewendung »weiß Gott wohin«, verbirgt sich die Andeutung einer Antwort auf Törleß’ Frage an; man vgl. Maltes Begegnung mit dem blinden Zeitungsverkäufer in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Malte sagt: »Mein Gott, […] so bist du also.« Das Wort ›Gott‹ ist hier wörtlich zu nehmen.
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Ergebnissen, diese aber tangieren eine entscheidende Dimension der Wirklichkeit nicht,54 nämlich das, was der Modus des ›Gleichnisses‹ alleine zu erfassen vermag.55 Törleß’ Metapher drückt dies in einem topographischen Modell aus. Wie er sagt, geht der Weg zwischen den beiden ›Eckpfeilern‹ der ›ratioïden‹ Denkweise »weiß Gott wohin«,56 will heißen: Er führt in den Bereich des ›Nicht Ratioïden‹, dem man mit wie auch immer gearteten mathematischen Operationen nicht beikomme.57 Törleß’ anfänglicher Versuch, sich über das Wesen der imaginären Zahlen Klarheit zu verschaffen, endet mit Enttäuschung, da sein zu dieser Sache befragter Lehrer sich lediglich auf »mathematische Denknotwendigkeiten« beruft, sich als Mathematiker von solchen Fragestellungen nicht angesprochen fühlt und diese in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie, wie sie durch Kant vertreten wird, verweist.
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Ironischerweise entpuppen sich die sogenannten, für Törleß verheißungsvoll klingenden »transzendenten Faktoren« in der Mathematik als keineswegs übersinnlich. Allerdings: So ›eindeutig‹ verhält es sich mit der Mathematik nicht. Im Mann ohne Eigenschaften, wenn im 2. Kapitel der »heiligen Gespräche« von einer »Reise an den Rand des Möglichen«, von einem »›Grenzfall‹, wie das Ulrich später nannte«, die Rede ist, heißt es, sie erinnere »an die Freiheit, […] mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen.« (3, 761) Hier dringt die Mathematik, indem sie sich »des Absurden bedient« – dies eine weniger spezifische Formulierung für das, was mit den imaginären Zahlen passiert –, in den Bereich des ›Nicht Ratioïden‹ vor und erweist sich somit als nicht rein ›ratioïd‹ ausgerichtet, wie die Episode in den Verwirrungen nahelegt. Stark ›ratioïd‹ geprägt ist allerdings das mathematische Verständnis des Lehrers. Meines Erachtens geht Rossbacher zu weit, wenn er in diesem Kontext, in Anspielung auf eine Phrase aus dem Mann ohne Eigenschaften, von »den noch nicht erwachten Absichten Gottes« redet, die »eine so wichtige Dimension des von Musil später so benannten ›Möglichkeitssinnes‹ bilden.« (Karlheinz Rossbacher: »Mathematik und Gefühl. Zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Sigurd Paul Scheichl und Gerald Sieg [Hrsg.]: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, Akten der Jahrestagung 1982 der französischen Universitätsgermanisten. Innsbruck 1986, 127–140; hier 133.) Zwar dürfte die Redewendung nicht in ihrer abgedroschenen Alltagsbedeutung alleine gemeint sein, aber diese lässt der mitschwingende Verweis auf eine wie auch immer geartete transzendente Dimension ein Stück weit ironisch erscheinen. Was den Stellenwert der Mathematik im Werk Musils betrifft, konstatiert Albertsen, selbst diese sei »bereit, ins Irrationale umzuschlagen. Höchste Luzidität kann in Dunkelheit stürzen, ins ganz Unaussagbare. Aus der Überhelligkeit einer gesteigerten Intellektualität führt offenbar ein neuer Weg ins Geheimnis. Das Denken mündet dort, wo es ganz rein, ganz hell, ›fieberhell‹ wird, in die Mystik.« (Albertsen: Ratio und Mystik, 37.) Für Törleß’ Erfahrung mit der Mathematik gilt dies aber nicht.
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Aber die Kant-Lektüre am folgenden Tag verläuft nicht glücklicher als die Unterredung mit dem Mathematiklehrer. Beim Lesen des sofort besorgten Werkes, von dem Törleß sich eine erhellende Wirkung verspricht, verzweifelt er »vor lauter Klammern und Fußnoten«; ihm ist, »als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubwindungen aus dem Kopfe« (80). Das gedanklich Festlegbare, wofür die mathematischen Begriffe und Kants »Klammern und Fußnoten« stehen, erfasst in Törleß’ Vorstellung gerade das Endliche, Begrenzte, das Unwesentliche. Wie er es ausdrückt: ›In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmten Stellen komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmte Weite sieht.‹ (81f.)
Im von Törleß verwendeten Vergleich ist die Topologie des bereits thematisierten Unendlichkeitserlebnisses wieder zu entdecken: Die vertikale, will heißen unendliche Dimension des Himmels offenbart sich in der Lücke zwischen zwei Wolken. Dieselbe Struktur weist auch das Sinnbild auf, das Törleß zur Charakterisierung des Rechnens mit imaginären Zahlen benutzt hatte: Anfang und Ende der Rechenoperation vergleicht er mit Anfangsund Endpfeiler einer Brücke, die selbst nicht vorhanden, d.h. nicht greifbar ist und sich so unserer ›ratioïden‹ Kenntnis entzieht. In diesem Klima der Verwirrung kommt es zu Törleß’ Traum. Dieser Traum wird von einer Szenerie eingeleitet, die stark an die im Zeichen des ›Ratioïden‹ stehende Eingangsszene des Romans erinnert. So wie am Anfang des Romans »die Gegenstände und Menschen« für Törleß »etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich« hatten (7), erhalten die »Atemzüge der Schlafenden« jetzt etwas ähnlich Mechanisches. Die Atemzüge der einzelnen Mitschüler lassen sich nicht unterscheiden von den vielen anderen »gleichmäßigen, gleichruhigen, gleichsicheren, die sich wie ein mechanisches Werk hoben und senkten« (84). Die unter den nur halb heruntergelassenen Vorhang hindurchscheinende Nachthelle und die aufgesprungene Vorhangschnur, die »in häßlichen Windungen herunter[hing], während ihr Schatten auf dem Boden wie ein Wurm durch das helle Viereck kroch« (84), erlebt Törleß im Gegensatz hierzu als etwas Animistisch-Bedrohliches. »Dies war alles von einer beängstigenden, grostesken Häßlichkeit« (84), befindet Törleß. Um sich dieser Empfindung zu erwehren, versucht er, »an etwas Angenehmes zu denken«. Er denkt an die vorausgehende Diskussion mit Beineberg, aus der er seines Erachtens als 53
Sieger hervorgegangen war. Dieser Gedanke löst einen Sprechgesang aus, der sich in seinem Kopf festsetzt und sich gewissermaßen verselbständigt: Hat er denn noch etwas zu erwidern gewußt?. Ja oder nein? … Aber dieses: ja oder nein? schwoll in seinem Kopfe an wie aufsteigende Blasen und zerplatzte, und ja oder nein? … ja oder nein? schwoll es immer und immer wieder an, unaufhörlich, in einem stampfenden Rhythmus, wie das Rollen eines Eisenbahnzuges, wie das Nicken von Blumen an zu hohen Stengeln, wie das Klopfen eines Hammers, das man durch viele dünne Wände hindurch in einem stillen Hause hört … . (84)
In der Phantasie geht diese rhythmische Bewegung bald auf den Körper über. Schließlich »schien es sein eigener Kopf zu sein, der da nickte, auf den Schultern rollte, oder im Takte auf und niederschlug … .« (84). Durch die Abwehr der »beängstigenden, grotesken Häßlichkeit« der wurmähnlichen Vorhangschnur wird Törleß selbst zu einem mechanischen Gebilde. Der Schlaf macht diesem Zustand ein Ende. Und mit ihm kommt der interpretationsbedürftige Traum, der auf Törleß’ Auseinandersetzung mit Kant und den imaginären Zahlen antwortet. Diese war auch der Gegenstand jener Unterredung mit Beineberg gewesen. Der Traum selbst ist relativ kurz und besteht aus einer einzigen Traumsequenz: Da kamen … weit vom Rande her … zwei kleine, wackelnde Figürchen – quer über den Tisch. Das waren offenbar seine Eltern. Aber so klein, daß er für sie nichts empfinden konnte. Auf der anderen Seite verschwanden sie wieder. (84f.)
Im Traum erscheinen sodann zwei neue Figuren, der Mathematikprofessor und, wie es sich bald herausstellt, die karikierte Erscheinung Kants mit einem »sehr, sehr dicken Buch unter dem Arm, das halb so hoch war wie er selbst« (85). Und Törleß hörte die piepsige Stimme seines Lehrers sagen: Wenn dem so sein soll, finden wir das Richtige auf Seite zwölf, Seite zwölf verweist uns weiter an Seite zweiundfünfzig, dann gilt aber auch das, was auf Seite einunddreißig bemerkt wurde, und unter dieser Voraussetzung … . Dabei standen sie über das Buch gebückt und griffen mit den Händen hinein, daß die Blätter stoben. Nach einer Weile richteten sie sich wieder auf, und der andere streichelte fünf- oder sechsmal die Wangen des Professors. Dann kamen sie abermals ein paar Schritte vorwärts, und Törleß hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im Mathematikunterricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte. Solange, bis der andere wieder den Professor streichelte. (85)
Bald erkennt Törleß die Identität der zweiten Gestalt im Traum: »Dieser andere …? […] Trug er nicht einen Zopf? Und etwas altertümliche Klei54
dung? Sehr altertümliche? Seidene Kniehosen sogar? War das nicht …? Oh! Und Törleß wachte mit einem Schrei auf: Kant!« (85) Wenden wir uns zunächst dem Traum selbst zu. Hier geht es um Beziehungen: erstens um die Beziehung zwischen Törleß und seinen Eltern, zweitens um die zwischen Törleß und den beiden im Traum agierenden Gestalten und drittens um die Beziehung dieser beiden Gestalten zueinander. Das Erscheinen der Eltern als »zwei kleine, wackelnde Figürchen« im Traum drückt in der bildhaften Weise des Traums ihre schwindende Bedeutung für Törleß aus. Sie sind »so klein« geworden, »daß er für sie nichts empfinden konnte«. Während aber die Verkleinerung der Eltern im Traum eine Zurücknahme emotionaler Bindung an sie anzeigt, bedeutet die Verkleinerung bzw. Verniedlichung der beiden mit dem Buch hantierenden Gestalten etwas anderes. Indem der Mathematikprofessor im Traum eine piepsige Stimme erhält, wird er sozusagen ›abgekanzelt‹. Ebenso der andere, den Törleß im Nachhinein als Kant identifiziert: Im Verhältnis zum überproportional großen und schweren Buch – es handelt sich hierbei vermutlich um die Abhandlung Kants, die Törleß am Tag zuvor hatte lesen wollen – ist er eine etwas lächerliche Erscheinung, zumal in seiner historischen Aufmachung. Indem der Träumende den Mathematikprofessor und dessen Autoritätsinstanz klein macht, fällt er auch ein entsprechendes Urteil über ihren Denkansatz. Schließlich hatte der Mathematikprofessor Törleß zuvor bitterlich enttäuscht, denn Törleß’ Lehrer hatte sich als unfähig erwiesen, in die Geheimnisse der Mathematik einzudringen. Dieser Aspekt des Traums scheint relativ leicht ›entschlüsselbar‹ zu sein. Etwas komplexer ist die Beziehung der beiden Gelehrten zueinander. Diese erhält eine erotische Färbung. Wie es heißt, habe die Kant-Gestalt »fünf- oder sechsmal die Wangen des Professors [gestreichelt]«. Auch hier scheinen sich sexuelle Begierde und ›Wissbegierde‹ zu verquicken: Schon im Zusammenhang mit dem Gespräch über die imaginären Zahlen war vom »tägliche[n] Konkubinat [des Professors] mit der Mathematik« die Rede (79). Der Mathematikprofessor habe, – so Törleß’ verheißungsvolle Phantasie –, Zugang zu einem »versperrten Garten« (75). Während der Unterredung mit dem Mathematikprofessor hatte Törleß im Arbeitszimmer vergeblich nach »irgendwelchem Ausdrucke« gesucht »für die fürchterlichen Dinge, die darin gedacht wurden« (76). Kurzum: All diese Vorstellungen erhalten eine zum Teil offene, zum Teil nur angedeutete erotische Komponente, – wie das, worauf Törleß beim Anblick der Bauersfrauen wartete, was er in der Dämmerung spürte, angesichts des unendlichen Himmels erahnte. 55
Aber noch ein Element des Traumes fügt die für Törleß’ Verwirrungen konstitutiven Aspekte der Sexualität und der Epistemologie zusammen, und zwar das Bild des »Bandwurm[s] von Beweis«, den die Stimme des Professors ›abfingert‹ (85), ein Bild, das in der Reiteration des Traumes angeführt wird, um die Stimme des Lehrers zu charakterisieren: »Törleß hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im Mathematikunterricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte.«58 Das Bild ist eigenwillig. Zunächst will es wohl heißen, der vom Mathematikprofessor ausgeführte Beweis sei mit einem Bandwurm zu vergleichen – man denke dabei an die Redewendung ›Bandwurmsatz‹ –, weil aufwendig und langwierig, so dass er mehrere Schritte benötige. Im ›Abfingern‹ des Bandwurms seitens des Mathematikprofessors ist wohl die bildhafte Darstellung einer mehrschrittigen Beweisführung zu sehen.59 Das Bild ist schon in sich suggestiv. Wenn es
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Auf dieses Bild geht Götze in seiner Interpretation gar nicht ein, obwohl der Traum den Mittelpunkt seiner Untersuchung bildet. Siehe die nachfolgende Fußnote. Meines Erachtens spielt der Autor hier mit Elementen der Freud’schen Traumdeutung, stellt doch das ›Übersetzen‹ abstrakter Vorgänge in eine bildhafte Sprache einen wichtigen Bestandteil der ›Traumarbeit‹ im Freud’schen Sinne dar, wie in seiner genau ein Jahrzehnt vor Erscheinen der Verwirrungen veröffentlichten Traumdeutung dargelegt wird. Inwieweit Musil mit Freuds damals bereits veröffentlichten Werken vertraut war, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die Kritiker sind in diesem Punkt uneinig. Karl Corino schreibt diesbezüglich: »Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Verwirrungen könnten einige der Denkbilder Freuds Musil zwar bekannt gewesen sein; gelesen hatte er Freud, so nimmt man an, um diese Zeit noch nicht.« (Karl Corino: »Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse«. In: Uwe Baur / Dietmar Goltschnigg [Hrsg.], Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. Grazer Musil-Symposion 1972, München/Salzburg 1973, 126.) Johannes Cremerius behauptet, Musil habe sich sein Leben lang mit der Psychoanalyse beschäftigt (Vgl. »Robert Musil. Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus ›poeta doctus‹ nach Freud«. In: Psyche 33 [1979], 734–772.) Gerd Müller schreibt diesbezüglich, es wäre »verwunderlich, wenn [Musil] nicht schon« zur Zeit der Entstehung der Verwirrungen »die damals Aufsehen erregenden Schriften I. Blochs [Beiträge zur Ätiologie der psychopathia sexualis, 1902/ 03] sowie die Traumdeutung Sigmund Freuds von 1900 und dessen Drei Abhandlungen zur Sexual-Theorie gelesen hätte. Zwar fehlen hierüber exakte Angaben Musils. Es lässt sich aber andererseits Kenntnis dieser Quellen erschließen.« (Gerd Müller: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Der Mann ohne Eigenschaften, Uppsala 1971, 27). Vgl. auch Margret Kaiser-el-Safti: »Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit« (in: Hans-Georg Pott [Hrsg.]: Robert Musil. Dichter, Denker, Journalist, München 1993, 126–171). Wenn Carl Niekerk behauptet, in der Forschung habe sich mittlerweile »die Tendenz durchgesetzt […] den Törleß-Roman als kongeniale Vorwegnahme bzw. unabhängige Rekonstruktion der Psychoanalyse zu lesen« (Carl Niekerk: »Foucault,
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aber unmittelbar danach heißt, in Bezug auf das Traumgeschehen selbst: »Solange, bis der andere wieder den Professor streichelte«, scheint der Text eine Parallelität zwischen der quasi-erotischen Traumhandlung und der für den Vergleich herangeführten herstellen zu wollen, wobei das Streicheln der Wangen in Korrelation zum Abfingern des Bandwurms (von Beweis) zu setzen ist; Sprechen und Streicheln entsprechen sich.60 Zunächst ergibt eine solche Korrelation keinen tieferen Sinn; sie verweist lediglich auf die bereits bemerkte andeutungsweise erotische Dimension der Interaktion zwischen der Kant-Figur und dem Mathematikprofessor sowie auf Törleß’ Tendenz zur ›Erotisierung‹ von Erkenntnisvorgängen. Stellt man die beiden Traumaspekte in einen größeren Kontext, gewinnen sie jedoch in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zunehmend an Sinn. Ich komme nun erneut auf den Erzählabschnitt zu sprechen, der dem Traum unmittelbar vorausging. Im Mittelpunkt standen hier die im Mondlicht leuchtende Vorhangschnur und die Phantasien und Ängste, die ihr Anblick bei Törleß auslöste.61 In seiner Phantasie hatte der Schatten der Vorhangschnur die Gestalt eines Wurms angenommen (84). Und Törleß erinnert die wurmähnliche Schnur im Viereck des Mondlichts wiederum an die Blutspur, die der verletzte Basini im Lichtkreis hinterlassen hatte in jener Nacht der Züchtigung. Wie es damals hieß, hatten die Blutstropfen »einen roten, wie ein Wurm sich windenden Weg [gezeichnet]« (72). Somit ergibt sich einen Zusammenhang zwischen dem Traum und der sadistischen Handlung, die Törleß sexuell erregt hatte. Es liegt nahe, angesichts der vielen Verknüpfungen zwischen den Einfällen beim Einschlafen, dem Traum und dem homoerotischen Geschehen auf dem Dachboden
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Freud, Musil. Macht und Masochismus in den Verwirrungen des Zöglings Törleß« (in: ZfdPh 116:4 [1997], 545–566, hier 549), ohne wohlgemerkt entsprechende Untersuchungen anzuführen, verwechselt er vermutlich die von verschiedener Seite angebotenen psychoanalytischen Lesarten des Romans, die dazu neigen, aus Törleß eine psychoanalytische Fallstudie zu machen, mit dem Text selbst. Siehe etwa Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, München 1989, und Karl Heinz Götze: »›Halb gedacht und halb geträumt‹. Der Traum in Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (in: Cahiers d’Etudes Germaniques 33 [1997], 119–135), um nur zwei zu nennen, sowie Niekerks eigene Untersuchung, insbesondere S. 555 und 559f.. Vgl. Götze: Traum, 126. Er spricht von einer »deutliche[n] Sexualisierung der Beziehung zwischen »Mathematikprofessor« und »Kant«. Ich meine, es handelt sich hierbei eher um eine angedeutete Sexualisierung der Beziehung. Götze berücksichtigt solche Elemente nicht – wie ich meine, zum Nachteil seiner Interpretation.
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die wurmähnliche Schnur als Repräsentanz für Basini zu deuten.62 Wenn es Törleß so vorkommt, »als liege dort [im Viereck] eine Gefahr gekettet« (86), dann gilt dieser Affekt wohl der Erscheinung in der Bedeutung, die sie als Basini-Repräsentanz fur ihn erhält. Törleß ist denn auch erleichtert, dass er die Schnur »aus seinem Bette heraus, wie durch Gitterstäbe geschützt, […] betrachten könne« (86). Signifikanterweise löst der Traum denn auch, wie es heißt, »eine sinnliche Regung« in Törleß aus, »die ihm aber als solche gar nicht mehr zu Bewußtsein kam«, aber auf jeden Fall »in irgendeiner durchaus unerkennbaren, aber sehr nachdrücklichen Weise mit Basini verknüpft war« (87).63 Wurmähnliche Schnur und Bandwurm (von Beweis) sind im weiteren Kontext des Traumgeschehens, der die Vor- und ›Nach‹-bereitung des Traumes selbst mit einschließt, zu sehen; sie stehen in einem vielschichtigen Bezug zueinander. Anlass zu meinen Überlegungen über Törleß’ von der Schnur ausgelöste Assoziationen gab die Feststellung einer gewissen Korrelation zwischen dem Streicheln der Wangen im Traum und der im Vergleich verwendeten Metapher des ›Abfingerns‹ eines ›Bandwurms von Beweis‹. Vor dem Hintergrund der Assoziationen, die die wurmähnliche Schnur bei Törleß auslöst, verstärkt sich die Korrelation zwischen die-
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Das tut auch Webber. Vgl. »Sense and Sensuality«, 123f. Er nennt ihn an einer Stelle »a mere metonym [of Basini]«, an anderer Stelle »[a] phallic fetish« (125). Webber stellt auch diese Szene in den Kontext der frühen Sexualtheorie Freuds und schreibt dem Wurm die Funktion eines Fetisch zu, denn »the normal object« – will heißen Basini – werde ersetzt durch »a metonymic substitute which is inadequate to the satisfaction of the normal ›Sexualziel‹« (123f.). Webber hatte schon befunden, dass auch Basini nicht das ›eigentliche‹ ›Sexualziel‹ Törleß’ darstelle, sondern selbst als eine Art Ersatzobjekt fungiere. Er konstatierte somit Basinis »purely preliminary status as object of desire« und liefert als Beleg hierfür die Tatsache, dass »Törleß’s perception of him is always limited to […] fetishistic forms«, wobei er die von Freud postulierten und von Musil selbst in einem späteren Essay (Ansätze zu einer neuen Ästhetik, 1925) erörterten psychischen Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung meint. Dagegen ist Zweierlei einzuwenden: Zum einen ist die Tatsache, dass etwas im Traum dem Mechanismus der Verdichtung oder Verschiebung unterworfen wird, kein Beweis für dessen geringe psychische Bedeutung für den Betreffenden, sondern eher für das Gegenteil: seine affektive Bedeutung wird gerade dadurch bescheinigt. Zum anderen zeigt sich Törleß an zwei Stellen in vollem Maße seiner Basini geltenden sexuellen Impulse bewusst, die in keiner Weise abgewehrt werden. Vgl. S. 70 und 96. Webbers These lautet: »[…] the worm obliquely sustains the presence of the sexual object during Törleß’ fantasy in the later scene, allowing the motivation of his arousal, but not requiring him to recognise the identity of the motivating object.« »Sense and Sensuality«, 124.
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sen beiden ›Handlungen‹ (im einen Fall einer Traum-Handlung, im anderen einer irrealen, sich aus der von Törleß verwendeten Metapher zur Charakterisierung der Stimme im Traum ergebenden). Die Vermutung liegt nahe, dass für den Träumenden der ›abgefingerte Bandwurm‹ eine Phallusrepräsentanz darstellt; suggeriert wird, – wenn auch nur mittelbar, und zwar großteils über die Törleß’ Traum begleitenden Einfälle –, ein homoerotischer Akt, bei dem die Kant-Figur und der Mathematikprofessor als Repräsentanzen für Törleß und Basini agieren. Bei dieser an der Praxis der psychoanalytischen Traumdeutung angelehnten Interpretation unterstelle ich Musil, unter dem Eindruck frisch rezipierter psychoanalytischer (Traumdeutungs)-Theorien und mit überaus regem dichterischem Kalkül einen für diese Dichtung äußerst ›produktiven‹, da nach Freudscher Traumdeutungspraxis sinnträchtigen Traum konstruiert zu haben, der, – einmal dechiffriert –, Törleß’ ›Verwirrungen‹ für den Leser ein Stück weit ›entwirrt‹. Meines Erachtens soll die Traumsequenz – die Traumdarstellung zusammen mit den vorausgehenden und nachgestellten Einfällen des Träumenden – dazu dienen, das vom Mathematikprofessor vertretene Wissenschaftsverständnis und die ihm entsprechende epistemologische Orientierung sowie die hiermit zu korrelierende Form der Sexualität aus Törleß’scher Perspektive zu charakterisieren. Demnach drückt sich hierin eine Spielart des Dualismus aus, der Törleß fortwährend beschäftigt, und zwar in der Gestalt einer Opposition zwischen ›erotischer‹ ›Sinnlichkeit‹ und einer genital ausgerichteten Sexualität. Törleß selbst stellt eine solche Opposition her, indem er sich gegenüber den beiden Männchen im Traum abgrenzt, und zwar in Hinblick auf die Inhalte bzw. die Art ihrer ›Einsichtnahme‹. Im Traum bzw. in dessen im Erzählakt vollzogener Rekonstruktion geschieht dies durch Verkleinerung und Karikierung. Nach dem Traum erfolgt dies über einen an das Traumgeschehen anknüpfenden Einfall, der das im Traum agierende Männchen mit dem vom Mondlicht beleuchteten Viereck am Boden des Schlafsaals in Verbindung bringt. Wie es heißt: Dieses wutzlige kleine Männchen, von dem er geträumt hatte, wie gierig es die Seiten unter den Fingern jagte! Und das Viereck dort unten? Ha, ha. Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben so etwas bemerkt haben? Er kam sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor, und zum ersten Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichkeit – denn daß es diese sei, wußte er nun schon lange – etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch keiner nachzumachen vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste, versteckteste Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte. (87)
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Zunächst sei festgehalten: Das Viereck stellt einen Gegenstand der Erkenntnis dar, für den die Männchen im Traum, im Gegensatz zu Törleß, ›keinen Sinn‹ haben; wie Törleß – durchaus selbstgefällig – meint, könne dieser nur auf dem Weg der ihm eigenen ›Sinnlichkeit‹ erschlossen werden. In der Kontrastierung von ›Sinnlichkeit‹ und ›fremder Klugheit‹ kann ein Ausdruck des Törleß’ ›Verwirrungen‹ inhärenten Dualismus von ›Ratio und Mystik‹ gesehen werden. In der Darstellung des Traumes inszeniert sich dieser Dualismus gewissermaßen als Kampf, bei dem beide ›Pole‹ sich abwechselnd Geltung verschaffen. Mal scheint sich die ›Sinnlichkeit‹ behaupten zu können gegenüber der ›fremden Klugheit‹.64 Die »höchste, versteckteste Mauer« – die in Bezug zu setzen ist zu Törleß’ Mauererlebnis in seiner Bedeutung als (immanent)-mystischer Erfahrung – bietet einen zuverlässigen Schutz gegen den Geltungsanspruch des ›ratioïden‹ Erkenntnisprinzips, das in der Bildersprache des Traumes lächerlich gemacht wird. Das kleine Männchen stöbert ›gierig‹ in den Seiten des Buches. Es beugt sich der Autorität dieses Wissens, ohne ihm ›gewachsen‹ zu sein. Das deutet sich im Missverhältnis zwischen dem Buch und den Tragenden an, die »bei jedem Schritte […] stehen [blieben] und […] das Buch auf die Erde [legen] mussten« (85). Allerdings zweifelt Törleß mitunter an seiner Überlegenheit gegenüber den Männchen im Traum und ihrer ›fremden Klugheit‹. Versteht man das kleine Männchen im Traum als Autoritätsfigur, mit der er in der Frage nach dem ›wahren‹ Weg zur Erkenntnis rivalisiert, so kann man das plötzliche Anwachsen des Männchens dahingehend deuten, dass es dadurch seine ›wahre Größe‹ zeigt und sich auf diese Weise dem Träumenden gegenüber doch noch zu behaupten vermag. Schließlich versieht ihn der Träumende mit »einem unerbittlichen Gesicht«; wie es heißt: Jedes Mal, wenn das Männchen »riesig zu wachsen« scheint, »[zuckte] es wie ein elektrischer Schlag schmerzhaft von Törleß` Gehirn durch den Körper« (87). Bemerkenswerterweise erleidet Törleß aber nicht den Schmerz einer körperlichen Verletzung; was Törleß Schmerz bereitet ist das Gefühl, »noch immer vor einem verschlossenen Tore stehen [zu müssen]« (87), zu dem
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Vgl. in diesem Kontext Albertsens auf den Mann ohne Eigenschaften bezogene Unterscheidung zwischen einer ›sensibel‹ zu nennenden Ekstase und einer motorischen. »Nur dort, wo die niedere erotische Ekstase [….] vermieden wird, kann Sinnlichkeit mystisch fruchtbar werden«, so Albertsen: Ratio und Mystik, 49.
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in seiner Vorstellung das Männchen, und mit ihm die ›fremde Klugheit‹, vielleicht doch den richtigen Schlüssel besitzt. Dem entspricht die zuvor gehegte Vorstellung, der Mathematikprofessor müsse den Schlüssel zum »versperrten Garten« in der Hand halten. Im Bild vom verschlossenen Tor aktiviert sich die erotische Dimension des Traumes bzw. ihrer sprachlichen Rekonstruktion wieder. Betrachtet man die Beziehung zwischen Mathematikprofessor und Kant-Figur im Traum als eine sexuelle, will heißen, als eine durch den Träumendenden sexualisierte im Sinne einer genital ausgerichteten Sexualität, so besagt diese Vorstellung, dass der mit dieser Form von Sexualität zu korrelierende Erkenntnismodus den Schlüssel zur ›wahren‹ Erkenntnis besitze. Diesem Bild setzt Törleß bald ein anderes, ähnliches gegenüber, um seine nach dem Aufwachen aus dem Traum empfundene »zärtliche Stimmung« zu beschreiben, die ausgelöst wird von einer – »in irgendeiner […] Weise mit Basini [verknüpften]« – »sinnliche[n] Regung«, so Törleß. Sie sei wie jene, die »um die Weihnachtszeit in einem Hause herrscht, wo die Kinder wissen, dass die Geschenke schon da sind, aber noch dort hinter der geheimnisvollen Tür versperrt, durch deren Fugen man nur hie und da einen Strahl vom Lichterglanze dringen sieht« (88).65 Dieses Bild, das über die »zärtliche Stimmung« – dies der Tenor des Vergleichs – indirekt mit Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ in Verbindung gebracht wird, kontrastiert mit dem Bild vom versperrten Garten: hier geheimnisvolle Tür, dort verschlossenes Tor. Die konträre, gegenseitige Bezogenheit dieser beiden Bilder ist konstitutiv für die auszumachende Opposition von Sexualität und ›Sinnlichkeit‹. Das hinter der Tür Verborgene ist der ›Gegenstand‹ ›nicht-ratioïden‹ Erkennens. Es liegt im »Lichterglanze« eine göttliche Präsenz, will heißen: eine transzendente Welt ist zu vermuten, der wir eben »nur hie und da«, in Form einzelner Strahlen, gewahr werden. Und doch erschöpfen sich solche Bilder genauso wenig wie das Viereck im Mondlicht oder das Erlebnis auf dem Dachboden in einem solchen eindeutigen Dualismus. Vielmehr zeichnen sich diese – allesamt und in ähnlicher Weise doppeldeutigen Manifestationen Törleß’scher ›Verwirrung‹ – dadurch aus, dass sie sich einer klaren Polarisierung entziehen. Dass die Szene auf dem Dachboden Elemente einer mystischen Schau bzw. ›Selbstbeleuchtung‹ aufwies, wurde oben gezeigt. Diese Szene entfaltete aber auch eine eindeutig erotische Komponente. Das Nebeneinander(be)stehen die65
Man vergleiche in diesem Kontext Rilkes Gedicht »Vor Weihnachten 1914«, das im folgenden Kapitel analysiert wird.
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ser konträren Dimensionen der Dachbodenszene wurde festgehalten, eine Tendenz zur Verquickung von Erotik und Epistemologie diagnostiziert. In Bezug auf Törleß’ Erleben des Vierecks im Mondlicht lässt sich nun ein ähnliches Phänomen feststellen. Zunächst war die sich durch das Viereck hindurchschlängelnde Schnur – so meine Deutung des Traumes und der mit ihm verbundenen Einfälle – sexuell besetzt: Sie war sowohl mit Basini als auch mit der Kant-Figur in Bezug zu setzen und stellte eine Verbindung zwischen dem sexuellen Geschehen auf dem Dachboden und der latent erotischen Handlung im Traum her. Indem Törleß das Viereck im Anschluss an den Traum zum Exempel für ein Objekt der Erkenntnis erhebt, das, wie er meint, lediglich auf dem Weg der ihm eigenen ›Sinnlichkeit‹ erfasst werden könne, aktiviert er jedoch eine zweite Verbindung zum Geschehen auf dem Dachboden, sprich: zu einer Dimension dieses Geschehens, nämlich der mystischen. Die Ahnungen und Verwirrungen, die Törleß immer wieder heimsuchen, scheinen unweigerlich zwei Dimensionen aufzuweisen: eine sexuelle im Sinne einer erwachsenen, genital determinierten Sexualität, und eine (wie auch immer geartete) mystische und, in Korrespondenz hierzu, ›sinnliche‹ im Törleß’schen Sinne. Das Schillern, das Törleß hinter der Oberfläche der Wirklichkeit bzw. in Bezug auf Basini wahrnimmt, dürfte sich hierauf zurückführen lassen. Dass Törleß zum Zeitpunkt seiner ›Verwirrungen‹ unmittelbar vor der Manifestation erster eindeutig sexueller Impulse steht, ist kein Zufall. Es liegt nah, die dualistische Sicht auf die Dachbodenszene und die Traumsequenz – beides Episoden, die von Törleß’ Bewusstsein stark geprägt sind –, als das Produkt entwicklungsbedingter ›Verwirrung‹ zu betrachten. Törleß steht an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenendasein. Letzteres steht im Zeichen einer genital determinierten Sexualität und des ›ratioïden‹ Denkens, während die Welt, die Törleß gerade verlässt, in Beziehung gesetzt wird zu einer anderen Welt ›jenseits‹ der Erwachsenenwelt; der Weg dorthin vermittelt jene ›Sinnlichkeit‹, die Törleß bereits als kleines Kind erlebte. Auf diese Sinnlichkeit, die ihn sporadisch überfällt, etwa in der Dämmerung, aber auch im Anschluss an den Traum, beruft sich Törleß, wenn es darum geht, sich gegen die Männchen mit ihrer ›fremden Klugheit‹ abzusetzen. Das Erleben einer ›dezentrierten‹ Sinnlichkeit kontrastiert mit der genital ausgerichteten Sexualität der Männchen im Traum; Ersteres manifestiert sich im »Bewußtsein, wie sein [Törleß’] Körper an allen Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des Bettes berührt wurde« (86). Offenbar sieht Törleß in diesem Gefühl den Gegensatz zu dem, was der Schatten jener wurmähnlichen Vorhangschnur im Mondlicht verkör62
pert, denn indem er der liebkosenden Qualität der Bettdecke gewahr wird, fühlt er sich veranlasst, – als wolle er Kontraste setzen –, zum »fahle[n] Viereck auf dem Estrich«, auf dem »jener gewundene Schatten« noch »hindurch[kroch]« (86), hinzuschauen. Das Empfinden einer dezentrierten Sinnlichkeit – »[i]n seiner Haut, rings um den ganzen Körper herum« – ruft sodann ein Erinnerungsbild in ihm hervor, das aus den Tagen stammt, »als er noch Kleidchen trug und noch nicht in die Schule ging« und Zeiten hatte, »da in ihm eine ganz unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein« (86). Wie Törleß im Nachhinein konstatiert, »[saß] diese Sehnsucht […] nicht im Kopfe, – oh nein, – auch nicht im Herzen, – sie kitzelte im ganzen Körper und jagte rings unter der Haut umher« (86). Es scheint sich hier um eine Art androgyne Sinnlichkeit zu handeln, denn, wie es heißt, »wußte [Törleß] damals nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede, und er verstand es nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für immer ein Knabe bleiben« (86).66 Wenn er jetzt »zum ersten Male wieder etwas Ähnliches (spürte), […] nur so rings unter der Haut umher«, das »Körper und Seele zugleich zu sein schien«, ein »Jagen und Hasten, das sich tausendfältig, wie mit samtenen Fühlfäden von Schmetterlingen an seinem Körper stieß« (86), so scheint eine schon in frühen Kindheitstagen erlebte Form der dezentrierten Sinnlichkeit jetzt wiederzukehren. In solchen Einfällen nimmt die androgyn-kindliche ›Sinnlichkeit‹ eine weibliche Qualität an. Diese wird der als männlich dargestellten Sexualität entgegengesetzt, die die Traumfiguren verkörperten. Törleß erfährt diese ›dezentrierte‹ Form von Sinnlichkeit als etwas Weibliches und identifiziert sich mit dem kleinen Mädchen, dessen Arroganz »fühlt, daß sie sich jeden Augenblick in irgendein furchtbar tiefes Versteck in dem kleinen Körper
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Das Dezentrierte der von Törleß erfahrenen ›Sinnlichkeit‹ kann mit dem Zuständlichen einer ›weiblich‹ zu nennenden Form von Liebe, wie sie im Mann ohne Eigenschaften charakterisiert wird, korreliert werden. Ulrich spricht von der Liebe, »die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet!« (3, 801) Vgl. in diesem Zusammenhang Brosthaus: Entwicklung des aZ, 416f. Im Mann ohne Eigenschaften gehört Meeressymbolik neben vegetabilen Metaphern und Gleichnissen zu Ausdrucksweisen für das Prinzip des Weiblichen. Vgl. Brosthaus: Entwicklung des aZ, 419. Die überaus interessante Gender-Problematik muss hier leider unberücksichtigt bleiben, da eine Behandlung der vielen diesbezüglichen Fragen, die die untersuchten Texte aufwerfen, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Hier besteht ein klares Forschungsdesiderat.
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zurückziehen könne … .« (86).67 Dieser Gedanke lässt Törleß wiederum, entsprechend der Kontrapunktik von Männlichem und Weiblichem, die diese Einfälle und Empfindungen prägen, an das »wutzliche kleine Männchen« denken, gegen das er »sich unendlich gesichert« vorkommt (87), weil er »in seiner Sinnlichkeit […] etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch keiner nachzumachen vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste versteckteste Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte« (87).68 Törleß’ Vorstellung einer »höchsten verstecktesten Mauer« steht in Bezug zum vorherigen Mauererlebnis, das Törleß’ Bewusstsein für das im Verborgenen sich regende Leben geschärft hatte. So war ihm »der helle Tag […] zu einem unergründlichen Versteck geworden […] und das lebendige Schweigen umstand [ihn] von allen Seiten« (66). Diese Erfahrung stand im Zeichen einer Art ›immanenter‹ Mystik, so die hier nahegelegte Deutung. Törleß selbst stellt den Bezug zwischen Mauer und Mauer implizit her, denn der Gedanke an die »höchste versteckteste Mauer« löst einen interessanten Einfall bei ihm aus: »Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben […] unter einer einsamen Mauer gelegen und bei jedem Rieseln hinter dem Mörtel erschrocken sind, als ob etwas Totes da Worte suche, um zu ihnen zu sprechen?« (87) Diese Einfälle und Überlegungen münden in eine Apologie der Sinnlichkeit, die Törleß der ›fremden Klugheit‹ dieser Männchen entgegensetzt:
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Ich kann Niekerks psychoanalytisch orientierter Erklärung für Törleß’, wie er sagt, »weibliche Position«, nicht folgen. Er deutet sie als »Kompromißbildung«, die es Törleß erlaube, »an einer sexuellen/geschlechtsspezifischen Identität festzuhalten, zugleich aber die strengen Forderungen der ›männlichen‹ Identität, der väterlichen Ordnung zu umgehen«. (Niekerk: »Foucault, Freud, Musil«, 560; siehe auch 556.) Meines Erachtens ist seine Interpretation ein Paradebeispiel für eine pseudo-psychoanalytische Herangehensweise, die den wesentlichen Aspekt des Gegenstands ihrer Untersuchung außer Acht lässt, nämlich seine dichterische Dimension. Stattdessen reduziert sich der Text in Folge der Interpretation auf ein Gerippe, dem man eine vereinfachte, geradezu zweckentfremdete Theorie überstülpt. Jan Alers Interpretation dieser Stelle geht in eine ganz andere, für mich kaum nachvollziehbare Richtung. Auf der Prämisse einer Gleichsetzung von ›Sinnlichkeit‹, wie sie Törleß an den Tag legt, und ›Sensualität‹ kommt er zunächst zu dem Schluss, Törleß sei »in dreifachem Sinne ein geborener ›Sensualist‹« (Aler: Zögling zwischen Maeterlinck und Mach, 256), und zwar wohl im Sinne des Mach’schen Sensualismus, obwohl der Terminus nicht weiter differenziert wird. Daraus leitet Aler die angeblich »antiintellektualistische Tendenz seines [Törleß’] geistigen Verhaltens« ab.
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Ob sie wohl je so die Musik, die der Wind in den herbstlichen Blättern anfacht, gefühlt haben, – so durch und durch gefühlt haben, daß dahinter plötzlich ein Schreck stand, … der sich langsam, langsam in eine Sinnlichkeit verwandelte? Aber in eine so merkwürdige Sinnlichkeit, die mehr wie ein Flüchten und dann wie ein Auslachen ist. Oh, es ist leicht, gescheit zu sein, wenn man alle diese Fragen nicht kennt … . (87)69
Dass an dieser Stelle das kleine Männchen »immer wieder […] riesig zu wachsen [scheint]«, ist signifikant, scheint sich damit der ›sexuelle‹, sprich ›ratioïde‹ Weg zur Erkenntnis – man bemerke die über das Bild der Mauer erfolgende, erneute Verquickung der sexuellen mit der epistemologischen Thematik – dem ›sinnlichen‹, sprich ›nicht-ratioïden‹ gegenüber zu behaupten, seine Legitimität einklagen zu wollen. Jetzt meldet sich aber die androgyn-kindliche Sinnlichkeit wieder, mit der Törleß sich identifiziert: »[…] das eben, was noch im Augenblick vorher die warmen Schläge seines Blutes weggedrängt hatten«; das Gefühl »rings um den ganzen Körper herum«. Dieses Gefühl »erwachte dann wieder, und eine wortlose Klage flutete durch Törleß’ Seele […]« (87). Der Dualismus, der sich in Törleß’ Einfällen zum Traum manifestiert, entzieht sich letztlich einer klaren Strukturierung, und das liegt daran, dass Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ nun nicht mehr in kindlicher Reinform besteht; ihr ist Sexuelles beigemengt, das Geltung verschaffen will. Dieses zentrale Moment Törleß´scher ›Verwirrung‹ bedingt die oben analysierte Sprachdynamik, die Törleß’ Traumrekonstruktion entfaltet. Bei seiner Suche nach einem Weg aus der ›Verwirrung‹ kann Törleß zwar auf die kindlichen Erfahrungen zurückgreifen, die ihm einen ›mystisch-sinnlichen‹ Weg vermitteln, aber er ist zugleich im sexuellen Reifeprozess begriffen. Die Dynamik dieser Situation prägt Törleß’ Beziehung zu Basini. Dieser 69
Stellt man diese Dichotomie einer bei Meister Eckhart auszumachenden entgegen, die nicht zwischen ›Sinnlichkeit‹ und Ratio unterscheidet, sondern, wie Grace Jantzen in ihrer Studie zu Power, Gender and Christian Mysticism (Cambridge 1995) ausführt, zwischen »the inferior rational faculty, which is conjoined with the senses, and the superior rational faculty, which is formed directly by God and which is the highest part of the soul« (Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 118f.), so sieht man, wie weit Musils Törleß von diesem einflussreichen Verbreiter mystischen Gedankenguts entfernt ist. Wie Jantzen erörtert, steht Eckhart für die intellektbetonte Mystik des Mittelalters. Eckhart sei »famous for his theme of the Vinkelîn, or spark of the soul. From the way in which Eckhart develops the idea of this spark of the soul, we can see both parallels and contrasts with Dionysian speculative or intellectual mysticism, rather than an affective stance. Eckhart is focused upon rationality and right knowing, rather than upon love or desire. […]« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 118f.
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fungiert nicht nur als ›Vorwand‹ im Sinne des vorläufigen Objekts einer mystischen Erfahrung, sondern die mystische Erfahrung, die Törleß mittels dieser schillernden Gestalt gemacht haben will bzw. meint machen zu können, entpuppt sich als Vorwand für die von Törleß letztlich gemachte sexuelle Erfahrung.70 Törleß’ Fall zeigt uns: Zwischen kindlich/androgyner ›Sinnlichkeit‹ und mystischer Ekstase kann keine direkte Brücke geschlagen werden; die im Zeichen des ›Ratioïden‹ stehende Sexualität verlangt, wenn man so will, ihr Recht.71 Wie sich zeigen wird, spielen solche Relationen
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Unterstellt man Törleß ein solches ›doppeltes Spiel‹, so lassen sich seine ›mystischen‹ Exerzitien jedoch nicht der Tradition eines auf ›erotischer‹ Sehnsucht basierenden Strebens nach Vereinigung zuordnen, wie sie etwa von Bernhard von Clairvaux – in Abgrenzung zu Meister Eckhart – vertreten wird. Über Bernhard von Clairvauxs, wenn man so will, ›erotische‹ Schule der Mystik schreibt Jantzen: »The vocabulary of erotic yearning, the hunger for the presence of the beloved and for sexual consummation, of bliss and contentment is the weft on which Bernard’s sermons are woven. In Bernard, too, there is ecstacy, but it is an ecstasy not of an intellect transcending itself but of a love fulfilled. A concentration on this side of Bernard’s writing could portray him as a mystic made in the image of modern romanticism. But if the weft of his sermons is the vocabulary of erotic love, the warp is a sharp denial of the body as having any part in it. The love with which the soul is to seek God is to be purely spiritual; the desire and passion and consummation are not to be thought of as in any sense engaging actual bodiliness and sexuality.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 128. In Bezug auf weibliche Mystikerinnen des Mittelalters berichtet Jantzen allerdings: »With [these] women there is a direct, highly charged, passionate encounter […]. The sexuality is explicit, and there is no warning that it should not be taken literally.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 133. Wohlgemerkt gilt dieses ›encounter‹ aber Jesus Christus; es stellt sich also auf ein ganz anderes Fundament als das, worauf Törleß’ Liebelei beruht. Im Sinne Eckhart’scher Mystik hat eine solche Opposition genau genommen keine Gültigkeit, geht es hier nicht um ein ekstatisches Vereinigungserlebnis, sondern um ein intellektuell zu nennendes Erkennen. Wie Jantzen ausführt, basiert das mystische Erlebnis Eckhart’scher Provenienz auf ›knowing‹. Bezug nehmend auf die in Hinblick auf Musils Törleß besonders problematisch erscheinende, aber hier nicht näher erläuterbare Genderthematik schreibt Jantzen: »[…] there is that in humans which is god-like and hence akin rather to being than to nothing. This is what Eckhart designates as ›the spark of the soul‹, […] using his characteristically gendered language: ›The spark of the intellect, which is the head of the soul, is called the husband [or man] of the soul, and is none other than a tiny spark of the divine nature, a divine light, a ray and an imprint of the divine nature. (Eckhart 1979: 229).‹ […] insofar as [this spark] is most aptly describable as knowing, it is the same as God, whose being Eckhart has characterised as knowing. From this Eckhart draws startling conclusions: ›His causing me to know and my knowing are the same thing. Hence his knowing is mine, just as what the teacher teaches and what the pupil is taught are one. And because his knowing is mine and because his substance, his nature, and his being
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und Spannungen eine entscheidende Rolle für Ulrichs Forderung nach einer ›taghellen Mystik‹.72 In der Verquickung der sexuellen mit der epistemologischen Thematik in Musils Verwirrungen scheint sich ein Spannungsmoment in grundsätzlicher Weise zu verschieben, das eine lange Tradition christlicher Mystik kennzeichnet. Während man innerhalb dieser Tradition vom Konkurrieren einer intellekt- mit einem affektbetonten Mystik, einer ›rationalen‹ mit einer im weitesten Sinne des Wortes erotischen Form der Gottesannäherung sprechen kann, erfolgt hier in der Gegenüberstellung einer ›männlichen‹, und das heißt genital ausgerichteten ›Sexualität‹ mit einer ›weiblichen‹, nicht genital zentrierten – will heißen: schlechthin ›dezentrierten‹ – ›Sinnlichkeit‹ eine Dichotomisierung anderer Art, aus der eine Neudefinierung grundsätzlicher, miteinander kontrastierender Erkenntnismodi hervorzugehen scheint, die sich aber als anknüpfbar an alternative Formen mystischen Erkennens erweisen, da die Tradition christlicher Mystik sowohl einen intellektuellen als auch einen affektiven Weg zur ›Gotteserfahrung‹ für denkbar hält. Problematisch ist hierbei die Korrelation der als ›männlich‹ identifizierten ›Sexualität‹ mit ratioïder Denktätigkeit und der als ›weiblich‹ identifizierten ›Sinnlichkeit‹ mit einer Art mystischer Intuition, scheint es doch, als ob hierdurch eine ganze Dimension mystischen Strebens ausgeschaltet werden soll. Die Fokussierung der als weiblich zu betrachtenden ›Sinnlichkeit‹ auf die »versteckteste Mauer« als Gegenstand quasi-mystischer Schau führt eine radikale Reduzierung
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are mine, I am the Son of God. (1986: 328)‹ The spark of the soul, the imago dei, is that which knows God with divine knowledge, and thus participates in the divine nature or is one with God.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 120. Interessant in diesem Zusammenhang ist die von Jantzen konstatierte Zusammenführung einer intellekt- und einer affektbetonten mystischen Tradition nach Dionysius und Eckhart, etwa bei »Bonaventure and, especially, the anonymous fourteenth-century English writer of The Cloud of Unknowing. In each of them and many others like them, the mystical ascent to God is seen in terms of the mind and its progress, but that progress is a progress not of pure intellect, but also of love: love and knowledge enable each other. In The Cloud, in particular, the ›unknowing‹ of Dionysius is itself a term for love, and is contrasted sharply with knowledge, which, true to Dionysius’ teaching, can never be adequate to the reality of God.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 132. Tendenzen in diese Richtung werden aber schon bei Origen und Eckhart festgestellt: »[…] those like Origen and Eckhart who spoke most in terms of union of the mind with the mind of God did not usually speak of this as without love. On the contrary, it is the intellectual love of God which is union with God.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 143.
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des Spektrums mystischer Erfahrung herbei, die auch einer Absage an die göttliche Dimension solcher Erfahrung und einer endgültigen Hinwendung zur ›säkularen‹ Mystik gleichkommt. Signifikanterweise versteht Fritz Mauthner die »gottlose Mystik«73 – so eine epochale Formel, die auch für Musil’sche Mystik anwendbar erscheint – als mehr oder weniger tentative Reaktion auf eine »bankrotte[…] ›Wissenschaft‹«, spricht Mauthner doch von der (zunächst zumindest) aus Verlegenheit vorgenommenen Flucht aus der besagten, in allen letzten Fragen bankrotten ›Wissenschaft‹ in das eingestandene Nichtwissen, aus dem Reiche der Vernunft in das innere Jenseits des Übervernünftigen, aus dem Markttreiben der Wortwechsler in die Geborgenheit und Verborgenheit der Mystiker. In die letzte Einheit, in welche kein Unterschied mehr besteht zwischen meinem Ich und der übrigen Natur, in welcher die Welt oder die Natur nur einmal da ist, in welcher ein Tautropfen, eine Tanne, ein Tier oder irgendein anderes Ich, wie z.B. das meinige, nur das gleiche Recht eines Gefühles hat, ein Traum, ein Werk der Sehnsucht ist, oder eine Illusion und dennoch das einzig Wirkliche.74
Wie Mauthner im Folgenden »mit heiterer Selbstsicherheit« verlautbart: Und wenn ich diese durchaus nicht verstiegene Mystik, diesen meinen mystischen Monismus […] auch noch gottlos nenne, so muß ich also bekennen, daß ich an dem alten Worte Mystik einen Bedeutungswandel verübt und doch einen langsam werdenden Bedeutungswandel vollendet habe.75
Was Mauthner als provisorischen Notbehelf hinstellt,76 wird von Törleß idealisiert, wenn auch zaghaft, ohne den Brustton innerster Überzeugung. Aber es gilt, den ›sinnlichen‹ Weg in aller Konsequenz gedanklich – wie körperlich – durchzuexerzieren.
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Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, 4 Bände, Stuttgart/Berlin 1922–23, Bd. 1, Vorwort, V. Mauthner: Atheismus, Bd. 4, 427. Mauthner: Atheismus, Bd. 4, 427f. »[…] ich möchte diejenigen, die mir vertrauen, auf die helle und kalte Höhe führen, von welcher aus betrachtet alle Dogmen als geschichtlich gewordene und geschichtlich vergängliche Menschensatzungen erscheinen, die Dogmen aller positiven Religionen ebenso wie die Dogmen der materialistischen Wissenschaft, auf die Höhe, von welcher aus übersehen Glaube und Aberglaube gleichwertige Begriffe sind. Wie ich zwischen den Zeilen des niederreißenden Buches aufbauend zu bieten suche, mein Kredo also, ist eine gottlose Mystik, die vielleicht für die Länge des Zweifelweges entschädigen wird.« Fritz Mauthner: Atheismus, Bd. 1, Vorwort, V.
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1.2.3. Eros: Törleß’ mystischer Übungsweg Dass Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ – eine als androgyn-kindliche zu bezeichnende – ihm den Weg zur ›mystischen‹ Schau bahnen soll, deuteten seine vom Traum ausgelösten Reflexionen an. Dass Basini hierbei eine Schlüsselrolle zukomme, auch. Seine Gedanken über solche Zusammenhänge will Törleß anschließend zu Papier bringen, und zwar in Form eines Traktats mit dem Titel De natura hominum. Gerade jener »unbestimmten Sinnlichkeit«, die er zuletzt erfahren und mit der »zärtliche[n] Stimmung […] um die Weihnachtszeit« (88) verglichen hatte, versucht er schreibend beizukommen: Wenn all die Erfahrungen, in denen jene merkwürdige Sinnlichkeit sich eingestellt habe, wenn »das alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeichnet sein werde, […] werde sich auch die richtige, verstandesgesetzmäßige Fassung von selbst ergeben« (88), so hofft er. Und doch ergeht es Törleß dabei »wie einem Fischer […], der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben« (88). Ihm ist, als habe er »einen Sinn mehr […] als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert« (89). Törleß stellt fest, dass sein Sinn für eine hinter der alltäglichen, verständlichen Wirklichkeit liegende ›zweite Welt‹ sich in Zusammenhang mit Basini erst richtig bemerkbar gemacht habe: »Diese Veränderung begann, wenn ich mich genau erinnere, mit Basinis …« (89) Törleß spricht nicht ganz aus, was er denkt. Gemeint sind aber, wie Törleß’ weitere Überlegungen zeigen, »die Erniedrigungen […], die Basini erlitten hatte« (90). Törleß identifiziert Basini als das zumindest vorläufige Objekt seiner ›sinnlichen Regung‹ und versucht, die Qualität des von Basini ausgelösten Gefühls zu charakterisieren: Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und ganz eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erdbeben ganz tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche erscheinen. (90)
Was er hierbei erlebt, vermag Törleß aber nicht in Worte zu fassen, denn die Erfahrung entzieht sich dem sprachlichen Zugriff. Dieses Phänomen kennt Törleß schon; er hatte bereits versucht, dieses an Hand mehrerer Gleichnisse zu beschreiben. So auch jetzt. Wie er meint, verfüge er zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete, nur über die Bilder […], welche davon in seine Sinne fielen, – so wie wenn von einer
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unendlich sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken. (90)
Was Törleß hier schildert, ist ein bildhaftes Sehen. Mehr als die Worte vermögen die Bilder annäherungsweise das auszudrücken, was ›am Grunde erzittert‹, obwohl auch ihre Ausdruckskraft beschränkt ist.77 Anklänge an 77
Das bildhafte Sprechen über Gott bzw. über die ersehnte oder bereits erlebte Vereinigung als vom Mystiker bevorzugten Weg der Versprachlichung eines Erlebnisgehalts, – sofern es versucht, und davon gehe ich aus, bildhafte Entsprechungen für diesen zu formulieren –, problematisiert Dionysius Areopagita ganz entschieden im Sinne der ›negativen Theologie‹: »Wenn es nun zutrifft, dass die Negationen bei den göttlichen Dingen wahr, die positiven Aussagen hingegen der Verborgenheit der unaussprechlichen Geheimnisse unangemessen sind, dann folgt, daß bei den unsichtbaren Gegenständen die Darstellung durch Ausdrucksformen ohne jegliche Analogie eher die passende ist. Es ehren also die geheiligten Darstellungen der Worte die himmlischen Gliederungen und schänden sie nicht, wenn sie sie durch Gestalten ohne jede Analogie darstellen, indem sie dadurch aufzeigen, daß sie allem Stofflichen in unvorstellbarer Weise entrückt sind. Daß darüber hinaus auch unser Denken die abweichenden unter den Gleichartigkeiten eher [zu höherer Betrachtungsweise] emporführen, wird, glaube ich, kein Vernünftiger bestreiten.« Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie, übersetzt von Günter Heil, Stuttgart 1986, 32 (140D–141A). Wie Alois M. Haas diese Stelle liest, wolle damit gesagt sein, dass »die Vermittlung zum Geistigen hin durch die ›sogenannten ungleichartigen Gleichartigkeiten‹ ungleich besser gewährleistet [sei] als durch ähnliche Ähnlichkeiten«. Haas: Mystik im Kontext, 145. Wie Haas etwas weiter unten konstatiert: »Die nicht analogen Analogien werden in dieser apophatischen Sicht zu besonders hervorragenden Mitteln der Darstellung des Göttlichen. Damit ist nicht nur der Weg frei zur Erfahrung der Einheit mit Gott in der diesem Vorgang entsprechenden vornehmen Verhüllung, sondern vor allem auch offen für die ganze Breite der Darstellungsmöglichkeiten für das Göttliche unter dem Anschein seines Gegenteils […] Das heißt, dass die äußersten Möglichkeiten der Aussage über das Göttliche auch die wirkkräftigsten zu sein vermögen.« Haas: Mystik im Kontext, 146. In diesem Zusammenhang ist Walter Haugs Unterscheidung zwischen einer metaphorischen und einer ontologischen Annäherung an Gott aufschlussreich. Wie Haug schreibt, pflegte man »angesichts d[er] Austauschbarkeit« der für das Sprechen über Gott bemühten Referenzsysteme »von Metaphorik zu sprechen«. Hier sei aber »Vorsicht geboten. Denn zunächst ist festzuhalten, daß etwa das Licht oder die Höhe keine Metaphern Gottes sind, sondern daß Gott in gewisser Weise das Licht und die Höhe ist: ›in gewisser Weise‹ heißt, daß er es zugleich in höherem Maße nicht ist. Die Erfahrung und Darstellung anhand der Struktur der unähnlichen Ähnlichkeit ist damit fundamental von der Darstellungsform der Metapher unterschieden. Wenn man die Aussage ›Gott ist Licht‹ metaphorisch versteht, so heißt das, daß bestimmte Qualitäten Gottes im Bild des Lichtes anschaulich gemacht werden können: […] Die ontologische Erfahrung Gottes im Licht dagegen eröffnet keinen solchen Horizont […] Sie zielt vielmehr auf die Differenz zwischen
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das dem Roman vorangestellte Motto sind in diesem Gleichnis zu entdecken. Es erinnert aber auch an das zuvor entworfene Gleichnis, mit dem Törleß die vom Traum ausgelöste »sinnliche Regung« zu charakterisieren versuchte. Da war von einem »hinter der geheimnisvollen Tür« sich verbergenden Lichterglanz die Rede, von dem man »hie und da« einen Strahl durch die Fugen« dringen sieht (88). Auch wenn die Topologie eine jeweils andere ist, wollen beide Gleichnisse demselben Gefühl Ausdruck verleihen, nämlich der Basini geltenden ›sinnlichen Regung‹. Also dient Basini hier gewissermaßen als Vermittler der quasi-mystischen Schau, die Törleß erfährt. Aber die Bilder, die jetzt vor Törleß’ inneres Auge treten, geben nicht wirklich das wieder, was in der Finsternis liegt: Diese Eindrücke waren […] unbeständig, wechselnd […]. Nie konnte Törleß sie festhalten, denn wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese Repräsentanten an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen, ungehobenen Masse standen, die zu vertreten sie vorgaben. (90)
Das Objekt der quasi-mystischen Schau, Basini, erweist sich als genauso vorläufig wie die Bilder, mittels derer diese Erfahrung zum Ausdruck gelangen soll: Nie ›sah‹ er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen. (90f.)
Aber erst die konkrete sexuelle Beziehung zum vermeintlichen Objekt der Begierde zeigt Törleß, dass Basini »nicht mehr als ein stellvertretendes und vorläufiges Ziel [seines] Verlangens« gewesen sei (109). Man stelle also erneut fest: Basini hat in doppeltem Sinne Vorwandcharakter. Zum einen stellt er das ›nur vorläufige Ziel‹ der von Törleß ersehnten mystischen
dem endlich Lichthaften und dem ewig Lichthaften.« Wie Haug weiter unten bemerkt, bildet »die Sphäre des Konkreten schlechthin« eine »weitere Einbruchstelle des Metaphorischen«. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 499.
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Schau dar und ist als solches auch nur ein Zeichen; alle hier zitierten, von Törleß bemühten Bilder thematisieren einen Prozess persistierender Signifikation, der nie zum Ziel führt, und Basini ist Teil dieses Signifikationsprozesses. Sein Vorwandcharakter zeigt sich auch darin, dass die eine ihm zugeschriebene Funktion die andere überdeckt, von ihr ablenkt: Als ›Übungsobjekt‹ im Dienste mystischer Exerzitien tritt das ›Sexualobjekt‹ in den Hintergrund, aber als Letzteres führt Basini Törleß’ sexuelle Reifung und den hiermit einhergehenden Eintritt in eine vom Prinzip des ›Ratioïden‹ wie des ›Nicht-Ratioïden‹, von ›Sexualität‹ wie ›Sinnlichkeit‹ determinierte Welt herbei. Als doppelsinnige Gestalt repräsentiert Basini die ›doppelgesichtige‹ Welt, die diese konträren Bezugsgrößen ergeben. Auf einer Ebene eröffnet der Roman jedoch eine Möglichkeit, Sexualität und ›Sinnlichkeit‹, Ratio und Mystik in den Dienst eines ›höheren‹, ›harmonisierten‹ Zieles zu stellen. Dass die menschliche Liebe im platonisierenden Sinne die Vorstufe zu einer höheren Form der Liebe darstellen kann, zeigt nämlich die Episode mit der Schauspielerin, die Törleß in Folge des »mehr seelischen als körperlichen«, vom Gedanken an Basini ausgelösten »Fiebers« (91) wieder einfällt. Auf einer Italienreise mit seinen Eltern hatte Törleß sich in diese verliebt. Sie bekam er jedoch nie zu Gesicht; er hatte lediglich ihrem Gesang – in einer ihm unverständlichen Sprache – am offenen Fenster gelauscht. Gerade die Tatsache, dass er die Schauspielerin nie sah, ihre Sprache nicht verstand, ließ sie zur Brücke werden für die ersehnte transzendente Erfahrung: […] er empfand die Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen. (91f.)
In der Liebe zur Schauspielerin kann sich Törleß mit einem der übermenschlichen Leidenschaft fähigen Wesen identifizieren, wie es die dunklen Vögel des Vergleichs verkörpern: Er kann »die Linien fühlen […], die ihr Flug in seiner Seele [zieht]«, er vereint sich mit diesen übermenschlichen Wesen. Dass die Schauspielerin hierbei eine Vorwandfunktion erfüllt, zeigt sich darin, dass Törleß in dieser Erregung (nie) an die Personen denken (konnte), welche […] jene Leidenschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so schossen augenblicks dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantische Dimensionen, so wie in der Finsternis die menschlichen Körper wachsen und menschliche Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese
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Augen im Dunkel, diese schwarzen Flügelschläge liebte er damals unter dem Namen jener ihm unbekannten Schauspielerin. (92)
Das menschliche Liebesobjekt vermittelt eine transzendente Liebeserfahrung, mündet in die Schau einer höheren Macht, mit der Törleß sich ein Stück weit identifizieren kann, nämlich, indem er die Linien im Innern fühlt, die die Flügelschläge der großen dunklen Vögel – als Verkörperung dieser Macht – ziehen, vor deren überwältigenden Dimensionen, vor deren Andersartigkeit er aber nur staunen kann: Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend Samenkörner streuen können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die weit über uns hinauswächst? … . Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldiges Ja als Antwort. (92)
Der Künstler ist derjenige, dem eine solche Saat gelingt. Das weiß der Erzähler (Törleß hingegen noch nicht), der anschließend meint: »[Törleß] kam sich unter all dem wie ein Auserwählter vor. Wie ein Heiliger, der himmlische Gesichte hat; – denn von der Intuition großer Künstler wußte er nichts.« (92) Auch wenn das Licht, das in Folge dieser Reflexionen noch einmal »in seinem Innern […] zu sprühen [scheint]« (92), bald erlischt, ist sich Törleß jetzt sicher, dass er den ›zweiten Weg‹ wählen muss, denn er ist überzeugt, »daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe« und »daß er auf die Hilfe philosophischer Bücher verzichten müsse« (92). So erweisen sich auch seine eigenen Schreibversuche als vergebens, denn das Ergebnis ist nur »eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte« (93). Statt schreibend die Tür zu suchen, »die hinüberführe« (92), beschließt sich Törleß, »so oft als möglich, immer und immer wieder die Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in sich trugen« (93): Situationen, in denen sich eine Art sinnliche Regung einstellt wie die von der Erinnerung an die Schauspielerin ausgelöste. Dabei stellt der Erzähler fest: »[…] besonders häufig ruhte sein [Törleß’] Blick auf Basini.« (93) Der von Basini ausgehende Reiz ist eindeutig erotischer Natur, ist es doch »ein Reiz«, so Törleß, »wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann« (93). 73
Wenn Törleß sich für den ›zweiten Weg‹ entscheidet, bedeutet das allerdings nicht, dass er die Gültigkeit jener philosophischen Bücher in Abrede stellt. Vielmehr [überkommt] ihn eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedrückt hatte. (93)
Eine grundsätzliche Verunsicherung macht sich breit. Im einen Moment scheint der von ihm gewählte Weg der richtige zu sein. In dem Moment aber, in dem er an das Buch denkt, – gemeint ist die Abhandlung Kants –, gerät er ins Wanken: Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage. (93)
So versucht Törleß, das eine mit dem anderen zu verbinden, eine Synthese zweier Erkenntnismodi anzustreben, wenn auch auf sehr äußerliche, unbedarfte Weise, so dass der Versuch misslingen muss: Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch, und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheit finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren … Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlich immer wieder erneuten Versuche klebte. (95)
Genauso wenig, wie es Törleß gelingt, konkurrierende Erkenntnisprinzipien zu versöhnen, genauso wenig gelingt es ihm, die alltägliche Welt mit der Sphäre zu verbinden, die sich mittels der Liebe zur Schauspielerin für einzelne Augenblicke offenbart hatte. Im Zuge der sich anbahnenden sexuellen Beziehung zu Basini muss Törleß noch einmal daran denken, wie unvereinbar das »warme[…] und helle[…] Leben der Lehrsäle« und das »ganz andere[…] Leben« in der Kammer sind (105). Sein Versuch, die beiden ›Leben‹ gefühlsmäßig zu kontrastieren, erhärtet nur den Eindruck ihrer Unvergleichbarkeit und somit auch Unvereinbarkeit. Wie es heißt, ergeht es ihm dabei 74
wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes begleiten. (105f.)
Aber Törleß thematisiert nicht nur den Gegensatz zweier Erkenntnisprinzipien, die diese beiden Orte verkörpern, sondern auch den Gegensatz zwischen einer menschlichen und einer das Menschliche transzendierenden Sphäre; das »ganz andere Leben«, wie es die Dachkammer im Kleinen repräsentiert, und nicht das »Leben der Lehrsäle« stellt das Tor zur verborgenen Dimension der Wirklichkeit dar. Wie Törleß meint erkennen zu können, eröffnet lediglich die ›Sinnlichkeit‹ »[die] Türe, die hinüberführ[t]« (92). Was aber das Maeterlinck’sche Motto und die ihrem Sinn nach mit ihm verwandten Gleichnisse beklagen, versteht Törleß jetzt als durch das Wesen des Menschlichen bedingte Notwendigkeit: […] es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen, alltäglichen Proportionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll aussieht. So als ob eine unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen wäre. Was sich außerhalb vorbereitet und von ferne herannaht, ist wie ein nebliges Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten; was an ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben sich stößt, ist klar und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen Linien. Und zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze, in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den Menschen einzugehen. (106)
Törleß konstatiert, dass das hinter jener Tür Verborgene der Vermittlung bedarf, um vom Menschen ›er-kannt‹ zu werden, sei es durch Sprache, die im Sinne des Maeterlinck-Mottos »die Bilder der Ereignisse« auf ein menschliches Maß reduziert, sei es durch ein menschliches Objekt der Begierde. Wenn in Törleß eine auf Basini gerichtete »mörderische Sinnlichkeit […] erwacht«, die den »triebhaften Wunsch« erzeugt, »aufzustehen und zu Basini hinüberzugehen«, muss der Verwirrte zugleich feststellen, »daß die Grausamkeit und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte« (97), und er fragt sich, »in welcher Weise sich denn seine sinnliche Erregung an [Basini] befriedigen [sollte]« (97). Vordergründig scheint die Antwort ganz einfach zu sein: indem er eine sexuelle Beziehung zu Basini eingeht. Das tut er auch. Und der Anblick des nackten Basini lässt Törleß auch erfahren, »was Schönheit sei«. Allerdings eine menschliche, und keine gött75
liche. Wenn Törleß also fragt, »in welcher Weise […] sich […] seine Erregung an [Basini] befriedigen [solle]«, fragt er zugleich grundsätzlich nach Möglichkeiten, die Sehnsucht nach ›Menschenfernem‹ im Körperlichen zu stillen.78 Diese Überlegungen bestätigen den Vorwandcharakter seines Sexualpartners: Aber man darf auch wirklich nicht glauben, daß Basini in Törleß ein richtiges und – wenn auch noch so flüchtig und verwirrt – wirkliches Begehren erregte. Es war allerdings etwas wie Leidenschaft in Törleß erwacht, aber Liebe war ganz gewiß nur ein zufälliger, beiläufiger Name dafür, und der Mensch Basini nicht mehr als ein stellvertretendes und vorläufiges Ziel dieses Verlangens. Denn wenn sich Törleß auch mit ihm gemein machte, sein Begehren sättigte sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über Basini hinaus. (109)
Selbst die körperliche Dimension der Begegnung mit Basini erweist sich aber als unwesentlich für die Kultivierung der Form von ›Sinnlichkeit‹, um die es hier letztlich zu gehen scheint. Wie es heißt, war das übrige des Begehrens […] schon längst […] dagewesen. Es war die heimliche, ziellose, auf niemanden bezogene, melancholische Sinnlichkeit des Heranreifenden, welche wie die feuchte, schwarze, keimtragende Erde im Frühjahr ist und wie dunkle unterirdische Gewässer, die nur eines zufälligen Anlasses bedürfen, um durch ihre Mauern zu brechen. (109)
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Für Törleß stellt die Erfahrung der – wohlgemerkt erotisch gefärbten – Schönheit in menschlicher Gestalt nicht das erhoffte Verbindungsglied zu einer göttlich zu nennenden dar. Anders etwa Gregor von Nyssa, von dem Alois M. Haas schreibt: »Dass die höchste Form der Gotteserfahrung für Gregor von Nyssa in einem Schauen in Nicht-Schauen besteht, lässt aus der unüberschaubaren Schönheit und Grenzenlosigkeit Gottes ungeahnte Antriebe einer Dynamik frei werden, deren Inhalt das Verlangen und Begehren nach einem Ruhepunkt in der ewigen Schönheit ist: ›Diese Erfahrung scheint mir ein Erfülltsein der Seele von einer Liebe zum wesenhaft Schönen zu sein. Die Seele wird in ihrer Hoffnung ständig von einem Anblick der Schönheit zum nächsten fortgerissen, in ihrem Verlangen immer vom schon Erreichten zum noch Verborgenen entzündet. Wenn also der glühende Liebhaber der Schönheit das, was sich ihm immer zeigt, als ein Bild des Ersehnten empfangen hat, so verlangt er danach, vom Urbild selbst erfüllt zu werden. Und das will die verwegene Forderung, die alle Gipfel des Verlangens ersteigt: an der Schönheit nicht nur in irgendwelchen Spiegeln und Gleichnissen, sondern von Angesicht zu Angesicht teilzuhaben. Die göttliche Stimme erfüllt diese Bitte dadurch, dass sie diese abschlägt, indem sie mit wenigen Worten einen unermesslichen Abgrund zeigt.‹« Gregor von Nyssa: Der Aufstieg des Moses, übersetzt von Manfred Blum, Freiburg i. Br. 1963, 112 (401D). zit. in Haas: Mystik im Kontext, 116.
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Diese »Sinnlichkeit des Heranreifenden« lässt sich noch weiter zurückverfolgen; sie ist mit der Sinnlichkeit verwandt, die Törleß schon in frühen Kindheitstagen erlebte, als er im Walde zurückgelassen wurde. Wie wir erfahren, diente Basini lediglich als Objekt, »an dem [Törleß’] unbestimmt schweigende Träume Gestalt gewannen« (110). Törleß’ Begierde verwandelt sich bald in Ekel: […] die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb als die Erinnerung an ein früheres Begehren, das ihm unsagbar unverständig und widerwärtig vorkam. (110)
In Folge der Entmystifizierung verliert Basini denn auch sein schillerndes Wesen, seine Faszination. Er verkörpert nicht mehr die zweigesichtige Wirklichkeit, wird nicht mehr als Pforte zu einer zweiten Welt erlebt, sondern rückt in die »kalte[…], stumpfe[…] Helle« der alltäglichen Welt. Auch wenn Törleß die sexuelle Beziehung zu Basini noch weiter aufrechterhält, das Maß an Ausschweifung sogar zunimmt, ist sie ihrer metaphysischen Dimension entledigt; mit der Entmystifizierung Basinis tritt sein Vorwandcharakter deutlich zu Tage. So erlebt Törleß nur Erleichterung, als der Skandal um Basini aufgedeckt wird und die Trennung herbeiführt. Basini wird vom Konvikt entfernt; Törleß verlässt es freiwillig, um ins Elternhaus zurück zu kehren. Aber nicht ohne vorher eine Bilanz über seine im wesentlichen Maße durch Basini ausgelösten ›Verwirrungen‹ zu ziehen.
1.3. Törleß’ Schlussrede im Kontext des Musil’schen Oeuvres Törleß’ Rede vor dem versammelten Lehrerkollegium zieht einen vorläufigen Schlussstrich unter seine ›Verwirrungen‹. Aber die dadurch entfachte Diskussion endet hier nicht. Obwohl Musil in der Folgezeit sich neuen Themen zuwendet und auch stilistisch neue Wege einschlägt, bilden die Verwirrungen im Hinblick auf das Gesamtwerk den ersten Teil eines anhaltenden bzw. immer wieder aufgenommenen Diskurses, der einen großen Raum in den später verfassten Reden und Essays sowie im Mann ohne Eigenschaften einnimmt. So gesehen sind Die Verwirrungen, darin speziell Törleß’ Schlussrede, als eine Art erste Bestandsaufnahme zu werten, bei der die großen Musil’schen Themen und Fragestellungen eine vorläufige Formulierung erfahren und ins Feld der weiteren Reflexion entlassen werden. 77
Zu diesen gehört erstens das, was Törleß den Dualismus von ›toten‹ und ›lebendigen‹ Gedanken nennt und die mit diesem verknüpfte, zumindest teilweise dualistische Beziehung zwischen Analogie und Gleichnis, zweitens das Wesen des ›Gleichnisses‹ im Sinne der Ulrich’schen Gleichnistheorie – die gewissermaßen durch einschlägige Erfahrungen des jüngeren Törleß vorbereitet wird –, und drittens die Frage nach Möglichkeiten zur Synthese dessen, was Törleß als die ›zwei Gesichter‹ der Wirklichkeit bezeichnen würde. Dieser Themenkreis soll in diesem abschließenden Abschnitt reflektiert und der innere Bezug der Verwirrungen zu Musils großem Roman aufgezeigt werden; eine auf die Themen dieser Untersuchung zugeschnittene Synopse Musil’scher Grundpositionen soll den Rahmen hierfür schaffen. Insbesondere der Blick auf die Qualität, die Kindheit vor dem Hintergrund von Ulrichs Gleichnistheorie und in Verbindung mit dem Phänomen des sogenannten ›Mondnächtigen‹ erhält, wird zur Auseinandersetzung mit Wesen und Bedeutung der ›Rilke’schen‹ Kindheit überleiten und dabei ein wichtiges Konstituens der bemerkenswerten, vielschichtigen Affinität zwischen Musil und Rilke thematisieren. 1.3.1. »Tote und lebendige Gedanken«: das ›Ratioïde‹ und das ›Nicht-Ratioïde‹; Analogie und Gleichnis Bevor Törleß aus der Obhut der Lehranstalt entlassen wird, fordert man ihn auf, über den Vorfall mit Basini Rechenschaft abzulegen. Der Vorgeladene redet aber, zur Enttäuschung und Verwirrung der Lehrer, an der realen Begebenheit vorbei und nutzt stattdessen die Gelegenheit, um hier ein Fazit über seine eigenen ›Verwirrungen‹ zu ziehen. Zur Sache gefragt, antwortet Törleß: Es gibt gewisse Sachen, die bestimmt sind, gewissermaßen in doppelter Form in unser Leben einzugreifen. Ich fand als solche Personen, Ereignisse, dunkle, verstaubte Winkel, eine hohe, kalte, schweigende, plötzlich lebendig werdende Mauer … . (134)
Törleß stammelt etwas über »imaginäre Zahlen, […]«, der Mathematiklehrer »hüstelt« und bezichtigt den Schüler »einer wahren Manie« für »solche Dinge […], welche gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität unseres Denkens […] zu bedeuten [scheinen]« (135). Worauf Törleß erwidert: »Ja. Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit unserem Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer anderen, innerlichen Gewißheit, die uns gewissermaßen hinüberträgt.« (135) Dies die Erkenntnis, die er durch die Begegnung mit Basini gewonnen habe: 78
»Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an Basini.« (135) Die Lehrer greifen diesen Gedanken gerne auf, ohne zu ahnen, in welch eigenwilligem Sinne sie gemeint ist; sie wollen darin eine metaphysische Aussage herausgehört haben, die sich mit vertrauten religiösen Inhalten in Einklang bringen lässt. Doch hier enttäuscht sie Törleß wieder, das sei es auch nicht, was er meine, und beginnt stattdessen mit einer ersten, längeren, wie er fühlt, »siegesbewußten« Formulierung dessen, was »erst undeutlich und quälend, dann leblos und ohne Kraft in ihm gewesen war« (136). Was folgt, ist die Darlegung eines Musil’schen Kerngedankens, wie er im Mann ohne Eigenschaften ausführlich thematisiert wird. Törleß führt aus: Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. […] Man kann eine geniale Erkenntnis haben, und sie verblüht dennoch, langsam, unter unseren Händen, wie eine Blume. Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen. Das heißt, man erinnert sich ihrer wohl Wort für Wort und der logische Wert des gefundenen Satzes bleibt völlig unangetastet, dennoch aber treibt er haltlos nur auf der Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalben nicht reicher. […] Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgültig wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten. Ein Gedanke, – er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Moment lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß … . Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (136f.)
Törleß’ Ausführungen stellen eine präzis formulierte Kritik des ›Ratioïden‹ dar – des Prinzips der »Eindeutigkeit«, wie Ulrich es ausdrücken würde – und artikulieren dabei eine Apologie des ›Nicht-Ratioïden‹ – auch wenn Törleß dieses Wort nicht in den Mund nimmt – als zweiten geistigen Prinzips, das in jedem ›lebendigen‹ Gedanken mitwalte.79
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Allerdings darf man – sofern man Törleß mit seinem Urheber gleichsetzt – aus solchen Worten keine Apologie des Antirationalismus herleiten. Vgl. Barbara Neymeyrs wiederholten Verweis auf Musils kritische Haltung »der antirationalistischen Position« gegenüber, »die den Verstand als ›zersetzend‹ desavouiert«.
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Die hier erörterten Gedanken lassen sich in Musils Essays sowie im Mann ohne Eigenschaften weiter verfolgen. Was hier im Kern bereits ausformuliert erscheint, erhält begriffliche Präzisierung in dem etwa ein Jahrzehnt später veröffentlichten, zur Ortung des geistigen Standpunkts des Autors wichtigen Aufsatz »Skizze der Erkenntnis des Dichters« (1918). Was Törleß wertend »tote und lebendige Gedanken« nennt, ist in der dort aufgestellten Polarität von ›Ratioïdem‹ und ›Nicht-Ratioïdem‹ wiederzuerkennen, die zunächst die Form einer Polarität von Wissenschaft und Kunst annimmt: »Man versteht das Verständnis des Dichters zur Welt am besten, wenn man von seinem Gegenteil ausgeht: Das ist der Mensch mit dem festen Punkte a, der rationale Mensch auf ratioïdem Gebiet […]« (8, 1026). »Dieses Gebiet umfaßt«, so Musil, alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfaßbare, vor allem also die physische Natur; […] Es ist gekennzeichnet durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander, sodaß sie sich auch in schon früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnlich einfügen […]. Vor allen Dingen aber schon dadurch, daß sich die Tatsachen auf diesem Gebiet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen. […] Man kann sagen, das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung; vom Begriff des Festen als einer fictio cum fundamento in re. (8, 1026f.)
Törleß leidet unter der konstatierten Vorherrschaft dieser ›ratioïden‹ Geisteshaltung, die die ›Wirklichkeit‹ seinem Empfinden nach auf ein zwar stimmiges, aber »totes« logisches Gerüst reduziert: »Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen«, so Törleß.80 Der rein ›ratioïden‹ Erkenntnis
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Barbara Neymeyr: »Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus: Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays« (in: ZfdPh 115: 4 [1996], 576–607, hier 595). Aus Musils Aufsatz aus dem Jahre 1921 mit dem Titel Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in dem er Spengler zitiert: »Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit, das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein sehr verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen und Zerstören, das hier erscheint. Der Verstand, der Begriff tötet, indem er ›erkennt‹. Er macht das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer lebendigen innerlich gefühlten Einheit ein.« (8, 1051) Die geistige Nähe Musils – und Törleß’ – zu Spengler ist hierin evident. Ähnlich Musils eigene Reflexion: »Wir können eine großartige Erkenntnis nicht in uns festhalten, sie welkt dahin,
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fehlt aber nicht nur das Lebendige, die Sinnlichkeit. Sie hält nicht einmal einer nach ›ratioïden‹ Kriterien unternommenen Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts stand, denn, wie Musil konstatiert: Zu unterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert, und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgend einen Ort hat. Aber man hofft, […] das alles noch in Ordnung zu bringen […]. (8, 1027)
Törleß’ Unbehagen bezüglich der imaginären Zahlen ist auf diese Tatsache zurückzuführen, darauf nämlich, dass selbst solche mit den Denkoperationen des ›ratioïden‹ Erkenntnisprinzips scheinbar problemlos erfassbaren Gebiete wie die Mathematik letztlich auf einem unsicheren Fundament fußen. Wendet man das ›ratioïde‹ Prinzip beispielsweise auf den Bereich der Ethik an, so wird seine nur begrenzte Legitimität erst recht evident. Musil äußert sich sehr kritisch zur Tendenz seiner Zeit, das, was er als ›Ethik‹ im eigentlichen Sinne bezeichnet, auf einen Kanon von Sentenzen einer normativen ›Moral‹ zu reduzieren: Auch auf moralischem Gebiet […] werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen, Regeln und Formeln spannt. Der Charakter, das Recht, die Norm, das Gute, der Imperativ […]. (8, 1027)
Am Beispiel der Ethik lokalisiert Musil die Übergänge vom Gebiet des ›Ratioïden‹ zu dem des ›Nicht-Ratioïden‹: Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Weg von der Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr komische Technik der Einschränkung und des Widerrufs […]. ›Du sollst nicht töten‹, […] sucht man die einheitliche rationale Formel dafür, so wird man finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei dessen Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das feste Geflecht. Denn hier hat man längst nicht-ratioïdes Gebiet betreten […]. (8, 1027f.)
Von hier aus kommt Musil zu einer der wichtigsten Unterscheidungen zwischen den nach Törleß »tote[n] und lebendige[n] Gedanken«, die zu
verknöchert und unversehens bleibt uns nichts in Händen, als das armselige, logische Gerüst der Idee.« (Tb 17)
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einer Klärung der Zuständigkeit und Aufgabe von Wissenschaft und Kunst führt, wie Musil sie versteht. Er schreibt: War das ratioïde Gebiet das der Herrschaft der ›Regel mit Ausnahmen‹, so ist das nicht-ratioïde Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel. Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied, aber jedenfalls ist er so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden verlangt. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell. […] [Es ist] das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen, […] das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. Ein Begriff, ein Urteil sind im hohen Grade unabhängig von der Art ihrer Anwendung und von der Person; eine Idee ist in ihrer Bedeutung in hohem Grade von beiden abhängig, sie hat immer eine nur occasionell bestimmte Bedeutung und erlischt, wenn man sie aus ihren Umständen loslöst. (8, 1028)
Demnach ist das Prinzip des ›Nicht-Ratioïden‹ zugleich das Prinzip des Lebendigen, wie es sich im individuellen, dem Lebenszusammenhang anhaftenden, konkreten Fall äußert, der nicht dem für die Formulierung von Gesetzen nötigen Prozess der Abstraktion unterworfen wurde. Musils sehr griffige, in der Skizze der Erkenntnis des Dichters verwendete Formel zur Erfassung der antinomischen Beziehung zwischen dem ›Ratioïden‹ und dem ›Nicht-Ratioïden‹, wonach Ersteres unter der Herrschaft der »Regel mit Ausnahmen«, Letzteres unter »der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel« stehe, bildet die erkenntnistheoretisch-ästhetische Basis für eine weitere, sehr wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen dem Gesetz der Analogie im Sinne induktiver Wissenschaftstheorien und dem Gleichnis im Ulrich’schen Sinne. In seiner Gegenüberstellung des ›ratioïden‹ und des ›nicht-ratioïden‹ Gebiets definiert Musil Ersteres als Geltungsbereich der Begriffe und Urteile, Letzteres als den der ›Idee‹. Für den einen sei das Prinzip der Dauer und der Gesetzmäßigkeit, die sich aus der Überführung stofflichen Lebens in die Abstraktion des Regelfalls ergibt, maßgebend. Auf dem anderen walte hingegen das Prinzip (wenn man dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden kann) der Flüchtigkeit und Willkür, wie das bunte Leben es vorschreibt: »Auf diesem Gebiet ist das Verständnis jedes Urteils, der Sinn jedes Begriffs von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als Äther, von einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechselnden persönlichen Unwillkür« (8, 1028). Entsprechend unterschiedlich ist auch die ›ratioïde‹ und die ›nichtratioïde‹ Weise, an die ›Tatsachen‹ heranzugehen. Auf dem Gebiet des 82
›Nicht-Ratioïden‹ seien die Tatsachen »und darum ihre Beziehungen […] unendlich und unberechenbar« (8, 1028). »Dieses ist das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft«, so Musil. Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist hier von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehnisabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden. […] Psychologie gehört in das ratioïde Gebiet […]. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun. (8, 1029)
An dieser Stelle wird deutlich ausgesprochen: Hier Kunst (Dichtung), dort Wissenschaft, hier mannigfaltige Beziehungen, die sich nicht in die ›Zwangsjacke‹ logischer Gesetze bringen lassen, dort – zumindest der Anspruch auf – möglichst eindeutige Beziehungen. Um mit Ulrich zu sprechen, hier ›Gleichnis‹, dort ›Eindeutigkeit‹. Man könnte auch sagen: Hier Gleichnis, dort Gleichung. In der hier vorgeschlagenen Formel kommt auf anschauliche Weise zum Ausdruck, dass die beiden Gebiete bei aller Polarität einen gemeinsamen Nenner haben.81 In seinem 1911 veröffentlichten Aufsatz Das Unanständige und Kranke in der Kunst kommt Musil auf diesen Aspekt zu sprechen. Kunst heißt etwas darstellen: seine Beziehung zu hundert andern Dingen darstellen; weil es objektiv nicht anders möglich ist, weil man nur so etwas begreifbar und fühlbar machen kann, … . wie ja auch wissenschaftliches Verständnis nur durch Vergleichen und Verknüpfen entsteht, wie menschliches Verstehen überhaupt entsteht. (8, 979)
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Ulrich weist auf die Verwandtschaft des Begrifflichen mit dem Gleichnishaften hin: »Ich will schweigen von den genauen, meß- und definierbaren Eindrükken, aber alle anderen Begriffe, auf die wir unser Leben stützen, sind nichts als erstarren gelassene Gleichnisse.« (2, 574) Er beschreibt den Prozess, bei dem das ursprünglich noch lebendige Gleichnis zum erstarrten Gleichnis, also zum ›Begriff‹ wird, als »eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes« (2, 365) und zeigt, wie das Gleichnis sozusagen zweckentfremdet und in den Dienst des ›Ratioïden‹ gestellt wird: »Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben.« (2, 186)
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Der Unterschied liegt darin, dass der Prozess des »Verknüpfens und Vergleichens« ein jeweils anderes Ziel verfolgt.82 Allerdings sind die beiden hier angepeilten Ziele diametral entgegengesetzt, denn der Wissenschaftler unterwirft seinen Gegenstand dem analytischen Prozess der induktiven Erkenntnisfindung in der Hoffnung, von den Einzelfällen aus Gesetze formulieren zu können, während der Künstler darum bemüht ist, neue Beziehungen freizulegen oder gar herzustellen in einem Prozess der ›Wirklichkeits‹-Erweiterung bzw. -›Eroberung‹, – so Musils Auftrag an die Dichtung.83 Im Aufsatz von 1911 formuliert er es so: Freilich, die Kunst stellt nicht begrifflich, sondern sinnfällig dar, nicht Allgemeines, sondern Einzelfälle, in deren kompliziertem Klang die Allgemeinheiten ungewiß mittönen, und während bei dem gleichen Fall ein Mediziner für den allgemeingültigen Kausalzusammenhang sich interessiert, interessiert sich der Künstler für einen individuellen Gefühlszusammenhang, der Wissenschaftler für ein zusammenfassendes Schema des Wirklichen, der Künstler für die Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem und darum ist Kunst auch nicht Rechtsklugheit, sondern – eine andere. Sie legt die Personen, Regungen, Geschehnisse, die sie bildet, nicht allseitig, sondern einseitig dar. […] Kunst zeigt, wo sie Wert hat, Dinge, die noch wenige gesehen haben. Sie ist erobernd, nicht pazifizierend. (8, 980f.)
Allerdings sollen die hier zitierten Passagen aus Musils essayistischem Werk nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich bei der wiederholt vorgenommenen Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst um die Aufstellung einer krassen Polarität, denn im idealen Fall bewege sich die Kunst, so Musil, in einem Zwischenbereich, in dem sowohl das ›Ratioïde‹ als auch das ›Nicht-Ratioïde‹ zur Geltung komme; sie strebe nach einer Synthese der beiden Pole: »Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit
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Vgl. den Tagebucheintrag: »rat. – nicht rat. / Auf beiden Gebieten gibt es Begriffsbildung u. Nichtbegriffsbildung / Nur kommt dabei etwas andres heraus. / Also 2 Gebiete und 2 Methoden. / Ich kann das nr. ›lebendig‹ betrachten und vergleichend, kausal erklärend .. also rational.« (Tb 658) Musil verlangt allerdings, dass man über den Zweck des »Verknüpfens und Vergleichens« im Klaren ist und die zwei Anwendungsbereiche des analogischen Prinzips nicht miteinander vermengt. Vgl. Musils diesbezügliche Reflexion, die eine Kritik am ›heutigen Geist‹ enthält: »Die Beziehung zw. dem Traum u. dem, was er ausdrückt, ist eine Analogie mit mannigfacher Übereinstimmung. Nimmt man eine Analogie u. gestaltet sie aus, so entstehen Traum und Dichtung. Legt man die Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmungen, so entsteht Genauigkeit u Wissen. Der heutige Geist trennt das nicht, tut weder das eine, noch das andere, sondern etwas Gemischtes; er nimmt eine Analogie, wie sie ist, u. behandelt sie als Wahrheit.« (Tb Register, Anm. 44, 599)
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und Konkretheit«, heißt es aphoristisch im fiktiven Dialog des Dichters mit sich selbst von 1913 mit dem Titel Über Robert Musils Bücher (8, 998). Musil hält die ausschließliche Herrschaft der Ratio bzw. des Gefühls für das eigentlich Schädliche und verlangt, – um seine Kritik an den Romantikern der ›älteren Schule‹ zu zitieren84 –, mehr als ein ›Schwelgen in Gefühlen‹: »[…] das Gefühl an und für sich ist an Qualitäten arm […]; was der Dichter an großen Gefühlen schafft, ist ein Ineinandergreifen von Gefühl und Verstand« (8, 1000), konstatiert Musil, oder, wie er sich ausdrückt: »Hält man sich hierin klar, so verfällt man nicht der Legende von den angeblich großen Gefühlen im Leben, welchen Quell der Erzähler nur zu finden und seine Töpfchen darunter zu stellen hat« (8, 1000). Die Kunst, wie Musil sie im idealen Falle versteht, bildet keinen Gegenpol zur Wissenschaft; für Musil tut dies vielmehr die Metaphysik. Im Aufsatz von 1912 mit dem Titel Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik steckt er die Zuständigkeitsbereiche der Wissenschaft und der Metaphysik folgendermaßen ab: […] die Wissenschaft hat nur für das Wiederkehrende im Wechsel, nicht aber für das Einmalige, die vereinzelten Ereignisse Organ und Interesse, und schon daß ein Stein von einem bestimmten Dach fällt, bleibt für sie eine bloße Tatsache, ein Zufall, dessen Struktur sie nicht weiter untersuchen kann, […] (8, 990)85
Laut ihres Selbstverständnisses und angesichts des ihr zur Verfügung stehenden Instrumentariums hat also die Wissenschaft im Musil’schen Sinne sich nicht mit dem Einzelfall zu befassen, sondern mit dem Musterfall, oder, wie es an anderer Stelle heißt, mit dem Durchschnittsfall.86 Meta-
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In einem Tagebucheintrag schreibt Musil: »Die Neuromantik unserer Zeit sieht die Gefahr des einseitig berücksichtigten Gefühlslebens ein; sie weiß daß die tatenlose Gefühlsschwelgerei die Schmarotzerpflanze war, die der älteren Romantik die Lebenskraft aussaugte.« (Tb 163). Dabei sei »das Ideal der Romantik«, ganz im Sinne Musils selbst, »die richtige Mengung von Bewußtem und Unbewußtem«. (Tb 138f.) Vgl. den Tagebucheintrag über John Stuart Mills: »A System of Logic, Ratiocinative and Inductive« (1848): »über Zufall: Mill (Logik Buch III, Kap 17): Alles geschieht nach Gesetzen. Zufällig heißen Ereignisse, deren Umstände wir nicht völlig kennen…« (Tb 464). Und zu Husserl: »[…] Wahrscheinlichkeiten als Grundmaße aller Richtigkeit […] es wäre denkbar, daß eine gewisse Höhe der Wahrscheinlichkeit das ist, was wir Gewißheit nennen[…]« (Tb 119). Hierzu Jörg Kühne: Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Tübingen 1968: »[Für das wissenschaftlich-systematische Denken] gilt der einzelne Fall nur als Teil einer
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physische Systeme wiederum, die versuchen, auf den Prämissen und der Methodik der Wissenschaften aufzubauen, verfehlen damit unweigerlich ihr Ziel, so Musil: […] sowie man die Grenzen überschreitet, die die Wissenschaft sich selbst gezogen hat, wird man wenig Erkenntnis erzielen und alle Metaphysiken sind schlecht, weil sie ihren Verstand falsch verwenden. Sie setzten seinen Ehrgeiz an die ihm widernatürliche Aufgabe, das Jenseits als wirklich zu erweisen, statt es […] überhaupt erst ›möglich‹ zu machen. (8, 991)
Hierin wurzelt auch Musils Kritik an der Mystik seiner Zeit, wie er sie etwa in Rathenaus Abhandlung Zur Mechanik des Geistes verkörpert sieht; diese Schrift liefert ihm das Stichwort für seinen 1914 veröffentlichten Aufsatz Anmerkung zu einer Metapsychik. Nach einer Beschreibung des mystischen Zustands, wie ihn Rathenau darstellt, – und zwar einer, die weitgehend mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt –, problematisiert Musil Rathenaus Intention, »aus diesem Zustand heraus eine Philosophie […] schreiben [zu wollen]« (8, 1018). Trotz lobender Worte über »das Wagnis […] von mehr als gewöhnlichem Verdienst« (8, 1019) fällt Musils Urteil über dieses Unterfangen letztendlich sehr negativ aus. Er schreibt: Bei der Ausführung fehlte jedoch – das Erlebnis und an Stelle der Gefühlsmystik trat eine rationale. Diese Verschiebung ist absolut typisch für alle systematischen Versuche auf diesem Gebiet. Von der seelischen Berührung bleibt dann nur das anstrengende Festhalten einiger in intimsten Augenblicken gebildeter Begriffe, zwischen die alles übrige mit einem Geist interpoliert wird, der naturgemäß außer trance ist und sich von dem wissenschaftlichen Verstand eigentlich nur dadurch unterscheidet, daß er auf dessen Tugenden der Methodik und
kollektiven Identität, die den Namen ›Durchschnitt‹ bzw. ›Wahrscheinlichkeit‹ trägt; dort gilt der einzelne Fall nur als erstarrtes Gleichnis seiner Möglichkeiten. Und so wenig wie der ›Durchschnittsmensch‹ etwas Wirkliches sein kann, da es dieses ›Gespenst‹ gewissermaßen nur als ›Kollektivum tantium‹ gibt, so hat dort ›der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins‹ (I, 251) keine Wirklichkeit, da er eine Idee ist.« (Kühne, Gleichnis, 59f.) Kühne zieht sodann eine einleuchtende Parallele zu den imaginären Zahlen, die Törleß’ Unbehagen sehr verständlich macht: »Das Gespenstische an diesem Phänomen ist nun, daß es einerseits gar nicht existiert, andererseits sich aber mit ihm rechnen läßt, ähnlich wie mit den imaginären Zahlen […] Wie dort den Zögling Törleß, so beschäftigt es hier Ulrich, daß sich als Lösung solcher Aufgaben mit imaginären Größen stets die sogenannte Wirklichkeit ergibt, gerade auch die historische Wirklichkeit und das historische Geschehen.« (Kühne: Gleichnis, 60) Hieran sieht man erneut, wie eng und in welcher Komplexität die verschiedenen Themenbereiche im Werk Musils miteinander verflochten sind.
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Genauigkeit verzichtet. […] Wird überdies ein schwieriger innerer Zustand mit Gewalt festgehalten, wie es hier zur Zentrierung der Einfälle immer wieder nötig ist, so entsteht hinter der Aufmerksamkeitsspannung ein gewisses Vakuum der Gefühle und der seelische Gehalt verläuft sich. […] Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst. (8, 1019)
Diese Kritik an Rathenaus Versuch, eine Art »Mechanik des Geistes« zu entwerfen, enthält in essayistischer Form im Wesentlichen dieselbe Botschaft, die das (Maeterlinck’sche) Motto zum ersten Roman vermittelt. Das Erlebnis lässt sich mit den Denkstrukturen des Wissenschaftlers nicht erfassen. Eine »Zentrierung der Einfälle«, die zu ihrer Systematisierung benötigt wird, lässt ein »Vakuum der Gefühle« entstehen; »der seelische Gehalt verläuft sich«. Im letzten Satz der oben zitierten Passage ist aber ein utopisches Moment enthalten, denn es heißt: »Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht.« (Hervorhebung der Vf.) Im Aufsatz Der mathematische Mensch von 1913 spricht Musil hoffnungsvoll von »geistige[n] Energien«, die »noch nie da waren«, und stellt die ersehnte Synthese zwischen Ratio und Gefühl bzw. zwischen Ratio und Mystik in Aussicht: Es ist töricht, zu behaupten, daß das alles um ein bloßes Wissen gehe, denn das Ziel ist längst schon das Denken. Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit und Neuheit beschränkt es sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist. (8, 1007f.)
Wer diese ›Geistwerdung‹ herbeiführen soll, sagt Musil auch unmissverständlich: »Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter.« (8, 1008)87 Für denjenigen, der den Bereich des ›Wissens‹ transzendieren will, um den 87
Vgl. hierzu Neymeyr: »Skeptischer Fortschrittsoptimismus«, 593ff.. Neymeyr spricht von der »utopische[n] Totalität des Senti-mentalen« und der Rolle, die dem Dichter bei der Realisierung einer solchen Totalität zukommt. Musils diesbezügliche Gedanken referierend schreibt sie: »Der Geist erhält insofern einen qualitativen Primat vor dem Verstand, als Musil ihn auf eine Transzendierung purer Rationalität zurückführt, die dann erfolgt, wenn der Verstand ›das Gefühl erfaßt‹ (1007). Der progressive Charakter der Kunst manifestiert sich nicht allein in Musils modernem Erzählkonzept, demzufolge das Erzählen (als ein keineswegs nur reaktiver und reproduktiver Vorgang) sich ›an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranzuschleichen‹ versucht (1324), sondern kommt auch in Musils These zum Ausdruck, es sei ›Sache der Dichter‹, den Schritt vom
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Bereich des ›Denkens‹ im Musil’schen Sinne zu betreten, ist »die Realität, die man schildert, stets nur ein Vorwand«. So Robert Musil über Robert Musil. Sein Verständnis der dichterischen Praxis formuliert Musils alter ego hier folgendermaßen: Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht, die allgemein und in Begriffen nicht, sondern nur im Flimmern des Einzelfalls – vielleicht: die nicht mit dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen, sondern mit weniger konsolidierten, aber darüber hinausragenden Teilen zu erfassen sind. Ich behaupte, daß Musil solche erfaßt – […]. (8, 997)
Die hier fallenden Schlüsselbegriffe lauten »Gefühlserkenntnis« und »Denkerschütterung«. In diesen beiden – in Bezug zueinander wohlgemerkt asymmetrischen – Wortzusammensetzungen drückt Musil die Forderung nach einer Synthese von Ratio und Gefühl aus; diese – keineswegs neue, keineswegs nur von Musil’scher Seite erhobene – Forderung bildet die Basis für sein Dichtungsverständnis. Hier, wie vielerorts, wo solche und ähnliche Forderungen laut werden, wird der Künstler dazu bestimmt, die gewünschte Synthese herbeizuführen. Wie eine solche Synthese aus Musil’scher Perspektive letztlich aussehen mag, ist im Kontext dieser Arbeit das Interessante. Die Musil’sche Lösung fußt auf der polaren Beziehung zwischen Analogie und Gleichnis. Im Aufsatz von 1913 mit dem aufschlussreichen Titel Analyse und Synthese geht Musil dem Zusammenhang zwischen Analogie und Gleichnis, oder, um meine Formel zu verwenden, zwischen Gleichung und Gleichnis nach. Er schreibt: Nachdenkende Menschen sind immer analytisch. Dichter sind analytisch. Denn jedes Gleichnis ist eine ungewollte Analyse. Und man versteht eine Erscheinung, indem man erkennt, wie sie entsteht oder wie sie zusammengesetzt ist, verwandt, verbindbar mit andren ist. Man kann natürlich ebenso gut sagen, jedes Gleichnis ist eine Synthese, jedes Verstehen ist eine. Natürlich; es sind zwei Hälften der gleichen Handlung. (8, 1008)
Im Aufsatz Skizze zur Erkenntnis des Dichters stellt Musil eine klare Polarität auf: hier Analogie – dies ein wichtiges methodisches Operativ für die induktiv-deduktiven Naturwissenschaften –, dort Gleichnis – ein essenti-
Verstand zum Geist zu vollziehen (1007f.).« Neymeyr: »Skeptischer Fortschrittsoptimismus«, 595.
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elles dichterisches ›Operativ‹. In dieser zentralen Schrift hatte es in Bezug auf das ›nicht-ratioïde‹ Gebiet geheißen, »die Tatsachen dieses Gebiets und darum ihre Beziehungen« seien »unendlich und unberechenbar« (8, 1028). Im ›Nicht-Ratioïden‹ sei »von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende« (8, 1029), – weswegen es als »das Heimatgebiet des Dichters« anzusehen sei. Dessen ›Widerpart‹ hingegen sei »zufrieden, wenn er zu seiner Berechnung so viele Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet« (8, 1029). Im Sinne der ›exakten‹ Wissenschaften gilt es, möglichst zwingende Gleichungen aufzustellen: ohne »hartnäckigen Rest«, wie Törleß sich ausdrückt (65). Das analogische Prinzip, dichterisch umgesetzt, soll die entgegengesetzte Funktion erfüllen: neue Gleichungen schaffen. Wie man bereits lesen konnte, sei hier die Aufgabe, »immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken«. Ferner: »Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden« (8, 1029). Um es auf eine verkürzte Formel zu bringen, dient das analogische Prinzip zum einen dem Erfassen, zum anderen dem ›Erfinden‹ von Zusammenhängen. 1.3.2. Ulrich über einige ›Verhaltensweisen‹ des Gleichnisses88: Kindheit, ›das Mondnächtige‹ Wenden wir uns, diese Erörterungen vor Augen haltend, Ulrichs Reflexionen über das Gleichnis im Mann ohne Eigenschaften zu. In einer Schlüsselpassage sinniert Ulrich über die zwei Dimensionen des Gleichnisses: zum einen »die feste Welt« – so Musil in seiner Rilke-Rede –, zum anderen die Welt des »Gefühls«. Wie Ulrich schreibt, war ihm »[d]ie Beziehung«, die
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Auf Grund der Notwendigkeit, mich an die für die spezifische Themenstellung dieser Arbeit besonders relevanten Aspekte zu halten, wird hier zwischen Ulrichs romanimmanenten Ausführungen über das Gleichnis und den essayistischen bzw. aphoristischen Äußerungen seines Autors nicht unterschieden. Ich verweise aber auf Jörg Kühnes interessante und romanpoetologisch wichtige Differenzierung einer dreifachen Gestalt bzw. Funktion des Gleichnisses, die er zusammenfassend wie folgt erörtert: »In der dreifachen Gegebenheit des Gleichnisses als Stilphänomen, als immanenter Begriff und als Reflexion des immanenten auf den transzendentalen Bereich des Romans darf man eine Wiederholung der dreifachen Identität des ästhetischen Subjekts sehen, die sich zusammensetzt aus der Figur, dem ›Erzähler‹ und dem Autor.« (Kühne: Gleichnis, 35)
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zwischen einem Traum und dem, was er ausdrückt, besteht, […] bekannt, denn es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfteren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlegt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. (2, 581f.)
In Ulrichs Ausführungen entspricht der logischen Komponente des Gleichnisses die ›Wahrheit‹: will heißen, das auf ›ratioïde‹ Weise Erschließbare, eindeutig Sagbare. Reduziert man den bildhaften Ausdruck auf das »genau Übereinstimmende«, also auf das, was sich in eine mathematisch-logische Gleichung bringen lässt, so zerstört man aber den zweiten – genauso wichtigen, wenn nicht gar wichtigeren – Bestandteil des Gleichnisses, nämlich das Gefühl. Allein genommen weise diese zweite Komponente aber eine ähnliche Begrenztheit auf, denn, wie es heißt, steht zwischen »Traum und Kunst […] und dem wirklichen, vollen Leben […] eine Glaswand«: An ›das wirkliche‹, volle Leben kommen auch Kunst und Traum nicht ganz heran. Das Gleichnis selbst, sofern es noch keinem Spaltungsvorgang unterworfen wurde, stellt aber eine Synthese dar. Ulrich unterhält die Vorstellung eines »ursprünglichen Lebenszustand[s]« des Gleichnisses, darin idealiterweise »eine Wahrheit und eine Unwahrheit […] miteinander verbunden« seien, und zwar »für das Gefühl unlöslich«. Das will heißen: In seinem »ursprünglichen Zustand« fungiert das Gleichnis als Paradigma für die ersehnte Einheit von ›Ratioïdem‹ und ›Nicht Ratioïdem‹. Erst in Folge der Zerlegung des Gleichnisses durch den Menschen »in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit« werde diese ›natürliche‹ Einheit aufgehoben89 – zumindest aus der Perspektive des analytisch denkenden Menschen, der sie im Akt des Denkens gemäß der Natur dieser Tätigkeit spaltet. Es geht
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Vgl. Ulrichs Äußerung: »Bedenke bloß, daß jedes Gleichnis für den Verstand zweideutig, aber für das Gefühl eindeutig ist. Wem die Welt bloß ein Gleichnis ist, der könnte also wohl, was nach ihren Maßen zwei ist, nach den seinen als eins erleben.« (4, 1160)
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Ulrich aber nicht darum, den hier beschriebenen analytischen Prozess rückgängig zu machen. Die Zukunftsgerichtetheit von Ulrichs Überlegungen kommt in der nachfolgenden Vision zum Ausdruck: Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt! Ulrich hatte das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. (2, 582)
Ulrichs Reflexionen erhellen schlagartig die Dynamik des Musil’schen Gleichnisses. Seinen Ausführungen zufolge kristallisieren sich nämlich drei Stufen heraus, auf denen das Gleichnis eine jeweils andere Gestalt annimmt. In seinen Reflexionen ist von einem »ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses« die Rede, worin die Trennung zwischen ›Ratioïdem‹ und ›Nicht-Ratioïdem‹ noch nicht vollzogen wurde. Auf einer zweiten Stufe erfolgt die von Ulrich beklagte Zerlegung des »ursprünglichen Lebenszustand[s] des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit«. Auf der dritten Stufe soll sich die von Ulrich anvisierte ›dritte Möglichkeit‹90 auftun: Auf dieser Stufe müsse es möglich werden, dass »eine Wahrheit und eine Unwahrheit« – wieder! – »miteinander verbunden« werden, jedoch auf der Grundlage einer vorausgegangenen Zerlegung des Gleichnisses in seine beiden Bestandteile. Ulrich sieht den »ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses« (unter anderem) in der Kindheit verkörpert. Im Mann ohne Eigenschaften wird Kindheit nämlich – teils explizit, teils implizit – zur Sphäre des noch nicht ›zerlegten‹ Gleichnisses. An einer Stelle, wo Agathe »an eine wunderliche Krankheit erinnert [wird], der sie als Kind verfallen war« (3, 726), und den damit zusammenhängenden Erinnerungen nachgeht, heißt es: Freilich wußte sie von allen diesen Erinnerungen nicht, ob sie von der Wirklichkeit herrührten oder eine Erdichtung des Fiebers seien. ›Wahrscheinlich wird daran bloß merkwürdig sein,‹ – dachte sie unmutig – ›daß sich diese Bilder in mir so zwischen Wahrheit und Einbildung erhalten konnten, ohne daß ich daran etwas Ungewöhnliches gefunden habe!‹ (3, 726)
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Vgl. Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Werk Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 1975, 151.
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Hier zeigt sich die Kindheit als Sphäre, in der die Bilder den Prozess der Zerlegung in »die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit« noch nicht erfahren haben. Hier können ›Wahrheit‹ und ›Einbildung‹ widerspruchslos nebeneinander bestehen.91 Die ›Scheidelinie‹ zwischen dem Gebiet des ›Ratioïden‹ und des ›Nicht-Ratioïden‹, der Törleß im späteren Alter so qualvoll bewusst wird, tritt hier gar nicht erst in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund wird eine Schlüsselpassage im Mann ohne Eigenschaften in ihrer ganzen Tragweite verständlich. Es handelt sich um die Stelle, an der Ulrich sich an seine Kindheit erinnert und die Qualität seiner damaligen Erlebnisweise zu charakterisieren sucht: ›Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden.‹ (3, 902)
In der von Ulrich beschworenen Welt unterhält das Subjekt eine in hohem Maße empathische Beziehung zu den Dingen. Wenn das Subjekt auf etwas ›zukriecht‹, kommt das Ding, wie in Erwiderung des vom Subjekt ausgehenden Impulses, ihm entgegen. In Ulrichs Erinnerung erhalten die Dinge denn auch einen menschlichen Charakter, werden doch kindliche Affekte auf sie übertragen, die sie ›beseelt‹ erscheinen lassen: Sie ›kochen‹ genauso wie das Kind selbst, wenn etwas geschieht, das die kindliche Seele bewegt. Im Falle Ulrichs resultiert das Gefühl, sich ›noch nicht selbst besessen‹ zu haben, aus der fehlenden Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt, die eine Ausbildung »persönliche[r] Zustände« voraussetzt. Mit Blick auf Ulrichs Gleichnistheorie kann man zudem konstatieren: Erst klare SubjektObjekt-Verhältnisse ermöglichen eine ›Zerlegung‹ des Gleichnisses. Hier wird deutlich, wie stark Ulrichs Gleichnistheorie sich mit entwicklungspsychologischen Vorstellungen verknüpft, ohne dass es zu mehr als einer schematischen Anwendung zu dichterischen Zwecken kommt.92
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Vgl. Albertsen: Ratio und Mystik, 46ff. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Ulrichs Reflexionen hier lediglich wiedergegeben bzw. nachvollzogen werden; darin spiegelt sich keine wissenschaftlich ernst zu nehmende entwicklungspsychologische Theorie. Es würde
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Im Sinne der Ulrich’schen Entwicklungspsychologie bewirkt die im Laufe der Zeit erworbene Fähigkeit zur Subjekt-Objekt-Differenzierung paradoxerweise eine Selbstentfremdung seitens des Subjekts. Denn weil das Kind sich selbst noch nicht ›besitzt‹, erfährt es auch (noch) nicht die Art von ›Selbstentfremdung‹, die beim Erwachsenen in Folge der Ausbildung seines ›Ich-Seins‹ eintritt. Gerade durch den Erwerb der Fähigkeit zur ›Selbst-Reflexion‹ erscheint dem Erwachsenen nicht nur die Umwelt als Objekt, sondern er kommt sich selbst – ein Stück weit – objekthaft vor, oder, wie Ulrich es ausdrückt: ›[In der Kindheit waren] unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebensogut sagen könnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute, wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst dich immer von außen sehn wie ein Ding. […] Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können ›Ich bin‹, falls uns das Spaß macht. Du siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: ›ich sehe einen Wagen‹. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch bist du selbst ganz da.« (3, 902)
Mit der Ausbildung der Reflexionsfähigkeit geht auf jeden Fall der Verlust des anfangs erfahrenen Einheitsgefühls einher, ob dies die Beziehung zwischen Ich und Welt oder die des Selbst ›mit sich selbst‹ betrifft. Wie es heißt: Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern es ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald du es erreicht hast eine ›Persönlichkeit‹ zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat das Gefühl, irgend etwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch nicht behaupten, daß ein Kind anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine entscheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber
den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man Musils Verhältnis zu Freud hier vertiefen.
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geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe.‹ (3, 902f.)
Was Ulrich beklagt, ist der Verlust des stark vom ›nicht-ratioïden‹ Prinzip determinierten Bewusstseins, das in den hier zitierten Überlegungen mit dem kindlichen quasi gleichgesetzt wird, und die dementsprechende Vorherrschaft des vom ›ratioïden‹ Prinzip determinierten erwachsenen Bewusstseins, das aus dem Kind eine ›Persönlichkeit‹ macht, oder, um mit Agathe zu sprechen, einen »Mensch[en] mit Eigenschaften« (4, 1280). So wird der Mensch zu einer Art Fiktion im negativen Sinne: zu dem, was Kühne in Anlehnung an Ulrich den »prototypische[n] ›Seinesgleichen‹Mensch[en] nennt als einen, »der nie sich selbst gleicht, sondern immer nur ›seinesgleichen‹ gleicht, das heißt dem Durchschnitt, in dem er gewissermaßen eine halb objektive Identität hat […]«.93 In ähnlichem Sinne sinniert Ulrich: Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftlichen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene. (2, 573)
Indem man sich ›festlegt‹, tritt man aus dem kindlichen ›Schwebezustand‹ heraus, einem Zustand, den der Ich-Erzähler in Musils Erzählung Die Amsel auf sehr anschauliche Weise beschreibt: Denn siehst du, daß unser Kopf haltlos ist oder in nichts ragt, daran sind wir gewöhnt, denn wir haben unter den Füßen etwas Festes; aber Kindheit, das heißt, an beiden Enden nicht ganz gesichert sein und statt der Greifzangen von später noch die weichen Flanellhände haben und vor einem Buch sitzen, als ob man auf einem kleinen Blatt über Abstürzen durch den Raum segelt. Ich sage dir, ich reichte wirklich nicht mehr unter dem Tisch zur Erde.« (7, 561)
Auch die Erzählung Das verzauberte Haus beschwört das Kind als etwas ganz Offenes im positiven Sinne einer noch nicht ›festgelegten Persönlichkeit‹: Kinder haben noch keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken. (6, 147)
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Kühne: Gleichnis, 60.
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Das Erwachsenwerden führt also dazu, so der Tenor dieser Texte, dass der Mensch sich ›fixiert‹. Die Dinge der Erscheinungswelt, die Ulrich nur für »Gleichnisse«, also lediglich für mögliche Manifestationen einer vielgestaltigen Wirklichkeit hält, erstarren dementsprechend zu fixierten Objekten. Somit steht das Erwachsenendasein im Zeichen des ›Seinesgleichen geschieht‹, die Kindheit in positiver Abhebung hiervon im Zeichen des ›Möglichkeitssinnes‹. Man könnte aber auch sagen: des Gleichnisses, manifestiert sich der ›Möglichkeitssinn‹ doch – wie ein bekanntes bon mot von Ulrich bezeugt –, vornehmlich im Gleichnis: Oft kam Ulrich alles, was Agathe und er unternahmen, oder was sie sahen und erlebten, nur wie ein Gleichnis vor. Dieser Baum und jenes Lächeln sind Wirklichkeit, weil sie die sehr bestimmte Eigenschaft haben, nicht bloß Illusion zu sein; aber gibt es nicht viele Wirklichkeiten? […] Jede Ordnung ist irgendwie absurd und wachsfigurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding ist ein erstarrter Einzelfall seiner Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel, sondern es ist eine bewegte, elastische Unbestimmtheit, die sich zu allem fähig fühlt. (5, 1508f.)
Dem Erleben jeder ›zu ernst genommenen‹ Ordnung als »irgendwie absurd und wachsfigurenhaft« entspricht Ulrichs Gefühl, alles, was einem als Erwachsenem übrigbleibe, sei ein »gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißtheit«. In einer solchen ›Ordnung‹ manifestiert sich die »Grundverhaltensweise der Eindeutigkeit«, die »das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden« trennt, aber mit verheerenden Folgen, denn, wie Ulrich im Zusammenhang der Gleichnisdiskussion bemerkt: Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt […] (2, 593f.)
Dieser Verhaltensweise der Eindeutigkeit, die in einseitiger Ausprägung zu begrifflicher Starre führt, steht die Verhaltensweise des Gleichnisses gegenüber, will heißen: »die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herrscht, […] die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der 95
Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht« (2, 593), so Ulrich.94 Ich hatte festgestellt, dass für Ulrich die Kindheit eine solche Sphäre darstellt, eben eine Sphäre, in der die ›Verhaltensweise des Gleichnisses‹ vornehmlich walte. Eine zweite, im Zeichen des Gleichnisses stehende Sphäre stellt für Ulrich ›das Mondnächtige‹ dar.95 Welche Affinität ›das Mondnächtige‹ mit der Kindheit hat, zeigen Ulrichs diesbezügliche Reflexionen. In einem Gespräch mit Agathe über Mondnächte liefert Ulrich zunächst eine lapidare Definition des Gleichnisses und beschreibt in diesem Kontext die Art und Weise, wie die ›Wirklichkeit‹ sich im Gleichnis, – will heißen im ›intakten‹, nicht im ›zerlegten‹ Gleichnis –, gebärdet: ›[…] was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen ist!‹ (4, 1084)
Der Erzähler stellt dann die Affinität dieser ›Wirklichkeit‹ mit der »abenteuerlich veränderten in Mondnächten« her. Man müsse sich das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der leeren Geschäftigkeit des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die
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Eine solche Polarisierung erscheint problematisch zum Beispiel vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik an der Metapher: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgegrenzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (in: Friedrich Nietzsche: Werke in 3 Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta, München 1956, Bd. III, 314). Droht den Gleichnissen nicht auch tendenziell dieses Schicksal der Eingewöhnung? Vgl. in diesem Kontext etwa solche romantischen Dichtungen wie die Eichendorffs.
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unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. […] Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. […] das Ich behält in diesen Nächten nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erinnerung; das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein. (4, 1084f.)
Diese Schilderung der Erfahrungen einer Mondnacht verbindet die prägenden Elemente des Gleichnishaften und der Kindheit, wie Ulrich sie darstellte. Es herrscht hier das »nicht Stimmende«; nicht der »Eigensinn« der Worte ist hier wirksam, sondern deren »Nachbarsinn« und damit das utopische Potential der Sprache. Die ›ratioïd‹ determinierte Sprache der ›Eindeutigkeit‹ hat hier keine Gültigkeit, denn an der »Brust der Nacht« ist »kein Wort falsch und keines wahr«. Die »Natur des Unwiederholbaren«, die »jeder Vorgang in Mondnächten« besitze, hatte der Essayist Musil als wesentliches Attribut der auf ›nicht-ratioïde‹ Weise erfahrenen Wirklichkeit genannt. Der Einheit stiftende Charakter der Mondnacht wird durch die in der oben zitierten Passage verwendeten Bilder explizit: »Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme […]«. Will heißen: Sie hebt alle Grenzen auf und setzt somit das ›ratioïde‹ Denken außer Kraft, das sich auf Differenzierung, auf Analyse ausrichtet. Die Affinität zwischen dem ›Mondnächtigen‹ und Ulrichs Vision der Kindheit basiert nicht zuletzt auf der beiden Sphären gemeinsamen Tendenz zur Grenzenlosigkeit. Ulrich selbst betont die Affinität dieser beiden Sphären, wenn er sagt, er sei als Kind »so weich wie Luft in einer Mondnacht […]« (2, 575) gewesen. Wie in Ulrichs Vision der Kindheit waltet in der Mondnacht eine ausgeprägt empathische Beziehung zwischen Kind und Welt, die eine starre Polarität von Subjekt hier und Objekt dort gar nicht erst aufkommen lässt. So wie in Ulrichs Beschreibung des Kindesdaseins gehen im ›Mondnächtigen‹ Mensch und Ding aufeinander zu, ›bestrahlen‹ sich gegenseitig: »Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen.« Der Mensch »behält […] nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst«, sondern es entsteht stattdessen »eine grenzenlose Selbstlosigkeit«.96 Das besondere Verhältnis des Kindes
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Vgl. in diesem Zusammenhang den von Musil zitierten Satz Stifters, den er in William Sterns 1928 verfaßter Psychologie der frühen Kindheit (Leipzig 51929) findet: »Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß
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zu seinen Spielsachen, von dem Ulrich wiederholt spricht, kann in diesen Kontext gestellt werden und ist vor diesem Hintergrund als eine Grenzen auflösende Teilnahme am Wesen des stummen Gegenübers zu verstehen. Einmal spricht Ulrich von der großen Liebe zu einer Reihe von papiernen Zirkustieren, die er als Kind aus einem Zirkusplakat ausschnitt, und bezeichnet die Beziehung zu ihnen als »ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe« (3, 689).97 Das Wesentliche an der Kindheit und am ›Mondnächtigen‹ scheint darin zu bestehen, dass der Mensch in diesen ›Sphären‹ die Erfahrung der Grenzenlosigkeit macht. Ulrichs Charakterisierung des ›Mondnächtigen‹ mündet in die verheißungsvolle Vision einer allumfassenden ›Erotisierung‹ der Welt98: […] diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen werde, wie es noch nie dagewesen sei, ja wie es sich die verarmte Vernunft des Tages nicht einmal vorstellen könne. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird. (4, 1085)
Es gibt deutliche Anzeichen für die mystische Qualität dieses Erlebens. Die »verarmte Vernunft des Tages« ist hier ausgeschaltet. Um mit Ulrich zu reden: »nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper«, will heißen, auch die Sprache, deren Organ der Mund ist, kommt hier nicht zum Einsatz, sondern der Körper, der hier die Form eines einzigen, allumfassenden, dabei aber auch überindividuellen Sinnesorgans erhält. Der mystische Weg – das wusste auch Törleß – ist der sinnliche. In diesem Zusammenhang gewinnt die Art von Sinnlichkeit, die Törleß erlebt und mit der ›fremden
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es Wälder gewesen sind, die außerhalb von mir waren.« (Zitiert in: Albertsen: Ratio und Mystik, 159.) Vgl. Rilkes Begriff des ›Weltinnenraums‹. Vgl. Clarissas Beschreibung einer ähnlichen Erfahrung, die allerdings wahnhaften Charakter erhält: »Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden.« (2, 659) Wobei die Welt bzw. Nacht, die in nicht-sexuellem Sinne erotisiert wird, in der Bildersprache des Textes immer wieder mütterliche Elemente erhält.
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Klugheit‹ der Männchen im Traum kontrastiert, an Bedeutung. Eine den ganzen Körper erfassende Sinnlichkeit korrespondiert mit der kosmische Dimensionen erhaltenden Erregung des davon gänzlich erfassten Körpers, – einer Erregung, die den Mund ›außer Kraft‹ setzt. Diese Vision enthält denn auch verschiedene Vereinigungsmomente. Ein erstes besteht in der Begegnung zwischen Himmel und Erde, die eine ›schwingende‹ Erregung erzeugt. Die erotische Ausdrucksweise suggeriert ein Streben nach Vereinigung. Der Körper desjenigen, der ›eingespannt‹ ist in die ›Erregung, die zwischen diesen zwei ›Gestirnen‹ ›schwingt‹, ›schwärmt‹, weil er von diesen nach Vereinigung strebenden Schwingungen erfasst wird. Auch die Begegnung mit den ›Gefährten‹ steht im Zeichen der Vereinigung, ist doch das Flüstern, mittels dessen man mit dem Gegenüber kommuniziert, »voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt«. Der Einzelne entledigt sich seiner persönlichen, will heißen, der ihn von den anderen unterscheidenden und somit trennenden ›Sinnlichkeit‹, so dass alle dieselbe ›Flüstersprache‹ sprechen, die vereinheitlichende Flüstersprache, die Sinnessprache des »in die Empfindung Dringenden überhaupt«. Dieser Vorgang bereitet das dritte und letzte Vereinigungsmoment vor: die gegenseitige Berührung, die Umarmung von Ich und Welt, denn jene Sinnlichkeit ist nichts anderes als »die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird«. In der erotischen Vorstellung, der Mensch berühre mit seinen Sinnen die Welt, wird der in die Sphäre des ›Mondnächtigen‹ getretene Mensch zum Liebespartner der Welt. Ich und Welt bilden damit eine ähnliche Konstellation wie zuvor Himmel und Erde und werden von einer ähnlichen Erregung, von einem ähnlichen Streben nach Vereinigung ergriffen. Die Sinnlichkeit, die den Weg zu einer solchen zumindest potentiellen Vereinigung bahnt, erfährt der Mensch zuerst – das sagt uns Törleß – in der Kindheit, und, nachdem ihm die Fähigkeit zum Erleben einer solchen Sinnlichkeit sonst abhanden gekommen ist, vielleicht noch in Mondnächten.99 Das ist die Art von Sinnlichkeit, die Törleß meinte erlebt, verloren und zumindest ansatzweise wiedergewonnen zu haben, und die er der im Zeichen des Logos stehenden ›fremden Klugheit‹ der Männchen im Traum gegenüberstellte.100 Ulrichs
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Auf die mythologische Dimension solcher Vorstellungen verweise ich, ohne auf sie hier eingehen zu können. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass eine rein psychoanalytische Lesart
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vornehmliches Interesse gilt der ›Aufhebung‹ des Dualismus, den Törleß’ ›Kant-Traum‹ ins Szene setzt, und zwar durch Realisierung einer ›dritten Möglichkeit‹, die Sinnlichkeit und Logos zu ›vereinigen‹ vermag. 1.3.3. Die »dritte Möglichkeit« Musils – und Ulrichs – Devise heißt also nicht ›Zurück zum Ursprung‹. Ulrich folgt nicht dem Aufruf seiner Romanfigur Hans Sepp, wenn dieser verkündet: »Wir alle sollten Kinder sein!« (2, 554) und dieser Sentenz Nachdruck verleiht, indem er ihr eine in wahrhaft Rousseau’scher Manier vorgetragene Kindespanegyrik folgen lässt.101 Für Ulrich steht eines
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des Kant-Traums viel zu kurz greift. Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ ist auf jeden Fall auch in einen mythologischen und einen mystischen Kontext zu stellen; ferner dürften andere Zeitgenossen Musils einen durchaus großen Einfluss auf seine Vorstellung einer solchen Sinnlichkeit ausgeübt haben; u.a. ist Ludwig Klages an dieser Stelle zu nennen. Um dieses Thema erschöpfend zu behandeln, müsste man Musils theoretische Reflexionen über Sexualfragen eingehend untersuchen und die gebotene, zumindest partielle Abgrenzung gegenüber den ihm bekannten psychoanalytischen Sexualtheorien vornehmen bei gleichzeitiger Berücksichtigung anderer Einflüsse. Gerade angesichts der Tatsache, dass Musils Werke sich offenbar als dankbarer Gegenstand für psychoanalytisch orientierte Deutungsansätze anbieten, die aber leider sowohl die dichterische Dimension seiner Werke als auch den differenzierten gedanklichen Kontext ihrer Entstehung nur allzu oft ignorieren, lässt sich hier ein Forschungsdesiderat erkennen. Vgl. 2, 554. Diese steht offensichtlich in ironischer Brechung zur Gesinnung des Erzählers wie des Autors des Romans und enthält auch – freilich in persiflierter Form – Anklänge an die von Musil als überspannt gewertete Kindesverehrung seiner Zeitgenossin Ellen Key. Ihre Gedanken werden an mehreren Stellen der Tagebücher rezipiert, und zwar gerade zur Entstehungszeit der Verwirrungen. Musil notiert sich: »Trotzdem ihr Aufsatz mich auf das tiefste beeinflußte, kommt jetzt eine gewisse Ernüchterung. Ihre Grundidee – mehr Seele, oder überhaupt Seele – ist ausgezeichnet […] Darüber hinaus versagt sie jedoch. Was Seele ist, und wie Seele zu pflegen ist, steckt voll Widersprüche.« Sie verlange »Lebensandacht«, »Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur« Aber: »Welches sind die Menschen in denen dieses Zusammengehörigkeitsgefühl stark entwikkelt ist[?]« Ihre Vorbilder seien »die Typen vom reinen Toren, die sich in Literatur und Geschichte ziemlich häufig finden […] bezüglich des Kindes hat sie aber in einem Punkt recht: Hingabe an den Augenblick, Aufgehen im Spiel der Kräfte. Dies kann dem Erwachsenen beneidenswert vorkommen. Vorbildlich kann es ihm aber nicht sein, da man eine complicirte Konstitution nicht auf eine einfachere zurückschrauben kann. Auch dem trägt Key keine Rechnung. Bedenklicher wird sie aber da, wo sie versucht, die Vorzüge des Kindes auf den Erwachsenen zu übertragen. Da ist nicht mehr von Lebensandacht im Sinne eines Göthe die Rede, sondern von dem Pantheismus jener einfachen Menschen, denen das Herz schwerer ist als der Kopf. Key polemisiert gegen die Vernunft.« (Tb 168f.)
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fest: Nicht in einer Art wiedergefundener Kindheit lässt sich die anvisierte ›dritte Möglichkeit‹ verwirklichen. Ulrich stellt die Kardinalfrage: Lässt sie sich überhaupt verwirklichen, und wenn ja, wie, wo und wann? Tentative Antworten auf diese Frage lauten: in der ›taghellen Mystik‹ bzw. in der Dichtung. Man könnte zunächst meinen, Ulrich sehe im Dichter eine Art wiedergeborenes Kind, bezeichnet er an einer Stelle das Gedicht und die Kindheit doch als vergleichbare, weil mit dem Gleichnis (in ursprünglichem Sinne) verwandte ›Verhaltensweisen‹: ›Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, im Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?‹ (3, 906)
Musil macht aber bald klar, dass er den Dichter keinesfalls in dieser Weise betrachtet: »[Der Dichter] ist weder der ›Rasende‹, noch der ›Seher‹, noch ›das Kind‹, noch irgendeine Verwachsenheit der Vernunft.« (8, 1029) Um als Vorbild für den Dichter dienen zu können, fehlt dem Kind, wie dem ›Rasenden‹, eine unentbehrliche Komponente, eine, die sich nur im Übermaß schädlich auswirkt, nämlich: die Ratio. Der Dichter verwendet auch gar keine andre Art und Fähigkeit des Erkennens als der rationale Mensch. Der bedeutende Mensch ist der, welcher über die größte Tatsachenkenntnis und die größte Ratio zu ihrer Verbindung verfügt: auf dem einen Gebiet [des Ratioïden] wie auf dem andern [des Nicht Ratioïden]. (8, 1029)
Oder, wie Musil sich im Essay Analyse und Synthese äußert: Sie wissen, daß ein Mensch, um suggestives Vorbild zu sein oder ein Kunstwerk zu schaffen, noch andere Eigenschaften braucht als Denken und moralische Phantasie, aber sie vergessen, daß man ihm diese hinzuwünschen und nicht das Denken ihm ausreden muß. (8, 1008)
Was das Gleichnis betrifft, geht es doch schließlich darum, das eine – das ›Ratioïde‹ – mit dem anderen – dem ›Nicht-Ratioïden‹ – zu verbinden. Das Gleichnis in seinem »ursprünglichen Lebenszustand« fällt der Übermacht des Gefühls anheim und ist von daher unfähig, die Wirklichkeit in ihrer vollen Dimension zu erfassen. Die Zerlegung des Gleichnisses in die zwei Bestandteile des »nicht Stimmende[n]« und des »genau Übereinstimmende[n]« mündet auf der einen Seite in »Künstlichkeit«, auf der anderen in eine »Verhärtung« der nur als Möglichkeit gedachten Erscheinungen dieser Welt, d.h. in den begrifflichen Starrsinn. 101
Ulrich hofft eben auf eine »dritte Möglichkeit« (2, 582), die den Menschen aus dem Stadium des zerlegten Gleichnisses in den – utopischen – Zustand des, wenn man so will, ›synthetischen‹ Gleichnisses führen soll. Der Weg führt also nicht zur Kindheit zurück, sondern, – und dies gilt für Törleß wie für Ulrich –, über die Stufe der Analyse, des ›zerlegten Gleichnisses‹. Wie Törleß verharrt auch Ulrich auf der Stufe des ›zerlegten Gleichnisses‹. Die Anklänge an das von Törleß immer wieder beklagte Dilemma sind unüberhörbar: Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag liegende und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand eines moralischen Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig bedrückt hatte, konnte von nichts anderem als davon kommen, daß es ihm niemals gelungen war, diese beiden Bahnen zu vereinen. (2, 593)
Letztlich versteht Ulrich die Zerlegung des Gleichnisses in das »nicht Stimmende« und das »genau Übereinstimmende« als notwendigen Schritt vom ursprünglichen, und das heißt zugleich unreflektierten Gleichnis zum ›synthetischen‹ hin. Er bekennt: »Ohne Zweifel ist das, was man die höhere Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebenshälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt.« (2, 593)102 Was Törleß angeht: Er befindet sich mitten in diesem zweiten Stadium, aber die Zeit naht, in der die ersten Zeichen einer »dritten Möglichkeit« sich auch ihm kundtun werden. In seiner Schlussrede sagt er zunächst: ›Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken. Heute sind sie dieselben wie gestern, wenn ich mich bemühe, einen Unterschied zu finden, und wie ich die Augen schließe, leben sie unter einem anderen Lichte auf.‹ (137)
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Für das ›synthetische‹ Gleichnis gilt wie für den ›anderen Zustand‹ bzw. die ›taghelle Mystik‹: die Differenzierung zweier opponierender Komponente. Richard E. Hartzell definiert den ›anderen Zustand‹ dementsprechend als »the state of simultaneous participation in and cognition of the limitless totality of being […], (»The Three Aproaches to the ›Other‹ State in Musil’s Mann ohne Eigenschaften.« In Colloquium Germanica 10 [1976/77], 204–219; hier 205.) Siehe auch Goltschnigg: »Die ›taghelle Mystik‹ hat wie der ›andere Zustand‹ vieles mit dem ekstatischen Erlebnis der Unio mystica gemein; sie soll sich jedoch »in der Taghelle der ständigen Kontrolle durch den Verstand vollziehen.« (Goltschnigg: Mystische Tradition, 49); vgl. auch Ingrid Drevermann: »Wirklichkeit und Mystik. Eine Untersuchung des ›anderen Zustands‹ in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften«. In Sibylle Bauer/Ingrid Drevermann: Studien zu Robert Musil, Köln/Graz 1966, 123–242; hier 213.
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Immerhin ist es Törleß gelungen, in Folge seiner ›Verwirrungen‹ die ›zwei Welten‹ bzw. ›Weltbilder‹103 des ›Gleichnisses‹ und der ›Wahrheit‹ vorsichtig voneinander zu ›trennen‹: ›Nein, ich irrte mich nicht, wenn ich von einem zweiten, geheimen, unbeachteten Leben der Dinge sprach! Ich – ich meine es nicht wörtlich, – nicht die Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter, – aber in mir war ein zweites, das dies alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist … .‹ (137)
Die hierdurch entstehende dualistische Weltsicht auszuhalten fällt Törleß aber schwer und wird als »das Eigentliche, das Problem« erkannt: Diese wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind … . (139)104
Wenn es dann heißt: Dies und alles andere, – er sah es merkwürdig klar und rein – und klein. So wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinen Sonnenstrahlen den Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank und Feind und Schicksal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurückkriechen (139f.),
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Denn, wie Ulrich präzisiert, gebe es nicht »zwei Welten«, sondern »zwei Weltbilder«. So das Fazit eines Gesprächs mit Agathe: »[Agathe:] ›… wenn ich dich recht verstanden habe, bist du doch sicher, daß es zu jedem Gefühl zwei Welten gibt und daß es von uns abhängt, in welcher wir leben wollen!‹« Ulrich: »›Zwei Weltbilder! Aber nur eine Wirklichkeit! In ihr kann man allerdings vielleicht auf die eine wie die andere Art leben. Und dann hat man scheinbar auch die eine oder die andere Wirkl. vor sich.‹« In Bezug auf die ›Welt‹, die die mystische Erfahrung erschließt, sagt Ulrich: »Man glaubt, daß die Menschen ein Geheimnis sei, durch das wir in eine andere Welt eintreten; sie ist aber nur, oder sogar, das Geheimnis in unserer Welt anders zu leben.« (4, 1279) Das Gleichnis erweist sich als das Medium, das die zunächst für unversöhnlich gehaltenen Perspektiven – die »Ähnlichkeiten und unüberbrückbaren Unähnlichkeiten zugleich« – in eine sinnvolle, aber die inhärente Zwiespältigkeit der Komponente nicht nivellierende Relation zu bringen vermag. Ulrich: »[…] wo die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei Rauchsäulen aufsteigen….» (1, 145) Man vergleiche in diesem Zusammenhang die mystische Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹.
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so mag das zunächst wie ein ›Sieg der Vernunft‹105 aussehen. Dieser erweist sich aber letztlich als Scheinsieg, denn obwohl Törleß »nun wußte, zwischen Tag und Nacht zu scheiden – wie es heißt, war »[…] nur ein schwerer Traum […] verwischend über diese Grenzen hingeflutet, und er schämte sich dieser Verwirrung« –, bleibt »eine leise, grüblerische Müdigkeit zurück« sowie die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, – auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus. (140)
Während Törleß neue Sicherheit und Zuversicht daraus schöpft, dass er nun weiß, »zwischen Tag und Nacht zu scheiden«, und sich somit auf seinen analytischen Verstand verlässt, weiß er auch, wie prekär die von diesem ›Organ‹ gezogenen Grenzen sind, beschwört die Erinnerung doch im Bild der »leichtverlöschbare[n] Grenzen«, des Zernagens der »festen Mauern«, die es »rings um den Menschen gibt«, die potentielle Auflösung solcher Grenzen. Dass Törleß, indem er sich daran erinnert, nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts schaut, dass die Vision der »leichtverlöschbare[n] Grenzen« auch in die Zukunft weist, besagen die Worte, mit denen seine ›Verwirrungen‹ ausklingen: […] diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft schon in seinem Blute fühlt. Und Zuversicht und Müdigkeit mischten sich in Törleß…. (140)
Schließlich stellt die von Törleß am Ende der ›Verwirrungen‹ erreichte Fähigkeit, »zwischen Tag und Nacht zu scheiden«, das Problem erst in
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Symptomatisch für diese Interpretationsrichtung ist der Aufsatz von Elisabeth Stoff: »Musils ›Törless‹: Inhalt und Form« (in: Robert Musil. Hrsg. v. Renate v. Heydebrand, Darmstadt 1982, 207–249). Sie schreibt: »In seiner Schlußrede gibt es keine Bilder mehr; deren Aufgabe ist erfüllt,… Vergleiche [sind] … ein Vehikel des Gedankens, und sie verschwinden aus Törleß’ Denken erst ganz am Ende, als er zu einer Art prosaischer Klarheit gelangt.« (226ff.) Man muss schon stutzig werden bei Stopps Behauptung: »Einzig der Mathematiklehrer gibt […] eine treffende, nüchterne Diagnose […] dieses Falles.« (276) Auch Desportes’ eigenwillige Interpretation tendiert in diese Richtung. Für ihre Grundthese, Törleß erlange allmählich eine ›wissenschaftliche‹ Einstellung im Sinne Machs und werde letztlich sogar zum ›Retter‹ der Wissenschaft (vgl. 291f.), liefert sie meines Erachtens keine überzeugenden Belege.
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seiner ganzen Tragweite dar, sie bildet erst den Ausgangspunkt für die eigentliche Aufgabe, die der reifere Ulrich sich stellt, – wenn auch nicht erfüllt –, nämlich, die »beiden Bahnen«, die »am Tag liegende« und die »dunkel abgesperrte […], zu vereinen« (2, 593).
105
2.
Rainer Maria Rilke, Puppen und motivisch verwandte Dichtungen; Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
2.0. Einleitung Viele Dichtungen Rainer Maria Rilkes zeugen von seinem Interesse an Kind und Kindheit. Ein bestimmter Aspekt dieses komplexen Themenund Motivkreises, dessen Spuren man vom Früh- bis ins Spätwerk hinein verfolgen kann, wird zum Brennpunkt für die folgende Untersuchung: das, was man die Dialektik von ›Eins- und Getrenntsein‹ nennen könnte. Diese Formel schält das Gemeinsame an so unterschiedlichen Dichtungen wie den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, der unvollendeten Kindheitselegie und dem Essay Puppen heraus, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen werden. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé verrät Rilke selbst, welchen Stellenwert die kleine, letztgenannte Schrift mit dem lakonischen Titel für ihn erhält, dieses, wie er meint, »ahnungslos Hingeschriebene«, »unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd« (RBr II, 464).1 Während für Rilke die Puppenerinnerung zum ›Vorwand‹ für das ›Ureigenste‹ wird, avanciert für das Kind die Puppe selbst – so der Essayist in Puppen – zum »Maß und Kennzeichen [der] Umwelt«. (VI, 1070) Gewissermaßen liefert die Puppengestalt ein ›Maß und Kennzeichen‹ des Rilke’schen Kindes. Die Bedeutung dieses zunächst unscheinbar anmutenden Essays für grundlegende poetologische Fragestellungen, die sich auf dem Wege der Kindheitsthematisierung vermitteln, wurde bis dato kaum erkannt. Diese auszuarbeiten – auch über die Grenzen des Rilke’schen
1
Zur Zitierweise: Die Quelle von Zitaten aus den folgenden Standardausgaben der Werke Rilkes werden hinter dem jeweiligen Zitat in Klammern angegeben: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Ffm. 1987 (Abkürzung: Römisch I, II, III usw. für Band, gefolgt von Seitenzahl) Rainer Maria Rilke: Briefe. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim, Ffm. 1987 (Abkürzung RBr, Römisch I, II, III für Band, gefolgt von Seitenzahl).
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Oeuvres, Rilke’scher Poetologie hinweg – wird zu einer Hauptaufgabe dieser Arbeit im Ganzen. In den Umkreis dieses Motivs gehört auch die unvollendete Kindheitselegie. Wie sich zeigen wird, erhellen sich Essay und Elegie gegenseitig. Auf Grund der vielfachen motivischen und poetologischen Verflechtungen, die die zentrale Thematik dieser Untersuchung erfährt, wird die Behandlung der einschlägigen Dichtungen nicht der Chronologie ihrer Entstehung folgen; vielmehr wurde es der Logik eines weit verästelten motivisch-thematischen Bezugskomplexes überlassen, den Gang der Interpretationsarbeit zu bestimmen. So beginnt diese Studie zu Rilke mit einem den fokussierten Themenkreis vorbereitenden Blick auf Gedichte aus dem ›Krisenjahr‹ 1914, dem Jahr der ›Wendung‹, in dem auch Puppen verfasst wurde. Als Nächstes tritt die 1920 verfasste unvollendete Kindheitselegie auf den Plan, auf deren Interpretation die eingehende Beschäftigung mit dem Puppenessay folgt, bevor zum Schluss die früheste, meistrezipierte dieser Dichtungen, die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, vor dem Hintergrund der zuvor geleisteten Interpretationsarbeit erneut gelesen wird.
2.1. Kind und Ding 2.1.1. Das Kind im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein: Zwei Gedichtinterpretationen »Vor Weihnachten 1914« (1915) 1 Da kommst du nun, du altes zahmes Fest, und willst, an mein einstiges Herz gepreßt, getröstet sein. Ich soll dir sagen: du bist immer noch die Seligkeit von einst und ich bin wieder dunkles Kind und tu die stillen Augen auf, in die du scheinst. Gewiß, gewiß. Doch damals, da ichs war, und du mich schön erschrecktest, wenn die Türen aufsprangen – und dein wunderbar nicht länger zu verhaltendes Verführen sich stürtze über mich wie die Gefahr reißender Freuden: damals selbst, empfand ich damals dich? Um jeden Gegenstand nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine, doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
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ein neues Ding, das bange, fast gemeine Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak. O wie doch alles, eh ich es berührte, so rein und leicht in meinem Anschaun lag. Und wenn es auch zum Eigentum verführte, noch war es keins. Noch haftete ihm nicht mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen es solle etwas sein, was es nicht war. Noch war es klar und klärte mein Gesicht. Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen, noch war es nicht das Ding, das widerspricht. Da stand ich zögernd vor dem wundervollen Un-Eigentum . . . . . 2 (. . . . . . . . . Oh, daß ich nun vor dir so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende anschauender. Und heb ich je die Hände so lege nichts hinein; denn ich verlier. Doch laß durch mich wie durch die Luft den Flug der Vögel gehen. Laß mich, wie aus Schatten und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug kühl fühlbar sein. Die Dinge, die wir hatten, (oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder der reine Raum. Die Schwere unsrer Glieder, was an uns Abschied ist, kommt über sie.) 3 Auch dieses Fest laß los, mein Herz. Wo sind Beweise, daß es dir gehört? Wie Wind aufsteht und etwas biegt und etwas drängt, so fängt in dir ein Fühlen an und geht wohin? drängt was? biegt was? Und drüber übersteht, unfühlbar, Welt. Was willst du feiern, wenn die Festlichkeit der Engel dir entweicht? Was willst du fühlen? Ach, dein Fühlen reicht vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden. Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht von zahllos Engeln. Dir unfühlbar. Du kennst nur den Nicht-Schmerz. Die Sekunde Ruh zwischen zwei Schmerzen. Kennst den kleinen Schlaf im Lager der ermüdeten Geschicke. Oh wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke
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das Übermaß des Daseins übertraf. Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier bereite Dinge. Schönes Lächeln stand in einem Antlitz. Wie erkannt sah eine Blume zu dir auf. Da flog ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft. Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft, und war es Dufts genug, so bog ein Ton sich dir ans Ohr . . . Schon wähltest du und winktest: dieses nicht Und dein Besitz war sichtbar am Verzicht. Bang wie ein Sohn ging manches von dir fort und sah sich lange um, und sieht von dort wo du nicht fühlst, noch immer her. O daß du immer wieder wehren mußt: genug, statt: mehr! zu rufen, statt Bezug in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche? Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche? Heißt Herz-sein nicht Bewältigung? Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge. Geht nicht durch mich der Sterne Schwung? Umfaß ich nicht das weltische Gedränge? Was bin ich hier? Was war ich jung? (II, 95–98)
»Requiem auf den Tod eines Knaben« (1915) Was hab ich mir für Namen eingeprägt und Hund und Kuh und Elephant nun schon so lang und ganz von weit erkannt, und dann das Zebra –, ach, wozu? Wer mich jetzt trägt, steigt wie ein Wasserstand über das Alles. Ist das Ruh, zu wissen, daß man war, wenn man sich nicht durch zärtliche und harte Gegenstände durchdrängte ins begreifende Gesicht? Und diese angefangnen Hände – Ihr sagtet manchmal: er verspricht . . . Ja, ich versprach, doch was ich Euch versprach, das macht mir jetzt nicht bange. Zuweilen, dicht am Hause, saß ich lange
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und schaute einem Vogel nach. Hätt ich das werden dürfen, dieses Schaun! Das trug, das hob mich, meine Augenbraun waren ganz oben. Keinen hatt ich lieb. Liebhaben war doch Angst – , begreifst du, dann war ich nicht wir und war viel größer als ein Mann und war als wär ich selber die Gefahr, und drin in ihr war ich der Kern. Ein kleiner Kern; ich gönne ihn den Straßen, ich gönne ihn dem Wind. Ich geb ihn fort. Denn daß wir alle so beisammen saßen, das hab ich nie geglaubt. Mein Ehrenwort. Ihr spracht, ihr lachtet, dennoch war ein jeder im Sprechen nicht und nicht im Lachen. Nein. So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein. Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war, den festen vollen Apfel anzufassen, den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen, die guten, wie beruhigten sie das Jahr. Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut. Es konnte beinah wie die andern Sachen verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht. So stand es in beständigem Erwachen wie mitten zwischen mir und meinem Hut. Da war ein Pferd aus Holz, da war ein Hahn, da war die Puppe mit nur einem Bein; ich habe viel für sie getan. Den Himmel klein gemacht, wenn sie ihn sahn,– denn das begriff ich frühe: wie allein ein Holzpferd ist. Daß man das machen kann: ein Pferd aus Holz in irgend einer Größe. Es wird bemalt, und später zieht man dran, und es bekommt vom echten Weg die Stöße. Warum war das nicht Lüge, wenn man dies ›Pferd‹ nannte? Weil man selbst ein wenig als Pferd sich fühlte, mähnig, sehnig, vierbeinig wurde – (um einmal ein Mann zu werden?) Aber war man nicht ein wenig Holz zugleich um seinetwillen und wurde hart im Stillen und machte ein vermindertes Gesicht?
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Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht. Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht, rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen. Wo ich ein Klingeln sah, hab ich geklungen, und wo es klang, war ich davon der Grund. So hab ich mich dem Allen aufgedrängt. Und war doch Alles ohne mich zufrieden und wurde trauriger, mit mir behängt. Nun bin ich plötzlich ab-geschieden. Fängt Ein neues Lernen an, ein neues Fragen? Oder soll ich jetzt sagen, wie alles bei euch ist? – Da ängst ich mich. Das Haus? Ich hab es nie so recht verstanden. Die Stuben? Ach da war so viel vorhanden. . . . . . Du Mutter, wer war eigentlich der Hund? Und selbst, daß wir im Walde Beeren fanden, erscheint mir jetzt ein wunderlicher Fund .......................... Da müssen ja doch tote Kinder sein, die mit mir spielen kommen. Sind doch immer welche gestorben. Lagen erst im Zimmer, so wie ich lag, und wurden nicht gesund. Gesund.... Wie das hier klingt. Hat das noch Sinn? Dort, wo ich bin, ist, glaub ich, niemand krank. Seit meinem Halsweh, das ist schon so lang – Hier ist ein jeder wie ein frischer Trank. Noch hab ich, die uns trinken, nicht gesehen ........................... (II, 104–107)
Das Gedicht »Vor Weihnachten 1914« (1915) thematisiert die Faszination, die das Weihnachtsfest auf das kleine Kind ausübt, wobei das anthropomorphisierte Fest zum Du der lyrischen Apostrophe wird.2 Der Erwachse-
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Vgl. Rilkes Brief an Clara Rilke vom 19. Dezember 1906, in dem er schreibt: »Du weißt […] was mir in meiner frühen Kindheit Weihnachten war; selbst dann noch, als die Militärschule mir ein wunderloses, hartes, unbegreiflich boshaftes Leben so glaubhaft vortäuschte, daß mir keine andere neben jener un-
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ne beklagt den Verlust dieser einstigen Faszination, der einstigen Betörung durch das Weihnachtsfest, dessen affektiv erlebte Qualität in der Erinnerung als ein einziges Glänzen, ein einziger Schein erhalten wurde. Eine Affinität zwischen »Vor Weihnachten 1914« und dem ›Weltinnenraum‹Gedicht »Es winkt zu Fühlung [...]« , das die Vereinigung von Mensch und Natur in der Herstellung eines Allbezugs besingt, verrät schon der Anfang des ersten Gedichts durch die motivische Parallele mit dem letzten Vers des letzteren, und diese Parallele ist signifikant. Dort heißt es: »Geliebter, der ich wurde: an mir ruht / der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.« (II, 93) Dieselbe Umkehrung der Ich-Welt-Perspektive als Ausdruck gegenseitiger Durchdringung prägt den einleitenden Bildkomplex in »Vor Weihnachten 1914«: Da kommst du nun, du altes zahmes Fest, und willst, an mein einstiges Herz gepreßt, getröstet sein [...] (II, 95)
Allerdings spricht das lyrische Ich diesmal aus dem Bewusstsein der Getrenntheit heraus, so dass das Bild nicht, wie in »Es winkt zu Fühlung [...]«, der Ekstase der Vereinigung von lyrischem Ich und Natur Ausdruck verleiht, sondern einer wehmütigen Feststellung des verlorengegangenen Einsseins von Kind und Weihnachtsfest gleichkommt. So wie dort »der schönen Schöpfung Bild« sich an den Schultern des lyrischen Ichs ›ausweint‹, sucht auch hier das Weihnachtsfest Trost beim lyrischen Ich, appelliert aber an sein »einstiges Herz«, d.h. an das Herz des Kindes, das für Zauber und Glanz des Weihnachtsfestes grenzenlos empfänglich war. Daher möge das lyrische Ich wieder »dunkles Kind« werden und »die stillen Augen auf[tun]«, in die das Weihnachtsfest scheint (II, 95). Die Lichtmetaphorik suggeriert das im ›Weltinnenraum‹-Gedicht beschworene Erleben mystischen Einsseins. Nur war in »Es winkt zu Fühlung [...]« die Natur der Schauplatz dieser Vereinigung, während hier der Vorgang in ein anderes, sehr eigenwilliges Idiom verlegt wird: Das
verschuldeten Wirklichkeit möglich schien; selbst dann noch war Weihnachten wirklich und war das, was mit einer Erfüllung herankam, die über alle Wünsche hinausging, und wenn es über die äußersten letzten nie noch gewünschten hinaus war, dann begann es erst recht, dann faltete es, das bisher gegangen war, Flügel aus und flog, flog, bis es nicht mehr zu sehen war und man nur noch die Richtung wußte, in dem großen fließenden Licht.« RBr I, 149.
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Weihnachtsfest erhält die Funktion, die in der Naturmystik der Natur zukommt; ihm wird der Platz zugewiesen, den in der christlichen Mystik Gott einnimmt: Es stellt das ›Ziel‹ der unio mystica dar. Dabei bilden die Augen des Kindes den Raum, in den der alles überflutende Glanz des Festes eingeht; sie sollen diesen Glanz empfangen. Das Kind wird zum Medium für das Weihnachtsfest; in ihm findet das Fest die größtmögliche Resonanz, entfaltet es seine größte Strahlkraft. Diese ist denn auch so groß, dass sie das Kind geradezu ›blind‹ macht für die Gegenstände seiner Umwelt – »[...] Um jeden Gegenstand / nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine« (II, 96). Die Anlehnung an die Tradition mystischer Erlebnisberichte ist hier unverkennbar. Auf dem Höhepunkt der in der Erinnerung beschworenen Ekstase der Vereinigung von Kind und Weihnachtsfest folgt jedoch die entscheidende Veränderung. Plötzlich verwandelt sich der zuvor alles überflutende Glanz des Festes in ein Instrument der Differenzierung: doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand ein neues Ding, das bange, fast gemeine Ding, das besitzen heißt [...] (II, 96)
Indem das Kind anfängt, die Dinge zu berühren, hebt sich der blendende Schein von ihnen ab und legt sie frei, so dass das Kind sie erkennen und erfahren kann. Das Kind ›be-greift‹ im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Damit schwindet aber auch das ursprüngliche Gefühl des Einsseins, und für einen flüchtigen Augenblick vor dem ›Inkrafttreten‹ des ›Besitz ergreifenden‹ Erwachsenenbewusstseins verfügt das Kind über die Fähigkeit, die Vorzüge beider Erlebnisweisen zu verbinden, des sich allmählich entwickelnden Differenzierungsvermögens und des Bewusstseins einer undifferenzierten, durch das gegenseitige Durchdringen von Ich und Welt gekennzeichneten Ganzheit, in der Wille – das, was das ›Besitz ergreifende‹ Erwachsenenbewusstsein bedingt – noch nicht ›in Kraft tritt‹. Dieser Zustand wird beschrieben wie folgt: [...] Und ich erschrak. O wie doch alles, eh ich es berührte, so rein und leicht in meinem Anschaun lag. Und wenn es auch zum Eigentum verführte, noch war es keins. Noch haftete ihm nicht mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen es solle etwas sein, was es nicht war. (II, 96)
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Noch sind Spuren der Strahlkraft erhalten – »Noch war es klar / und klärte mein Gesicht«. Die Dinge haben sich noch nicht in ihrer Abgelöstheit, in ihrer ganzen Dinghaftigkeit offenbart: Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen, noch war es nicht das Ding, das widerspricht. Da stand ich zögernd vor dem wundervollen Un-Eigentum . . . . . (II, 96)
Das lyrische Ich sehnt sich nach dieser ersten Zeit des reinen Anschauens zurück, die mit der später sich anbahnenden Zeit des Berührens, Begreifens, Besitzens stark kontrastiert wird: (. . . . . . . . . Oh, daß ich nun vor dir so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende anschauender. Und heb ich je die Hände so lege nichts hinein; denn ich verlier. (II, 96)
In der nächsten Strophe wird der sehr starke Bezug zu »Es winkt zu Fühlung [...]« offenkundig. In »Vor Weihnachten 1914« erklingt das Motiv, das für das ›Weltinnenraum‹-Gedicht von so grundlegender Bedeutung ist, in fast identischer Ausformung wieder: »Doch laß durch mich wie durch die Luft den Flug / der Vögel gehen [...].« (II, 96)3 Dort hieß es: »[...] Die
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Der bereits zitierte Brief Rilkes an Clara Rilke vom 19. Dezember 1906 gibt Aufschluss über den nicht ohne Weiteres erkennbaren Zusammenhang zwischen Weihnachts- und Vogelmotiv. Hier charakterisiert Rilke Weihnachten, das er, von der Gegenwart aus betrachtet, als »ein immerwährendes, ewiges [Fest]« erlebt, »zu dem das innere Gesicht sich hinwenden kann, sooft es seiner bedarf«, als eine Gestalt, die im Laufe der sich steigernden Antizipation seitens des auf sie Wartenden »Flügel aus[faltete] und flog, flog, bis es nicht mehr zu sehen war und man nur noch die Richtung wußte, in dem großen fließenden Licht« (RBr I, 151; 149). Überhaupt sieht Rilke im Verhältnis des Vogels zum ›Weltraum‹ eine geradezu ideale Beziehung. Seiner Sehnsucht nach einem ›innigeren‹ Verhältnis zur Welt bzw. zur Natur verlieh er in einem Brief vom 20. Februar 1914 Ausdruck, wo er nämlich die »ganz besondere Gefühlsvertraulichkeit« bemerkt, die der Vogel zur Außenwelt habe, und die daher rühre, dass »sein Nest [...] ja fast ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutterleib« sei, – weswegen er singe, »als sänge er in seinem Innern«. Zwar werde dem »Menschlichen viel zugewonnen durch die Hineinverlegung des ausreifenden Lebens in einen Mutterleib: denn er wird um so viel mehr Welt, als draußen die Weltbeteiligung an diesen Vorgängen einbüßt«, – will heißen, es entstehe dadurch eine Art Innenraum, der dem Vogel fehle –, aber letztlich schreibt Rilke der »Kreatur« das
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Vögel fliegen still durch uns hindurch [...].« (II, 93) Aber was in »Es winkt zu Fühlung [...]« als erfüllt erscheint, wenn auch nur für die Dauer eines Augenblicks, bleibt in »Vor Weihnachten 1914« wehmütige Sehnsucht: [...] Laß mich, wie aus Schatten und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug kühl fühlbar sein [...] (II, 96)
Und in der Rückschau erlebt der Erwachsene die Dinge so, als habe er sie in Mitleidenschaft gezogen, als habe er ihnen den ursprünglich gegebenen, ›reinen Bezug‹ geraubt: [...] Die Dinge, die wir hatten, (oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder der reine Raum. Die Schwere unserer Glieder, was an uns Abschied ist, kommt über sie.) (II, 96f.) 4
Der dritte und letzte Teil des Gedichts beginnt mit dem Appell an das eigene Herz: »Auch dieses Fest laß los, mein Herz [...].« Dies signalisiert ein Abschiednehmen von der Ekstase des anfangs besungenen Einsseins, – allerdings ein Abschiednehmen, so die Implikation des Wortes »Auch« in diesem Zusammenhang –, das in ähnlicher Form bereits wiederholt geleistet wurde, als sei dies eine Erfahrung, die man immer wieder mache(n
4
größere Maß an »Innigkeit« zu, denn dieses »Nicht-im-Leibe-Herangereiftsein« bringe es mit sich, dass die Kreatur »eigentlich den schützenden Leib nie verläßt. (Lebenslang ein Schoßverhältnis hat)« (RBr II, 449). Vgl. die Stelle in der 8. Duineser Elegie, wo es heißt: »O Seligkeit der kleinen Kreatur, / die immer bleibt im Schooße, der sie austrug; / o Glück der Mücke, die noch innen hüpft, / selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.« Hier schreibt der Dichter dem Vogel eine »halbe Sicherheit« zu (I, 715f.). Das sind romantische Klänge, wie man sie aus Wordsworths »Intimations of Immortality« kennt. Dort heißt es in Bezug auf das heranwachsende Kind: »Full soon thy soul shall have her earthly freight, / And custom lie upon thee with a weight, / Heavy as frost, and deep almost as life!« (Wordsworth: »Intimations«, Poetical Works, 461; 460). Damit kontrastierend Wordworths in demselben Gedicht verwendetes Bild des Neugeborenen als »trailing clouds of glory« (ebenda, 460). Hier scheint sich Rilke der neuplatonischen Vorstellung zu verschreiben, wonach die Schwere des Diesseits dem Heranwachsenden in zunehmendem Maße anhaftet und im Bewusstsein vom Tode kulminiert, wobei sich diese Schwere in der Vorstellung dieses Gedichts auf die von uns berührten Dinge überträgt.
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müsse). Unter seelischem Schmerz wird das lyrische Ich der Getrenntheit von Ich und Welt gewahr. Das Kind erfährt die ›Wendung‹ im Sinne der 8. Duineser Elegie:5 »[...] Und drüber übersteht, / unfühlbar, Welt [...].« (II, 97) Nach dieser ›Wendung‹ bezieht das Kind die Position des Gegenüberseins; das ›Da-Sein‹ spaltet sich in Subjektives und Objektives auf. Im Idiom des Gedichts inszeniert sich dieser Bewusstseinswandel seitens des Kindes unter anderem als Wandel in seiner Beziehung zu den Engeln. [...] Was willst du feiern, wenn die Festlichkeit der Engel dir entweicht? Was willst du fühlen? [...] (II, 97)
In Folge der ›Wendung‹ kann das Kind nicht mehr an den Festen der Engel teilnehmen, d.h. es erfährt nicht mehr die Ekstase des Einsseins mit diesen allumfassenden Wesen; nun wird der Engel zum überwältigenden Gegenüber, vor dessen ›stärkerem Dasein‹, dessen ›Schönheit‹, wie wir aus der 1. Duineser Elegie wissen, der Mensch zu ›vergehen‹ droht. Plötzlich hat der Mensch an dessen Glanz nicht mehr Teil; er wird seiner Schranken bewusst: »O wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke / das Übermaß des Daseins übertraf.« (II, 97) Dem Kind, das nun zu einem kleinen Gefäß mit eigenen Konturen geworden ist, droht die Überwältigung durch das »Übermaß des Daseins«, und es muss ›abwinken‹, sich ›beschränken‹: [...] Schon wähltest du und winktest: dieses nicht. Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht. (II, 98)
Es muss einsehen, dass es nicht das nötige ›Fassungsvermögen‹ hat, um die Welt grenzenlos in sich aufzunehmen: [...] O daß du immer wieder wehren mußt: genug, statt: mehr! zu rufen, statt Bezug in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche? Schwächliches Herz [...] (II, 98)
5
Dort heißt es: »[...] schon das frühe Kind / wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts / Gestaltung sehe [...]« (I, 714).
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Es muss einsehen, dass ihm das ursprünglich gegebene Gefühl des Allbezugs verloren gegangen ist. Das Gedicht endet mit einer eindringlichen, in die Vergangenheit und die Zukunft zugleich projizierten Sehnsucht nach (Wieder-)Erlangung dieses Vermögens: dass es einem trotz des ›schwächlichen Herzens‹ möglich werde, den ›gespanntesten Bezug‹ herzustellen, nämlich den zwischen Ich und Gestirn:6 Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge. Geht nicht durch mich der Sterne Schwung? Umfaß ich nicht das weltische Gedränge? Was bin ich hier? Was war ich jung? (II, 98)
Dies ist aber nur möglich, wenn der Mensch ein eigenes ›Herzgebirge‹ hat, will heißen, nachdem er seines Getrenntseins gewahr geworden ist, sich darin sozusagen eingerichtet hat und somit zum wirklichen Gegenüber geworden ist. Darin besteht die Rückwärts-Vorwärts-Orientierung dieser poetischen Vision: Von der ursprünglichen Erfahrung des ›Weltinnenraums‹ gespeist, entwirft das lyrische Ich auf der Stufe der vollzogenen Individuation, – wenn man so will, der ›Herzwerdung‹ –, die Utopie einer Wiederherstellung des Allbezugs in Gestalt eines sternischen, im Rilke’schen Sinne ›figuralen‹ Bezugs.7 Das »Requiem auf den Tod eines Knaben« (1915) greift wesentliche Themen und Motive des früheren Gedichts erneut auf und geht insbesondere auf die Beziehung des Kindes zu den Dingen, vor allem zu seinem Spielzeug, ein. Wie »Vor Weihnachten 1914« ist das Gedicht monologisch bzw. verkappt dialogisch angelegt, wobei das verstorbene Kind die Familie (zum Teil nur die Mutter) anruft. Formal eigenartig und signifikant ist die Tatsache, dass das »Requiem« – der Titel lässt also eine Totenklage durch einen Dritten erwarten – aus dem Mund des toten Knaben selbst gesprochen wird und in einer Art fast heiterer Rückschau auf die Zeit vor dem Tod besteht. Man beachte die temperamentvolle, rhythmische Bewegung
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Vgl. Beda Allemann, der die ›Gespanntheit‹ der Figur als eines ihrer wichtigsten Merkmale angibt. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961, 276; vgl. auch 277ff.. Vgl. Allemann: Zeit und Figur. Allemann erörtert die paradigmatische Bedeutung des Sternbildes für die Rilke’sche Figur.
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der ersten Strophe, die begleitet wird vom Eindruck frischer Unmittelbarkeit; das Gedicht setzt salopp an mit der Frage: »Was hab ich mir [...]?« und vermittelt mit seiner parataktischen Struktur kindliche Unbedarftheit. Mit diesem Kunstgriff wird unterstrichen, dass dem Kind das für den Erwachsenen charakteristische Bewusstsein des Todes als einer jähen Zäsur fehlt, dass er den Tod zwar als Übergang erlebt, gewissermaßen als Einzug in ein fremdes Land, nicht aber als ein Ende. Diese formale Eigenschaft verleiht dem Gedicht seine besondere Wirkung. Besonders interessant für den Gegenstand dieser Arbeit ist die Art, wie das lyrische Ich in der Rückschau die ihn zu Lebzeiten umgebenden Dinge betrachtet. Weil die Familie dem Kind keinen psychischen Halt gibt, werden ihm die Dinge zu Fixpunkten in einer schwankenden Welt. An ihnen kann das Kind sich orientieren: So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein. Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war, den festen vollen Apfel anzufassen, den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen, die guten, wie beruhigten sie das Jahr. (II, 105)
Hier erhalten die Dinge also einen ausgesprochen positiven Wert im Gegensatz zu den Dingen in »Vor Weihnachten 1914«, die durch uns ›beschwert‹ werden und uns im Gegenzug zum ›Besitzergreifen‹ verführen, wodurch sich die Ekstase des ursprünglichen Allbezugs verflüchtigt. Das Verhältnis des verstorbenen Knaben zum Spielzeug gestaltet sich etwas anders: Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut. Es konnte beinahe wie die andern Sachen verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht. (II, 105f.)
Während die Alltagsdinge die Außenwelt konturieren, hat das Spielzeug eine Sonderstellung. Es nimmt seinen Platz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Kind und Ding, Innen und Außen ein: »So stand es in beständigem Erwachen / wie mitten zwischen mir und meinem Hut.« (II, 106) Als Objekte der Außenwelt fördern die Spielsachen die Individuation des Kindes. Sie dienen, wie die Alltagsdinge, zur Konturierung der Welt, und das Kind setzt sich mit ihrer Andersartigkeit auseinander. Aufgrund der hochgradig empathischen Beziehung des Kindes zum Spielzeug gehört 118
dieses aber auch bis zu einem gewissen Grad der Innensphäre des Kindes an und erlaubt es diesem, seine Sehnsucht nach symbiotischem Einssein im Spiel auszuleben. Das zeigt sich an der Beziehung des Kindes zum Holzpferd besonders eindrücklich. Kind und Pferd wirken aufeinander ein. Indem das Kind für das Pferd »[d]en Himmel klein [macht]«, nimmt es in Einfühlung seines Wesens dessen verengte Perspektive ein Stück weit ein und imaginiert sich bald selbst als Holzpferd: man fühlte sich selbst »[...] ein wenig / als Pferd [...] mähnig, sehnig, / vierbeinig [...]« (II, 106). Die Identifikation geht so weit, dass das Kind fast erstarrt: [...] Aber war man nicht ein wenig Holz zugleich um seinetwillen und wurde hart im Stillen und machte ein vermindertes Gesicht? (II, 106)
Das Pferd hingegen »bekommt vom echten Weg die Stöße«, ihm wird gewissermaßen menschliches Leben eingehaucht.8 In diesem Ineinanderfließen von Kind und Pferd klingt die Erfahrung des ›Weltinnenraums‹ in neuer poetischer Gestalt an, – allerdings in erheblich reduzierter Form gegenüber der Vision in »Es winkt zu Fühlung [...]«. Nicht Kind und Welt bzw. Natur schlechthin vereinen sich hier, sondern eben Kind und Holzpferd. Diese Erfahrung stellt aber die Vorstufe zur allumfassenden Durchdringung von Mensch und Natur dar, wie sie im ›Weltinnenraum‹Gedicht evoziert wird.9 Das zeigt die nächste Strophe, in der sich diese größere Dimension eröffnet:
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Interessant ist in diesem Kontext Salingers Vermutung, das Rilke’sche Holzpferdmotiv sei von Jakob Wassermanns Caspar Hauser (1908) beeinflusst. Dort heißt es: »[Caspar Hauser] hatte ein weißes Pferdchen aus Holz, ein namenloses, regungsloses Ding und gleichwohl etwas, in dem sein eignes Dasein sich dunkel spiegelte. Da er die lebendige Gestalt in ihm ahnte, hielt er es für seinesgleichen, und in den matten Glanz seiner künstlichen Augenperlen war alles Licht der äußerlichen Welt gebannt.« (Jakob Wassermann: Caspar Hauser, Stuttgart 1908, 23.) Rilke und Wassermann kannten sich; letzterer soll sogar für die Figur des Thalmann in der Erzählung Ewald Tragy Pate gestanden haben. Siehe Herman Salinger: »Rilkes ›Requiem auf den Tod eines Knaben‹. In: Monatshefte 47 (1955), 81–88; hier 87f. Im Laufe dieser Interpretation dürfte die Bedeutsamkeit des hier verwendeten Spiegelungsmotivs ersichtlich werden, was aus dieser motivischen Entsprechung mehr als nur eine oberflächliche Konvergenz macht. Hermann Kunisch stellt eine Affinität in der Vorstellung des ›Weltinnenraums‹ zu der des ›entwerdens‹ in der mittelalterlichen Mystik her, wobei Ersteres »als das Gewinnen des ›Offenen‹, des ›reinen Bezugs‹» zu verstehen sei. Der Zu-
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Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht. Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht, rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen. Wo ich ein Klingen sah, hab ich geklungen, und wo es klang, war ich davon der Grund. (II, 106)
Die Anklänge an »Es winkt zu Fühlung [...]« sind unverkennbar. Dort heißt es: Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. (II, 93)10
Die im »Requiem« kurz auflebende Ekstase verflüchtigt sich aber gleich wieder, und in der plötzlichen Bewusstwerdung seiner Getrenntheit klagt das lyrische Ich: So hab ich mich dem Allen aufgedrängt. Und war doch Alles ohne mich zufrieden und wurde trauriger, mit mir behängt. (II, 106)
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stand des ›Offenen‹ verwirkliche sich unter anderem in der Kindheit. (Hermann Kunisch: »Das Problem der Mystik beim späten Rilke«. In: Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag, Bern/München 1979, 192.) Allerdings impliziert die Erfahrung von ›Weltinnenraum‹ kein einfaches Wegfallen der Schranken zwischen Ich und Welt, sondern sie beinhaltet eine konzeptionell schwer fassbare perspektivische Inversion. Marcel Kunz bemerkt, Rilkes ›Weltinnenraum‹ sei deswegen so schwer zu fassen, »weil er ein Äußeres als inneren Raum denkt, weil das Ich als Raum gedacht ist, der sich um die ganze Umwelt spannt. Anders gesagt: weil die Umwelt ins Ich eingestaltet ist«. Die Erlebensweise lasse sich in etwa so beschreiben: »Ich sehe hinaus, finde mein Eigenes im äußeren Raum, doch gleichzeitig vollzieht sich in mir, das ich als Äußeres wahrzunehmen glaube.« (Marcel Kunz: Narziß. Untersuchungen zum Werk R.M. Rilkes, Bonn 1970, 109.) In der Formel des ›Weltinnenraums‹ finde man letztlich die Vorstellung einer tieferen Einheit zwischen Ich und Welt, zwischen Geist und Natur, wobei der Dichtung die Aufgabe zukomme, »auf das ›gemeinsame‹ Leben« zu verweisen, das sich in der Erfahrung »einer Korrelation zwischen Phänomenen der Außenwelt und Seelenzuständen des Ich« manifestiert, so Manfred Engel (Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien und die moderne deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde, Stuttgart 1986, 96). Hier taucht auch der Hut auf als Repräsentant des Außen.
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Dies auch die Klage des Kindes in »Vor Weihnachten 1914« in Reaktion auf den fast identischen Vorgang. Auf die Evozierung des ›Weltinnenraums‹ folgt die Ernüchterung der Getrenntheit: »Die Dinge, die wir hatten, [...] nie erholen sie sich ganz. [...] Die Schwere unserer Glieder / [...] kommt über sie.« (II, 96f.) In der Bewegungslinie, die die beiden hier behandelten Gedichte zeichnen, findet man eine Progression von der ursprünglichen Erfahrung des Einsseins über das schmerzliche Bewusstsein der Getrenntheit bis hin zur futurisch-visionären Erfahrung der gegenseitigen Durchdringung von Mensch und Natur in der (Wieder)-Aufhebung der Subjekt-Objekt-Polarität. Doch zurück zum »Requiem«. Das Fallen der Schranken zwischen Innen und Außen manifestiert sich ferner in der Versöhnung des verstorbenen Knaben mit dem Tod. Von dieser Versöhnungshaltung gespeist ist die ausklingende Vision des Gedichts, in der kindliche Naivität sich mit einer in höchstem Maße poetischen Fähigkeit des lyrischen Ichs zur Versinnbildlichung des Todes vermischt: Hier ist ein jeder wie ein frischer Trank Noch hab ich, die uns trinken, nicht gesehen ......................... ((II, 107)
Diese Schlussvision enthält mystische Züge. In der mystischen Bekenntnisliteratur findet man mancherorts das Motiv des Trinkens und Getrunkenwerdens als Versinnbildlichung des Aktes der Vereinigung des Menschen (als Getrunkenen) mit Gott (als Trinkendem). Der Mensch ›verflüssigt‹ sich sozusagen und kann so von Gott aufgesogen werden: Sein Saft fließt in den unsichtbaren Adern des Einen weiter. Einer solchen mystischen Lesart entspricht auch die grammatische Eigenart des Schlussverses: Das Subjekt der Handlung, die Trinkenden, – man beachte die Mehrzahl! – wird nur indirekt, im Nebensatz, genannt. Der elliptische Hauptsatz lässt es aus. Soll darin die Unbenennbarkeit des Ziels mystischer Vereinigung zum Ausdruck gebracht werden? Soll das Geheimnisvolle, das für den Menschen Unfassbare an der vom Kind antizipierten Gestalt in der irritierenden Vorstellung einer Mehrzahl von Trinkenden zum Ausdruck kommen? Der ursprüngliche Schluss des »Requiems« entwirft auch ein mystisch zu nennendes Vereinigungsszenario. Auf der ›unbeschienenen Seite des Lebens‹ erfährt der Knabe eine Verwandlung; es erfolgt ein gegenseitiges 121
Durchdringen von Kind und Engel, das vom Chor der Engel feierlich verkündet wird: Da geht von ihm der Schwingen erstes Wehen und wie es weich in unsre Stürme drang ist er in uns, sind wir in ihm geschehen (II, 439)
Genau das vermag, so der Klageruf der 1. Duineser Elegie, der Erwachsene nicht. Die nächste Strophe verdeutlicht den mystischen Charakter des Geschehens: Wehen, nicht Worte nur Wehen keine Spur mehr von Dingen. Nur ein Durchdringen. Nur ein Geschehen Ein Gelingen von Sternen und ich Knabe mitten darin. (II, 439)
Bezüge zum Gedicht »Vor Weihnachten 1914« drängen sich hier auf. Der Knabe wird in die konturenlose Welt, die in der ersten Strophen von »Vor Weihnachten 1914« beschworen wird, versetzt, eine Welt, in der es »nur Wehen«, keine Worte gibt. Allerdings, – und darin liegt der Unterschied zum ähnlichen Szenario im anderen Gedicht –, ist hier keine ursprüngliche Welt gemeint; vielmehr liegt die hier evozierte Sphäre jenseits der Dinge; sie transzendiert den Logos: Es gibt »keine Spur mehr von Dingen« (Hervorhebung d. Vf.). In »Vor Weihnachten 1914« signalisierte die Konturierung der Dinge den Einbruch des vom Logos determinierten Individuationsprinzip in die ›weltinnenraumähnliche‹ Sphäre der frühen Kindheit. Die Verse »Ein Gelingen von Sternen / und ich Knabe mitten darin« rufen den Schluss von »Vor Weihnachten 1914« in Erinnerung mit seinem eigenwilligen Bild des Steinbocks, der auf das »Herzgebirge« des Kindes springen möge. Das lyrische Ich des »Requiems« fragt: »Geht nicht durch mich der Sterne Schwung? / Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?« (II, 98) Hier ›gelingen‹ die Sterne, so die Vision. Was in »Vor Weihnachten 1914« in der Sprache der Sehnsucht, im Konjunktiv, gehalten wird, erscheint hier ähnlich potentiell, d.h. in der Form eines Utopie verheißenden Fragens. Aber die Topologie des Sternmotivs gestaltet sich hier anders als im erstgenannten Gedicht, denn der Knabe bildet nicht den einen ›Bezugspunkt‹ einer ›figuralen‹ Sternenkonstellation zusammen mit einem zweiten, sternischen ›Bezugspunkt‹, wie in »Vor Weihnachten 1914« Kind und Steinbock, sondern 122
ist »mitten darin«, d.h. ist in »der Sterne Schwung« bzw. ›umfasst‹ diesen. Während ich feststellte, dass für das Gelingen der sternischen Verbindung des Kindes mit dem Steinbock der Besitz eines eigenen ›Herzgebirges‹ unerlässlich war und den Bezugscharakter der Verbindung bedingte, geht mit der hier beschriebenen Verwandlung die Preisgabe des ›eigenen Standpunktes‹ einher.11 Es scheint, als wäre die Individuation hier ein Stück weit rückgängig gemacht bzw. gänzlich überwunden. Das »Requiem« scheint sagen zu wollen: Am ehesten gelingt eine solche Verwandlung beim Kind, dessen Hände ›erst angefangen waren‹, das also in die Tiefen der konturierten Welt noch gar nicht erst ganz eingetaucht war. Für den verstorbenen Knaben des »Requiems« war das ganze Ausmaß der Entzweiung, die das Leben des Erwachsenen so stark prägt, gar nicht erst spürbar geworden. 2.1.2. ›Kinder-Ding‹ und ›Kunst-Ding‹: Rodin In seiner Rodin-Monographie hatte Rilke einige Jahre vor Niederschrift des »Requiems« im Kontext einer Apologie des Dinges als Fundament der Kunst über den prägenden Einfluss geschrieben, den die »Kinder-Dinge« auf die psychische Entwicklung des Menschen ausüben: Gedenken Sie, ob es irgend etwas gab, was Ihnen näher, vertrauter und nötiger war, als so ein Ding. Ob nicht alles – außer ihm – imstande war, Ihnen weh oder unrecht zu tun, Sie mit einem Schmerz zu erschrecken oder mit einer Ungewißheit zu verwirren? Wenn Güte unter Ihren ersten Erfahrungen war und Zutraun und Nichtalleinsein – verdanken Sie es nicht ihm? War es nicht ein Ding, mit dem Sie zuerst Ihr kleines Herz geteilt haben wie ein Stück Brot, das reichen mußte für zwei? (V, 208f.)
Hier beschreibt Rilke eine empathische Beziehung wie die des Knaben im »Requiem« zum Holzpferd. Der Erwachsene soll in eine ähnliche Beziehung zu den Dingen treten wie die, in der das Kind zu den ›KinderDingen‹ steht: Sie erinnern sich dessen [der Kinder-Dinge] kaum mehr, und es wird Ihnen selten bewußt, daß Sie auch jetzt noch Dinge nötig haben, die, ähnlich wie jene Dinge aus der Kindheit, auf Ihr Vertrauen warten, auf Ihre Liebe, auf Ihre Hingabe. Wie kommen diese Dinge dazu? Wozu sind überhaupt Dinge mit uns verwandt? Welches ist ihre Geschichte? (V, 209)
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Eine eigenwillige Formulierung dieses Gedankenkomplexes findet man im kleinen Aufsatz Urgeräusch, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.
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Die herausragende Bedeutung der ›Kinder-Dinge‹ für die psychische Entwicklung des Kindes erläutert Rilke einige Zeilen weiter unten ausführlicher: In den Legenden der Heiligen haben Sie später eine fromme Freudigkeit gefunden, eine selige Demut, eine Bereitschaft, alles zu sein, die Sie schon kannten, weil irgend ein kleines Stück Holz alles das einmal für Sie getan und auf sich genommen und getragen hatte. Dieser kleine vergessene Gegenstand, der alles zu bedeuten bereit war, machte Sie mit Tausendem vertraut, indem er tausend Rollen spielte, Tier war und Baum und König und Kind, – und als er zurücktrat, war das alles da. Dieses Etwas, so wertlos es war, hat Ihre Beziehungen zur Welt vorbereitet, es hat Sie ins Geschehen und unter die Menschen geführt und mehr noch: Sie haben an ihm, an seinem Dasein, an seinem IrgendwieAussehn, an seinem endlichen Zerbrechen oder seinem rätselhaften Entgleiten alles Menschliche erlebt bis tief in den Tod hinein. (V, 209)
Das in dieser Passage nicht näher bestimmte Ding12 erhält einen ähnlichen Stellenwert wie das Spielzeug im »Requiem«; ihm kommt eine Mittlerfunktion zu. Dadurch, dass es die »Beziehung [des Kindes] zur Welt vorbereitet«, bildet es eine Art Brücke, über die man zur Welt gelangt. An ihm macht das Kind erste Erfahrungen; es findet in ihm »alles Menschliche« vorweggenommen, sogar bis ins letzte Geheimnis, – »bis tief in den Tod hinein«. Dieselbe Empathie, die das Verhältnis des Knaben zu seinem Spielzeug auszeichnete, finden wir auch hier, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Hatte der Knabe dem Holzpferd zuliebe »[d]en Himmel klein gemacht«, so schreibt hier Rilke, das kleine Stück Holz habe »alles das einmal für [uns] getan und auf sich genommen und getragen«. Während die ›Kinder-Dinge‹ der Sehnsucht des Kindes nach Vereinigung mit dem wie auch immer gearteten Gegenüber nachkommen, fördern sie gleichzeitig behutsam seine Individuation. Das besagt auch Rodin. Im Zuge der oben zitierten, rühmenden Worte über die KindheitsDinge reflektiert Rilke, auch wenn das Wort selbst nicht fällt, ebenfalls über die Entstehung des ›Kunst-Dings‹. Man habe »[s]ehr früh schon [...] Dinge geformt, mühsam, nach dem Vorbild der vorgefundenen natürlichen Dinge« (V, 210). Zunächst Handwerkliches, Gebrauchsgegenstände: »[...] man hat Werkzeuge gemacht und Gefäße, und es muß eine seltsame Erfahrung gewesen sein, Selbstgemachtes so anerkannt zu sehen, so gleichberechtigt, so wirklich neben dem, was war.« (V, 210) Im ersten Teil der
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In seiner Interpretation dieser Stelle geht Steiner stillschweigend davon aus, dass hier explizit die Puppe gemeint ist. Der Text liefert aber kein eindeutiges Indiz hierfür. Vgl. Jacob Steiner: »Motiv der Puppe«, 141.
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Rodin-Monographie hatte Rilke die Plastik als »schlichte Dingwerdung ihrer [der Menschen] Sehnsüchte und Ängste« (V, 145) bezeichnet. Hier skizziert er eine Art Genese des Dinges; die ›Dingwerdung‹ wird in Parallele zur ›Ichwerdung‹ des Menschen gesetzt: Da entstand etwas, blindlings, in wilder Arbeit und trug an sich die Spuren eines bedrohten offenen Lebens, war noch warm davon, – aber kaum war es fertig und fortgestellt, so ging es schon ein unter die Dinge, nahm ihre Gelassenheit an, ihre stille Würde und sah nur noch wie entrückt mit wehmütigem Einverstehen aus seinem Dauern herüber. (V, 210)
Das Bild suggeriert den Vorgang der Geburt und der später erfolgenden ›Wendung‹ im Sinne der 8. Duineser Elegie. Erst »noch warm« von den »Spuren eines bedrohten offenen Lebens« – man denkt an ein neugeborenes Kind – gerät das Ding bald zum Gegenüber seines Urhebers, – wenn man so will, der Mutter, die es geboren hat. Es wird, wie das Kind der 8. Duineser Elegie, zum Du, das in Folge seiner ›Individuation‹ sich ›verselbständigt‹ hat. Ästhetisch gesprochen steht diese ›Dingwerdung‹ für die Loslösung des Dinges aus der Abhängigkeit vom Menschen bzw. vom Künstler und somit vom Vergänglichen. Aus der ›Dingwerdung‹ wird ›Kunst-Dingwerdung‹: Dieses Erlebnis war so merkwürdig und so stark, daß man begreift, wenn es auf einmal Dinge gab, die nur um seinetwillen gemacht waren. Denn vielleicht waren die frühesten Götterbilder Anwendungen dieser Erfahrung, Versuche, aus Menschlichem und Tierischem, das man sah, ein Nicht-Mitsterbendes zu formen, ein Dauerndes, ein Nächsthöheres: ein Ding. (V, 210)
Dieses Ding, das im Unterschied zum Menschen dem ›Hinschwinden‹ entkommt, soll aber, entsprechend der Funktionsbestimmung der Plastik im ersten Teil des Vortrags, etwas sein, »darin man das wiedererkannte was man liebte und das was man fürchtete und das Unbegreifliche in alledem« (V, 210). Wie das Spielzeug im »Requiem« bezieht auch das ›Kunst-Ding‹ eine Mittel- bzw. Mittlerposition: »Und das Ding selbst, das, ununterdrückbar, aus den Händen eines Menschen hervorgeht, ist [...] zwischen Gott und Mensch, selbst nicht schön, aber lauter Liebe zur Schönheit und lauter Sehnsucht nach ihr.« (V, 211) In struktureller Entsprechung zum Spielzeug, das »zwischen mir und meinem Hut steht«, – so die poetische Formel des »Requiems« –, steht das ›Kunst-Ding‹ zwischen uns und Gott. Insofern lässt sich die Beziehung des Kindes zu den Kindheits-Dingen und die des Künstlers, hier des Bildhauers, zum ›Kunst-Ding‹ auf dasselbe, topologisch strukturierte Paradigma zurückführen. 125
2.1.3. Puppe, Ding und ›Kunst-Ding‹ Vor den Hintergrund des »Requiems« und der Rodin-Studie, in denen den Kindheitsdingen eine durchweg positive Funktion attestiert wird, sei die Puppe des Puppenaufsatzes gestellt, die mit den anderen Spielsachen, den anderen ›Kinder-Dingen‹ stark kontrastiert. Die in diesem Essay geleistete ›Phänomenologie‹ der Puppe lässt sich hier in drei Oppositionen skizzieren, deren Negativglied jeweils die Puppe bildet. Anhand einer dreifachen Kontrastierung von Puppe mit Ding, Puppe mit ›Kunst-Ding‹ und Puppe mit Spiegel-Gegenüber soll das Wesen der Puppe zunächst ex negativo bestimmt werden. Man könnte Oppositionalität und Paradoxie zu den Kompositionsprinzipien des Puppenaufsatzes erklären, die auch den im Laufe des Diskurses erfolgenden Umschlag der negativen in eine zumindest potentiell positive Phänomenologie determinieren. Schon die Rahmenstruktur des Essays begründet seinen Kontrastcharakter: Die rückschauenden Reflexionen des Essayisten über die Puppe von einst, die Kindheitspuppe, sind eingebettet in eine Betrachtung der ›er-wach-senen‹ Puppen aus der Sammlung der Lotte Pritzel, an denen sich eine der Kindheit geltende ›Exkavationsarbeit‹ entfacht. Auch diese Wachspuppen werden gleich eingangs durch eine Negation charakterisiert. Wie der Essayist feststellt, haben sie »alle Unwirklichkeiten ihres eigenen Lebens angetreten« (VI, 1063). Damit wird impliziert, dass auch die ›Puppenkindheiten‹ von einer Unwirklichkeit geprägt waren, denn nach der Logik des Essays steht die Kindheitspuppe in demselben Verhältnis zur Wachspuppe wie das mittels seiner Beziehung zur Puppe beschriebene Kind zum Essayisten.13 Die Unwirklichkeit der
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Ebrechts Verständnis von Puppe und Puppenseele als Identifikationsfiguren für Rilke und / oder Personen aus seinem Umkreis ist äußerst problematisch. Ebrecht schreibt etwa: »›Benvenuta‹ [Magda von Hattingberg] war für Rilke [...] eine Puppenseele, aber eine, von der er zugleich die Erlösung und die Auflösung der Puppenhaftigkeit erhoffte. Deshalb wollte er in ihr das Kind sehen, das sich für ihn opfern mußte, um seine puppenhafte Existenz zu überwinden.« (Angelika Ebrecht: »Rettendes Herz und Puppenseele. Zur Psychologie der Fernliebe in Rilkes Briefwechsel mit Magda von Hattingberg«. In: Anita Runge / Lieselotte Steinbrügge [Hrsg.]: Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes, Stuttgart 1991, 147–171; hier 166) Hier wird so viel – auch Widersprüchliches – in die Puppe und die Puppenseele ›hineingelesen‹, dass Ebrecht dem poetischen Phänomen Puppe gar nicht gerecht wird. Sie läuft Gefahr, diese Figuren zu beliebig einsetzbaren Repräsentanten für etwas der Dichtung Externes zu instrumentalisieren; meines Erachtens bedarf es einer ›Phänomenologie‹ der Puppe und mit ihr der Puppenseele (die ich hoffe, durch meine
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Kindheitspuppe manifestiert sich am anschaulichsten im Puppenblick, der sogleich an Hand einer paradoxen Formel charakterisiert wird: Die Puppe sei nämlich »nur im Augenaufschlag einen Moment wach, dann sofort mit den unverhältnismäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend [...]«. (VI, 1064) Die offenen Augen schützen äußerste Wachheit vor, aber in Wirklichkeit ist die Puppe ›blind‹ für ihre Umgebung. Der Puppenblick kann als stellvertretend für das Wesen der Puppe schlechthin betrachtet werden: Er täuscht Bewusstsein nur vor, so wie die Puppe als ganze Gestalt nur vortäuscht, dem Kind ein wirkliches Gegenüber zu sein. Ferner stellt der Essayist fest, die Puppe sei »undurchdringlich und in diesem äußersten Zustand von vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer Stelle einzunehmen« (VI, 1064). Auch in dieser Hinsicht hebt sie sich in negativer Weise von den anderen Kindheits-Dingen ab, denen man das Gegenteil attestiert: Empfänglichkeit, Durchdringbarkeit. Das erkläre sich, so der Essayist, »durch ihr [der anderen Dinge] schönes Eingewöhntsein ins Menschliche« (VI, 1066). Die anderen Kindheits-Dinge scheinen – »wenn man sie nur liebt« – am Leben des Menschen teilzunehmen. In dem Maße, in dem der Mensch eine Beziehung zu ihnen entwickelt, werden sie geradezu ›beseelt‹. Man überlege sich, wie dankbar Dinge sonst für Zärtlichkeiten sind, […] selbst die härteste Abnutzung noch als eine zehrende Liebkosung anschlägt, unter der sie zwar schwinden, aber gleichsam ein Herz annehmen, das sie umso stärker durchdringt, jemehr [sic!] ihr Körper nachgiebt (: fast werden sie dadurch in einem höheren Sinne sterblich und können jene Wehmut mit uns teilen, die unsere größte ist –);…(VI, 1065)
Im »Requiem« wie hier in Bezug auf die anderen Kindheits-Dinge wird der Akzent auf den empathischen Charakter der Beziehung des Kindes zum Spielzeug gelegt. Gerade dies scheint für die Beziehung des Kindes zur Puppe nicht zu gelten. Diese kann nicht im Sinne des Essays ›ins Menschliche eingewöhnt‹ werden. Es ist wohl die fundamentale Eigenschaftslosigkeit der Puppe, ihre innere Gestaltlosigkeit sozusagen, die verhindert, dass Kind und Puppe, dieses bare Menschenimitat, eine Beziehung eingehen wie Kind und Holzpferd. Die Beziehung des Kindes zur Puppe steht unter dem Zeichen der Pro-
Interpretationsarbeit geliefert zu haben), um diese Figur in ihrer eigenwilligen Identität, und das heißt nicht-instrumentalisierten Gestalt, zu erfassen.
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jektion des Eigenen statt der Interaktion zweier eigenwilliger Gestalten.14 Die Interpretation des Gedichts »Vor Weihnachten 1914« hatte gezeigt, dass der Mensch ein eigenes ›Herzgebirge‹ braucht, um eine in Allemanns Sinne figurale Konstellation mit dem Steinbock des Firmaments bilden zu können, und so müssen die Dinge auch einen Eigenwillen, eine Eigengestalt besitzen, um in einen ›wirklichen‹ Bezug zum Kind treten zu können. Als Projektion und Imitat des Kindes erfüllt die Puppe diese Konditionen nicht. Deswegen wirft man ihr auch vor, sie sei »so bodenlos ohne Phantasie« (VI, 1067). Der Zusammenhang zwischen ihrem Abbildcharakter und der ihr bescheinigten Phantasielosigkeit wird in der Kontrastierung mit der Marionette deutlich: »[...] die Marionette hat nichts als Phantasie. Die Puppe hat keine und ist genau um so viel weniger als ein Ding, als die Marionette mehr ist.« (VI, 1069) Beide sind auf der konzeptionellen Ebene als Abbilder des Menschen zu verstehen, nur dass die Puppe den Anspruch des Mimetischen weitgehend erfüllt, während sich die Marionette ein hohes Maß an Stilisierung und Eigenwilligkeit herausnimmt. Ihr Höchstmaß an Phantasie ist darauf zurückzuführen. Der Puppe fehlt gerade diese fruchtbare Diskrepanz. Dadurch wirkt sie eintönig und phantasielos. Wie die in der äußeren Gestalt ›unvollkommenen‹ Spielsachen – »der Kopf eines Kaspars, der nicht umzubringen war, ein halbzerbrochenes Pferd« –, die »von Natur häßlich und dürftig« und gerade »deshalb voll eigener Ansichten« waren, hebt sich die Marionette positiv von der Puppe ab, die wie ein Parasit nur »den unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung« (VI, 1068) kennt.15 Die Puppe wird letztlich zum »halben Gegenstand« degradiert (VI, 1070). Angesichts dieser durchgehend negativen Kontrastierung der Puppe mit den anderen Kindheitsdingen bzw. mit den Dingen überhaupt könnte man die Puppe zu einer Art ›Anti-(Kinder)-Ding‹ erklären. Vom ›Kunst-Ding‹ scheint sich die Puppe auf gleichermaßen oppositionelle Weise abzuheben. Das zeigt ein Vergleich mit der Sphinx, die geradezu als ›Kunst-Ding‹ in idealer Form betrachtet werden kann, deren vollendete Gestalt Rilke denn auch sehr beeindruckte, wie er in einem Brief vom 20. 1. 1907 an Clara Rilke anlässlich ihrer bevorstehenden Ägyptenreise zum Ausdruck bringt. Rilke schreibt:
14 15
Vgl. Steiner, der die Kinderpuppen als »Projektion des eigenen Ichs« im Sinne von »Abfall unseres Selbsts« bezeichnet. Steiner: »Motiv der Puppe«, 138. Hierin dürfte auch eine latente Kritik an der mimetischen Kunst und die Apologie einer aussparenden, andeutenden Ästhetik herauszulesen sein.
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Wir stellen Bilder aus uns hinaus, wir nehmen jeden Anlaß wahr, weltbildend zu werden, wir errichten Ding um Ding um unser Inneres herum –: hier aber war eine Wirklichkeit, die sich von außen in diese Züge warf, die nichts als Stein sind. Die Morgen von Jahrtausenden, ein Volk von Winden, der Aufstieg und Niedergang unzähliger Sterne, der Sternbilder großes Dastehen, die Glut dieser Himmel und ihre Weite war da und war immer wieder da, einwirkend, nicht ablassend von der tiefen Gleichgültigkeit dieses Gesichtes, so lange, bis es zu schauen schien, bis es alle Anzeichen eines Schauens genau dieser Bilder aufwies, bis es sich aufhob wie das Gesicht zu einem Innern, darin alles dies enthalten war und Anlaß und Lust und Not zu alledem. Und da, in dem Augenblick, da es voll war von allem Gegenüber und geformt von seiner Umgebung, war ihm auch schon der Ausdruck hinausgewachsen über sie. Nun wars, als ob das Weltall ein Gesicht hätte, und dieses Gesicht warf Bilder darüber hinaus, bis über die äußersten Gestirne hinaus, dorthin, wo nie noch Bilder gewesen waren. (RBr I, 155f.)
Bei aller formeller Ähnlichkeit der beiden Gestalten Puppe und Sphinx – im weiteren Sinne ›Plastiken‹, bei denen das Antlitz dominiert – kann es eine radikalere Gegensätzlichkeit kaum geben. Die Puppe bildet die negative Folie, vor der die Sphinx sich positiv abhebt. Denn der Sphinx werden alle wesentlichen Qualitäten zugeschrieben, derer die Puppe entbehrt. Zweifelsohne stellt die Sphinx eine potenzierte Form des ›Kunst-Dings‹ dar,16 die mit der Puppe als nur ›halbem Gegenstand‹ umso stärker kontrastiert. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Gestalten spiegelt sich in der ganzen Topologie des im Brief entworfenen Bilderkomplexes. Während das Kind sich der Puppe als Projektionsobjekts bedient, in das es seine eigenen Affekte verlagert, sie also als Projektion seines Inneren dient,17 erhebt sich die Sphinx in der hier beschriebenen Transformation zur Projektion einer höheren Wirklichkeit, einer »Wirklichkeit, die sich von außen« – also aus entgegengesetzter Richtung – »in diese Züge warf«. Die steinerne
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Diese formell als ›Kunst-Ding‹ einzustufende Plastik bezeichnet Allemann als »ein[en] Vorbegriff der Figur«. Allemann: Zeit und Figur, 225. Stephens nennt sie in diesem Sinne »eine Funktion der Subjektivität, eine Projektion des Ich«. Anthony Stephens: »Rilkes Essay Puppen und das Problem des geteilten Ich«. In: Käte Hamburger (Hrsg.): Rilke in neuer Sicht, Stuttgart 1971, 159–72; hier 167f.. Obwohl es Angelika Ebrecht gelingt, einige wesentliche Momente der Puppenmotivik biographisch zu beleuchten, vernachlässigt sie im diagnostischen Eifer deren poetische Dimension und lässt sich dazu verleiten, den Essay zu ›pathologisieren‹. Wie sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammenfassend präsentiert: »Briefe wie Puppen waren für [Rilke] Medien seines Narzißmus und zugleich des Verlangens, ihn zu überwinden.« Rilke habe sich die Briefpartner – wie das Kind die Puppe – »mit Macht an[geeignet] und seinem Größenselbst [untergeordnet]«. Ebrecht: »Rettendes Herz«, 168.
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Sphinx ist zunächst genauso undurchdringlich, genauso gleichgültig wie die Puppe, aber es haben, so Rilke, die Sternbilder auf ihr Gesicht »so lange [eingewirkt], bis es zu schauen schien, bis es alle Anzeichen eines Schauens genau dieser Bilder aufwies«. In der Verwandlung von äußerster Undurchdringlichkeit in höchste Aufnahmefähigkeit wird die Sphinx zu einer Art Spiegel, der im Akt des Schauens die in sich hineingenommenen Bilder zurückprojiziert.18 Dagegen die Puppe, deren leerer Blick im krassen Gegensatz steht zum potenzierten Blick der Sphinx: die Augen der Puppe sind »wohl kaum imstande zu unterscheiden, ob das mechanische Lid auf ihnen liegt, oder jener andere Gegenstand, die Luft« (VI, 1064), geschweige denn, einen solchen fruchtbaren Bezug zum Weltraum herzustellen. Die Positiv-Negativ-Entsprechung der beiden Gestalten erstreckt sich auch auf den nächsten Schritt in der Transformation der Sphinx zur QuasiFigur. Denn »in dem Augenblick da es voll war von allem Gegenüber und geformt von seiner Umgebung, war ihm auch schon der Ausdruck hinausgewachsen über sie«. Die Durchdringung der Sphinx mit Weltraum löst eine gegenseitige, sich stets steigernde Bewegung aus, wobei die Bilder im Prozess von Spiegelung und Widerspiegelung in immer höhere Dimensionen vorzudringen scheinen, bis sie in Bereiche vorstoßen, »wo nie noch Bilder gewesen waren«. Eine Wechseldynamik wird in Gang gesetzt, die in eine für den Menschen kaum fassbare Potenzierung mündet.19 Dagegen die Puppe, an die wir »unsere lauterste Wärme verschwenden« oder, – um das drastischere Bild in einem der Entwürfe zur unvollendeten Kindheitselegie zu zitieren –, die mit den in sie hineinprojizierten Anteilen des Kindes ›abstürzt‹. Diese Gegensätzlichkeit zeigt sich auch in einer Gegenüberstellung des ›Kunst-Dings‹, wie es die Rodin-Studie charakterisiert, und der Puppe. Das ›Kunst-Ding‹ löst sich zwar auch von seinem Urheber, dem Menschen, ab, sieht aber »aus seinem Dauern herüber« und bietet dem Menschen noch Halt, indem es sich in »ein Nicht-Mitsterbendes« verwandelt. Die Puppe dagegen, die sich auch ›verselbständigt‹, bedeutet nicht stellvertretendes Aufgehobensein im Unvergänglichen, sondern ›Verrat‹ und ›Abbruch‹.
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Diesem Motiv begegnet man erneut im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]«. Zur Sphinx-Figur bemerkt Engel, in ihrem Gesicht nehme »alles Amorphe im Menschlichen eine so gültige Form an, daß diese gewissermaßen zur Formung schlechthin geworden ist, die den unerreichbaren transzendenten Gesetzmäßigkeiten der Sterne das Gleichgewicht hält.« (Engel: Duineser Elegien, 231.)
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Es zeigt sich ein weiterer Kontrast: Während die Beziehung des Kindes zu den Kindheits-Dingen im Akt eines Teilens im Sinne gegenseitiger Durchdringung verkörpert wird und somit die Beziehung des Künstlers zum Kunst-Ding und der Sphinx zum Weltraum präfiguriert,20 bedeutet ›Teilen‹ bei Kind und Puppe Aufspaltung: statt einer ›Verdoppelung‹, sprich Potenzierung des Daseins, ein Halbieren unter Anheimgabe unseres ›Kostbarsten‹: »unsere[r] Wärme«. In ihrer Funktion als Gegenüber des Kindes in oppositioneller Entsprechung zur Sphinx als Gegenüber des Weltraums gründet aber die eigentliche Bedeutung der Puppe, auch wenn sie hier ihre negativste Wirkung zu entfalten scheint. In der späteren Dichtung Rilkes spielt das Gegenüber eine bedeutende Rolle schlechthin. An der Beziehung des Kindes zur Puppe in ihrer Funktion als Gegenüber entzündet sich auch die Kindheitsthematik im Werk Rilkes in ihrer ganzen Komplexität.
2.2. Kind und Gegenüber 2.2.1. Das Gegenüber als Spiegel In dem oben beschriebenen Beziehungsparadigma erwies sich die Sphinx als ideale Spiegelungsinstanz, die die in sie hineinprojizierten Bilder aus dem Weltraum zurückprojizierte, so dass in Folge der wechselseitigen Durchdringung und Potenzierung der Kräfte immer weitere Dimensionen der ›Wirk-lichkeit‹ sich eröffneten. So wird die Sphinx zum idealen Gegenüber im Rilke’schen Sinne. In starkem Kontrast hierzu wurde die Puppe des Puppenaufsatzes und der unvollendeten Kindheitselegie als eine Art ›Anti-Spiegel‹ identifiziert, die mit den in sie hineinprojizierten Affekten des Kindes ›abstürzt‹, statt sie in potenzierter Form wiederzugeben. Der Essay Puppen enthält weitere Indizien für den Anti-Spiegel-Charakter dieses kindlichen Gegenübers.
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In der Nebeneinanderstellung dieser drei Beziehungen zeigt sich eine interessante Entwicklung. Während für das ›Kunst-Ding‹ in Rilke’schem Sinne die Fähigkeit, sich letztlich vom Menschen abzulösen und so Autarkie zu erlangen, von wesentlicher Bedeutung ist, weil es sein ›Dauern‹ über das Menschliche hinaus ermöglicht, erweist sich das Moment der Interaktion, das in der Beziehung des Kindes zu den Kindheitsdingen besonders ausgeprägt war, als entscheidender Bestandteil der schon quasi-›figuralen‹ Beziehung der Sphinx zum Weltraum.
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Die der Puppe attribuierten Eigenschaften der Scheinhaftigkeit und der Hohlheit erweisen sich als negative Äquivalente konstitutiver Eigenschaften des idealen Spiegels im Rilke’schen Sinne. Scheinhaftigkeit steht gegen potenzierten Widerschein, Hohlheit gegen transzendente Fülle. Denn der Rilke’sche Spiegel in Idealform stellt eine reflektiv-rezeptive Instanz dar, die ›aufhebt‹ – in zweifachem Sinne – und wiedergibt zugleich.21 Und doch macht der Essayist des Puppenaufsatzes die Puppe zum Gleichnis Gottes, indem er sie bezeichnet als »die erste, die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, das uns später immer wieder aus dem Raume anhauchte, wenn wir irgendwo an die Grenze unseres Daseins traten«. (VI, 1068f.) Und er fährt fort: »Ihr gegenüber […] erfuhren wir zuerst [...] jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe hinüberhübe« (VI, 1969). Ich möchte die Bedeutung dieses Bildes an Hand eines motivischen Vergleichs veranschaulichen. Ich rufe zum einen das Spiegelsonett aus den Sonetten an Orpheus in Erinnerung mit seiner Beschwörung des Spiegels als »Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben / erfüllten Zwischenräume der Zeit« (Sonett II.3, I, 752). Ferner die 9. Duineser Elegie, wo es heißt: »Zwischen den Hämmern besteht / unser Herz [...]« (I, 719).22 In diesen zwei Motiven wie im Wort von der Puppe geht es um die ›Zwischenräume‹ der Zeit. Im Spiegelsonett schafft der Spiegel, der aus lauter Löchern besteht, erst den ›eigentlichen‹ Raum, den Raum ›gesteigerten Daseins‹. In struktureller Parallele zu diesem Motiv steht dann die Wendung in der 9. Duineser Elegie, bei der die Hämmer des Herzens in etwa den imaginierten ›Löchern‹ des Spiegels entsprechen. Dieses Bild stellt den zeitlichen Bezug sogar direkt her, denn die Hämmer darf man wohl als ein Schlagen des Herzens, aber auch auf der metaphorischen Ebene als ein Schlagen der chronometrischen Zeit verstehen. Dabei passiert das ›Eigentliche‹ ›zwischen den Hämmern‹. In beiden Fällen erhält der ›Zwischenraum‹ eine sehr positive Bedeutung. Im Spiegelsonett entfaltet das Motiv seine ganze Tragweite erst in der Übertragung auf die ästhetische Sinnebene: Der Zwischenraum, den der Spiegel schafft, ist letztlich als Metapher für den dichterischen
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Vgl. Kunz: Narziß, 33. Siehe hierzu Kunz: Narziß, 29ff. Vgl. auch Stoljars knappe, aber hervorragende Erläuterungen zum Spiegelsonett (Margret Stoljar: »Mirror and Self in Symbolist and Post-Symbolist Poetry«. In: MLR 85: 2 [1990], 362–72; hier 371f..)
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›Raum‹ zu verstehen,23 in dem das Gespiegelte die zu spiegelnde Welt transzendiert. Der Spiegel erhöht das von ihm Aufgenommene, indem er es im selektiv-ästhetischen Prozess der Spiegelung – man kann lesen: der Kunstwerdung – in Bilder verwandelt.24 Aus Realität wird ›Wirk-lichkeit‹, wobei der Glanz des Spiegels die ›Wirk-kraft‹ von Letzterem versinnbildlicht.25 Folglich wird die im Spiegelraum wirksame Zeit als die Chronizität transzendierende, ›wirkliche‹ Zeit hingestellt. Wenn es also von der Puppe heißt, »[i]hr gegenüber erfuhren wir zuerst [...] jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe hinüberhübe« (VI, 1069), so schält sich ein auf Oppositionen aufbauender Motivzusammenhang zwischen diesem Bild und den zwei oben angeführten heraus, der mehrfache Parallelen in der Struktur der einzelnen Motive aufweist. In den ›Zwischenräumen der Zeit‹ bzw. im ›Herzraum‹ zwischen den Herzschlägen ist der Raum des ›wahren‹ Bezugs zu finden; schließlich erhält das Herz seit der programmatischen ›Wendung‹ (das gleichnamige Gedicht wurde kurz nach Puppen geschrieben) ausdrücklich die Funktion einer ›Bezug‹ stiftenden Instanz. Auf der strukturellen Ebene verbindet das Bild der »Herzpause«, von der in Puppen die Rede ist, die beiden Motive aus Sonett und Elegie. Das Bild der ›Herzpause‹ erhält denselben räumlichen Charakter, wie ihn das Spiegelmotiv im Sonett besitzt, nur, dass sie keinen ›aufhebenden‹, d.h. rezeptiv-reflektorischen Raum darstellt, sondern zum Abgrund erklärt wird, über den man von der Natur ›hinübergehoben‹ werden muss. Während also die Zwischenräume der Zeit – der Spiegel – wie der ›Herzraum‹ zwischen den Herzschlägen Bezug stiften, einen Raum darstellen, in dem ›gesteigertes Dasein‹ waltet, stellt sich der Raum, den wir mittels der Puppe erleben, als das genaue Gegenteil heraus. Das scheint den Anti-Spiegel-Charakter der Puppe zu bestätigen. Dem entspricht die äußere Gestalt der Puppe wie ihre psychische Funktion für das Kind. Schließlich ist sie doch, wie der Essay anfangs betont, der Inbegriff einer Scheinexistenz im negativen Sinne; sie ist Dasein vorgaukelnde Attrappe. Um die Charakterisierung des Essayisten zu zitieren: Sie gleicht einer
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Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 135f. Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 145. In seiner Verwendung des Spiegelmotivs schöpft Rilke natürlich aus einer langen, letztlich auf Platon zurückgehenden Tradition. Mich wird hier aber lediglich die spezifisch Rilke’sche Qualität des Motivs beschäftigen.
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»oberflächlich bemalte[n] Wasserleiche«, die auf den aufwallenden Affekten des Kindes ›hochgeschwemmt‹ und als ›Abfall‹ zurückgelassen wird, sobald sich das Kind wieder beruhigt. Sie ist also weit davon entfernt, wie der ideale Spiegel einen rezeptiv-reflektorischen Innenraum zu bilden, der das Aufgenommene in sich hineinnimmt und dort auf- und emporhebt im übertragenen Sinne.26 Die bereits bemerkte Undurchdringlichkeit der Puppe – sie sei »unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer Stelle einzunehmen« (VI, 1064) – ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sie ist weder rezeptiv noch reflektorisch. Statt Glanz des geläuterten Widerscheins zu erzeugen, vermittelt sie Mattheit, Stumpfheit. Man beschreibt sie als »jenes beschäftigungslose Geschöpf«, das »sich schwer und dumm zu spreizen« pflegt (VI, 1068). In ihrer psychischen Funktion als Projektionsobjekt für das Kind nimmt sie den Charakter eines Scheingegenübers an, das in keine ›verhaltende‹ Beziehung zum Kind tritt, wie es das ideale Gegenüber tut,27 sondern nur vortäuscht, ein solches zu sein, wobei die unvermeidliche ›Ent-täuschung‹ umso gravierendere Folgen für das Kind hat. Die Puppe entlarvt sich, so der Essay, als Falle, als »grausige[r] Fremdkörper, an den wir unsere lauterste Wärme verschwendet haben« (VI, 1067). Ich kehre zurück zum Ausgangspunkt für den Vergleich zwischen Puppe und Spiegel. Das Bild von der Puppe als Gestalt, an der wir »jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause« erfahren, enthält die Andeutung eines potentiellen, für Rilkes Dichtung charakteristischen Umschlags der materiellen, äußerst negativ bestimmten Puppengestalt in eine transzendente, wenn auch wieder zunächst negativ bestimmte: Was gerade erst zum halben Gegenstand degradiert worden war, wird doch zum Gleichnis für Gott als einer von jenen, die »vor allem dadurch berühmt geworden sind, daß sie uns anschwiegen« (VI, 1068). Hierin deutet sich das erst am Schluss des Essays in vollem Umfang realisierte, positive Potential der Puppe an.28 Die Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern die Puppe auch im positiven
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Vgl. Kunz: Narziß, 33; 36. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Anthony Stephens vergleicht das Schweigen der Puppe mit dem Warten vor der Puppenbühne in der 4. Duineser Elegie. (Stephens: »Problem des geteilten Ich«, 166.) Meines Erachtens leidet seine Deutung darunter, dass er es versäumt, die Puppengestalt des Essays von der der Elegien zu unterscheiden. Bei der Puppe in beiderlei Gestalt gehe es darum, so Stephens, »sich mit ihrem völligen Mangel an jeglichem menschlichen Gehalt zu identifizieren, [...] diesem Nichtsein des Ich, [...] eine dieser ›Herzpausen‹ mit absoluter Redlichkeit auszuhalten – in der Hoffnung, dadurch die verlorene ›Einigkeit‹ des Ich wiederzugewinnen« (ebenda, 166f.). Dadurch wird die Puppe zum absoluten Nichts erklärt, das das
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Sinne eine gewisse Spiegelfunktion annimmt, kann erst in Zusammenhang mit der Deutung des letzten Teils des Essays erfolgen. Für das Motiv des Gegenübers als Spiegel des Ichs, das in Rilkes Werk vielerorts dichterische Gestaltung findet, liefert Ovids Narziss-Mythos das Paradigma, auch wenn das Sujet, das Rilke – und nicht nur ihn – beschäftigt, in seinem Werk entscheidende Eigenimpulse erhält.29 Auch bei eingreifenden Veränderungen des Motivs bleibt aber die Ovidsche Gestalt Bezugspunkt für die Rilke’sche Narzissgestalt als diejenige, die sich in das vermeintliche Gegenüber im Quell – in ihr Spiegelbild – verliebt: die trotz – oder gar wegen – der späten Erkenntnis, dass es sich bei dieser Erscheinung um ihr Abbild handelt, von Sehnsucht nach ihr verzehrt wird und daran stirbt. Der Spiegel in Form des Quells bildet die wichtigste Komponente des Mythos, für Narziss den existentiellen Bezugspunkt. Narziss und Spiegel gehören unweigerlich zusammen. Hatte ich eine zunächst vorläufige Korrespondenz zwischen Puppe und Spiegel konstatiert, so will ich jetzt eine heuristische Gleichung aufstellen, die im Folgenden auf ihre Validität hin überprüft werden soll: Das Kind verhält sich zur Puppe wie Narziss zum Spiegel (sprich zum Quell).30 Die anzunehmende Ähnlichkeit dieser beiden Beziehungskonstellationen soll es ermöglichen, die Bedeutung des Gegenübers im allgemeineren Sinne zu erörtern. Zunächst ist festzuhalten: Die Spiegelung des Narziss im Wasser führt zu einer Verdoppelung seiner Gestalt. Ihr entspricht in etwa die Verdoppelung, die das Kind in der Begegnung mit der Puppe erfährt. Wie der Essay sagt, veranlasst die Puppe das Kind zur Spaltung seines »Wesen[s ...] in Teil und Gegenteil«. So wie Narziss sein Gegenüber selbst schafft, zu dem er dann eine Beziehung aufzunehmen versucht, schafft sich das Kind selbst ein ›Gegenteil‹: die Puppe. Die unvollendete Kindheitselegie beschreibt, wie »das Kind an dem neidlos / drüben geschaffenen
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Kind nicht ›re-flektiert‹, sondern auf sich selbst ›zurückwirft‹. Gerade in der Elegie kann ich eine solch negative Bestimmung der Puppe nicht ausmachen. Unter anderem schrieb Rilke zwei gleichnamige Gedichte, die einen direkten Bezug zur Narziss-Gestalt herstellen (›Narziß‹, II, 56, und ›Narziß‹, II, 56f.), auf die ich aber nicht näher eingehen werde, da es der Rahmen dieser Untersuchung nicht erlaubt, sie in der gebotenen Differenziertheit zu behandeln. Die mir bekannten Interpretationen des Puppenmotivs gehen auf den Bezug der Puppe zu den beiden für Rilkes Dichtung wesentlichen Motiven Spiegel und Narziss höchstens marginal bzw. indirekt ein. Auch wenn Rilke keine explizite Verknüpfung dieser Motive vornimmt, treten bei einer sorgfältigen Lektüre der einschlägigen Texte Hinweise auf verborgene motivische Verflechtungen zu Tage, die es hier zu beleuchten gilt.
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Du sich erprobte und abhob – / und sich erfuhr, seine Kräfte an zwei verteilend« (II, 459). Als Verdoppelung des Selbst stellt das auf diese Weise geschaffene Gegenüber aber kein qualitativ zu unterscheidendes Du dar, sondern lediglich eine ›Zweitausgabe‹ des Gespiegelten selbst. Dass die auf diese Weise erzeugte ›Reproduktion‹ eine Reduktion des Gespiegelten darstellt, wird im Vorspann des Mythos an der Figur der Echo gezeigt, die dazu verdammt wird, stets das von Narziss zuletzt Gesprochene zu wiederholen. Stumpfsinniges Mimen tritt an die Stelle des Dialogs. Dass für das Kind die Puppe erst die Vorstufe zu einem dialogfähigen Gegenüber darstellt, wird im Essay explizit zum Ausdruck gebracht. Die Puppe ist nicht willig bzw. fähig, dem Kind zu erwidern. Die Verweigerung gehört zu ihrem Wesen. Für Narziss wie für das Kind bleibt denn auch die Begegnung mit dem Scheingegenüber unbefriedigend. So wie Narziss seine Liebe an sein Spiegelbild ›verschwendet‹, »verschwendet« das Kind an der Puppe seine »lauterste Wärme«. Der Puppenaufsatz zeichnet die Puppe implizit als hohlen – statt ›erfüllten‹, idealen – Spiegel, zu dem das Kind eine ›narzisstische‹ Beziehung im Sinne des Ovidschen Mythos aufnimmt. Der Essay spricht nämlich von »diesem stillhaltenden Mannequin«, an dem wir »die erste flaumige Seide unseres Herzens in Falten […] legen« (VI, 1067). Um diesen Hohlraum legt das Kind sein Kostbarstes, – eben jene »erste flaumige Seide [seines] Herzens«. In diesem Spiegelraum ›besteht unser Herz‹ – um das Wort der 9. Duineser Elegie zu zitieren – eben nicht, sondern das Kind droht, in den Abgrund ›abzustürzen‹, den die Puppe schafft, wie die Entwürfe zur unvollendeten Kindheitselegie überdeutlich zum Ausdruck bringen. Ebenso wenig kann Narziss’ Herz in der Begegnung mit seinem Abbild ›bestehen‹. Im Gegenteil, gerade diese Begegnung führt seinen ›Herz‹-Tod herbei. Indem er das plötzliche Umschlagen jener Verdoppelung des Selbst in seinen Gegenteil, in einen ›Fremdkörper‹, thematisiert,31 verlässt Rilke den Rahmen der mythischen Vorlage, die die Basis für den hier angestellten Vergleich zwischen Narziss und Quell einerseits und Kind und Puppe andererseits lieferte, denn das Fremdheitsgefühl, das sich beim Kind einstellt seinem ›Puppenspiegelbild‹ gegenüber, wird im Ovid’schen Mythos nicht thematisiert.32 Spiegelungsvorgänge, wie sie bei Rilke in verschiede-
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An der entsprechenden Stelle der unvollendeten Kindheitselegie wird die Puppe bezeichnet als »die gute, das eben / zärtliche Spielzeug, […] [das], umarmt noch, schon fremdlings / schrecke« (II, 459). Im Puppenmotiv sieht Stephens »zwei grundlegende Erlebnismöglichkeiten«
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ner dichterischer Gestalt zu finden sind, bergen immer die Gefahr eines Umschlagens von Identifikation in schroffe Gegenüberstellung; das zeigt sich am prägnantesten in der Spiegelepisode der Aufzeichnungen. Am Motiv der verschwendeten Liebe bzw. Wärme zeigt sich wiederum der Kontrast zwischen der Spiegelung des Narziss im Quell bzw. des Kindes in der Puppe einerseits und der Selbstbespiegelung des Engels andererseits. In der 1. Duineser Elegie werden die Engel nämlich als in sich zurückschöpfende Spiegel beschworen, als »Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit / wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz« (I, 689). Darin besteht die Besonderheit des Engels: Statt sein Innerstes zu veräußerlichen, sich, wie die Menschen, zu ›verausgaben‹, zu verflüchtigen, vermag er, dieses zu bewahren, wieder zu schöpfen, denn Spiegel und Gespiegeltes bilden eine Identität. Das Kind dagegen ›investiert‹ sein seelisches ›Vermögen‹ – so das Bild in Puppen – in eine Attrappe und verlangt eine ›Kostenaufstellung‹ seiner seelischen ›Ausgaben‹. Er verlangt zu erfahren, »Posten für Posten, wofür sie [die Puppe] unsere Wärme eigentlich gebrauche, was aus diesem ganzen Vermögen geworden sei.« (VI, 1068) Um in dieser Bildsphäre zu bleiben, bekommt der Engel beim ›Wiederschöpfen‹ des Entströmten ›den vollen Betrag‹ zurück, ja gewissermaßen ›mit Zinsen‹, heißt es doch in der 2. Duineser Elegie: [...] Fangen die Engel wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei? [...] (I, 690)
Während die Spiegelung des Kindes durch die Puppe letztlich in Aufspaltung und Verlust der in die Puppe projizierten ›Hälfte‹ mündet, und die des Engels in einem ewigen Kreislauf autarker Selbstbespiegelung besteht, entwirft Rilke in den Gedichten aus dem Umkreis: Spiegelungen (II, 181f.) ein drittes Beziehungsmuster. Es geht dort um die fruchtbare Beziehung, die die Frau – im Gegensatz zum Mann – zum Spiegel aufzunehmen vermag.
– »Fremdheit« und »Beteiligung« – zum Vorschein kommen, die beide ihren Ursprung in der Kindheit haben. (Stephens: »Problem des geteilten Ich«, 159 bzw. 162.) Das Motiv der Fremdheit im hier verwendeten Sinne ist mit dem der ›Verdrängung‹ in Verbindung zu bringen, wie sie Rilke im wichtigen Brief vom 8. November 1915 verwendet. Vgl. auch die erst nach Rilkes Tod verfasste Schrift Das Unbehagen in der Kultur von Sigmund Freud, die einen Zusammenhang zwischen Primärnarzissmus und ›Entfremdung‹ herstellt.
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Für sie bedeutet Verdoppelung durch den Spiegel nicht Aufspaltung, sondern Vervollkommnung: »Der Frauen Dürsten nach sich selber stillts.« Erst in der Verdoppelung, die die Spiegelung vollzieht, wird Ganzheit hergestellt: »Sie [die Frauen] müssen doppelt sein, dann sind sie ganz.« (II, 181) Sich Spiegelnde und Gespiegelte gehen eine komplementäre Bindung ein, die zu einem erhöhten Dasein führt: Oh, tritt, Geliebte, vor das klare Glas, auf daß du seist. Daß zwischen dir und dir die Spannung sich erneue und das Maß für das, was unaussprechlich ist in ihr. Gesteigert um dein Bild: wie bist du reich. (II, 181f.)
Hier erfüllt der Spiegel die ihm im Spiegelsonett zugedachte ideale Funktion. Anders beim Mann. »Wir«, so das männliche lyrische Ich des Gedichts, »fallen in der Spiegel Glanz / wie in geheimen Abfluß unseres Wesens;« die Frauen »aber finden ihres dort: sie lesens« (II, 181). Das Kind des Puppenaufsatzes ist in dieser Hinsicht dem männlichen Subjekt gleichzusetzen, für den der Spiegel den »geheimen Abfluß unseres Wesens« darstellt. Die Puppe liege, so der Essay, »tiefer von Natur, so konnten wir unmerklich gegen sie abfließen« (VI, 1070). Allerdings wohnt diesem Bild ein positives Moment inne, denn wir konnten uns auch »in ihr [der Puppe] sammeln«. Zwar findet das Kind sein Wesen in der Puppe nicht so deutlich widergespiegelt wie die Frau beim Anblick ihres Spiegelbildes, die ihr Wesen im Spiegel ›lesen‹ kann, aber das Kind kann »die neuen Umgebungen in ihr erkennen«, – »wenn auch ein wenig trübe« (VI, 1070). Das Spiegelmotiv in seiner ganzen Kontradiktorik manifestiert sich in diesem Bildkomplex des Essays in aller Deutlichkeit. Hier werden der Puppe andeutungsweise die positiven Attribute eines rezeptiven Spiegels bescheinigt; sie fungiert als bewahrender Raum, als aufsammelndes Gefäß, das verhindert, dass das Kind ›verfließt‹.33 Die Vorstellung der Gefäßhaftigkeit des Spiegels hat Rilke oft formuliert. Die hier verwendete Wassermetaphorik untermauert aber auch die Verknüpfung zwischen Spiegel- und Narzissmotiv. Auch sei angemerkt, dass – tiefenpsychologisch gesprochen – in der Vorstellung der Puppe als eines vor dem Verfließen bewahrenden
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Vgl. in diesem Kontext die Etymologie des Wortes ›Balg‹, wie sie am Ende der Interpretation des Puppenessays erörtert wird.
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Gefäßes diese eine Ich-stärkende Funktion erhält. Schließlich prägen auch Bilder des ›Verfließens‹ – das zeigte schon die Interpretation des »Requiems«, – nicht selten mystische Vereinigungsvisionen. Alle diese Komponenten des Spiegelmotivs in seiner Rilke’schen Eigenart scheinen in das Puppenmotiv selbst einzufließen. 2.2.2. Die Geliebte als Gegenüber: Zwei Gedichtinterpretationen Nachdem sich signifikante strukturelle Entsprechungen in der Beziehung des Kindes zur Puppe und des Narziss zum Quell herauskristallisierten, soll jetzt die für den Menschen wohl bedeutendste Form des Gegenübers näher angeschaut werden: die Gestalt der (bzw. des) Geliebten. Auch diese Beziehungskonstellation und die Art, wie sie in Rilkes Dichtung Eingang findet, prägt das Puppenmotiv fundamental. Eine nähere Betrachtung dieser Beziehung, wie sie in zwei Gedichten Rilkes thematisiert wird, soll die Konturen der Puppengestalt deutlicher erscheinen lassen und zu einem näheren Verständnis ihrer Bedeutung für die Kindheitsthematik im Werk dieses Dichters beitragen. Zunächst die Texte: ..... komm wann du sollst. Dies alles wird durch mich hindurchgegangen sein zu deinem Atem. Ich habs, um deinetwillen, namenlos lang angesehen mit dem Blick der Armut und so geliebt als tränkst du es schon ein. Und doch: bedenk ichs, daß ich dieses, mich, Gestirne, Blumen und den schönen Wurf der Vögel aus nachwinkendem Gesträuch, der Wolken Hochmut und was nachts der Wind mir antun konnte, mich aus einem Wesen hinüberwandelnd in ein nächstes, – daß ich eines nach dem andern, denn ich bins, bin was der Tränke Rauschen mir im Ohr zurückließ, bin der Wohlgeschmack, den einst die schöne Frucht an meinen Lippen ausgab,– daß ich dies alles, wenn du einmal da bist, bis rückwärts zu des Kindes niederm Anblick in Blumenkelche, da die Wiesen hochstehn, ja bis zu einem Lächeln meiner Mutter das ich vielleicht, gedrängt von deinem Dasein, annehme wie Entwendetes–, daß ich
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dann unerschöpflich Tag und Nacht soviel entbehrend angeeignete Natur hingeben sollte–, wissend nicht, ob das was in dir aufglüht Meines ist: vielleicht wirst du nur schöner, ganz aus eigner Schönheit vom Überfluß der Ruh in deinen Gliedern, vom Süßesten in deinem Blut, was weiß ich, weil du dich selbst in deiner Hand erkennst, weil dir das Haar an deinen Schultern schmeichelt, weil irgendetwas in der dunkeln Luft sich dir verständigt, weil du mich vergißt, weil du nicht hinhörst, weil du eine Frau bist: wenn ichs bedenke, wie ich Zärtlichkeit getaucht ins Blut, ins nie von mir erschreckte lautlose Herzblut so geliebter Dinge ........... ........... (II, 388f.) »Welt war in dem Antlitz [...]« Welt war in dem Antlitz der Geliebten– , aber plötzlich ist sie ausgegossen: Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen. Warum trank ich nicht, da ich es aufhob, aus dem vollen, dem geliebten Antlitz Welt, die nah war, duftend meinem Munde? Ach, ich trank. Wie trank ich unerschöpflich. Doch auch ich war angefüllt mit zuviel Welt, und trinkend ging ich selber über. (II, 168)
Das Fragment gebliebene Gedicht thematisiert die Beziehung des Liebenden in der Gestalt eines männlichen lyrischen Ich, das der Ankunft der Geliebten harrt, die wohl als visionäre Idealgestalt vorzustellen ist. Die lange zweite Strophe dieses Gedichtfragments besteht aus einem einzigen, nie zu Ende geführten Satz. Die Ankunft der Geliebten wird in eine unbestimmte zukünftige Dimension projiziert. Die Geste der Beschwörung bestimmt die ganze Struktur, den Tenor des Gedichts. Darin ähnelt es dem Spiegelsonett, das mit der Vision des erwarteten Eindringens Narziss’ in die »enthaltenen Wangen« der Schönsten ausklingt. Anklänge an den ursprünglichen Schluss des »Requiems« mit seiner Vereinigungsvi140
sion sind auch herauszuhören, nur stellt sich im »Requiem« als vollzogen dar, was in diesem anderen Gedicht erst antizipiert und ersehnt wird. In der ersten Strophe des Gedichts entdeckt man auch Elemente des Narziss-Motivs, – man beobachte dabei die zwei für dieses Motiv konstitutiven Gesten des Schauens und des Trinkens. Zum Auftakt des Gedichts der einladende Appell: komm wann du sollst. Dies alles wird durch mich hindurchgegangen sein zu deinem Atem. Ich habe, um deinetwillen, namenlos lang angesehen mit dem Blick der Armut und so geliebt als tränkst du es schon ein. (II, 388)
Der Sprechende kann als eine kurz vor der ›Klärung‹ und ›Lösung‹ stehende Narzissgestalt verstanden werden; darin ähnelt er dem Narziss des ›Spiegelsonetts‹ aus den Sonetten an Orpheus, dessen Verwandlung nicht im Zentrum des Gedichts steht, sondern erst, eher unvermittelt, in den Schlusszeilen angedeutet wird. Hier ist der Leser dem Akt der Vereinigung zwischen dem narzisshaften lyrischen Ich und der erwarteten Geliebten – der ›Schönsten‹ – näher gerückt. Im Vokabular des Spiegelsonetts mag die hier verheißene ›Klärung‹ und ›Lösung‹ bedeuten, dass es dieser Narzissgestalt bald gelingen wird, ›Weltinnenraum‹ herzustellen.34 Wie in »Es winkt zu Fühlung [...]« die Vögel »still / durch uns hindurch [fliegen]«, wird hier alles bald durch ihn »hindurchgegangen sein«. Die zweite Strophe führt diese Vereinigung von Innenraum und Weltraum in einer Reihe von Bildern vor. Dabei ›wandelt‹ der Sprechende »aus einem Wesen in ein nächstes [hinüber]«. Das Verb ›hinüberwandeln‹, bei dem beide Bedeutungen des Verbes ›wandeln‹ aktiviert werden, suggeriert einen einzigen dynamischen Akt der allmählichen Assimilation der Außenwelt seitens des lyrischen Ich. In der erwarteten Herstellung des Allbezugs zwischen Ich und Welt verheißt die Vision auch eine Konvergenz aller Lebensalter des lyrischen Ich. So wird die Kindheit auf dem ›Wandelweg‹ des Sprechenden heraufbeschworen und in den Prozess der Assimilation
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Als »der klare gelöste Narziß«, der von der Schönen aufgenommen wird, fungiert die Narzissgestalt des Spiegelsonetts sozusagen als das ›Objekt‹ der Vereinigung. Als Eindringendem hingegen wird ihm eindeutig die aktive Rolle zugewiesen; er erscheint so als Subjekt des Vorgangs. So ist man einer Versöhnung bzw. einer Auflösung der Subjekt-Objekt-Polarität sehr nahe, wie sie im ›Weltinnenraum‹ erfolgt.
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miteinbezogen; das lyrische Ich ›wandelt‹ »bis rückwärts zu des Kindes niederm Anblick / in Blumenkelche, da die Wiesen hochstehn«. Man beachte, die Perspektive des Kindes diktiert den Blickwinkel dieser Verse: Die Augen des Kindes sind auf derselben Höhe wie die Blumenkelche, so dass es unmittelbar in deren Inneres hineinschauen kann. Der Raum, den dieses Gedicht entwirft, kann man als den Raum des Spiegels, als ›Zwischenraum der Zeit‹ betrachten, will sagen, den Raum der ›senkrechten‹ Zeit, in der Zukunft und Vergangenheit zusammenfallen.35 Erzeugt wird der ›Zwischenraum‹-Charakter des ›Gedichtraums‹ durch die Dehnung des ›Augenblicks‹ der bereits beschriebenen, perpetuierten Antizipation. Der erste Vers endet unmittelbar vor dem Verb, das uns sagt, was sich in der hier projizierten Zukunft bzw. ›Zusammen‹-Kunft vollziehen wird. Die Verseinteilung erzeugt beim Leser dieselbe Antizipationshaltung, die das lyrische Ich einnimmt, und lässt den Rest des Gedichts zur Fortsetzung dieser fortwährenden Erwartung werden. Das Gedicht bewegt sich in einem Raum zwischen Verheißung und Vollzug. Nicht zuletzt in diesem Sinne ist die Situation als ›narzisstisch‹ im Sinne des Ovid’schen Mythos zu bezeichnen.36 Für das Gelingen der hier evozierten Vereinigung von Weltraum und Innenraum ist das Schauen, das ›lange Ansehen‹ entscheidend, denn die ›Verinnerlichung‹ gelingt mittels dieses Schauens. Die auf diese Art ›aufgenommenen‹ Bilder werden zum ›Getränk‹, das die Geliebte wiederum in sich ›aufnehmen‹ soll. Im mythischen Bild des Quells, vor dem Narziss harrt, deuten sich diese beiden Arten an, das Gegenüber zu erfahren: indem man es schaut, und indem man es ›trinkt‹. Schließlich will Narziss sich gewissermaßen an seinem Bild ›stillen‹.37 In diesem Gedicht erfährt die Narzissgestalt aber eine entscheidende Transformation, eine neue, Rilke’sche Färbung. Denn sie erscheint hier nicht im sprichwörtlichen Sinne als in sich selbst Verliebte, sondern ihre ›narzisstische‹ Liebe gilt dem Weltraum. Der Geliebten wiederum will das lyrische Ich den im Prozess der Assimilation angeeigneten Weltraum vermitteln, indem es sich mit ihr vereinigt. In der gegenseitigen Durchdringung von Welt- und Innenraum ›klärt‹ es sich,
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Siehe Allemann, der die Formel ›senkrecht stehende Zeit‹ prägte (Zeit und Figur, 297). Vgl. hierzu Kunz’ Charakterisierung der ›narzisstischen‹ Situation (Kunz: Narziß, bes. 1ff.). Dass der reale Versuch, das Bild im Quell zu trinken, gleichzeitig sein Verschwinden bedeuten würde, gehört wesentlich zum Dilemma des Ovid’schen Narziss.
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›löst‹ es sich auf, und »dies alles« soll im Augenblick der Vereinigung in die Geliebte übergehen. Man erinnere sich an das Bild der ›uns Trinkenden‹ am Ende des »Requiems«. Diese Vorstellung ist aber auch mit großer Angst besetzt. Der Sprechende fürchtet, die von ihm »unerschöpflich Tag und Nacht soviel / entbehrend angeeignete Natur« werde der Geliebten übergeben, ohne dass er weiß, wie er sagt, »[...] ob das / was in dir aufglüht Meines ist: [...]« (II, 389). Er befürchtet, er könne in der Geliebten ganz und gar aufgehen, sich restlos auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen, höchstens nur sehr mittelbar etwas bewirkend: »[...] vielleicht / wirst du nur schöner, ganz aus eigner Schönheit«. In der adverbialen Bestimmung »ganz« negiert sich sogar noch diese letzte Möglichkeit der Selbsterhaltung. Die Ankunft der Geliebten wird nicht zu einer Begegnung des lyrischen Ich mit einem Du. Stattdessen wird dieses sehr bald die Position des Gegenüberseins aufgeben, so dass der letzte Schritt des bereits initiierten Assimilationsprozesses geschehen kann, – nur diesmal wird es selbst assimiliert, und zwar von der Geliebten. Über diese als Medium fungierende Narzissgestalt wird die Geliebte die Natur trinkend sich aneignen. Die Beziehung zwischen Narzissgestalt und Geliebter in diesem Gedicht ist in ihrer Struktur der der ›figuralen‹, wie sie in der Beziehung zwischen Sphinx und Weltraum präfiguriert ist, diametral entgegengesetzt. Bedingung für die ›figurale‹ Beziehung ist bei allem Potential zur gegenseitigen Durchdringung das Gegenüberstehen und -›bestehen‹ der beiden beteiligten Beziehungs-›Koordinaten‹. In der Sternenkonstellation, die das idealtypische Muster für die ›Figur‹ abgibt,38 folgt jeder Stern seiner eigenen Bahn; jeder wird zum Gegenüber des anderen. Nur so können sie sich gegenseitig bespiegeln, wie es Sphinx und Weltraum tun.39 Die Begegnung
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Im Sternbild bzw. vielmehr in der Sternenkonstellation findet man die Rilke’sche ›Figur‹ auf ideale Weise ›kon-figur-iert‹. Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 70ff. Bei der Sphinx war vornehmlich das Antlitz in den Bespiegelungsprozess einbezogen. Auch beim Menschen ist es das Antlitz, das zur Spiegelfläche wird. Allemann konstatiert, in Rilkes Werk stelle »das Gesicht schon von früh an die eigentliche Stelle des menschlichen Austausches mit dem Weltraum« dar. Man vergleiche das Gesicht des Dichters, das zum »eigentliche[n] Gegenpol des unfaßlichen Nacht-Raums« wird (Allemann: Zeit und Figur, 218). Darin steckt natürlich die Vorstellung einer Übersetzung des Unfasslichen in dichterische Bilder, eines Heranholens von uns transzendierenden Sphären durch die Dichtung. Doch ist es bezeichnend, dass bei Rilke solche Beziehungen, bei denen die beiden ›Fixpunkte‹ der Konstellation ihre Position des Gegenüberseins behalten,
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zwischen Liebendem und Geliebter im Gedicht wird zu einer Art Einverleibung des Einen durch die Andere. Die hier erörterte Motivik geht in das erst 1924 geschriebene Gedicht »Welt war in dem Antlitz der Geliebten [...]« ein. Hier erhält das Antlitz der Geliebten die rezeptiv-reflektorische Qualität des idealen Spiegels insofern, als es wie ein Gefäß fungiert, das ›Welt‹ in sich ›sammelt‹ und diese wiederum ›reflektiert‹, wobei es eine mediale Funktion dem Liebenden gegenüber erhält.40 Hier, wie im Gedichtfragment , erfolgt die Vermittlung von Welt über die Geliebte: In der Metaphorik des Gedichts, die der von stark ähnelt, erfährt der Liebende Welt nicht, indem er in das Antlitz der Geliebten schaut, sondern indem er aus ihm ›trinkt‹; die rezeptive und reflektorische Funktionen des Spiegels – hier in Form vom Antlitz der Geliebten – lassen sich hier nicht mehr auseinanderdividieren.41 Das lyrische Ich dieses Gedichts nimmt die Perspektive desjenigen ein, für den ein solcher rezeptiv-reflektorischer Spiegel nicht mehr vorhanden
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nicht unter Menschen hergestellt werden, sondern bevorzugterweise zwischen Mensch und Raum. Vgl. Rilkes Bild vom Antlitz der Götter, dem wir uns von hinten nähern, als träten wir in den Hohlraum einer Maske, und zwar so, »daß unsere Antlitz und das göttliche Gesicht in dieselbe Richtung hinausschauen« (RBr II, 511). Rilke fragt dann folgerichtig: »[...] und wie sollen wir demnach aus dem Raum, den der Gott vor sich hat, auf ihn zutreten?« (Ebenda, 511.) Vgl. in Kontrast hierzu das Antlitz im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]«, das dem Geliebten gegenüber erscheint und dabei eine Spiegelfunktion erhält. Die Begegnung mit Gott bzw. den Göttern gestaltet sich ungleich schwerer. Peter Pors Interpretation der Aufzeichnungen fokussiert sich auf das »Emblem des ›Gesicht[s]‹« – als in allen möglichen Gestalten und Kontexten des Romans auftretenden Motivs – das er als »Emblem des Negativen bzw. der Leere« deutet. Eine solche »Leere« meint er auch in den »geschriebenen Worte[n] des Textes« entdecken zu können; er spricht von »›Signalworte[n]‹ der Leere«. (Peter Por: »›Hyperbel [des] Weges‹ und ›Inschrift [des] Daseins‹«: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.« In: Colloquia Germanica 31 [1998], 117–53; hier 118.) Wie Por behauptet, wohlgemerkt ohne dies am ›geschriebenen Wort‹ zu verdeutlichen: »Das alleinige und einzige Thema des Romans [...] ist nichts geringeres als die stete Konstruktion der Leere selbst, des Nichts [...].« Die Kohärenz des Textes werde »durch Antinomien hervorgebracht, die in keine Synthese gefaßt werden können« (121). Abgesehen davon, dass ein solches Pauschalurteil der Komplexität des Textes in keiner Weise gerecht zu werden vermag, übersieht Por, um beim Beispiel des Gesichts anzusetzen, die Zweidimensionalität des Rilke’schen Gesichts, sein utopisches Potential in seiner Funktion als rezeptivreflektorischem Spiegel. In dieser Funktion stellt es kein »Emblem [...] der Leere« dar; vielmehr verheißt es, wenn man so will, eine ›Utopie der Fülle‹. Das Gesicht der Puppe etwa erhält eine solche Zweidimensionalität.
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ist. Der plötzliche Umschlag, von dem berichtet wird – »aber plötzlich ist sie [Welt] ausgegossen:« – beschreibt die als gewaltsam empfundene Trennung von der Geliebten, infolge der ›Welt‹ sich auf einmal dem Zugriff des Sprechenden entzieht, und das heißt: die Position des Gegenüberseins bezogen hat: »Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen.« In der zweiten, den Verlust dieser ›innigen‹ Beziehung zur Geliebten und damit zugleich zur ›Welt‹ beklagenden Strophe taucht dann das Motiv des Trinkens auf. Es kommt Trauer auf über das zunächst phantasierte Versäumnis, man habe die Möglichkeit, Welt auf diese Weise zu ›verinnerlichen‹, nicht wahrgenommen: Warum trank ich nicht, da ich es aufhob, aus dem vollen, dem geliebten Antlitz Welt, die nah war, duftend meinem Munde? (II, 168)
Doch dann besinnt sich das lyrische Ich: Ach, ich trank. Wie trank ich unerschöpflich. Doch auch ich war angefüllt mit zuviel Welt, und trinkend ging ich selber über. (II, 168)
und in einem ›Rilke’schen‹ Umschlag erkennt es auf einmal, dass der beklagte Verlust nicht von der Geliebten verursacht wurde, sondern auf die eigene Begrenztheit zurückzuführen ist. Auf einmal nimmt das lyrische Ich selbst die Gestalt eines Gefäßes an, das »mit zuviel / Welt« angefüllt wird und diese nicht mehr ›zu fassen‹ vermag. Der mehrdeutige Ausdruck ›zu fassen‹ kommt dem Sinn dieser Verse entgegen: Das ›Fassungsvermögen‹ des Menschen ist begrenzt. Nicht einmal der durch die Geliebte vermittelte Allbezug bleibt auf Dauer aufrechterhalten. Irgendwann ›läuft‹ das begrenzte Gefäß ›über‹: »trinkend ging ich selber über« heißt es hier. Das besagte auch »Vor Weihnachten 1914«, wo es hieß: [...] O daß du immer wieder wehren mußt: genug, statt: mehr! zu rufen, statt Bezug in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche? (II, 98)
Um ›Bezug‹ in sich ›reißen‹ zu können, müsste der Mensch als ›Gefäß‹ die Dimension eines Abgrundes entfalten. Aber er hat ja nur ein ›schwächliches 145
Herz‹. Für den begrenzten Menschen wird ein Übermaß an ›Welt‹ bzw. ›Bezug‹ zur Bedrohung, gegen dessen Ansturm er sich schützen muss. Um den Bogen zur Puppen- und Kindheitsthematik zu spannen: Für das bald begrenzte, in der Sprache der 8. Duinese Elegie ›gewendete‹ Kind gewährt die Puppe den benötigten Schutz, und zwar in zweifachem Sinne. »Sie [die Puppe] erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, [...] uns gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom Leibe zu halten.« (VI, 1067). Die Puppe bildet also eine Art Damm, der den Ansturm von ›Welt‹ abhält, die in das Kind einzudringen droht.42 Sie steht zwischen Kind und Welt ähnlich dem Spielzeug im »Requiem«, das, wie das lyrische Ich sagt, »zwischen mir und meinem Hut« steht.43 Aufgrund dieser Zwischenstellung erfüllt sie aber eine zweite Schutzfunktion: Sie verkörpert nämlich ein erstes annehmbares Gegenüber, vor dessen Dasein das Kind nicht ›zu vergehen‹ droht. Im Puppenaufsatz wird auf die Unfähigkeit des Kindes, eine Beziehung zu einem echten Gegenüber einzugehen, ausdrücklich hingewiesen, lautet doch ein Kernsatz des Essays: »Der einfachste Verkehr der Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus, mit einer Person, die etwas war, konnten wir unmöglich leben und handeln [...]« (VI, 1067). Die Puppe stellt also kein authentisches, aber als solches zugleich bedrohliches Gegenüber dar. Genauso wenig gehört sie zu den Dingen im eigentlichen Sinne. Darin gründet ihre letztendliche Fremdheit, der das Kind in einem Augenblick der Offenbarung gewahr wird: »Aber wir begrif42
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Stephens bezeichnet die Notwendigkeit des Kindes, ›sich die Welt vom Leibe zu halten‹, als »Zwang«: »Im idealen Stande der Kindheit finden sich dagegen solche Schranken nicht«, behauptet er und setzt Kindheit und ›Weltinnenraum‹ gleich, indem er fortfährt: »Sie finden sich auch nicht in der ›transzendenten Subjektivität‹ des ›Weltinnenraums‹.« (Stephens: »Problem des geteilten Ich«, 165.) Hierbei bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass ›die Kindheit‹ keinen homogenen Zustand darstellt, sondern im Gegenteil in einem fortwährenden Entwicklungsprozess besteht. In der Behandlung der Kindheit als gleichbleibenden Zustands sehe ich auch das Hauptproblem bei Manfred Kochs Interpretation der Aufzeichnungen: ›Mnemotechnik des Schönen‹. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988. Die meisten Literaturwissenschaftler, die sich mit Rilkes Puppenessay auseinandersetzen, u.a. Eva-Maria Simms und Angelika Ebrecht, sehen in der Puppe ein ›Übergangsobjekt‹ im Sinne David Winnicotts. Obwohl es verlockend ist, eine solche Theorie auf den Essay anzuwenden, greift der psychoanalytische Ansatz hier zu kurz, beleuchtet er doch höchstens Teilaspekte des ›Phänomens‹ Puppe; seine poetische Gestalt, sein poetologischer Gehalt, und das heißt das Wesentliche am Phänomen der spezifisch Rilke’schen Puppe bleibt von einer solchen Psychologisierung weitgehend unberührt.
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fen bald«, heißt es, »daß wir sie [die Puppe] weder zu einem Ding noch zu einem Menschen machen konnten, und in solchen Momenten wurde sie uns zu einem Unbekannten, und alles Vertrauliche, womit wir sie erfüllt und überschüttet hatten, wurde uns unbekannt in ihr.« (VI, 1070) Somit bedeutet der plötzlich Umschlag innigster Vertrautheit in schroffe Fremdheit, wie Puppen und die unvollendete Kindheitselegie ihn gleichermaßen darstellen, nicht bloß eine Trennung der Welt in Subjekt und Objekt, wie sie im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]« vollzogen wird. Denn nach dieser Trennung geht die Beziehung des lyrischen Ich zur Geliebten nicht verloren, sondern sie gewinnt lediglich eine neue Struktur: ›Welt‹ ist zwar ›ausgegossen‹, aber sie ist noch da, ›draußen‹, wenn auch nicht ›zu fassen‹ im Sinne des Vereinigungsszenarios, das das Gedicht zunächst beschwört. Die Geliebte wird zum Gegenüber. Aufgrund des Surrogatcharakters der Puppe ist der durch die Entfremdung verursachte Verlust gravierender: »Gefüllt mit der Hälfte des Daseins« – so die unvollendete Kindheitselegie – ›bricht‹ die Puppe ›ab‹. Sobald aber der Schreibende anfängt, die Puppe in all ihrer verräterischen Fremdheit wahrzunehmen, eröffnet sich eine neue Dimension ihres Wesens: Daß wir dich aber dann doch nicht zum Götzen machten, du Balg, und nicht in der Furcht zu dir untergingen, das lag daran, will ich dir sagen, daß wir dich gar nicht meinten. Wir meinten etwas ganz anderes, Unsichtbares, das wir über dich und uns, heimlich und ahnungsvoll, hinaushielten, und wofür wir beide gleichsam nur Vorwände waren, eine Seele meinten wir: die Puppenseele. (VI, 1070)44
Wenn der Essayist die Puppe in ihrer stofflichen Gestalt als ›Vorwand‹ bezeichnet, so ist er wach für die möglichen, vom konkreten Ausdruck ableitbaren Bedeutungsnuancen dieses Wortes. Als eine Art Sperre zwischen Kind und Welt stellt sie gewissermaßen eine ›Vor-Wand‹ dar, sie bildet
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In ihrer in starkem Maße psychoanalytisch orientierten Deutung des Puppenessays stellt Eva-Maria Simms dieses in den Kontext von Freuds Narzissmustheorie und seinen Reflexionen über das Unheimliche. Simms sieht in der Puppe eine ganz und gar negative Gestalt, die die Interpretin gewissermaßen psychopathologisiert. Sie schreibt: »[...] the doll [...] embodies the victory of death and destruction over the life of the organism – the archetypal image of primary masochism.« (Eva-Maria Simms: »Uncanny Dolls: Images of Death in Rilke and Freud« in: New Literary History 27 [1996], 663–677; hier 676.) Den Umschlag, den die Puppengestalt im Laufe des Essays erfährt, lässt Simms außer Betracht.
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eine ›Wand‹, die ›vor‹ die noch schwach entwickelten Ich-Grenzen des Kindes, sprich die ›Wand‹ des Kindes-Ichs gestellt wird. ›Vor-Wand‹ ist sie auch als Ersatzobjekt, als Surrogat für das eigentliche Liebesobjekt, sei es Mutter oder Geliebte, d.h. für die zu starke »Person, die etwas war«.45 Wie der Puppenessay sagt, sind aber Kind und Puppe »beide […] nur Vorwände« (Hervorhebung der Vf.). Hinter diesen Vorwänden ist also nach der ›wirklichen‹ Beziehung zwischen Kind und Puppe zu suchen. Diese Suche führt einerseits zur unvollendeten Kindheitselegie und andererseits zum Schluss des Puppenaufsatzes hin, wobei diese beiden Texte bei aller thematischen und motivischen Affinität letztlich unterschiedliche poetische ›Antworten‹ auf die Frage geben, – Visionen entwerfen, wenn man so will –, die man vorsichtig als eine figurale und eine mystische bezeichnen könnte.46 Zunächst wende ich mich der unvollendeten Kindheitselegie zu, die im Hinblick auf den hier erörterten Themenkomplex näher untersucht werden soll. 2.2.3. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Judasbaum-Motiv Die unvollendete Kindheitselegie entstand 1920, einige Jahre nach Niederschrift des Essays Puppen und der beiden in diesem Kontext bedeutsamen Gedichte »Vor Weihnachten 1914« und »Requiem auf den Tod eines Knaben«. Trotz des zeitlichen Abstands zu diesen Werken der früheren Jahre zeigt die hierin wieder aufgegriffene Puppenmotivik die Nähe der Elegie zu ihnen. Nicht nur in Bezug auf die Motivik gewinnt man den Eindruck einer großen Nähe der Elegie zu diesen früheren, Kind und Kindheit thematisierenden Dichtungen. Die Elegie blieb Fragment. Signifikant ist dabei die Tatsache, dass Rilke die letzte Fassung hinter Vers 45 abbrechen lässt, also unmittelbar, bevor das Puppenmotiv Eingang findet ins Gedicht.47
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Die Puppe ist auch ›Vorwand‹ im poetologischen Sinne, wie der eingangs zitierte Brief Rilkes an Lou Andreás-Salomé zeigt (RBr II, 464). Allemann schreibt: »Auf dieses Äußerste hin [die ›figurale‹ Dichtung] ist die ganze Spätdichtung Rilkes vom Abschluß des ›Malte‹ an unterwegs[...] Man müßte die Gestalten der künftigen Geliebten, des Engels, aber auch der Puppe in ihren allmählichen Auskristallisierungen konsequent unter diesem Gesichtspunkt betrachten, um ihren eigentlichen poetologischen Sinn zu bestimmen.« (283) Dazu möchte ich beitragen. Wenn Steiner in seiner Besprechung der Elegie die Puppe »als wichtigstes Motiv« bezeichnet, »auf das hin das ganze Gedicht angelegt ist« (Steiner: »Motiv der Puppe«, 143), so berücksichtigt er wohl nicht diesen Aspekt ihrer Entstehungsgeschichte.
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Zudem gibt es vier in die letzte Fassung nicht aufgenommene Entwürfe, die als Einschübe zwischen einzelne Verse gedacht waren, und drei davon handeln von der Puppe. Ob das Puppenmotiv letztlich fallen gelassen werden sollte oder nicht, sei dahingestellt. Ästhetische Gründe für eine Streichung des Puppenmotivs lassen sich erahnen. Die Elegie besitzt nämlich eine prononcierte Heterogenität sowohl der Form als auch der Motivik. Die erste Strophe (Verse 1–20) wird von der Perspektive des Erwachsenen diktiert; der Sprecher, der an ein unbestimmtes Du appelliert, nimmt die gnomische Haltung ein. Mit der zweiten Strophe erhält die Elegie unvermittelt eine dramatische Form. Ansätze eines Dialogs zwischen dem Sprechenden und einer Muttergestalt entstehen, wobei diese in Form der direkten Rede zum lyrischen Ich spricht. Die dritte Strophe besteht in einer Erwiderung ihrer Worte durch das lyrische Ich, wobei die gnomische Geste des Eingangs wieder aufgenommen wird. Nach der dritten Strophe erfolgt ein zeitlicher Perspektivenwechsel: Mit der Thematisierung der Angst, die einen Leitgedanken der wichtigen fünften Strophe bildet, wird die Kindheit in das Präsens der aktualisierten Inszenierung geholt. Das Gedicht führt die erste Begegnung des Kindes mit der Angst vor Augen und lässt den Leser die Stimmung des Szenarios und die durch sie ausgelösten Affekte unmittelbar spüren. Diese Strophe enthält die zwei wesentlichen Motive der Elegie, die in ihrer jeweils extrem verdichteten Form weit über sich hinausweisen: den Judas-Baum und die Puppe. Letztere wird dann auch zum dichterischen Gegenstand der abschließenden, unvermittelt abbrechenden Strophe. Das Elegiefragment in der heutigen Form setzt also mit einem rückschauenden Loblied auf die Kindheit und ihre nie nachlassende Bedeutung für den Menschen im Erwachsenenleben an und richtet als Nächstes den Blick auf die pränatale Zeit, die bald eine fast mythische Färbung erhält, um dann zum Schauplatz der Kindheit zu gelangen. In der Anrufung der Puppe in der Schlussstrophe beschwört die Elegie von diesem Standort aus eine sich ins Transzendente steigernde Vision, die, wie die Elegie selbst, mit einem jähen Abbruch endet. Soweit die vordergründige Bewegungslinie der Elegie. In dieser Interpretation will ich einen etwas ungewöhnlichen Weg einschlagen und sofort beim Motiv des Judas-Baumes ansetzen, das auch den Schwerpunkt dieser Interpretation bilden wird, um von diesem aus zur Puppe einerseits, zum Anfang des Gedichts andererseits zu gelangen. Die Ergebnisse der Interpretation werden die Vorzüge dieses Verfahrens deutlich machen. 149
Der Kontext, in den das Judas-Baum-Motiv gestellt wird, bildet das ins Mythisch-Traumhafte, Surreal-Expressive gleitende Kindheitsszenario, das die erste vom Kind gemachte Erfahrung der Angst in starken Bildern ausmalt. Die Angst wird dabei zu einem nicht näher spezifizierten Konkretum, das »Zugluft [...] herein[zuckt] durch die Fugen« und das Kind »[v]om Rücken [an]huscht [...] überm Spielen«, um ihm dann »Zweitracht ins Blut [zu zischeln]« (II, 458f.).48 Auf dieses Szenario folgen dann die dunklen Verse, die mich noch beschäftigen werden: [...] die raschen Verdachte, es würde immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal alle verbindbar, des Daseins, – und alle zerbrechlich. (II, 459)
Die Inszenierung, bei der die Angst als Hauptagens fungiert, wird fortgesetzt unter Anführung des uns hier interessierenden Motivs: Und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder Ast am Judas-Baume der Auswahl wachsend verholze. (II, 459)
Mit diesen Versen schließt die Elegie dann auch in der letzten Fassung ab, – vor der Einführung des scheinbar völlig neuen Motivs der Puppe. Kraft seiner Profilierung erhält dieses Motiv also eine Schlüsselstellung im Gedicht und beansprucht folglich unsere besondere Aufmerksamkeit. In den mir bekannten Interpretationen wird dem Judas-Baum keine hervorragende Bedeutung beigemessen.49 Ich möchte hier eine vielleicht etwas
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Romano Guardini weist darauf hin, dass hier »das Bild des Paradieses heraufspielt, in welchem die Schlange den Menschen mit Gott und eben damit mit sich selbst entzweit«, fügt aber hinzu, – und darin pflichte ich ihm bei –, »daß Schlange und Entzweiung des Gedichts vom Geschehen des Paradieses ebenso weit entfernt sind, wie Rilkes Kundtun von der Botschaft Jesu«. (Romano Guardini: »›Kindheit‹. Interpretation eines Elegienfragments von Rainer Maria Rilke«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge 1 [1960], 185–210; hier 199.) Die zum Schluss gewagte, lediglich den Wert einer nicht weiter ausgeführten Arbeitshypothese erhaltende Korrelation zwischen Angst und Schlange, Puppe und Weib, Kind und Adam erscheint mir weit hergeholt. (Ebenda, 209; vgl. auch Steiner: »Motiv der Puppe«, 145.) Steiner lässt ihn ganz unerwähnt; Guardini fasst sich in seinen diesbezüglichen Bemerkungen sehr allgemein und sieht im Judasbaum zunächst nur den
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kühne Deutung dieses Motivs zur Diskussion stellen, die sehr bald das Terrain des Textes verlässt, aber als Ausgangspunkt für eine, wie ich meine, schlüssige Deutung dieses stellenweise doch sehr dunklen Elegiefragments dient, und somit auch zu einem tieferen Verständnis des Puppenmotivs und mit ihm der Kindheitsthematik in seiner größeren, auch poetologischen Dimension beitragen kann. In der Verwendung des Judas-Baumes an dieser Stelle ist kein beliebiges oder undifferenziert-evokatives Bild zu sehen. Im Wissen um die besonderen Merkmale dieses Gewächses erhärtet sich vielmehr die Vermutung, dass eine sehr bewusste Wahl gerade dieses Baumes vorgenommen wurde, der hier einen vielschichtigen Verweisungskomplex schafft. Die Angst, die, vom Winde vorangetrieben, über den Rücken des spielenden Kindes huscht und »des Willens Gerte« »im Rückgrat« des Kindes »[an]spaltet«, das Kind also in Ansätzen zweiteilt, bewirkt letztlich, dass der Wille des Kindes – im Bild der Gerte – sich gabelt und in dieser Form verholzt, wobei »ein zweifelnder Ast am Judas-Baume der Auswahl« wächst. Aus der grünen, biegsamen, monolithischen Gestalt der Gerte wird also ein JudasBaum, der sich verzweigt. Zwei für den Judas-Baum charakteristische Eigenschaften sind für ein Verständnis dieses Bildkomplexes von besonderer Bedeutung: Zum einen ist wohl Bezug zu nehmen auf eine Zierform der Gattung, bei der die rosa- bis purpurroten Blüten vor den Blättern erscheinen. Hier vollzieht sich gewissermaßen eine Umkehrung des ›natürlichen‹ Wachstumsprozesses, der ›natürlichen‹ Zeitfolge, – auch wenn dies, wie
undifferenzierten Baum, – »für Rilke überhaupt ein Baum des Daseins«. Es gehe hierbei »um das Schlimme im Dasein« (Guardini: »›Kindheit‹«, 200). Das Spezifikum, die Tatsache, dass es sich hierbei um den Judas-Baum (Cercis siliquastrum) handelt, stellt er in den biblischen Kontext: »Der ›Judasbaum‹ wächst um die Adria wild und trägt den Namen des Verräters, weil seine lilafarbenen Blütchen wider die Ordnung vor den Blättern erscheinen.« (Ebenda, 200). Den Bezugspunkt sieht Guardini also im Verrat als Manifestation des »Schlimme[n] im Dasein«. Diese Interpretation erscheint mir in zweierlei Hinsicht fragwürdig. Zum einen gibt es eine ganze Reihe von Gewächsen, bei denen die Blüten vor den Blättern erscheinen, – Forsythie, Winterjasmin, Magnolie, um nur einige zu nennen –, so dass von einer biologischen Ordnung, gegen die dieser Baum verstoße, nicht die Rede sein kann. Zum anderen scheint mir die Interpretation zu allgemein gefasst; der (zu erwartende) zwingende Bezug zum dichterischen Kontext bleibt unbeleuchtet. Guardini nennt zwar eine botanische Eigenart dieses Baumes, bezieht sie aber, außer um die volkstümliche Etymologie dessen Namens zu erörtern, in seine Interpretation der Elegie nicht mit ein. Aber gerade die botanischen Eigenarten dieses Baumes sind hier, wie ich behaupte, besonders signifikant und sinnstiftend.
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bereits vermerkt wurde, keine botanische Seltenheit darstellt. Dass dieser Umstand so etwas wie Täuschung oder Verrat suggeriert, spiegelt sich im volkstümlichen Namen des Baumes wieder, der sich auf die biblische Gestalt des Judas bezieht: als Verräter Jesu, der den Gottessohn verrät und verkauft, indem er ihn küsst. Hinter der Geste des Kusses steht nicht das, was eine solche Geste für gewöhnlich signalisiert, sondern dahinter verbirgt sich Verrat; der Kuss ist Täuschung. Als zweiter signifikanter Aspekt dieses Bildes ist die botanische Eigenart zu nennen, dass aus dem alten Holz des Judas-Baumes oft sogenannte ›Schmetterlingsblüten‹ hervorbrechen. Diese für die Ordnung der Hülsenfrüchtler charakteristischen Blüten sind kelchförmig und bestehen aus fünf verschiedenartigen Blumenblättern, wobei das größte die sogenannte ›Fahne‹ bildet mit je einem ›Flügel‹ und einem ›Schiffchen‹ an jeder Seite.50 Die Frucht besteht aus einer in zwei Hälften aufspringenden Hülse oder in einer Gliederhülse, die zwei Teilstücke mit je einem Samen enthält. Zu solchen Fruchtarten gehören beispielsweise Erbse, Linse, Bohne und Erdnuss. Bedeutsam an diesem Katalog botanischer Merkmale ist also, dass solche Blüten aus dem alten Holz sprießen, und dass die Frucht zweigeteilt ist. Auch hier ist eine Abweichung vom üblichen Wachstumsprozess zu vermerken, denn die Blüten entstehen aus altem Holz. Wenden wir uns jetzt der Anfangsstrophe der unvollendeten Elegie zu und lesen vor diesem Hintergrund: Laß dir, daß Kindheit war, [...] [...] nicht widerrufen vom Schicksal; selbst den Gefangenen noch, der finster im Kerker [...] verdirbt, hat sie heimlich versorgt bis ans Ende [...]
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Meyers Neues Lexikon, 21973, Bd. 19, 273. Man vergleiche die Stelle, wo es heißt: »die raschen Verdachte, es würde immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal alle verbindbar, des Daseins«. An Hand dieser Information lässt sich diese ansonsten nicht näher erklärbare Angabe von fünf Stücken erhellen, und es erhärtet sich die Annahme, dass Rilke hier ganz gezielt die Gestalt des Judasbaumes mitsamt seinen botanischen Eigenarten im Auge hatte und dessen Spezifikum auf der symbolischen Sinnebene des Gedichts wirksam wird, wenn auch dieser Zusammenhang für den botanikunkundigen Leser nicht ohne Weiteres herstellbar ist. Guardini deutet diese Stelle als Ausdruck eines Zerfallens des Daseins in ein zeitliches Nacheinander, bietet aber keine Erklärung für die genaue Angabe von ›fünf Stücken‹ (Guardini: »›Kindheit‹«, 199f.). Im Verlauf der Deutung der Kindheitselegie werde ich eine Lesart dieser Passage zur Diskussion stellen.
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[...] ihm selbst fruchtet die Kindheit. Reinlich in der verfallnen Natur hält sie ihr herzliches Beet. Nicht, daß sie harmlos sei; der behübschende Irrtum, der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich getäuscht. (II, 457)
In den soeben erörterten Zusammenhang der Judasbaumsymbolik gestellt erhellen sich diese Verse zunehmend. So wie aus dem alten Holz des Judas-Baumes Schmetterlingsblüten hervorsprießen, so sprießen auch aus dem Erwachsenen (selbst dem Gefangenen oder Kranken) Blüten hervor.51 Das ›Beet‹ der Kindheit ist »in der verfallnen Natur«, d.h. im ›alten Holz‹ des Erwachsenen, zu finden. Man kann die Schmetterlingsblüte als »de[n] behübschende[n] Irrtum« auffassen, der die Kindheit »verschürzt und berüscht«, auch wenn im Text kein expliziter Hinweis in diese Richtung ausfindig zu machen ist, denn beim real existierenden Gewächs erscheinen die Blüten vor den Blättern, also ›irrtümlich‹. Diese Blüte soll wohl der Kindheit als Schutzhülle dienen; sie ›verschürzt‹ und ›berüscht‹ sie,52 erweist sich jedoch als ›vergängliche Täuschung‹ (man sei an das mit dem Judasbaum verknüpfte Motiv des Verrats erinnert), die die Kindheit 51
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Ist es ein Zufall, dass diese Blüten ›Schmetterlingsblüten‹ heißen? Man denke an die zweite, erst am Schluss des Puppenessays aktivierte Bedeutungsebene der ›Puppe‹ (siehe Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit). Guardini liefert eine bedenkenswerte Interpretation dieser Stelle, für die er Anhaltspunkte in der Biographie des Dichters zu finden glaubt. Sie stützt sich auf eine frühe Erinnerung des kleinen René, der »wenn er wegen irgendeiner Unart die Mutter erzürnt hatte und sie versöhnen wollte, im Kleid eines kleinen Mädchens mit ›Schürze und Rüschen‹ an die Tür klopfte« (Guardini: »›Kindheit‹«, 188). Guardini bezieht die zur Diskussion stehende Passage der Elegie auf diese Kindheitserinnerung und deutet sie dementsprechend: »Die Verse sprechen von törichten Müttern, die ihre Kinder ›behübschen‹ und ins Klein-Behütete verpacken. So zu tun, sei aber ein Irrtum, der ›nur vergänglich täuscht‹, denn die Illusion dauere nicht lange.« (Ebenda, 188) Zunächst sei dahingestellt, welche Validität diese auf die Biographie des Dichters sich stützende Auslegung hat. Das Entscheidende an einer derartigen Deutung bleibt von Guardini jedenfalls unausgesprochen, nämlich, dass der kleine Junge als Mädchen verkleidet wird – ›verschürzt und behübscht‹. Darin bestünde wohl der Irrtum, und nicht in der bloßen Tatsache, »daß Mütter ihre Kinder ›behübschen‹ und ins Klein-Behütete verpacken«. Ich halte einen zweischichtigen Bezugskomplex für denkbar, wobei autobiographische Momente in den Motivkomplex mit eingehen und eine private Sinnebene bilden. Diese Praxis kennt man aus den Duineser Elegien. Vgl. Steiner, der diese Verse auch in Bezug zur Biographie des Dichters setzt (Steiner: »Motiv der Puppe«, 134).
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zwar beschönigt, – Rilkes Formulierung nach ›behübscht‹, sich in Falten und Rüschen um sie legt –, aber nicht in der Lage ist, die Schutzlosigkeit der Kindheit dauerhaft zu vertuschen. Die zarten Blüten täuschen einen Schutz lediglich vor. Hier erschließt sich aber auch eine zweite Sinnebene, denn in diesem Bild erhält die Kindheit die Gestalt einer Frucht, die nicht einfach von diesen Schmetterlingsblüten eingehüllt wird, sondern vielmehr aus ihnen hervorgeht. Statt Blüte zu sein, stellt die Kindheit die Frucht dar. So wird die Kindheit paradoxerweise zur späten Frucht, zur Frucht, die erst der Erwachsene trägt. Die dritte Strophe der Elegie gibt nähere Auskunft über die Gestalt dieser Frucht, die auch vom Bild des Judas-Baumes bestimmt ist. Wie wir lasen, zieht die Angst über das Kind her und spaltet »des Willens Gerte« »im Rückgrat [des Kindes] an«. Somit macht sie aus ihm eine zumindest andeutungsweise zweiteilige Gestalt. Dieser entspricht wiederum die Form der Hülsenfrucht, die die Schmetterlingsblüte hervorbringt: eine Frucht, die in einer in zwei Hälften aufspringenden Hülse besteht bzw. sich aus zwei Teilstücken mit je einem Samen zusammensetzt. Eine solche Frucht dient hier als Sinnbild für das Kind, das gezwungenermaßen aus der »trächtigen Eintracht« des Mutterschoßes in die »Zwietracht« der Welt entlassen wird. War der Keim in der »Vor-Welt« des Mutterleibes noch »heil«, also ganz, so »erlernt sich auf einmal im Abschluß, den das Menschliche schafft, das undichte«, – die Angst (II, 458). Und diese »[...] zischelt / Zwietracht ins Blut [...]« (II, 459), spaltet also den Keim in zwei Teile. So eindeutig sind allerdings die Verhältnisse nicht, denn auch die ›Vor-Welt‹ bietet dem Keim keinen wirklichen Schutz: »die Hände der Hütung lügen, die schützenden«, denn sie sind »selber gefährdet« (I, 458); die »Vor-Welt« des Mutterleibes stellt nicht nur Schutz, sondern auch Gefahr dar, so wie die Schutz versprechenden Blüten des Judas-Baumes durch ihre hochgradige Verletzbarkeit und Vergänglichkeit diesen eben nur ›vergänglich [vor] täuschen‹, lediglich ein »behübschender Irrtum« sind. An diesem bereits ›zwiespältigen‹ Ort entsteht das Kind; »[d]as innige Kindsein / steht wie die Mitte in ihr« – der Gefährdung – »sie aus-fürchtend, furchtlos« (II, 458). Diese Formulierung muss man sich wohl räumlich vorstellen: Das Kind ›fürchtet‹ die Gefährdung ›aus‹, wie das Embryo den ganzen Innenraum des Mutterleibes allmählich ausfüllt, aber paradoxerweise »furchtlos«. Sollen die Worte ›aus-fürchtend‹ und ›furchtlos‹ vielleicht das nicht explizit verwendete Wort ›Frucht‹ evozieren, von dem das Wort ›Furcht‹ phonologisch durch das Vertauschen von lediglich zwei Buchstaben entfernt ist? Durch dieselbe einfache Operation würde ›fürchtend‹ zu ›früchtend‹. In der bald 154
assoziierten Verbindung der beiden semantischen Felder drückt sich in verdichtetster Form die Zwiespältigkeit der Schutz gewährenden bzw. Gefahr bringenden ›Vor-Welt‹ aus.53 Schließlich stellt die Frucht schon in sich eine paradoxal anmutende Verbindung von Leben und Tod dar.54 Diese aus der üblichen Sicht des Erwachsenen widerstrebenden Prinzipien konvergieren in der Gestalt der Frucht, die ›sonnig‹ und ›erdig‹ ist zugleich.55 In diesem Sinne ist die Frucht schon von ihrem Wesen her doppeldeutig: In der ›Vor-Welt‹ wird sie aber in ihrer Zwiespältigkeit zusammengehalten.56 Hier greift Rilke ein beliebtes, nach dem Prinzip der organischen Analogie gebildetes Motiv der Romantik auf, aber während das knospenhafte – statt fruchtähnliche! – Kind in seiner romantischen Einkleidung als Inbegriff heilen Eingehens in die Natur, ja heilen Aufgehens in der Natur gilt, wird
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Hans-Jost Frey argumentiert vor dem Hintergrund der 8. Duineser Elegie mit der ihr zentralen Vorstellung des ›Offenen‹. Solche Adjektive wie ›harmlos‹, ›schutzlos‹, ›furchtlos‹, ›zeitlos‹ und ›namenlos‹ seien nicht als Verneinungen aufzufassen, sondern im wertneutralen Sinne als Ausdruck einer grundsätzlichen Gegensatzlosigkeit, die die Kindheit, als eine Form des Offenen, auszeichne: »Das mit Kindheit Gemeinte läßt sich nicht in das System der Gegensätze eingliedern [...], sondern es ist außerhalb aller Gegensätze, von ihnen unbetroffen, [...].« Somit ist die Kindheit auch »außerhalb des Kräftesystems von Gefahr und Schutz«. (Hans-Jost Frey: Der unendliche Text, Frankfurt/Mn. 1990, 190 bzw. 191.) Für Frey ergeben sich die im Text enthaltenen scheinbaren Paradoxien erst, wenn man die Position des Gegenüberseins einnimmt. Er markiert diesen Perspektivenwechsel mit dem Aufkommen der Angst, die sich »im Abschluß [erlernt]«. Meines Erachtens macht Frey denselben Fehler wie einige andere der hier zitierten Rilke-Exegeten, die sich mit der Kindheitsthematik befassen, wenn sie nämlich in der Kindheit einen einheitlich ›offenen‹ Zustand sehen, statt sie als dynamischen Prozess zu begreifen, in Folge dessen sich der entscheidende Perspektivenwechsel vollzieht, der das Erwachsenenbewusstsein prägt. In der 8. Duineser Elegie heißt es doch: »[...] denn schon das frühe Kind / wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts / Gestaltung sehe, nicht das Offne, [...]« (I, 714), und auch hier ist es das Kind, dem man »Zwietracht ins Blut [zischelt]«. Über die Früchte sagt Allemann, man begegne ihnen in Rilkes Werk »als Figuren der Vollzähligkeit, [...] nicht nur als Symbole des reifen Lebens, sondern ebensosehr als Zeichen aus dem Totenreich«. Allemann fährt fort: »Die reife Frucht ist geradezu die Bestätigung des fortwährenden Austauschs zwischen beiden Bereichen« (Allemann: Zeit und Figur, 194); sie wird in I.14 der Sonette an Orpheus in diesem Sinne als »Zwischending« bezeichnet. Vgl. Rilkes Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915: »[...] blüht ein Baum, so blüht so gut der Tod in ihm wie das Leben, [...].« (RBr II, 514) Siehe Sonette an Orpheus, I.13 (I, 739); Allemann: Zeit und Figur, 195. In der Gestalt der zweiteiligen Frucht, deren Zwiespältigkeit sich schon in der ursprünglichen Gestalt manifestiert, finden wir auf geradezu paradigmatische Weise die oppositionelle Spannung vorgebildet, die vielen der Rilke’schen Motive zu Grunde liegt.
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das Motiv hier in einer entscheidenden Hinsicht abgewandelt: Das Kind hängt nicht wie eine Knospe ›am Baume der Natur‹, sondern steht von Anfang an im Spannungsfeld zwischen Einheit und Getrenntheit, enthält selbst die Spaltung in sich, denn in der Struktur der (Hülsen-)Frucht ist die Zweiteilung bereits angelegt. Vor diesem interpretatorischen Hintergrund seien die folgenden, bereits erwähnten Verse der unvollendeten Kindheitselegie wieder in Erinnerung gerufen. Das lyrische Ich spricht von den »[...] raschen Verdachte[n], es würde / immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer / irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal / alle verbindbar, des Daseins, – [...]« (II, 459). Diese Verse gewinnen an Bedeutung, wenn man die zwei Jahre vor Entstehung der Elegie verfasste Schrift Urgeräusch zur Hand nimmt. Dient die Frucht des Judasbaumes als Zeichen für eine Zweiteilung des Bewusstseins, so deuten die hier genannten »fünf Stücke«, die zunächst mit den fünf Blättern der Schmetterlingsblüte korreliert wurden, die ›Fünfteilung‹ der Sinneswahrnehmung an, die Rilke in negativem Sinne als symptomatisch für unsere kulturell bedingte, ›desintegrative‹ Wahrnehmungsweise betrachtet. Im kleinen Aufsatz Urgeräusch lobt er nämlich die arabische Dichtung, »an deren Entstehung die fünf Sinne einen gleichzeitigeren und gleichmäßigeren Anteil zu haben scheinen«, wobei ihm im Kontrast hierzu auffällt, »wie ungleich und einzeln der jetztige europäische Dichter sich dieser Zuträger bedient« (VI, 1090). Dabei sei »das vollendete Gedicht« darauf angewiesen, »daß die mit fünf Hebeln gleichzeitig angegriffene Welt unter einem bestimmten Aspekt auf jener übernatürlichen Ebene erscheine«, – »eben [der] des Gedichts« (VI, 1091). Im weiteren Verlauf dieser Schrift kontrastiert Rilke den Liebenden und den Dichter und konstatiert, der Liebende sei »auf das Zusammenwirken seiner Sinne angewiesen [...], von denen er doch weiß, daß sie nur in jener einzigen gewagten Mitte sich treffen, in der sie, alle Breite aufgebend, zusammenlaufen und in der kein Bestand ist«, er sich also »unversehens in die Mitte des Kreises gestellt fühlt, [...] wo das Bekannte und das Unerfaßliche in einem einzigen Punkte zusammendringt, vollzählig wird und Besitz schlechthin, allerdings unter Aufhebung aller Einzelheit« (VI, 1091f.). Dem Dichter hingegen »muß das vielfältige Einzelne gegenwärtig bleiben, er ist angehalten, die Sinnes-Ausschnitte ihrer Breite nach zu gebrauchen« (VI, 1092). Bei ihm sei nicht die Konzentration auf einen Punkt – Aufhebung der ›Fünfteilung‹ in der Mitte des Kreises – gefragt, sondern Ausdehnung eines jeden einzelnen Sinnes, wobei der idealdichterische Akt darin bestünde, den »Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem« zu schaffen (VI, 156
1092). Dabei werde der Dichter »der Abgründe gewahr [...], die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden« (VI, 1092). Was Rilke hier beschreibt, ist eine topologisch anders geartete Variante des Gegensatzes zwischen Allbezug und Getrenntsein, der sich bisher – wie im Folgenden – in Form einer polar aufgebauten Topologie äußerte: Allbezug, der in dieser Schrift alleine dem Liebenden widerfährt, heißt zugleich Aufhebung des Differenzierungsvermögens und damit auch der Identität; in der Mitte des Kreises ist »kein Bestand«. Getrenntsein bedeutet auf der symbolischen Ebene der hier verwendeten Topologie fortwährendes Auseinanderklaffen der einzelnen Wahrnehmungsweisen, bedingt durch das fortwährende Sich-Weiten des Kreises, an dessen Peripherie die fünf Sinne sich in immer größeren Abständen voneinander befinden, so dass der diese verbindende ›Sprung‹ über immer weitere Abgründe führt. Im Bild der »fünffingrige[n] Hand seiner [des Künstlers] Sinne«, die er »zu immer regerem und geistigerem Griffe entwickelt« (VI, 1092), wird aber suggeriert, dass eine solche Verbindung zumindest möglich ist, bilden doch die einzelnen Finger Teile ein-und-derselben Hand. Im Suchen nach einer Lösung des in Urgeräusch zu Tage tretenden Dilemmas, wie es denn zu einer bewusst erlebten Synthese der fünf Sinne kommen könne, kehrt Rilke in seiner kleinen Schrift zum Ausgangspunkt des Gedankengangs zurück. Er beschwört das als Synthese dieser fünf Sinne – »fünf Stücke« – imaginierte ›Urgeräusch‹, das seiner Vision nach ertönen würde, wenn man eine Grammophonnadel über den menschlichen Schädel fahren ließe. Dieser seltsamen, quasi-technischen Lösung steht der utopische Sprung des Dichters durch die ›fünf Gärten‹ gegenüber. Im ersteren Fall handelt es sich gewissermaßen um eine ›zentripetale‹ Synthese, stellt man sich das auf die im Essay beschriebene Art erzeugte ›Urgeräusch‹ als akustische Wiedergabe der auf dem menschlichen Schädel zusammenlaufenden Sinneseindrücke vor, wobei an dieser ›Reproduktion‹ das Bewusstsein des Menschen paradoxerweise nicht beteiligt wäre. Im anderen Fall könnte man von einer ›zentrifugalen‹ Synthese an der äußersten Peripherie des menschlichen Wahrnehmungshorizonts sprechen, die dem Menschen – bzw. speziell dem Dichter – äußerste Bewusstheit und Gestaltungskraft abverlangte.57 Dass Rilke die ›einfachere‹, ›technische‹ Lösung nicht zu
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Frey kommentiert dieses Dilemma, wie es sich als poetologisches Problem in der unvollendeten Kindheitselegie äußert: »Der Abschluß [und mit ihm »Unterscheidung, Abgrenzung und Auswahl«] muß angestrebt werden, damit das Offene sagbar wird, das im Gesagtsein aufhört, offen zu sein, weshalb die starre
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Ende denkt, geschweige denn ausprobiert, zeigt, welche Form der Synthese er anvisiert, auch wenn sie sich laut Kindheitselegie – zunächst zumindest – nicht verwirklichen lässt, fragt doch die Elegie, ob alle ›fünf Stücke‹ überhaupt ›verbindbar‹ seien. Beide mit der botanischen Eigenart des Judasbaumes in Verbindung zu bringenden Spaltungsmomente, Zweiteilung wie Fünfteilung, thematisieren mittels eines entsprechenden topologischen Schemas das Spannungsgefüge Allbezug versus Eigentümlichkeit. Es ist signifikant, dass in der unvollendeten Kindheitselegie das Puppenmotiv unmittelbar an das Judasbaummotiv anknüpft. Dieses zweite für die Elegie konstitutive Motiv soll jetzt vor dem spezifischen Hintergrund der hier erörterten, mit ihm verbundenen Symbolik betrachtet werden. 2.2.4. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Puppenmotiv < Unvollendete Elegie > Laß dir, daß Kindheit war, diese namenlose Treue der Himmlischen, nicht widerrufen vom Schicksal; selbst den Gefangenen noch, der finster im Kerker verdirbt, hat sie heimlich versorgt bis ans Ende. Denn zeitlos hält sie das Herz. Selbst den Kranken, wenn er starrt und versteht, und schon giebt ihm das Zimmer nicht mehr Antwort, weil es ein heilbares ist –, heilbar liegen seine Dinge umher, die fiebernden, mit-krank, aber noch heilbar, um den Verlorenen –: ihm selbst fruchtet die Kindheit. Reinlich in der verfallnen Natur hält sie ihr herzliches Beet. Nicht, daß sie harmlos sei; der behübschende Irrtum, der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich getäuscht. Nicht ist sie sichrer als wir, und niemals geschonter; keiner der Göttlichen wiegt ihr Gewicht auf. Schutzlos ist sie wie wir, wie Tiere im Winter, schutzlos. Schutzloser: denn sie erkennt die Verstecke nicht. Schutzlos so als wäre sie selber das Drohende. Schutzlos
Begrifflichkeit wieder aufgerissen und damit die Möglichkeit des Sagens untergraben wird. Die Rede des Gedichts steht – geschieht – im Zeichen eines unaufhebbaren Konflikts.« (Frey: Der unendliche Text, 200.) Wenn das aber stimmt, so muss das von Frey für die Aufgabe der Elegie gehaltene »sprachliche Gelingen von Kindheit in der Außerkraftsetzung des Gegenüberseins« (ebenda, 200) Utopie bleiben. Demselben Dilemma begegnet man in der Antinomie zwischen mystischem Erleben und mystischem Sprechen.
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wie ein Brand, wie ein Ries’, wie ein Gift, wie was umgeht nachts im verdächtigen Haus, bei verriegelter Tür. Denn wer begriffe nicht, daß die Hände der Hütung lügen, die schützenden –, selber gefährdet: wer darf denn? ». . . Ich!« –Welches Ich? – »Ich, Mutter, ich darf. Ich war Vor-Welt. Mir hats die Erde vertraut, wie sie’s treibt mit dem Keim, daß er heil sei. Abende, o, des Vertrauens, wir regneten beide, leise und mailich, die Erde und ich in den Schooß uns. Männlicher! ach, wer beweist dir die trächtige Eintracht, die wir uns fühlten. Dir wird die Stille im Weltall niemals verkündet, wie sie sich schließt um ein Wachstum. . . .« Großmut der Mütter, Stimme der Stillenden, – dennoch! Was du da nennst, das ist die Gefahr, die ganze reine Gefährdung der Welt –, und so schlägt sie in Schutz um, wie du sie rührend erfühlst. Das innige Kindsein steht wie die Mitte in ihr, sie aus-fürchtend, furchtlos. Aber die Angst! Sie erlernt sich auf einmal im Abschluß, den das Menschliche schafft, das undichte. Zugluft zuckt sie herein durch die Fugen. Da ist sie. Vom Rücken huscht sie es an überm Spielen, das Kind, und zischelt Zwietracht ins Blut –, die raschen Verdachte, es würde immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal alle verbindbar, des Daseins –, und alle zerbrechlich. Und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder Ast am Judas-Baume der Auswahl wachsend verholze. Wie nur besticht sie die Puppe, die gute, das eben zärtliche Spielzeug, daß es, umarmt noch, schon fremdlings schrecke –. Mit sich nicht, nicht mit dem armen, verzeihlichen Fremdsein, nein: mit der Neigung des Kinds, mit dem, was es annahm. Annahm in langen Tagen des Zutrauns, in den unzählbaren Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob – und sich erfuhr, seine Kräfte an zweie verteilend, seinen ihm selbst so neuen nachwachsenden Vorrat. Fernen des Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs, weit über Enkel hinaus –, die getroste Natur! Freundin des Todes, denn in der leichten Verwandlung wuchs sie ihn hundertmal durch . . . O Puppe, fernste Figur –, wie die Sterne am Abstand
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sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn. Ist es dem Welt-Raum zu klein: Raum der Gefühle spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum. Aber auf einmal geschiehts . . . Was? Wann? – Namenlos, Abbruch – Was? – der Verrat . . . gefüllt mit der Hälfte des Daseins will sie nicht mehr, verleugnet, erkennt nicht. Starrt mit geweigertem Aug, liegt, weiß nicht; nicht einmal Ding mehr – – sieh, wie die Dinge sich schämen für sie, ..... (II, 457–60)
Die Elegie stellt das Puppenmotiv in den Kontext der Entzweiung des Kindes durch die Angst. Gerade die Puppe sei, so die Elegie, für die spaltende Kraft der Angst besonders empfänglich: Wie nur besticht sie die Puppe, die gute, das eben zärtliche Spielzeug, daß es, umarmt noch, schon fremdlings schrecke [...] (II, 459)
Die Anklänge an Puppen sind nicht zu überhören. Im essayistischen Werk fungiert die Puppe als eine Art Projektionsobjekt, wenn man will, als eine Art alter ego, in das das Kind Teile seines Selbst hineinverlagert. Das besagt noch deutlicher die Elegie. Sie spricht von dem, »was es [das Spielzeug] [...] annahm. Annahm in langen Tagen des Zutrauns, in den unzählbaren Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob – und sich erfuhr, seine Kräfte an zweie verteilend, seinen ihm selbst so neuen nachwachsenden Vorrat. (II, 459)
Als ego und alter ego bilden Kind und Puppe zunächst eine Einheit. Die so charakterisierte Beziehung des Kindes zur Puppe findet sich also im Bild der zweiteiligen Frucht exemplifiziert. Die (Hülsen)-Frucht furcht sich zwar ein, die Teile bleiben aber zusammen. Sie ist gekennzeichnet durch Zwiespalt in der Einheit. Die in die andere Hälfte verlagerten Anteile des Kindes laufen aber Gefahr, der potentiellen Aufspaltung der Frucht zum Opfer zu fallen und dem Kind verloren zu gehen. So gesehen verkörpert die Frucht das Spannungsverhältnis zwischen Eins- und Getrenntsein. In 160
der (Hülsen)-Frucht scheinen beide Prinzipien gleichermaßen vertreten zu sein. Die Sehnsucht nach Zwiefalt in der Einheit, nach Einheit in der Zwiefalt, die in der Gestalt des ›siamesischen‹ Zwillingspaares Ulrich und Agathe im Mann ohne Eigenschaften bzw. in Törleß’ mystisch angehauchter Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ zum Ausdruck kommt,58 manifestiert sich hier auf sehr anschauliche Weise im Bild der zweiteiligen Frucht.59 Das Problem besteht nun darin, dass sich das Kind mit der Puppe auf Grund ihres ›Zwischending‹-Charakters nicht wirklich vereinigen, aber auch nicht in Relation zu ihr die Position eines wirklichen Gegenübers beziehen kann. So ist die Beziehungskonstellation, die beide zusammen bilden, illusionär. Fernen des Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs, weit über Enkel hinaus –, die getroste Natur! Freundin des Todes, denn in der leichten Verwandlung wuchs sie ihn hundertmal durch . . . O Puppe, fernste Figur –, wie die Sterne am Abstand sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn. Ist es dem Welt-Raum zu klein: Raum der Gefühle spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum. (II, 459)
In der Scheinvereinigung nehmen Kind und Puppe bald kosmische Dimensionen an, bald übersteigen sie sogar diese und schaffen »den gesteigerten Raum«. Plötzlich kommt aber der Umschlag, die Frucht bricht entzwei: Die Projektion des Kindes spaltet sich ab und nimmt die ihr zugewiesenen Ich-Anteile mit sich in den Abgrund. Das Kind empfindet diesen Umschlag so, als sei ihm »die Hälfte des Daseins« plötzlich abhanden gekommen.60
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Vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 4ff. Schließlich entstehen auch siamesische Zwillinge dadurch, dass eine Frucht sich ›einfurcht‹. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Stilisierung, die dieses Bild durch Musil erfährt. Biologisch gesprochen können siamesische Zwillinge nämlich nur gleichgeschlechtlich sein. In Musils Version kommen Anklänge an Platons Vorstellung eines sich in eine männliche und eine weibliche Hälfte aufspaltenden Ganzen hinzu (siehe das Symposion). Für Musils Bild ist diese Abweichung von der biologischen Vorlage von entscheidender Bedeutung. Um noch einmal auf das Motiv der siamesischen Zwillinge zurückzukommen: So wie der Tod des einen den Untergang des anderen bedeutet, empfindet das Kind den Verlust dieser abhanden gekommenen Hälfte als existentielle Bedrohung. Man vergleiche in diesem Kontext Rilkes brieflich festgehaltene
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Was aber weder die Elegie noch der Aufsatz ausspricht: Die Puppe, die sich scheinbar verselbständigt und das Kind ›verrät‹ – man erinnere sich an das Judas-Baum-Motiv –, fällt deswegen »in den Abgrund«, wie es in einem Entwurf zur Elegie heißt (II, 460), weil das Kind sein Interesse an ihr plötzlich verliert: Es wächst aus dem Puppenalter heraus.61 Welche Bedeutung hat hierbei das visionär-transzendente Moment am Anfang der letzten Strophe? Es bleibt noch zu fragen, ob bzw. inwiefern
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Charakterisierung seiner Relation zur Figur des Malte in einem Brief vom 28. 12. 1911. Dort scheinen nämlich Bildelemente der Puppenmotivik auf. Enthält das Beziehungsparadigma Kind-Puppe etwa Aspekte der Beziehung Rilkes zu seinem Geschöpf der Aufzeichnungen? Rilke selbst fragt, ob dieses darin nicht untergeht, um ihm, dem Dichter, »den Untergang zu ersparen« (RBr I, 300). Im Bilderkomplex des Briefes wird das Buch zur »hohe[n] Wasserscheide«, Malte zum »Untergegangene[n]« und Rilke selbst zum Überlebenden (ebenda, 300). Da aber »alles Gewässer nach der alten Seite abgeflossen ist«, geht Rilke »in eine Dürre hinunter«, d.h. er bleibt seelisch, geistig ›ausgetrocknet‹ zurück, wobei es ihm vorkommt, als habe »der andere, Untergegangene« – sprich Malte – »[ihn] irgendwie abgenutzt, [...] mit den Kräften und Gegenständen [seines] Lebens den immensen Aufwand seines Untergangs betrieben [...], sich mit der Inständigkeit seiner Verzweiflung alles angeeignet« (ebenda, 300). Hierin sind Anklänge an die Puppenmotivik mit ihrer ähnlichen Topologie ausfindig zu machen. Die andere ›Hälfte‹, Malte, die zumindest teilweise als Projektionsfigur für den Dichter fungiert, ›eignet sich alles an‹ und ›geht‹ damit ›unter‹, den Dichter verarmt zurücklassend, wobei die ›Wasserscheide‹ das Moment der Entzweiung markiert. Dem Brief zufolge wirkt sich die Abspaltung der dichterischen Gestalt des Malte von der Gestalt des Dichters nachhaltig auf das Erleben des Letzteren aus. Die Brüchigkeit, die dieser Verlust erzeugt, wird auf die Objektwelt übertragen und beeinträchtigt Rilkes Wahrnehmung dieser Welt auf gravierende Weise. Er schreibt: »[...] kaum scheint mir ein Ding neu, so entdeck ich auch schon den Bruch daran, die brüske Stelle, wo er [Malte] sich abgerissen hat.« Vgl. Steiner: »Motiv der Puppe«, 143. Guardini betont das Angewiesensein des Spielzeugs auf das Kind. Es sei »daraufhin gemacht, daß es im Phantasiegeschehen des Spiels jeweils das werde, was das spielende Kind will. Geschieht das nicht, fällt es aus dem Bezug heraus, in seine empirische Realität zurück, dann ist es überhaupt nichts Deutliches mehr« (Guardini, »›Kindheit‹«, 206). Allerdings scheint diese Deutung in Widerspruch zu stehen zu einer im Gespräch mit Magda von Hattingberg gemachten Äußerung Rilkes über die Pritzel’schen Puppen. In Reaktion auf ihr Entsetzen über die ›Unnatur‹ dieser »wie Nachbildungen opiumkranker oder irrsinniger Menschen« anmutenden Wachspuppen – so ihre Charakterisierung – erwidert Rilke: »›Ein Spielzeug wird abgebraucht, wird schlecht, [...] sage nicht, daß das Schlechtsein eines Spielzeuges etwas Unschuldiges sei; bedarf es nicht der ganzen grenzenlosen Unschuld der Kinder, um all das Verdorbene, Schmutzige an ihm ein für allemal schuldlos zu erhalten? Wenn du dir vorstellst, ein solches Ding hätte sich in den Händen Erwachsener entstellt und verdorben, du würdest unermeßliches Grauen davor empfinden‹.« (Magda von Hattingberg: Rilke und Benvenuta, Wien 21947, 203; vgl. Steiner: »Motiv der Puppe«, 138ff.)
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Kind und Puppe eine potentiell figurale Beziehung miteinander bilden. Genauso wenig wie das lyrische Ich des Gedichtfragments eine ›figurale‹ Beziehung zur erwarteten Geliebten realisieren kann, lässt sich eine solche Beziehung zwischen Kind und Puppe herstellen; die Vision, die eine solche evoziert, bleibt Vision. Denn schließlich verkörpert das ›figurale‹ Gegenüber – das drückt sich etwa in der ›figuralen‹ Konstellation Dichter-Nachtraum aus – das uns ›Fremde‹, zu dem wir aber in eine Relation ›gespannten Bezugs‹ treten.62 Hier gibt es letztlich nur projektive Identifikation oder schroffe Fremdheit; der ›gespannteste Bezug‹ lässt sich nicht herstellen.63 Dass Allemann gerade diese beiden Gestalten, künftige Geliebte und Puppe, zu Paradigmen des ›figuralen‹ Gegenübers erhebt, leuchtet demnach nicht ein.64 Die ›figurale‹ Beziehung gründet weder auf
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In der Sternenkonstellation drückt sich die oppositionelle Qualität solcher ›figuralen‹ Visionen aus. Zwar soll dabei der Mensch bzw. der Dichter einen Bezug zum Sternbild herstellen, aber dieser Bezug entsteht nur durch Wahrung der beiden ›Bezugs‹-Punkte. In dieser Hinsicht hat die figurale Begegnung des Dichters mit dem Weltraum eine Affinität zur mystischen Erfahrung, die nach Wagner-Egelhaaf in ihrer allgemeinsten Form als ein Einholen des ›radikal Anderen‹ im mystischen Vereinigungsprozess zu verstehen ist (WagnerEgelhaaf: Mystik der Moderne, 2), – nur dass in der figuralen Beziehung eine die Gegensätze auflösende Vereinigung nicht erfolgt. Im Gegenteil, ihr wohnt eine prononcierte Wechseldynamik inne: Allemann konstatiert, dass »nicht nur das Sternbild vom Dichter angeschaut werden will, sondern, dass es um einen Wechselbezug geht, daß die Figur des Sternbilds erst dort ihren dichterischen Sinn erfüllt, wo sie ihrerseits voll Bezug zum anschauenden Dichter ist und von sich aus gleichsam anschaut« (Allemann: Zeit und Figur, 76). Der Stern bildet das ideale Gegenüber insofern, als es dem Menschen das ›Maß des weitesten Abstands‹ gibt. Gleichzeitig unterhält Rilke auch die Vorstellung einer Überwindung dieses Abstands in Form einer Überwindung der Schranken zwischen Innen und Außen. In diesem Sinne berichtet Rilke 1912 von einem Erlebnis, das er in Spanien hatte, »da mir [...] ein in gespanntem langsamem Bogen durch den Weltenraum fallender Stern zugleich (wie soll ich das sagen?) durch den Innen-Raum fiel: der trennende Kontur des Körpers war nicht mehr da.« (Brief vom 14. Januar 1919. In: RBr II, 571) Vgl. Engel, der konstatiert, dass auf Grund der narzisstischen Qualität der Beziehung des Kindes zur ungleichwertigen Puppe Rilkes neues »Ethos des Bezugs« hier nicht eingelöst werden kann. Das gelte im Übrigen auch für die Elegien, die »von dieser Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Praxis geprägt« seien (Engel: Rilkes Elegien, 144f.). Er schreibt: »Das neue Gegenüber, das aus der Krise am Beginn des Spätwerks hervorgeht, ist figural bestimmt. Das gilt schon für die erwartete, künftige Geliebte der Zeit um 1912, es gilt für den gleichzeitig seine endgültige Gestalt erlangenden Engel wie für die ihm verwandte Puppe, die dann 1920 ausdrücklich ›fernste Figur‹ genannt wird, weil sie mit dem spielenden Kind einen Doppelstern bildet und ihm das ›Maß des Abstands‹ in die Hand gibt. Was die
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Nahsein noch auf Fernsein allein, sondern lebt von der Spannung, die aus dem Nah- und Fernsein zugleich entsteht. Dem Kind kann nicht, wie dem Dichter, das Sternbild das ›Maß des Abstands‹ geben, vermag das Kind doch nicht in der Beziehung zu einem solchen ›Gegenüber‹ zu ›be-stehen‹, wie der Puppenessay statuiert. Dass der Steinbock »auf [sein] Herzgebirge spränge«, so »Vor Weihnachten 1914«, bleibt unerfüllter, vielleicht auch unerfüllbarer Appell. So fragt die 4. Duineser Elegie: Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt es ins Gestirn und giebt das Maß des Abstands ihm in die Hand? [...] (I, 699)
Die Antwort lautet: die Puppe.65 Als ›unechtes‹ Gegenüber ist sie natürlich weit davon entfernt, es dem Sternbild nachzumachen. Schließlich könnte man den ›gespanntesten Bezug‹, den die Figur idealiterweise herstellt, auch als Formel zur Charakterisierung der idealen (reifen) Liebesbeziehung zwischen zwei ebenbürtigen Partnern benutzen, zu der das Kind des Puppenaufsatzes sich eben als unfähig erweist, – so ›unrilkisch‹ eine solche Betrachtungsweise auch sein mag.66 Das erklärt auch die Tatsache, dass die figurale Überhöhung der Puppe-Kind-Konstellation mit Entzweiung, in ›Abbruch‹ und Verrat endet. Hier herrscht das Prinzip des Entweder-Oder: entweder projektive Identifikation oder unversöhnliche Fremdheit. Eine Synthese beider Momente wird als noch einzulösende Utopie hingestellt.67
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Puppe für das Kind, ist der Engel für den Dichter: das weiteste, maß-gebende Gegenüber, das in seiner Unbedingtheit die künftige Geliebte noch übertrifft. Diese neuen Gestaltungen des in den Stern-Abstand gestellten Gegenübers sind keine Kunst-Dinge mehr. Sie sind in die Spannung bezogen und dadurch ›geborener‹.« (Allemann: Zeit und Figur, 275.) Entschieden ablehnen muss ich Engels Interpretation dieser Stelle, die er paraphasierend folgendermaßen liest: »[...] wer verdeutlicht uns die Erlebnisweise des Kindes so, daß wir begreifen, wie unendlich verschieden sie von der unseren ist? (Engel: Rilkes Elegien, 158) Zweifelsohne ist hier etwas gemeint, das zum Kind in direkte Beziehung tritt und ihm seinen ›Platz‹ zeigt. Es geht sicher nicht darum, dass dem Leser als einem Dritten etwas vermittelt wird. Rilkes eigene Schwierigkeiten, eine verbindliche intime Beziehung aufrechtzuerhalten, sind biographisch wie in Äußerungen des Betroffenen reichlich belegt. Wagner-Egelhaaf meint, der »grundsätzliche Dualismus« im Werk Rilkes wie Musils lasse »nur einen doppelten Reflexionsmodus zu, nie die Einheit [...] Malte und der Mann ohne Eigenschaften werden an dieser Einheit, die nicht zu haben ist, verzweifeln« (Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 60; vgl. Steiner: »Motiv der Puppe«, 144).
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Allemann hat einen Katalog der für die Figur maßgeblichen Komponenten aufgestellt, und es ist aufschlussreich, zu heuristischen Zwecken die Puppe auf die Frage hin zu betrachten, inwiefern sie diesen Kriterien gerecht bzw. eben nicht gerecht wird. Unter anderem ist von der »raumbildende[n], respektive raumsteigernde[n] Kraft [der Figur] und ihr[em] muldigen Charakter«, von ihrem »Spannungs- und Bezugs-Charakter« die Rede. Zudem wird der »Bewegungs-Charakter« der Figur hervorgehoben, »der sich auch in ihren scheinbar statisch-plastischen Ausprägungen durchsetzt«.68 In Anbetracht der hier benannten Grundzüge der idealtypischen Figur scheint es sich bei der Puppe um eine weitere Opposition zu handeln; sie scheint eine Art ›Anti-Figur‹ darzustellen. Denn in Puppen werden gerade ihre Undurchdringlichkeit, ihre Starre und Stumpfheit, ihre Oberflächlichkeit akzentuiert, – alles Eigenschaften, die mit den soeben genannten Attributen der Figur kontrastieren.69 Die Erhöhung, die sie am Ende der unvollendeten Kindheitselegie erfährt, ist nicht von Dauer. Ihre potentielle Figuralität wird nur visionär angedeutet; letztlich findet sie zur anfänglichen Undurchdringlichkeit zurück: »Sie starrt mit geweigertem Aug«. Soll die Puppe tatsächlich in eine ihre stoffliche Gestalt transzendierende Dimension erhoben werden, so ist offensichtlich, dass die unvollendete Kindheitselegie eine solche Verwandlung keinesfalls als bereits vollzogen hinstellt. Stattdessen inszeniert sie die De-Illusionierung des Kindes in Bezug auf die Puppe aufs Eindrücklichste. Eine solche Erhöhung erfährt die Puppe erst im letzten Teil des Puppenaufsatzes, auf den sich das Augenmerk im Folgenden richten wird. Hier dürfte auch die Antwort zu der in der unvollendeten Kindheitselegie unbeantwortet gelassenen Frage nach dem Verbleib der sich abspaltenden ›Hälfte‹ des Kindes zu finden sein.
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Allemann: Zeit und Figur, 114. Durch ihre Starre kontrastiert die Puppe auch mit dem ›Kunst-Ding‹, das keineswegs als statisch zu denken ist, sondern dessen Schönheit sich »aus der Empfindung des Ausgleichs all [der] bewegten Flächen untereinander« ergibt (V, 157).
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2.3. Die ›Puppenseele‹ 2.3.1. Die seelische Dimension der Kindheits-Dinge Auf den ersten, längeren Teil des Essays, der eine Art Phänomenologie der Puppe entwickelt, folgen zwei sehr kurze Abschnitte, die die seelische Dimension der Kindheits-Dinge beleuchten. Der erste widmet sich der ›Seele‹ einiger Spielsachen, der zweite der ›Puppenseele‹. Auch im Verhältnis dieser Spielsachen zur jeweiligen ›Ding-Seele‹ und der Puppe zur ›Puppenseele‹ schlägt sich die oppositionelle Grundstruktur des Essays nieder. Und die Unterschiede in der Relation der anderen Spielsachen zur jeweiligen ›Dingseele‹ und der Puppe zur ›Puppenseele‹ sind signifikant. Diese Kontraste sollen jetzt ausgearbeitet werden. Zunächst ruft der Schreibende die »[g]roße mutige Seele des Schaukelspferds« an (VI, 1070), die er als »Wellenbadschaukel des Knabenherzens« apostrophiert und als »stolze, glaubwürdige, fast sichtbare Seele« charakterisiert. (VI, 1070f.) Auch ist von der »überzeugte[n] Seele der Trambahn« die Rede, »die in uns fast überhandnehmen konnte, wenn wir nur mit einigem Glauben an unsere Wagen-Natur in der Stube herumfuhren« (VI, 1071). Ferner von der »einfältig gefällige[n] Seele des Balls«, von der »Seele im Geruch der Dominosteine« und der »unerschöpflichen Seele des Bilderbuchs«, der »Seele der Schultasche«, und schließlich von der »taube[n] Trichterseele der braven kleinen Blechtrompete«. Alle diese seien »leutselig und beinah greifbar« (VI, 1071). Dagegen die Puppenseele: »Nur du, [...] von dir konnte man nie recht sagen, wo du eigentlich warst.« (VI, 1071) Die ›Seelen‹ der hier angerufenen Kindheits-Dinge unterscheiden sich von der Puppenseele darin, dass sie in weitgehendem Einklang mit der äußeren Gestalt des betreffenden Dinges stehen. Die hier beobachtete, weitreichende Konvergenz von Form und Inhalt kann zum wesentlichen Merkmal dieser Kindheits-Dinge erklärt werden. Deswegen sei die Seele des Schaukelpferds »fast sichtbar«, daher seien die Seelen all dieser Dinge »beinah greifbar«, denn sie gehen sozusagen in die Gestalt dieser Dinge ein. In der Genitivmetapher, die die Seele des Schaukelpferds als »Wellenbadschaukel des Knabenherzens« charakterisiert, wird in Folge der metaphorischen Verknüpfung von Schaukel und Knabenherzen ein hohes Maß an Empathie zwischen Kind und Kindheits-Ding suggeriert. Dasselbe gilt für die Seele der Trambahn, die, ähnlich dem Holzpferd im »Requiem«, in das Kind geradezu ein- bzw. übergeht und es dabei fast überwältigt. Im Bild der »taube[n] Trichterseele« der Blechtrompete wird eine weitgehende 166
Identifikation zwischen Seele und Erscheinung impliziert, denn, wie der Essay sagt, ist die Seele wie die Blechtrompete selbst trichterförmig. Wohl nicht von ungefähr werden in diesem Zusammenhang zwei Kindheits-Dinge angeführt, die eine zentrale symbolische Bedeutung, letztlich auch eine ›figurale‹ Dimension im Werk Rilkes annehmen, nämlich das Schaukelpferd (als Variante der am anderen Ort zur Figur erhobenen Schaukel) und der Ball. Das Schaukelpferd zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es »die Mauern, die Fensterkreuze, die täglichen Horizonte zum Schwanken« bringt, »als rüttelten schon die Stürme der Zukunft an diesen überaus vorläufigen Übereinkünften, die im Anstehn der Nachmittage etwas so Unüberwindliches annehmen konnten« (VI, 1071). Das dürfte als Bild für die ›innovative‹ Perspektive des Kindes zu verstehen sein, von der sich die Perspektive des Erwachsenen negativ abhebt: Sein festgefahrenes Koordinatensystem legt die Horizonte durch ›Übereinkunft‹ fest. Indem diese von Kind und Puppe ›zum Schwanken‹ gebracht werden, proben sie sozusagen den Aufstand gegen erstarrte Denkstrukturen. Mit der Aufhebung dieses starren Koordinatensystems geht allerdings ein viel bedeutsamerer Perspektivenwechsel einher: Die Schranken zwischen Leben und Tod fallen. Um diesen Aspekt des Schaukelpferdmotivs zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf das mit ihm verwandte Schaukelmotiv. Das Gedicht ›Zueignung an M...‹ widmet sich der Schaukel und verleiht ihr eine figurale Gestalt. In der Topologie dieses Gedichts zeichnet die Bewegungslinie der Schaukel die untere Hälfte eines in der Imagination um die obere Hälfte zu ergänzenden, vollständigen Kreises nach. Die untere, sichtbare Hälfte des Kreises, der in seiner Vollständigkeit von der Schaukel – sprich: vom Herzen des Menschen – nicht gezeichnet werden kann, ist dem Leben zuzuordnen, die obere, unsichtbare Hälfte dem Tod.70 Erst der ganze Kreis stellt das vollständige ›Da-Sein‹ dar. Dem Schaukelnden in ›Schaukel des Herzens […]‹ gelingt es sogar für einen Moment, den Kreis fast zu vollenden: [...] Aber von Endpunkt zu Endpunkt meines gewagtesten Schwungs nehm ich ihn schon in Besitz: Überflüsse aus mir stürzen dorthin und erfülln ihn, spannen ihn fast [...] (II, 255)
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Vgl. Kunz, der die obere Hälfte dem (Spiegel)-»Raum der Unbetretbarkeit« zuordnet (Kunz: Narziß, 99f.) in starker Anlehnung an Allemann. Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 205f.
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In Puppen gelingt es dem Kind, in identifikatorischer Verbindung mit der Schaukelpferdseele die Grenzen zwischen Leben und Tod zu sprengen, auf die ›unbeschienene Seite des Lebens‹ zu gelangen und in den Bereich des Todes vorzudringen: »Ach wie rissest du einen, Schaukelpferdseele, hinaus und hinüber ins unaufhaltsam Heldische, wo man heiß und glorios unterging mit der schrecklichsten Unordnung in den Haaren« (VI, 1071). Der untergehende Held stellt bekanntlich eine symbolische Gestalt im Werk Rilkes dar, die die Haltung der Offenheit gegenüber der ›unbeschienenen Seite des Lebens‹ verkörpert.71 An dieser Stelle des Textes wird das Kind implizit mit der Puppe kontrastiert: Die »flutendsten Gefühle« des Kindes, die als solche Grenzen auflösend wirken, werden in der Puppe, in die sie hineinprojiziert werden, »zur Masse, [...] zu einer perfiden, gleichgültigen Unzerbrechlichkeit« (VI, 1071). Sie erstarren. In der Pendelbewegung der Schaukel kann man aber auch, begreift man diese als die perpetuierte Bewegung auf Etwas zu und von diesem Etwas wieder weg, – wobei im oben genannten Gedicht dieses Etwas die ›köstlichen Früchte‹ des Baumes sind –, eine Konfiguration ständigen Alternierens zwischen weitmöglichster Nähe und weitmöglichster Ferne sehen. In dieser Eigenschaft bietet sich die Schaukel, wie Marcel Kunz scharfsinnig bemerkt, als ›narzisstisches‹ Symbol an, d.h. als Bild für den ›Lebensraum des Narziss‹. Im ständigen Alternieren zwischen Nah- und Fernsein lasse sich zumindest immer wieder für einen Augenblick erreichen, was auf Dauer nicht möglich ist: das Ankommen, das in Kunz’ Narziss-Paradigma einer Vereinigung mit dem Spiegelbild gleichkommt. Bei der Schaukel gehe es »einzig darum, [...] diese Augenblicke des [fast Erreichten] zu wiederholen«. Das leiste die Schaukel »im immer wieder erneuten möglichen Nahesein«.72 Dass es hier, wie Kunz betont, »überhaupt nicht um ein Erreichen, sondern um das mögliche Nahesein am ›immer zu Hohen‹, um das ›fast‹-Erreichen geht«,73 wird verständlich, wenn man bedenkt, dass das Ankommen die Vernichtung der eigenen Existenz bedeutet. Kunz beschreibt das Narziss’
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Ja, der Rilke’sche Held suche geradezu den Untergang, »seine eigentliche Geburt, weil er erst in dieser äußersten Möglichkeit seines Daseins zu seinem eigentlichen Sein, zur Existenz durchstößt«, so O.F. Bollnow (Rilke: Stuttgart 1951, 213). Kunisch sagt vom Rilke’schen Helden, er habe »allen ›Untergang‹ schon hinter sich« und werde deswegen in der 6. Duineser Elegie »zu einer der exemplarischen Gestalten der Freiheit, die ihren Ort außerhalb des Schicksals und des Gegenübers gewonnen hat« (Kunisch: »Problem der Mystik«, 199). Vgl. Kunz: Narziß, 104. Kunz: Narziß, 98.
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Situation inhärente Paradoxon so: »Narziss verharrt vor dem ›noch nicht‹ erreichten Gegenüber, er weiß aber, dass dieses Gegenüber im Augenblick der Vereinigung ›nicht mehr‹ sein wird.«74 Das Gegenüber wird deswegen ›nicht mehr‹ da sein, weil Narziss selbst im Zuge der ›Vereinigung‹ untergehen wird. In dieser Topologie, die die Bewegung der Schaukel entwirft, konfiguriert sich der Widerstreit zwischen der Sehnsucht nach Vereinigung und nach Getrenntsein. Das Gedicht stellt also eine eindeutige Polarität auf; den beiden ›Enden‹ entsprechen gleichwertige bzw. in gleichem Maße ausgeprägte Bestrebungen: nach Nah- und Fernsein, nach Eins- und Getrenntsein. Beides bereitet (halbe) Lust.75 Die Genitivmetapher, die den Auftakt zur »Zueignung an M« bildet, – »Schaukel des Herzens« –, wie jene zweigliedrige Genitivmetapher, die den zweiten Teil des Puppenaufsatzes einleitet, korreliert Schaukel und Herz. Schließlich schien die auf ihren Bewegungsablauf reduzierte Schaukel das, um Malte zu zitieren, ›äußere Äquivalent‹ eines psychischen Dramas zu bilden. Insofern leuchtet es ein, wenn sie mittels dieser Zueignung und Essay gemeinsamen Metapher dem Herzen gleichgesetzt wird. Das Kindesherz bietet sich in besonderem Maße als Analogon an, denn der psychische Standort des Rilke’schen Kindes ist in der Mitte zwischen Vereinigung (bzw. Allbezug) und Getrenntsein anzusiedeln, zwischen den beiden »Enden des Seils, diese[n] Hälften der Lust«, wie es in der Zueignung heißt. Bezieht man das Schaukelmotiv speziell auf den Puppenaufsatz, so kann man konstatieren: Die Seele des Schaukelpferds ist deswegen »glaubwürdig«, »fast sichtbar«, weil in ihrer Bahnlinie Seelisches eine äußere Form,
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Kunz: Narziß, 94. Insofern halte ich Kunz’ Betonung der Sehnsucht nach Nähe, – es gehe »einzig darum, [...] diese Augenblicke des [fast Erreichten] zu wiederholen« (Kunz: Narziß, 104) –, für einseitig. Ausgewogener ist Kunz’ Interpretation der Ambivalenz in der Geste gleichzeitiger Werbung und Abwehr in der 7. Duineser Elegie, wo es heißt: »Glaub nicht, daß ich werbe. / Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. / Denn mein Anruf ist immer voll Hinweg, [...]« (I, 713). Er interpretiert die Zweideutigkeit des Satzes »Anruf ist immer Hinweg«, der zwei kontradiktorische Lesarten des Wortes ›Hinweg‹ ergibt, – die eine mit der Betonung auf der ersten Silbe (›Hìnweg‹), die andere mit der Betonung auf der zweiten (›Hinwég‹) –, als gewollte Ambivalenz. Nimmt man ein solches Changieren der semantischen Bestimmung dieses Wortes wahr, so scheint es die figurale Bewegung der Schaukel zu kopieren. Vgl. die etwas anders ausfallende Topologie Kochs in Bezug auf die Bedeutung der Kindheitserinnerungen in den Aufzeichnungen, bei der Kindheit und Erwachsenenalter sozusagen als die beiden ›Bezugspunkte‹ einer ähnlichen ›Hin- und Herbewegung‹ identifiziert werden (siehe Koch: Mnemosyne, 249).
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eine Ausdrucksform findet. Die Tatsache, dass das Schaukelpferd ein äußeres Äquivalent für das Kindesherz darstellt, begründet die empathische Beziehung zwischen dem Kind und diesem Spielzeug. Seelischer ›Gehalt‹ und äußere ›Gestalt‹ könnten kaum eine engere Verbindung eingehen als hier in der Verknüpfung von Kindesherz und Schaukelpferd. Konnte hier die Schaukelpferdseele als ›äußeres Äquivalent‹ des Kinderherzens, der Kinderseele identifiziert werden, so scheint die »einfältige Seele des Balls« (VI, 1071) ein weiteres solches Äquivalent darzustellen. Auch der Ball verfügt über ein Potential an ›Figuralität‹, das Rilke sich in einer Reihe von dichterischen Zeugnissen zu Nutze macht, am eindrücklichsten im mustergültigen ›Ding-Gedicht‹ »Der Ball« aus den Neuen Gedichten. Ist für die Schaukel bzw. das Schaukelpferd als Figur die Pendelbewegung von konstitutiver Bedeutung, so ist es beim Ball die Bewegung des Steigens und Fallens, die sein ›figurales‹ Potential ausmacht. Auch hier werden die Konturen des Immanenten und Transzendenten figural nachgezeichnet, auch hier wird die Möglichkeit einer Interaktion dieser beiden Sphären suggeriert. Auf Grund seiner besonderen Charakteristika ist der Ball aber auch dazu prädestiniert, ein ›Kindheits-Ding‹ im idealen Sinne zu werden. Er ist, wie das Gedicht »Der Ball« sagt: zu wenig Ding und doch noch Ding genug, um nicht aus allem draußen Aufgereihten unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten: [...] (I, 639)
Somit nimmt er eine ähnliche Zwischenstellung ein – zwischen der Innenwelt des Subjekts und der Außenwelt der Objekte – wie das Spielzeug im »Requiem«, wie die Puppe. Als »doch noch Ding« gehört er halb der Außenwelt an, als »zu wenig Ding« halb einer nicht näher spezifizierten ›Innenwelt‹, aber es besteht nicht die Gefahr, so das Gedicht, dass er »unsichtbar plötzlich in uns ein[...]gleiten« würde. Man erinnere sich an die Furcht des Kindes, die Welt könnte »unabgegrenzt in uns über[gehen]« (VI, 1067).76 76
Vgl. Allemann, der diese Stelle in genau umgekehrtem Sinne auffasst: »[...] die Substanz des Balls hält sich noch in der Dingwelt, der Außenwelt, aber die Möglichkeit, daß sie plötzlich unsichtbar ins Innere träte, ist bereits unmittelbar gegeben« (Allemann: Zeit und Figur, 60). Wie mir scheint, ist die Aussage des Gedichts eindeutig: Der Ball ist »doch noch Ding genug, um nicht [...] in uns einzugleiten« (Hervorhebung d. Vf.).
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Ein Gedicht aus dem Zyklus »Im Kirchhof zu Ragaz Niedergeschriebenes« widmet sich dem Ball-Motiv und setzt es in spezifischen Bezug zum Kind. Die Idee hinter dem Gedicht mit dem Titel »Das (nicht vorhandene) Kindergrab mit dem Ball« ist sehr einfach: Als Grabfigur, d.h. als Erinnerungsmal an das Kind, eigne sich statt des herkömmlichen Kreuzes vielmehr der Ball, dieses »kleine[...] Ein-mal-eins / des Todes«. Der Sprechende im Gedicht, der das fiktive Kind anredet, beschwört: [...] es liege der Ball, den du, zu werfen, dich freutest, – einfacher Niederfall – in einem goldenen Netz über der tieferen Truhe. (II, 172)
Das Gedicht schafft eine ähnlich extensive Identifikation zwischen Kind und Ball wie die in Puppen hergestellte Identifikation zwischen Kind und Schaukelpferd(seele). Die Phänomenologie des Balles wird vom begrenzten Horizont des Kindes aus erfasst. Die Dimensionalität, die er im Ball-Gedicht der Neuen Gedichte77 als Gleichnis für die Wechseldynamik von Immanenz und Transzendenz erhält, reduziert sich hier entscheidend; er wird zum »kleine[n] Ein-mal-eins / des Tods« (Hervorhebung der Vf.). Dem entspricht auch der engere Bewusstseinshorizont des Kindes. Es wird zwar wegen seiner Fähigkeit zur Integration von Leben und Tod gerühmt, diese Fähigkeit ist aber nicht erworben, sondern liegt im Entwicklungsstand seines Bewusstseins begründet. Die vom Erwachsenen erlittene Spaltung des Daseins in Leben und Tod wieder aufzuheben gestaltet sich weitaus schwieriger. In Entsprechung zur oben zitierten Formel könnte man den Ball, sofern er sich auf die Existenz des Erwachsenen bezieht, als ›das große Ein-mal-eins des Todes‹ bezeichnen. Obwohl Puppen keinen expliziten Vergleich zwischen Kind und Ball anstellt, tut dies das zu Ragaz niedergeschriebene Gedicht. Denn der Tod des Kindes wird mit dem »einfache[n] Niederfall« des Balles verglichen. Das Motiv erfährt hier eine Zurücknahme der transzendenten Dimension, die in der Attribuierung des Kindesballs in Puppen als ›einfältig‹ und ›gefällig‹ – man beachte hierin den zweifachen Anklang an ›fallen‹ – auch angedeutet zu sein scheint. Wo es also, wie in »Der Ball«, um die Beziehung des Er-
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Siehe u.a. die Interpretation von Engel in: Rilkes Elegien, 116ff.
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wachsenen zu diesem Gegenstand geht, wird die sich im Bewegungsablauf des geworfenen Balls manifestierende Transzendenz-Immanenz-Polarität besonders stark akzentuiert, – Wurf, Wende, Fall –, während beim Ball, der die Funktion eines Analogons zum Kind erhält, die Bewegung des Fallens und die anschließende Ruhe das dichterische Bild bestimmen. In seinem goldenen Netz ruhend bildet der Ball das tote Kind in »der tieferen Truhe« nach, – beide »befolgen dasselbe Gesetz«. Zum einen hängt das natürlich mit der Allegorisierung des Balls in diesem Gedicht zusammen. Sein »einfacher Niederfall« soll für den Kindestod stehen. Das ist aber noch nicht alles. Auch in Puppen wird in der Gestaltung des Ballmotivs die Betonung nicht auf Bewegung und Wechseldynamik gelegt, wie im Ball-Gedicht der Neuen Gedichte, sondern eben auf die ›Gefälligkeit‹ und ›Einfältigkeit‹ des Balls, und das in einem Kontext, in dem der Tod gar nicht thematisiert wird. Die Ausgestaltung des Ballmotivs im spezifischen Kontext der Kindheitsthematik, die die Polarität des Motivs in den Neuen Gedichten vermissen lässt, dient der engeren Verknüpfung von ›Form‹ und ›Gehalt‹, von ›Gestalt‹ (des Balls) und ›Seele‹ (des Kindes): Für das Kind hat ein solcher Dualismus zwischen Immanenz und Transzendenz eben keine Relevanz. Obwohl in Puppen der Ball nicht, wie das Schaukelpferd, mit der Puppe explizit kontrastiert wird, ergibt ein Vergleich dieser beiden Gestalten bald auch ein oppositionelles Verhältnis. Wie die Puppe fungiert hier auch der Ball für den Menschen allgemein, so das letzte Gedicht aus der Trilogie »Im Kirchhof zu Ragaz Niedergeschriebenes«, als eine Art Projektionsobjekt, – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne: Wir werfen dieses Ding, das uns gehört, in das Gesetz aus unserm dichten Leben, [...] Da schwebt es hin und zieht in reinem Strich die Sehnsucht aus, die wir ihm mitgegeben –, (II, 173)
Indem wir den Ball werfen, ›projizieren‹ wir also unsere Gefühle – »die Sehnsucht« – aus uns hinaus: hier in den Ball, dort in die Puppe hinein. Als Projektionsobjekt unserer Gefühle unterscheiden sich Puppe und Ball aber grundlegend in Hinblick auf das, was mit diesen Gefühlen geschieht. Beim Ball ist die ›Rückkehr‹ gesichert. Bei der Puppe dagegen nicht: »gefüllt mit der Hälfte des Daseins« stürzt sie ab. Der Ball »zieht in reinem Strich / die Sehnsucht aus«, zieht also die »ihm mitgegebene[n]« Gefühle 172
in die Höhe, »sieht uns zurückgeblieben, wendet sich / und meint, im Fall, der zunimmt, uns zu heben«. Sein Fallen ist zugleich ein Steigen. Der Ball zieht uns mit herauf; es kommt zu einer uns ›erhöhenden‹ Interaktion mit ihm, – allerdings erst im Erwachsenenalter, denn der Ball der Kindheit ist, wie wir sehen konnten, ›einfältig‹ und ›gefällig‹. Zusammenfassend halte ich fest: Die beiden hier beleuchteten und in den größeren dichterischen Kontext gestellten Kindheits-Dinge, das Schaukelpferd und der Ball, zeichnen sich durch weitgehende Übereinstimmung zwischen Form und Gehalt, Gestalt und Seele aus, und stehen, auf je eigene Weise, in einem identifikatorischen Verhältnis zum Kind. Dagegen zeichnet sich die Puppe durch eine besonders markante und deutungsbedürftige Diskrepanz zwischen der äußeren Gestalt und der ›Seele‹ aus, die im Gegensatz zur ›sichtbaren‹ Schaukelpferdseele auf weite Strecken hin unsichtbar bleibt. Dieser ›Puppenseele‹ ist der letzte Abschnitt des Essays gewidmet. Sie wird auch ins Zentrum der folgenden Überlegungen gestellt. 2.3.2. Metamorphosen »O Puppenseele, die Gott nicht gemacht hat [...]«, so der Auftakt zum letzten Abschnitt des Essays. Wie haben wir uns diese »von einer unbesonnenen Fee launisch erbetene, von einem Götzen mit Überanstrengung ausgeatmete Dingseele« vorzustellen, die »wir alle […] erhalten haben und aus der keiner sich völlig zurücknehmen kann« (VI, 1073)? Zu denken ist an eine der Materie anhaftende Schicht oder Sphäre der Seele, wenn man so will, eine äußere Gestalt der Seele, die im Idealfall – wie beim Ball oder Schaukelpferd – mit der inneren weitgehend im Einklang steht. Ich hatte bereits konstatiert, die Puppe erfahre einen solchen Einklang nicht, sie sei Opfer einer un-›heil‹-vollen Spaltung in Stoffliches und Seelisches. So ist wohl die eigentliche Seele, die in der Lage wäre, die Ebene des materiellen ›Puppendings‹ zu transzendieren und, in der visionären Vorstellung der unvollendeten Kindheitselegie, mit dem Kind eine ›figurale‹ Beziehung einzugehen, »nie recht getragen worden«. Sie ist, so der Essay, »immer nur, beschützt von allerhand altmodischen Gerüchen, in Aufbewahrung« gewesen, – »wie die Pelze im Sommer« (VI, 1073). An dieser Stelle tritt der Essayist in die erzählerische Gegenwart und erinnert sich an die Pritzelschen Wachspuppen. Auf sie bezieht sich das folgende Szenario, das eine bislang höchstens unter der Oberfläche mitschwingende Bedeutungsebene des Wortes ›Puppe‹ ins Spiel bringt, deren 173
symbolischer Gehalt im ausklingenden Bilderkomplex des Essays zur vollen Entfaltung gelangt: [...] siehe, da sind nun in dich die Motten gekommen. Zu lange hat man nicht mit dir gerührt, nun schüttelt dich eine Hand, besorgt und mutwillig zugleich, – sieh sieh, da flattern aus dir alle die kleinen wehleidigen Falter hervor, unbeschreiblich sterbliche, die im Augenblick, da sie zu sich kommen, schon anfangen, von sich Abschied zu nehmen. (VI, 1073)
Eine zweite lexikalische Bedeutung des Wortes ›Puppe‹ wird aktiviert und zum Bildspender für dieses Gleichnis am Schluss des Essays: die Puppe in ihrer zoologischen Bedeutung als »in völliger Ruhestellung in einer Hülle befindliche[r] Insektenlarve im letzten Entwicklungsstadium, in dem sie sich zum geschlechtsreifen Insekt entwickelt«.78 Eine Verknüpfung dieser Verwendung des Wortes ›Puppe‹ mit dem Spielzeug der Kindheit findet auf der Bildebene statt. Demnach ist die ›Puppenseele‹ wohl in der Wachspuppe zu finden, in der sie ›präserviert‹ wurde. Man wittert hier ein Wortspiel. Wo es heißt, die Pritzelschen Wachspuppen seien »die Erwachsenen zu jenen [...] Puppen-Kindheiten« (VI, 1064), so lese man ›die Er-wachs-enen‹. Diese ›er-wachs-enen‹ Puppen sind »in Aufbewahrung« gewesen und haben Motten bekommen. Wenn man die Puppen aus ihrer Glasvitrine herausnimmt und ihnen die Hand schüttelt, flattern »alle die kleinen wehleidigen Falter[n]« hervor. Dass die Falter, von denen hier die Rede ist, von Motten herstammen, ist signifikant, denn im Gegensatz zum traditionell positiv besetzten Schmetterling gilt die Motte als Schmarotzer. Das Bild, das aus Motten Falter macht, suggeriert also eine zweischichtige Metamorphose: die Gestalt verändernde Verwandlung der Mottenlarve in die Motte und die Erhöhung der Motte zum Falter, sprich zum Schmetterling.79 Dem entspricht die Aufspaltung der Puppe in ›Puppending‹ und
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Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim/Wien/ Zürich 1980. Da es mir bei den folgenden Anmerkungen zur Puppe in ihrer zoologischen wie kulturgeschichtlichen Bedeutung darum geht, gewisse für die Interpretationsarbeit relevante Sachverhalte auf möglichst transparente Weise zu vermitteln, begnüge ich mich hierbei weitgehend mit knappen, aber natürlich auch zum Teil sehr vereinfachten Darstellungen, wie sie die hier zitierten Lexika liefern. Zoologisch gesprochen besteht allerdings kein qualitativer Unterschied zwischen Motte und Schmetterling. Erstere bilden eine Untergruppe der Schmetterlinge. Auf der konnotativ-symbolischen Ebene ist aber die Motte im allgemeinen negativ, der Schmetterling im allgemeinen positiv besetzt. Siehe Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 191991, Bd. 15, 144.
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›Puppenseele‹80 und die damit einhergehende negative respektive positive Bestimmung der beiden Entitäten. Im nächsten Absatz wird dieses Bild weiter entfaltet, und es werden zusätzliche Anhaltspunkte für die Deutungsarbeit geliefert: So haben wir dich am Ende recht zerstört, Puppenseele, indem wir dich in unseren Puppen zu pflegen meinten; sie waren wohl schon die Larven, die dich aus-fraßen-, da erklärt es sich auch, daß sie so dick und so träge waren und daß an sie keine Nahrung mehr anzubringen war. (VI, 1073)81
Ein eigenwilliges Bild. Man stelle sich die ›Puppenseele‹ als die stoffliche Umgebung für die Larve, d.h. für das ›Puppending‹, vor. Indem aber die Larven ihren ›Nährstoff‹ assimilieren, höhlen sie die Seele aus: Diese wird ›aus-gefressen‹. Zu diesem Bild ist Dreierlei zu bemerken: Erstens zeigt sich hier in aller Deutlichkeit die pejorative Bestimmung des ›Puppendings‹. Das wurde an Hand des Mottenbilds bereits angedeutet. Denn Motten fressen mit Vorliebe die kostbarsten Stoffe. Im übrigen gibt es auch Schmetterlingsarten, die Wachs fressen.82 Somit erhält das ›Puppending‹ den Charakter eines Schädlings, eines Parasiten, der das Kostbarste, die Seele, ›aus-frisst‹. Das führt zum zweiten Punkt: Hier erfolgt eine eigenwillige Umkehrung des gängigen Bildes zur Darstellung solcher Dualismen von Geist bzw. Seele und Materie. Hier wird nämlich die ›Puppenseele‹ zur Hülle erklärt, während man das ›Puppending‹ ins Innere verlegt: in die Sphäre, wo herkömmlicherweise das Seelische angesiedelt wird. Und drittens: Die im ersten Teil des Essays ausgearbeiteten Charakteristika der Puppe, darunter ihre Undurchdringlichkeit und ihre Trägheit, werden im Nachhinein auf diese zweite Bedeutungsebene übertragen und von hier aus erklärt. Die Puppe sei deswegen »so dick und so träge gewesen«, so unempfänglich für jegliche Nahrung, ob psychischer, geistiger oder seelischer Natur, weil sie sich an der Puppenseele bereits ›vollgefressen‹ habe. Betrachten wir die zoologische Ebene: Das Wort ›Larve‹ bezeichnet zum einen das »frühe Entwicklungsstadium bestimmter Tiere, das im Hin-
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Rilke selbst verwendet den Ausdruck ›Puppending‹ nicht. Er wird im Folgenden verwendet, um die stoffliche Gestalt der Puppe von der ›Puppenseele‹ zu unterscheiden. Angelika Ebrechts Deutung dieser Passage veranschaulicht meines Erachtens, wie sehr man am poetischen Gehalt des Essays ›vorbeiredet‹, wenn man ihn als Symptom für eine wie auch immer geartete psychische Störung seines Verfassers betrachtet. Siehe Ebrecht: »Rettendes Herz«, 166. Siehe Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, München 1975, Bd. V, 20.
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blick auf die Gestalt [u. Lebensweise] von der endgültigen, ausgewachsenen Gestalt [u. Lebensweise] stark abweicht«.83 Die Larve, d.h. die Raupe, die in der Gestalt sich tatsächlich von der des Schmetterlings stark unterscheidet, ›verpuppt‹ sich, nistet sich ein und entwickelt im Kokon allmählich ihre Endgestalt. Sie schlüpft und wird zum Schmetterling. Die Ähnlichkeit zwischen dem aus Fäden gesponnenen Kokon und der aus Stoff gefertigten Puppe liegt auf der Hand. Dabei ist die Puppe im zoologischen Sinne – gemeint ist eine Insektenlarve im letzten Entwicklungsstadium – »fast stets eine Reliefpuppe (Pupa obtecta): Die Gliedmaßen des künftigen Falters sind reliefartig erkennbar«.84 Demnach kann die Puppe als eine verschleierte Vorform des ausgewachsenen Schmetterlings gesehen werden, die die letzte Phase der Metamorphose andeutet, denn sie ist reliefartig. Im zoologischen Sinne erhält der Kokon in Analogie zum ›Puppending‹, d.h. zur stofflichen Hülse, ›Vorwand‹-Charakter; er bildet eine ›Vor-Wand‹ für den im Stadium der Metamorphose begriffenen Schmetterling, die seine zukünftigen Konturen in ungenauer Weise durchschimmern lässt.85 Im Übrigen stammt der Begriff ›Metamorphose‹, der gerne im übertragenen Sinne als Synonym für seelisch-geistige Verwandlungsvorgänge verwendet wird, aus der Insektenkunde. Wiederum sei darauf hingewiesen, dass das Wort ›Larve‹ ursprünglich eine ganz andere Bedeutung hatte, von der die zoologische Bezeichnung abgeleitet wurde. Im späten Mittelalter bedeutete ›larve‹ ›Gespenst, Maske‹, aus dem Lateinischen ›larva‹, wiederum abgeleitet von ›lar‹: Schutzgeist.86 Die ›Laren‹ waren altrömische Schutzgeister der Familie, deren Abbildungen (in Form von Statuetten oder Reliefs) in einem Schrein im Innern des Hauses aufgestellt wurden.87 In Anspielung auf diese Figuren steht ›Larve‹
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Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich 1980. Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 171973, Bd. 16, 757. Man darf allerdings nicht vergessen, dass bei Rilke der Begriff ›Vorwand‹ sich auf eine ganze Reihe von Motiven und Gestalten bezieht, auf die eine solche spezielle Bedeutungsnuance nicht zutrifft. Die Bedeutung dieses Begriffs erschöpft sich also nicht in dieser auf einen spezifischen Kontext bezogenen Deutung. Vgl. auch: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart/Weimar 1999, Bd. VI, 1156. Bezogen auf die Welt der römischen Antike heißt es: »Das Wort [›larva‹] bezeichnet auch eine Maske, die die Züge eines Gespenstes hat [...].« Siehe Der neue Pauly, Bd. VI, 1149; siehe auch Meyers Neues Lexikon, 21973, Bd. 8, 371 bzw. Brockhaus Enzyklopädie; Mannheim 191991, Bd. 13, 87.
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denn auch für ›Maske‹ im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, wobei das Wort im letzteren Fall eine weitgehend pejorative Bedeutung erhält: ›das Gesicht hinter einer Larve verstecken‹, ›eine Larve tragen‹ im Sinne von ›nicht das wirkliche Wesen zeigen‹ werden als mögliche Verwendungen des Wortes angegeben. Schließlich entsteht das Adjektiv ›larviert‹ im Sinne von ›versteckt‹, ›verborgen‹, das in der Medizin zur Beschreibung verborgener und versteckter Krankheiten benutzt wird: »Die Depression ist in diesem Stadium larviert.«88 Die Laren waren Rilke mit Sicherheit ein Begriff, hieß doch sein erster, 1896 veröffentlichter Gedichtzyklus Larenopfer. Stellt man das Wort ›Larve‹ in diesen etymologischen Kontext, so kommt es zu einer bemerkenswerten Verdichtung und Verquickung der verschiedenen Bildelemente und -ebenen des Puppenmotivs. Ein Vergleich zwischen Larenstatuette bzw. Larenrelief und Puppe in Hinblick auf die Tatsache, dass beide Abbildungen des Menschen darstellen, ergibt dieselbe Negativ-Positiv-Kontrastierung, wie sie in der Gegenüberstellung der Puppe mit ähnlichen Vergleichsobjekten durchweg festgestellt wurde. Die Larenabbildungen sind wohl der Kategorie des ›Kunst-Dings‹ zuzuordnen, während die Puppe hier als ›AntiKunstding‹ bezeichnet wurde. Es steht Maske im erhöht-ästhetischen Sinne gegen Maske im abwertenden Sinne: Als Larve verstelle die Puppe den Blick auf das Wesentliche, sie sei als ›Vor-Wand‹ im negativen, wirklichkeitsverfälschenden Sinne zu verstehen. Letztlich enthält die semantische Bestimmung des Wortes ›Larve‹ mitunter Elemente des Heimtückischen, das der Puppe auch bescheinigt wird, am deutlichsten in der unvollendeten Kindheitselegie, wo sie als Verräterin des Kindes hingestellt wird. Ein geistesgeschichtliches Detail sei noch angemerkt. Dass zu altrömischen Zeiten die Abbildungen der Laren in einem Schrein standen, lässt einen an die Pritzelsche Wachspuppensammlung denken, die in einer Vitrine oder Ähnlichem ausgestellt wurde.
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Siehe Duden: Das große Wörterbuch, 8, 2024. Interessant ist in diesem Zusammenhang der in den Städten Mittelitaliens gepflegte Kult der ›lares publici‹, wie er im Neuen Pauly beschrieben wird als drei Tage andauerndes Fest, das an den Straßenkreuzungen bei den Larenkapellen stattfand. Wie berichtet wird, hängt jede Familie an den Straßenkreuzungen »so viele wollene Puppen und Bälle auf, wie Freie bzw. Sklaven im Haus wohnten. [...] Den Laren opferte man Kuchen [...], Knoblauch und Mohnköpfe.« (Der neue Pauly, Bd. VI, 1148.) In Bezug auf den Kult der ›lares privati‹ liest man unter anderem: »Als Zeichen des Endes ihrer pueritia (›Kindheit‹) weihten die Bräute [den Laren] die Puppe, die Bälle, das Haarnetz und die Binde der Brust [...].« Ebenda, 1149.
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Für eine Deutung dieser Zusammenhänge, die dem Leser zu einem besseren Verständnis des letzten, entscheidenden Abschnitts des Essays verhelfen soll, bedarf es aber noch eines weiteren Blickes auf die kulturgeschichtlichen Hintergründe der hier relevanten Motive. In der Regel wurden die Laren – als Schutzgeister der Familie – und der Genius – als Schutzgeist und »göttliche Verkörperung der im Mann wirksamen zeugenden Kraft«89 – zusammen abgebildet.90 Ferner erfährt man, dass seit dem 17. Jahrhundert »v[or] a[llem] in der Kunst die Bez[eichnung] Genien als Gattungsname auf männl[iche] und weibl[iche] Flügelgestalten übertragen« wurde.91 Schließlich erhält die Bezeichnung ›Genius‹ in ihrer allgemeinen Verwendungsform die Bedeutung von »höchste[r] schöpferische[r] Geisteskraft« bzw. sie steht für einen Menschen, der solche besitzt. Ein letztes kulturgeschichtliches Faktum sei noch angeführt. Über die Kulturgeschichte des Schmetterlings wird berichtet: Im Altgriechischen wurde das Wort Psyche (Seele) auf Nachtfalter übertragen. Man dachte sich die Seelen der Verstorbenen als kleine geflügelte Wesen, die an den Gräbern herumfliegen. [...] In der christlichen Symbolik ist der Schmetterling einerseits Sinnbild eines flatterhaften Wesens von vergehender Schönheit und kurzer Lebensdauer, andererseits Sinnbild der Auferstehung.92
Dieser kleine Ausflug in die Symbolgeschichte des Schmetterlings kann wichtige Anhaltspunkte für die Interpretation des Puppenmotivs liefern. Es lässt sich eine Vielfalt von Verbindungslinien zum Bilderkomplex in Puppen feststellen. Der Selbstvorwurf des Sprechenden in Puppen, wonach wir, die Menschen, die Puppenseele »recht zerstört [hätten], indem wir [sie] in unseren Puppen zu pflegen meinten«, besagt, dass wir ›Puppenseele‹ und ›Puppending‹ für Eines hielten und die ›Puppenseele‹ in die Gestalt des ›Puppendings‹ projizierten, indem wir sie immer dort suchten, anriefen, indem wir so taten, als ob sie darin sei. Diese Aussage bestätigt die oben formulierte Deutung, die die Puppe zum Projektionsobjekt für das Kind erklärte. Die ›Puppenseele‹ erweist sich demnach als unsichtbarer Träger all
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Brockhaus, 191991, Bd. 8, 300. Siehe Der neue Pauly, Bd. IV, 915ff; siehe auch Brockhaus, 191991, Bd. 8, 300. Dort liest man: »Auf pompejan[ischen] Wandgemälden ist der G[enius] des Hausherrn in der Gestalt eines am Hausherd opfernden Mannes dargestellt, mit Füllhorn und Schale und meist inmitten zweier Laren.« (300) Brockhaus, 8, 300. Brockhaus, 171973, Bd. 16, 757.
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der authentischen Kindheitsgefühle, die der Puppe anvertraut wurden, als Träger all der authentischen Kindheitserlebnisse, die die Puppe als ständige Begleiterin des Kindes ›miterleben‹ durfte. Letztlich kommt es also zu einer Entsprechung von Kinderseele und ›Puppenseele‹. Die Puppenseele verkörpert den ›präservierten‹ Geist der Kinderzeit, der sich als das ›Eigentliche‹ hinter der ›Vor-Wand‹ ›entpuppt‹.93 Aber obwohl das ›Puppending‹ als Larve im abwertenden Sinn sich parasitär und heimtückisch verhält und als solche das Kostbarste, d.h. die authentischen Erlebnisse der Kinderzeit und die damit verbundenen Gefühle zu zerstören droht, erfüllt es doch auch eine positive Funktion in seiner ›Laren‹-haftigkeit. Man entsinne sich der Tatsache, dass im altrömischen Denken die Laren den Genius umgeben, d.h. dass sie als Schutzgeister der »höchste[n] geistige[n] Schöpferkraft« fungieren. Ich schrieb dem ›Puppen-
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Im Einklang mit dieser Deutung ist eine im Gespräch mit Magda von Hattingberg über die Pritzel’schen Puppen fallende Äußerung, die gemacht wurde in Reaktion auf ihren Gedanken, die Puppe sei doch »die Vertraute ihrer Kindheit« gewesen, der sie ihre »Nöte und Erlebnisse« erzählt habe, die alles verstanden habe. »›Das lag aber nur an dir‹» – so Rilke – »›denn du meintest eine Seele, die Puppenseele. Du hast in deiner Schöpferfreude ihr deine eigene Seele gegeben und dann war sie in ihr – durch dich.« (von Hattingberg: Rilke und Benvenuta, 203f.) Unter Bezugnahme auf dieses Gespräch kommt Steiner zu dem Ergebnis – ganz im Sinne von Stephens –, dass die Puppenseele weder im Kind noch in der Puppe zu orten sei, sondern »im reinen Bezug zwischen Puppe und Ich« liege. Sie werde von uns deswegen »zerstört«, weil wir sie »in der vergänglichen Stofflichkeit des ›Weniger-als-ein-Ding‹» sehen und »nicht im reinen Bezug« (Steiner: »Motiv der Puppe«, 141). Worin dieser ›reine Bezug‹ bestehen soll, sagt Steiner hier nicht. Darüberhinaus überzeugt diese Argumentation nicht, denn wenn die Puppenseele tatsächlich im ›reinen Bezug‹ ist, kann sie wohl kaum dadurch ›zerstört‹ werden, dass wir sie im ›Puppending‹ zu sehen meinen. Wenn Steiner behauptet, die Wachspuppen der Lotte Pritzel seien »die wahre Gestalt dieses in der Puppe materialisierten Scheinverhältnisses« (ebenda, 141), so verfehlt er die Komplexität dieser Gestalt, deren Vielschichtigkeit erst durch die Aktivierung der zweiten Bedeutungsebene des Wortes ›Puppe‹ konstituiert wird. Etwas weiter unten bezeichnet Steiner den Bezug zwischen Puppe und Kind als rein, aber nur, insofern als diese »als zwei Seiende [erscheinen], die ursprünglich getrennt sind und einander nicht überfordern (konkret gesprochen: indem das Kind sich der Dinghaftigkeit der Puppe bewußt ist [...]« (ebenda, 144). Es scheint mir jedoch äußerst problematisch, die Puppe als vom Kind getrenntes ›Seiendes‹ betrachten zu wollen, konstatierte ich doch das Angewiesensein der Puppe auf das Kind als das, was ihr ihre besondere Bedeutung erst verleiht. Genauso wenig dürfte ihre ›Dinghaftigkeit‹ die Basis für ihren Bezugscharakter darstellen, erwies sie sich doch, so meine Interpretation, als ›Anti-Ding‹. Und sie kann keinesfalls als »gleichberechtigtes menschliches Gegenüber« gewertet werden (ebenda, 144).
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ding‹ eine ähnliche, durchaus positive Schutzfunktion zu. Sie sei, so die Deutung dieser Arbeit, eine Schutzmauer um das noch sehr Ich-schwache Kind gewesen, die verhinderte, dass damals »die Welt unabgegrenzt in [es] überging«, hätte diese doch das verletzliche Kind überflutet und zerstört. Auch in diesem veränderten metaphorischen Kontext drückt sich die Zwischenstellung der Puppe aus. Bei aller Unvollkommenheit bietet sie dem Kind den nötigen Schutz vor dem Außen. Sie dient aber auch als zumindest vorläufiger Ort, vorläufiges Gefäß zur Aufbewahrung von in sie Hineinprojiziertem, ihr Anvertrautem aus der Innenwelt des Kindes, das zu gegebener Zeit preisgegeben wird. Das scheint auch das ausklingende Bild zu suggerieren. Aus der ›erwachs-enen‹ Puppe »flüchtet dieses neue scheue Geschlecht hervor und flattert durch unser dunkles Gefühl« (VI, 1073). Dieses Geschlecht, die »kleinen wehleidigen Falter«, sind als die metamorphosierten Gefühle und Erlebnisse aus der Kinderzeit vorzustellen, die in der Preisgabe durch den nur allzu unvollkommenen Beschützer, das ›Puppending‹, in höchstem Maße gefährdet sind. Es sind »unbeschreiblich sterbliche, die im Augenblick, da sie zu sich kommen, schon anfangen, von sich Abschied zu nehmen« (VI, 1073). Ja, sie grenzen gar ans Unhörbare, »man möchte sagen, daß es kleine Seufzer sind, so dünn, daß für sie unser Ohr nicht mehr ausreichte«. Auch ans Unsichtbare, denn »sie erscheinen, schwindend, an der schwankendsten Grenze unseres Gesichts« (VI, 1073). Diese Falter können letztlich als die präservierte und verwandelte Seele des Kindes gedeutet werden, im Einklang mit der Tradition der Schmetterlingssymbolik, die den Schmetterling zum Sinnbild für die Seele bzw. die Psyche macht.94 »Man dachte sich die Seelen der Verstorbenen als kleine
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Falter und Puppenseele des Puppenaufsatzes werden von seinen Interpreten auf ganz unterschiedliche Weise ›dechiffriert‹. Manch eine Interpretation erscheint doch sehr beliebig. Stephens identifiziert die Falter erst als »memories of our loss of faith in the harmony of self and world« (»Puppenseele und Weltinnenraum«, 70f.). Im nächsten Zug werden sie poetologisch interpretiert und als »the negative feelings and insights which are contained in the essay itself« (ebenda, 71) gesehen, um dann in einem zuletzt entworfenen historischen Modell zur Repräsentanz für »the more modern experiences and attitudes which have virtually destroyed it [die Puppenseele]«, wobei diese »the Romantic vision of the relatedness of ›Innen- und Außenwelt‹» symbolisiere. In diesem Sinne verkörpere die Puppenseele ein Prinzip, das man sonst unter dem Begriff des ›Weltinnenraums‹ kennt (ebenda, 72). Durch das dem Puppenmotiv inhärente Moment der Gespaltenheit scheine Rilke aber das romantische Element in seinem Werk zu attackieren, während er es im Begriff des ›Weltinnenraums‹ bejahe (siehe auch ebenda, 74f.). So betrachtet Stephens ›Puppenseele‹ und ›Weltin-
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geflügelte Wesen, die an den Gräbern umherfliegen«, berichtet man über die Todesvorstellungen der Altgriechen.95 Überträgt man diese Vorstellung auf das in Puppen entworfene Bild, so könnte man sagen, die Seele des ›gestorbenen‹ Kindes in uns, sprich die ›Puppenseele‹, flattere aus dem ›Grab‹ der Kindheit, aus dem ›Puppending‹, hervor. Ohne aber zu bleiben, denn ihre Zeit ist vorbei. Nur um ›aufzuerstehen‹ und erneut zu vergehen: »Denn dies allein beschäftigt sie: hinzuschwinden« (VI, 1073). Es wurde erwähnt, dass der Schmetterling als Bild in die christliche Symbolik von Tod und Auferstehung eingeht, dass er auch »Sinnbild eines flatterhaften Wesens von vergehender Schönheit und kurzer Lebensdauer« sei. Die Falter in Puppen suchen auch nicht das Bleiben, suchen kein Gefäß, das, wie die Puppe, sie aufsammeln und bewahren möge. Aber das Vergehen will ihnen auch nicht recht gelingen, sie finden »keinen Untergang in ihrer anstehenden Wollust, die nicht Zufluß noch Abfluß hat« (VI, 173). Die Kindheitsgefühle und -erinnerungen sind zwar kaum sichtbar, kaum vernehmbar, doch schwinden sie nicht ganz. Nur in der ausklingenden Vision, in Form einer noch nicht erfüllten Sehnsucht, wird ihr endgültiger Untergang beschworen. »Es ist, als verzehrten sie sich nach einer schönen Flamme, sich falterhaft hineinzuwerfen (und dann müßte der augenblickliche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, niegewußten Gefühlen überfluten).« (VI, 1073f.)96 Diese Vision bedient sich eines in der literarischen Tradition der Mystik gängigen Bildes, das die Vereinigung mit Gott zu veranschaulichen sucht:
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nenraum‹ gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille: »Rilke offers both a Romantic and a psychological understanding of the same phenomenon and by giving it two different names, avoids having to reconcile the one with the other.« (Ebenda, 75.) Ob die hier aneinander gereihten Dechiffrierungsversuche, die zusammengenommen eine zum Teil heterogene, und damit auch widersprüchliche Deutung ergeben, dem Text gerecht werden, bleibt fraglich. Ich vermisse hier die Einbindung der Deutung in die Topologie des Motivs als Ganzes. Will sie sinnvoll erscheinen, so muss meines Erachtens eine solche Deutung Larve, Motten, Falter und ›Puppenseele‹ in eine einleuchtende, die zweite, zoologische Dimension des Motivs mitberücksichtigende Relation stellen. Vielmehr scheint Stephens, – auch wenn Einzelaspekte seiner Deutung einleuchten –, dem Text eine etwas konstruierte allegorische Bedeutung überzustülpen, deren Einzelelemente beliebig bestimmt werden je nach der intendierten Aussage des Interpreten. Brockhaus Enzyklopädie, Leipzig/Mannheim 201996, Bd. 17, 582. Für Stephens’ Lesart des letzten Satzes des Essays, der in seinen Augen die Motten mit den Pritzel’schen Puppen gleichsetzt (Stephens: »Puppenseele und Weltinnenraum«, 71), kann ich keine Anhaltspunkte im Text finden.
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das Aufgehen des Selbst im alles überflutenden Licht bzw. im aufzehrenden Feuer.97 Zu diesem Bild kommt aber eine spezifisch Rilke’sche Komponente hinzu, die dem Moment der Vereinigung einen ganz anderen, in der mystischen Tradition nicht zu findenden Sinn verleiht. Statt in der Preisgabe des Selbst Vereinigung mit Gott: plötzliche, augenblickliche Preisgabe der aus der Kinderzeit stammenden »grenzenlosen, niegewußten Gefühle«, die uns ›überfluten‹, so wie das Licht Gottes den Mystiker überflutet, eine augenblickliche Vereinigung der Lebenszeiten also, von Kinderzeit und Erwachsenenalter, ein Aufblitzen der ›senkrecht stehenden‹ Zeit. Bevor ich diesen Gedanken weiter verfolge, sei auf eine eigenwillige Variation über das Motiv des im Kerzenlicht verbrennenden Falters verwiesen, das den Gegenstand von Rilkes kleiner, in französischer Sprache verfasster Schrift Petit Carnet darstellt. Sie enthält wesentliche Elemente der Kindheits- und Puppenmotivik, ohne dass der Text – außer etwa hinsichtlich eines Vergleichs – eine explizite Verbindung zu diesem Themenkreis herstellen würde. Gesprochen wird traditionsgemäß von der ›unfassbaren Pracht‹, die der Falter im Augenblick vor seinem Tod entfaltet, wobei er mit einer Dame verglichen wird, der auf dem Weg zum Theater ein Missgeschick passiert. Nur, dass der Falter wohl ohnehin nicht angekommen wäre, denn wo gäbe es auch das Theater für solch vergängliche Zuschauer, fragt sich der Schreibende. Hierin zeigt sich ihre Affinität zu den Faltern des Puppenessays. Wie die Puppe in Puppen erhält sie aber auch ›Vorwand‹-Charakter, vergleicht der Text doch unter Fortsetzung des
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Vgl. Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht« aus dem West-östlichen Divan: » In der Liebesnächte Kühlung, / Die dich zeugte, wo du zeugtest, / Überfällt dich fremde Fühlung, / Wenn die stille Kerze leuchtet. / Nicht mehr bleibest du umfangen / In der Finsternis Beschattung, / Und dich reißet neu Verlangen / Auf zu höherer Begattung. / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du, Schmetterling, verbrannt. / Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.« In: Goethes Werke. Hrsg. von Erich Trunz, Hamburg11 1978, Bd. II, 18f. Bezüglich der Schmetterlingsmetaphorik bei Goethe schreibt Christa Dill: »Höchste Sehnsucht ist die ›Selige Sehnsucht‹, die nach völliger Hingabe, nach ›Selbstopfer‹ verlangt; sie erfüllt sich in der höchsten Form der Liebe. Ihr Symbol ist der ›Flammentod‹. So wie nach alter orientalischer Überlieferung der ›Schmetterling‹ oder die ›verliebte Mücke‹ von der Kerze gebannt, geflogen kommt und ›des Lichts begierig‹ sich liebend in der Flamme verzehrt, so strebt der Mensch, dieser ›trübe Gast auf der dunklen Erde‹, aus der ›Finsternis Beschattung‹, die ihn ›umfangen hält‹, nach ›höherer Begattung‹.« (Christa Dill: Wörterbuch zu Goethes West-östlichem Divan, Tübingen 1987, XLV; vgl. auch 329f. und 269.)
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Theatermotivs ihre Flügel mit einem doppelten, vor ›irgendein Gesicht‹ gehaltenen Fächer. Transparent, wie die Flügel sind, lassen sie das von ihnen verhüllte Gesicht durchschimmern, so wie in der Insektenwelt die Larve die Gestalt des sich verwandelten Schmetterlings in Umrissen andeutet. Die Bildelemente des Puppenmotivs tauchen hier in einer veränderten Konfiguration auf; der Zusammenhang der einzelnen Elemente in diesem Kontext bleibt dunkel. Das Stück endet mit einem Bild, das Anklänge an die zur Charakterisierung der Beziehung zwischen Kind und Puppe verwendeten Metaphorik enthält, nur dass es hier um die Beziehungskonstellation Gott-Falter geht. Gott habe sich in dem Falter erschöpft, sich ›verausgabt‹ und werfe ihn in die Flamme (man merke hierbei, dass das traditionelle Bild eines aktiven Sich-in-die-Flamme-Stürzens sich in ein passives In-die-Flamme-Geworfen-Werden verwandelt), um ein wenig von seiner Kraft zurückzugewinnen: wie ein Kind, das seine Sparbüchse aufbricht.98 Überträgt man diese Komponente des Bildes auf die Puppenmotivik, so könnte man übersetzen: Das Kind wirft die aus der ›Puppenseele‹ hervor flatternden Falter in die Flamme, um ein wenig von der an die Puppe ›verschwendeten‹ ›Wärme‹ wiederzugewinnen. Der Text bedient sich derselben Bildersprache wie der Puppenaufsatz, wenn es um die ›Kostenaufstellung‹ geht, die das Kind für seine ›Ausgaben‹ verlangt. Es wollte ja wissen, was die Puppe mit seinem ganzen ›Vermögen‹ gemacht habe. Wenn der Gott dieses poème en prose letztlich mit dem Kind verglichen wird, das seine Sparbüchse aufbricht, um die dort aufbewahrten ›Schätze‹ wieder an sich zu nehmen, so erfährt das traditionelle Motiv eine weitere Umkehrung. Gott und mystisches Subjekt vertauschen die Rollen: Gott ist hier derjenige, der vom Aufbrennen des Falters ›profitiert‹. Der Vergleich zwischen der kleinen Schrift Petit Carnet und dem Essay Puppen zeigt, dass erstere in verdichteter Form wesentliche Elemente der Puppenmotivik vorweg nimmt und somit einerseits zu einem angemessenen Verständnis des Puppenessays beiträgt, andererseits durch den Bezug zu dieser transparenteren Dichtung selbst durchsichtiger wird für den Leser. Ihre poetischen Bilder gleichen Hieroglyphen, die sich mit Hilfe des Puppenessays entziffern lassen, die aber auch kraft ihrer poetischen Prägnanz eine neue Bedeutungsdimension des Essays eröffnen.
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Vgl. meine Anmerkungen zu Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht«.
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2.3.3. Spiegelungen Die Vereinigungsvision am Ende des Puppenessays wurde als ein Aufblitzen der ›senkrecht stehenden‹ Zeit interpretiert: Allemann und Kunz hatten den Spiegel zum paradigmatischen Geltungsbereich der ›senkrecht stehenden‹ Zeit, der »temporale[n] Fülle« erklärt,99 in der Vergangenheit (Kindheit), Zukunft (Tod) und Gegenwart sich als ein Gleichzeitiges offenbaren. Auf Grund seiner Phänomenologie wird der Spiegel im Werk Rilkes zum Sinnbild für die wechselseitige Projektion von Ich und Welt, für die gegenseitige Durchdringung von Innen- und Weltraum, die Rilkes Erfahrung von ›Weltinnenraum‹ zu Grunde liegt. Ein Gedichtentwurf für Erika Mitterer aus den letzten Lebensjahren des Dichters zeigt eine wohl visionär zu nennende Umkehrung der Verhältnisse, einen Prozess der ›Verinnerlichung‹ nach vorausgegangener ›Veräußerlichung‹, den das Gedicht »Vor Weihnachten 1914« im Sinne einer Kontaktaufnahme mit der Außenwelt und eines Austretens aus der symbiotischen Einheit, also einer Konturierung von Innen versus Außen vorführt. Dieser Gedichtentwurf führt eine Art ›Verinnerlichung‹ von Welt herbei, bei der die zuvor geleistete Bewegung auf die Welt zu umschlägt, das Ich sich die Welt ›einverleibt‹: Flammen schlagen einwärts, Wege rollen sich in dein Nach-Innen-gehen ein, Blumen stürzen in die Wurzelknollen, und der trinken will, vergießt den Wein, weil sein Mund aus Erde stammt [...] (II, 507)
Auch hier die mystische Geste des Trinkens.100 Auch hier das Spiegelmotiv: »Spiegelbilder deiner Pfeile flogen / in die glatte Spiegelfinsternis«. Was in die Welt zuvor hinausprojiziert wurde – ›deine Pfeile‹ – wird zurückprojiziert, nach innen genommen und darin von einer Art unsichtbaren – daher ›finsteren‹ – Spiegel aufgenommen. Das Innen wird zur Projektionsfläche für das Außen.101 Zu den in diesem Entwurf enthaltenen Bildern gehört 99 100 101
Allemann: Zeit und Figur, 255. Vgl. Kunz: Narziß, 121. Zum Verständnis dieses Gedichts vgl. Kunz’ Charakterisierung des ›Weltinnenraums‹ als eine Art zweifache Inversion. Speziell zu diesem Gedicht vermerkt er: »Ich vergieße den Wein nicht anstatt ihn zu trinken, sondern indem ich ihn trinke. Weil mein Mund aus Erde stammt, ist das Trinken des Weins gleichzeitig ein Ausgießen in die Erde. Der Wein kehrt durch das Trinken zum Ursprung
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nun auch eines, das uns besonders interessieren dürfte. Etwas weiter unten heißt es: Kinderspielzeug in der Bodenkammer klopft noch einmal, innen überschwemmt, mit dem Puls des Kindes, oh Totenhammer! [...] (II, 507)
Anklänge an verschiedene Bilder zur Beschreibung der Puppe sind erkennbar, zum einen an das Gleichnis, das die Puppe zur »oberflächlich bemalte[n] Wasserleiche« macht, »die sich von den Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit heben und tragen ließ« (VI, 1067). Allerdings ist dort die Überschwemmung draußen, während sie hier im Gedicht für Erika Mitterer innen erfolgt. Man rufe auch ein in den ersten Seiten des Essays angeführtes Motiv in Erinnerung, das die ›erwachsenen‹ Puppen folgendermaßen charakterisiert: Sind nun hier die Erwachsenen zu jenen, von echten und gespielten Gefühlen überpflegten Puppen-Kindheiten? Sind hier ihre, in menschlich übersättigte Luft flüchtig hineingespiegelten Früchte? Die Scheinfrüchte, deren Keime nie zu Ruhe kamen, bald von Tränen fast fortgewaschen, bald der glühenden Dürre der Wut ausgesetzt, oder der Öde des Vergessenseins; eingepflanzt in die weichste Tiefe einer sich maßlos versuchenden Zärtlichkeit und hundertmal wieder herausgerissen [...]. (VI, 1064)102
In diesen Bildern, dem Bild des ›innen überschwemmten‹ Kinderspielzeugs aus dem Entwurf für Erika Mitterer und dem hier zitierten aus Puppen, geht es um dasselbe Phänomen: Das Spielzeug spiegelt die in es hineinprojizierten Seelenregungen des Kindes zurück, wozu es gewissermaßen genötigt wird, und zwar dadurch, dass es von den Gefühlen des Kindes ›überschwemmt‹, ›überpflegt‹ wurde. Nur, dass man im Fall der Puppe das Spielzeug dafür verantwortlich macht: Das ›Puppending‹ ist »so dick und träge« gewesen, weil es sich an der ›Puppenseele‹, sprich der Kindesseele
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zurück, zur Erde, in der er gewachsen ist.« Kunz stellt den ›erhörten‹ Narziss in diesen Kontext, der »die Bereitschaft zum Verströmen [hat], weil er weiß, daß alles wieder sein eigen wird« (Kunz: Narziß, 121 bzw. 117). Rilke selbst beschreibt diese Puppen als »dem Einsehen, den Teilnehmungen, der Lust und dem Kummer des Kindes entwachsen«. (Zit. in Kunz: Narziß, 139.) Insofern sind sie aus ihrer Projektionsfunktion, die im Wort vom ›Einsehen‹ des Kindes zum Ausdruck kommt, entlassen.
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›vollgefressen‹ habe. Im Übrigen ist auch die ›menschliche‹ Luft ›überschwemmt‹, – ›übersättigt‹. Im hier zur Diskussion stehenden Entwurf ist die Zurückspiegelung ins Unsichtbare, d.h. in die akustische Dimension überführt: Das Spielzeug pocht wie das Herz des Kindes. Die Identifikation von Spielzeug und Kind, die sich im »Requiem« in der empathischen Beziehung des Knaben zum Holzpferd, in Puppen in der Verbindung zwischen Kind und Schaukel bzw. Kind und Ball und auf einer höheren Ebene in der hier gedeuteten Entsprechung zwischen Puppenseele und Kindesseele manifestiert, nimmt fast absolute Formen an; das »Kinderspielzeug [...] klopft [...] mit dem Puls des Kindes«. Allerdings ist hier keine transzendente Dimension angedeutet. Im Gegenteil: Das Klopfen des Herzschlages wird als »Totenhammer« apostrophiert; es mutet wie eine mahnende Erinnerung an die Vergänglichkeit an. Hier macht der Herr, um das Gedicht ›Die Worte des Herrn an Johannes auf Patmos‹ zu zitieren, keine ›Pause‹; die metrische Zeit behält ihre volle Gültigkeit.103 Anders die unvollendete Kindheitselegie. Sie besingt die Kindheit, »[d]enn zeitlos hält sie das Herz« (II, 457). Anders auch die visionäre Zurückspiegelung des in die Puppe Hineinprojizierten im Puppenessay. Zwar stellt der Erwachsene kein ideales Spiegel-Gefäß dar, denn die »menschlich übersättigte Luft« dürfte genauso undurchdringlich sein wie anfangs die Puppe. Aber sie ist noch durchlässig genug, um zu ermöglichen, dass die »Scheinfrüchte«, sprich die ›er-wachs-enen‹ Puppen, deren ›Keime‹, d.h. die Puppen der Kinderzeit, in uns damals nie richtig Wurzeln schlagen konnten, »flüchtig« in uns »hineingespiegelt« werden. Entsprechend erscheint in der unvollendeten Kindheitselegie die Kindheit als Frucht, aber als sehr späte, erst im Erwachsenenalter heranreifende: Dem Erwachsenen erst »fruchtet die Kindheit« (II, 457). Mehr als ›flüchtig hineingespiegelt‹ werden wollen diese Scheinfrüchte aber auch nicht. Sie wollen ›hinschwinden‹, suchen einen Untergang ohne ›Zufluss‹ und ›Abfluss‹, wie der Schluss des Essays deutlich macht. Denn nur so, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, können sie ihre ganze Kraft entfalten, können sie uns mit den in ihnen aufbewahrten, »grenzenlosen, niegewußten Gefühlen überfluten«.
103
Vgl. »Die Worte des Herrn an Johannes auf Patmos« (vollständiger Entwurf), II, 443.
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Man könnte Maltes Wort vom ›Wiederleisten der Kindheit‹104 verstehen als den Versuch, die »kleine[n] Seufzer« dieser aufflatternden ›Puppenseele‹ zu vernehmen, einen flüchtigen Blick von ihrer Gestalt »an der schwankendsten Grenze unseres Gesichts« zu erhaschen, bevor sie schon »von sich Abschied nehmen« konnte. In diesem Sinne sind wohl die in den Insel-Almanach auf das Jahr 1914 eingeschriebenen Verse für Lotte Pritzel zu verstehen, die auf ihre Wachspuppen Bezug nehmen: Hinschwindende ganz leicht, eh sie vergehen, zurückzuhalten mit ein wenig Wink, aus Abschiednehmen und Nicht-wiedersehen ein Ding zu machen, so, daß dieses Ding verschwendend lächelt und sich auf den Zehen hinüberhebt um dem, was schon verging, leis beizuwohnen (: Rosen und Ideen –) (II, 212)
Meines Erachtens sind diese Verse poetologisch zu lesen. Sie formulieren einen Auftrag: Man möge die ›hinschwindenden‹ Kindheitsgefühle ›zurückhalten‹, um aus ihnen »ein Ding zu machen«, ein Ding, das »verschwendend lächelt« und in der Lage ist, »dem, was schon verging, / leis beizuwohnen«. Diese auf den ersten Blick sehr rätselhaft anmutenden Verse enthalten drei auf ›dieses Ding‹ zu beziehende Identifikationsmomente, die den in ihnen vorgebrachten Auftrag verständlich machen. Aufgrund des Adressaten dieser Verse sowie einiger im Text enthaltener Anspielungen auf den Schluss des Puppenessays stellt sich zunächst eine Identifikation zwischen Ding und Wachspuppe her. Das zeigt sich unter anderem darin, dass »dieses Ding« anthropomorphisiert wird, dass es »verschwendend lächelt und sich auf den Zehen / hinüberhebt«. Situativ wie vom Text her bedingt ist ferner eine Identifikation zwischen Ding und Rose zu konstatieren: Rilke hatte Lotte Pritzel anlässlich dieser Eintragung mit einer Sendung Rosen bedacht. Das dritte Identifikationsmoment lässt sich nur mittelbar
104
Judith Ryan beleuchtet die autobiographische Dimension dieser Forderung. Sie schreibt: »Lou [Andreas Salomé] encouraged him to ›work through‹ his memories of childhood along the model of the Freudian analysis technique that was beginning to capture her attention. His novel [...] was in part the result of this effort.« Judith Ryan: Rilke, Modernism and the Poetic Tradition, Cambridge 1999, 12. Es wäre sicherlich verfehlt (und dies tut Ryan auch nicht), die Kindheitsdarstellung in den Aufzeichnungen auf ein solches Bemühen zu reduzieren.
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herstellen, es scheint aber das tragende zu sein: ›dieses Ding‹ meint letztlich das Gedicht.105 Die Rose stellt bei Rilke eine ideale Gestalt dar, denn sie bildet Innen und Außen, Gefäß und Inhalt zugleich. Indem sie das höchste Maß an Entsprechung zwischen Innen und Außen erreicht, kann sie wiederum als Sinnbild für den ›Weltinnenraum‹ verstanden werden. In seiner Deutung von Rilkes Grabspruch arbeitet Marcel Kunz die ›narzisstische‹ Qualität der Rilke’schen Rose heraus. Zunächst konstatiert er die Ähnlichkeit zwischen Gefäß, Rose, Spiegel und Auge, deren tertium comparationis in ihrer – zum Teil potenzierten – Rezeptivität gründe.106 Die Verbindung zwischen Rose und Augenlid stellt die Metaphorik des Grabspruchs her: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. (II, 185)
Auf diese metaphorische Verquickung von Rose und Augenlid nimmt Kunz Bezug, wenn er folgert:
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Vgl. das Gedicht »Spanische Trilogie« aus dem Jahre 1913, in dem man dieselbe Wendung findet. Dort heißt es: »Aus dieser Wolke [...] / aus diesem Bergland [...] / aus diesem Fluß [...] / aus mir und alledem ein einzig Ding / zu machen [...]«, und nach Aufzählung weiterer potentieller Vereinigungsmomente insistierender: »[...] aus den Fremden [...] / [...] und mir und mir / ein Ding zu machen [...]« (II, 43f.). Lawrence Ryan stellt die im weiteren Verlauf des Gedichts thematisierte Uneinlösbarkeit dieser mannigfaltigen Vereinigungsvision seitens des Dichters in den Kontext einer »Krise des Romantischen«. Er konstatiert: »[...] es fehlt gerade die sich im Fremden erkennende und potenzierende Subjektivität, es fehlt gerade der (romantische) Einklang des Empirischen und des Transzendentalen: Im Verlangen nach einer Vermittlung, die sich eben nicht als Vermittlung einstellen will, bekundet sich das Krisenhafte dieses Gedichts.« (Lawrence Ryan: »Die Krise des Romantischen bei Rainer Maria Rilke«, in Wolfgang Paulsen: Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, Heidelberg 1969, 130–51; hier 138.) Auch im Kontext der Puppenmotivik erhält die Forderung, »ein Ding zu machen« – ganz im Sinne der »Spanischen Trilogie« –, utopischen Charakter, aber sie erscheint nicht als unerfüllbar, sondern lediglich als noch nicht erfüllt. Unbeantwortet bleiben muss die Frage, wie die hier genannten ›Ideen‹ zu verstehen sind. Steiner sieht in ihnen die Verkörperung des Vergänglichen (Steiner: »Motiv der Puppe«, 143), aber diese Deutung scheint mir weit hergeholt. Kunz: Narziß, 54.
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Wie sich das Lid als ›schonendes Etui‹ über das Auge schiebt und somit alles einschließt, was das Auge aufgenommen hat, so sind auch die Rosenblätter schützende Gegenform. Daß aber die Rosenblätter [...] nicht ein Auge einschließen, sondern die weiter innen liegenden Rosenblätter, darin besteht der ›reine Widerspruch‹; Sie schließen nur sich selbst ein, sie sind ›wie von Talen ausgefüllte Talen‹ (II, 418) und somit narzißtisch. Sie haben die Funktion, etwas zu umgeben, einzuschließen, aber diese Funktion richtet sich nicht nach außen, sondern zurück auf das eigene Wesen.107
Insofern ist die Rose, wie der Engel, eine ›selbst-reflexive‹, aber auch ›selbst-rezeptive‹ Gestalt: So wie der Engel »Gespiegelte[n] und Spiegel zugleich« darstellt, sind bei der Rose »die Blätter Form und Gegenform zugleich«.108 Gewissermaßen bilden Kind und Puppe ›Form und Gegenform‹ einer solchen ›narzisstischen‹ – reflektorisch-rezeptiven – Gestalt. Als Projektion des Kindes spiegelt die Puppe das in sie Hineinprojizierte, und als ›VorWand‹, als äußere, das Kind umgebende Schale, die den Einbruch des Außen in seine verletzbaren Grenzen verhindert, gleicht die Puppe den äußeren Blättern der Rose, die für die formgleichen inneren, d.h. für das Kind, eine Schutzmauer bilden und es auch vor dem Verfließen, der IchAuflösung bewahrt, in Rilkes Diktion ›verhält‹. Letztlich verweist aber das ›Ding‹ dieser Verse auf das Gedicht als Produkt der in Puppen beschriebenen Metamorphose. Der Dichter erhält den Auftrag, die in metamorphosierter Form aufflatternden und im Feuer des Niedergangs preisgegebenen Gefühle und Erlebnisse der Kindheit ›zurückzuhalten‹ und ›ein Ding‹, also ein Gedicht daraus zu machen.
107 108
Kunz: Narziß, 55. Kunz: Narziß, 55. Die ›Narzisshaftigkeit‹ der Rose im idealen Sinne bringt Rilke in einem Brief vom 15. Dezember 1906 zum Ausdruck, in dem er rühmend schreibt: »[...] was aber an also Unsagbarem, an von uns nie Genommenem und doch uns nicht Verlorenem in ihr [der Rose] war, das blieb in ihr, nicht mehr gefährdet nun, sicher, heimgekehrt, [...] gesammelt, [...] von nichts zurückgehalten, aber doch ohne Neigung auszuströmen, gleichsam ganz beschäftigt mit dem Genuß des eigenen Gleichgewichts.« (Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907, Leipzig 1930, 129, zit. in Kunz: Narziß, 15.) Vgl. auch Wagner-Egelhaaf, die die mystagogische Schrift des Nikolaus von Kues zitiert, worin Gott als »das absolute Sehen« bezeichnet wird, wobei in der Formel ›visio Dei‹ Gott »zugleich als Sehender und Gesehener« erscheine (so Walter Schulz, zit. In: Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 12). Die »Beziehung von Sehen und Gesehenem« sei »in den einheitsstiftenden Grund eines Aktes der Selbstdurchlichtung« zurückzuführen, so ein alter mystischer Gedanke. Vgl. ebenda, 13.
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Auf der komplexen metaphorischen Ebene dieser Verse stehen Puppe, Ding, Rose als Explizites und Spiegel und Gedicht als Implizites in einem weitgehend identifikatorischen Verhältnis zueinander, wobei Puppe und ›Ding‹ nur durch einen Schritt der Verwandlung voneinander entfernt sind. Das Gebot, dieses Ding möge »verschwendend lächel[n] und sich.... hinüberhebe[n], um dem, was schon verging, / leis beizuwohnen«, stellt einen motivischen Bezug zum ›Spiegelsonett‹ her, das den Spiegel als »des Raumes Verschwender« bezeichnet. Als Raum der Verwandlung stellt der Spiegel bei Rilke schließlich »eine wichtige Metapher für den Ort des Gedichts« dar, »der selbst nichts anderes als ein Ort der Verwandlung ist«, so Allemann.109 Wenn aus den ins Menschliche ›hineingespiegelten Früchten‹ der Kindheit ein Ding, ein Gedicht gemacht wird, das selber eine Verwandlung darstellt, so wäre von einer zweistufigen Metamorphose zu sprechen. Auf die Verwandlung der Kindheitserfahrungen und -gefühle durch die Erinnerungsarbeit, die sie in metamorphosierter Form wieder auftauchen, ›aufflattern‹ lässt, folge eine zweite, im Dichterischen einzulösende, in der es erst zu einer Suspension der chronologischen zur Herstellung der ›senkrecht stehenden‹ Zeit auf der Ebene der dichterischen Reflexion komme, die im ›Zwischenraum‹-Charakter der ›Kinder-Zeit‹ präfiguriert war.110 Dem entspricht Rilkes in einem Brief an Nora Purtscher-Wydenbruch vom 11. August 1924 festgehaltene Vorstellung von der Gleichzeitigkeit allen Geschehens, die der Mensch auf einer tiefer liegenden Bewusstseinsstufe wahrnehmen könne: »Ich habe seit meiner frühesten Jugend die Vermutung empfunden [...], daß in einem tieferen Durchschnitt dieser Bewußtseinspyramide« – dessen »Spitze« in Rilkes Vorstellung »unser gebräuchliches Bewußtsein [bewohnt]« – uns das einfache Sein könnte zum Ereignis werden, jenes unverbrüchliche Vorhanden-Sein und Zugleich-Sein alles dessen, was an der oberen ›normalen‹ Spitze des Selbstbewußtseins nur als ›Ablauf‹ zu erleben verstattet ist. Eine
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In diesem Zusammenhang setzt er die poetologische Bedeutung von Spiegel und Rose explizit gleich: »Spiegel und Rose stimmen ihrem poetologischen Sinn nach in allem Wesentlichen überein.« (Allemann: Zeit und Figur, 136.) Wie wir sehen konnten, erhält die Dichtung bei Musil eine ähnlich synthetisierende Funktion. Das gilt im Übrigen auch für Hofmannsthal. In seinem 1906 gehaltenen Vortrag Der Dichter und seine Zeit heißt es, der Dichter schaffe »aus Vergangenheit und Zukunft, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge«. (Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Ffm. 1978/80, VIII, 68.)
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Gestalt anzudeuten, die Vergangenes und noch nicht Entstandenes einfach als Gegenwärtigkeit letzten Grades aufzufassen fähig wäre, ist mir schon, seinerzeit, im ›Malte‹ Bedürfnis gewesen, und ich bin überzeugt, daß diese Auffassung einem wirklichen Zustande entspricht, mag er auch durch alle Vereinbarungen unseres ausgeübten Lebens widerrufen sein. (RBr III, 871f.)
Wie innig selbst der Erwachsene noch mit der Puppe verbunden ist, zeigt eine briefliche Äußerung Rilkes Lou Andréas-Salomé gegenüber. Im Brief, in dem er im Übrigen das soeben fertiggestellte Gedicht ›Wendung‹ ankündigt, schreibt Rilke: Aber ist es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann die Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie noch nie auszuleben, bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf? (RBr II, 464)
Rilke beschreibt hier eine vollkommene Identifikation des ›Ureigensten‹ mit der Puppe. Das ›Gespensthafte‹, das ihr anhaftet, nimmt vom mit ihr verbundenen Erwachsenen Besitz; er wird fast ›überschwemmt‹ vom Werg, von der nur allzu stofflichen Füllung der Puppe und wird dabei »Balg durch und durch«. Abschließend und zusammenfassend eine mehr als lexikalische Anmerkung: Bemerkenswerterweise liegen im Bedeutungsreichtum des Wortes ›Balg‹ die wesentlichen Komponenten der Rilke’schen Puppenmotivik verborgen. ›Balg‹ bedeutet zum einen »ausgestopfter Rumpf einer Puppe«, aber auch, in Anspielung auf diese Verwendungsform, »[unartiges, schlecht erzogenes] Kind«.111 Im Lexikon erfolgt also eine Gleichsetzung von Puppe und Kind, der ihre in Puppen konstatierte identifikatorische Beziehung entspricht. ›Balg‹ bedeutet aber auch »Hülse (von Hülsenfrüchten)«112; dadurch stellt das Wort eine semantische Verbindung zwischen Puppen- und Judasbaummotiv her. ›Balg‹ bedeutet ferner ›Gefäß‹ im Sinne von »Schlauch, eigtl. ›die zum Aufbewahren von Flüssigkeiten abgestreifte Tierhaut‹«.113 Man erinnere sich an die der Puppe attribuierte Gefäßartigkeit. Schließlich
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Duden: Das große Wörterbuch, I, 295. Wahrig: Deutsches Wörterbuch, 247. Wahrig: Deutsches Wörterbuch. Es handelt sich hierbei vor allem um Ziegenbalg. Grimms Wörterbuch nennt in diesem Kontext speziell den ›Weinschlauch‹. (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München 1984, I, 1084.)
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ist die ins Altgermanische zurückzuverfolgende Verwandtschaft zwischen ›Balg‹ und ›Ball‹ im Sinne von ›ausgestopftem‹ bzw. ›geschwollenem‹ Gegenstand noch zu erwähnen.114 Auf der exegetischen Ebene hatte die Lektüre des Puppenessays zusammen mit zwei dem Ball gewidmeten Gedichten Entsprechungen zwischen ›Kindesbalg‹ und Ball respektive ›Puppenbalg‹ und Ball statuiert. Angesichts der etymologischen Vernetzung des im oben zitierten Brief als Synonym für die Puppe verwendeten Ausdrucks ›Balg‹ erweist sich der ›Vorwand‹-Charakter der Puppe als immens schillernd; das ›Ureigenste‹ kleidet sich in vielerlei Gestalt ein.
2.4. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Ich wende mich jetzt Rilkes großem Prosawerk, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, zu. Ich habe dieses viel gelesene literarische Zeugnis Rilkche’schen Interesses am Kind absichtlich ans Ende dieser Untersuchung gestellt, um es einerseits vor dem Hintergrund des facettenreichen Bezugskomplexes, der sich aus der Deutung weniger bekannter Dichtungen ergaben, neu lesen zu können. Andererseits sollen die Aufzeichnungen einen Bezugsrahmen für einen Blick auf essentielle Aspekte Rilke’scher Poetologie liefern. Die Beschäftigung mit den Aufzeichnungen wird also von einer doppelten Aufgabenstellung bestimmt. 2.4.1. Malte im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein Die erste auf Maltes Kindheit gerichtete Aufzeichnung handelt vom ›eigenen‹ Tod seines Großvaters väterlicherseits. Die Art, wie Christoph Detlevs Ableben geschildert wird, und die Haltung, die Malte als Aufzeichnender zum Erzählten einnimmt, ist bemerkenswert. Dieser Tod wird sich während Maltes Kindheit ereignet haben; womöglich wird Malte sogar Zeuge der langen Sterbenszeit gewesen sein. Diese erste, der Kinderzeit geltende Erzählung besitzt jedoch nicht den Charakter einer Kindheitserinnerung; sie wird in keiner Weise von der Perspektive des sich erinnernden Kindes gefärbt. Im Gegenteil: Sie hebt sich von den ersten eigentlichen, dichterisch wiedergegebenen Kindheitserinnerungen, von denen Malte einige Seiten
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Vgl. Wahrig: Deutsches Wörterbuch; Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch, Berlin 221989; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, I, 1083f.; 1090f.
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später erzählt (und die sich unter anderem mit dem Tod des Großvaters mütterlicherseits befassen) in stilistischer wie in perspektivischer Hinsicht auf sehr markante Weise ab.115 Obwohl die Erzählung über den ›eigenen‹ Tod des Briggeschen Großvaters formal von Maltes Stimme eingeleitet wird – »Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an, daß er einen Tod in sich trug« –, eignet sich der Aufzeichnende sehr bald den Gestus eines Kohärenz und Kontinuität stiftenden auktorialen Erzählers an, der die Ereignisse mit Beobachtungsgabe und Urteilsvermögen zu einem sinnvollen und poetisch durchdrungenen Ganzen fügt. Der Erzählduktus gleicht nicht dem eines erinnerenden Subjekts. ›Man‹ und ›es‹ finden häufige Verwendung, die passiven Verbformen dominieren. Zu dem durch solche formalen Mitteln erzeugten Ton passen die Allgemeingültigkeit beanspruchenden Reflexionen über den Tod, die im Mittelpunkt dieser Aufzeichnung stehen. Dass dieser Tod vom Aufzeichnenden nicht wirklich erinnert wird, verrät die unmittelbar darauf folgende Aufzeichnung, in der Malte denn auch über seine Erinnerungslosigkeit klagt und mit ihr das Gefühl, die Kindheit verloren zu haben: »Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß man alt sein, um an all das heranreichen zu können.« (VI, 721) Diese Feststellung bestätigt, was der Erzählgestus der vorausgehenden Aufzeichnung bereits signalisierte: Die Kindheit steht in keinem lebendigen Zusammenhang zur Gegenwart des Aufzeichnenden. Der Tod des Großvaters wird
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Martens wie Fülleborn geht von einer homogenen Erzählhaltung in den der Kindheit gewidmeten Aufzeichnungen aus. Dem widersprechen schon die beiden hier erwähnten, äußerste Heterogeneität im Erzählerischen aufweisenden Abschnitte (siehe Lorna Martens: »Autobiographical Narrative and the Use of Metaphor: Rilke’s Techniques in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Studies in Twentieth-Century Literature 9 [1984/85], 229–249; hier 245). Fülleborn spricht in diesem Sinne vom ein »Erzählkontinuum« herstellenden »epischen Legato« der »Reproduktion vergangenen Daseins« im Gegensatz zum »Stakkato der Pariseindrücke« (Ulrich Fülleborn: »Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge,« in: Hartmut Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn. 1974, 175–198; hier 187). Die äußerste Heterogeneität des erzählenden Ichs lässt es zu einem solchen ›Erzählkontinuum‹ nicht kommen. Von einer »strenge[n] Wahrung der einheitlichen Perspektive des Tagebuchschreibers« (ebenda, 190), die Fülleborn gar für die Aufzeichnungen als Ganzes geltend machen will, kann hier erst recht nicht die Rede sein. Fülleborn widerspricht sich selber, wenn er später in den Aufzeichnungen »eine aperspektivische Welt mit offenen Horizonten« sehen will (ebenda, 196).
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als eine Art Historie behandelt, losgelöst vom erzählenden Subjekt. Wenig später bekennt sich Malte aber programmatisch, im wohlbekannten poetologischen Credo, zur Bedeutung der Erinnerungen für den dichterischen Prozess. Wie es heißt: [...] Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, [...] Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, [...] an Kinderkrankheiten [...]. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterschieden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. (VI, 724f.)
Die ›vorgesehene‹ Verwandlung, bei der Erinnerungen erst in Vergessenheit geraten (müssen), bevor wir sie in veränderter Form zurückgewinnen können, und zwar so, dass sie wirklich in uns eingehen, von uns ›verinnerlicht‹ werden,116 ähnelt der im wenige Jahre später verfassten Puppenaufsatz beschriebenen: Gefühle und Erfahrungen des Kindes gehen in die Puppe ein und werden aufbewahrt, um sich in der Begegnung mit der ›er-wachs-enen‹ Puppe in metamorphosierter Form preiszugeben. Bei aller Differenz in der Qualität der hier verglichenen Vorgänge soll die in beiden Fällen erfolgende Wiederbegegnung mit Gefühlen und Erfahrungen aus der Kindheit der Dichtung zu Gute kommen. Die für Lotte Pritzel geschriebenen Verse fordern dazu auf, aus den ›Hinschwindenden‹ ein ›Ding‹
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Man stelle Huyssens Beurteilung der ›Erinnerungsarbeit‹ in den Aufzeichnungen dieser Selbstaussage des Dichters gegenüber. In Malte sieht Huyssen ein Ich-schwaches und folglich nicht mit dem nötigen Reizschutz ausgerüstetes Opfer der modernen Großstadt, deren Reizen Malte restlos ausgeliefert sei, so dass sie wie ein Sprengkörper die Kindheit ›exkavieren‹. Entsprechend negativ fällt Huyssens Wertung der dadurch hochgetriebenen ›Brocken‹ aus, die als »fragments in the narrative« erscheinen (Andreas Huyssen: »Paris/Childhood: The Fragmented Body in Rilkes Notebooks of Malte Laurids Brigge«. In: Andreas Huyssen und David Bathrick [Hrsg.]: Modernity and the Text: Revisions of German Modernism, New York 1989, 113–41; hier 134). Dieses Bild wendet Huyssen letztlich auf seine ästhetische Beurteilung des Werkes an. Hier habe Rilke seine eigene Kindheit »in bits and pieces« ›ausgespuckt‹. Huyssen widerspricht sich selbst aber, wenn er qualifizierend hinzufügt: »even though he does so in an aesthetically highly controlled way«.
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zu machen. Ich las: ein Gedicht. In den Aufzeichnungen ist explizit vom »erste[n] Wort eines Verses« die Rede. Diese lange poetologische Reflexion schließt mit der mehrfach wiederholten Frage »Ist es möglich, daß...«, die in der Art einer liturgischen Formel mit dem mehrfach wiederholten »Ja, es ist möglich« beantwortet wird. Inhaltlich geht es bei diesem im Einzelnen sehr heterogenen Fragenkatalog um Maltes Schreckensvision einer defizienten Wirklichkeitserfahrung. Vielleicht sei man bisher »an der Oberfläche des Lebens geblieben« (VI, 727), argwöhnt er, die Vergangenheit sei vielleicht ›falsch‹ gewesen. Diese Furcht wird zum Movens für sein Schreiben. »Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, – dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen.« (VI, 728) Sein Fazit: er werde »schreiben müssen, das wird das Ende sein: [...]«. (VI, 728) Unmittelbar, nachdem Malte diesen Entschluss fasst, kommt es zur ersten Kindheitserinnerung im eigentlichen Sinne. Der erste Schreibversuch gilt vornehmlich der Kindheit. Die Art, wie Malte von ihr jetzt erzählt, unterscheidet sich auch grundlegend von der Weise, auf die er den Tod des Kammerherrn dargestellt hatte. »Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein«, heißt es im tonangebenden Auftakt zu diesem Erzählabschnitt, der signalisiert, dass es sich hier mehr um ein ahnendes Zurücktasten in die Vergangenheit handelt als um die autoritative Wiedergabe einer wohlgeordneten Geschichte. Die hier verwendete Ich-Form und solche qualifizierenden Zusätze wie ›ich weiß nicht...‹, ›so scheint es mir...‹, ›wie ich vermute...‹ und Ähnliches unterstreichen diesen Charakter. Wie- und Als-ob-Vergleiche finden häufige Verwendung, ebenso der Konjunktiv. Auch die Kohärenz der vorausgehenden Erzählung fehlt hier. Maltes Erinnerung an das Haus seines Großvaters mütterlicherseits ist von einem prononciert fragmentarischen Bewusstsein determiniert.117 Das Haus erscheint in vollkommen desintegrierter Form wieder:
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Bei Malte diagnostiziert Huyssen eine allgemeine Tendenz zur fragmentarischen Wahrnehmung, auch im Erwachsenenalter: »Malte does not see holistically.« (Huyssen: »Paris/Childhood«, 118.) Die Tendenz der Aufzeichnungen zur Ellipse, die in Hoffmanns Analyse durch das Unterdrücken mehrerer Glieder in der »empirischen Kausalkette« eines Bilderkomplexes erzeugt werde (Ernst Fedor Hoffmann: »Zum dichterischen Verfahren in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Hartmut Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn. 1974, 214–245; hier 216), vermittelt erzähltechnisch die von Malte erlebte »Brüchigkeit der scheinbar selbstverständlichen Sinnzusammenhänge« (ebenda, 216f.).
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So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, [ ] (VI, 729)
Affektiv und bewusstseinsmäßig erscheint das erinnerte Bild des Braheschen Anwesens als Produkt der frühesten Kindheit. Dieses Bild wird von der Struktur der Erinnerung geprägt. Dem entspricht die organische Metaphorik, die verwendet wird, um den Eindruck zu vermitteln, der das Innere des Hauses auf Malte gemacht haben soll. Dieser erwähnt »die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern« (VI, 729). Das Gefühl des Fragmentarischen wird noch dynamisiert durch den Vergleich dieses ›ver-bildlichten‹ Hauses mit einem hinunter fallenden, am Boden aufschlagenden Gegenstand: »Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen.« (VI, 729) Die vielen Hinweise auf solche zu Bruch gehenden Gegenstände in den Aufzeichnungen bestätigen die psychische Bedeutung dieses Motivs. Das völlig Desintegrative dieses Bildes zeigt, vor welche Aufgabe Malte sich gestellt sieht. Es signalisiert eine inkohärente Kindheit, die es erst zu integrieren, ›zu leisten‹ gilt. Allerdings stellt diese Erinnerung bereits einen Fortschritt dar gegenüber der Erzählung vom Tod des Briggeschen Großvaters, denn daran war Malte als sich erinnerndes Subjekt nicht wirklich beteiligt. Dieser erste Schreibversuch, der sicher nicht zufällig der Kindheit gilt, kommt einem Gehversuch gleich, der zwar sehr unbeholfen wirkt, aber den richtigen Weg weist. Im Gegensatz zum Braheschen Haus im Ganzen, das in Maltes Erinnerung wie zerstückelt da liegt, wird dessen Esssaal rückblickend als Einheit erlebt: »Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten.« (VI, 729) Bedeutsam ist hierbei, dass der Saal sich weniger in Form eines Bildes überliefert, – im als ›Träger‹ von Erinnerungen bevorzugten visuellen Medium also –, als vielmehr in Form eines Affekts; er ist ›im Herzen‹, im Innersten des Ich, erhalten. Demzufolge entzieht er sich auch Maltes Bemühen um eine Beschreibung seiner Physiognomie. »Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen«, behauptet Malte. (VI, 729) Dem widerspricht die im vorausgehenden Satz gemachte Angabe, man habe sich dort »zum Mittagessen« versammelt. Dieser Widerspruch deutet darauf hin, dass die innere Vorstellung des Raumes, wie sie in Maltes Rückschau evoziert wird, in starkem Maße von kindlichen Phantasien und Affekten 196
geprägt ist und dadurch ein Stück weit zu einer Art Phantasiegebilde wird. Maltes sich fortsetzender Versuch, diesen Raum zu beschreiben, erhärtet dies: »Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu geben.« (VI, 730) Die Fensterlosigkeit des erinnerten Raumes, seine Gewölbtheit und »dunkelnde [...] Höhe«, die »niemals ganz aufgeklärten Ecken« (VI, 730) legen es nahe, hierin eine Art Körperinnenraum zu sehen. Der erinnerte Raum verwandelt sich in Maltes Phantasie in eine lebendige Gestalt, die »alle Bilder aus einem heraus [zu saugen]« droht (VI, 730). Entsprechend dieser Phantasie spricht Malte rückblickend bzw. vielmehr rückfühlend von einer Art innerer Lähmung, die in ein Gefühl der beinahen Selbstauflösung mündet: »Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle.« (VI, 730) Der damals erlebte »vernichtende Zustand« der Willens- und Besinnungslosigkeit, der dem Kind »fast Übelkeit verursachte, eine Art Seekrankheit« (VI, 730), suggeriert eine Art Ich-schwachen Schwebezustand, der ausgesprochen negativ erlebt wird.118 Bezeichnenderweise ist es der Vater, der dem kleinen Kind in dieser Situation Halt gibt. Malte konnte diese Seekrankheit, wie er berichtet, »nur dadurch [überwinden], daß ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters berührte« (VI, 730). Der Vater liefert dem Kind erste Außenkoordinate, an denen es sich in der Not orientieren kann. Die hier angedeutete Vater-Mutter-Polarität manifestiert sich in markanterer Form in der Gegensätzlichkeit der Briggeschen und der Braheschen Welt, die sich wiederum in der bereits vermerkten Differenz der Erzählhaltung in Bezug auf den Tod des Briggeschen Großvaters einerseits und das Brahesche Anwesen andererseits erkennbar macht: Ein distanzierter, auktorialer, die zeitlichen Verhältnisse klar ordnender Erzählduktus steht gegen einen von Maltes Affekten durchdrungenen, die räumlichen und zeitlichen Konturen verwischenden Gestus einer vorsichtig zurücktastenden, inner-
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Dass Malte auch in Bezug auf Gegenwartserfahrungen über solche Gefühle berichtete, stützt die gelegentlich aufgestellte These einer grundsätzlichen ›IchSchwäche‹ des Aufzeichnenden, so neuerdings von Huyssen (»Paris/Childhood«). Vgl. auch Speirs’ Deutung des Saalerlebnisses (Ronald Speirs: »Ganzheit und Bruchstückhaftigkeit in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Herbert Herzmann / Hugh Ridley [Hrsg.]: Rilke und der Wandel in der Sensibilität. Essen 1990, 133–145.) Die Relevanz einer solchen ›Diagnose‹ bleibt allerdings fragwürdig.
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lich stattfindenden Spurensuche.119 Dem entspricht auch das Zeitverhältnis des Großvaters mütterlicherseits: »Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn«, er habe »das Zukünftige mit demselben Eigensinn als gegenwärtig« empfunden (VI, 735). War für den Großvater Brigge der Tod ein lange im voraus geplanter und ausgiebig zelebrierter Abschluss, so war er für den Großvater Brahe »ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte« (VI, 735). Im vielfache Gestalt annehmenden Gegensatz zwischen dem Briggeschen und dem Braheschen Prinzip manifestiert sich auf anschauliche Weise die Polarität von Eins- und Getrenntsein, die, wie meine These lautet, auch die Kindheitsthematik der Aufzeichnungen in entscheidender Weise strukturiert.
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Walter H. Sokel verwies schon auf die Bedeutung der »Gegenüberstellung der beiden Geschlechter«. Er meint, in der »Brahe-Sphäre« manifestiere sich die Idee des ›Weltinnenraums‹. Das ›Brahesche‹ sei »das Prinzip der Austauschbarkeit, des Ineinanderfließens der Formen und Zeitstadien, der Ununterscheidbarkeit, des alle Grenzen Zerfließen-Lassens«. Das ›Briggesche‹ hingegen äußere sich im »Prinzip der unaustauschbaren Individualität, des ›Eigenen‹» (Walter H. Sokel: »Zwischen Existenz und Weltinnenraum: Zum Prozeß der Ent-ichung in Malte Laurids Brigge.« In: Fritz Martini [Hrsg.]: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käte Hamburger zum 75. Geburtstag am 21. September 1971, Stuttgart 1971, 212–233; hier 212 bzw. 214.) Sokel macht diese Polarität aber nicht an der divergierenden Erzählhaltung fest. Allerdings enthält die Erzählung über den Tod des Briggeschen Großvaters ein symbiotisches Moment, das Huyssen als Symptom der vielerorts beobachteten »crisis of boundaries« wertet: »[...] The description of the chamberlain’s body growing larger and larger and welling out of the dark blue uniform [...] already contains the same images of uncontrollable body growth and violent deformation that haunt Malte in his various Paris encounters [...]«. (Huyssen: »Paris/Childhood«, 120.) Sokels Deutung nach muss dies aber keinen Widerspruch bedeuten, denn er meint, letztlich träfen sich die beiden oben genannten Prinzipien: »Unser zutiefst eigenes, das Briggesche, ist zugleich das, was unser Ich auflöst, entgrenzt und dem Braheschen Allbezug öffnet. Die aus den Tiefen des Körpers und der Seele hervordrängende und die bürgerlich-autonome Persönlichkeit völlig überwältigende ›Krankheit‹ ist das Bild dieses paradoxen Prozesses, der das Ich zum Weltbezug erweitert, indem er es als bloßes Ich zerstört[...] Gerade die Briggesche Konzentration auf die Authentizität des ›Eigenen‹ läßt uns, wenn tief und konsequent genug durchgeführt, zum Braheschen Bereich vorstoßen, wo sich unser Eigenstes von dem alle Zeitdimensionen übersteigenden Sein nicht mehr unterscheidet.« (Sokel: »Existenz und Weltinnenraum«, 232f.)
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2.4.2. Zwischen Eins- und Getrenntsein: die Pariser Gegenwart der Aufzeichnungen Nach diesem ersten Wiedereintauchen in die frühe Kindheit wenden sich Maltes Aufzeichnungen der Pariser Gegenwart erneut zu. Der ›Sehen-Lernende‹ setzt das Bemühen fort, das er sich am Anfang der Aufzeichnungen vorgenommen hatte, aber die Qualität des ›Sehens‹ hat sich verändert. Vorher bestand es in einem angestrengten Ringen um Objektivierung, das sich in der anfänglichen, eigenwilligen, durch die Knappheit und Kargheit des Ausdrucks nüchtern wirkenden Zeichnung seiner Pariser Umwelt demonstrierte. Jetzt verwandelt sich der Akt des Sehens in ein hochgradig empathisches ›Hineinsehen‹ in die Menschen und Gegenstände.120 Diese neue Art zu ›sehen‹ prägt Maltes Mauererlebnis, bei dem die freigelegte Innenseite eines abgerissenen Wohnhauses wie eine ›Offenbarung‹ über den Vorbeilaufenden kommt.121 So wie er sich vorher mit den ›Fortgeworfenen‹ identifiziert hatte, entsteht jetzt eine Art identifikatorisches Verhältnis zwischen Malte und diesem, wenn man so will, entblößten Wohnhaus, das in der Beschreibung des ›Sehen-Lernenden‹ entsprechend anthropomorphisiert wird. Die Abortrohre werden mit dem menschlichen Verdauungstrakt in eins gesetzt: Durch den Raum »kroch in unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre«, heißt es (VI, 749). »Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich«, wie Malte sich ausdrückt, »zusammengekrochen« (VI, 750). Dass die Wände abgerissen worden waren, ist höchst signifikant, fallen doch dadurch nicht nur buchstäblich, sondern auch in symbolischem Sinne die Schranken zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Malte als Beobachtendem und der Mauer als Beobachtetem:122
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Vgl. Judith Ryan: »›Hypothetisches Erzählen‹: Zur Funktion von Phantasie und Einbildung in Rilkes Malte Laurids Brigge«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1971, 341–374; hier 348f. Hans Schwerte sieht hierin die Manifestation einer »existentielle[n] Angst des Gesichtsloswerdens« und spricht von der offen liegenden Innenseite des Hauses als »ohne Raumgesicht«, als »entkörperte Mauer«, als »Hohlform«. (Hans Schwerte: »Maltes Angst. Zu Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Sprachkunst 25 [1994], 309–319; hier 312.) Aber drückt diese Innenseite des Hauses nicht viel mehr aus als die abgerissene Fassade? ›Hohl‹ ist sie im Sinne von ›ausdruckslos‹ bzw. ›gehaltlos‹ ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Malte kann an ihr ganze Lebensgeschichten ›ablesen‹. Angesichts der Bedeutung, die die Innenseite des Hauses hier erhält, greift die Gleichsetzung von Menschengesicht und Außenmauer nicht. Vgl. Huyssen: »Paris/Childhood«. Fülleborns Charakterisierung der abgerisse-
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Maltes ›Erkennen‹ der Mauer kommt einer Selbsterkenntnis gleich; die Mauer wird zu einer Art zweitem Ich: »Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« (VI, 751)123 In einer Reihe von Begegnungen, bei der Malte in eine – wohlgemerkt einseitige – empathische Beziehung zum Gegenüber tritt, setzt sich diese Tendenz fort, so etwa in der Begegnung mit dem Sterbenden in der Crémerie oder dem Veitstänzer. Hier erzeugt hochgradige Identifikation den Impuls zur aktiven Hilfeleistung: Stellvertretend für den Veitstänzer empfindet Malte tiefe Scham und versucht daher, dessen Leiden zu kaschieren; dem Medizinstudenten mit der Augenlidschwäche wiederum hätte er seinen Willen gern ›ausgeliehen‹.124 Beim Besuch in der Salpetrière, dem Krankenhaus, in dem Malte sich wegen eines unklaren nervösen Leidens behandeln lassen will, wird die Spannung zwischen Eins- und Getrenntsein, zwischen Integration und Fragmentierung erneut thematisiert, aber nun rückt Zweiteres in den Vordergrund. Maltes Schilderung der im Krankenhaus beobachteten Menschen zeugt von einer fragmentierenden Wahrnehmungsweise. Er spricht von einem Kind, das die Beine »an sich gepreßt [hält], als müßte es von ihnen Abschied nehmen« (VI, 759), von Verbänden, die den Kopf eines Mädchens »umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem mehr gehörte« (VI, 759f.), von einer vereinzelten Hand, »die keine mehr war« und von einem Bein, »das aus der Reihe herausstand«. (VI, 760.)125 Auch die akustische Wahrnehmung ist von dieser Zerstückelungstendenz geprägt, es melden sich nur noch von ihren Urhebern losgelöste Schreie und Stimmen (VI, 763). Ein von der anderen Seite einer Trennwand herüber strömendes Lallen ruft eine Erinnerung an die sehr frühe Kindheit wach: »Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte:
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nen Häuserwand als Verkörperung einer »fremde[n], amorphe[n] Wirklichkeit« kann ich nicht folgen, werden doch die Spuren, die sie hinterlässt, von Malte wie eine Schrift gelesen, die die Geschichte des Hauses in verdichteter Form wiedergibt. Spätestens durch Maltes ›Exegese‹ erfährt sie eine ästhetische Gestaltung. Vgl. Ryan: Hypothetisches Erzählen, 348f. Der epiphane Charakter des Mauererlebnisses als »sich intuitiv herstellender Bezug zwischen Außen und Innen« ist evident. Vgl. Engel: Rilkes Elegien, 111. Das Ausmaß dieser Identifikationstendenz lässt sie meines Erachtens zu mehr werden als nur »Übungen der Phantasie«, wie Ryan es formuliert (Ryan: Hypothetisches Erzählen, 350). Solche »imagery of the fragmented body« bildet den Ausgangspunkt für Huyssens Interpretation der Aufzeichnungen. Vgl. Huyssen: »Paris/Childhood«, 116.
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da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große.« (VI, 764) In Maltes Beschreibung ›des Großen‹, dies eine eigenwillige, zunächst sehr dunkel anmutende Kindheitserinnerung, äußert sich, wie ich meine, auf besonders eindrückliche Weise die hier auszumachende Polarität zwischen Eins- und Getrenntsein. »Jetzt wuchs es [das Große] aus mir heraus wie eine Geschwulst«, schreibt Malte, »wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehören konnte, weil es so groß war. Es war da, wie ein großes totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm.« (VI, 765) Diese Phantasie verleiht der vielerorts ausgemachten Dynamik der Opposition zwischen Eins- und Getrenntsein oder, um mit Manfred Engel zu reden, zwischen ›Beteiligung‹ und ›Fremdheit‹,126 eine präzise bildliche Gestalt. Dabei wird ›das Große‹ einerseits als zu Malte gehörig erlebt, als etwas, was aus ihm herauswächst und somit, wie er selbst sagt, »ein Teil von [sich]« sei. Zugleich gebärdet sich ›das Große‹ jedoch in seiner ganzen Fremdheit, die in erster Linie bedingt ist durch seine Überdimensionalität: »[...] es [konnte] doch gar nicht zu mir gehören [...], weil es so groß war«, so Malte. In seiner Fremdheit erscheint Malte ›das Große‹ nicht mehr als etwas Lebendiges – wenn auch Pathologisches –, sondern als etwas Totes, aber ihm früher Zugehöriges. Die Ambivalenz, mit der das Phänomen behaftet ist, lässt ›das Große‹ im nächsten Zug jedoch ›wiederbelebt‹ werden: In der Phantasie wird jetzt eine körperliche Verbindung zwischen Malte und ›dem Großen‹ erneut hergestellt, wie am Anfang der Passage, wo es – als wachsende Geschwulst – in vitalistischer Gestalt erschien: »Und mein Blut ging durch mich und durch es [das Große], wie durch einen und denselben Körper.« (VI, 765) Aber auf diese Vereinigungsvision folgt gleich die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Körpers: »[...] mein Herz mußte sich sehr anstrengen, um das Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam krank und schlecht zurück.« (VI, 765) Diese Einsicht beeinträchtigt die immer wieder ansetzende Vereinigungsvision; sie kann sich nur in Form eines pathologischen Ereignisses geltend machen: ›Das Große‹ erscheint als Geschwulst; das Blut des phantasierenden Kindes wird in Folge der Verbindung mit ›dem Großen‹
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Siehe Manfred Engel: Rilkes Elegien.
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»schlecht und krank«. Die Vorstellung, es sei »fast nicht genug Blut da«, um ›das Große‹ (mit) zu versorgen, kommt einer Einsicht gleich, nämlich, dass es für den Menschen sehr schwer, wenn nicht unmöglich sei, Allbezug herzustellen, oder, um das lyrische Ich des oben besprochenen Gedichts »Vor Weihnachten 1914« zu zitieren, »[...] Bezug / in dich zu reißen [...]« (II, 98). Wie es hieß: […] O daß du immer wieder wehren mußt: genug, statt: mehr! zu rufen, statt Bezug in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche? Schwächliches Herz […] (II, 98)
Angesichts der Unmöglichkeit einer Vereinigung mit ›dem Großen‹ wird die phantasierte Verbindung zu diesem für Malte letztlich zur Bedrohung: »Aber das Große schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.« (VI, 765) Es ist kein Sprechen, kein Sehen mehr möglich. Das von dieser Phantasie erzeugte Gefühl der Bedrohung affiziert Malte in einem solchen Maße, dass er in der Außenwelt nicht mehr zurecht kommt. Er flüchtet aus dem Krankenhaus und kommt dabei an denselben elektrischen Bahnen vorbei, die am Anfang der Aufzeichnungen omenhaft durch seine Stube zu rasen schienen. Auf ihren Tafeln stehen Namen, die Malte nicht kennt. Er verliert vollkommen die Orientierung: »Ich wußte nicht, in welcher Stadt ich war [...].« (VI, 765). Der Malte der Pariser Gegenwart wird in den Bann dieser unheimlichen Vision des ›Großen‹ gezogen. In der darauf folgenden Aufzeichnung reflektiert Malte aus einer etwas größeren psychischen Distanz über Erinnerungen an die Kindheit. Durch Nichtigkeiten ausgelöst hebe sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftem Erinnern. (VI, 766)
Dieses Bild suggeriert, dass der Mensch zwei Vergangenheiten, zwei Kindheiten habe: eine, über die man durch das Wieder-in-Erinnerung-Rufen verfügen könne, also eine dem Bewusstsein ohne Weiteres zugängliche, 202
und eine zweite, nie bewusst erfahrene, die, um Maltes Bild zu zitieren, an dieser vordergründigen Kindheit hänge »wie nasser Tang an einer versunkenen Sache«.127 Maltes Verhältnis zu dieser ›zweiten‹ Kindheit ist von Ambivalenz geprägt: Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlusts, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre –: so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da. (VI, 766f.)
Zwar ist diese Kindheit »wie neu«, nicht so ›abgenutzt‹ wie die verfügbaren Erinnerungen, von denen schon die Rede war, aber auch voller Ängste. Wie die Erinnerung an ›das Große‹ im Krankenhaus zeigte, hat das Bedrohungspotential der Kindheitserinnerungen nichts an Macht eingebüßt: »Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es nichts genützt hat, älter zu werden.« (VI, 767). Bei aller Negativität dürfte diese zweite, verborgene Kindheit Gefühle und Erinnerungen enthalten, die den »niegewußten Gefühle[n]« ähneln, die uns, so die Vision des Puppenaufsatzes, beim Aufbrennen der kleinen Falter »überfluten«. Welchen Sog die Sehnsucht nach Allbezug auf Malte ausübt, wird ihm bald bewusst, als er mitten in Paris die »Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft« erkennt. Die krasse Wirklichkeit dieser modernen Großstadt bedrängt Malte so sehr, dass er letztlich meint, es sei vielleicht »[b]esser [...], du wärest in der Dunkelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz hätte versucht, all des Unterscheidbaren schweres Herz zu sein« (VI, 776f.). Allerdings verrät die Formulierung »schweres Herz«, dass Malte sich im Klaren ist über die Unmöglichkeit, eine solche Phantasie zu realisieren. Das eigene, abgegrenzte Herz ist ein zu kleines Gefäß, als dass es in der Lage wäre, »all des Unterscheidbaren schweres Herz zu sein«. Genau das zeigte Maltes Wiederbegegnung mit ›dem Großen‹. Letztlich
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Koch weist auf die Zweidimensionalität der erinnerten Zeit bei Rilke hin und zieht eine Parallele zu Benjamin und Proust. Benjamin zufolge zerstöre »[d]as ›zweckverhaftete Erinnern‹ des wachen, kontrollierten Bewußtseins [...] die unablässig gewobenen ›Ornamente des Vergessens‹ [...] Diesen bild- und namenlosen Teppich des vergangenen Lebens zu heben« sei »die Anstrengung des dichterischen Prozesses« (Koch: Mnemosyne, 224). Auch bei Proust finde man eine »Verachtung der jederzeit abrufbaren Erinnerungsbilder, die [...] nichts vom eigentümlichen Leben der Vergangenheit bewahren« (ebenda, 243). Vgl. Kapitel 3.3.3. dieser Arbeit.
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erscheint Malte die Begrenzung zu akzeptieren; wie es heißt: »Nun hast du dich zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhören in deinen Händen, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein Gesicht nach.« (VI, 777) Malte erfährt auch das Beruhigende einer derartigen Begrenzung. Er schreibt: »Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es dich, dass in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich aufhalten kann; dass auch das Unerhörte binnen werden muß und sich beschränken den Verhältnissen nach.« (VI, 777) Maltes erste Kindheitserinnerungen thematisieren den Widerstreit zwischen der Sehnsucht nach Unbegrenztheit und der Einsicht in die Notwendigkeit der Begrenzung. Paradoxerweise war diese – das zeigte die Interpretation des Gedichts »Vor Weihnachten 1914« – die conditio sine qua non für die Herstellung des wirklichen Bezugs zum wie auch immer gearteten Gegenüber. Der Weg der Verschmelzung mit dem Anderen bleibt verwehrt. Die Position des ›Gegenüberseins‹, mit der Malte sich hier allmählich anfreundet, determiniert die letzten beiden, zugleich bedeutendsten Kindheitserinnerungen, von denen die Aufzeichnungen berichten. Signifikanterweise handeln beide von Spiegelungserlebnissen, deren Topologie bedingt ist von der Identität des Aufzeichnenden als Gegenüber. 2.4.3. Hand- und Spiegelepisode in den Aufzeichnungen Motivisch und topologisch nimmt die Episode mit der Hand, eine von Maltes markantesten Kindheitserinnerungen, die Spiegelepisode, – das Schlüsselerlebnis seiner erinnerten Kindheit –, vorweg. Denn das illusionäre Erlebnis mit der Hand, das, wie Malte zu berichten weiß, »weit zurückliegt in meiner Kindheit« (VI, 792), handelt, wie letztere Episode, von einem Spiegelungsvorgang. Das kleine Kind, das beim Malen nach dem herunter gefallenen Stift sucht, erfährt, wie aus der entgegengesetzten Richtung eine Hand auf seine im Dunkel tastende sich zubewegt, als sei es die eigene, im Spiegel kopierte, – nur, dass diese illusionäre Hand »eine größere, ungewöhnlich magere« war. (VI, 795) In der wenig später erzählten Verkleidungsszene wird Malte ein zweites Mal mit einem Spiegelbild konfrontiert – diesmal mit dem realen, vom Pfeilerspiegel erzeugten. Bei aller Differenz – im einen Fall die imaginierte bzw. halluzinierte Spiegelung eines Körperteils, der in seiner ›Spiegelgestalt‹ offensichtliche Differenzen zum Original aufweist, im anderen eine reale Spiegelung der ganzen Gestalt – weisen die beiden Kindheitserinnerungen signifikante Parallelen auf. Beiden Spiegelungsvorgängen geht eine Entfremdung voraus. 204
In der Episode mit der Hand war das Körpererleben unmittelbar vor der Begegnung mit der anderen Hand stark beeinträchtigt gewesen. Wie Malte sich erinnert: »[...] die zu lange eingehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf gemacht; ich wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel gehörte.« (VI, 794) Auch das Sehvermögen war extrem beeinträchtigt: »[...] noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier, vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran zu stoßen.« (VI, 794) Wie schon an anderer Stelle sind auch hier die Identität gewährenden Funktionen weitgehend außer Kraft gesetzt: das Gefühl für die eigenen Konturen – hier gehen sie in die des Sessels über – sowie für die der Objekte. In diesem Zustand erlebt Maltes Körper eine Fragmentierung, seine Hand verselbständigt sich und gebärdet sich wie ein Fremdkörper: [...] für meine unwillkürlich angestrengten Augen [wurde] das Dunkel nach und nach durchsichtiger [...]; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. (VI, 794f.)
Man erinnere sich an Maltes Evokation einer »Zeit der anderen Auslegung« (VI, 756), die Vision einer Hand, die, wie er sagt, »weit von mir sein« und »Worte schreiben [wird], die ich nicht meine«. Maltes späteres Erlebnis vor dem Spiegel wird von einem ähnlichen, zum Teil in denselben Bildern dargestellten Entfremdungsgefühl begleitet. Zum einen wird dieses Gefühl zunächst dadurch begünstigt, dass Malte verkleidet vor den Spiegel tritt, und zum anderen dadurch, dass der Spiegel auf Grund seiner Physiognomie ein verfremdendes Spiegelbild entwirft, denn es handelt sich, wie bereits erwähnt wurde, um einen besonderen Spiegel, und zwar um einen »schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt war« (VI, 803). Maltes Erscheinen vor dem Spiegel wird einem Sprechen gleichgesetzt. Man erinnere: Bei Rilke wird der Spiegelungsvorgang häufig zur Metapher für den dichterischen Prozess. Diesem Bild entsprechend besteht also der Spiegelungsvorgang in der wie auch immer gearteten Wiedergabe der ›eingegebenen‹ Worte. Die Wirkung dieses fragmentierten und somit auch selbst wieder fragmentierenden, trüben Pfeilerspiegels wird mittels dieser Metaphorik beschrieben: 205
Ach, wie man, zitterte drin zu sein, und wie hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich näherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er war, nicht gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte er natürlich. (VI, 803)
Das Produkt dieses nicht ›mimetischen‹, d.h. nicht gleich ›nachsprechenden‹ Spiegels mutet entsprechend befremdlich an: [...] nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches, Selbständiges, das man rasch überblickte, um sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie [...]. (VI, 803)
Bei aller Befremdlichkeit ist es aber noch Malte, der das Bild ›eingibt‹, das Bild ›diktiert‹: »Wenn man aber sofort zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man sich zuwinkte, [...] so hatte man die Einbildung auf seiner Seite, [...]« (VI, 804) – so wie er in der Episode mit der Hand vor Eintritt des Spiegelungserlebnisses im wörtlichen Sinne dabei gewesen war, ein Bild zu malen. Man denke hierbei an die besagte Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹, seine Prophezeiung: »[...] diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird« (VI, 756). Im einen Fall ist Malte der ›einbildende‹, im anderen der ›Eindruck‹. Die als Utopie beschworene Verschränkung der Subjekt-Objekt-Perspektive in der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ bahnt sich hier in der Spiegelepisode an. Provoziert wird sie dadurch, dass Malte sich verkleidet: »Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann,« erinnert er sich. »Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb;...« (VI, 804) Plötzlich ›schreibt‹ die Tracht das Bild – die ›Einbildung‹, den Eindruck – ›vor‹. Vorher war Malte der ›Vorsagende‹. Jetzt, wie auch in der Vision einer selbständig dichtenden Hand, verselbständigt sich die vor dem Spiegel gestikulierende – d.h. ›redende‹ – Hand auf einmal: »[...] meine Hand [...] war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber zu [...]« (VI, 804) Die Ähnlichkeit im Erleben der eigenen Hand als einer Art Fremdkörper im positiven Sinne in der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ wie im negativen Sinne in der Hand-Episode ist offensichtlich. Allerdings behält das Subjekt in der Spiegelepisode noch die Kontrolle. Der in der Vision prophezeite Umschlag von Subjekt in Objekt bleibt zunächst aus: »Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß 206
ich mich mir selber entfremdet fühlte; [...].« (VI, 804) Vielmehr bestärken sie Malte in seinem Selbstgefühl: »[...] im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugte wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner und kühner [...].« (VI, 804) Dann aber wird die Gestalt vor dem Spiegel immer unwirklicher und bedrohlicher. Malte legt sich nämlich eine Maske auf, die er zugleich bezeichnenderweise ein ›Gesicht‹ nennt; es war fast so, als habe er das eigene Gesicht gegen die Maske ausgetauscht, denn »es legte sich fast über meines«, so Malte; »der Rand der Maske« war »fast ganz verdeckt« (VI, 806). Das will heißen: Die Tatsache, dass es sich um eine Maskierung, eine Illusion handelt, wird kaschiert. Paradoxerweise ›leuchtet‹ dem Spiegel diese Erscheinung aber gleich ›ein‹: »Der Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu überzeugend.« (VI, 806)128 Wenn Malte gleich darauf sagt, es gelte »zu erfahren, was ich eigentlich sei« (VI, 806), so beziehen sich seine Worte nur vordergründig auf die Kostümierung, auf das, was die Verkleidung darstellen soll. Die Worte haben auch eine hintersinnige, existentielle Bedeutung: Malte fragt nach der eigenen Identität, verkörpert durch die unkostümierte Erscheinung, die es nicht vermocht hatte, den Spiegel gleich
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Peter Por scheint das ›falsche Gesicht‹ im Spiegel als eine Art Chiffre für den Text selbst zu nehmen. Wie er schreibt, sind »die Aufzeichnungen, die Bilder und die Worte alle a limine als verfehlt und inauthentisch verfaßt [...], da sie alle als falsche Maske gesetzt werden, [...].« (Por: »Hyperbel«, 122) Pors Fazit: »Kein Ereignis, kein Bild, keine Person und letzten Endes auch kein Wort ist authentisch, [...] alle bleiben sie verfehlt, sind inauthentische ›Signalworte‹ [...] inauthentische ›Spuren‹ (so Derrida, aber vor ihm wieder Rilke selbst), die sich stets konstruieren und dekonstruieren.« (Pors: »Hyperbel«, 124) Zunächst sei angemerkt: Por setzt hier die Derrida eigene Verwendung des Wortes ›Spuren‹ mit ihrer konventionellen, und das heißt in diesem Kontext auch Rilke’schen Verwendung gleich – mit Sinn entstellender Wirkung. Meine Hauptkritik an Pors, wie ich meine, sehr tendenziöser These richtet sich gegen die Behauptung der Inauthentizität des Textes, besteht doch ein Hauptthema der Aufzeichnungen im Ringen um die authentische Erfahrung und ihren dichterischen Ausdruck, signalisiert im lakonischen »Ich lerne sehen« oder in der für Maltes dichterisches Selbstverständnis wichtigen Reflexion, infolge der es heißt: »Man muß Erinnerungen haben [...]. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. [...] Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.« (VI, 724f.) Por beruft sich auf Judith Ryans Begriff des »hypothetischen Erzählens«, um seine These zu untermauern; dabei scheint er, (irrtümlicherweise) den Ryan’schen Begriff ›hypothetisch‹ mit dem von ihm verwendeten – ›inauthentisch‹ – gleichzusetzen.
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zu ›überzeugen‹. Hier reaktiviert sich die metaphorische Analogie zwischen Reden und Sich-vor-dem-Spiegel-Bewegen. Mit der Maske verkleidet »wäre [es] gar nicht nötig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Erscheinung war vollkommen, auch wenn sie nichts tat« (VI, 806). Im Bemühen, die hinter der Maske versteckte, eigene Identität geltend zu machen, greift Malte erneut zur gestischen Sprache: »[...] so drehte ich mich ein wenig und erhob schließlich beide Arme: große, gleichsam beschwörende Bewegungen, das war, wie ich schon merkte, das einzig Richtige.« (VI, 806) Doch gerade der Versuch, dem Spiegel ›einzureden‹, dass er es sei, der vor ihm stand, führt die Katastrophe herbei. In seiner kostümierten Unbeholfenheit wirft Malte einen kleinen Tisch um, der bezeichnenderweise voll ist mit »wahrscheinlich sehr zerbrechlichen Gegenständen«, die herunterfallen und ›entzwei‹ gehen. Das Motiv des Zerschlagens, Zerschellens von niederfallenden Gegenständen kennt man aus anderen Zusammenhängen, wo es Maltes Gefühl der Fragmentierung anzeigt. So auch hier. Der verzweifelte Versuch Maltes, sich »irgendwie aus [der] Vermummung hinauszuzwängen«, ist eine Inszenierung des Kampfes um die Wahrung bzw. Rettung der eigenen Identität. Doch statt Rettung erlebt Malte das genaue Gegenteil. Malte berichtet: [Dabei] nötigte er [der Spiegel] mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen; denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. (VI, 808)
Dieses Überwältigtwerden durch das Spiegelbild steigert sich sogar noch bis zur völligen Auslöschung der eigenen Identität: »Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.« (VI, 808) Selbst nachdem das Kind sich vom Spiegel entfernt hat, bleibt die Umkehrung der Verhältnisse noch bestehen: »Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß überall an, er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin.« (VI, 808) Schließlich wird Malte noch die Stimme genommen: Niemand hört seine Schreie.129 Dann verliert er das Bewusstsein. Er beschreibt, wie er zum Schluss »dalag wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück« (VI,
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Wagner-Egelhaaf meint, in dieser Szene »[w]esentliche Strukturmerkmale einer unio mystica« entdecken zu können: »das Überwältigtwerden wider Willen, das Grauenvolle des Alleinseins mit dem Gott, die völlige Auslöschung des Ichs« (Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 84).
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809).130 Die Inversion, die zu einer Überwältigung des sich Spiegelnden durch das Spiegelbild führte, scheint von einer zweiten Inversion begleitet zu werden, die das Subjekt Malte zum Objekt, zu einem ›Stück‹ macht. Die von Malte beschworene, eine ›Zeit der anderen Auslegung‹ einläutende, utopische Umkehrung der Subjekt-Objekt-Perspektive und die mit ihr einhergehende Auflösung der Sprache erfährt in seinem Erlebnis mit der Hand und dem Spiegel ihr negatives Pendant. Die Sprachlosigkeit, in die Maltes Begegnung mit der zweiten Hand ihn stürzt, erlebt er als äußerst qualvoll: »Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden.« Allerdings bekommt er bald Angst, diese Worte »könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein«, wobei er es als Zwang empfunden hätte, »sie dann sagen zu müssen«, – das »schien [ihm] fürchterlicher als alles« (VI, 796). Was in der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ als ein einziger zu bejahender Vorgang erscheint – Auflösung der Sprache bei gleichzeitigem Umschlag von Subjekt in Objekt –, zerlegt sich hier in seine beiden Momente, wobei beide als bekämpfenswert erscheinen: erst das Erleben der Sprachlosigkeit, dann die Furcht vor dem Erleben eines Diktiertwerdens von der Wirklichkeit, und zwar in äußerst bedrängender Weise: »Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, [...] zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.« (VI, 796) Schließlich, und darauf muss mit Nachdruck hingewiesen werden, bleibt es in der Spiegelepisode nicht bei einer Umkehrung der Subjekt-Objekt-Perspektive, sondern das in der erinnerten Phantasie zum Objekt gemachte Kind wird von dem zum Subjekt gewordenen Spiegel erst übermannt, dann vernichtet. Es bleibt Maltes Phantasie nach nur noch das Andere. Ein Vergleich der Spiegelmotivik, wie sie sich hier und in Verbindung mit dem Puppenmotiv manifestiert, kann für die Interpretation der Aufzeichnungen fruchtbar sein. Bei der Interpretation des Puppenmotivs stellte sich heraus, auf welch komplexe Weise die Motive Spiegel und Gegenüber in Rilkes Dichtung ineinander übergreifen. Der Spiegel bzw. das Gegenüber, soweit dieses eine Spiegelfunktion inne hatte, wurde zum Ort der Verwandlung, in dem die in ihn ›hineingegangenen‹ Bilder in ihrer ›höhe-
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Ryan sieht hierin, wie in der Hand-Episode auch, eine »Verselbständigung der Phantasie, die von dem Kinde nicht durch das Erzählen gebannt werden kann« (Ryan: Hypothetisches Erzählen, 359). Die Schreie eines in Panik geratenen Kindes als ein ›Erzählen‹ zu betrachten (vgl. 359), leuchtet mir aber nicht ein.
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ren‹, die Temporalität überwindenden Wirklichkeit zurückgespiegelt werden; so seine eigentliche Bestimmung, wie das Spiegelsonett sie statuiert.131 In der Vorstellung einer in zweifachem Sinne ›aufhebenden‹ Wirkung des Spiegels kommen Rezeptivität und Reflexivität als die beiden Konstituenten seines Wesens zur Geltung. Insofern es als Spiegel fungiert, übernimmt das Gegenüber eine ähnliche, doppelte Aufgabe. In diesem Sinne erhielt die Puppe verschiedene, wenn auch eingeschränkte Spiegelfunktionen. Der Spiegel der Aufzeichnungen hingegen gebärdet sich zunächst als rein destruktive Instanz. Dem entspricht seine Eigenart: Dieser trübe, durch seine Zerstückelung den zu Spiegelnden desintegrierende Spiegel kann weder reflektorisch noch rezeptiv wirken im oben erläuterten Sinne. Fast ausnahmslos richtet sich das Augenmerk der Malte-Interpreten auf die Spiegelepisode, der ein zentraler Stellenwert im Roman beigemessen wird, aber oft bald vergessen bzw. gar nicht erst beachtet wird die fragmentierte Gestalt des Spiegels.132 Obwohl er keine im idealen Sinne rezeptivreflektorische Funktion erfüllt, kann der Pfeilerspiegel paradoxerweise, und zwar gerade auf Grund seiner besonderen Physiognomie, den Anspruch auf ›Wirk‹-lichkeit erheben, denn obwohl der Pfeilerspiegel auf Ulsgaard ein optisches ›Trugbild‹ der Desintegration entwirft, entspricht dieses der subjektiven Wahrnehmung der Desintegration seitens des Aufzeichnenden. Deswegen wird sein verzerrtes Spiegelbild zur ›Wirklichkeit‹ und er, Malte,
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Das auf Oppositionen aufbauende Denken Rilkes manifestiert sich besonders deutlich in Bildern, die sich am Phänomen der Spiegelung im weiteren Sinne ausrichten. In Bezug auf Rilkes Ästhetik zeigt sich dies etwa im Wort von der Kunst als »Inversion der Welt« (RBr I, 269), oder in der auf die Aufzeichnungen bezogenen Vorstellung des Abwesenden als das, was Malte »den Schlüssel der Dinge gibt«: »[...] jedes verlangt seinen Gegensatz, der erst seine wahre Bedeutung enthüllt.« (Äußerungen Rilkes im Gespräch mit Maurice Betz, zitiert in: Maurice Betz: »Über die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Hartmut Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn., 1974, 157–172; hier 160.) Angesichts solcher Formulierungen ist unschwer zu verstehen, warum Rilke das Spiegelmotiv so gern und oft aufgreift. Vgl. hierzu de Man: Allegories, 40; 43. So gesehen gewinnt das berühmte Wort von den Aufzeichnungen als »eine[r] hohle[n] Form, [...] ein[em] Negativ«, dessen »Ausguß [...] vielleicht Glück, Zustimmung; – genaueste und sicherste Seligkeit [wäre]« (RBr II, 511) an Sinn. Man vergleiche dabei Maltes eigenen, ausbleibenden ›Schritt zur Seligkeit‹. Das Buch wird gewissermaßen zum Spiegel im negativen Sinne, der aber für »die positive Figur, die man daraus gewönne« (ebenda, 511) unabdingbar sei. Vgl. auch Kunz: Narziß, 51f.; 63. Huyssen widmet diesem Detail gebührende Aufmerksamkeit. Vgl. »Paris/Childhood«, 129.
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zum ›Spiegel‹. Durch die perfekte Kostümierung – »der Rand der Maske [war ...] fast ganz verdeckt« – ist die Illusion besonders gelungen. Sie ›überzeugt‹ sofort den Spiegel. Vorher hatte dieser, seiner fragmentarischen Physiognomie gemäß, »nicht gleich nachsprechen [wollen], was man ihm vorsagte« (VI, 803). Jetzt wird kraft der ›Vollkommenheit‹ der ›Er-scheinung‹ die desintegrative Wirkung des Spiegels aufgehoben: »Der Spiegel gab [Maltes kostümierte Gestalt] augenblicklich wieder […].« (VI, 806) Die Macht der illusionären, weil subjektiv nicht empfundenen, sondern nur mittels einer Maske realisierten Ganzheit in der Gestalt des kostümierten Kindes führt eine Integration des real fragmentierten Spiegels herbei. Dieser ›spricht‹ auf die Ganzheit verheißende Erscheinung Maltes gleich ›an‹. Der ›ganze‹ Malte wird zum Ganzheit erzeugenden ›Spiegel‹ des Spiegels mit einer ›heilenden‹ Wirkung. Die objektiv gegebene Fragmentierung des Pfeilerspiegels einerseits und die subjektiv gegebene Fragmentierung des Kindes andererseits werden gleichermaßen durch ein illusionäres Bild der Integration aufgehoben – zumindest für die Dauer des Spiegelungsvorgangs. Die real gegebene Brechung der optischen Erscheinung des Kindes im Pfeilerspiegel und die imaginierte ›Brechung‹ des Ichs im subjektiven Empfinden Maltes werden aber im Akt der Spiegelung nicht mehr wahrgenommen. Ein solches ›Zurechtrücken‹ der Verhältnisse erfolgt erst im Moment des Umschlags, in dem Malte des fragmentierten Ich hinter dem Kostüm gewahr wird, das mittels seiner hilflosen Gebärdensprache auf sich aufmerksam zu machen versucht, aber, statt sich verständlich machen zu können, bei der schlagartig sich einstellenden Umkehrung der Perspektive selbst »ein Bild, nein, eine Wirklichkeit« ›diktiert‹ bekommt. (VI, 808) Malte erlebt diese Wirklichkeit als ›fremd‹ und ›monströs‹, aber in Wahrheit entspricht sie seinem eigenen Empfinden der Fragmentierung. In Anbetracht der Diskrepanz zwischen optischer bzw. psychischer Realität und Illusion, die dem Spiegelungsvorgang zu Grunde liegt, wohnt diesem Vorgang ein zutiefst ironisches Moment inne.133
133
Lorna Martens interpretiert diesen Vorgang als reine Steigerung der ›Falschheit‹ der Erscheinung, berücksichtigt dabei aber nicht die unverkennbare Wechseldynamik zwischen Spiegel und Kind. In ihrem Deutungsmodell scheint eine solche Diskrepanz zwischen optischer Erscheinung des Spiegelbilds und subjektivem Empfinden des sich Spiegelnden keine Rolle zu spielen. Vgl. Lorna Martens: The Diary Novel, New York 1985, 160. In ihrer Interpretation der Szene vor dem Spiegel wird Ryan dieser Wechseldynamik genauso wenig gerecht, sieht sie doch darin lediglich, wie in der Hand-Episode auch, eine »Verselbständigung
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Der Pfeilerspiegel symbolisiert aber auch Maltes Situation schlechthin. Er ist ein ›schlechter‹, weil fragmentierender Spiegel, der genauso wenig wie die verschiedenen Personen in der Pariser Gegenwart der Aufzeichnungen der Aufgabe eines idealen ›Spiegels‹ für Malte gerecht zu werden vermag: Maltes hochgradig empathische Einfühlung in verschiedene Gestalten der Pariser Gegenwart bleibt einseitig; es kommt zu keiner Widerspiegelung. Solche Gestalten erhalten den Charakter reiner Projektionen. Sie sind, wie die historischen Figuren im zweiten Teil des Romans auch, nur sehr notdürftige ›Vokabeln seiner Not‹. 134
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der Phantasie, die von dem Kinde nicht durch das Erzählen gebannt werden kann« (Ryan: Hypothetisches Erzählen, 359). An dieser Stelle möchte ich mich mit einer Malte-Interpretation auseinandersetzen, die ein neues Licht auf den Roman wirft und im Kontext der hier besprochenen Thematik besonders relevant ist. Martens erklärt die mehrfache metaphorische ›Spiegelung‹ zum Kompositionsprinzip des Romans. Ihr Kernsatz: »Malte is a first-person narrative that is structured like a metaphor – where Malte himself [...] figures [...] as the ›absent‹ subject of his book [...] as the ›unnamed‹ subject of metaphor« (Martens: Autobiographical Narrative, 243). Diese Technik der ›metaphoric mirroring‹ gewährleiste »the truth of his [Maltes] visions [...] Malte gains authority as a first person narrator by turning from self-description to oblique self-representation, and from referential to figurative language [...] Malte acquires authority as a visionary, as the author of the novel’s creative re-seeings« (ebenda, 245). Indem Martens Malte zum ›visionary‹, zum ›Wieder-Sehenden‹ erklärt, impliziert sie in Folge ihrer symbolischen Bestimmung des Rilke’schen Spiegels (vgl. ebenda, 230ff.), dass Malte selbst der Spiegel ist, der auf kreative Weise ›wiedersieht‹, sprich sich widerspiegelt. Aber als »the ›absent‹ subject of his book« ist Malte Martens’ Argumentation nach auch der zu spiegelnde Gegenstand. Dadurch entfällt, wie Martens völlig richtig bemerkt, »the questionable enterprise of self-objectification«. Wenn man im Roman eine solche ›narzisstische‹ Spiegelstruktur ausmachen will – ein Ausdruck, den Martens nicht verwendet, der mir aber dafür treffend erscheint –, dürfte aber »[t]he exemplary quality of Malte’s experiences«, die laut Martens mittels der ›metaphorical mirroring‹ gewährleistet werde, in Frage gestellt sein, denn Spiegel und zu Spiegelnder beziehen sich immer nur aufeinander. In diesem Sinne kommt die Interpretin denn auch letztlich zum Urteil: »The whole narrative could be conceived as a catachresis for the self, for which there exists no proper expression« (ebenda, 245). Eine der Hauptschwierigkeiten bei Martens’ Deutung liegt wohl darin, dass sie den Text gegen das Genre des literarischen Selbstporträts abgrenzen will. »There is a striking absence of anything resembling self-portraiture in Malte«, schreibt sie (ebenda, 245). Als Beispiel hierfür führt Martens die Kindheitserinnerungen an und behauptet: »When Malte does talk about himself, for example, his childhood, he describes universal experiences.« Ebenda, 245. Gerade das stimmt, wie hier hoffentlich gezeigt werden konnte, nur sehr bedingt. Martens formuliert keine Begriffsbestimmung des literarischen Selbstporträts, aber ohne diese bleibt ihre Argumentation letztlich unbefriedigend. Sie scheint aber von der Prämisse auszugehen, dass der sich selbst Porträtierende
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2.4.4. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn I Anders die am Ende der Aufzeichnungen eingeführte Geschichte vom Verlorenen Sohn. Im Folgenden gilt es, zwei in sich stimmige, aber auch konkurrierende Lesarten dieser ›Legende‹ – so Maltes Redeweise – darzulegen, um die Intention hinter der eigenwilligen Umdichtung des biblischen Gleichnisses und deren visionär-Rilke’schen Gehalt zu beleuchten. Die erste Lesart setzt beim facettenreichen Spiegelmotiv an, das ihre Komplexität nicht zuletzt aus der Einbindung in die besagte, ans Ende der Aufzeichnungen gestellte ›Nacherzählung‹ bezieht. Malte, den Knaben des »Requiems«, das in der Gestalt des Kindes sich meldende lyrische Ich in der dritten Strophe der Vierten Duineser Elegie und den Verlorenen Sohn verbindet die Tatsache, dass ihre Familien einen ›schlechten‹ Spiegel abgeben.135 Bei Malte drückt sich das in einem grundsätzlichen Gefühl des Missverstandenwerdens aus sowie zeichenhaft im Pfeilerspiegel. Der Knabe des »Requiems« fühlt sich in ähnlicher Weise
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einen nicht einzulösenden Anspruch auf die Objektivierbarkeit des Selbstbildnisses erhebt, und stellt diesem die Authentizität verbürgende, ›metaphorische Spiegelung‹ gegenüber. Aber worin besteht ein solcher Selbstbespiegelungsprozess, wie ihn Martens Vorstellung nach die Aufzeichnungen darstellen, anders als in einer – durchaus einleuchtenden – Form des Selbstporträtierens? Indem Martens die Aufzeichnungen zu einer Kette von sich gegenseitig widerspiegelnden Signifikanten erklärt, zu einer, wie sie sagt, »hall of significations« oder »hall of mirrors«, verzichtet sie auf den Anspruch auf Allgemeingültigkeit insofern, als der Bezug auf ein Signifikat fehlt, der den ›narzisstischen‹ Kreis aufbrechen würde. Das Rilke-Kapitel in Martens’ Monographie The Diary Novel und der im selben Jahr erschienene Rilke-Aufsatz sind über weite Strecken hinweg inhaltlich fast identisch, aber in einem wesentlichen Punkt weicht die eine Behandlung von der anderen ab. In The Diary Novel konstatiert Martens nämlich: »[Malte] derives his authority from the implicit abilitiy to hold up the mirror away from himself – to show the invisible its face. In doing so he turns the mirror of representation away from the self.« (Martens: Diary Novel, 171) Während die Interpretin hier behauptet, im Roman werde Malte – als »the ›unnamed‹ subject of metaphor« – gespiegelt, heißt es im Aufsatz derselben Autorin, Malte halte dem Unsichtbaren einen Spiegel hin. Diese signifikante Differenz in der Deutung wird von Martens nicht kommentiert. Die Interpretin scheint hierbei aber einer von Ryan diagnostizierten Hauptschwierigkeit der Textlektüre zu erliegen. Ryan bemerkt: »Rilke’s novel is fraught with a basic indecision, whether the problem he addresses is that everything is subjective [...] or that there is no boundary between subject and object.« (Judith Ryan: »Validating the Possible: Thoughts and Things in James, Rilke, and Musil«. In: Comparative Literature 40: 4 [1988], 305–317; hier 312.) Den überwältigenden, vorwiegend negativen Einfluss der Familie auf das Kind thematisiert das Gedicht »Dauer der Kindheit« (II, 290f.).
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isoliert: »Denn daß wir alle so beisammen saßen, das hab ich nie geglaubt« (II, 105). Die Familie wirkte nicht Ich-bildend, Konstanz und Dauer vermittelnd, sondern ›schwankt‹ (II, 105). Und das Kindes-Ich der Vierten Duineser Elegie spricht von dem »kleinen Anfang Liebe« zur Familie, »[...] von dem ich immer abkam, / weil mir der Raum in eurem Angesicht, / da ich ihn liebte, überging in Weltraum, / in dem ihr nicht mehr wart [...]«. In dieser Variation des Motivs, dem wir im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]« auch begegneten, vermag der Blick der Familie als potentielles Spiegel-Gefäß den Weltraum nicht in sich zu halten. In einem Bild, das stark an den fragmentierenden Pfeilerspiegel der Aufzeichnungen erinnert, wird zum Ausdruck gebracht, wodurch »Der Auszug des verlorenen Sohnes« – so der Titel eines 1906 geschriebenen Gedichts – motiviert war, nämlich durch die ›falschen‹ Bilder, die seine Familie ihm vermittelt: Die Familie sei »wie das Wasser in den alten Bornen«, das »uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;« (I, 491f.). Die Bewegung des Wassers fragmentiert den in ihm sich Spiegelnden ähnlich wie der aus kleinen, dazu noch trüben Glasstücken zusammengesetzte Spiegel das sich in ihm spiegelnde Kind. Die destruierende Wirkung dieses ›Spiegels‹ wird hier explizit zum Ausdruck gebracht: das Bild des Verlorenen Sohnes wird »zerstört«. Stellvertretend für Malte zieht der Verlorene Sohn aus, um einen Spiegel zu suchen, der ihn als Ganzheit wiedergibt, so jedenfalls das Wort vom Spiegel, das wir suchen.136 Schließlich sagt Malte selbst gegen Ende der Aufzeichnungen: »[…] Wir suchen einen Spiegel, [...]« (VI, 920). Ich konstatierte, dass für das Kind die Liebe zum Gegenüber, zum Du als getrennter Entität eine Bedrohung darstellt. Die Puppe bot sich daher als ›liebbares‹, weil ›unechtes‹ Gegenüber an, das das Kind nicht durch ihre potentiell zerstörerische Gegenliebe in Bedrängnis brachte. Dieses unvollkommene ›Liebesobjekt‹ eignete sich demzufolge am besten, den Individuationsprozess des Kindes behutsam zu fördern. Was eine reife Liebe ausmacht, ist natürlich die Fähigkeit zu Liebe und Gegenliebe seitens zweier ›ebenbürtiger‹ Gegenüber. Das Rilke’sche Liebespaar als Abstraktum, wie es vor allem in den Duineser Elegien, aber auch in den Aufzeichnungen charakterisiert wird, entspricht aber nicht einem solchen Liebesmodell. Das scheint auch die in den Aufzeichnungen vorgenommene, auf der Vorstellung einer ›intransitiven‹ Liebe basierende Unterscheidung zwischen Liebender und Geliebtem (bzw. Liebendem und Geliebter) zu bestätigen,
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»[…] Wir suchen einen Spiegel, [...].« (VI, 920)
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bei der die bzw. der Geliebte zum gefährdeten Objekt einer vereinnahmenden Liebe wird. »Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit« (VI, 924), so die Devise der Aufzeichnungen. Eines steht fest: Für Malte ist das Lieben dem Geliebtwerden vorzuziehen. Sein Fazit lautet: »Geliebtsein heißt aufbrennen.« (VI, 937) Liebe eines Anderen wird zu etwas, das es zu überstehen gilt, der man standhalten muss. In diesem Sinne Maltes für uns alle gesprochenes Gebet: »[...] laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.« (VI, 926) Eine ›reife‹, ›symmetrische‹ Liebe zwischen zwei Erwachsenen findet man hier weder in verwirklichter noch in utopischer Form. Stattdessen entwirft der Text eine als Ideal zu verstehende Form der Liebe, in der es der – wohlgemerkt weiblichen – Liebenden gelingt, das Objekt ihrer Liebe zu überwinden, d.h. zu transzendieren in der Erfahrung einer ›intransitiven‹ Liebe, die sie vor der schädlichen Gegenliebe ihres ›Liebesobjekts‹ bewahrt.137 Das einzige ›Liebesobjekt‹, von dem man »keine Gegenliebe [...] zu fürchten« (VI,
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Vor diesem Hintergrund gewinnt für mich Martens’ These, in den Aufzeichnungen zeige Rilke »how strength and vulnerability are implicit in the ideas of seeing and being seen« (»Autobiographical Narrative«, 230) an Sinn, wobei Sehen und ›strength‹ (im Sinne von der Fähigkeit zu »artistic vision«) einerseits und Gesehen-Werden und ›vulnerability‹ andererseits korreliert werden (ebenda, 232). Im nächsten Schritt ihrer Argumentation korreliert Martens Sehen versus Gesehen-Werden mit Lieben versus Geliebtwerden (ebenda, 232). Nach derselben Logik ist also die Position des Liebenden die stärkere. Allerdings scheint hierin eine eher äußerliche Stärke zu bestehen, die nicht Maltes Ziel ist. Der Umschlag von ›Gesehen-‹ bzw. ›Geliebt-Werden‹ in Sehen und Lieben bereitet wiederum einen zweiten Umschlag vor, bei dem das Subjekt wieder zum Objekt wird. Im Sinne der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ deutet sich dieser letztendliche Umschlag an, nach dem Malte nicht mehr schreiben, sondern geschrieben werden wird. Ebenso weist das Ende des Romans auf eine futurische Dimension hin, in der Malte wieder zum Geliebten wird – diesmal zum Geliebten Gottes. Letztlich geht es also darum, die göttliche Liebe ›bestehen‹ zu lernen. In ihrer Deutung der Heimkehr des Verlorenen Sohnes verfolgt Martens diese Entwicklung nur bis zur zweiten Stufe dieses dreifachen Umschlags hin: »His return shows that he has overcome the danger of being a passive object, whether of love or of vision [...] he now has an identity that can no longer be altered by the gaze of others.« Ebenda, 233. In ihrer Untersuchung zu Rilke in The Diary Novel identifiziert Martens zwar drei Momente – das Sehen bzw. Gesehen-Werden, das Lieben bzw. Geliebt-Werden und das Spiegeln bzw. Gespiegelt-Werden –, indem sie schreibt: »The power of the artist, then, is the power not to become the one in the mirror (a symbol of weakness) but, rather, to make present, make visible, what others cannot see« (ebenda, 163), aber auch hier bleibt das futurische Moment unberücksichtigt, das Maltes Bespiegelungsvision innewohnt. Vgl. die sehr ausführliche und differenzierte
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937) habe, sei Gott, denn er stelle keinen Liebesgegenstand dar, »sondern nur eine Richtung der Liebe«, so Malte. (VI, 937) Gott allein verzichte – zunächst zumindest – auf Gegenliebe. In diesem Sinne spricht Malte von der »Zurückhaltung dieses überlegenen Geliebten« (VI, 937).138 Vor diesen gedanklichen Hintergrund wird die biblische Gestalt des Verlorenen Sohnes gestellt, dessen Geschichte Malte als »die Legende dessen [...], der nicht geliebt werden wollte« (VI, 938), bezeichnet. Er sei fortgegangen, so Maltes eigenwillige Deutung, »um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein« (VI, 941). Er habe »jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die Freiheit des andern« geliebt. (VI, 941) In der Qualität seiner Liebe, bei der er ›seine ganze Natur‹ ›verschwendet‹ – und dass es in Rilkes Text vornehmlich um die Liebe des Sohnes und nicht des Vaters geht, ist ein Aspekt der noch zu thematisierenden Verkehrung des Gleichnisses, die im Roman erfolgt –, erinnert der Verlorene Sohn an die Gestalt des Narziss im Fragment , der in Antizipation der Vereinigung an die bevorstehende ›Hingabe‹ »[...] so viel entbehrend angeeignete[r] Natur« (II, 389) denken muss. Nur dass hier die Narzissgestalt in der entgegengesetzten Position ist, d.h. sich in der Vereinigung mit der Geliebten aufzulösen droht, also das Schicksal des ›aufbrennenden‹ Geliebten erleiden wird, während der Verlorene Sohn Rilke’scher Provenienz eher den vereinnahmenden Liebhaber darstellt, der langsam lernen muss, »den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren« (VI, 941). Auch hierin äußert sich die Eigenwilligkeit der Rilke’schen Gestalt gegenüber der biblischen. Als ihm ein solches ›Durchscheinen‹ schließlich gelingt, bereitet es ihm »Entzücken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat« (VI, 941).139 Obwohl dies einen Fortschritt darstellt gegenüber der anfänglich zerstörerischen Kraft seiner Liebe, kommt es hier zu keiner Begegnung mit einem Du; viel-
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139
Behandlung dieses Themenkomplexes in: Gertrud Höhler: Niemandes Sohn. Zur Poetologie Rainer Maria Rilkes, München 1979. Hinter dieser Vorstellung entdeckt man einen gewissen Bezug zum Dichter selbst. Vgl. den Brief vom 10. Januar 1912 an Lou Andreas-Salomé, in dem es unter anderem um das Ideal der ›Zurückhaltung‹ im zärtlichen Umgang mit anderen geht (RBr I, 310). In diesem Zusammenhang ist Rilkes Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915 interessant (RBr II, 510–516); er wird weiter unten in Augenschein genommen.
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mehr werden diejenigen, auf die der Verlorene Sohne seine Liebe richtet, gleichsam zu Fenstern, durch die hindurch der Liebende zwar »die Weiten zu erkennen« vermag, nicht aber das ›Objekt‹ seiner Liebe.140 Aber auch die Geliebten üben nicht die idealiter zu erwartende Wirkung auf den Liebenden aus, der »nächtelang weinen [muß] vor Sehnsucht, selbst so durchleuchtet zu sein« (VI, 941), dem dies aber nie widerfährt. Denn sie ›strahlen‹ nur sehr unvollkommen ›zurück‹, was er ›ausstrahlt‹, will heißen, sie sind höchstens sehr unvollkommene Spiegel: »O, trostlose Nächte, da er seine flutenden Gaben in Stücken wiederempfing, schwer von Vergänglichkeit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten als erhört zu sein.« (VI, 941) Die Affinität zwischen dem Verlorenen Sohn und dem Rilke’schen Narziss macht sich hier erneut bemerkbar. Wie der Verlorene Sohn ›liebte‹ Narziss »was ihm ausging, wieder ein« (II, 56), aber für ihn wie für den Verlorenen Sohn bleibt das ›Wiedereinlieben‹ – im Gegensatz zum ›Zurückströmen‹ des Engels – unbefriedigend. Und im Bild der »in Stücke[n]« wieder empfangenen »flutenden Gaben« klingt Maltes Spiegelerlebnis an: So wie die unvollkommene Geliebte die Gaben – auf der hier eingeschalteten Bildebene das Antlitz – des Verlorenen Sohnes ›in Stücken‹ zurückgibt, so erlebt Malte auch, wie der Pfeilerspiegel seine Gestalt in fragmentierter Form ›re-flektiert‹. Daraus erklärt sich »sein [des Verlorenen Sohnes] Entsetzen, erwidert worden zu sein« (VI, 942). So hört der Verlorene Sohn auf zu lieben, bis »noch einmal das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens« über ihn kommt. Dann
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In diesem Bild kommt es zu einer Konvergenz von Spiegel- und Fenster-Symbol in der Vorwegnahme eines Motivs, das in Rilkes Spätwerk einen zentralen Platz einnimmt. Allemann bemerkt, dass »beim späten Rilke das Spiegel-Symbol mit dem ebenso wichtigen Fenster-Symbol beinah identisch« ist (Allemann: Zeit und Figur, 139) und belegt dies mit der Stelle eines Gedichts aus dem französischen fenêtre-Zyklus, »wo ›fenêtre‹ und ›glace‹ gleichgesetzt werden: ›glace, soudain, où notre figure semìre / melée à ce qu’on voit à travers‹; [...]« (II, 259; 588; Allemann: Zeit und Figur, 139). Er deutet diese Konvergenz als Akt, in dem »sich eigenes Spiegel-Bild und durch das Spiegel-Fenster gesehene Landschaft zu einer bedeutsamen Metapher des Raumes [vereinigen], in welcher Welt und Ich sich durchdringen« (ebenda, 139). Darunter stelle man sich ein Fenster vor, durch das hindurch das Subjekt in eine Landschaft hinaus schaut und aufgrund einer optischen Täuschung, einer Art ›Montage‹, die geschaute Landschaft und die Reflexion des eigenen Antlitzes gleichzeitig wahrnimmt. Dem entspricht eine durchaus alltägliche Erfahrung, die hier zur Metapher für die Erfahrung der Durchdringung von Ich und Welt wird. Die Gestalten, denen die Liebe des Verlorenen Sohnes gilt, werden hier zu reinen Vehikeln für eine solche Erfahrung.
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beginnt er »die lange Liebe zu Gott«, diesmal in der Hoffnung »auf Erhörung« (VI, 943). Denn er meint, dass dieser »zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe« (VI, 943). In dieser Vorstellung wird Gott zum Gegenüber in absolut vollendeter Form, mit dem zusammen der Verlorene Sohn den ›gespanntesten Bezug‹ herstellen will. Das besagt das hier verwendete Bild, in dem es heißt: Während der Verlorene Sohn »sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand«. So wie der Steinbock den ›Bezugspunkt‹ darstellt für das lyrische Ich in »Vor Weihnachten 1914«, stellt Gott hier den »äußersten Abstand« für den Verlorenen Sohn dar, der nötig ist, um ›gespanntesten Bezug‹ herzustellen. Dort verkörperte sich der Akt der ›Bezugsetzung‹ im Sprung des Steinbocks auf das ›Herzgebirge‹ des lyrischen Ichs. Anklänge dieser Vision finden sich auch hier in einer aufwärts gerichteten ›figuralen‹ Bewegung, die einen Bezug des Verlorenen Sohnes zum Nachtraum stiftet, und einer abwärts gerichteten, die Herz (des Verlorenen Sohnes) und Erde verbindet. Es kamen nämlich Nächte, »da er meinte, sich auf ihn [Gott] zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens« (VI, 943). Dass solche ›figuralen‹ Bezüge, wie sie durch die evozierte ›Liebesbeziehung‹ zwischen Gott und dem Verlorenen Sohn verkörpert werden, letztlich in bzw. von der Dichtung hergestellt werden, suggeriert der Satz, der auf diese Vision folgt: »Es war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten.« (VI, 943) Allerdings sei es sehr schwer, sich dieser Sprache zu bemächtigen: Es könne »ein langes Leben darüber hingehen [...], die ersten, kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne Sinn sind« (VI, 944). Für das Dichten gilt dasselbe wie für das Lieben: Man muss daran arbeiten. Der Verlorene Sohn »vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, [...].« (VI, 944)141 Statt zu versuchen, unmittelbar mit Gott in Beziehung zu treten, richtet sich der Blick des Verlorenen Sohnes nach innen,142 in die erinnerte, nicht recht vergegenwärtigte Vergangenheit. Er beschließt, »das Wichtigste«, frü-
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Hierin sieht Wagner-Egelhaaf eine mystische Praxis: Der Verlorene Sohn nähere sich der Liebe Gottes »auf dem ›eigenschaftslosen‹ Weg der Mystik« (WagnerEgelhaaf: Mystik der Moderne, 106). Vgl. in Kontrast hierzu das Stundenbuch, von dem Rilke einmal sagte, es sei »ein Versuch [gewesen], die unmittelbarste Gottesbeziehung herzustellen, ja sie, aller Überlieferung zum Trotz, dem Augenblick abzuringen« (in einem Brief vom 3. Februar 1921 an Rudolf Zimmermann [RBr II, 658]).
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her nicht ›Geleistete‹, das nur ›Durchwartete‹ ›nachzuholen‹. Gemeint ist die Kindheit, die ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor[kam]: »[...] alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. (VI, 945)
Das ›Wiederleisten‹ der Kindheit wird so zur vornehmlichen Arbeit an der Liebe zu Gott, die Beziehungen der Kindheit zu Präfigurationen der noch herzustellenden Beziehung zu ihm. Rufen wir die Stelle aus dem Puppenaufsatz in Erinnerung, an der ein eigenwilliger Vergleich zwischen der Puppe und dem Schicksal bzw. Gott aufgestellt wird: »[...] das Schicksal, ja Gott selber [sind] vor allem dadurch berühmt geworden [...], daß sie uns anschweigen« (VI, 1068).143 Die Puppe sei nämlich »die erste [gewesen], die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, [...]« (VI, 1068f.). So gesehen präfiguriert die Beziehung des Kindes zum unvollkommenen Spiegel-Gegenüber in der Gestalt der Puppe die Beziehung des Verlorenen Sohnes zum vollkommenen Spiegel-Gegenüber in der Gestalt Gottes.144 An dieser Stelle sei angemerkt: Die scheinbare Korrelierbarkeit dieser zwei Bespiegelungsmomente lässt Gott und Puppe eine gleichwertige Funktion zukommen, die es noch zu problematisieren gilt. Die Beziehung zum vollkommenen Spiegel-Gegenüber ist in einer futurischen Dimension zu vollziehen, die sich erst nach der Heimkehr des Verlorenen Sohnes und der ›geleisteten‹ Arbeit an der Kindheit eröffnen wird. Das gilt aber auch für die Vision einer ›figuralen‹ Beziehung zwischen Kind und Puppe in der
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Die Puppe definiert sich über fehlende Handlungen: das Nicht-Sehen, NichtLieben, Nicht-Sprechen, usw., während Gott über noch fehlende, aber in einer futurischen Dimension erfolgende Handlungen definiert wird: über das Noch-Nicht-Sehen, das Noch-Nicht-Lieben, das Noch-Nicht-Sprechen usw. Als Noch-Nicht-Sehender manifestiert er sich in Form des blinden Zeitungsverkäufers. Darauf weist Martens hin: »A blind man is the epitome of someone who cannot return the viewer’s gaze [...] looking at a blind man is like looking at God«. Martens: »Autobiographical Narrative«, 238. Genau das meint Malte, wenn er in Bezug auf den blinden Zeitungsverkäufer sagt: »Mein Gott, [...] so bist du also.« Vgl. Höhler: Niemandes Sohn. Vgl. in diesem Zusammenhang Martens’ These: »He [Malte] holds a mirror up to God.« (Martens: »Autobiographical Narrative«, 239.) Man denke auch an den Ikonenmaler des Stundenbuchs, der zu Gott sagt: »Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,« (I, 260). Vgl. hierzu Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 69.
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unvollendeten Kindheitselegie, bei der »das Kind zum Gestirn« gemacht wird; dieser entspricht die Sehnsucht des Verlorenen Sohnes danach, »sich auf [Gott] zuzuwerfen in den Raum« (VI, 943).145 Die oppositionell-komplementäre, ›horizontal‹ wie ›vertikal‹ ausgerichtete Struktur der an der Kindheitsthematik beteiligten Topoi kommt hier in aller Deutlichkeit zum Vorschein. In der Vision der vollendeten Liebe Gottes zum heimgekehrten Sohn wird eine Vergangenheit und Zukunft zusammenfügende ›Gleich-Zeitigkeit‹ in Aussicht gestellt: Dass die Kindheitserinnerungen »als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig« (VI, 945). Diese antizipierte Aufhebung der historischen Zeit korrespondiert wiederum mit der zeitlichen Qualität der Kindheit, wie sie in der Vierten Duineser Elegie charakterisiert wird, »da hinter den Figuren mehr als nur / Vergangenes war und vor uns nicht die Zukunft« (I, 699). Wo Kindheit ›wiedergeleistet‹ wird, kommt es zu einer Versöhnung der Oppositionen, zu einer (Wieder)herstellung von Ganzheit – so Maltes Hoffnung.146 Das
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In welch interessantem Zusammenhang Figur und ›intransitive‹ Liebe stehen, deutet eine briefliche Äußerung Rilkes an, die die ›figurale‹ Beziehung zu einem Notbehelf zu machen scheint für jemanden, der die Begegnung mit dem Du scheut. Rilke schreibt: »[...] ich bin so übertrieben empfindsam, und wenn ein Auge auf mir ruht, so lähmts mich schon an einer Stelle. Ich möchte immer wieder nur die Gestirne auf mir verweilen wissen, die aus ihrer Weite alles auf einmal sehen, im ganzen, und so keines binden, vielmehr alles freilassen in allem...« (aus einem Brief an Clara Rilke vom 4. September 1908; RBr I, 233). Die schonungslose Kritik de Mans an Rilkes Dichtung setzt bei dessen Anspruch auf eben solche (Wieder)herstellung von Ganzheit in der Dichtung an; de Man glaubt, Rilkes ›messianischen‹ Auftrag an die Dichtung, der in einer solche Totalität schaffenden Versöhnung komplementärer Oppositionen bestehe, als leeres Versprechen, wenn nicht zu sagen, in der Dichtung selbst sich offenbarende List decouvrieren zu können. Die ›Einheit‹, die Rilkes ›figurale‹ Dichtung zu stiften verspricht, erweise sich letztlich, so de Mans Unterstellung, als rhetorisches Konstrukt ohne Wahrheitsanspruch. Das belegt de Man durch Anführung eines der Sonette an Orpheus (I, 494), in dem eine ›sternische‹ Verbindung im Vordergrund steht. Dieses Sonett »reduces the unified totality to a mere illusion of the senses, as trivial and deceiving as the optical illusion which makes us perceive the chaotic dissemination of the stars in space as if they were genuine figures[...] ›Auch die sternische Verbindung trügt‹: the imaginary lines that make up actual as well as fictional constellations [...] are mere deceit, false surfaces. The final affirmation, ›Das genügt‹, especially when compared to the fervent promises that appear in other poems, seems almost derisive«. (de Man: Allegories, 53f.) Dass de Man bei seiner vernichtenden Kritik des Rilke’schen Oeuvres sich weitgehend auf die frühe Lyrik stützt, die sich als dankbare Angriffsfläche bot, schmälert den Wert seines Urteils ganz erheblich. De Man hat auch die frühe Lyrik im Auge, wenn er pauschalisierend konstatiert: Mit dem Primat des Signifikanten über das Signifikat gehe eine »priority of lexis over
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›Schauspiel‹ der 4. Duineser Elegie läutet einen solchen Prozess ein: »[...] Dann entsteht / aus unsern Jahreszeiten erst der Umkreis / des ganzen Wandelns [...]« (I, 699). Am Schluss wird die Puppe des Puppenaufsatzes, die ›abgestürzte‹ Hälfte des Kindes, in ihrer verwandelten Gestalt für einen Augenblick mit ihm wieder vereint, indem sie uns »mit niegewußten Gefühlen überflutet« (VI, 1073f.). Und Malte, der seinen Spiegel sucht, weil er ohne ihn als ›Hälfte‹ herumgehen muss,147 wird vielleicht – das deutet der Schluss der Aufzeichnungen vorsichtig an – seinen Spiegel finden. Obwohl die parabolische Ebene der Erzählung nicht explizit verlassen wird, liegt es nah, das Ende der Geschichte vom Verlorenen Sohn als das Ende von Maltes Geschichte zu lesen: als die Geschichte eines Heimgekehrten, der sich vorgenommen hat, die ›durchwartete Kindheit‹ nachzuholen und, indem er sich dieser Aufgabe widmet, sich auf die Begegnung mit demjenigen vorbereitet, der ihm als Spiegel Ganzheit statt Fragmentierung vermitteln soll, indem er ihn in einen Ganzheit stiftenden Bezug setzt. Letztlich soll die Wiederbegegnung des Kindes mit der Puppe wie Maltes imaginierte Begegnung mit Gott dem Ganzheit stiftenden Dichten zu Gute kommen. Aus der Zusammenkunft von Kind und ›er-wachsen-er‹ Puppe möge ein ›Ding‹, ein Gedicht hervorgehen, das »dem, was schon verging, leis bei[wohnt]«, sprich Leben und Tod zumindest ansatzweise zusammenbringt. In den Aufzeichnungen verheißt die Herstellung einer Beziehung, eines Bezugs zu Gott letztlich die Eröffnung einer neuen sprachlichen Dimension; Malte soll dadurch Zugang zu einer »herrlichen Sprache« erhalten. Man sei an seine frühere Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ erinnert, in der er in Folge einer Verschränkung der SubjektObjekt-Perspektive zum passiven Vollzieher einer ›herrlichen‹ – will sagen, einer ›Herr-lichen‹? – Dichtung wird. Man denke hierbei an die Analogie, die in der Spiegelepisode hergestellt wird zwischen dem Akt des SichArtikulierens und dem des Sich-Spiegelns. In der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ heißt es, Malte werde zum ›sich wandelnden Eindruck‹. Im Sinne dieser Gleichsetzung: Der Geschriebene wird zum Gespiegelten. Möge Gott der imaginäre Spiegel sein, der diesen ›Eindruck‹ verwandelt.
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logos« einher: »Rilke’s totalizations are the outcome of poetic skills directed towards the rhetoric potentialities of the signifier.« (Ebenda, 45.) Eine solche Reduktion münde schließlich in weitgehend sinnentleerte Euphonie. Wenn man von dieser Warte aus sich ein Urteil über die spätere, ›figurale‹ Lyrik erlaubt, wird es am Eigentlichen vorbeigehen. Siehe VI, 756.
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So lautet eine, wie ich meine, kohärente und einleuchtende Lesart der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn, die auch die Grundlage für eine in sich stimmige poetologische Vision mit klarem Telos liefert. Und doch drängen sich Widersprüche auf, die die Plausibilität dieser Lesart ernsthaft in Frage stellen.148 Die nähere Analyse einer Reihe von teils schon zitierten Aufzeichnungen wirft ein anderes Licht auf die Schlussparabel und legt somit eine konträre Lesart nahe; diese wiederum lässt die soeben dem Text entnommene poetologische Vision korrekturbedürftig erscheinen. 2.4.5. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn II Einerseits stellt die ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn die Kulmination einer dichterischen Praxis dar, die den zweiten Teil der Aufzeichnungen dominiert, nämlich, die Geschichten anderer – sei es der Pariser Nachbarn, sei es historischer Gestalten –, ›nachzuerzählen‹.149 Gewissermaßen wird solchen Figuren – dem Nachbaren Nikolaj Kusmitsch, Karl dem Kühnen und manchen mehr – ein Innenleben ›angedichtet‹ im Sinne der hochgradig empathisierenden ›Sehweise‹, die Malte im Laufe seines Pariser Aufenthalts entwickelt. Als ›Vokabeln seiner Not‹ werden sie zu Schreibanlässen mit potentiellem Spiegelungscharakter. Diese ›Nacherzählungen‹ zeigen eine sich langsam wandelnde dichterische Praxis an: in Folge dichterischer ›Sehübungen‹ werden im Pariser Stadtbild anzutreffende Phänomene zunehmend ›verinnerlicht‹; zuletzt diktiert fast gänzlich die Innenansicht historisch überlieferter bzw. auf der Straße ›geschauter‹, dichterisch angeeigneter Figuren. Anknüpfend an diese Schreibpraxis eignet Malte letztlich eine weder historisch noch gegenwärtig anzutreffende Figur mitsamt ›ih-
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Wie die zweite hier dargebotene Lesart der Geschichte vom Verlorenen Sohn in aller Deutlichkeit zeigt: angesichts der Umdeutungstätigkeit Maltes wird das scheinbare Telos am Ende der Aufzeichnungen, die Aussicht auf Bespiegelung durch Gott, stark in Frage gestellt. Wie das diesbezügliche Fazit Gertrud Höhlers lautet, plant »Rilke selbst diese ›Arbeit‹ auf Gott hin konsequent ohne Ankünfte. [...] Wenn der Dichter im Schluß des ›Malte‹ von der ›stillen, ziellosen Arbeit‹ spricht, so ist dies die genaue Entsprechung zu seinen Entwürfen für die gegenstandslose Liebe. Gott, als bloße ›Richtung‹, wird niemals zum Aufenthalt für den emporstrebenden Künstler. Auch als Ziel wäre er ein Halt, eine endgültige Begrenzung für den ›Arbeitenden‹. [...] Es entsteht somit das widersprüchliche Ergebnis, dass die Arbeit – oder ›Liebe‹ – auf Gott hin per definitionem eine Arbeit ins Unendlich ist, die Gott gar nicht erreichen will.« Höhler: Niemandes Sohn, 138. An einer Stelle schreibt Malte: »Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren schreiben; das wäre ein Lebenswerk.« (VI, 864)
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rer‹ Geschichte an: wohlgemerkt eine von Jesu ›erdichtete‹. Diesem letzten Schreibakt wohnt ein zweifaches Identifikationsmoment inne: Malte schreibt sich gewissermaßen in die Rolle Jesu (ein) wie in die von Jesu ›erdichtete‹ Figur; an Identifikationspotential übertrifft keine der bisher bei Maltes Schreibübungen vorgenommenen ›Aneignungen‹ die ›umgedichtete‹ Gestalt des Verlorenen Sohnes. Dieser Bezug bestimmte auch die erste hier gebotene Lesart dieser letzten ›Nacherzählung‹. Diese erweist sich als Knotenpunkt, in dem sich eine mehrgliedrige Gleichung bündelt: Sehen und Gesehen-Werden; Spiegeln und Gespiegelt-Werden; Lieben und Geliebt-Werden; (Um)-Schreiben und (Um)-Geschrieben-Werden, so die sich gegenseitig bedingenden Komponente einer komplexen Poetik, die die letzten Aufzeichnungen entfalten. Wie auch immer die Gleichung ›gelöst‹ wird: Im Sinne einer zweiten, hier darzulegenden Lesart der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn im Kontext der ›voraus-gesetzten‹ Aufzeichnungen spielt ›Gott‹ eine letztlich sehr undurchsichtige Rolle, ebenso die Vision einer ›herr-lichen‹ Dichtung, die Malte zum ›Geschriebenen‹ bzw. ›Gespiegelten‹ einer höchsten Instanz machen soll. Nun gilt es, Verhältnisse zu klären im Sinne der oben aufgestellten Gleichung, Verhältnisse, woraus sich eine poetologische Vision ableiten lässt, die mit der soeben ausgemachten konkurriert. Zunächst wird es darum gehen, ›fremde‹, von Malte gewürdigte, erwogene und geprüfte ›Lösungen‹ der allwichtigen Gleichung, denkbare Alternativ-Visionen zu erkennen und charakterisieren. Im Prozess der konstruktiven Abgrenzung gegenüber solchen fremden Visionen offenbart sich womöglich der poetologische Hintersinn der letzten Schreibübungen des Aufzeichnenden, nach deren Absolvierung Malte es sich vornimmt, die Kindheit ›wiederzuleisten‹, – dies die Voraussetzung, so Malte, für jeden weiteren Schreibversuch. Bei der Betrachtung dieser letzten Schreibübungen will ich zunächst das bereits thematisierte, für die abschließenden Aufzeichnungen zentrale Motiv der Liebe ins Zentrum rücken und den Blick auf einen, wie ich meine, maßgeblichen ›Lösungskomplex‹ richten, der zur abschließenden, vom Verlorenen Sohn handelnden ›Nacherzählung‹ hinführt. Dieser betrifft zwei Liebende: Abelone und Bettine von Arnim. Maltes Begegnung mit den schwärmerischen Liebesbekenntnissen Bettine von Arnims liefert ihm das Vorbild für eine ideale Form von Liebe, die nicht zufällig einem Dichter gilt. Von Arnims Briefroman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) wird Malte eines Sommernachmittags zum Vorlesen in die Hände gelegt. Abelone bittet ihn, nicht die – teils ›verbrieften‹, teils erfundenen – Antworten des vergötterten Dichters zu 223
rezitieren, sondern die an ihn gerichteten Briefe der Liebenden. Während sie selber einen davon vorliest, kommt es Malte so vor, »als würde [ihm] feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen« (VI 896). Das später in seinen Besitz tretende Buch – eine Art Vermächtnis, wenn man so will – vermittelt ihm eine von Abelone gewissermaßen ›vorbereitete‹150 Gestalt: die Verkörperung einer idealen Liebe. Durch eine ins Maßlose gesteigerte Liebe hat Bettine, wie Malte sich ausdrückt, mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt. [...] Überall hat sie sich ganz weit ins Sein hineingelegt, zugehörig dazu, und was ihr geschah, das war ewig in der Natur. [...] Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir, und die Vögel lassen noch Raum für deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? (VI, 897)
Die Liebe dieser Raum einnehmenden und dabei ins Absolute sich steigernden Gestalt, die – Gott ähnlich – die Sterne zu ihren macht, die Welt zu ihrer, gilt aber – zunächst zumindest – einem bestimmten Gegenstand: dem Dichter ihrer Verehrung, der für Malte die »Grenze seiner Größe« darin zeigt, dass er diese ihm »auferlegt[e]« Liebende »nicht bestanden« hat. Wie Malte schreibt: Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie Johannes auf Patmos, knieend. (VI, 898)
In Maltes Vorstellung verbindet sich Bettines Liebe nämlich, obwohl »Lockruf und Antwort in sich« und daher auf keine Erwiderung angewiesen, idealiterweise mit einem Auftrag an den Geliebten: das zu »schreiben«, was sie, die Liebende, »diktiert«. Der explizit hergestellte Vergleich zwischen dem in diesem Sinne beauftragten Dichter und Johannes auf Patmos ist vielsagend. Wie es in Bezug auf den ›Autor‹ der apokalyptischen Schrift heißt: »Es gab keine Wahl dieser Stimme gegenüber, die ›das Amt der Engel verrichtete‹; die gekommen war, ihn einzuhüllen und zu entziehen ins Ewige hinein.« (VI, 898) Nichts Geringeres als das finale Kapitel der Menschheitsgeschichte – als Heilsgeschichte von Jesus Christus –, Johannes auf Patmos diktiert, ohne Wahl und Widerrede, liefert die Vorlage – so wohl der höchst problematische Sinn des von Malte angestellten Vergleichs
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Wie es heißt, war Abelone »wie eine Vorbereitung auf sie [Bettine]« (VI,897).
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– für das ideale Szenario, das in der Begegnung zwischen dem geliebten Dichter und der Liebenden sich eben nicht erfüllt, und zwar mangels der Bereitschaft bzw. der Fähigkeit des Dichters, diese den ganzen Weltraum ergreifende, geradezu Absolutes vermittelnde Liebe zu ›bestehen‹. Wie Malte weiter unten bemerkt, besteht das »namenlose Leid der Liebe« darin, dass von der Liebenden »verlangt wird«, die ins Unermessliche strebende »Hingabe zu beschränken« (VI, 899).151 Die miteinander korrelierten Schreibszenarien erhalten jeweils eine teleologische Dimension, aber diese haben wenig gemein: Prophezeiungen über den Jüngsten Tag und dichterische Evokationen, die man in der Zelebrierung von ›Weltinnenraum‹ wiederfindet; beides wird zwar von einer ›höheren‹ Instanz ›diktiert‹, aber in ganz unterschiedlicher Weise von ganz unterschiedlich gestalteten. Vorausgedeutet wird letzteres, als nur potentiell möglich hingestelltes, da vom Geliebten nicht vollzogenes Schreibszenario durch die Beschreibung des Nachmittags, an dem Malte das Buch Bettines zum ersten Mal aufschlägt. Beschworen wird ein aus »Millionen kleinen ununterdrückbaren Bewegungen sich [zusammensetzendes] Mosaik überzeugten Daseins«, darin »die Dinge [...] ineinander (schwingen) hinüber und hinaus in die Luft«, deren »Kühle [...] den Schatten klar (macht)«, und die Sonne »zu einem leichten, geistigen Schein«. So erscheint der Garten, als gebe es hierin »keine Hauptsache; alles ist überall, und man müßte in allem sein, um nichts zu versäumen« (VI, 895). Ulrichs Vision eines im Zeichen des ›anderen Zustands‹ stehenden Sommertags erscheint hier gewissermaßen vorgezeichnet. Der Sommertag, der das von Malte als Potentialität evozierte Schreibszenario vorzeichnet, steht unter der Regie einer zukünftig Liebenden; gerühmt wird Abelones Sehnsucht, »ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen« in der (noch zu gewinnenden) Erkenntnis – so die bereits zitierte Formel –, dass »Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand« (VI, 937). Wie es heißt, sei am Rande dieser Aufzeichnung notiert: »(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschöpflichem Öle, Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)« (VI, 937) Wie Malte schreibt, ist es »gleichwohl möglich, daß Abelone in
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In einem Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915 redet Rilke im Kontext der »großen Fragendynastien« von der persistierenden Unzulänglichkeit unseres Liebens als einer der »ersten unmittelbarsten, ja genau genommen einzigen Aufgaben«, denen »wir […] so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede, so armsälig gegenüberstehen«, wobei der Malte Laurids Brigge – »diese[s] unter der tiefsten inneren Verpflichtung geleistete Buch« – sich nicht zuletzt dieser Frage stelle (RBr II, 510f.).
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späteren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen«. Das Chandos-Wort, hier wörtlich zitiert,152 verweist auf die poetologische Vision hinter dieser Vorstellung. Sofern sie es schaffen, ihrer Liebe »alles Transitive zu nehmen« (VI 937), gelingt Bettine wie Abelone möglicherweise eine ›reine Herzenssprache‹, aber eben eine intransitive, auf keinen Gegenstand gerichtete: kein Signifikat erreichende. Um mit Lord Chandos zu reden, geht es hierbei um den Ausdruck eines »entzückende[n], schlechthin unendliche[n] Widerspiel[s]«, bei dem es dem ›mit dem Herzen Denkenden‹ bzw. Sprechenden vermöge, in »gegeneinanderspielende[...] Materien« »hinüberzufließen«, »in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein (zu) treten«.153 Die Intransitivität der idealen Liebe ermögliche ein solches Denken und Sprechen, so die Folgerung, die man aus diesem intertextuellen Bezug ziehen kann. Chandos’ Beschwörung eines »neue[n ...] Verhältnis[ses] zum ganzen Dasein, Ulrichs Evokation des ›Mondnächtigen‹ und des dieser Sphäre zugehörigen Gleichnishaften, Maltes und Ulrichs Sommertagsvisionen sprechen alle dieselbe Sprache: nach Malte die der ideal, da ›intransitiv‹ Liebenden. Allerdings benötigt solche Liebe einen Gegenstand; das zeigt jedenfalls das Beispiel Bettine. Die Liebe der Bettine von Arnim, die Abelone zunächst ›vorbereitet‹ (letztlich womöglich sogar übersteigt), transzendiert zwar ihren vorläufigen Gegenstand, aber sie braucht diesen als Vorwand für das Eigentliche. In einem Brief an Sidonie Nádherny von Borutin vom 24. September 1908, in dem es um Bettine und ihre unerwidert gebliebene Liebe geht, pflichtet Rilke seiner Adressatin zunächst bei, die ihrerseits gemeint hatte, »dass sie [Bettine] ihre große große Liebe ohne jede Hülfe von außen, so ganz vervollkommnete«.154 Die Bedeutung des Vorwands kleinredend schreibt Rilke ganz im Sinne Nádherny von Borutins: [...] fassen, nehmen, in sich halten kann ja keiner solche Liebe; sie ist so vollends zum Weitergeben bestimmt über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur, damit er ihr den äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen den Sternen. [...]155
152 153 154 155
Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«. In: Sämtliche Werke XXXI. Hrsg. von Ellen Ritter, Frankfurt/Mn. 1991, 45–55; hier 52. Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, 52. Rainer Maria Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin. Hrsg. von Bernhard Blume, Frankfurt/Mn. 1973, 79. Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79.
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Erneut richtet sich Rilkes Aufmerksamkeit auf den (vermeintlichen) Gegenstand solcher Liebe, den Dichter: Aber diese Aufgabe, diesen ungeheueren, mehr als nur persönlichen Anspruch hat vielleicht keiner der von großen Liebenden Geliebten bestanden. Sie waren alle zu befangen in der eitlen Konvention ihrer Männlichkeit; sie hielten alle noch die Liebe für ein Ding zu zwein, für die kleine Beruhigung, die zwischen Finden und Trennung liegt.156
Rilke erwägt die Möglichkeit, es den großen – wohlgemerkt weiblichen – Liebenden gleichzutun und das Lieben im intransitiven Sinne zu erlernen: Erst wir lernen langsam weiter und werden vielleicht eines Tages die Sappho verstehen und die Worte der Diotima, die sie dem Sokrates bei Plato zu sagen hat. Aber ohne es zu ahnen, haben das die großen liebenden Frauen immer gewußt und gelebt und haben die Leidens- und Seligkeitsüberlieferung dieser einsamen Liebe weitergegeben, die die einzige ist, die ihren Namen verdient; auch sie geht (die das, was bei allen, nachläßig genug, Liebe heißt) auf einen anderen zu; aber plötzlich, wie ein Vorwand, ist er fortgenommen, sobald das unendliche Gefühl seinen weitesten Kreis beschreibt und keiner Stütze mehr braucht.157
Kurzum: alles umfasst. Welche Position Malte zu dieser auch in den ›eigenen‹ Aufzeichnungen gedanklich erprobten poetologischen Vision letztlich einnimmt, inwiefern sich seine eigene von dieser letztlich absetzt, welche Probleme mit einer solchen ›Selbst-Positionierung‹ einhergehen, zeigt sich auf chiffrenhafte Weise in einer Aufzeichnung, die zunächst ›deplaziert‹ erscheint: in der vom blinden Zeitungsverkäufer handelnden. Die wichtigen Sinnbezüge, die sie bei näherem Hinsehen im Kontext der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn liefert, kann als eindrucksvoller Beleg für die planvolle Anordnung der Aufzeichnungen gesehen werden. In der soeben besprochenen Aufzeichnung ging es um eine anscheinend schwer erfüllbare sowie schwer erwiderbare, aber dafür nicht minder verherrlichte Form der Liebe, die exemplarisch vorgeführt wurde. Die in diesem Fall zwingende Verknüpfung der Liebes- mit der Dichtungsthematik ergab eine mögliche ›Lösung‹ der oben aufgestellten, mehrgliedrigen Gleichung, eine Lösung, die Lieben bzw. Geliebt-Werden mit Schreiben bzw. Geschrieben-Werden verschränkt – mit zwingenden Konsequenzen, d.h. Handlungsvorgaben für den Dichter.
156 157
Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79. Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79.
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Wenn Maltes Aufmerksamkeit sich endlich auf die unscheinbare, da am Straßenrand kauernde, fast unhörbare, da nur mit einem »Rest von Stimme« versehene Gestalt des Zeitungsverkäufers lenkt – wie es heißt, ist die Stimme »nicht anders als ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft« (VI, 900) – so ergreift ihn auch hier der empathisierende Eifer, mit dem er so vielen Gestalten seiner Umgebung begegnet: Er beschäftigt sich sogleich damit, sich ihm vorzustellen, will heißen, er unternimmt »die Arbeit, ihn einzubilden«. Wie Malte schreibt: »Denn ich mußte ihn machen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist.« (VI, 900) Wie Malte bekennt, hilft es ihm hierbei »ein wenig [...], an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken, die bei allen Althändlern herumliegen«. Gewissermaßen ›stehen‹ diese ›Modell‹ für die Einbildungsarbeit, aber, wie Malte meint, denke er an sie »wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endgültig schmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks« (VI, 900f.). Die Begegnung mit dem blinden Zeitungsverkäufer ist von einer »Feigheit, nicht hinzusehen« geprägt (Hervorhebung der Vf.), was die Tendenz zur Empathisierung noch verstärkt und die Einbildung noch ›innerlicher‹ macht. Dies bringt Malte so weit, wie er von sich sagt, »daß das Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark und schmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben« (VI, 901). Der Blick nach außen soll die Einbildung korrigieren und ihr die innerliche Wirkkraft nehmen. Der Anblick dieser Gestalt lässt Malte aber sofort erkennen, dass seine Vorstellung »wertlos« ist, so sehr übersteigt die äußere Erscheinung in ihrem Elend das innen geleistete Bildnis. Wie Malte schreibt: Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs. Möglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und während ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und
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was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. [...] Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewissheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. (VI 902f.)
Diese letzte große Epiphanie liefert alle Komponente für die hier auszulotende mehrgliedrige Gleichung – Sehen und Gesehen-Werden bzw. NichtSehen und Nicht-Gesehen-Werden; Spiegeln und Gespiegelt-Werden; Lieben und Geliebt-Werden; (Um)-Schreiben und (Um)-GeschriebenWerden. Im lakonischen Satz »Mein Gott, so bist du also« konzentriert sich Maltes ganze Ambivalenz dieser Gestalt gegenüber. Zunächst scheint Malte hier den christlichen Gott anzurufen, der sich ihm in der Gestalt eines blinden Zeitungsverkäufers offenbart. Indem Malte aber die vielen – tiefsinnigerweise – bei Althändlern zum Kauf angebotenen Christusfiguren zur Hilfe nimmt beim Versuch, sich diese Gestalt ›einzubilden‹, – angeblich, um eine gewisse Kopfneigung, »im Wangenschatten« vergessene Barthaare und die verschlossenen Augen innerlich zu (re)konstruieren, –, werden die Christus-Abbilder zu Mittlerfiguren für die eigene Einbildungsarbeit: eine Arbeit, die einem ›selbstgemachten‹, und somit nicht mehr christlichen Gott im eigentlichen Sinne gilt. Liest man Maltes Ausspruch »Mein Gott, so bist du also« ganz wörtlich, so erweist sich diese wie eine Nebensächlichkeit erwähnte Zuhilfenahme als äußerst signifikant, denn auf diese Weise kehrt Malte den göttlichen Schaffensprozess um: Nicht der Mensch werde nach dem Bilde Gottes geschaffen, sondern der ›falsche‹ Gott nach dem Bilde des Menschen; der Mensch spiegele sich nicht in Gott, sondern umgekehrt. Die Menschengestalt, die Malte ›Modell steht‹, ist aber ein Abbild des Mensch gewordenen Gottessohnes. Eine derartige Vorstellung von der ›Einbildungsarbeit‹ pervertiert die Mittlerfunktion, die der christlichen Gestalt Jesu zugeschrieben wird, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht, denn erstens erscheint Jesus hier nicht als Gott vermittelnde Menschengestalt, sondern er dient als Vermittler dichterischer Einbildung, und zweitens machen diese von Menschenhand angefertigten Abbilder aus Elfenbein Gott zu etwas Sekundärem, etwas ›Nachgebildetem‹.158
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Im bereits erwähnten Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915 entwikkelt Rilke eine Vorstellung von Gott bzw. Göttern – wie es heißt, solle die
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Diese Aufzeichnung aktiviert auch den Aspekt des (Nicht)-Sehens und des (Nicht)-Gesehen-Werdens, der eine wichtige Komponente der hier aufgestellten mehrgliedrigen Gleichung darstellt. Erscheint nicht der christliche Gott in Gestalt des Zeitungsverkäufers als ›blinder Spiegel‹, der den Blick des Menschen nicht zu erwidern vermag und ihm somit kein ›vollkommener‹ Spiegel sein kann? Als elende Straßengestalt präsentiert sich Gott ferner als derjenige, der auf menschliche Liebe angewiesen ist, als derjenige, der menschlicher Aufmerksamkeit bedarf, um zu bestehen und nicht umgekehrt; schon in einem ganz trivialen, aber existentiellen Sinne trifft dies zu, denn er ist auf das Geschäft mit den Passanten angewiesen, ist darauf angewiesen, dass sie ihn bemerken, wenn er überleben will. Und doch, trotz aller anscheinenden Überlegenheit gegenüber der am Straßenrand kauernden Gestalt gelingt es Malte letztlich nicht, diesen Zeitungsverkäufer in zufriedenstellendem Maße ›einzubilden‹, ihm ein
Adressatin auf jeden Fall »Über-Sinnliches« annehmen – als Projektion des Menschen, als ›herausgestellten‹ Anteil des Menschlichen und somit diesem grundsätzlich zugehörig, als eine von diesem ausgehenden Entität. Er schreibt: »Verständigen wir uns darüber, daß der Mensch seit seinen frühesten Anfängen Götter gebildet hat, in denen da und dort nur das Tote und Drohende und Vernichtende und Schreckliche, die Gewalt, der Zorn, die überpersönliche Benommenheit, enthalten waren, verknotet gleichsam zu einem dichten bösartigen Zusammengezogensein: das Fremde, wenn Sie wollen, aber in diesem Fremden schon gewissermaßen zugegeben, dass man es gewahrte, ertrug, ja anerkannte um einer gewissen, geheimnisvollen Verwandtschaft und Einbeziehung willen: man war auch dies, nur, daß man vor der Hand mit dieser Seite des eigenen Erlebens (Hervorhebung der Vf.) nichts anzufangen wußte; sie waren zu groß, zu gefährlich, zu vielseitig, sie wuchsen über einen hinaus, zu einem Übermaß an Bedeutung an; es war unmöglich, neben den vielen Zumutungen des auf Gebrauch und Leistung eingerichteten Daseins, diese unhandlichen und unfaßlichen Umstände immer mitzunehmen; und so kam man überein, sie ab und zu hinauszustellen. – Da sie aber Überfluß waren, das Stärkste, ja eben zu Starke, das Gewaltige, ja Gewaltsame, das Unbegreifliche, oft Ungeheuere–: wie wollen sie nicht, an einer Stelle zusammengetragen, Einfluß, Wirkung, Macht, Überlegenheit ausüben? Und zwar nun von Außen. Könnte man die Geschichte Gottes nicht behandeln als einen gleichsam nie angetretenen Teil des menschlichen Gemütes, einen immer aufgeschobenen, aufgesparten, schließlich versäumten, für den eine Zeit Entschluß und Fassung da war, und der dort, wohin man ihn verdrängt hatte, nach und nach zu einer Spannung anwuchs, gegen die der Antrieb des einzelnen, immer wieder zerstreuten und kleinen verwundeten Herzens kaum noch in Frage kommt.« (RBr, 511f.) Vor diesem Hintergrund erscheint die Suche nach Gott – als ›Spiegel‹ – als die Suche nach einem verlorenen Anteil des Menschlichen; das Ganzheitstelos, das Maltes Bespiegelungsvision innewohnt, steht demnach im Zeichen einer hermetischen bzw. narzisstischen Poetologie im Sinne meiner hier angestellten Überlegungen.
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Bildnis zu ›diktieren‹, denn die äußere Wirklichkeit dieser Figur übertrifft bei Weitem die innen ›geleistete‹. Malte wird gezwungen, genau hinzusehen, um die Gestalt in ihrem Wesen zu erfassen. Maltes dichterisches Versagen kündigt sich hier an. Während es dem ›Sehen-Lernenden‹ beim Anblick einer Mauer geglückt war, ein nicht mehr intaktes Hausesinnere in Folge der sofort einsetzenden Einbildungsarbeit ›auszumalen‹, verblasst Maltes Vorstellungskraft angesichts der starken Wirklichkeit dieser Erscheinung. Hier tut sich eine grundsätzliche Ambivalenz auf, zumal die Aufzeichnung in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Preisgesang auf Bettines Liebe und der Beschwörung einer dieser Form von Liebe entsprechenden poetologischen Vision steht. Evoziert wurde das Bild eines Dichters, der mit beiden Händen das schreibt, – bildet –, was ihm diktiert wird. Das ›Einsehen‹, das ›Einbilden‹ als ein zwar auf Empathie angewiesener, aber im Innern des Einbildenden sich vollziehender Prozess, der der ›eingesehenen‹ Figur ihr Bildnis ›diktiert‹, steht gegen ein Diktiert-Werden vom Gegenüber, sei es von der auf ideale Weise Liebenden (Bettine), von einer höheren Quelle letztendlicher Erkenntnis (der diktierenden Instanz der apokalyptischen Schrift Johannens) oder von einer übermächtigen Wirklichkeit. Soll nicht aus der Tatsache, dass die besagte übermächtige Wirklichkeit hier als Gott identifiziert wird, die Kapitulation der dichterischen Einbildungskraft (im Rilke’schen Sinne) angesichts dieser mächtigen Präsenz herausgelesen werden? Maltes dichterisches Projekt, die Geschichten anderer zu erzählen – will heißen: ›umzuschreiben‹ –, scheint gegen die Gefahr des ›Geschrieben-Werdens‹ durch diese ›höhere‹ Instanz angehen zu wollen: Er selbst will der Schreibende – und das heißt zuletzt der Umschreibende – sein: trotz andernorts gemachter, gegenteiliger Beteuerungen. Wie prekär die angestrebte Position ist, zeigte die Episode vor dem Spiegel auf geradezu paradigmatische Weise, zeugte sie doch von der grundsätzlichen ›Umkehrbereitschaft‹ solcher scheinbar polarer Verhältnisse: einer ›Umkehrbereitschaft‹, die womöglich in einer grundsätzlichen Ambivalenz in Bezug auf das dichterische Selbstverständnis gründet. Bedeutsam in diesem Kontext ist ein Selbstkommentar Rilkes zum Malte-Buch, zu entdecken in dem bereits zitierten Brief an Lotte Hepner aus dem Jahr 1915, in dem wir lesen: Ich habe schon einmal [...] zu schreiben versucht, daß ich [das Malte-Buch] selbst manchmal wie eine hohle Form, wie ein Negativ empfände, dessen alle Mulden und Vertiefungen Schmerz sind, Trostlosigkeiten und weheste Einsicht, der Ausguß davon aber, wenn es möglich wäre einen herzustellen (wie bei einer
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Bronze die positive Figur, die man daraus gewönne) wäre vielleicht Glück, Zustimmung; – genaueste und sicherste Seligkeit. (RBr 511)
Entspricht das Ausgießen der hohlen Form etwa dem Moment des ›Geschrieben-Werdens‹, das nach einer ›Umkehrung der Verhältnisse‹ erfolgt? Wenn ja, gibt Malte – als Aufzeichnender, will heißen: fiktiver Architekt des Werkes – die Form jedoch vor; Positiv und Negativ sind somit nur als Kehrseiten eines einzigen ›Autors‹ zu denken. Signifikanterweise scheint der Brief diese poetologische Aussage in einen direkten Bezug zum anschließenden Ansinnen über Gott bzw. Götter setzen zu wollen. Rilke schreibt: Wer weiß, [...] ob wir nicht immer sozusagen an der Rückseite der Götter herantreten, von ihrem erhaben strahlenden Gesicht durch nichts, als durch sie selber getrennt, dem Ausdruck, den wir ersehnen, ganz nah, nur eben hinter ihm stehend – aber was will das anderes bedeuten, als daß unser Antlitz und das göttliche Gesicht in die selbe Richtung hinausschauen, einig sind; und wie sollen wir demnach aus dem Raum, den der Gott vor sich hat, auf ihn zutreten? (RBr II, 511)
Liefert der an der »Rückseite der Götter« Herantretende die ›hohle Form‹, die dem Antlitz Gottes bzw. denen der Götter mit Konturen versieht? Wenn sich der Dichter bzw. der Mensch schlechthin sich Gott von hinten nähert, dann ist es aber unmöglich, so die Schlussfolgerung, die Rilke selbst zieht, »aus dem Raum« auf Gott »zu[zu]treten«, den er »vor sich hat«. Es fragt sich: Wie ist das im Brief formulierte Szenario mit der im Dichterischen beschworenen, (auch) auf die Beziehung des Menschen zu Gott gemünzte Vision ›gespanntesten Bezugs‹ vereinbar, der ›äußersten Abstand‹ voraussetzt? Widersprüche in der Vision, eventuell auch Differenzen zwischen poetischen Stimmen und der persönlichen Stimme des Dichters tun sich auf, die sich nicht ohne Weiteres versöhnen lassen. Eines steht jedenfalls fest: Der Weg Abelon’scher Liebe, die der Liebenden zum Status einer diktierenden Instanz verhilft, bleibt Malte versperrt, so schon die – nicht unproblematische – gender-spezifische Vorstellung, die seine Poetik der Liebe entfaltet.159 Der letzte Teil der Aufzeichnungen, der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn gewidmet, setzt mit der eindeutigen Aussage an: »Man wird mich schwer davon überzeugen, dass die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt
159
Hier, wie bei Musil, würde eine dem Thema würdige Diskussion den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier wäre viel zu tun.
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werden wollte.« So wird der zwingende Zusammenhang zwischen dieser letzten ›Vokabel seiner Not‹ und der Liebesthematik eindeutig hergestellt. Hier ist Maltes dichterisches Selbstverständnis, seine eigene poetologische Vision zu suchen, denn keine der im Vorausgehenden entfalteten stellt eine brauchbare Basis für seine dichterische Praxis dar. Indem er das biblische Gleichnis vom Verlorenen Sohn ›zitiert‹, zeigt Malte eine weitere Vision an, aber eine, die angesichts der ›Korrektur‹ der Vorlage wohl mit Vehemenz abzulehnen ist: eine, die den Dichter zum ›Nachgeborenen‹ bzw. ›Nachgebildeten‹ einer ersten, ihn ›diktierenden‹ Instanz erklärt. Im Kontext der Geschichte vom Verlorenen Sohn ist Maltes lakonischer Satz »Mein Gott, so bist du also« und seine hierin zum Ausdruck kommende Vorstellung von ihm noch weiter zu differenzieren, deutet doch das hier verwendete Possessivpronomen darauf hin, – die Abgedroschenheit der Formulierung lenkt von ihrer großen Bedeutung ab –, dass Malte beansprucht, ›seinen‹ Gott ›selbst zu schaffen‹: sich selbst ›einzubilden‹. Allerdings: Im Sinne einer möglichen, oben formulierten Auslegung des bereits zitierten Briefes an Lotte Hepner stellt das Finden und ›Erfinden‹ Gottes keinen Widerspruch dar. Obwohl der Puppenessay im Sinne einer auf Selbstbespiegelung ausgelegten Poetologie in leisen Analogiesetzungen Gott zu einem blinden, stummen Gliedermann macht, der ›angefüllt‹ wird mit Selbsterfahrenem des kindlichen – zukünftig dichtenden – Gegenübers, scheint die hier und in motivisch verwandten Dichtungen letztlich entfaltete poetologische Vision einen Weg aus dem ›Spiegelkabinett‹ in Aussicht stellen zu wollen, und zwar insofern, als der im Puppenessay beschworene Spiegelungsakt nicht die Kulmination der hier entwickelten poetologischen Vision darstellt, sondern vielmehr erst die Voraussetzung für den eigentlichen dichterischen Akt bildet: das ›Ding-Machen‹. Wie dieses ›Ding‹ – dieses Gedicht – auszusehen hat, bleibt jedoch dunkel; ob diese Vision einen Weg aus der Selbstbespiegelung weist oder das ›Ding-Machen‹ sie überhöhen und vollenden soll, verrät die vom Puppenmotiv diktierte Dichtung nicht. Ob man in dieser einige wenige Jahre nach Niederschrift der Aufzeichnungen entfalteten Vision den Versuch sehen soll, die zwei Dimensionen ›Malte’schen‹ Dichtens – eine, wenn man so will, narzisstisch-hermetische und eine der Welt zugewandte – zu versöhnen, bleibt letztlich unbeantwortbar. Ist das ›Ding‹ – das Gedicht – als Produkt ›reiner‹ Selbstbespiegelung zu denken, als ›Lockruf und Antwort in sich‹, als Dichtung, die ›sich selbst erhört‹, – so ein im anderen Zusammenhang fallendes Wort? Ist ›das Ding‹ etwa im Sinne des hier zitierten Briefes an Lotte Hepner als die positive Figur zu 233
denken, die aus der »hohlen Form« – der im allzu Menschlichen harrenden Dichtung – vielleicht gewonnen werden könnte: das, was »genaueste und sicherste Seligkeit« (RBr II, 511) verspricht, aber wohlgemerkt auf der Grundlage eines ›inversen‹ Bezugs zum ›Negativ‹, das die Form ›vor-gibt‹? (RBr II, 511) Oder stellt das ›Ding-Machen‹ nicht vielmehr einen Schritt aus dem Raum absoluter Selbstbespiegelung dar, vollzieht es nicht einen Prozess, der in etwa Cézanne’scher réalisation im Sinne Rilke’scher Cézanne-Verehrung gleichkommt? In Bezug auf den diesem Maler ›angedichteten‹ künstlerischen Auftrag schreibt Rilke: »Das Überzeugende, die Dingwerdung, die durch sein [Cézannes] eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis ins Unzerstörbare hineingesteigerte Wirklichkeit, das war es, was ihm die Absicht seiner innersten Arbeit schien [...].«160 Man könne fühlen, wie die »Gegenwart« seiner Bilder »sich zusammentu[e] zu einer kolossalen Wirklichkeit«.161 In dieser Cézanne zugeschriebenen Vorstellung tut sich eine denkbare Schnittstelle zwischen einer der Welt zugewandten Dichtung und der vielerorts in variationsreicher Weise evozierten hermetischen auf. Die über das Puppenmotiv entwickelte poetologische Vision scheint das scheinbar Unmögliche zumindest denkbar zu machen: dass das Gedicht, das als ›Lockruf und Antwort in sich‹ sich selbst ›erhöht‹ und jenes, das sich vornimmt, die Wirklichkeit – um mit Rilke dem Briefschreiber zu reden – »zu sehen und auszusagen sachlich wie ein Cézannesches Ding«162, letztlich eins werden könnten. Die Komplexität einer in vielerlei Gestalt zum Ausdruck gelangenden visionären Poetologie, die nicht ohne Widersprüche und paradoxe Momente auskommt, lässt verschiedene Deutungsansätze zu, die im Zuge einer erweiterten Kontextualisierung Rilke’scher Poetologie im letzten Kapitel dieser Arbeit eingehender in Betracht gezogen werden sollen.
160 161 162
Brief an Clara Rilke vom 9. Oktober 1907. In: Rbr I, 177. Brief an Clara Rilke vom 13. Oktober 1907. In: RBr I, 187. Brief an Clara Rilke vom 1. November 1907. In: Gesammelte Briefe in sechs Bänden. Hrsg. v. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1936–1939, III, 8.
234
3.
Visionäre Poetologie. Perspektiven auf Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin
3.0 Einleitung Wie eingangs angekündigt, wird es im dritten und letzten Kapitel dieser Untersuchung einerseits darum gehen, die im Laufe der Analyse immer komplexer gewordenen Zusammenhänge zu bündeln und präzisieren, während andererseits eine Erweiterung des Blickfeldes vorgenommen wird. Die Fokussierung auf Walter Benjamins Erinnerungspoetik und die mit ihr verknüpfte Sprach- und Historismuskritik bildet den Ausgangspunkt für eine Kontextualisierung ›visionärer‹ Poetologie der klassischen Moderne in eine noch zu bestimmende dichterisch-ästhetische Tradition, als deren Eckpunkte ich im Sinne der nachfolgend dargelegten Interpretations- und Gedankengänge Friedrich Hölderlins Spatwerk und dessen Adorno’sche Rezeption setzen möchte. In einem ersten Schritt soll ein wichtiges Moment der Rilke’schen poetologischen Dichtung – die aus ihr herzuleitende Erinnerungspoetik – unter veränderten Vorzeichen in Augenschein genommen werden, und zwar, wie bereits angezeigt, im Lichte von Walter Benjamins eigenwilliger, aber für die Entwicklung moderner Ästhetik und Poetik nicht minder bedeutsamer Auseinandersetzung mit Erinnerung, Dichtung und Geschichte. Seine Berliner Kindheit um 1900 und die Proust-Rezeption werden erste Anhaltspunkte für die Erforschung bisher verdeckter Affinitäten zwischen zwei ›visionären‹, aber ansonsten nicht als wesensverwandt erkannten Dichtern liefern, bevor das Thema Erinnern bei Benjamin und Rilke aus einer erweiterten Perspektive noch einmal betrachtet wird, die der ganzen Tragweite der jeweils entfalteten Vision dichterischen ›MündigWerdens‹ gerecht wird. In einem zweiten Schritt sollen die hier behandelten Autoren und Werke in den bereits benannten, rückwärts wie vorwärts gerichteten poetologischen Kontext gestellt werden; Hölderlins Poetologie des Erinnerns und Theodor W. Adornos Rezeption ihrer dichterischen Formulierung in den sogenannten ›Vaterlandshymnen‹ des Spätwerks, ergänzt um zwei weitere, von Jochen Schmidt und Eric L. Santner angebotene Lesarten, erweisen 235
sich hierbei als besonders ›leitfähige‹ Momente eines punktuellen, aber, wie ich meine, nicht minder aussagekräftigen Kontextualiserungsversuchs. Dieser verspricht nämlich, wichtige Koordinaten für eine abschließende literarhistorische Ortung der visionären poetologischen Perspektiven zu liefern, die Musil, Rilke und Benjamin – auf je eigene, aber, wie man erkennen wird, bemerkenswert sinnesverwandte Weise – entfalten. Unerwartete Konvergenzen tun sich dabei auf; Aufbrüche in noch nicht entdeckte Richtungen zeichnen sich ab. So rückt etwa Rilkes Puppengestalt erneut ins Blickfeld. Benjamins ›kulturdialektische Methode‹ erfährt durch die Sicht auf die frühe Sprachkritik – inspiriert durch Adornos eigenwillige Hölderlindeutung – neuen Sinn. Musils Erkenntniskritik erfährt eine neue Kontextualisierung. Der angekündigte »Versuch einer Traditionsfindung« ist hier als doppelsinnig zu verstehen: als den hier behandelten Autoren unterstellter Versuch, an bestehende Traditionen anzuknüpfen bzw. neue zu gründen sowie als Versuch der Verfasserin, solche Momente der ›Traditionsfindung‹ auf- bzw. nachzuspüren.
3.1. Erinnerungspoetiken: Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin 3.1.1. Kindheitsvergegenwärtigung: Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 und gedichtete Kindheit bei Rainer Maria Rilke In Notizen zu seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte opponiert Walter Benjamin gegen den Historismus, dem »das Schema der Progression in einer leeren und homogenen Zeit« zu Grunde liege, indem er eine Absage an ihre »drei wichtigsten Positionen« erteilt, – »Bastionen«, die sich gegenseitig stützen: »die Idee der Universalgeschichte«, die Vorstellung, »Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse« (»das epische Moment« also), und »Einfühlung in den Sieger«. Letzteres Moment begünstige eine bestimmte Art von Geschichtsepisierung: die ›fest-geschriebene‹ Geschichte des Unterdrückers erzeuge ein ›Scheinkontinuum‹, das wiederum ein Konstituens eines universalgeschichtlichen Konstrukts darstelle.1 Benjamins
1
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Ffm 21989, I, 1240f.; vgl. I, 1236. Im Folgenden werden alle aus dieser Ausgabe zitierten Stellen mit Bandnummer und Seitenzahl hinter dem Zitat in Klammern angegeben. Wie Heinz Eitam bemerkt: »Das integrative Moment dieser drei Bastionen ist die Vorstellung von einem zeitlichen Konti-
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bekannter Appell im Kampf gegen den Historismus lautet: »Geschichte ‚gegen den Strich [...] bürsten« (I, 697), und das bedeutet, das ›Unterdrückte‹ im Akt des ›Eingedenkens‹ ›vergegenwärtigen‹. In Notizen zum Passagen-Werk spricht Benjamin in Anspielung auf Kants Kritik der reinen Vernunft von einer »kopernikanische[n] Wendung in der geschichtlichen Anschauung«. Wie er schreibt: [...] man hielt für den fixen Punkt das ›Gewesene‹ und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden.« (V 490f.)
Dies erfolgt Benjamins Vorstellung nach in Form von Bildern, die sich uns plötzlich im Akt des ›Eingedenkens‹ ›einstellen‹.2 Bei Benjamins messianischer Vorstellung einer Erlösung dessen, was die Geschichtsschreibung des ›Siegers‹ ignoriert, unterdrückt, abgedrängt hat, spielt der Akt des Erinnerns eine entscheidende Rolle, erfolgt doch eine solche Erlösung durch das Eingedenken nicht überlieferter Momente aus der Vergangenheit. Dem Begriff des Fortschritts – als Konstituens des Historismus – stellt Benjamin den der ›Aktualisierung‹ gegenüber und bezeichnet die »Überwindung des Begriffs des ›Fortschritts‹ und des Begriffs der ›Verfallszeit‹« als »nur zwei Seiten ein und derselben Sache« (V, 575). Bei aller offensichtlichen Differenz zwischen Benjamins Vorstellung einer dialektischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit und den auf Musil und Rilke gemünzten Formulierungen eines dialektischen Entwicklungsgedankens, – einer Differenz, die sich auch eindeutig in Benjamins vehementer Absage an den Begriff des Fortschritts manifestiert, wie er gerade durch die Idee der Universalgeschichte propagiert wird –, weisen diese in mancher Hinsicht sehr konträren Vorstellungen eine doppelte Gemeinsamkeit auf. Diese besteht erstens in der Formulierung eines Erlösungsgedankens, und zweitens in der hiermit verknüpften Entfaltung einer Einheitsvision. Aber so wie ›Erlösung‹ (von der hier nur in einem theologisch unspezifischen Sinne des Wortes gesprochen werden kann) eine jeweils andere Bedeutung annimmt, erhält auch die jeweilige Vorstellung von Einheit eine je andere Gestalt: Im Sinne der oben untersuchten, als ›dialektisch‹ zu bezeichnenden Entwicklungsparadigmen bedeutet sie Aufhebung von Entzweiung in einer
2
nuum.« Heinz Eitam: Discrimen der Zeit. Zur Historiographie der Moderne bei Walter Benjamin, Würzburg 1992, 413. Vgl. I, 1242f..
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wie auch immer gearteten ›gespannten Einheit‹, während bei Benjamin der Einheitsgedanke, wie er in der eigenwilligen Vision einer ›Apokatastasis‹3 formuliert wird, zwar bemerkenswerterweise auch einen dialektischen Vorgang voraussetzt, – einen Vorgang, der bestimmt wird von der Dynamik von Profilierung und Negation, – aber letztlich auf das ›Einbringen‹ der »ganzen[n] Vergangenheit« in die Gegenwart abzielt, und das heißt auch des zuvor ›vergeblich‹, ›rückständig‹, ›abgestorben‹ Erscheinenden. Wie Benjamin schreibt: Kleiner methodischer Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik. Es ist sehr leicht, für jede Epoche auf ihren verschiednen ›Gebieten‹ Zweiteilungen nach bestimmten Gesichtspunkten vorzunehmen, dergestalt daß auf der einen Seite der ›fruchtbare‹, ›zukunftsvolle‹, ›lebendige‹, ›positive‹, auf der anderen der vergebliche, rückständige, abgestorbene Teil dieser Epoche liegt. Man wird sogar die Konturen dieses positiven Teils nur deutlich zum Vorschein bringen, wenn man ihn gegen den negativen profiliert. Aber jede Negation hat ihren Wert andererseits nur als Fond für die Umrisse des Lebendigen, Positiven. Daher ist es von entscheidender Wichtigkeit, diesem, vorab ausgeschiednen, negativen Teile von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, daß, mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels (nicht aber der Maßstäbe!) auch in ihm von neuem ein Positives und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete. Und so weiter in infinitum [sic], bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastatis in die Gegenwart eingebracht ist. (V, 573)
Wie ich bereits betonte, unterscheidet sich in starkem Maße die Prämisse, von der her ein solcher Mechanismus gefordert wird, und das, was hiermit bezweckt wird, von den Prämissen und dem jeweiligen Telos der oben untersuchten Entwicklungsparadigmen. Signifikant im Kontext dieser Arbeit ist jedenfalls die Rolle, die das Erinnern für die Formulierung solcher Einheits- und Erlösungsgedanken spielt, wie sie einerseits im Werk von Rainer Maria Rilke, zum Teil auch bei Robert Musil, andererseits bei Walter Benjamin zu Tage treten.4 3
4
Auf diesen Begriff geht H.D. Kittsteiner ausführlich ein. (»Walter Benjamins Historismus«. In: Norbert Bolz / Bernd Witte [Hrsg.]: Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1984, 163–197; hier 169–171). Auf den komplexen Aspekt der Mnemosyne und der Memoria kann ich im Rahmen dieser Arbeit meist nur punktuell, d.h. in Form von Anmerkungen eingehen, in denen ich auf ganz wesentliche Zusammenhänge mit dem Thema dieser Arbeit verweise. Einige der wichtigsten Arbeiten zu diesem Themenkomplex sind: Aleida Assmann / Jan Assmann / Christof Hardmeier: Schrift und Gedächtnis, München 1983; Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/ Mn. 1991; Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des
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In Benjamins autobiographischem Prosawerk Berliner Kindheit um 1900 verwirklicht sich die Vorstellung einer in die Gegenwart ›einfallenden‹ Vergangenheit in den sehr privat anmutenden, allemal von persönlicher Erinnerung geprägten Bildern von Gewesenem aus der Kindheit, in denen, so Benjamin in der Formulierung des überpersonalen Anspruchs seines Werkes, »die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt«5, und die, wie Benjamin hofft, »befähigt [sind], in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren« (BK, 9). In der Einbettung von Privatem, Individuellem in einer gesamtgesellschaftlichen Dimension manifestiert sich der innere Zusammenhang zwischen den Thesen Über den Begriff der Geschichte und Benjamins Sammlung autobiographischer Vignetten.6 Die Bilder, auf die das Vorwort zur Berliner Kindheit Bezug nimmt, sind solche – und darin besteht das Eigentümliche, – die beim ›Einfallen‹ in die Gegenwart in einem ganz bestimmten Sinne ›lesbar‹, d.h. in Sprache gebracht werden, und zwar nicht alleine im Sinne der noch zu erörternder Vorstellung von ›Geschichtsschreibung‹ als einem ›Lesen des Textes der Vergangenheit‹.7 Das Spezifikum der Berliner Kindheit, das
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kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, Frankfurt/Mn. 1999; Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997. Vgl. auch speziell zu Benjamin Stéphane Moses: »Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins«. In: Haverkamp / Lachmann (Hrsg.): Memoria, 385–405. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, Frankfurt/Mn. 1987, 9. Im folgenden verweisen die in Klammern gesetzte Kürzel »BK« und Seitenzahl auf zitierte Stellen aus diesem Werk. Auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem individuellen und dem kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnis wirft sich hier auf. Siehe insbesondere die bereits genannten Arbeiten von Aleida Assmann zu diesem Thema. Vgl. in Hinblick auf das Passagen-Werk, in dem das Augenmerk auf das kollektive Bewusstsein im Kontext einer von Benjamin entworfenen »geschichtsepistemologischen Traumtheorie« gerichtet wird, Burkhardt Lindner: »Das Passagen-Werk, die Berliner Kindheit und die Archäologie des ›Jüngstvergangenen‹«. In: Bolz / Witte (Hrsg.): Passagen, 27–48; hier insbesondere 42ff.. Man vergleiche in diesem Kontext Aleida Assmanns Ausführungen »Zur Metaphorik der Erinnerung« (in Assmann / Harth: Mnemosyne, 13–36); Assmann identifiziert und analysiert verschiedene Gedächtnis-Metaphern, darunter die »Schrift-Metaphern: Buch, Palimpsest, Spur« (18). In Benjamins Vorstellung erscheint nicht das Gedächtnis, sondern die zu erinnernde Vergangenheit selbst in Form eines Buches, eines Textes. Assmann verweist auf die Nähe solcher Metaphorik zu einer bestimmten räumlichen Gedächtnismetapher, nämlich der Bibliothek (18; siehe auch 14ff.). Im von Assmann konstatierten Totalitätscharakter der das Gedächtnis verkörpernden Bibliothek bzw. des kanonisierten Bu-
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Eigentümliche an der Art, wie hier Bilder aus der Vergangenheit ›gelesen‹ werden, liegt an der besonderen Wahrnehmungsweise des Kindes.8 Ist für das Kind die Welt »hell in Anschauung«, so ist jedoch erst der Erwachsene in der Lage, die Bilder zu ›lesen‹, d.h. zu deuten: »dem Erwachsenen werden die Zeichen deutlich, die ihm das Gedächtnis bewahrte«.9 Die vielen impliziten und expliziten Als-ob-Vergleiche, die Gleichnisse, die den Charakter vieler der Miniaturen prägen, sind Elemente einer Bilder ›lesbar‹ machenden Sprache, die der bildhaften Erlebnisweise des Kindes am ehesten gerecht zu werden vermag.10
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ches (als »Transformation der Bibliothek«) – »Das beiden gemeinsame Prinzip ist die Totalität, die Kopräsenz und Vollständigkeit der vielfältigen Elemente« (18) – findet man Aspekte eines (noch zu erörternden) ›Telos der Fülle‹, das Benjamins utopischer Vorstellung nach durch ein ›Lesen‹ der Vergangenheit eingelöst werden kann. In anderer Hinsicht bestimmt sie, so Susan Buck-Morss, Benjamins Erkenntnisansatz im Passagen-Werk, »mit dem er an die ausrangierten, übersehenen Phänomene des neunzehnten Jahrhunderts herangeht«, und zwar insofern als Kinder Benjamins Beobachtung nach »die von den Erwachsenen geschaffene präformierte Welt weniger spannend finden als deren Abfallprodukte« und »sich zu den anscheinend wertlosen, absichtslosen Dingen hingezogen« fühlen. (Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/Mn. 1993, 318.) In diesen, so Benjamin in den Notizen zum Passagen-Werk, »bilden [die Kinder] die Werke der Erwachsenen weniger nach, als daß sie Stoffe sehr verschiedener Art durch das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen« (IV, 93). In der Berliner Kindheit und Benjamins Vorstellung von Geschichts-›Schreibung‹ findet man zwei wichtige Momente einer solchen Begeisterung für die Wahrnehmungsweise des Kindes wieder: das Moment eines ›sprunghaften‹ In-Beziehung-Setzens von Verschiedenem und die Zuwendung zum anscheinend Wertlosen hin, beides Momente, die sich Benjamin zufolge im kindlichen Spiel vollziehen. Vor diesem Hintergrund erhält die Aufgabe, die Benjamin sich mit dem Projekt Berliner Kindheit stellt, eine besondere Bedeutung gegenüber anderen Formen der Geschichts-›Schreibung‹. Wie Susan BuckMorss bemerkt, ist für Benjamin »die Fähigkeit [der Kinder] zu revolutionärer Umgestaltung von vornherein vorhanden«. (Buck-Morss: Dialektik des Sehens, 321f.) Christiaan L. Nibbrig: »Das déjà vu des ersten Blicks. Zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. In: DVjs 47 (1973), 711–730; hier 716. Vgl. Lindner: Passagen-Werk, 31f.: »[...] das Kind stellt sich in Bildern, die sich ihm nachhaltig einprägen, Einsichten vor, die erst später, in der Rückerinnerungsarbeit, deutbar werden.« Ich verweise hierbei auf die Bedeutung, die für Benjamin die »Gabe, Ähnlichkeit zu sehen« (II, 210), erhält, dies ein Konstituens des ›mimetischen Vermögens‹. Diese Gabe wird dem Kinde in besonderem Maße zugeschrieben. Wie Benjamin im gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1933 schreibt: »Dieses Vermögen hat [...] eine Geschichte, und zwar im phylogenetischen so gut wie im ontoge-
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Und doch stellen solche Vergleiche bzw. Gleichnisse bereits ›Gelesenes‹ dar, sind ein Produkt des In-Sprache-Fassens des einstigen, unvermittelt bildhaften Erlebens durch den erwachsenen Dichter bzw. dessen »erwachtes Bewußtsein«.11 Für die Berliner Kindheit gilt in besonderer Weise das folgende, auf das ›Lesen‹ von Vergangenheit gemünzte Gleichnis Benjamins: Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr [...]: die Vergangenheit habe in [solchen Texten] Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ›Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen.‹ (I, 1238)12
›Bilder lesen‹ heißt in diesem Werk vielerlei. Zum einen geht es hierbei darum, die »entstellte Welt der Kindheit« (BK, 59), – das, was man als ein fruchtbares Missverstehen von Gesten, Eindrücken, Geräuschen, oft Worten bezeichnen könnte, – in ihrer Entstelltheit offen zu legen. Es heißt mitunter auch Denkkategorien anzulegen, die rätselhaften Erfahrungen von einst nachträglichen Sinn geben, deren Bedeutung bloßlegen. Aber es heißt auch, Worte der einst irrtümlicherweise in sie hineingelesenen Bedeutung zu berauben, wie es beim Namen einer gewissen Lehrerin geschieht, dessen Buchstaben für das Kind den Charakter von Hieroglyphen erhalten hatten.13 ›Bilder lesen‹ heißt hier zudem, ähnlich wie bei Ulrich bezüglich seiner Kindheitserinnerungen, das In-Sprache-Bringen von einst ›stillschweigenden Affinitäten‹. Einmal spricht Ulrich zum Beispiel von der großen Liebe zu einer Reihe von papiernen Zirkustieren, die er als Kind aus einem Zirkusplakat ausschnitt, und bezeichnet die Beziehung zu ihnen als »ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe«.14 An einer Stelle spricht der Autor der Berliner Kindheit von der Gabe [des Erwachsenen], »Ähnlichkeiten zu erkennen«, und sieht darin »nichts als ein schwaches Überbleibsel des [kindlichen] Zwangs, ähnlich
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netischen Sinne. Was letzteren angeht, ist das Spiel in vielem seine Schule. Das Kinderspiel ist überall durchzogen von mimetischen Verhaltensweisen; [...].« (II, 210) Zu diesem Themenkomplex vgl. Buck-Morss: Dialektik des Sehens, 319ff.. Vgl. Benjamin,VI, 491. Dass Benjamin an dieser Stelle von Bildern eines Textes spricht, belegt meines Erachtens den sprachlichen Charakter des Benjaminschen Bildes, wie es im Kontext der hier beleuchteten Thematik zu verstehen ist. Im übrigen ist aber auch der bildhafte Charakter der Benjaminschen Sprache zu betonen. Vgl. Nibbig: Berliner Kindheit, 717. Musil: Werke 3, 689.
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zu werden und sich zu verhalten«. Es kommt vor, daß das Kind sich ›an Farben verliert‹ (BK, 70), oder die Farbe der Landschaft annimmt (BK, 70). Eine solche Gabe bestimmt die Beziehung zu Schmetterling, Fischotter, aber auch Gardinen, Türen. Ganz im Sinne der oben besprochenen Dichtungen Rilkes, die sich mit den Kindheitsdingen befassen, kann bei Benjamin von einem »Ähnlichwerden als Bedingung der Weltaneignung« gesprochen werden.15 Zu den ›Bildern‹, denen visuelle Eindrücke zu Grunde liegen – hierzu gehört neben den an Schauplätzen der Kindheit ›gesammelten‹ Eindrücken auch Sprache, insofern als sie sich als geradezu haptische Zeichensprache gebärdet –, gesellen sich Geräusche. Und Geräusche sind es, die die anfangs beschworene Erfahrung des Einsseins von Ich und Welt der Loggien vermitteln. Im Vorwort zur Berliner Kindheit konstatiert Benjamin, »der Bilder« – und das heißt auch der ›Bilder‹ der Geräusche – »in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt« »harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Lande verbrachte Kindheit zu Gebote stehen« (BK, 9). Evoziert wird »[d]er Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens«, der das Kind »in den Schlaf [wiegt]«. Zu den akustisch wahrgenommenen Koordinaten einer ›Traumwelt‹ kommen die visuellen hinzu. Beides übt einen formativen Einfluss auf die Erinnerungskraft aus, mit deren Hilfe dieser Welt eines Tages dichterisch wiederbegegnet werden soll. Wie es heißt: Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. (BK, 9)
Der »Blick in Höfe«, so der später zurückkehrende Dichter, ›kräftigte‹ die (»noch zarte«) Erinnerung an die Kindheit denn auch ›inniger‹ als alles andere: Er ruft die Erlebnisweise ›inniger‹ Teilhabe an der Umgebung von einst hervor. Vor dem geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Hintergrund der Berliner Kindheit wird die individualpsychische Erfahrung von Einssein aber auch zum Sinnbild für eine epochal bedingte Erfahrung von Geborgenheit.
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Nibbrig: Berliner Kindheit, 719; vgl. auch Buck-Morss: Dialektik des Sehens, 319ff..
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Im Vorwort zur Berliner Kindheit betont Benjamin, dass »die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen«, in seinem Werk »ganz zurücktreten«, um das »Gefühl der Sehnsucht« nach einer unwiederbringlichen Zeit, aber auch nach einem für den Dichter bald unwiederbringlichen Ort »durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten« (BK, 9). Nichtsdestotrotz wird die Berliner Kindheit von der Geste einer privaten Suche geprägt, der Geste eines geradezu nostalgischen Aufsuchens von Schauplätzen und Dingen, an denen die Bilder aus der Kindheit ›haften‹, derer der Erinnernde sich im Akt der Artikulation ›habhaft‹ zu werden hofft.16 Dies besagte bereits das in den Eingangszeilen der ersten Miniatur fallende Wort vom »Blick in Höfe«. Dieser Blick steht für die vielen anderen ›Rück-Blicke‹ und das erneute Vernehmen von Geräuschen, die die Erinnerung des Dichters an die Berliner Kindheit ›kräftigen‹. Solche visuellen Eindrücke, solche Geräusche fügen sich jedoch keiner zeitlichen Anordnung. Genauso wenig ergeben Benjamins Berliner Miniaturen eine zwingende Reihenfolge.17 In diesem Zusammenhang ist eine Notiz Benjamins zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte signifikant, die von der Qualität des sogenannten unwillkürlichen (im Unterschied zum willkürlichen) Erinnerns handelt. Ersteres »bietet sich«, so Benjamin, »nie ein Verlauf dar sondern allein ein Bild. (Daher die ›Unordnung‹ als der Bildraum des unwillkürlichen Eingedenkens)« (I, 1243).18 Hierin deutet sich die überaus wichtige Frage
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Vgl. Benjamins Berliner Chronik, die, um vorzugreifen, eine ähnliche Metaphorik verwendet wie Proust, um das Wesen des Gedächtnisses zu erfassen: »[...] das Gedächtnis [ist] nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit [...] sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.« (VI, 486) Vgl. Nibbrig: Berliner Kindheit, 713. Vgl. auch Elisabeth Gülich: »Zur Metaphorik der Erinnerung in Prousts A la recherche du temps perdu«. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 75 (1965), 51–74. Benjamin hatte zusammen mit Franz Hessel Teile der Recherche übersetzt. Es gab mindestens drei von Benjamin autorisierte Fassungen der Schrift. Bezüglich der Reihenfolge der einzelnen Abschnitte siehe »Editorisches Postskriptum«, BK, 114f. Man vergleiche Prousts auf das Phänomen der noch zu erörternden ›mémoire involontaire‹ gemünzte Metapher der geologischen Schichtung als Ordnungsprinzip für Eindrücke und Erfahrungen, die von späteren überlagert werden (vgl. A la recherche du temps perdu, Paris 1987–1989, IV, 614). Vgl. Rainer War-
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nach Formen des Erinnerns sowie nach der Verfügbarkeit von Erinnerungen an. Diese prägt Prousts Erinnerungsbegriff wie Benjamins von Proust stark beeinflusste Auseinandersetzung mit diesem Thema. Und sie wird zur Leitfrage beim nun folgenden Bemühen, Benjamins und Rilkes ›Poetiken der Vergegenwärtigung‹ auf wichtige Affinitäten hin zu untersuchen. 3.1.2. ›Poetiken der Vergegenwärtigung‹: Rilke, Benjamin, Proust In Maltes Reflexion über das, was für Erinnerungen ›auftauchen‹, wenn man im Erwachsenenalter bestimmte, in der Kindheit bereits durchgemachte Krankheiten noch einmal bekommt, gelangt die Vorstellung zweier voneinander zu unterscheidender Formen des Erinnerns sehr anschaulich zur Darstellung. Mit den relativ leicht zugänglichen Erinnerungen in Form von alten Gesten, alten Gewohnheiten, die sich im Krankheitsfall erneut ›einstellen‹ [...] hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daran hängt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftem Erinnern. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlusts, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre – : so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da. (VI, 766f.)
Die Stelle ist bedeutsam nicht nur für ein Verständnis der Qualität, die das Erinnern in den Aufzeichnungen erhält, sondern auch in Hinblick auf das, was Rilke’sches und Benjamin’sches Erinnern verbindet. Dass es für Malte zwei Formen des Erinnerns gibt, drückt sich im Bild einer ›versunkenen Sache‹ aus, an der wiederum »ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen« hängt: »wie nasser Tang«. Die ›Sache‹ selbst ist dem Bewusstsein relativ verfügbar; es bedarf lediglich eines Auslösers, um sich ihrer (wieder) bewusst zu werden. Und sie ist, im Gegensatz zu dem, was an ihr hängt, greifbar. Solche Erinnerungen sind (immer) ›wieder holbar‹ und, insofern als sie die Form von Gesten und Gewohnheiten annehmen, wiederholbar, aber als solche sind sie wohlgemerkt »müde von zu oftem Erinnern«. Das, was in Maltes Bild
ning: »Vergessen, Verdrängen und Erinnern in Prousts A la recherche du temps perdu«. In: Haverkamp / Lachmann, 160–194; hier 162.
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an derart ›wieder-holbaren‹ ›Sachen‹ haftet, entzieht sich dem Zugriff des Bewusstseins so stark, dass es, einmal an die Oberfläche des Bewusstseins aufgetaucht, wie etwas Fremdes anmutet. In der von Malte entwickelten Bildersprache nehmen solche Erinnerungen eine fast materielle Qualität an. Wie er schreibt: »[...] so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu.« ›Neu‹ heißt hier unbekannt, noch nie erfahren, weil dem Bewusstsein nie zuvor verfügbar geworden. Deswegen gibt sich das »Verlorene[...] aus der Kindheit« anfangs nicht als Teil von Maltes Leben zu erkennen, sondern erscheint in Form von fremden Leben, die das ›wirklich Gewesene‹, und dies heißt das der Erinnerungskraft verfügbar Gewordene ›verdrängen‹. Dass das in völlige Vergessenheit Geratene letztlich doch zu Malte gehört, drückt sich aus im Gefühl, dieses sei »bei irgend jemandem in Pflege gewesen«: also doch ursprünglich dem eigenen Erfahrungs-›Schatz‹ zugehörig. Betrachten wir Maltes Schlüsselreflexion noch einmal im Kontext der Proust’schen Differenzierung zweier Formen des Erinnerns: der mémoire volontaire und der mémoire involontaire.19 In Prousts Romanzyklus wird die Tätigkeit der mémoire volontaire an einer Stelle mit dem Blättern in einem Bilderbuch verglichen:20 Die Bilder, die man willentlich ›abrufen‹ kann, zeichnen sich durch ihre Verfügbarkeit aus. Sie sind festgehalten und
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Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die bereits erwähnte, überaus aufschlussreiche Untersuchung von Rainer Warning, die in Prousts Romanzyklus zwei konkurrierende Poetiken ausfindig macht: neben der in dieser Dichotomie zum Vorschein kommenden, die der unwillkürlichen Erinnerung »alle romantischen Konnotationen der Authentizität, der Integrität und Totalität« verleiht (184f.) gebe es eine diese Poetik ›dekonstruierende‹: eine »Poetik der Flüchtigkeit, der Kontingenz und des Perspektivismus« (161), die sich manifestiert in der im Roman vermittelten »negative[n] Erfahrung einer Diskontinuität, die nicht in Kontinuität, eines Suchens, das nicht in Finden, eines Unwissens, das nicht in Wissen überführt wird: einer Erinnerung also, der totalisierende Kraft versagt bleibt« (161). Diese mache sich, so Warning, an den Albertine geltenden Erinnerungen fest: »In Albertine disparu ist [die Erinnerung] zum Schockerlebnis entauratisiert, womit zugleich der Authentizitätsbegriff dekonstruiert wird.« (185) Was Warning nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass die zweite Poetik, die »Poetik der Flüchtigkeit«, sich in verschriftlichten Erinnerungen des bereits erwachsenen Marcel manifestiert, während die auf der Vorstellung eines ›totalisierenden‹ Erinnerungsvermögens basierende Poetik, – diese die »offizielle« Poetik der mémoire involontaire (184) – im Zeichen der Kindheitserinnerungen steht. Ich halte dies für bedeutsam. ›Certes, on peut prolonger les spectacles de la mémoire volontaire qui n’engage pas plus des forces de nous-même que feuilleter un livre d’images.‹ (Recherche VI, 453) Vgl. Assmann: Metaphorik der Erinnerung, 18ff..
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disponabel. Wie Benjamin sie in seinem Aufsatz über Baudelaire charakterisiert, sind sie »dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig«.21 Die Tätigkeit der mémoire involontaire hingegen erfolgt in Form von spontanen Einfällen, infolgedessen aus dem Bewusstsein Entschwundenes sich auf einmal vergegenwärtigt.22 Solche Einfälle sind aber schwer zu greifen und schwer festzuhalten. Überdies laufen sie Gefahr – anders als die von der mémoire volontaire abruf- und archivierbaren –, sich gleich zu verflüchtigen. Für Prousts alter ego Marcel haften sich solche unwillkürlichen Erinnerungen an affektiv geladenen Dingen, an Bildern, Gerüchen und Geräuschen. Derart affektiv Aufgeladenes löst denn auch das unverhoffte Wiedererkennen in glücklichen Augenblicken aus.23 Zwar ist es möglich, hat man einmal über Dinge, Bilder, Gerüche und Geräusche Zugang zu ›Verlorenem‹ aus der Vergangenheit gefunden, dieser Erinnerungen samt alledem, was sich hiermit verbindet, im Prozess des Schreibens habhaft zu werden.24 Es bleibt
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Über einige Motive bei Baudelaire, I, 610. Interessant in diesem Kontext ist Assmanns Kontrastierung der Form, die Erinnerung bei Proust und Wordsworth annimmt: »Was Wordsworth [...] von einem Autor wie Proust trennt, ist die methodische Heranzüchtigung der Erinnerung zu einer poetisch kreativen Kraft. Diese ›Muse der Erinnerung‹ läßt der Macht des kontingenten Einfalls, des unwillkürlichen Impulses, der erratischen Verknüpfung (fast) keinen Raum. Sie ist ein kontrolliertes poetisches Verfahren, man könnte sagen: eine Form der Ekstase-Technik. In der Recollection verschränken sich Memoria und Imaginatio.« Assmann: Wunde der Zeit, 376. Die Bedeutung dieser Sinne für das Erinnern in Prousts Roman hebt Harald Weinrich hervor. Er konstatiert: »Bei [Proust] sind die Augen nicht mehr die bevorzugten Boten des Gedächtnisses. Er nennt daher das von ihm verschmähte Vernunftgedächtnis auch Augengedächtnis: une mémoire de l’intelligence et des yeux.« (In einem Brief an Antoine Bibesco vom November 1912, zit. in Weinrich: Lethe, 191). Auch das somatische Gedächtnis – »mémoire du corps« – spielt beim unwillkürlichen Erinnern eine wichtige Rolle. Für Proust gelte, so Weinrich, »die allgemeine somatische Gedächtnisregel, daß man sein Gedächtnis in den Rippen, in den Knien und in den Schultern hat« (Weinrich: Lethe, 191). Siehe insbesondere den Anfang von Du côté de chez Swann. Auf die Bedeutung, die das motorische Gedächtnis für Henri Bergsons Gedächtnistheorie hat (siehe Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1908, 71ff.), kann ich hier lediglich kurz verweisen. Bezüglich der unterschiedlichen Form, die Erinnerung für Malte annehmen kann, stehen Erinnerungen, die über das somatische Gedächtnis vermittelt werden, eher im Zeichen des ›Abrufbaren‹ als des Willkürlichen. Vgl. die Aufzeichungen, VI, 766. Angesichts der Qualität der Proust’schen mémoire involontaire, die Harald Weinrich als ›poetisches Gedächtnis‹ tituliert (im Gegensatz zum ›Vernunftsgedächtnis‹), nimmt Weinrich vom Begriff der ›Mnemotechnik‹ Abstand. Von einem ›Mechanismus‹, den man bemüht, um den Erinnerungen beizukommen, die
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jedoch dem Zufall überlassen, ob man den Dingen, Bildern, Geräuschen und Gerüchen wiederbegegnet, die alleine im Stande sind, einen solchen Prozess in Gang zu setzen.25 Wesentliche Momente der von Proust gemachten Unterscheidung zwischen der mémoire volontaire und der mémoire involontaire sind in Maltes Reflexionen über die zwei Formen des Erinnerns zu entdecken. Der einen Form entspricht in etwa die Proustsche mémoire volontaire (auch wenn sie des erneuten Krankseins bedarf, um ›aktiviert‹ zu werden). Was auf diesem Weg ›vergegenwärtigt‹ wird, erscheint auf Grund seiner grundsätzlichen Verfügbarkeit »müde von zu oftem Erinnern«, während das, was sich dem Zugriff des willentlichen Erinnerns entzieht, sprich: sich unwillkürlich vergegenwärtigt, eine »ausgeruhte, neue Kraft« an den Tag legt. Die ›aufblitzenden‹, ihre Kraft aus dem Unbekannten, dem Neuen sich speisenden Erinnerungen sind die ›poesiefähigen‹. Es ist das – wie auch immer zu verstehende – ›unwillkürliche Erinnern‹, das Prousts and Rilkes Poetiken die Vergegenwärtigung prägt.26 In seinem Essay mit dem Titel Zum Bilde Prousts spricht Benjamin in Bezug auf Prousts A la recherche du temps perdu vom »Weben seiner [Marcels] Erinnerung«, von der »Penelopearbeit des Eingedenkens« als das, worauf es dem erinnernden Autor angekommen sei. Unter Anspielung auf die mythische Figur der Penelope, die, der Heimkehr des Odysseus har-
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»ein bißchen Teegebäck, das Klappern eines Löffels gegen den Tellerrand, [... den] Benzingeruch eines Automobils« auslösen – dies »die trivialen Botenstoffe dieses neuen und poetischen Gedächtnisses« –, könne man nicht reden. Wie Weinrich schreibt: »Eine ›Kunst‹ im Sinne der Gedächtniskunst und eine ›Technik‹ im Sinne der Mnemotechnik ist immer ein vernunftgesteuertes Verfahren.« Im Hinblick auf »l’édifice immense du souvenir«, das Prousts Romanwerk zu Grunde liege, solle man eher von einer »›Mnemopoetik‹ sprechen, die ganz andere Valenzen hat« (Weinrich: Lethe, 189). Dass es eines solchen Zufalls bedarf, um diesen Prozess in Gang zu setzen, macht die Vergangenheit ›unkontrollierbar‹, dies ein Attribut, das Warning gerne für Prousts ›inoffizielle‹ ›Poetik der Flüchtigkeit‹ in Anspruch nehmen möchte als etwas, das aus dem Nicht-mehr-Funktionieren des »Zusammenspiels von defizienter Erinnerung und Neuschöpfung« resultiere. (Warning: Vergessen, 174.) Wie ich meine, muss man den Kontrast zwischen den zwei von Warning identifizierten Poetiken nicht künstlich verschärfen (wozu Warning meines Erachtens neigt), um sie als konkurrierende, aber eben zusammenspielende Prinzipien von Prousts Romanzyklus zu erkennen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Gérard Genettes Identifizierung einer jüdisch-christlichen Heilsgeschichte als Basis für Prousts vom Begriff der mémoire involontaire determinierte Erinnerungspoetik. Siehe Gérard Genette: Figures, Paris 1966, 65ff..
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rend, tagsüber am Leichentuch für den Schwiegervater webt, um die Freier abzuhalten, nachts dieses jedoch wieder auftrennt, um sich am nächsten Tag wieder mit demselben Vorwand die Freier vom Leib halten zu können, fragt sich Benjamin, ob man nicht »besser von einer Penelopearbeit des Vergessens [Hervorhebung der Vf.] reden« solle. »Steht nicht«, fragt er sich das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Penelope als sein Ebenbild? Denn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen. (II, 311)
In diesem Gleichnis wird der gewobene Teppich zum Sinnbild für das Kunstwerk, dessen Struktur paradoxerweise nicht von Erinnerungen vorgegeben wird (d.h. von willentlich abrufbaren Erinnerungen), sondern vielmehr von dem, – so Benjamins Bestimmung der mémoire involontaire in seinem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire –, »was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist«.27 Daraus ist der ›Zettel‹, die Kette, das Gerüst des Teppichs gemacht, um das die spontanen Erinnerungen an dieses nicht bewusst ›Erlebte‹ sich flechten. Die Nacht wird zur Sphäre, in der solche Erinnerungen ›einfallen‹: Erinnerungen, die sich bei Tageslicht ›bis auf ein paar Fransen‹ wieder verflüchtigen. Das willentliche Erinnern, der Tagessphäre zugehörig, arbeitet gegen das Flechtwerk, das Produkt der nächtlichen ›Einfälle‹ ist. In Benjamins Bild steht das ›zweckverhaftete Erinnern‹ in einem antagonistischen Verhältnis zum spontanen Erinnern, aus dem das Kunstwerk geflochten wird. Es verdrängt die Ornamentik, die »verschlungenen Arabesken«, die das spontane Eingedenken nachts flicht. Festgehalten werden können diese nur, indem man sie in Sprache bringt.28 27
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»Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist.« (I; 613) Vgl. Bettine Menke: »Was ›geschieht‹ in der Textur der Erinnerung und aus
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Wendet man Benjamins im Baudelaire-Aufsatz formulierte Bestimmung der mémoire involontaire auf das legendäre Madeleine-Erlebnis an, soll das Madeleine-Erlebnis also die Voraussetzungen erfüllen, die es zu einer mémoire involontaire macht, so muss das erste Kosten der Madeleine ein unbewusster Vorgang gewesen sein. Dies wird allerdings von Benjamins Freund und Kritiker Adorno in Frage stellt, wenn er in Antwort auf Benjamins Ausführungen schreibt: Das ungemein schwierige Problem liegt bei der Frage der Unbewußtheit des Grundeindrucks, die notwendig sein soll, daß dieser der mémoire involontaire und nicht dem Bewußtsein zufällt. Kann man von dieser Unbewußtheit wirklich reden? War der Augenblick des Schmeckens der Madeleine, aus dem Prousts mémoire involontaire hervorgeht, in der Tat unbewußt? Es will mir scheinen, daß in dieser Theorie ein dialektisches Glied ausgefallen ist und zwar das des Vergessens. Das Vergessen ist in gewisser Weise die Grundlage für beides, für die Sphäre der ›Erfahrung‹ oder mémoire involontaire, und für den reflektorischen Charakter, dessen jähe Erinnerung selber das Vergessen voraussetzt.29
Ich kann hier nicht erörtern, wie eine Adorno’sche ›Dialektik des Vergessens‹ im Sinne dieses Briefes auszusehen hätte. Eines sei jedenfalls festzuhalten. Plakativ ausgedrückt: ohne Vergessen kein (jähes) Erinnern.30 Man
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ihr ›auftaucht‹, ist die ›gebrechliche‹ ›neue‹ Wirklichkeit des ›Bildes‹. Die Texturen verdichten sich zu einer sekundären Gegenständlichkeit als Bild. Diese im/als Bild gewonnene Gegenständlichkeit ist Abschluß gegen ein unendliches Oszillieren der Verschränkungen und deren ornamentalen Figuren. Das ›Bild‹ unterbricht das Oszillieren, die Verschiebungen und Vexationen des Gewebes seiner Verschränkungen; sie sind in ihm fixiert, ›festgestellt‹.« Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991, 333. Brief von Adorno an Benjamin vom 29.2.1940. In: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940. Hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt/Mn. 1994, 417. Harald Weinrich geht auf die Dynamik von Vergessen und Erinnern ausführlich ein, unter anderem im Kontext der Poetik und Dichtung von Baudelaire, Mallarmé und Valéry. »Sans oubli on n’est que perroquet.« (»Ohne Vergessen ist man nur Papagei.»), so eine von Weinrich zitierte Sentenz Valérys (aus Cahiers 1894–1945; zit. in: Weinrich: Lethe, 182.) Die ›Wiederholungskritik‹, die diese Sentenz zum Ausdruck bringe – wie Valéry schreibt: »L’esprit abhorre la répetition.« – gehe mit der radikalen Forderung einher, »bei allen Tätigkeiten des Geistes ›mit dem Anfang anzufangen‹.« Im Sinne dieser Ausführungen kommt dem Vergessen eine wichtige Funktion zu: ein ›lebendiges‹ Gedächtnis zu schaffen: »Auch das Gedächtnis muß vom Anfang her gedacht werden.« (Weinrich: Lethe, 182) Im Zusammenhang der Themenstellung dieser Arbeit ist Michel Beaujours Verweis auf André Bretons Manifeste aus dem Jahr 1924 interessant. Beaujour konstatiert, dieses sei »hostile to ›memory‹, in all relevant
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vergleiche folgende Notiz Benjamins zum Passagen-Werk: »Damit ein Stück Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen.« (V, 587) Das, was eine solche Kontinuität auflöst, ist das Vergessen.31 Adorno hält dies denn auch für das entscheidende Moment und nicht die Frage, ob das, was erinnert wird, ursprünglich »mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden« oder nicht. Wenn ich im Folgenden in Anspielung auf Adornos Einwand von einer ›Dialektik des Vergessens‹ spreche, dann zunächst in diesem reduzierten Sinne als Formel für ein dialektisches Paradigma, das ich dem in dieser Arbeit zuvor diskutierten gegenüberstellen möchte.32 In seiner Antwort auf Adornos Brief insistiert Benjamin – wie ich meine, nicht ganz überzeugend – auf dem unbewussten Charakter des ursprünglichen Erlebnisses. Er entgegnet dem Einwand Adornos, indem er schreibt: Die kindliche Erfahrung des Geschmacks der Madeleine, die Proust eines Tages involontairement wieder ins Gedächtnis tritt, war in der Tat unbewußt. Nicht wird es der erste Bissen in die erste Madeleine gewesen sein. (Kosten ist ein Bewußtseinsakt.) Wohl aber wird das Schmecken unbewußt in dem Maße als der Geschmack vertrauter wurde. Das ›Wiederschmecken‹ des Herangewachsenen ist dann, natürlich, bewußt.33
Wie Henning Teschke bemerkt, hatte Benjamin gute Gründe, an dieser Vorstellung festzuhalten; sonst ginge nämlich
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senses of the word«, und macht dabei auf »the ambivalence of Breton’s poetics« aufmerksam, »[which] becomes apparent when one realizes that the manifesto is suffused with a poignant nostalgia for the wasted potentialities of childhood«. Beaujour zitiert dabei Breton, wenn er schreibt: »The mind that delves into surrealism lives again rapturously the best part of its childhood.« Beaujours Fazit: »This is tantamount to confessing that automatism was in effect a specialized mnemonic device which enabled the poet to step back at will into the euphoria of childhood.« Michel Beaujour: »Memory in poetics«. In: Haverkamp / Lachmann: Memoria, 9–17; hier 10f.. Um vorzugreifen: Dass das Vergessen einen Vorgang darstellt, dem ein Moment der Verwandlung innewohnt, muss betont werden. Man vergleiche in diesem Zusammenhang Bettine Menkes auf Benjamins Proust-Essay bezogenes Wort vom »Werk des Vergessens«. Menke schreibt: »Der Begriff des Vergessenen benennt hier nicht ein substantielles, sondern ein strukturelles Moment der Textu(r)alität.« (Menke: Sprachfiguren, 341) Adorno würde eine solche Dialektik in den Zusammenhang einer »Theorie der Verdinglichung« weiter reflektieren, so sein Brief an Benjamin. Adorno, Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, 417f. Brief von Benjamin an Adorno vom 7.5.1940. In: Briefwechsel 1928–1940, 426.
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die entscheidende Differenz von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung als Dialektik von Altem und Neuem, die ins Zentrum der Ästhetik Prousts führt, verloren. Ein Vergessen in allem Gewahren, ein Unsichtbares in allem Sichtbaren, ein Abwesendes in allem Anwesenden zu lozieren, heißt jeden Augenblick hin auf das, was in ihm für das Ich nicht gegenwärtig wurde, zu öffnen.34
Dies ist auch für Benjamins geschichtsphilosophischen Erlösungsgedanken von konstitutiver Bedeutung, der bestimmt ist vom Telos eines integralen Bildes der Vergangenheit, das wiederum der Gegenwart eine Zukunftsperspektive eröffnet: Jede Gegenwart bleibt [...] auf einen zukünftigen Moment bezogen, der das Nichtgesehene als Bild in der Virtualität des Vergangenen entdeckt. Das integrale Bild eines Augenblicks übersteigt das Abbild, welches das Bewußtsein von ihm, als er real vorfiel, davon trug, bei weitem.35
Vor diesem gedanklichen Hintergrund ist es in der Tat notwendig, an der Vorstellung festzuhalten, dass das, was sich im Akt des Eingedenkens einstellt, ursprünglich unbewusst war. So wird das Vergessen – das zeigte sich im Gleichnis des Teppichs, dessen Zettel aus Vergessenem besteht – paradoxerweise zu einem Vergessen des nie bewusst und ganz Wahrgenommenen. Oder, wie Teschke sagt, paradoxerweise »zur Bedingung von Erfahrung«,36 aber einer im ›Einfall‹ der unwillkürlichen Erinnerung erst gemachten. Solche ›Einfälle‹, solche Bilder »waren nie gewesen, bevor sie erinnert wurden«.37 Man vergleiche die Qualität solcher Einfälle mit dem scheinbar Unbekannten, das in der Bildersprache von Rilkes Malte als Seetang erscheint, der an einer versunkenen Sache auf einmal auftaucht. Es ist, wie Malte sagt, »wie neu«, ja »neuer fast als zur Zeit des Verlustes«. Das Wort ›Verlust‹ impliziert ehemaligen ›Besitz‹; diese Passage wirft also, wie ich bereits andeutete, dasselbe Paradoxon auf wie Benjamins Vorstellung vom Vergessen nie gesehener Bilder, verkörpert doch das, was an der ›Sache‹ dranhängt wie nasser Tang, »Leben, von denen man nie erfahren hätte«, aber eben Leben, die einen Teil des eigenen Lebens darstellen. Das ›Ding‹, das plötzlich daliegt, ist ›nie Erfahrenes‹ aus der eigenen Kindheit.
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Henning Teschke: Proust und Benjamin: Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg 2000, 26. Teschke: Proust und Benjamin, 26. Teschke: Proust und Benjamin, 26. Teschke: Proust und Benjamin, 26.
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In seinem Proust-Essay schreibt Benjamin über die Qualität der »freisteigenden Gebilde der mémoire involontaire« und bezeichnet sie dabei als »zum guten Teil isolierte, nur rätselhaft präsente Gesichtsbilder« (II, 323). Deswegen müsse man, um dem innersten Schwingen in [Prousts] Dichtung sich wissend anheimzugeben, in eine besondere und tiefste Schichte dieses unwillkürlichen Eingedenkens sich [...] versetzen, in welcher die Momente der Erinnerung nicht mehr einzeln, als Bilder, sondern bildlos und ungeformt, unbestimmt und gewichtig von einem Ganzen so uns Kunde geben wie dem Fischer die Schwere des Netzes von seinem Fang. Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft. Und seine Sätze sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze, die unsägliche Anstrengung, diesen Fang zu heben. (II, 323f.)
Einiges an dieser Passage ist im Kontext der vorliegenden Arbeit bemerkenswert. Als Erstes verweise ich auf die Ähnlichkeit zwischen Benjamins Bild des Fischers, dem die Schwere des Netzes von der verborgenen Präsenz eines gewichtigen, aber unbestimmten Fangs kundtut, und einem in Musils Verwirrungen verwendeten: einem Bild zur Beschreibung des von Törleß gemachten Versuchs, dem Phänomen jener ›für Verwirrung sorgenden‹ ›unbestimmten Sinnlichkeit‹ ›verstandesgesetzmäßig‹ beizukommen. Wie es hieß, ergeht es Törleß dabei »wie einem Fischer [...], der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben«.38 Es kommt ihm so vor, als habe er »einen Sinn mehr [...] als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert« (6, 89). Im Laufe meiner Interpretation der Verwirrungen hatte ich hierin Anklänge an das dem Roman vorangestellte Motto entdeckt: das Maeterlinck’sche Wort, das im Kontext einer im Roman thematisierten Sehnsucht nach mystischer Vereinigung die Unerreichbarkeit Gottes – als ›Gegenstand‹ einer solchen Vereinigung – auf dem Wege des Bewusstseins thematisiert. Dazu bedürfe es eines anderen Sinnes, über den Törleß zwar in rudimentärer Form verfüge, der aber (noch) nicht ›funktioniere‹, so der Text. Ich hatte in diesem Bild aber auch den Ausdruck für keimende sexuelle Regungen eines Heranreifenden gesehen, die (noch) nicht ins Bewusstsein vorgedrungen und daher auch nicht ›verstandesgesetzmäßig‹ zu fassen seien. Die Verwirrungen enthalten
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Musil: Werke 6, 88.
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eine ganze Reihe weiterer Metaphern, die sich in diesem doppelten Sinne auslegen lassen. Ich möchte aber bei diesem Bild verweilen, weil es so weitreichende Korrespondenzen mit dem von Benjamin verwendeten aufweist und zudem in einem sinnstiftenden Bezug zu der oben zitierten Reflexion Maltes über die zwei Formen des Erinnerns steht. Wie ich bereits konstatierte, entspricht der in Maltes Reflexion aufgestellten Entgegensetzung von ›immer wieder geholten‹, dem Bewusstsein mehr oder weniger verfügbaren Erinnerungen, die als solche »müde sind von zu oftem Erinnern«, und unbekannten, sich plötzlich ›einstellenden‹ Prousts bzw. Benjamins Unterscheidung zwischen mémoire volontaire und mémoire involontaire. In Benjamins Bild stellt der gewichtige Fang den vermuteten Schatz an (nur) unwillkürlich Erinnerbarem dar, dessen Existenz man an der Schwere des Fischernetzes erkennt, das aber zu heben – ganz und gar ans Licht zu heben – auch die Kunst der Poesie nicht schafft. Ihre (will heißen Prousts) fast unerschöpfliche Mühe gelte jedoch diesem Versuch, so Benjamin.39 Wenn dieser den ›Gewichtssinn‹ (will heißen: den Sinn, der empfänglich ist für einen solch gewichtigen Fang) dem Geruchssinn gleichsetzt, spielt er auf das in Prousts Romanzyklus zelebrierte Madeleine-Erlebnis an. Der Geruchssinn ist denn auch eines der bevorzugten Organe, mit Hilfe derer der Proust’sche Erinnernde auf der Suche nach der temps perdu ›angeln geht‹.40 Nun steht das Musil’sche Bild des Fischernetzes im Rahmen einer anders gearteten Dichotomie; es ist nämlich vor dem Hintergrund der Ent-
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Rainer Warning behauptet, »die Poetik der ›mémoire involontaire‹« kenne »Versprachlichung als Problem nicht«: »Das Erinnerte ist gegeben als ›réel retrouvé‹ und harrt nur noch der sprachlichen Fixierung.« (Warning: Vergessen, 171.) Die Erinnerungen an Albertine, die im Zeichen der zweiten, wenn man so will, subversiven Poetik des Romans stehen, entziehen sich der Semiotisierung, so Warning (171). Wie ich meine, übersieht Warning das Element des Flüchtigen, des schwer Einholbaren, das sich in Marcels unwillkürlichen Erinnerungen manifestiert – wie ich vermute, im Interesse einer möglichst eindeutigen Kontrastierung der zwei in Prousts Romanzyklus ausgemachten Poetiken. Auch die unwillkürlichen Erinnerungen Marcels, die im Dienste der – um mit Warning zu reden – ›offiziellen Poetik‹ des Romanzyklus stehen, entziehen sich ein Stück weit der ›Semiotisierung‹, der Törleß in Bezug auf das ›tief am Grunde Erzitternde‹ auch nicht gelingt. Im übrigen erinnert diese räumliche Metaphorik an die geologische Metaphorik in Prousts Roman: Beides siedelt das sich der Sprache Entziehende in der Tiefe an. Vgl. in diesem Zusammenhang Peter Szondi: »Hoffnung im Vergangenem. Über Walter Benjamin«. In: Peter Szondi: Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt/Mn. 1964, 79–97; hier 89.
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gegensetzung eines ratioïden und eines nicht-ratioïden Erkenntnismodus bzw. zweier durch den einen bzw. den anderen erschließbaren Daseinsweisen zu erfassen. Aber diese Dichotomie weist signifikante Ähnlichkeiten mit der von Benjamin bzw. Rilke – oder vielmehr Malte – aufstellten auf. Überdies ist diese wie jene mit einer Wertung behaftet. In den Verwirrungen formuliert sich diese besonders deutlich in einigen mit dem Gleichnis vom Fischernetz verwandten Bildern, die einer Zelebrierung des ›Nicht-Ratioïden‹ gleichkommen und dabei frappante motivische Ähnlichkeiten mit Benjamins auf die Erinnerungsthematik gemünzte Bildlichkeit aufweisen. Man vergleiche das Musil’sche Bild von der »sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung«, von der »nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken« (90), mit Benjamins Bild vom Fischernetz. Und man bedenke dabei, dass Benjamin im Bild des Teppichs die mémoire involontaire der Nacht zuordnet. Ähnlich in Gehalt und Topologie Musils Bild vom Erdbeben »ganz tief am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche erscheinen« (6, 90). Das Wesentliche, das Wahrhafte, das Wirkliche ist das Versunkene, das dem Licht, der Oberfläche, dem Bewusstsein Abgekehrte: sei es als nicht willentlich ›Abrufbares‹ oder sprachlich nicht Benennbares. An einer Stelle spricht Benjamin selbst von Prousts A la recherche du temps perdu als dem Ergebnis einer »Versenkung des Mystikers« (II, 310). Im Gleichnis vom Fischernetz, das Benjamin verwendet, um dieses Werk zu charakterisieren, klingt denn auch die mystische Vorstellung an, wonach erst mit dem Ausschalten des vom Willen gesteuerten Bewusstseins – man vergleiche Benjamins Wort vom ›zweckverhafteten Erinnern‹ – sich der Weg für die unio mystica öffne. Ulrichs Beschwörung des ›Mondnächtigen‹ als Sphäre des ›Nicht-Ratioïden‹ passt zum beiderseitigen Zelebrieren dessen, was sich der willkürlichen Geistestätigkeit entzieht, der Ratio unzugänglich bleibt. Doch zurück zu Benjamins Gleichnis vom Fischer mit dem gewichtigen Fang, das mit folgendem Satz schließt: »Und seine [Prousts] Sätze sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze, die unsägliche Anstrengung, diesen Fang zu heben.«41 Diese poetologi-
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Zum Bilde Prousts, II, 323.
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sche Aussage scheint das ›Heraufholen‹ des Schatzes an alledem, was mit dem unwillkürlich Erinnerten verbunden ist, zum Auftrag zumindest der Proust’schen Dichtung zu deklarieren. Das Bild, das Benjamin benutzt, um diesen Auftrag zu formulieren, scheint zunächst in Widerspruch zu stehen zu der Natur eines solchen Auftrags, denn den unwillkürlichen Erinnerungen selbst kommt man per definitionem mit noch so kraftvollem ›Muskelspiel‹ nicht bei. Benjamin meint wohl auch hiermit nicht das Moment des Erinnerns selbst, sondern den Prozess des Nachspürens solcher Erinnerungen und des hiermit einhergehenden In-Sprache-Bringens all der daran geknüpften Erinnerungen, die aus dem Bereich der unwillkürlichen Erinnerung Zugang finden sollen zum Bewusstsein.42 Malte benutzt Vokabeln zur Beschreibung des ihm selbst gestellten Auftrags, die einen ähnlichen Prozess suggerieren. Das Wort vom ›Wiederleisten‹ der Kindheit, aber auch das Reden über die »harte[...] Arbeit« (VI, 944), die Malte angesichts eines solchen Auftrags bevorstehe, lässt die ›noch nie Erfahrenem‹ aus der Kindheit geltende Erinnerungsarbeit, – eine Arbeit, die bei solchen ›verlorenen Besitztümern‹ ansetzt wie den auf der Bettdecke plötzlich entdeckten –, zu einer Art »Muskelspiel des intelligiblen Leibes« werden. Bezogen auf Marcels extensiven Versuch, einem (flüchtigen) Geruch ›auf die Spur‹ zu kommen, veranschaulicht dieses Bild den nie sich erschöpfenden, da nie das Ziel ganz erreichenden Prozess der Signifikation, einen Prozess, der eben unsäglich anstrengend ist, bei dem ein solches ›Muskelspiel‹ irgendwann an die Grenzen des Sagbaren, sprich Erinnerbaren gerät. Solche Metaphorik eignet sich ebenso gut dazu, Törleß’ nur bedingt erfolgreiche Suche nach Wegen aus der Verwirrung zu charakterisieren. 3.1.3. Dialektik des Vergessens – Dialektik der Vergegenwärtigung: zum Telos Rilke’schen und Benjamin’schen Erinnerns Solche Vokabeln erfassen aber weder das Wesentliche am dichterischen Geschehen, das in das Telos der Aufzeichnungen münden soll, noch das Wesentliche an der poetologisch determinierten Vision, die die Puppenmotivik entfaltet. Rilkes, aber auch Benjamins ›Poetik der Vergegenwärtigung‹ wohnt ein Moment inne, das dem Erinnern – welcher Art auch immer – geradezu widerstrebt: das Vergessen. Auch dieses verlangt gebüh-
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Bezüglich des komplexen Zusammenhangs von Erinnerungen und deren ›Verschriftlichung‹, den ich hier nur streifen kann, siehe u.a. Menke: Sprachfiguren, 333ff..
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rende Aufmerksamkeit. Im Kontext solcher Visionen gewinnt das Wort von einer ›Dialektik des Vergessens‹ einen neuen, Adornos anfängliche Verwendung der Formel transzendierenden Sinn. Ich komme in diesem Kontext auf das poetologische Credo zurück, das Malte in einer relativ frühen Aufzeichnung verlautbart. Wie es heißt, bezogen auf seine bisherigen dichterischen Produkte: [...] Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, [...] an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, – [...] Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie der Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. (VI, 724f.)
Der Stoff, aus dem Verse ›gemacht‹ werden, sind also die Erinnerungen an frühere eigene Erfahrungen sowie an die anderer: nicht nur anderer Menschen, sondern auch Vögel, Blumen. Das Vergessen solcher Erfahrungen ist Maltes Credo nach notwendig, um sie »Blut [...] in uns« werden zu lassen, »Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst«. Zunächst kann von einer ›Dialektik des Vergessens‹ im Sinne von Adornos auf Proust gemünztem Wort die Rede sein, und zwar insofern als es sich hierbei um ein Vergessen von bewusst Erfahrenem, von Erfahrungen, an die man »zurückdenken können (muss)«, und das heißt eben auch ›zurückdenken kann‹. Aber Vergessen bedeutet hier mehr als nur die ›systembedingte‹ Voraussetzung für ein dialektisch determiniertes Erinnern; vielmehr stellt es einen Verwandlungsprozess dar: »Die Erinnerungen selbst sind es noch nicht«, so Malte. Was Malte beschreibt, wenn er fordert, diese mögen »Blut werden in uns, Blick und Gebärde«, ist eine 256
Art Assimilation von Erfahrungen und Erinnerungen an Erfahrungen, die zu einer Zurücknahme ihrer bewusstseinsmäßigen Verfügbarkeit führt.43 In dieser Hinsicht ähneln sie jenen Erinnerungen, die mit dem Begriff der mémoire involontaire zu erfassen sind. In diesem Sinne Maltes Worte: »[...] man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen.« Wie bei Proust sind solche Erinnerungen, auf die man warten muss, der Stoff, aus dem Dichtung entsteht. Aber Malte eigentümlich ist eben die Vorstellung, dass daraus Dichtung erst werden kann, wenn solche Erinnerungen einen Verwandlungsprozess vollzogen haben: Erst dann »kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.«44 In der Vorstellung von dichterischer Entwicklung in der Form, die sie in den soeben erörterten Reflexionen Maltes annimmt, manifestiert sich das Vereinigungstreben, das Maltes Pariser Zeit und den danach eingeschlagenen Weg zur dichterischen Reife bestimmt: Nicht nur die eigenen Erfahrungen von einst sollen ›einverleibt‹ werden, sondern auch die anderer. Maltes mittels der Empathie erfolgende ›Assimiliation‹ einer Reihe von Gestalten während seines Pariser Aufenthalts entspricht dem Appell, in den Maltes Credo mündet. Anklänge an die Evokation von ›Weltinnenraum‹ werden laut, wenn Malte zudem fordert, man müsse »fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen«. Verkürzt gesagt: Diese Gebärde soll zur eigenen werden. Erst dann steht »das erste Wort eines Verses auf«. Der Puppenessay und die mit ihm verwandten Dichtungen entfalten eine ähnliche ›Dialektik des Vergessens‹, aber eine gegenüber der in Mal-
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In der Forderung, Erfahrungen mögen »Blick und Gebärde« werden, findet man die Vorstellung einer Art Verleiblichung von Erfahrungen. Diese stellt das Gegenteil der Vorstellung eines somatischen Gedächtnisses dar, an das Erfahrungen verknüpft sind, die im Zuge der Wiederkehr bestimmter körperlicher Bewegungen bzw. Befindlichkeiten erinnert werden. In Prousts Romanzyklus löst z.B. Marcels Wahrnehmung der unebenen Pflastersteine des Baptisteriums von San Marco eine Erinnerung auf diese Weise aus. (vgl. Recherche IV, 451). Wie ich meine, betont Harald Weinrich zu sehr den Zeitfaktor als Motor der Verwandlung im Prozess des Vergessens und unwillkürlichen Erinnerns bei Proust. Vgl. Weinrich: Lethe, 193. Die von Weinrich vorgenommene Verknüpfung des »willkürlich-banalen Gedächtnis[ses]« mit dem »unwillkürlichpoetischen«, wobei Ersteres sich durch »dauerhaftes Vergessen« in Letzteres verwandele, scheint mir nicht gegeben zu sein. Vgl. Weinrich: Lethe, 193.
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tes Credo sich manifestierenden sogar gesteigerte. Sie findet Gestalt in Bildern, die das Telos der dichterischen Entwicklung in den Aufzeichnungen bestimmen: allen voran das Bild des Spiegels, der Bespiegelung. Die Steigerung einer ›Dialektik des Vergessens‹ in den der Puppe gewidmeten Dichtungen betrifft Form und Bedeutung, die das Moment der Verwandlung dabei erhält, und diese wiederum drückt sich aus in der Form und Bedeutung, die Spiegelung hierbei annimmt. Das wesentliche Moment in der Entwicklung, die der Verfasser des Puppenessays und die Puppe seiner Kindheit in ihrer Beziehung zueinander erfahren, ist die Verwandlung in der Qualität der rezeptiv-reflektorischen Funktion, die die Puppe für das Kind erhält. Die ›Dialektik des Vergessens‹, die der Puppenmotivik und den ihr gewidmeten Dichtungen innewohnt, betrifft diese Verwandlung. Stellte die Puppe in Form eines ›Puppen-Dings‹ als prekäre Projektionsfläche für Regungen, Gefühle, Erlebnisse des Kindes einen unzuverlässigen Spiegel dar, der im Moment der unvermeidlichen, weil entwicklungsbedingten Entzweiung – des ›Wendens‹ des Kindes im Sinne der 8. Duineser Elegie – ›mit der Hälfte des Daseins abstürzt‹, so vermag die Puppe nach einer Zeit des Vergessens – eines Vergessens, das Erfahrenem aus der Kindheit und mit ihm der Puppe selbst gilt –, in der verwandelten Form der ›Puppen-Seele‹ die ›Scheinfrüchte‹ der Kindheit in den Erwachsenen ›flüchtig hinein- bzw. zurückzuspiegeln‹. Verkörpern die Falter, die für einen Augenblick vernommen werden, bevor sie für immer Abschied nehmen, die bald wieder hinschwindenden Erinnerungen an in der Kindheit Erfahrenes und Gefühltes, so verkörpert die Larvenzeit die Zeit des Vergessens: die Zeit zwischen dem entwicklungsbedingten, sich plötzlich einstellenden Desinteresse am stummen Gegenüber als vorläufigem Gefäß für Projiziertes und der Wiederbegegnung mit der Puppe in ›er-wach-sener‹ Gestalt, wenn der Mensch, der Dichter reif ist für den Rückblick, die Rückspiegelung: die Herstellung, wenn auch nur flüchtig, von ›gespanntestem Bezug‹ mit der in idealem Sinne rezeptiv-reflektorischen Gestalt der Puppe. Benjamin hegt die Vorstellung, dass ›dialektische‹ Bilder »erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen«. Die ›Jetztzeit‹, in der solche Bilder ›aufblitzen‹, ist die »Zeit der Wahrheit« (V, 577f.). Für solche ›dialektischen‹ Bilder, die in Benjamins Vorstellung eines Tages auf einmal ›lesbar‹ werden, gilt dasselbe wie für die Falter: sie ›blitzen‹ »auf Nimmerwiedersehen im Moment [ihrer] Erkennbarkeit« ›auf‹. Die Wahrheit, die diese Bilder verkörpern, ist »vergänglich«: »ein Hauch [rafft] sie dahin« (I, 1247). Auch wenn er sich einem anderen Telos verschreibt und das Wort ›Wahrheit‹ eine entsprechend andere Bedeutung erhält als bei Rilke: Ihre 258
Visionen von Vergegenwärtigung weisen einige weitgehend vergleichbare Konstituenten auf.45 Bei aller Differenz in Bezug auf Telos und Gehalt dieser Vorstellung weisen Benjamins und Rilkes Visionen auffällige Parallelen auf, entfalten sie doch eine ähnliche Dialektik von Vergessen und Vergegenwärtigung. Doch auch die Divergenzen sind signifikant. Die Tatsache, dass die ›erwachs-ene‹ Puppe in Rilkes Essay eine ganz andere Gestalt besitzt als die Puppe aus der Kindheit deutet auf wesentliche Unterschiede in der Form, die das Erinnern als ein Wiederbegegnen mit den Kindheits-Dingen bzw. den Schauplätzen der Kindheit bei Benjamin und Rilke mitunter annimmt. Oft ›liest‹ Benjamin Kindheitserinnerungen an den realen ›Dingen‹ seiner Kindheit ab – den Loggien, der Siegersäule, der Markthalle. Es gibt denn auch viele aufsuchbare Kindheits-›Dinge‹, – ›Denkmäler‹ an die Kindheit, darunter auch Denkmäler im wörtlichen Sinne wie die Siegessäule –, die durch das kreative Missverstehen des Kindes eine neue, von der eigentümlichen Perspektive des Kindes determinierte Semantik entwickeln.46 Die
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Vgl. in diesem Zusammenhang Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/Mn. 1981. Vgl. Assmanns Ausführungen zu räumlichen Gedächtnis-Metaphern in: Assmann: Metaphorik der Erinnerung, 14ff. Signifikant in diesem Zusammenhang ist Assmanns Unterscheidung zwischen »räumlich orientierten« und »zeitlich orientierten Gedächtnismetaphern«. Sie schreibt: »Wo Gedächtnis im Horizont des Raumes konstituiert wird, steht die Persistenz und Kontinuität der Erinnerungen im Vordergrund; wo das Gedächtnis im Horizont der Zeit konstituiert wird, stehen Vergessen, Diskontinuität und Verfall im Vordergrund. An die Stelle einer durch technische und materielle Supplemente gesicherten Stabilität tritt die prinzipielle Unverfügbarkeit und Plötzlichkeit der Erinnerungen. Sie spiegeln nicht mehr Gewußtes und Bekanntes wider, sondern werden zum Einfallstor für das Neue.« (22) Insofern als die Schauplätze und Dinge der Kindheit Stabilität sichernde ›materielle Supplemente‹ darstellen, machen sie die Erinnerungen an diese Zeit jederzeit verfügbar: Man muß sie nur aufsuchen. In Assmanns Charakterisierung zeitlich orientierter Gedächtnismetaphern erkennt man die Konstituenten von Benjamins messianischem, fast wortgleich formuliertem Erinnerungsbegriff; signifikanterweise nimmt Assmann diese Unterscheidung im Kontext ihrer Ausführungen über eschatologische Erinnerung vor. Ich kann auf das, was die Schauplätze und Dinge der Kindheit von ›materiellen Supplementen‹ im Sinne Assmanns unterscheidet, hier nicht eingehen, aber das Nachdenken darüber wirft zwei kritische Fragen auf, die ich auf Grund der gebotenen Fokussierung der Erinnerungsthematik auf die Themenstellung dieser Arbeit unbeantwortet lassen muss: Die eine betrifft das Verhältnis von individuellem und kollektivem Gedächtnis in der Konzeption und Durchführung des Projekts Berliner Kindheit, die andere das Wesen von Erinnern in diesem Werk: inwiefern es konform ist mit Benjamins messianischer Vorstellung von Erinnerung, für die, wie noch erörtert wird, das Moment der Diskontinuität, der
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›entstellte‹ Bedeutung solcher steinernen Denkmäler, sprich festgehaltener kollektiver Erinnerungen, kann später nachvollzogen, am betreffenden Denkmal erneut ›abgelesen‹ werden. Aspekte einer solchen am ›Inventar‹ der realen Kindheits-Dinge orientierten Dichtung sind auch bei Rilke zu finden, unter anderem in manchen der hier behandelten Dichtungen. Rilkes Puppenessay speist sich jedoch, wie der Dichter selbst in einem Brief verrät, aus einem ›Vorwand‹: den bizarr anmutenden erwachsenen Frauengestalten der Pritzelschen Puppensammlung. Dieser ›Vorwand‹ nimmt Verwandlung vorweg, versteht der Dichter diese Gestalten doch als ›aufgewachsenes‹ Kinderspielzeug. Dem Benjamin’schen ›Lesen‹ der Dinge und Schauplätze, an denen Kindheit sich festmachte, fehlt diese Dimension. Dem Telos, das diesem Akt des ›Lesens‹ zu Grunde liegt, auch. Allerdings steht Benjamins Vorstellung eines ›Lesens‹ der Vergangenheit durchaus im Zeichen der Verwandlung, wohnt ihr doch – wie noch zu zeigen ist – ein Verwandlungsmoment inne, das sich als konstitutiv für seine geschichtsphilosophischen Gedanken erweist. Doch zurück zu Rilkes Puppenessay. Das, woran man im Sinne dieses Textes Kindheit hätte ›ablesen‹ können, verliert im Zuge seiner Verwandlung zunehmend an Materialität. Es bleiben nach der Metamorphose lediglich »kleine Seufzer« übrig, die »so dünn sind, daß für sie unser Ohr nicht mehr ausreichte«.47 Verwandlung heißt letztlich (nur allzu) flüchtiges Gestalt-Annehmen von nie zuvor bewusst erlebten Gefühlen aus der Kindheit. Wie es in der Vision des Puppenessays heißt: im Moment des fast gleichzeitigen Aufstehens und Hinschwindens der Falter, ihres sich Verzehrens in der Flamme »müßte der augenblickliche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, niegewußten Gefühlen überfluten«.48 In dieser Vorstellung eines plötzlichen Wahrnehmens ›niegewusster Gefühle‹ erkennt man zwei wesentliche Momente der mémoire involontaire, wie sie Benjamin auffasst: die Qualität des Noch-nie-(bewusst) Erfahrenen und die des plötzlichen Aufblitzens. Ich erinnere in diesem Kontext an
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Plötzlichkeit und das Neue konstitutiv sind. Vgl. in diesem Kontext Warning, der in räumlichen Metaphern, die das Phänomen der Proust’schen mémoire involontaire fassen, auch die »zeitliche Sukzessivität von Eindrücken« ausgedrückt findet. Die Verfügbarkeit von solchen räumlich ›gelagerten‹ Erinnerungen wird hinfällig, wenn die ›Fundorte‹ in Vergessenheit geraten; solche Erinnerungen erfahren aber im quasi-religiösen Sinne eine ›resurrection‹, so Warning, die sie ›neu‹ macht. (Warning: Vergessen, 162.) Rilke: Werke VI, 1074. Rilke: Werke VI, 1074; Hervorhebung der Vf..
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das Vorbild für unwillkürliches Erinnern im Proust’schen Sinne, nämlich das von einem Geruch ausgelöste Madeleine-Erlebnis. Stellt man dieses Erlebnis in den Kontext dieses visionären, vom Puppenessay entfalteten Bildes, so kommt das Divergierende an der Qualität, die das Erinnern jeweils erhält, in sehr anschaulicher Weise zum Vorschein. In Bezug auf Proust hatte Benjamin geschrieben: »Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft.«49 In der Madeleine-Episode nimmt der Geruchssinn die Spur auf: Er wittert etwas, das aber, weil »bildlos und ungeformt, unbestimmt«, sich schlecht fassen lässt. Aber indem das ganze »Muskelspiel des intelligiblen Leibes« bemüht wird, versucht man, dem beizukommen: ›Dem‹ heißt hier die Erfahrung einer in der Kindheit gekosteten Madeleine-Torte und die zuvor verlorengegangenen Erinnerungen an Kindheitstage, die man mit dem Genuss dieses Gebäcks verknüpfte. In der Rilke’schen Vision transportiert der Geruch der aufbrennenden Falter ›grenzenlose‹ Gefühle der Kindheit, die uns ›überfluten‹: niegewusste, weil nicht bewusst erlebte bzw. erlebbare Gefühle des Einsseins von Ich und Welt. Diese Vision führt eine augenblickliche Vereinigung der Lebenszeiten herbei; ein Bezug zwischen Einst und Jetzt wird durch die Vergegenwärtigung der unbewussten Erfahrung von Einssein hergestellt, aber diese Vergegenwärtigung erfolgt wohlgemerkt durch die Erinnerung an eine solche Erfahrung vom Standpunkt des ›gewendeten‹ Erwachsenen aus. Die ›senkrechte Zeit‹ blitzt auf.50
49 50
Zum Bilde Prousts, II, 323. Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Auf den komplexen Aspekt der Zeit, der für Benjamins und Prousts wie für Rilkes Dichten und Denken von besonderer Bedeutung ist, kann ich hier nicht ausführlich eingehen. An dieser Stelle möchte ich aber einige, wenn auch etwas verkürzt erscheinende, so doch anregende Bemerkungen Peter Szondis anführen, die das Thema in Bezug auf Differenzen zwischen Benjamins und Prousts Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit umreißen. Wie Szondi resümiert: »Proust sucht die Vergangenheit, um in deren Koinzidenz mit der Gegenwart [...] der Zeit zu entrinnen, und das heißt vor allem: der Zukunft, ihren Gefahren und Drohungen, deren letzte der Tod ist. Benjamin dagegen sucht in der Vergangenheit gerade die Zukunft.« Und noch knapper: »Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, Benjamin auf den Vorklang der Zukunft, die seitdem zur Vergangenheit geworden ist.« (Szondi: »Hoffnung im Vergangenen«, 88f.) Was Rilke betrifft, ist die Vorstellung des Todes als der ›anderen Hälfte‹ des Lebens und somit als in die Dimension eines erweiterten Zeithorizonts einzuschließender Erfahrung zentral. Vgl. in diesem Sinne das oben betrachtete Gedicht »Zueigung an M«.
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»Daß die Kindheitserinnerungen als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig:«51 Dieser Satz Maltes kann im Sinne des dialektischen Dreistufenschemas gedeutet werden: das sich in den Aufzeichungen manifestiert. Gleichermaßen ›spiegelt‹ die ›nie gewusste‹ Erfahrung von Einssein in der Kindheit im Sinne des einen oben erörterten Deutungshorizonts die teleologische Vision einer Bespiegelung durch Gott, Einssein in Form ›gespanntesten Bezugs‹, ›vor‹. In den Aufzeichnungen wie im Puppenessay und den mit ihm motivisch verwandten Dichtungen wird der Spiegel zum Sinnbild für Eins- wie für Getrenntsein. Das zeigte diese Interpretation, wie ich meine, in aller Deutlichkeit: Vereinigung mit dem Gegenüber, ob in Form identifikatorischer Projektion oder der Herstellung ›gespanntesten Bezugs‹, erfolgt an diesem ›Ort‹ genauso wie Fragmentierung. In Maltes Vorstellung der Familie als ›schlechten Spiegels‹ sowie bei seinem Erlebnis vor dem Pfeilerspiegel wird der Spiegel zum Ort der Fragmentierung. Aber der Spiegel ist nicht nur ein Ort, an dem Bezug zwischen Ich und Gegenüber, Ich und Welt, auch Selbstbezug hergestellt oder zerstört wird, sondern auch, wie bereits erörtert wurde, der Geltungsbereich der ›senkrecht stehenden Zeit‹: der Zeit, in der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sich als ein Gleichzeitiges offenbaren.52 An dieser Stelle ist noch ein Blick auf Proust zu werfen, in dessen Werk Ich, Zeit und Erinnerung in einem dynamischen Verhältnis erscheinen. Indem durch spontanes, unwillkürliches Erinnern Vergangenes in die Gegenwart ›transportiert‹ wird, stellt sich eine Identität von Gegenwart und Vergangenheit her, eine innere Zeit, die alleine vermag – indem sie immer wieder hergestellt wird –, das Ich zu konstitutieren. Proust setzt die Macht des Gedächtnisses – als etwas, das Identität schafft – der des Vergessens gegenüber, die allmählich die in uns überlebende Vergangenheit und dadurch auch die Basis für eine Ich-konstituierende innere Zeit zerstört.53
51 52 53
Rilke: Werke VI, 945. Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Warning sieht die Ich-konstituierende Wirkung der Poetik der mémoire involontaire eher durch die mit dieser ›rivalisierende‹ ›Poetik der Flüchtigkeit‹ unterminiert. Sein Resümee: »Genau dort, [...] wo mit der Erhöhung der Zeit zum Individuationsprinzip der Schlußstein der idealistischen Poetik zu gewinnen scheint, drängen sich all die Merkmale jener konkurrierenden Poetik in den Vordergrund, die die narrative Praxis selbst bestimmt. Die leere Temporalität unendlicher Projektionen, an die das Ich sich verausgabt, konfligiert mit der euphorischen Erfahrung einer in der Innerlichkeit sedimentierenden und die Kontinuität einer Lebensgeschichte garantierenden Zeit.« (Warning: Vergessen,
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In Prousts Werk steht das, was H.R. Jauß bezogen hierauf das »Doppelspiel zwischen erinnerndem und erinnertem Ich«54 nennt, im Dienst eines Einholens von Vergangenem in die Gegenwart, wodurch eine solche innere Zeit erzeugt wird. Bei Proust dient ein solches Doppelspiel dazu, die Identität des erinnernden Ichs zu konstituieren, d.h. erkennbar zu machen. Aus dieser Möglichkeit bezieht die Proust’sche Dichtung ihre Legitimation. Für Proust gilt: Erinnern heißt Schreiben, und Schreiben heißt ›Ich-Erfahrung‹. Allerdings muss diese Erfahrung immer wieder von neuem gemacht werden: durch erneutes Erinnern, erneutes Schreiben. Bei Rilke konvergiert das Erinnern in Form eines Überflutet-Werdens von ›niegewussten Gefühlen‹ beinahe mit dem dichterischen Akt selbst, der diese Erfahrung in Sprache ›fassen‹ soll. Das suggeriert die Vision, die die Verse für Lotte Pritzel entfalten. In dieser Vision von in Dichtung verwandeltem Gespiegeltem, das selbst, als etwas Verwandeltes, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu etwas Gleichzeitigem macht und dem Dichtenden eine zumindest augenblickliche Auflösung der Entzweiung bzw. Fragmentierung ermöglicht, und zwar in der Erfahrung ›gespanntesten Bezugs‹, laufen alle Aspekte, die Spiegelung in den hier behandelten Dichtungen Rilkes entfalten, zusammen, und diese bestimmt auch den hierin zum Ausdruck gelangenden Entwicklungsgedanken. Die Differenz zwischen ›nicht mit Bewusstsein erlebtem‹ Einssein vor der Erfahrung der Entzweiung und der Erfahrung ›gespanntesten Bezugs‹ jenseits dieser determiniert den dialektischen Charakter solcher Entwicklung. Eine solche Dialektik liegt auch dem in Musils Werk ausgemachten Verhältnis zwischen den ›Sphären‹ der Kindheit, des ›Mondnächtigen‹, des ›ursprünglichen Gleichnisses‹ einerseits und dem visionären Zustand ›tagheller Mystik‹, dem ›anderen Zustand‹, dem ›synthetischen‹ Gleichnis andererseits zu Grunde. In Törleß manifestiert sich eine solche rückwärtsvorwärts-gerichtete Erfahrung in Törleß’ Erleben der Dämmerung, das sich infolge des Hereinbrechens erster sexueller Regungen vergegenwärtigt: Im Mann ohne Eigenschaften erschließen sich solche Ahnungen von dem, was war und sein könnte, durch Aktivierung der Erinnerung an die Qua-
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193) Im Festhalten Prousts an der Widersprüchlichkeit zweier konkurrierender Prinzipien, das des Flüchtigen und Kontingenten einerseits, das des Ewigen andererseits kann, so Warning, »eine Aporie moderner Kunst« gesehen werden, die Prousts Werk womöglich bewusst nicht auszulösen versucht. (Vgl. 193) H.R. Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, Heidelberg 1970, 54.
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lität kindlichen Erlebens nach Ulrichs Wiederbegegnung mit der zuvor in Vergessenheit geratenen ›siamesischen Zwillingsschwester‹ Agathe. Solches Erinnern löst den Impuls nach ›Wiedervereinigung‹ mit der Schwester aus. Aber signifikanterweise ginge in das ersehnte Ereignis – sollte es je eine tragbare Form finden – die Erfahrung der Gespaltenheit mit allem, was diese beinhaltet, mit ein. Man kann festhalten: Entwicklung, wie sie sich in Musils und Rilkes hier behandelten Dichtungen darstellt, erhält eine Art Doppeldetermination. An diesen Dichtungen lässt sich eine Dialektik der Bewusstwerdung wie des Vergessens ablesen. Als Bewusstwerdungsprozess obliegt Entwicklung einer polaren, auf die Aufhebung eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses abzielenden Dynamik, wie sie in Törleß’ sexuell-epistemologischen ›Verwirrungen‹, Maltes Spiegelungserlebnissen und -visionen und der Puppenmotivik in je unterschiedlicher Gestalt zum Vorschein kommt. Die ›Dialektik des Vergessens‹, wie sie sich bei Proust und Benjamin manifestiert, operiert nicht nach einem solch polaren Prinzip; Totalität gestaltet sich im von Benjamin formulierten geschichtsphilosophischen Telos, in dessen Kontext seine Auseinandersetzung mit Prousts Romanpoetik zu stellen ist, nicht in Form der Auflösung bzw. Aufhebung einer Subjekt-Objekt-Polarität, sondern vielmehr in einer Vision der Fülle: der möglichst vollständigen ›Rettung‹ von Vergangenem vor dem Mechanismus des Vergessens bzw. des Unterdrückens, aber eines Vergessens, eines Unterdrückens, aus dem eine solche ›Rettung‹ neue Kraft bezieht. Hierin liegt die dialektische Kraft des Vergessens in Benjamin’schem Sinne. Diese rückwärts-vorwärts-gerichtete Vision formuliert Henning Teschke, wenn er schreibt: »Als Vollendung des Unvollendeten wird Ursprung zu Zielbegriff und Zukunft. Und selig, weil einzig dann das ewige Nocheinmal Erfüllung, hymnisch wäre.«55 Wie Benjamin schreibt: »Der jüngste Tag ist eine rückwärts gewandte Gegenwart.« (I, 1232) Aber die Formel einer ›Dialektik des Vergessens‹ beherbergt nicht nur die Vision von Fülle, von (fast) restloser Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Als eine Art Komplementärprinzip zu einer Dialektik der Bewusstwerdung, wie sie auch in den hier behandelten Werken Musils und Rilkes zum Ausdruck kommt, bedeutet das Vergessen in diesen Dichtungen auch und zunächst ein Verlorengehen der Fähigkeit, Ich und Welt als eins zu erleben, eine Fähigkeit, die im Akt des Erinnerns zumindest flüchtig wiederhergestellt wird: in durch das Vergessen verwandelter Form.
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Teschke: Proust und Benjamin, 27.
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Bei aller Differenz im Gehalt, den Benjamins Telos der Fülle und das im Werk Musils und Rilkes formulierte Telos ›gespannter‹, und das heißt auf Polarität aufbauender Einheit erhalten, sind signifikante Gemeinsamkeiten zu entdecken. Zunächst ist der Rückbezug auf die Vergangenheit zu nennen, der in den Dichtungen, in denen das Erinnern eine wichtige Rolle spielt, sich schon alleine aus diesem Aspekt ergibt. Im Erinnern dieser Art öffnet sich die Möglichkeit, im Vergangenen ein ›Vor-Bild‹ für das Zukünftige zu finden. Man denke dabei auch an Rilkes unvollendete, der Kindheit gewidmete Elegie, die diese als ›späte Frucht‹ evoziert.56 Die Frage nach der Erfüllbarkeit solcher Visionen wie der von Benjamin, Rilke, Musil beschworenen stellt sich hier, und die Antwort auf diese Frage verweist auf eine weitere Gemeinsamkeit. In Benjamins »kleine[m] methodischen Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik«, der Vorstellung eines schrittweisen Einbringens der ganzen Vergangenheit in die Gegenwart »in einer historischen Apokatastasis« (V, 573), ist die Unerfüllbarkeit sogar in der Methode selbst angelegt, bleibt doch nach endlosem Teilen immer wieder ein kleiner Rest von Nicht-Eingeholtem übrig. Die Dichtungen von Musil und Rilke, die die Vision ›gespannter Einheit‹ entfalten, entlassen den Leser, ohne eine vergleichbare ›Methode‹ zur Einlösung einer solchen Vision überhaupt bereitgestellt zu haben. Ulrichs Versuche in dieser Richtung erhalten ausdrücklich experimentellen Charakter. Malte ist am Ende der Aufzeichnungen weit davon entfernt, seinen Spiegel zu finden, und man weiß nicht, wie das ›Ding‹ beschaffen sein muss, das im Gedicht festhält, was sonst im Bild des Puppenessays ›hinschwinden‹ würde. Lediglich in Ulrichs Gleichnistheorie deutet sich eine ›Methode‹ an, die gegebenenfalls eine Einlösung der Törleß vorschwebenden Vision herbeiführen könnte. In der Vorstellung, der Dichtung komme die Aufgabe zu, im Augenblick der ›Vergegenwärtigung‹ von Vergangenem bereits wieder ›Hinschwindendes‹ zu ›retten‹, gründet eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den Visionen eines Benjamin und eines Rilke. Bedeutsam dabei ist die Rolle, die man der Sprache bei der Verwirklichung solcher Visionen zuweist. In Anrufung eines dem herkömmlichen entgegengesetzten, sich dem Primat der Diskontinuität57 verschreibenden Fortschrittsbegriffs schreibt Benjamin, die Kunst, »die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum
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Vgl. Abschnitt 2.3.3. dieser Arbeit. Vgl. I, 1236: »Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum.[...] Aufgabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden.«
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Fortschritt ansah«, könne »dessen echter Bestimmung dienen«. Und er erläutert: »Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause; dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.«58 Was er mit dem ›wahrhaft Neuem‹ wohl meint, ist das dialektische Bild – das »wahre Bild der Vergangenheit«. Wie er schreibt, »huscht [dieses] vorbei«. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehn im Moment seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. Seiner Flüchtigkeit dankt es, wenn es authentisch ist. In ihr besteht seine einzige Chance. Eben weil diese Wahrheit vergänglich ist und ein Hauch sie dahinrafft, hängt viel an ihr. Denn der Schein wartet auf ihre Stelle, der sich mit der Ewigkeit besser steht.59 (I, 1247)
An anderer Stelle heißt es in Bezug auf solche die Vergangenheit ›rettenden‹ Bilder: »Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlornen [sich] vollziehen.«60 Eindeutig ist Benjamins Aussage bezüglich solcher Bilder: »Nur dialektische Bilder sind echte [...] und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.«61 Dass die Dichtung (auch im weiteren Sinne des Wortes) der Gefahr eines Hinschwindens von in die Gegenwart eingeholter Vergangenheit, – welche Form dies auch annehmen mag –, abzuwenden vermag, indem sie das sonst ›unrettbar Verlorene‹ ›lesbar‹ macht, aus ihm eben ein ›Ding‹, ein Gedicht macht, ob in Benjamin’schem Sinne oder im Sinne der Puppenmotivik: Dichtung kann fast keine zwingendere Legitimation erhalten. Die wesentlichen Momente, die die Puppenmotivik bei Rilke entwickelt, entdeckt man in dem hier erörterten Gedankenkomplex. Eines davon ist die augenblickliche Erscheinung der Falter, die im Vorgang der Metamorphose aus ›Altem‹ ›wahrhaft Neues‹ machen, »Noch-nicht-bewußtesWissen« (Benjamin) ›lesbar‹ machen. In diesem Zusammenhang erhält der Gefäßcharakter der Puppe einen neuen Sinn, dessen Erörterung ein (vorher angekündigter) Blick auf die Form erfordert, die die Verwandlung von Vergessenem infolge der Vergegenwärtigung bei Benjamin erhält. In Benjamins Vorstellung einer Vergegenwärtigung von Vergangenem bedeutet Verwandlung eine »zunehmende [...] Verdichtung (Integration) der Wirk-
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Benjamin: Werke V, 593. Benjamin: Werke I, 1246. Benjamin: Werke V, 592; vgl. Werke I.3, 1247f.. Benjamin: Werke V, 577; vgl. u.a. Menke: Sprachfiguren, 333ff., die Benjamins Bildbegriff in sehr differenzierter Weise erörtert.
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lichkeit, [...] in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick seines Existierens erhalten kann«. Es ist von einer »dialektische[n] Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhänge« die Rede.62 Für die Puppenmotivik gewinnt diese Aussage Bedeutung, wenn man sie in den Kontext einer Reflexion Benjamins über Proust und die mémoire involontaire stellt. Dort heißt es: »[...] ein erlebtes Ereignis ist endlich, [...] ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüssel zu allem was vor ihm und zu alles was nach ihm kam.«63 Bezogen auf das, was die ›Puppen-Seele‹ im Akt des Erinnerns preisgibt, heißt dies: das, was sich ›ansammeln‹ konnte, was nicht ›abfloss‹, sammelt sich zu neuem Sinn, zu einem neuen Sinnzusammenhang, der bei der Rückspiegelung ins Menschliche freigesetzt wird bzw. ›aufblitzt‹. Bemerkenswerterweise wären hierin Aspekte eines Telos der Fülle zu entdecken. Auch Benjamins Vorstellung, dass solche Bilder eine bestimmte Zeit abwarten müssen, um in dieser Weise in Erscheinung treten zu können, um »zur Lesbarkeit zu gelangen«, findet man in etwas anderer Gestalt schon bei Rilke. Im Puppenessay fällt der Zeitpunkt, an dem ›Vergegenwärtigung‹ von Vergangenem erfolgt, der Metaphorik des Essays nach mit der Beendigung der Larvenzeit, dem Moment der ›Entpuppung‹ zusammen; die Larvenzeit ist die Zeit zwischen dem ›Wenden‹ des Kindes und dem Punkt, an dem es als Erwachsener der Puppe wiederbegegnet. Für Benjamin gibt es unzählige ›Konstellationen‹ zwischen Gegenwart und auf monadische Weise ›rettbarer‹ Vergangenheit, die ›lesbare‹ Bilder erzeugen können: Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt. [...] Diese Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich. Historie im strengen Sinn ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen Eingedenken, ein Bild, das im Augenblick der Gefahr dem Subjekt der Geschichte sich plötzlich einstellt.64
Die ›Konstellation‹, die erzeugt wird von Benjamins Berliner Kindheit und dem »Augenblick der« – nur allzu realen – »Gefahr«, in der sich Benjamin zum Zeitpunkt der Niederschrift befand, ist also nur eine von vielen
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Benjamin: Werke V, 495. Benjamin: Werke II, 312. Benjamin: Werke I, 1242f..
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möglichen, die zusammen auf die Einlösung eines Telos der Fülle, wenn man so will, ›hinarbeiten‹.65 Es gibt Gründe anzunehmen, dass die ›Konstellation‹, die Rilkes Puppenessay herstellt, auch nur eine von vielen möglichen darstellt, dass sich Dichten nicht, um in Benjamin’scher Weise zu sprechen, im ›Festhalten‹ dieser einen Konstellation erschöpft, sondern dass es viele solche ›Zusammenkünfte‹ von Vergangenem und Gegenwart geben kann.66 In Maltes
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Aleida Assmann identifiziert in Benjamins »visionäre[m] Projekt einer ›politischen Geschichtstheologie‹« zwei Formen des Gedächtnisses: das eschatologische, das »auf die messianische Zukunft oder die große Wende hin ausgerichtet ist«, und das ›animatorische‹, das »punktuell den Kurzschluß (im Wortsinne) zwischen Vergangenheit und Gegenwart [inszeniert]«. Benjamins Projekt »changiert«, so Assmann, »zwischen eschatologischer und animatorischer Erinnerung. Mit dem Gewicht, das [Benjamin] in den aktuellen historischen Gegenwartsmoment legt, distanziert er sich von den zeitüberspannenden Heilsgeschichten, wird er zeitüberspringend, punktuell, forciert er die blitzartige Erinnerung als eine Deutungsenergie, die das Verlorene, Erstarrte, Tote zu neuem geschichtlichem Leben erwecken kann« (Assmann: »Metaphorik der Erinnerung, 30f.). Ich sehe zwei mögliche Gründe für eine solche Distanzierung von den »zeitüberspannenden Heilsgeschichten«: zum einen Benjamins Orientierung an der jüdischen Vorstellung des ›Eingedenkens‹, durch das »jede Sekunde die kleine Pforte [wird], durch die der Messias treten kann«. (Benjamin: Werke I, 1252), zum anderen seine Ablehnung der marxistischen Vorstellung der ›Erlösung‹ als ›unendlicher Aufgabe‹, wodurch »sich die leere und homogene Zeit sozusagen in ein Vorzimmer [verwandelte], in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte« (Benjamin: Werke I, 1231). Vgl. in diesem Zusammenhang die von Benjamin auf Proust gemünzte Unterscheidung zwischen einer ›grenzenlosen‹ und einer ›verschränkten‹ Zeit (Benjamin: Werke II, 320), wobei letztere die Qualität der ›Ewigkeit‹, »in welche Proust Aspekte eröffnet«, bestimme. Auf diesen Aspekt von Benjamins ProustRezeption geht Klaus-Peter Philippi ausführlicher ein. (Klaus-Peter Philippi: »›Für die Katz‹?. Robert Walsers Text Der Tänzer und das paradoxe Glück der Kunst«. In: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag, Tübingen 1992, 107–143) Vgl. auch Philippis dem Aspekt der Zeit geltende Ausführungen zu Benjamins Baudelaire-Studie, die die Benjamin’sche Vorstellung von ›Vergegenwärtigung‹ in ihrem Bezug zum Begriff der ›verschränkten‹ Zeit verdeutlichen: Über die Vorstellung einer Gegenwart, »in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«, schreibt Philippi, es sei »durchaus die Qualität des mystischen ›Nu‹, [...] die Benjamin hier beruft, aber als innergeschichtlich festgeschriebene Modalität des Erfahrens; nicht als Einbruch einer all- und übermächtigen Transzendenz, sondern als blitzartig aufleuchtendes Sichtbarwerden einer von der Geschichte (der Moderne) aufgedeckten Möglichkeit der Vergangenheit« (148). Interessant in diesem Kontext sind Kittsteiners Ausführungen über die »Geschichtsverfallenheit des Historismus« und ihre »geschichtstheologische Kehrseite«. In Bezug auf Leopold von Ranke, mit dessen Geschichtsverständnis Kittersteiner das Benjamins kontra-
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Vorstellung tritt die Vergangenheit in ein solches Verhältnis zur Gegenwart in Form des »ersten Wort[es] eines Verses«, das in einer »sehr seltenen Stunde«, so Malte, »in ihrer [der Erinnerungen] Mitte aufsteht«.67 An dieser Stelle sei vermerkt: Auch die Erfahrung des Einsseins von Ich und Welt, die in verwandelter Form das erste Wort eines solchen Verses hervorrufen könnte, ist nicht dem Kind vorbehalten. Solche zu vergegenwärtigenden Erinnerungen gelten auch bestimmten (hochgradig empathischen) Erfahrungen des ›gewendeten‹ Menschen, die diesem das Gefühl einer Einheit von Ich und Welt vermitteln, wie zum Beispiel das Fühlen-Können, »wie die Vögel fliegen«, und das Wissen »mit welcher [Gebärde] die kleinen Blumen sich auftun am Morgen«. Solche Erfahrungen steigen mit dem ›Aufstehen eines dichterischen Wortes‹ verwandelt auf, bilden Verse wie die folgenden im Gedicht ›Weltinnenraum‹: »Wie erkannt / sah eine Blume zu dir auf. Da flog / ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.«68 Maltes Credo nach schaffen nicht nur solche Erfahrungen, – Erfahrungen von Einssein –, Dichtung. Nichtsdestotrotz entnimmt man den Aufzeichnungen sowie den anderen, hier besprochenen Dichtungen Rilkes die fast unermessliche Bedeutung solcher Erfahrungen für diesen Dichter. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Rilkes briefliche Äußerung zum Puppenessay: [I]st es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann die Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie noch nie auszuleben, bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg
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stiert, schreibt der Autor: »[...] weil er sich jenseits der Vielfalt des historischen Geschehens einen davon unberührten Gott vorbehält, kann er [...] eine Erlösung nicht in der Geschichte, sondern nur von der Geschichte denken.« (Kittsteiner: Historismus, 171.) Die ›verschränkte‹ Zeit, die Benjamins Methode der ›Geschichtsschreibung‹ hervorruft, stellt eine Art Erlösung in der Geschichte – wenn nicht zu sagen, durch die Geschichte – dar. In Benjamins vehementer Kritik an der Erhebung der ›Erlösung‹ zum ›Ideal‹ seitens der Sozialdemokraten (siehe I, 1231, wie oben zitiert) kommt dies deutlich zum Ausdruck: dass die ›Rettung‹ nicht jenseits der Zeit, sondern in der Zeit zu suchen ist. In diesem Zusammenhang ist die jüdische Vorstellung, jeder Augenblick könne zu einer ›kleinen Pforte‹ werden, »durch die der Messias treten kann (I, 1252, wie oben zitiert), bedeutsam; vgl. Benjamins Wort von einer »Bresche in der Zeit« (IV, 268). Vgl. auch Eitams Feststellung der ›Geschichtsgebundenheit‹ der Monade in Benjaminschem Sinne. Eitam: Discrimen der Zeit, 430. Rilke: Werke VI, 725. Rilke: Werke II, 98.
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mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf? (RBr II, 464)
Ist zwar die Puppenerinnerung ein ›Vorwand‹, eine Möglichkeit unter anderen, einer zu vergegenwärtigenden Erfahrung von früher Gestalt zu geben, so doch ein »vom Ureigensten handelnd[er]«. Das bezeugt die brieflich festgehaltene Reaktion des Dichters auf die Gestalt, die dieser Vorwand im Puppenessay ›abgibt‹. Dieser Reaktion wohnen wesentliche Momente eines von der Dynamik des Vergessens und unwillkürlichen Erinnerns bestimmten dialektischen Geschehens, wie es im Puppenessay ›inszeniert‹ wird, inne: Im Puppenessay vermittelt sich »das Gespensthafte« von damals »noch einmal unbegrenzt«; dieses wird aber in der Erinnerung »wie noch nie aus[gelebt]« (Hervorhebung der Vf.). Hierin erkennt man wesentliche Qualitäten des unwillkürlichen Erinnerns, die diese Form des Erinnerns in Prousts Dichtung und ihrer Rezeption durch Benjamin erhält. Rilkes briefliche Äußerung ist auch bemerkenswert insofern, als es seinem Bekenntnis nach im Laufe des Dichtens zu einer Projektion von Puppe – und zwar von ›Puppen-Ding‹ – auf ihr Gegenüber, den Dichter, gekommen ist: Man war »jeden Morgen dürr [...] von Werg, mit dem man, Balg durch und durch, ausgefüllt war«. Eine solche identifikatorische Beziehung hatte Rilke auch, so ähnliche Äußerungen, zur Figur des Malte Laurids Brigge entwickelt.69 Hierin zeigt sich das Wesentliche an solchen modernen Erinnerungspoetiken wie den hier betrachteten: die vornehmliche Bedeutung der individuellen Erfahrung. In ihrer Kontrastierung zwischen dem Begriff der Memoria und der subjektiven Erinnerung, wobei die eine »eine ars, ein Regelsystem«, die andere »eine vis, eine individuelle Naturkraft« darstelle, konstatiert Assmann: letztere erscheine in Form »einer immer schwerer
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In einem Brief vom 28. 12. 1911 fragt sich Rilke, ob Malte nicht untergehe, um ihm, dem Dichter, »den Untergang zu ersparen« (RBr I, 300). Im Bilderkomplex des Briefes wird das Buch zur »hohe[n] Wasserscheide«, Malte zum »Untergegangene[n]« und Rilke selbst zum Überlebenden (ebenda, 300). Da aber »alles Gewässer nach der alten Seite abgeflossen ist«, geht Rilke »in eine Dürre hinunter«, d.h. er bleibt seelisch, geistig ›ausgetrocknet‹ zurück, wobei es ihm vorkommt, als habe »der andere, Untergegangene« – sprich Malte – »[ihn] irgendwie abgenutzt, [...] mit den Kräften und Gegenständen [seines] Lebens den immensen Aufwand seines Untergangs betrieben [...], sich mit der Inständigkeit seiner Verzweiflung alles angeeignet« (ebenda, 300). Die Ähnlichkeit mit Erfahrungen, die das Kind mit der Puppe im Puppenessay macht, ist frappant.
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verfügbaren individualisierenden ›Erinnerung‹«. Dies sei ein Begriff, der sich mit ›Subjektivität‹ und ›Schrift‹ verbinde. »An die Stelle des Registrier- und Thesaurier-Verfahrens der Memoria ist die aktive Kraft der Erinnerung getreten«, so Assmann.70 Damit tritt die Bedeutung des Kollektivgedächtnisses hinter der des Individualgedächtnisses zurück. Nicht nur am Puppenessay und den mit ihm verwandten Dichtungen sowie an den Aufzeichnungen und Maltes hierin formuliertem dichterischem Credo zeigt sich die Bedeutung der (individuellen) Erfahrung – und mit ihr der Erinnerung – für die Ästhetik der Moderne. Auch im Werk eines Dichters und Denkers, der die individuelle Erfahrung für das Projekt einer epochalen Geschichts-›Schreibung‹ in Anspruch nimmt und sein Augenmerk dabei auf das Kollektive zu richten scheint, hebt sich letztlich der Stellenwert der genuin individuellen Erfahrung hervor. So unpersönlich sich die Aufgabenstellung der Berliner Kindheit im Vorwort auch formulieren mag: Dieses Werk speist sich aus den eigentümlichen Erfahrungen des erinnernden Dichters.71 Dieses Werk steht, wenn man so will, im Zeichen des ›mimetischen Vermögens‹ des Kindes, was bedeutet: die »Gabe, Ähnlichkeit zu sehn« (II, 210). Wie Benjamin schreibt, stellt eine solche Gabe »ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges [dar], ähnlich zu werden und sich zu verhalten«.72 Ein solcher Zwang hatte den Dichter der Berliner Kindheit als Kind beherrscht, so das Bekenntnis Benjamins.73 Und wie Benjamin an anderer Stelle schreibt: »Erfahrung[en] sind gelebte Ähnlichkeiten.«74 Für den Erinnerenden der Berliner Kindheit und den erinnernden ›Mann ohne Eigenschaften‹ wie für viele von Rilkes Figuren, letztlich auch für Rilke selbst, beruht Erfahrung auf dem ›Ausleben‹ von Ähnlichkeiten, und das Dichten gilt nicht zuletzt der Beschwörung noch nicht bewusst wahrgenommener Ähnlichkeiten bzw. dem Heraufbeschwören von in Vergessenheit geratenen Erfahrungen des Ähnlichwerdens. Die Einheitsvisionen Musils, Rilkes und Benjamins speisen sich aus Erfahrungen von Ähnlichkeit bzw. Identifikation, wenn auch in je anderer Weise. Für Benjamin ›schreibt
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Assmann: Wunde der Zeit, 359. Klaus-Peter Philippi konstatiert, Benjamin habe versucht, »gegenüber dem allgemeinen Erfahrungsverlust der Moderne [...] an einem emphatischen Begriff der Erfahrung festzuhalten« (›Für die Katz‹?, 143f.). Benjamin: Werke II, 210. Vgl. Seite 293 dieser Arbeit. Benjamin: Werke VI, 88.
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sich‹ Geschichte nicht, indem Kausalverknüpfungen ›festgestellt‹ werden, sondern, indem man Ähnlichkeiten herstellt. Wie er schreibt: Kein größerer Irrtum als Erfahrung im Sinne der Lebenserfahrung nach dem Schema derjenigen konstruieren zu wollen, die den exakten Naturwissenschaften zugrunde liegt. Nicht die im Lauf der Zeiten festgestellten Kausalverknüpfungen, sondern die Ähnlichkeiten, die gelebt wurden, sind hier maßgebend. (VI, 88f.)75 (Hervorhebung der Vf.)
Benjamins Vergegenwärtigungspoetik besagt, dass ein jedes »unwiederbringliches Bild der Vergangenheit [...] mit der Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint [erkennt]« (I, 695; Hervorhebung der Vf.). Die Erfahrung der Ähnlichkeit bildet also die Basis für eine Vergegenwärtigung von Vergangenem. Ulrichs Vision eines synthetischen Gleichnisses liegt auch das Prinzip der Ähnlichkeit zugrunde – wohlgemerkt der Ähnlichkeit in der Differenz, ein Prinzip, das sich im Benjamin’schen Begriff der ›Konstellation‹ manifestiert. Diese ergeben sich nämlich – um mit Rilke zu reden und dabei den Sinn seiner Worte etwas abzuwandeln –, aus ›gespannten Bezügen‹.76 Wie Ulrichs Gleichnis bedürfen solche Konstellationen der sprachlichen Vermittlung. Heinz Eitam spricht in diesem Sinne von »syn-taktische[n] Konstellation[en], die sprachlicher [...] Natur sind«.77 Dass die Vergegenwärtigung von Vergangenem im Zeichen der Erfahrung steht, drückt sich aber nicht nur in der Verknüpfung vom exponierten, für dieses Geschehen konstitutiven Prinzip der Ähnlichkeit mit Benjamins Erfahrungsbegriff aus, sondern es äußert sich auch in der Bestimmung von Vergegenwärtigung als ›monadischem‹ Prozess.78 Bezüglich der Qualität von Erinnerung, die von einem solchen Primat der Erfahrung bestimmt wird, kann man mit O.G. Oexle konstatieren: Das Erinnern hat sich nicht nur »aus den Bezügen der Metaphysik gelöst«, hat (wie
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Vgl. in diesem Zusammenhang Benjamins Beschäftigung mit Baudelaire und seinem Begriff der correspondances. Vgl. Benjamins Notizen zum Passagen-Werk: »[...] jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.« (V, 578) Vgl. auch V, 595: »Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. […] Sie ist [...] da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.« Eitam: Discrimen der Zeit, 446. Vgl. V, 594.
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auch der Erfahrungshorizont des Erinnernden) den »Bezug zur ontischen Realität verloren«,79 – einen Bezug, den Maltes Spiegelungsvision, die Erinnerungspoetik des Puppenessays und Törleß’ quasi-mystische Übungen wieder herzustellen versuchen –, sondern sich im wesentlichen aus dem Raum des Kollektivs zurück in eine Sphäre genuin individueller Erfahrung zurückgezogen. Um kurz auf Rilke und seine identifikatorische Beziehung zur Puppe zurückzukommen: Ist die Puppenerinnerung ein ›Vorwand‹, so ein »vom Ureigensten handelnd[er]«. Dem Prinzip des ›Ureigensten‹ steht in den hier betrachteten Dichtungen und Poetiken – und das ist das Paradoxe daran – ein Totalitätsprinzip gegenüber, das der jeweils entfalteten Einheitsvision zu Grunde liegt. Die Aporie, die sich aus diesen widerstrebenden Prinzipien ergibt, lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen. In Rilkes ›Ureigenstem‹ stellt sich das ›Vollendete‹ nämlich nicht dar. Bei diesem Dichter bildet die höchst individuelle Erfahrung von Ähnlichkeit in Form wie auch immer gearteter identifikatorischer Beziehungen zwar die Basis für die Herstellung der ersehnten Einheit, aber gelingt dieses, so in Form einer ›Konstellation‹ zweier in einen Bezug ›eingespannter‹ Gegenüber, die Rilkes totalisierendem Polaritätsdenken zufolge zur Wirklichkeit wird: zur Wirklichkeit schlechthin. Letztlich bedeutet das aber eine Reduktion ›unserer aller‹ Wirklichkeit auf einen solch verabsolutierten ›gespanntesten Bezug‹. Benjamins ›Telos der Fülle‹ wohnt ein Totalitätsprinzip inne, das ebenso problematisch ist wie das Rilke’sche, aber die Gründe für die Unerfüllbarkeit der im Zeichen dieses Prinzips stehenden Visionen, die Benjamin und Rilke ›vorschweben‹, sind so verschieden wie die Visionen selbst. Einer potentiellen Einheit, die aus unendlich vielen Erfahrungen besteht, die aber nie alle ›eingeholt‹ werden können,80 steht eine, wenn nicht verhinderte, – eine durch die Unfähigkeit, »Bezug in [sich] zu reißen«81 verhinderte –, so doch in der oben erörterten Weise reduktionistische Einheit gegenüber, die als solche
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O.G. Oexle: »Die Gegenwart der Lebenden und der Toten – Gedanken über Memoria«. In: Karl Schmid (Hrsg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, Freiburg 1985, 101. Vgl. Benjamins Anmerkungen zum Aufsatz Über den Begriff der Geschichte: »Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tage entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.« (I, 1239; Hervorhebung der Vf.) Vgl. »Vor Weihnachten 1914«: »O daß / du immer wieder wehren mußt: genug, / statt: mehr! zu rufen, statt Bezug / in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche? / Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche?« (II, 95–98)
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dem erhobenen Anspruch auf Totalität nicht wirklich gerecht wird. Um diesem Anspruch zu genügen, müßte man ›gespanntesten Bezug‹ mit dem ›idealen‹ Gegenüber herstellen: mit Gott. »Der aber wollte noch nicht«, so der lakonische Schluss der Aufzeichnungen.82 Allerdings würde, wenn dieser ›wollte‹, Malte nicht mehr schreiben, sondern nur noch ›geschrieben werden‹; sein dichterisches Credo, das der Apologie einer ›Erfahrungsdichtung‹ gleichkommt, würde also außer Kraft gesetzt werden. Das tröstliche Fazit, das man angesichts solcher Aporien ziehen könnte, lautet: Gerade von der Nichteinlösbarkeit solcher Einheitsvisionen lebt letztlich die Dichtung derer, die diese Visionen dichterisch beschworen haben. Der letzte Rest an noch nicht Eingeholtem, den die von Benjamin vorgeschlagene »kulturdialektische Methode« zur Herstellung der Apokatastasis hinterlässt, sichert die Existenz und Legitimierbarkeit einer Dichtung, die auf dem Primat der Erfahrung beruht, bis in alle Ewigkeit. Dieses Primat vereitelt aber zugleich die Erfüllung des Anspruchs, den eine solche Dichtung erhebt. Ähnlich verhält es sich mit den Visionen, die Musils und Rilkes Dichtungen entfalten: Diese wollen in der Dichtung eingelöst werden – so die poetologische Prämisse, die hier aufgestellt wird –, doch in der hier ›geübten‹ Form von Dichtung können sie zwar beschworen, nicht aber verwirklicht werden. Lapidar ausgedrückt: Dadurch wird der Weg zum Ziel. Würde es Törleß denn gelingen, den Dualismus, der seine ›Verwirrungen‹ verursacht, ganz aufzuheben, fände Malte seinen Spiegel, so würden sie damit ›ihrer‹ Dichtung die Grundlage entziehen. Löste sich die Forderung, die die Verse für Lotte Pritzel aussprechen, wirklich ein, will sagen, gelänge dem Dichter die Herstellung ›gespanntesten Bezugs‹ im Sinne einer einmaligen, absoluten ›Aufhebung‹ der zuvor erfahrenen Entzweiung, so würde das Gedicht, das dieses Moment ›fest-hält‹, zu einem ›poem to end all poems‹. Was für das mystische Sprechen gilt, trifft auch hier zu: Das noch nicht Vereinigte bzw. nicht ganz oder nicht mehr Vereinigte ist der Geltungsbereich dieser Dichtung. Die individuelle Erfahrung, auf der sie beruht, lässt sich von einem totalisierenden Prinzip nicht vereinnahmen. Hierin liegt wohl der Grund, warum die hier betrachteten Dichtungen sich auf das Beschreiben von (imaginierten) Wegen zur Einlösung der jeweils entfalteten Einheitsvision, – und das heißt von Wegen dichterischen ›Mündig-Werdens‹ – verlegt haben, statt zu versuchen, die ersehnte Einheit selbst ›hervorzu-rufen‹.
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Rilke: Werke VI, 946.
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3.2. Steine im Mosaik: Versuch einer Traditionsfindung 3.2.1. Rückblicke: Hölderlins (erinnerungs-)poetologisches Erbe Ähnlich wie Törleß’ sexuell-epistemologische Verwirrungen, die aus der individuellen Erfahrung eines einzelnen Adoleszenten erwachsen, aber dabei geradezu universelle Aporien aufwerfen, für die der Autor im monumentalen ›Folgeroman‹ ›globale‹ Lösungsversuche anbietet, erheben Rilkes und Benjamins visionäre Erinnerungspoetiken, obschon sie in starkem Maße auf dem Individuellen zu fußen scheinen, einen bereits bemerkten, da bemerkenswerten, je anders einzulösenden Totalitätsanspruch. Am Eingang einer letzten Reihe von – wenn man so will – rondohaft ausladenden und auf bereits Erörtertes rekurrierenden Betrachtungen möchte ich bei dieser Erkenntnis ansetzen und an dieser Stelle im Sinne des angekündigten Zieles des dritten und letzten Kapitels dieser Arbeit einen bestimmten historischen Kontextualisierungsversuch vornehmen: Rilkes, mehr noch aber Benjamins Erinnerungspoetik soll punktuell in Bezug zur wohl emphatischsten Apologetik dichterischen Erinnerns gesetzt werden, die in der deutschsprachigen Literatur bis dato formuliert wurde: der Hölderlin’schen. Es kann hier nicht darum gehen, die vielen Facetten dieser vielerorts und in variierenden Formen zum Ausdruck gebrachten Erinnerungspoetik zu erörtern, sei es in solch theoretischen Schriften wie »Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes« (»Wenn der Dichter einmal...«)83 oder dem Homburgischen Fragment »Das Werden im Vergehen« (»Das untergehende Vaterland«...)84, sei es in Gedichten aus allen Werkstufen – am komplexesten und auch dunkelsten wohl in den beiden dem Thema Erinnern ausdrücklich gewidmeten ›letzten Hymnen‹ »Mnemosyne« und »Andenken«85 –, sei es in Hölderlins einzigem Roman, Hyperion.86 Wenn aber, wie diese Texte auf je unterschiedliche Weise bezeugen, das – wohlgemerkt – dichterische Erinnern eine nicht zu unterschätzende Rolle für Höl-
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Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band IV.1, Stuttgart 1961, 241–265. Hölderlin: Werke IV.1, 284–287. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band II.1, Stuttgart 1951, 188f. und 197f.. Als Hölderlins ›letzte Hymnen‹ – so die von Jochen Schmidt in seiner Studie aus dem Jahr 1970 verwendete Bezeichnung –, die sich beide dem Thema Erinnern widmen, ragen diese beiden Gedichte hervor. In: Friedrich Hölderlin: Sämtiche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band III, Stuttgart 1957, 14–160.
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derlins Poetik und seine in starkem Maße poetologisch geprägte Dichtung spielt, dann nicht zuletzt, – so eine traditionsreiche, gut zu belegende These –, kraft seiner Kapazität zur Bildung eines geschichtlichen Bewusstseins.87 Dies wird vielerorts als die wohl vornehmlichste Aufgabe ›Hölderlin’schen‹ Erinnerns und zugleich als die höchste Legitimation seiner dichterischen Praxis gewürdigt.88 Der erinnernde, und das heißt auch erinnerungsfähige Dichter als Garantor bzw. Erzeuger eines in welchem Sinne auch immer gemeinten und benötigten geschichtlichen Bewusstseins89 spielt nicht zu-
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Vgl. Helmut Hühn, der in Bezug auf »Das untergehende Vaterland...« auf die von Bachmaier bereits betonte Schlüsselstellung der Erinnerung im Entwurf verweist, und zwar als Agens, das zur Ausbildung »des geschichtlichen Bewußtseins im Übergangsgeschehen« benötigt wird. Helmut Hühn: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart 1997, 128; vgl. Helmut Bachmaier: »Hölderlins Erinnerungsbegriff in der Homburger Zeit«. In: Christoph Jamme / Otto Pöggeler: Homburg vor der Höhe der deutschen Geistesgeschichte, Stuttgart 1981, 131–160. Siehe auch Andreas Thomasberger: »Erinnerung – ihre konstituierende Bedeutung für Bewußtsein und Sprache bei Hölderlin«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 42 (1992), 312–325. In seiner theoretischen Schrift »Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes« weist Hölderlin dem Erinnern keine geringere Aufgabe als die der Vermittlung von Geist und Stoff zu. Läuft der Geist Gefahr, differenzlose Einheit bis hin zur »leeren Unendlichkeit« anzustreben, so droht dem Stoff, »in eine Unendlichkeit isolirter Momente« zu zerfallen. Angesichts dieser zweifachen Gefahr besteht die »lezte Aufgabe« des »poetische[n] Geist[es]« darin – so Hölderlin – »beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben« (»Wenn der Dichter einmal...«: Werke IV.1, 87). Die Erinnerung dient der fortwährenden Vergegenwärtigung des Geistes. Sie sorgt dafür, dass »der Geist nie im einzelnen Momente, und wieder einem einzelnen Momente, sondern in einem Momente wie im andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig bleibe [...]« (Werke IV.1, 251). Wie Fabian Stoermer diese Argumentation zusammenfasst, kommt der Erinnerung der Aufgabe zu, »Synthesis in der Zeit« zu schaffen; sie »weist [sich] als Medium aus, das über die Doppelperspektive des ›zeitlichen Mangels‹ (will heißen: Ermangelung der Zeit als Differenz) und des ›Mangels der Einigkeit‹ hinausführen kann«. Fabian Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion der Erinnerung. Über Gadamer, Derrida und Hölderlin, München 2002, 281; Hölderlin: Sämtliche Werke II, 83f.. Die Frage nach dem Geschichts- und somit auch Erinnerungsverständnis des jeweiligen Interpreten ist in der Tat entscheidend. Das Spektrum reicht von platonisch-anamnetischen über Hegelianisch-idealistische bis hin zu real-historischen und dekonstruktivistischen Modellen. Eine der vornehmlichsten Aufgaben, die Fabian Stoermers Untersuchung sich stellt, ist die enge Verbindung zwischen der Hermeneutik (Gadamerscher Provenienz) und einem anamnetischen Erinnerungsmodell aufzuzeigen. In der Hermeneutik finden wir »ein Denken der Erinnerung ausgehend vom anamnetischen Erinnerungsbewusstsein, das als Re-Präsentation einer vergangenen Gegenwart innerhalb einer li-
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letzt in Hölderlins sogenannten geschichtsphilosophischen Hymnen eine herausragende Rolle. Das poetische Argument dieser Dichtung, wie es etwa Jochen Schmidt in seiner Untersuchung dieser kanonischen Texte interpretatorisch nachvollzieht – stellvertretend gewissermaßen für eine große hermeneutische Tradition –, bildet einen wichtigen Ausgangs- und Bezugspunkt für Adornos programmatischen Aufsatz »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins« und somit auch für die hier vorgenommene Perspektivierung visionärer Poetologie in der klassischen Moderne. Es gilt, Schmidts Friedensfeier-Exegese etwas näher zu betrachten. Jochen Schmidt hat eine transparente, einleuchtende und einflussreiche Studie der »geschichtsphilosophischen Hymnen« Friedrich Hölderlins vorgelegt,90 darin er diese als reifen poetischen Ausdruck des deutschen Idealismus würdigt. Seine idealistische Lesart der Friedensfeier konzentriert sich auf das, was er als »[d]as beherrschende Gesamtbild« der Hymne identifiziert, nämlich den »zum ›Geist der Welt‹ gewordene(n) ›Vater‹«, der »sich zur Erde (neigt), um den Frieden zu feiern«.91 Wie Schmidt plausibel herausarbeitet: »Er [der Vater] ist der Fürst des Friedensfestes. Der Dichter sorgt bei diesem Fest für ›Kränze‹ und ›Mahl‹ und spricht die Einladungen aus [...].«92 Besonders interessant an Schmidts textnaher
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nearen Zeit, als Transzendenz der Zeit in die Gleichzeitigkeit eines Chronotops oder als dialektische Erfahrung der Zeit als Vermittlung verstanden wird«, so Stoermer (Hermeneutik und Dekonstruktion, 15). An anderer Stelle greift er diesen Gedanken wieder auf, indem er schreibt: »Da Gadamer die Aufgabe der Hermeneutik als Vermittlung zur totalen Gegenwärtigkeit bestimmt, ist es kein Zufall, dass er schließlich mit der Platonischen ANAMNESIS eine starke Konzeption der Erinnerung als Plausibilitätsressource der Hermeneutik in Anspruch nimmt« (Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 18). Dem Gadamer’schen Erinnerungsbegriff setzt er einen Derridianischen entgegen, der vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen »Befragung des Wertes der Präsenz in all ihren Formen« seitens der dekonstruktivistischen Philosophie betrachtet wird. Deren Gegenformel lautet: »Gedächtnis als Möglichkeit der Wiederholung als Wiederholung«, so Stoermer (Hermeneutik und Dekonstruktion, 116). In diesem Kontext kann ich lediglich andeuten, in welch starkem Maße literarische Deutungsansätze und Erinnerungstheoreme sich gegenseitig bedingen, so auch in den kontrastreichen, hier noch zu erörternden Deutungsansätzen Jochen Schmidts, Theodor W.Adornos und Eric L. Santners. Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. »Friedensfeier« – »Der Einzige« – »Patmos« (Darmstadt 1990). Schmidt zitiert die Hymnen nach der Großen Stuttgarter Ausgabe, herausgegeben von Friedrich Beissner. Die in meinem Text gemachten Verweise auf Hölderlins Späthymnen entsprechen der Zitierweise von Jochen Schmidt. Schmidt: Hymnen, 61. Schmidt: Hymnen, 61.
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Deutung der Friedensfeier ist die dem Dichter zugewiesene Rolle. Hölderlin entwickele eine »Konzeption von der geschichtlichen Aufgabe des Dichters, dessen antizipierendes Bewußtsein den Vollendungszustand der Allversöhnung zu imaginieren und damit in spezifisch dichterischer Weise zu induzieren [vermöge]«.93 Fabian Stoermer folgt Schmidt in etwa, wenn er, Bezug nehmend auf die »Vision der Präsenz«, die die Friedensfeier auszeichne, den Dichter – qua erinnernde Instanz – als entscheidendes Agens im Prozess der anvisierten Allversöhnung implizit würdigt. Die Friedensfeier »nähert sich weiter als irgend ein anderes Gedicht Hölderlins der Vision einer erinnernden Versammlung der Geschichte in die Allgegenwart des Göttlichen«, so Stoermer.94 Schmidt stellt Hölderlins Hymne eindeutig in die große Hegelianische Tradition, indem er hierin die triadische Struktur idealistischen Entwicklungsdenkens ausmacht, entdeckt er doch in Hölderlins Hymne das Motiv einer »dem Zustand ursprünglich-reiner Natur« zukommenden »Einfalt«, die letztlich »als eine geschichtlich und insofern geistig vollendete wiedergewonnen« werde.95 ›Einfalt‹ ist hier das eine erkennbare Telos, ›Totalität‹ das andere, denn, wie Schmidt den »endzeitlichen Festtag« einleuchtend auffasst, erscheine dieser als »Symbol der sich erst aus der endzeitlichen Überschau ergebenden Möglichkeit zur geistigen
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Schmidt: Hymnen, 61. Allerdings fügt er hinzu: »[...] und hält doch in der Zeit des Zeichens inne.« Die »Zeit des Zeichens« wird als Dimension, oder ›Heimat‹ der erinnernden (dichterischen) Instanz identifiziert. Diese sei zugleich ›Erfüllungszeit und -ort‹ der im Gedicht evozierten Vision. Hierin folgt Stoermer Schmidts Ortung des in Friedensfeier zelebrierten Ereignisses in den diesseitigen Raum, allerdings mit einer anderen Akzentuierung. Fabian Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 314. Diese Annäherung an Schmidts ›Idealismus-konforme‹ Deutung nimmt sich allerdings stark zurück, sobald Stoermer die Friedensfeier – »das großartige Tableau einer erinnernden Versammlung von Geschichte am ›Abend der Zeit‹« – in den Kontext des Gedichts »Andenken« stellt. Er vermerkt, wie in Friedensfeier »die bruchlose Erfüllung dieses Anspruchs« letztlich »versagt« und sieht hierin Ansätze einer Krise der Hölderlin’schen Erinnerungspoetik, die sich in der Ambivalenz der Haltung zum Erinnerungsvorgang in »Andenken« manifestiere. Er fragt sich nämlich, inwiefern das Gedicht den »Erinnerungsvorgang als Aufstieg zu einem höchsten, allumfassenden Bewusstsein konzipiert; oder ob [es] nicht, indem es eine Verlusterfahrung und die Abwesenheit von Kommunikation ins Gedächtnis ruft, noch mit seiner berühmten Schlusszeile [...] einem gemäßigteren Modell poetischer Erinnerung folgt«. Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 21. Vgl. die Ausführungen zu Santners Deutung von »Andenken« weiter unten. Schmidt: Hymnen, 68.
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Integration alles geschichtlichen Einzelgeschehens in ein Gesamtbild«.96 Er fährt fort: Am Ende der Zeit entfaltet deshalb der oberste Gott ein ›Zeitbild‹ (V. 94). Es ist zugleich ›sein Bild‹ (V. 87): Bild der obersten Gottheit selbst. [...] Im unabgeschlossenen Geschichtsprozeß ist noch kein ›Bild‹ möglich, weil die Konturen noch nicht feststehen. [...] erst aus dem abgeschlossenen Ganzen heraus kann sich der Einzelne seinen Ort in der Geschichte bestimmen und damit zu einem vollendeten Selbstbewußtsein gelangen. [...] der Geschichtsprozeß [ist] auch ein Bewußtseinsprozeß.97
Im dichterischen Wort vom ›Hören des Werks‹ (V. 29) sieht Schmidt das »erst am Ende der Geschichte« stehende Ereignis, nämlich den Moment, in dem das »Bewußtsein von der sinnvollen Ganzheit der Geschichte« sich einstelle.98 In diesem Prozess spielt der Dichter, wie bereits bemerkt, eine privilegierte Rolle, zeichnet er sich doch durch ein »geradezu antizipatorisches Gespür« aus, »kann er als erster das nahende Vollendungsstadium wahrnehmen«; aus diesem Grund »ist er als erster und in besonderem Maße zum geschichtebildenden Bewußtsein fähig«, so Schmidt.99 Wie dieser betont, ist der so konzeptualisierte Geschichtsprozess nicht utopisch gedacht, sondern chialistisch bzw. eschatologisch. Nicht jenseits der Geschichte, in einem transzendenten und als solchem nie wirklich zu erreichendem Zeit-Raum erfolgt die antizipierte Versöhnung, sondern weltimmanent. »Gerade die chiliastische Hereinnahme des Vollendungsstadiums in den Raum der diesseitigen Geschichte gibt einen der entscheidenden Anstöße für die geschichtsphilosophisch säkularisierende Spekulation des deutschen Idealismus«, so Schmidt, der Hölderlins Friedensfeier als den »größte[n] dichterische[n] Ausdruck dieses [chiliastischen] Denkens und, neben Hegels Versöhnungsphilosophie«, auch als »das anspruchsvollste philosophische Zeugnis« bezeichnet.100
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99 100
Schmidt: Hymnen, 82. Schmidt: Hymnen, 82. Schmidt: Hymnen, 82; Hervorhebung der Vf.. Bernhard Böschenstein beschreibt die Friedensfeier als einen »Text, der (wie kein anderes Gedicht Hölderlins) Totalität darstellen will«, der – gerade deswegen? – »[n]icht als das Zeugnis eines Geschehenen, sondern eines zuletzt doch noch Erhofften, niemals Aufgebbaren [...] gelesen werden und seine Wirkung erhalten (kann)«. Bernhard Böschenstein: »Das Gastmahl am Abend der Zeit. Zu Hölderlins ›Friedensfeier‹. In: ›Der du von dem Himmel bist‹. Über Friedensgedichte. Hrsg. v. W. Böhme, Karlsruhe 1984, 60–69; hier 60. Schmidt: Hymnen, 83 Schmidt: Hymnen, 87f.. Mit Blick auf die Schlussstrophen des Gedichts unter-
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Schmidt entfaltet im Wesentlichen zwei teleologische Dimensionen – ›Einfalt‹ und ›Totalität‹. Er hebt letztere hervor, indem er auf eine der, wie er meint, »fremdartigsten Vorstellungen« im Text zu sprechen kommt, nämlich jene, »daß am Ende der Zeit alles geschichtlich Gewesene wiederkommt«.101 Er zitiert dabei Origines‹ Lehre von der »apokatastasis panton, von der versöhnenden ›Wiederbringung aller Dinge‹ am Weltende« und sieht hierin »das Grundmuster für das zentrale endzeitliche Geschehen in der ›Friedensfeier‹«.102 Dabei verwandele sich Sukzession in Simultaneität, Aufeinanderfolge in Gleichzeitigkeit. Erst in diesem Moment am Ende der Geschichte (kommt) alles einzelne, das in ihr gewirkt hat, wahrhaft zu sich selbst [...], weil es erst im Ganzheitshorizont seines eigenen Stellenwerts im Ganzen der Geschichte, und das heißt: seiner wahren Identität, inne zu werden vermag.103
So weit Jochen Schmidts Hölderlin-Interpretation. Hier ist nicht der Ort, um eine differenzierte Lektüre von Hölderlins epochaler Friedensfeier vorzunehmen. Hier ist auch nicht der Platz für eine ausladende Diskussion über die Rolle, die dem dichterischen Erinnern im Werk Hölderlins zukommt. Was in diesem Zusammenhang interessiert, ist zum einen die exegetische Tradition, die Hölderlins Erinnerungspoetik in den Kontext seiner Rolle als dichtenden Nachvollziehers der idealistischen Philosophie stellt und dabei das Bild Hölderlins sowie die mit ihm verknüpfte Apologetik dichterischen Erinnerns und erinnernder Dichtung nachhaltig geprägt hat, sind zum anderen Momente des Dissenses, der sich aus derselben poetologischen Dichtung speist und unterschiedliche Lesarten derselben provoziert. Der Titel von Adornos programmatischem Aufsatz liefert schon das Schlüsselwort für seine Auseinandersetzung mit dem ideengeschichtlich gesättigten Hölderlinbild, das er vorfindet und zu bekämpfen sucht: »Parataxis«.104 Dies ist das Stichwort für eine Verlagerung des ideellen
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streicht Peter Szondi wiederum die utopische Dimension der hier entfalteten Vision. Der »Zeitpunkt des allversammelnden Festtags, den die Hymne beschwörend fast schon in die Gegenwart hineingehoben hat«, erscheine »doch in seinem wahren, nämlich utopischen Wesen«: »das futurische Moment tritt nun, da sich der Dichter von seinem Gedicht gleichsam entfernt, deutlich hervor«. Szondi: Einführung in die Hermeneutik, 402. Schmidt: Hymnen, 92. Schmidt: Hymnen, 93. Schmidt: Hymnen, 93; Hervorhebung der Vf.. Von Adornos Attacke auf Heideggers Hölderlinexegese will ich hier absehen,
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Schauplatzes, die auch den Gang meiner Erörterungen vorübergehend vom Topos des dichterischen Erinnerns ablenken wird. Adorno bereitet seine gewissermaßen ›gegen den idealistischen Strich gebürstete‹ Lesart der kanonischen Hölderlintexte vor, indem er sich auf Benjamins Begriff des ›Gedichteten‹ bezieht als das »der Philologie sich entziehende Moment«. »Das Dunkle an den Dichtungen, nicht, was in ihnen gedacht wird, nötigt zur Philosophie«, so Adorno.105 Das, was »emphatisch wahr« ist, das »›mehr als bloß Gemeinte‹«, das, was das »Gefüge« eines Gedichts, »die Totalität seiner Momente«, den »›ästhetischen Schein‹« übersteigt, findet Adorno in der »Konfiguration der Momente, die, zusammengenommen, mehr bedeuten, als das Gefüge meint« und was uns zeigt, »[w]ie mächtig die Sprache, dichterisch gebraucht, über die bloß subjektive Intention des Dichters hinausschießt«.106 ›Intention‹ heißt hier idealistischer Hypertext, denn illustriert wird das Prinzip des ›Gedichteten‹ an einer vom Identitätsdenken geprägten Hölderlin’schen ›Vaterlandshymne‹ – bzw. zunächst an einer bestimmten sprachlichen »Konfiguration«, die eine, so Adorno, antithetische statt eine synthetisierende Struktur schafft. In dieser Struktur sieht Adorno eine Gegenbewegung zur Diskursivität der späten ›Vaterlandshymnen‹.107 Adorno ordnet den ›manifesten‹ Ausdruck idealistischen Einheitsdenkens in den Hymnen dem Bereich des ›Intentionalen‹ zu, den er nicht leugnen, jedoch ›kleinreden‹ will. Indem er das ›Gedichtete‹ der manifesten »subjektiven Intention« des Textes entgegensetzt, meint er das, was er als diskursiven Sinnüberschuss betrachtet, aus dem Weg räumen zu können, um die »wahrhafte« – und das heißt parataktische Struktur der späten Hymnik freilegen zu können. Indem er sozusagen die ›Unterseite‹ der Hölderlin’schen Hymne nach oben kehrt, schickt sich Adorno an, Literaturgeschichte neu zu schreiben.108
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obwohl sie viel Raum in seinem Aufsatz beansprucht. Adorno bezichtigt Heidegger einer »billige[n] Heroisierung des Dichters als des politischen Stifters« und opponiert »wider den [von Heidegger kultivierten] irrationalistischen Dogmatismus und den Ursprungskult«, sprich: gegen einen Interpretationsansatz, der aus (individual-)geschichtlicher Erinnerung ontologische Seinsanamnese macht. Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«. In: ders.: Noten zur Literatur III, Frankfurt am Main, 1974, 450. Adorno: »Parataxis«, 451. Vgl. Adorno: »Parataxis«, 451. In etwa zeitgleich spricht Szondi von einer in der letzten Strophe durchbrechenden »Gegenkraft, die alles in Frage zu stellen scheint«. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/Mn. 1975, 340.
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Nicht zuletzt die in Adornos Parataxis-Aufsatz zu Tage tretende Koppelung einer Idealismuskritik mit einer Sprachkritik macht diesen im Kontext der vorliegenden Untersuchung so interessant. Diese erfolgt über eine Diskussion über den Gebrauch von Abstrakta in Hölderlins Spätdichtung, deren profilierte Stellung in den nach 1800 verfassten Texten bemerkt wird. Indem er erneut auf dem oppositionellen Verhältnis von ›Gedankenlyrik‹ und ›Gedichtetem‹ insistiert, schreibt Adorno über die Späthymnen: »Vorweg ähneln sie einladend dem Medium der Philosophie, die freilich, wenn sie ihre Idee des Gedichteten verbindlich faßte, gerade vor der Kontamination mit gedanklichem Material in der Dichtung zurückschrecken müßte.«109 Aus Adornos Sicht dienen »die Hölderlin’schen Abstrakta« weder einem philosophischen Programm, noch öffnen sie sich einer ontologischen (sprich: Heideggerschen) Bestimmung. Sie sind: so wenig wie Leitworte Evokationen von Sein unmittelbar. Ihr Gebrauch wird determiniert von der Brechung der Namen. [Hervorhebung der Vf.] In diesen bleibt stets ein Überschuß dessen, was sie wollen und nicht erreichen. Kahl, in tödlicher Blässe verselbständigt er sich gegen sie. Die Dichtung des späten Hölderlin polarisiert sich in die Namen und Korrespondenzen hier, dort die Begriffe. Ihre allgemeinen Substantive sind Resultanten: sie bezeugen die Differenz des Namens und des beschworenen Sinnes. Ihre Fremdheit, die wiederum erst der Dichtung sie einverleibt, empfangen sie dadurch, dass sie von ihrem Widerpart, den Namen, gleichsam ausgehöhlt wurden. Sie sind Relikte, capita mortua dessen an der Idee, was nicht sich vergegenwärtigen lässt: noch in ihrer anscheinend zeitfernen Allgemeinheit Male eines Prozesses. Als solche aber so wenig ontologisch wie das Allgemeine in der Hegelschen Philosophie. Eher haben sie, nach deren Tenor, ihr eigenes Leben, und zwar kraft ihrer Entäußerung von der Unmittelbarkeit. Hölderlins Dichtung will die Abstrakta zu einer Konkretion zweiter Potenz zitieren.110
In der hier propagierten, ›anti-diskursiven‹ Poetik findet man Anklänge an die seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit zunehmender Eindringlichkeit erhobene Klage über die Defizienz der begrifflichen Sprache. Hofmannthals Lord Chandos wird zum eminentesten Zweifler an der Signifikationskraft der Begriffe überhaupt, und Musils Törleß stimmt in diesen sprachkritischen Diskurs ein. Wie Adorno über fünfzig Jahre später konstatiert, ist die Sprache »vermöge ihres signifikativen Elements, des Gegenpols zum mimetisch-ausdruckhaften, an die Form von Urteil und Satz und damit an die synthetische Funktion des Begriffs« gekettet, 109 110
Adorno: »Parataxis«, 463. Adorno: »Parataxis«, 463f.
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– dies eine Funktion, die Adorno überaus pejorativ wertet, ohne ihre Notwendigkeit leugnen zu können. Wie er kampflos einräumen muss, sei es Hölderlin lediglich gelungen, die »traditionelle Logik der Synthesis [..] zart (zu suspendieren)«.111 In seiner ›re-vidierenden‹ Lektüre Hölderlins setzt Adorno also nicht bei den Begriffen selbst an, die naturgemäß der »Logik der Synthesis« entspringen und daher dieser nicht entrinnen können, sondern bei der Anordnung bzw. Konfiguration der Abstrakta. Hier lässt er sich von Walter Benjamins Begriff der ›Reihe‹ inspirieren und zitiert seine Interpretation der Friedensfeier, wonach »um die Mitte des Gedichts Menschen, Himmlische und Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten Ordnungen zueinander gereiht sind«.112 Die hier entfaltete Vision deutet etwas viel Radikaleres als ›zarte Suspendierung‹ der »traditionellen Logik der Synthesis« an: Sie birgt ein ikonoklastisches Moment, das den im Zeichen des Idealismus zum Helden stilisierten Dichter betrifft sowie die Dichtung, die ihn hervorbringt und angeblich so emphatisch feiert. In Benjamins Begriff der Reihe ist unschwer eine Korrelation zu dem von Adorno verfochtenen parataktischen Prinzip zu erkennen, das in Hölderlins Dichtung – so Adorno – immerzu gegen die hypotaktische Grundstruktur der Dichtung opponiere. Wie Adorno schreibt, »fallen als kunstvolle Störungen« [der »kühn durchgebildete(n) hypotaktische(n) Konstruktionen«] Parataxen auf, welche der logischen Hierarchie subordinierender Syntax ausweichen«.113 Hölderlin ziehe es »unwiderstehlich [...] zu solchen Bildungen«.114 Weitaus emphatischer als in seiner Interpretation der Friedensfeier opponiert Adorno hinsichtlich seiner Lektüre des »Einzelnen« (zweite Fassung) gegen Schmidts Idealismus-konforme Hermeneutik und profiliert dabei die bereits der Hymne Friedensfeier attribuierten »kunstvolle[n] Störungen« »kühn durchgebildeter hypotaktischer Konstruktionen«. Hierin meint Adorno einen Angriff gegen den vermeintlichen Grundgedanken dieses zum Kanon einer idealistischen Literatur zu rechnenden Textes zu entdecken und setzt in seiner Deutung einer Passage dieses Textes zum Plädoyer für eine anti-idealistische Lesart an.115 Er schreibt:
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Adorno: »Parataxis«, 471. Vgl. Adorno: »Parataxis«, 471; Hervorhebung der Vf. Adorno: »Parataxis«, 471. Adorno: »Parataxis«, 471. Die Verse lauten: »[...] Seit nämlich böser Geist sich / Bemächtiget des glüklichen Altertums, unendlich, / Langher währt Eines, gesangsfeind, klanglos, das / in Maasen vergeht, des Sinnes gewaltsames[...]« Hölderlin: Werke II.1, 159; vgl. Adorno: »Parataxis«, 472.
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Die Anklage gegen die Gewalttat des sich zum Unendlichen gewordenen und sich vergottenden Geistes sucht nach einer Sprachform, welche dem Diktat von dessen eigenem synthesierenden Prinzip entronnen wäre. Daher das abgesprengte ›Diesmal‹; die rondohaft assoziative Verbindung der Sätze; die zweimal verwendete, vom späten Hölderlin überhaupt begünstigte Partikel ›nämlich‹. Sie rückt folgerungslose Explikation anstelle eines sogenannten gedanklichen Fortgangs. Das verschafft der Form ihren Vorrang über den Inhalt, auch den gedanklichen. Er wird ins Gedichtete transportiert, indem die Form ihm sich anbildet und das Gewicht des spezifischen Moments von Denken, der synthetischen Einheit, herabmindert. Derlei von der Fessel wegstrebende Gefüge finden sich an Hölderlins erhobensten Stellen [...]116
Die eindeutige Privilegierung von Form über Inhalt, die Adorno hier vornimmt, kommt einer programmatischen Privilegierung des Parataktischen über das ›Hypotaktische‹ gleich, die jetzt nicht mehr als eine quasi-subversive, gegen die manifeste Intention des Dichters arbeitende, vom Prinzip des nicht willentlich gesteuerten ›Gedichteten‹ bestimmte Dimension des Textes aufgefasst, sondern als überaus willentliches ›Störungsmanöver‹ gedeutet wird. Das Besondere und Entscheidende an dieser Argumentation ist die Rolle, die der Sprache selbst in der im Parataxis-Aufsatz hypostasierten dichterischen Entwicklung Hölderlins zugeschrieben wird. Diese thematisiert Adorno im Anschluss an seiner Patmos-Interpretation wie folgt: Der geschichtsphilosophische Rhythmus, der den Sturz der Antike und das Erscheinen Christi zusammenfügt, wird unterbrechend markiert durch das Wort ›Oder‹; dort, wo das Bestimmteste genannt ist, die Katastrophe, wird diese Bestimmung als vorkünstlerisch, als bloß gedanklicher Inhalt, nicht in fester Urteilsform behauptet, sondern gleich einer Möglichkeit vorgeschlagen. Der Verzicht auf prädikative Behauptung nähert ebenso den Rhythmus einem musikalischen Verlauf an, wie er den Identitätsanspruch der Spekulation mildert, die sich anheischig macht, Geschichte in ihrer Identität mit dem Geist aufzulösen.117
›Prädikation‹ und ›Urteil‹ sind hier die Schlüsselwörter und müssen als im Wesentlichen synonym gedacht werden. Die konstitutive Rolle, die das dialektische Identitätsdenken Hölderlin’scher Provenienz sprachlichen Operationen zuschreibt, deutet sich im Fragment »Urtheil und Seyn« an, wo der Akt der Prädikation als Teil eines triadisch-dialektischen Prozesses aufgefasst wird, der dem dialektischen Gang der Geschichte strukturell gleichgesetzt wird. Hölderlin schreibt:
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Adorno: »Parataxis«, 472. Adorno: »Parataxis«, 472f.; Hervorhebungen der Vf..
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Urteil ist im höchsten und strengstem Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur=Theilung.118
Aber Adorno fasst den Akt des ›Urteilens‹ nicht im Sinne Hölderlins als ›Ur-Theilung‹ auf; vielmehr versteht er ihn als eine ›Identität‹ schaffende Operation, – wobei der Begriff ›Identität‹ wohlgemerkt einen überaus negativen Sinn erhält. Adornos Angehen gegen den »Identitätsanspruch der (idealistischen) Spekulation«119 äußert sich letztlich in Form einer Kritik an der prädikativen Sprache als einer Sprache der Gewalt. Grammatische Strukturen, die eine solche prädikative Funktion erfüllen, identifiziert Adorno als Instrumente einer solchen Gewalt, als Vehikel gewaltsamer Identifikation. In ähnlichem Sinne ist Adornos Angehen gegen die »Logik der Synthesis«, deren »zarte Suspendierung« in Hölderlins Friedensfeier zelebriert wird, zu verstehen. Adornos Angriff auf die ›prädizierende‹ Sprache als Sprache der Vereinnahmung und der Gewalt geht einher mit der besagten ›Chiffrierung‹ des Begriffes ›Hypotaxis‹ und – in einem weiteren Schritt – mit einer Übertragung der Kritik an diesem Phänomen auf eine als hypotaktisch gedachte Form der Narrativität, die Geschichte zu einem mit homogenem, moralischem Sinn angefüllten Kontinuum macht. Zunächst interessiert hier letzterer Gedankengang: die Stilisierung des Begriffs ›Hypotaxis‹ und dessen Ummünzung in eine kritische Kategorie, die für Adornos Idealismus- (und Historismus-)Kritik dienstbar gemacht werden soll. In Hinblick auf Adornos rhetorischen Feldzug gegen die Tradition, als deren dichterischer Repräsentant Hölderlin hoch geschätzt wird, ist eine wenige Jahre vor dem Erscheinen von Schmidts Studie entstandene Hölderlin-Interpretation interessant: Eric L. Santners Monographie mit dem Titel Friedrich Hölderlin. Narrative Vigilance and the Poetic Imagination (1986). Die Beschäftigung mit ihren Hauptthesen ist hier insofern fruchtbar, als sie sich einerseits von Hayden Whites metahistorischem Ansatz inspiriert und sich andererseits geradezu als Konsequenz dieser theoretischen Orientierung Adornos im Parataxis-Aufsatz dargelegter HölderlinExegese verpflichtet zeigt. Eingangs schon bekundet Santner die Absicht,
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»Urtheil und Seyn«. In: Hölderlin: Werke 4.1, 216; vgl. Eric L. Santner: Friedrich Hölderlin: Narrative Vigilance and the Poetic Imagination, New Brunswick 1986, 46. Adorno: »Parataxis«, 473.
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Hölderlins ›soteriologische‹ Geschichtsvision, seine besondere Version der ›Heilsgeschichte‹ außen vor zu lassen und den Blick auf »moments of opposition to that vision« zu richten.120 Nicht zuletzt im Hinblick auf Benjamins Historismus-Kritik und die von ihr mitbedingte Erinnerungspoetik sind Santners von der Beschäftigung mit Hölderlin inspirierte, aber über sein Werk hinausweisende Reflexionen über das narrative Prinzip schlechthin äußerst aufschlussreich. Santner schreibt: »I shall understand narrative as that cultural modality« – eine, die sich wohlgemerkt nicht auf »real narratives« beschränkt –, »in which the ›side-by-sideness‹ of events in time – time’s ›parataxis‹ – is ›redeemed‹ [...] transmuted into an image of continuity and belonging together within the unity of a narratological form«. Kurzum: Santner versteht ›narrative‹ als »the force that transforms a moment in time into the structural moment of a whole […]«.121 Anders ausgedrückt stellt Narration »(the) transformation of the contiguous into the continuous«122 oder, um mit Frank Kermode zu reden: die Verwandlung von chronos in kairos dar, wodurch »that which was conceived of as simply successive becomes charged with past and future« – dies eine ›synthetische‹ Leistung der narrativen Imagination, die die Zeit besiege bzw. erlöse.123 Hayden Whites Theorie über den Zusammenhang zwischen Narrativität und Historiographie, auf die sich Santner bei seiner Hölderlin-Deutung stützt, ist in diesem Kontext erhellend. In der Geschichte der europäischen Historiographie erkennt White eine Entwicklung von einer radikal ›realisti120
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Santner: Narrative Vigilance, ix. Dies tut er aber gerade, indem er das narrative Element der Hölderlin’schen ›Heilsgeschichte‹ im Kontext einer allgemeinen Kritik an narrativer Geschichtsschreibung problematisiert. Santner: Narrative Vigilance, 4. Santner: Narrative Vigilance, 5; vgl. Roman Jakobson: »Linguistics and Poetics«. In: T.A. Sebeok (Hrsg.): Style in Language, Cambridge, Mass. 1960, 350–377; hier 370f.. Frank Kermode: The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction (Oxford 1967, 46); vgl. Santner: Narrative Vigilance, 4f.. Kermode unterscheidet die Begriffe chronos und kairos folgendermaßen: »[…] chronos is ›passing time‹ or ›waiting time‹ – […] and kairos is the season, a point in time filled with significance, charged with a meaning derived from its relation to the end.« In Bezug auf die christliche Heilsgeschichte, die dieser Unterscheidung Sinn verleiht, spricht Kermode von kairoi als »historical moments of intemporal significance«. »The divine plot is the pattern of kairoi in relation to the End. […] The notion of fulfilment is essential; the kairos transforms the past, validates Old Testament types and prophecies, establishes concord with origins as well as ends.« Kermode: Sense of an Ending, 47f.; vgl. Santner: Narrative Vigilance, 4ff.
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schen‹ Darstellung der Zeit in frühen historiographischen Formen – Annalen und Chroniken – , die er als »paratactical and endless« bezeichnet, hin zu einer »clear hypotactic ordering of [...] events«.124 Nach White ist dies eine Entwicklung, die in der christlichen Heilsgeschichte kulminiert.125 Wie M.H. Abrams bereits überaus systematisch gezeigt hat,126 liefert die christliche Heilsgeschichte das narrative Muster für triadische Geschichtsmodelle, die Muster individueller Bewusstseinsentwicklung zum Paradigma für kollektive Entwicklungsprozesse, und somit auch Geschichte im allgemeinen erheben. Als ›hypotaktisch‹ strukturierte Muster werden solchen Prozessen zwei Hauptmerkmale zugeschrieben: »closure« (Geschlossenheit) und »moral meaning« (moralischer Sinn). Wie White argumentiert, verspricht narrative Geschlossenheit eine bestimmte Wahrnehmung der Abfolge von Ereignissen. Für den Betrachter werde diese als »icon of a comprehensible finished process« erkennbar.127 Moralischer Sinn setzt Geschlossenheit voraus. Und Geschlossenheit benötigt wiederum Narrativität. Diese casts its light back over the events originally recorded in order to redistribute the force of a meaning that was immanent in all the events from the beginning. […] the plot of a narrative imposes a meaning on the events that comprise its story level by revealing at the end a structure that was immanent in the events all along.128
Was sich uns als »comprehensible finished process« anbietet, wird als eine Art »moral drama« verstanden: »The demand for closure in the historical story is a demand […] for moral meaning.«129 Eric L. Santner bezieht sich auf die von White aufstellte Parataxis-Hypotaxis-Opposition, wenn er Hegels Phänomenologie des Geistes die Gestalt eines monumentalen, mit einem Maximum an Sinn erfüllten narrativen Textes attribuiert in which the sharp edges of the ›This‹ and the ›Here-and-Now‹, that is, that which ›sense certainty‹ perceives as merely side-by-side, is absorbed into the
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Hayden White: »The Value of Narrativity in the Representation of Reality«. In: W.J.T. Mitchell (Hrsg.): On Narrative, Chicago 1981, 1–23; hier 8. Vgl. White: »Narrativity«, 8. M.H. Abrams: Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic Literature, London 1971. Vgl. auch Karl Löwith: Meaning in History, Chicago 1949; dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, zuerst Stuttgart 1953. Hayden White: Tropics of Discourse: Essays on Cultural Criticism, Baltimore 1978, 86; vgl. Santner: Narrative Vigilance, 8. White: »Narrativity«, 19. White: »Narrativity«, 20.
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unified plot of the ›Homecoming of World Spirit‹. As such it would exhibit a maximum force of meaning in Barthes’ sense.
Hierbei beruft sich Santner auf Roland Barthes’ These, wonach [d]ie Kraft des Sinns [...] von seinem Systematisierungsgrad ab(hängt): der stärkste Sinn ist der, dessen Systematisierung eine große Zahl von Elementen umfasst, bis es so aussieht, als würde er alles Bemerkenswerte der Welt überdecken.130
Barthes’ Beobachtung weist auf die Logik hinter der ›hypotaktischen‹ narrativen ›Strategie‹ hin, die Santner mit White in soteriologischen ›Narrationen‹ nach heilsgeschichtlichem Muster meint erkennen zu können, – dies eine Strategie, die zur Herstellung eines absoluten Maximums an (moralischem) Sinn eingesetzt werde. In Jochen Schmidts Lesart stellt Hölderlins Friedensfeier eine solche maximalen moralischen Sinn liefernde ›soteriologische Narration‹ dar, deren zwei teleologische Parameter einem solchen ›hypotaktischen‹ Strukturierungsprinzip entsprechen: ›Einfalt‹ und ›Totalität‹. In diesem theoretischen Kontext ist Benjamins programmatischer Aufsatz Über den Begriff der Geschichte interessant, der im Angriff gegen die »drei Bastionen des Historismus« – »die Idee der Universalgeschichte«, die Vorstellung, »Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse«, und »Einfühlung in den Sieger« – Whites kritisches Hinterfragen historiographischer Praxis gewissermaßen vorwegnimmt. Benjamins Spätwerk schickt sich an, dem Mechanismus ›hypotaktisch‹ sich strukturierender Historiographie in Whites Sinne ein alternatives Modell entgegenzusetzen, das eher auf Geschichtslesung denn auf Geschichtsschreibung aus ist. Diesem Modell liegt denn auch ein anti-narrativistischer Impuls zu Grunde. Signifikanterweise belegt Eric L. Santner die These, wonach sich in Hölderlins ›letzten Hymnen‹ »Mnemosyne« und »Andenken« möglicherweise ein (noch zu charakterisierender) Paradigmawechsel vollzieht, nicht zuletzt mit Hinweisen auf eine zunehmende Lockerung ›hypotaktischer‹ Ordnungsstrukturen zugunsten einer parataktischen Syntax, die im Dien-
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»La force du sens dépend de son degré de systématisation: le sens le plus fort est le sens dont la systématisation englobe un nombre élevé d’éléments, au point de paraître recouvrir tout le notable du monde [...]«. Roland Barthes: S/Z, Paris 1970, 160; deutsche Übersetzung von Jürgen Hoch, Frankfurt am Main 1976, 154.
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ste eines eher assoziativen Organisationsprinzips stehe.131 In seiner Analyse geht die von ihm konstatierte »relaxation of the diction and design of the verse« mit einem »letting go of narrative vigilance and [a] turn toward the present, toward the concrete particulars surrounding us« einher. Wie er schreibt: »[...] shards of the narrative of redemption begin to be modulated into the consolations of Tageszeichen«.132 Santner korreliert die weitgehende Abwendung von ›hypotaktischer‹ Narrativik in Form einer allumfassenden Heilsgeschichte, wie sie Friedensfeier zelebriert, mit dem von ihm hypostasierten Wandel in Hölderlins Verständnis von Wesen und Bedeutung dichterischen Erinnerns. Wie er konstatiert: »[the] ›new spirit‹ which begins to inform Hölderlin’s poetic voice demands that we reevaluate the concept of memory in Hölderlin’s later poems«; »Andenken« und »Mnemosyne« »suggest« – so Santner – »that Hölderlin was himself engaged in such a reevaluation133. Diese Revision gelte eben der idealistischen Auffassung dichterischen Erinnerns als Instrument eines totalisierenden geschichtlichen Bewusstwerdungsprozesses. Auf der Werkstufe dieser beiden Hymnen habe der Dichter »the dangers of narrative vigilance« erkannt – dies Santners Formel für hypotaktisch strukturierte, idealistisch orientierte Narrativik –, »which is itself really a kind of obsessive memory«. Wie er schreibt: This form of memory attempts to hold within its ken the entirety of history, understood as the history of Spirit in its east-west migration. This is a Hegelian
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Die Identifikation sprach-struktureller mit geschichtsphilosophischen ›Strukturen‹ wird weiter unten problematisiert. Santner: Narrative Vigilance, 126. Der kritische Aspekt dieser Gedichte in Bezug auf Wesen und Potential dichterischen Erinnerns wird verschiedentlich herausgearbeitet. Wie Fabian Stoermer bemerkt, »scheinen die Gedichte gemeinsam ein Dyptichon zu bilden, in dem die Doppeldeutigkeit der Erinnerung als Abstieg zur Trauer und Aufsteig zu einem überschwänglichen Bewusstsein in zwei einzelnen Tableaus festgehalten wird«. Im Sinne dieser These arbeitet Stoermer verschiedene Polaritäten heraus: »Auf der einen Seite (»Mnemosyne«) die Anspielung auf den mythologischen Ursprung der Dichtung aus der Erinnerung, Mnemosyne als Mutter der Musen, aber auch der deutliche Hinweis auf die Gefährdung des Dichterischen im ›Zeichen‹, auf der anderen Seite die Anspielung von der Erinnerung zum Denken, An-Denken.« Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 335. Siehe auch Claudia Kalász: »‚Mnemosyne – Die Zerstörung der poetischen Erinnerung«. In: dies.: Hölderlin. Die poetische Kritik instrumenteller Vernunft, München 1988, 138–162, die eine Krisis der Hölderlinschen Erinnerungspoetik in dieser späten Hymne ausmacht, sowie Cyrus Hamlin: »Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über ›Andenken‹«. In: Hölderlinjahrbuch 1984/85, 119–138. Vgl. auch Dieter Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, 185.
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notion of memory: the absolute memory of Absolute Spirit. It is memory in the sense of the total historical overview, the Totaleindruck.134
Oder, wie Santner diese Form des Erinnerns auch weniger hegelianisch, sprich allgemeiner charakterisiert, es gehe hierbei um intellektuelle Anschauung, a certain kind of memory [...] that attempts to trace and hold within the ken of an ›intellectual intuition‹, the unbroken plot line of a singular, sacred story from its arche to its telos.135
Wie Santner konstatiert: »›Andenken‹ gives us an opportunity to explore the workings of this other kind of memory.«136 Indem er dieses Gedicht als Lokus des hypostasierten Paradigmawechsels in der Poetik und Praxis dichterischen Erinnerns bei Friedrich Hölderlin identifiziert, setzt Santner der ›traditionellen‹ Interpretation des Gedichts, wie er sie in Jochen Schmidts Essay mustergültig formuliert findet, 137 – dies eine Interpretation, die, so Santner, ›Hegelianizes‹ Höl-
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Santner: Narrative Vigilance, 126f.. Santner: Narrative Vigilance, 128. Santner: Narrative Vigilance, 128. Jochen Schmidt: Hölderlins letzte Hymnen: »Andenken« und »Mnemosyne«, Tübingen 1970. Der Kern dieser Interpretation, die Santner als Negativfolie für die eigene Interpretation dient, lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen. Wie Schmidt in Bezug auf »Andenken« schreibt, findet der Dichter »sein endgültiges ›Bleiben im Leben‹ nicht in naiver Ruhe [...], sondern [er habe] das Bleibende aus der Souveränität eines höchsten Bewußtseins selbst dichterisch zu stiften« – »und dazu vermag er nur in der Wachheit des Andenkens zu gelangen« (Schmidt: Letzte Hymnen, 22). Weiter unten beschreibt Schmidt »das dichterische ›Andenken‹« als einen »Bewußtseinsprozeß«, wobei das Bewusstsein, »das sich schließlich herausbildet, [...] die Epochen seines Werdens (übergreift), indem es sie in einem höheren Zusammenhang aufhebt – in der Vorstellung von der All-Einheit des Lebens. [...] Das dichterische ›Stiften‹ des Bleibenden ist also weder Fixierung des in der Realität schon Vorhandenen, noch faktische Neuschöpfung von ›Sein‹, sondern Darstellung kraft eines höchsten, allumspannenden Bewußtseins. [...] Insofern das Bewußtsein des Dichters die Form des Absoluten gewonnen hat, dichtet er sub specie aeternitatis, stiftet er Bleibendes«. So schreitet Hyperion letztlich, im Sinne des »Ziel[s] des Romans«, »zum erinnernden Dasein des dichterischen Eremiten, in dessen Bewusstsein sich die gültige Totalvorstellung des Lebens vollzogen hat«, so Schmidt in Letzte Hymnen, 40f.. Das Telos dichterischen Erinnerns, das sich Schmidts Ansicht nach aus Hyperion herauskristallisiert, deckt sich mit dem, das er aus der letzten Strophe der ›Hymne‹ »Andenken« heraushört. Wie der Interpret schreibt: »Hyperion wird also zum Dichter, als er jenes souveräne Bewußtsein erreicht, das am Ende des Gedichts ›Andenken‹ der Grund für die dichterische Stiftung des Bleibenden ist. Und auch Hyperions Bewußtseinsbildung [...] erfährt ihre Vollendung erst in der Erinnerung, im ›Andenken‹ [...].« Schmidt: Letzte Hymnen, 42.
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derlin and transforms the poem, as it were, into a manifesto of narrative vigilance«138 –, eine neue Lesart entgegen, die sich auf eine ›neue Stimme‹, gekoppelt mit der bereits angedeuteten neuen Form dichterischen Erinnerns, beruft. Signalisiert werde diese ›neue Stimme‹ durch »the presence of purely private memories that remain, so to speak, ›unredeemed‹«; »[...] the personal recollections of Bordeaux are not assimilated here to any metaphysical narrative or philosophical argument.« Und Santner fährt fort: Hölderlin has admitted into his poetry a new kind of memory. Memory is here no longer that hyperconscious process so typical of some of his other hymns (and which some critics would still like to see here) whereby the poet would construct, and construct anew, the sacred narrative of the life of Spirit; memory is here not the activity of an absolute consciousness or even a consciousness striving toward any sort of total or totalizing (over-) view. Rather than attainment of the Totaleindruck, the sort of memory which the poem enacts represents a release from the vigilance that had kept the poet searching for such a totalizing overview.139
Der nächste Schritt in Santners Argumentation ist bemerkenswert. Wie er schreibt: »The poem gives us, rather, perhaps one of the first lyrical examples of what would later come to be known as mémoire involontaire.«140 Ausgehend von einer Aufgabe des philosophischen »Totaleinddrucks« und einer Subjektivierungs-, Lyrisierungs- und Privatisierungstendenz dichterischen Erinnerns in »Andenken« bietet Santner eine alternative Deutung der berühmten gnomischen Schlusszeilen des Gedichts an: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«141 Wie er schreibt: Might it be that ›bleiben‹ does not signify abiding, permanence, that is, that which transcends the flux of time, but rather what remains, in the sense of what is left over – ›Was übrigbleib‹, ›Was zurückbleibt‹ – once we have descended
138 139 140
141
So Santner: Narrative Vigilance, 128. Santner: Narrative Vigilance, 133. Santner: Narrative Vigilance, 133. Als Anzeichen einer solchen Form des Erinnerns hebt Santner die Formulierung »Noch denket das mir wohl« hervor, die er als Ausdruck einer passiven Form des Erinnerns deutet. Zudem verweist er auf Hölderlins neues dichterisches Interesse an sinnlichen Erfahrungen, an denen der Geruchs- und Geschmackssinn beteiligt seien. Obwohl er die Formulierung »Noch denket das mir wohl« als gängige Schwäbische Redeweise erkennt, deutet er die Verwendung dieser passiven Konstruktion als Ausdruck einer ›neuen‹, unkontrollierbaren Form des Erinnerns. Siehe Santner: Narrative Vigilance, 134. Inwieweit Hölderlin hier lediglich seiner Mundart treu bleibt bzw. Bedeutendes in die Formulierung hereinzulesen ist, bleibt offen. Hölderlin: Werke II.1, 189.
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from the »hohe Straß« and let go of narrative vigilance? Given the new sort of memory that is enacted in the poem, [...] can we not understand these final lines as signifying Hölderlin’s acceptance of a more modest poetic task? This task would be to name what memory grants us to remember, to name what has held our gaze, the things we have watched, cared for, and loved. [...] I am suggesting, then, that along with this more modest understanding of ›bleiben‹, we revise our understanding of ›stiften‹. Rather than instituting and consecrating world-historical monuments, the poet gives to us those images, those ›Andenken‹, which gather into their fold the fragile essence of a human experience. [...] ›Was bleibet aber stiften die Dichter‹ loses, in this view, the sense that poetry stands at the pinnacle of a hierarchy and sublates, in the sense of Aufhebung, the ›lesser‹ modes of existence still somehow caught up in the fragmentariness of concrete particulars. The promise of poetry, of Hölderlin’s poetry, what it can grant – ›stiften‹ – thus is considerably more fragile and delicate than we had previously imagined. The poet, in a very special sense, bears witness, and says: ›I have seen this.‹142
Folgt man Santners These einer »[reevaluation of] the concept of memory in Hölderlin’s later poems« in »Andenken«, so zeichnet Hölderlins Erinnerungspoetik auf der Höhe ihrer monumentalen, d.h. totalisierenden Formulierung und dichterischen Realisierung den Weg ins Private, Individuelle vor, das Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken bei allen Verabsolutierungstendenzen eigen ist. Ihren ›Visionen‹ haftet eine ähnliche Ambivalenz an wie der Hölderlin’schen: eine, die sich nicht auflöst: Rilkes im Puppenessay entfaltete Vision einer durch Erinnern vermittelten, idealen Dichtung baut zwingender Weise auf dem ›Ur-eigensten‹ auf; das erinnerungspoetische Programm, das Benjamin in der Berliner Kindheit formuliert, wird im Individuellen auf überzeugende Weise eingelöst, während seine Anwendbarkeit im Kollektiven zweifelhaft erscheint.143 Stellt man sich auf den Standpunkt, erst ›Fleisch und Blut‹, sprich: sinnliche (Alltags-) Erfahrungen verleihen dem dichterischen Erinnern eine genuin poetische Qualität, so scheint dies eine Erkenntnis zu sein, die Hölderlin durchexerziert: im Gang durch das Streben nach dem ›Totaleindruck‹ mittels totalisierenden Erinnerns hindurch zum partikulären Ein- und Ausdruck im Rahmen der ›Tageszeichen‹ mittels eines ins Individuelle zurückgenommenen Erinnerns.
142 143
Santner: Narrative Vigilance, 136f.. Die Übertragbarkeit individueller Erinnerungsmodelle, etwa des psychoanalytischen, auf ein Kollektiv-Subjekt bleibt fragwürdig. Dies gilt insbesondere für das Passagen-Werk. Von einer Erörterung dieser Problematik muss ich aber hier absehen, da sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
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Bemerkenswerterweise verwahrt sich Adorno in seinem Parataxis-Aufsatz gegen die von Santner propagierte These, wonach Hölderlins (Erinnerungs-)Poetik eine allmähliche Subjektivierungstendenz aufweise. Gerade durch Anrufung des Parataktischen meint er diese These entkräften zu können. Dass Adorno implizit gegen diesen Deutungsansatz opponiert, bedeutet aber nicht, dass er sich der monumentalisierenden Lesart verschreibt, die Hölderlin’schem Erinnern das ganze Gewicht der Geschichte aufbürdet. Im Gegenteil: Adornos Parataxis-Aufsatz nimmt eine dezidierte Kritik an der »Idee der Universalgeschichte« vor, die sich signifikanterweise in Sprachkritik kleidet. Adorno übt seine Kritik am dialektisch-idealistischen Identitätsdenken, aus dem sich ein solches Geschichtsmodell speist, am Werk als dessen dichterischem ›Organ‹, um zu zeigen, wie auf dem Wege der Parataxis dieses, wie er behauptet, im Hypotaktischen heimische Denken letztlich ausgehöhlt werde. Das »Gereihte«, das »als Unverbundenes schroff nicht weniger denn gleitend« sei,144 wird zur bestimmenden ästhetischen Kategorie der Ästhetik des Parataktischen, die Adorno hier privilegiert. Wenn er von der »tektonischen Form« spricht, der Hölderlin »absichtsvoll sich beugte«, dann nur, um im nächsten Zug den Blick auf die »subkutane, unmetaphorisch komponierte« zu lenken, die Adorno meint freigelegt zu haben.145. In dieser Art von Sprach- und Idealismuskritik erscheint die ›prädizierende‹ Sprache als Instrument der Subordination – sprich der hypotaktischen Sinnbildung bzw. Sinnordnung –, der die ›Offenheit‹ einer reihenden, d.h. nicht subordinierenden Sprache gegenüberstehe. Als eine Dichtung, die weder als Erlebnis- noch als Gedankenlyrik verstanden werden darf, so Adorno,146 erhoffe sich Hölderlins Dichtung »leibhafte Gegenwart von der Konstellation der Worte und zwar eben einer, die nicht ihr Genügen hat an der Urteilsform. Diese nivelliere, als Einheit, die in den Worten liegende Vielfalt«.147 Als paradigmatisch für eine auf Wortkonstellationen aufbauende Sprache zitiert Adorno die erste Elegie aus »Brot und Wein«, die, wie er meint, die »einfachen und allgemeinen Worte« nicht restituiert [...], sondern [...] sie aneinander(fügt) auf eine Weise, welche ihre eigene Fremdheit, [...] umschafft zum Ausdruck von Entfremdung. Solche Kon-
144 145 146 147
Adorno: »Parataxis«, 473. Adorno: »Parataxis«, 470. »[...] seine Dichtung (kann) weder dem dichterisch gewählten Wort noch der lebendigen Erfahrung naiv mehr vertrauen«, heißt es. Adorno: »Parataxis«, 473. Hervorhebung der Vf..
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stellationen spielen ins Parataktische hinüber, auch wo es, der grammatischen Form oder der Konstruktion der Gedichte nach, noch nicht ungeschmälert sich hervorwagt.148
Wie Adorno aber ohne Weiteres einräumt: Die parataktische Auflehnung wider die Synthesis hat ihre Grenze an der synthetischen Funktion von Sprache überhaupt. [...] Deren Einheit (die von Sprache festgehaltene Synthesis) zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die Einheit verübt.149
Wie es weiter unten heißt: »Einen Stand von Freiheit erwartet Hölderlin nur durchs synthetische Prinzip hindurch, von dessen Selbstreflexion.«150 Bei Hölderlin werde aber »die Gestalt der Einheit [...] so abgewandelt, [...] daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlußhaft«.151 Die implizite Sprachkritik, die Hölderlin durch diese Aussage ›angedichtet‹ wird, macht Adorno im weiteren Verlauf seiner Argumentation explizit, nämlich wenn er behauptet: »Hölderlins Sprachkritik bewegt sich [...] in der Gegenrichtung zum Subjektivierungsprozeß.«152 Nicht »subjektive Ausdruckslyrik«, keine intentionale Sprache, sondern »rationaler Kontrolle entrückte Korrespondenzen« bestimmten Hölderlins späte Lyrik.153 Die Tatsache dass und die Art wie Adorno sich anschickt, Hölderlins späte Dichtung ›gegen den Strich zu bürsten‹, macht den Katalysatoreffekt aus, den der Parataxis-Aufsatz für meine abschließenden Betrachtungen über den Gegenstand dieser Untersuchung liefert. Im Laufe von Adornos gegen die ›Hypotaxis‹ einer vom Einheitsdenken inspirierten, teleologisch determinierten ›Narration‹ opponierendem Aufsatz avanciert der grammatische Begriff ›Parataxis‹ zu einer Art programmatischen Formel, die in den Dienst einer neuen ›parataktischen‹ Poetik gestellt wird. Für die Perspektivierung auf Robert Musil und Walter Benjamin, die ich nun vornehmen möchte, spielt Adornos Strategie, Sprachreflexion bzw. Sprachkritik mit Traditionskritik und der eigenen Neupositionierung im gespannten Verhältnis zur problematisierten Tradition zu verbinden, eine wichtige Rolle, denn auf dem Wege der Adorno’schen Hermeneutik und poetologischen
148 149 150 151 152 153
Adorno: Adorno: Adorno: Adorno: Adorno: Adorno:
294
»Parataxis«, »Parataxis«, »Parataxis«, »Parataxis«, »Parataxis«, »Parataxis«,
473. 476. 484. 477. 477f.. 481.
Argumentation kann der Zugang zu ähnlich gelagerten Bezugssystemen bei Benjamin und Musil erleichtert werden. Dieser Weg der weiteren Reflexion führt zunächst zu Walter Benjamins frühem sprachkritischen Traktat. 3.2.2. Benjamins frühe Sprachkritik im Kontext der ›kulturdialektischen Methode‹ des Spätwerks Benjamins frühe Schrift aus dem Jahr 1916 mit dem Titel Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen erweist sich als interessant im Kontext der hier geführten Diskussion, insbesondere in Verbindung mit Törleß’ Sprachkritik, die hier erneut ins Blickfeld gerückt werden soll. Gewissermaßen erscheinen Benjamins frühe Sprachreflexionen als eine Widerlegung der Sprachskepsis, die Törleß in mannigfacher Weise zum Ausdruck bringt, liest sich die sechs Jahre nach Erscheinen von Musils Roman veröffentlichte Abhandlung doch geradezu wie die Formulierung einer Gegenvision dessen, was Wesen und Aufgabe der Sprache sei. Die Sprachphilosophie des frühen Benjamin setzt bei einer Verwerfung der Prämisse an, die Törleß stillschweigend akzeptiert, nämlich, dass Sprache ein Instrument darstellt, das als solches sich darauf beschränken muss, sich in Mittelbarkeit zu üben – ob auf der Ebene der Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant, der Törleß’ Sprachkritik vornehmlich gilt, oder auf der intralinguistischen Ebene der Prädikation, auf die sich Benjamins Kritik zunächst richtet. Als Erstes attackiert Benjamin die als ›bürgerlich‹ bezeichnete Sprachauffassung, wonach die Sprache eine prädikative Funktion erfülle, und er setzt der ›Mittelbarkeit‹ einer solchen Sprache die ›Unmittelbarkeit‹ einer sich selbst mitteilenden Sprache entgegen. Er enthebt sich der Schwierigkeiten, die sich zwangsläufig ergeben, wenn Sprache als Funktion der Prädikation bzw. der Signifikation gedacht wird, indem er unter Anwendung eines sehr weitgefassten Sprachbegriffs Sprache mit »geistigem Wesen«154 gleichsetzt, das seiner Vorstellung nach nicht umhin kann, sich mitzuteilen. Benjamin betrachtet Sprache weder als Identität bzw. Identifikation schaffendes Instrument155 noch als Verweissystem. Törleß hadert mit der Unfähigkeit der Sprache, ihre Funktion als Verweissystem adäquat zu erfüllen. Der junge Benjamin hingegen verwirft diese funktionelle Sprachauffassung schlechthin. Für ihn ist Sprache
154 155
Benjamin: Werke II.1, 141. Weiter unten wird diese Auffassungsweise, wie sie von Adorno geprägt wird, erläutert und problematisiert.
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nicht Instrument der Vermittlung, sondern sie ist Mitteilung selbst, ist Ausdruck. Auf die selbstgestellte Frage – »Was teilt die Sprache mit?« – antwortet Benjamin: Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. [...] Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das jeweilige sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilbar ist. Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf die Frage: was teilt die Sprache mit? lautet also: Jede Sprache teilt sich selbst mit. Die Sprache dieser Lampe z.B. teilt nicht die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es mitteilbar ist, ist nicht die Lampe selbst), sondern: die Sprache-Lampe, die Lampe in der Mitteilung, die Lampe im Ausdruck. 156
Benjamin kommt dem Einwand tautologischen Argumentierens zuvor, indem er dezidiert konstatiert: »[...] das, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache. Auf diesem ›ist‹ (gleich ›ist unmittelbar‹) beruht alles.«157 Im nächsten Zug begründet Benjamin die aus seiner Sicht unbezweifelbare Legitimität menschlichen Benennens fern jeder Sprachskepsis, wie sie etwa Törleß oder Lord Chandos formulieren, und zwar indem er deklariert, das Benennen sei konstitutiv für das »geistige Wesen« des Menschen: Der Mensch teilt sein eignes geistiges Wesen in seiner Sprache mit. Die Sprache des Menschen spricht aber in Worten. Der Mensch teilt also sein eignes geistiges Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt.158
Benjamins Fazit lautet: »Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er die Dinge benennt.« (143) Letztlich entfaltet sich hier eine theologische Argumentation, die den Namen zum »Erbteil der Menschensprache« werden lässt und diese wiederum in Bezug zur göttlichen Offenbarung setzt. Ich kann hier diese bemerkenswerte Argumentation nicht weiter problematisieren. Von besonderer Bedeutung im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist die Art, wie Benjamin die menschliche Sprache aus den Nöten defizitiärer Signifikation befreit. Dies tut er, indem er sich der theo-
156 157 158
Benjamin: Werke II.1, 142. Benjamin: Werke II.1, 142. Benjamin: Werke II.1, 143.
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logisch verbürgten Vorstellung einer vollkommenen, und als solcher, wenn man so will, ›krisenfesten‹ Sprache verschreibt – wie es heißt: »Der Mensch allein hat die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache.«159 – und diese von einer »bürgerlichen« Sprachauffassung absetzt, die Sprache als Instrument betrachtet, eingebettet in einem operativen Subjekt-Prädikat-Verhältnis. Die »Unhaltbarkeit und Leere« dieser Auffassung160 besteht für ihn in den ihr zugeschriebenen Prämissen. Sie besagen, so Benjamin: »Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch.«161 Dagegen setzt Benjamin seine Vorstellung einer auf unmittelbarer Mitteilbarkeit beruhenden Sprache. Die andere – seine – Sprachauffassung – kenne »kein Mittel, keinen Gegenstand und keinen Adressaten der Mitteilung. Sie besagt: im Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit«.162 Indem Benjamin den Begriff der göttlichen Offenbarung anführt, legt er das Fundament für ein Sprachverständnis, das dem Törleß’schen diametral entgegengesetzt erscheint. Beklagte Törleß die Unfähigkeit sprachlicher Signifikationsprozesse, in die Tiefe zu dringen, an das zu Bezeichnende heranzureichen, – so Törleß’ topologische Redeweise –, so wendet sich Benjamin dem »Widerstreit des Ausgesprochenen und Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen«163 zu, dem Törleß sich ausgesetzt sieht, löst diesen aber argumentativ auf. Zunächst konstatiert er, in etwa Törleß’ Position wiedergebend: »In der Betrachtung dieses Widerstreites sieht man in der Perspektive des Unaussprechlichen zugleich das letzte geistige Wesen.« Er fährt aber fort und konstatiert: Nun ist es klar, daß in der Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen dieses Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zwischen beiden bestritten wird. Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d.h. je existenter und wirklicher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener [...] die Beziehung zwischen Geist und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ist. Genau das meint [...] der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm
159 160 161 162 163
Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin:
Werke Werke Werke Werke Werke
II.1, II.1, II.1, II.1, II.1,
145. 144. 144. 144. 146.
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ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt. Denn es wird angesprochen im Namen und spricht sich aus als Offenbarung. Hierin aber kündigt sich an, daß allein das höchste geistige Wesen, wie es in der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht, während alle Kunst, die Poesie nicht ausgenommen, nicht auf dem allerletzten Inbegriff des Sprachgeistes, sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in seiner vollendeten Schönheit, beruht.164
Diese Einschränkung der menschlichen Sprache ist aber keine qualitative, aus der man etwa eine Sprachlosigkeit des Menschen im Angesicht Gottes im Sinne der negativen Theologie oder ›säkularisierter Mystik‹ herleiten könnte, sondern der Unterschied ist ein gradueller.165 Wie Benjamin schreibt: »Die Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt immer eingeschränkten und analytischen Wesens im Vergleich mit der absolut uneingeschränkten und schaffenden Unendlichkeit des Gotteswortes.«166 Kurzum: das menschliche Wort benennt, während das göttliche Wort schafft. Kraft einer solchen graduellen Unterscheidung zwischen göttlicher Offenbarung und menschlichem Benennen167 vermag Benjamin die Probleme zu umgehen, die Törleß’ Sprachkrise bedingen, Probleme, die mit Törleß’ Befürchtung zusammenhängt, Sprache stelle lediglich ein willkürliches Zeichensystem dar. Gegen ein derartiges Sprachverständnis richtet sich Ben-
164 165
166 167
Benjamin: Werke II.1, 146f.. Vgl. Benjamin, der in Zusammenhang mit seiner Kritik an der ›bürgerlichen‹ Sprachauffassung schreibt: »Mißverständlich ist aber auch die Ablehnung der bürgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. Nach ihr nämlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache. Das ist unrichtig, weil die Sache an sich kein Wort hat, geschaffen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach dem Menschenwort.« (Benjamin: Werke II.1, 150.) Benjamin, II.1, 149; Hervorhebung der Vf.. Vgl. Benjamins Ausführungen über die Frage der Übersetzung in diesem Aufsatz: »[...] jede höhere Sprache (mit Ausnahme des Wortes Gottes) [kann] als Übersetzung aller anderen betrachtet werden. [...] Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommenere, sie kann nicht anders als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis.« Benjamin: Werke II.1, 151. Letztlich hegt Benjamin also die Vorstellung gradueller Unterschiede nebst qualitativen, aber das Setzen qualitativer Unterschiede zwischen der Menschensprache und dem göttlichen Wort führt nicht zur Erfahrung der Sprachlosigkeit, die Törleß in quasi säkular-mystischem Sinne ansatzweise erlebt.
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jamins scharfe Kritik. Er bekämpft die »bürgerliche[...] Ansicht, [...] daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei«.168 Wie er selbst konstatiert: »Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen.«169 Dass wir meinen, das Wort solle »etwas mitteilen (außer sich selbst)«, bezeichnet Benjamin als den »Sündenfall des Sprachgeistes: Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaffende Gotteswort, [...]«.170 Im Kontext seiner auf der biblischen Genesis aufbauenden Kritik an einer ›äußerlich mitteilenden‹ Sprache unterscheidet Benjamin zwischen der überaus positiv bewerteten nennenden Sprache der Unmittelbarkeit und der urteilenden Sprache, die aus dem besagten »Sündenfall des Sprachgeistes« resultiere. Merkmale letzterer (der ›bürgerlichen‹ Sprache) sind ihre Mittelbarkeit (und somit auch ihre »bloße« Zeichenhaftigkeit), der Verlust eines seligen In-sich-selbst-Ruhens und ihr Hang zur Abstraktion. Infolge dieses ›Sündenfalls‹ habe der Mensch »die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen« verlassen und sei »in den Abgrund der Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes«, sei »in den Abgrund des Geschwätzes« verfallen.171 Dieser Prozess sei mit einer »Abkehr von jenem Anschauen der Dinge« einhergegangen, die zu einer ›Verwicklung‹ der Dinge und folglich auch einer Verwirrung der »Zeichen« geführt habe. Die Konsequenz sei eine »Überbenennung« der Dinge – eine »Überbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens«.172 Der Impuls, die Dinge ›sprechen zu lassen‹, der Lord Chandos auf dem Höhepunkt seiner Sprachkrise erfasst, erhält im Kontext einer solchen Diagnose neue Bedeutung. Konstitutiv für Benjamins frühe Sprachtheorie ist die radikal abwertende Perspektive auf die ›bürgerlich‹-richtende Sprache der Mittelbarkeit und das Insistieren auf der nennenden Sprache der Unmittelbarkeit, die analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte konzipiert wird. In diesem Rahmen evoziert Benjamin eine ›gottgegebene‹, will heißen in der Sprache Gottes erzeugte Identität zwischen Wort und Name, die jedoch im ›Ausgesprochenen‹, d.h. in den Dingen, verloren geht, denn, wie Benjamin schreibt: »Die
168 169 170 171 172
Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin:
Werke Werke Werke Werke Werke
II.1, II.1, II.1, II.1, II.1,
150. 150. 153. 154. 155.
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Natur aber ist stumm.« Benjamins Vorstellung nach ist die ›stumme‹ Natur auf das Benennen durch den Menschen angewiesen, der als Benennender »selig« war »im reinen Sprachgeist«. Erst die Aneignung einer prädizierenden Sprache und der hiermit einhergehende Verlust eines solchen »reinen Sprachgeist[es]« verurteilt die Dinge zu »tote[r] Objektivität«.173 Die Argumentation, die Benjamin in seinem frühen Traktat konsequent zu Ende denkt, fasst Michael Bröcker konzis zusammen, wenn er schreibt: Mit dieser ontischen Abwertung der Materie ›beginnt ihre andere Stummheit, die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen‹ (II,/I, 155). Indem der stummen Natur wieder Sprache verliehen, d.h. indem sie im Namen erkannt wird, restituiert sich die ursprüngliche Einheit. Deshalb ist der Begriff einer vor-prädikativen Erfahrung verbunden mit dem des Glücks. Selig wäre ein Leben, das die auf der Subjekt-Objekt-Trennung beruhenden Unterscheidung des propositionalen Wissens nicht kennt.174
Benjamins frühes Traktat über die Sprache diagnostiziert das Problem, ohne aber mögliche Lösungen zu liefern. Letztlich mündet Benjamins Insistenz auf der Nichtigkeit einer prädizierenden Sprache und der durch sie erzeugten Diskursivitität in die Entwicklung von Strategien, mittels derer man der »Frage der Darstellung« (I/I 207) begegnen kann. Ohne in nostalgische Sehnsucht nach ursprünglicher ›Sprachseligkeit‹ zu verfallen, versucht Benjamin, die Gefahren einer ›richtenden‹ Sprache zu bannen. Benjamins Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragestellungen führt zur Entwicklung der bereits thematisierten »kulturdialektische[n] Methode« und der mit ihr verknüpften Erinnerungspoetik, die sich erst im Spätwerk voll entfaltet. Wie eine direkte Antwort auf die im frühen sprachphilosophischen Aufsatz geschilderte Situation muten einige eher skizzierte als ausformulierte Gedankengänge an, die im Umkreis der Thesen Über den Begriff der Geschichte formuliert werden, und zwar in mehrfacher Variation. Unter der Überschrift »Das dialektische Bild« schreibt Benjamin: [...] Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt. ›Was nie geschrieben wurde, lesen‹ heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.) {Die Vielheit der Historien ist der Vielheit der Sprachen ähnlich. Universalgeschichte im heutigen Sinn kann immer nur eine Art von Esperanto sein. Die Idee der Universalgeschichte ist eine messianische.}
173 174
II/I, 154; vgl. Michael Bröcker: »Sprache«. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla: Benjamins Begriffe, Frankfurt/Mn. 2000, Bd. II, 740–773; hier 750. Bröcker: »Sprache«, 750.
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{Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte. Aber nicht als geschriebene, sondern als die festliche begangene. Dieses Fest ist gereinigt von aller Feier. Es kennt keinerlei Festgesänge. Seine Sprache ist integrale Prosa, die die Fesseln der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird (wie die Sprache der Vögel von Sonntagskindern). – Die Idee der Prosa fällt mit der messianischen Idee der Universalgeschichte zusammen (die Arten der Kunstprosa als das Spektrum der universalhistorischen – im ›Erzähler‹ [...].}175
Diese im Notizenkonvolut des Nachlasses versteckten Gedanken sind bemerkenswert, stellen sie doch einen emphatischen Bezug zwischen Benjamins »kulturdialektische[r] Methode«, seiner Erinnerungspoetik, seiner Historismuskritik und seiner Sprachkritik her. Die »kulturdialektische Methode« einer auf Apokatastasis zielenden Geschichtslesung, die nach dem Prinzip der ›Aktualisierung‹ von Vergangenem in Form von erinnernder Konstellationsbildung operiert, wird der Geschichtsschreibung entgegengestellt, deren Nichtigkeit in diesem Kontext aus der Nichtigkeit der ›richtenden‹ Sprache hergeleitet wird, in der sie sich formuliert. In einer ähnlich lautenden Passage greift Benjamin das Wort von der Vielheit der Sprachen – als Symptom für die Herrschaft einer urteilenden, und als solchen denaturierten Verstandessprache – auf und schreibt in Bezug auf die »Sorte von Esperanto«, mit der man sich zu helfen versuche: Es kann ihr nichts entsprechen, eh die Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel herrührt, geschlichtet ist. Sie setzt die Sprache voraus, in die jeder Text einer lebenden oder toten ungeschmälert zu übersetzen ist. Oder besser, sie ist diese Sprache selbst.176
Es folgt, wie in der oben zitierten Passage, die Evokation der »Idee der Prosa selbst, die von allen Menschen verstanden wird wie die Sprache der Vögel von Sonntagskindern«.177 In diesen Worten klingen reichhaltige Bezüge an: »Historien« im herkömmlichen Sinne werden Sprachen gleichgesetzt, die man wohl im Geiste des frühen sprachphilosophischen Traktats als ›richtende‹ Sprachen verstehen darf. In einem weiteren Schritt wird Universalgeschichte im herkömmlichen Sinne einer Universalsprache gleichgesetzt. Als Behelfskonstruktion, die auf dem selben Fundament fußt wie die unzähligen prädizierenden Sprachen, die in sie einfließen, erweist sich diese aber als genauso nichtig wie die einzelnen Sprachen, aus denen 175 176 177
Benjamin: Werke I.3, 1238. Benjamin: Werke I.3, 1239. Benjamin: Werke I.3, 1238.
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sie sich als Vermittlungssprache im Zustand der post-prädikativen Sprachverirrung speist. Als eine Sprache der Schrift ist die Urteils-, die Verstandes-, die ›bürgerliche‹ Sprache abzulehnen, und die Geschichtsschreibung, die sich ihrer als Instrument bedient, auch. Wenn Benjamin eine andere, messianische Art der Universalsprache evoziert und dabei betont, diese werde nicht geschrieben, sondern festlich begangen, so scheint er eine dichterische Praxis zu meinen, die sich keiner Sprache bedient, sondern eine Sprache hervorruft – will heißen: eine »integrale Prosa«. Es fragt sich, ob nicht in der Absage an »Festgesänge« ein Bezug zur narrativen Geste der idealistischen Universalgeschichtsschreibung zu sehen ist, die in Hölderlins späten Vaterlandshymnen kulminiert. Aber wie bereits konstatiert wurde, kündigt Benjamin die Idee einer teleologisch determinierten Universalgeschichte nicht einfach auf. Vielmehr setzt er – in einer äußerst aufschlussreichen Notiz aus dem Umkreis der Thesen Über den Begriff der Geschichte – der idealistischen Universalgeschichte im Sinne eines fortschrittsgläubigen Historismus seine bereits erörterte Vision einer messianischen Universalgeschichte entgegen, die mittels seiner ›kulturdialektische[n] Methode‹ herbeigeführt werden soll. Im selben Notizenkonvolut wird eine signifikante Verbindung zwischen dieser auf ›Apokatastasis‹ abzielenden ›Methode‹ und einem weiteren Konstituens der Benjamin’schen Erinnerungspoetik hergestellt. Benjamin schreibt: Das dialektische Bild ist ein Kugelblitz, der über den ganzen Horizont des Vergangnen läuft. {Vergangnes historisch artikulieren heißt: dasjenige in der Vergangenheit erkennen, was in der Konstellation eines und desselben Augenblickes zusammentritt. Historische Erkenntnis ist einzig und allein möglich im historischen Augenblick. Die Erkenntnis im historischen Augenblick aber ist immer eine Erkenntnis von einem Augenblick. Indem die Vergangenheit sich zum Augenblick – zum dialektischen Bilde – zusammenzieht, geht sie in die unwillkürliche Erinnerung der Menschheit ein.} {Das dialektische Bild ist zu definieren als die unwillkürliche Erinnerung der erlösten Menschheit.}178
In dieser fragmentarischen, d.h. ›unfertigen‹ Formulierung konvergieren wesentliche Aspekte der Erinnerungspoetik, der Historismuskritik und der Sprachkritik des späten Benjamin, deren teils explizite, teil aus weiteren Formulierungen herzuleitende Verknüpfung erneut Fragen und Probleme aufwirft. Die Formulierung selbst ist ungenau und widersprüchlich. Die
178
Benjamin: Werke I.3, 1233.
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Vision einer unbegrenzten Zahl an Augenblicken, die in der unendlichen Summe so etwas wie ›Apokatastasis‹ erzeugen soll, erscheint hier auf einen Augenblick, auf ein ›dialektisches Bild‹ reduziert, das mit einer einzigen »unwillkürlichen Erinnerung« der ganzen (»erlösten«) Menschheit korreliert wird. Bemerkenswert ist nicht nur die generalisierende, reduktionistische Tendenz dieser Formulierung, sondern in erster Linie die Übertragung einer individualpsychologischen Kategorie auf ein Kollektiv – auf das Kollektiv schlechthin, wenn nicht zu sagen, auf die erlöste Menschheit. Bemerkenswert ist ferner die implizite, etwas widersprüchliche Verbindung, die zwischen einem ›unwillkürlichen‹ Ereignis und der Anwendung einer (›kulturdialektischen‹) Methode hergestellt wird, suggeriert doch das Wort ›Methode‹ keineswegs das unkontrollierbare Geschehen, das das ›unwillkürliche Erinnern‹ dem Proustschen Wortgebrauch nach darstellt. Aber gerade in diesen beiden bemerkenswerten Aspekten der obigen Formulierung drückt sich das Wesentliche am ›kulturdialektischen‹ Aktualiserungsprozess aus, der hier beschrieben wird: der Ansatz zu einer Neukonzipierung eines Begriffes, den Benjamin von Proust übernommen hatte sowohl in Hinblick auf das, was unter ›unwillkürlich‹ verstanden wird, als auch in Bezug auf die Instanz, der solch ›unwillkürlich‹ Erinnertes zuteil werden soll. Wie bereits weiter oben angemerkt wurde, erscheint die Übertragung einer individual-psychischen Form von Erinnern auf kollektive Vorgänge, die in den Horizont einer messianischen Universalgeschichte gestellt werden, problematisch.179 Im Hinblick auf die Phrase »Vergangenes historisch artikulieren« schreibt Thomas Weber in Bezug auf Benjamins Erfahrungsbegriff: Erfahrung ist ein Artikulationsbegriff, wobei Artikulation im doppelten Sinne als Verknüpfung und als Ausdruck zu verstehen ist. Erfahrung ist eine Dimension menschlicher Praxis, in der Selbst- und Weltverhältnis derart artikuliert sind, dass das Weltverhältnis als Selbstverhältnis und umgekehrt das Selbstverhältnis als Weltverhältnis artikulierbar wird.180
In der Tat scheint für Benjamin das Moment der Verknüpfung von individuell und kollektiv Erlebtem nicht nur die Voraussetzung für den Aus-
179 180
Bemerkenswerterweise entspricht sie methodisch dem Vorgehen des späten Freud, zum Beispiel in Totem und Tabu (1912/13). Thomas Weber: »Erfahrung«. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla: Benjamins Begriffe, Frankfurt/Mn. 2000, Bd. 1, 230–259; hier 236.
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druck von Erfahrung darzustellen, sondern diese schlechthin zu bedingen. Wie Benjamin am anderen Ort schreibt: Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen [...] führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch. Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten und blieben Handhaben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit.181
Im Kontext individuell-kollektiver ›Erfahrung‹ lässt Benjamin das ›willkürliche‹ Eingedenken zu einem positiven Moment werden. Anders als im rein individuell-persönlichen Bereich – dem alleinigen Geltungsbereich der Proust’schen mémoire volontaire – stellt das willkürliche Eingedenken im individuell-kollektivem Rahmen keine »Registratur«, keine »Domestizierung« bewusster Erinnerungen dar, die diese daran hindern würden, »in die Erfahrung (einzugehen)«, weil sie durch die Registrierfähigkeit des Bewusstseins bereits ›erschöpft‹ wären.182 Vielmehr ermöglicht die Verknüpfung der individuellen Geschichte mit der des Kollektivs »Erfahrung im strikten Sinn«; durch sie kann »echte historische Erfahrung« überhaupt erst entstehen, – so Benjamin.183 Indem er Prousts Begriffspaar für seine »kulturdialektische Methode« dienstbar macht, geht er gegen den »ausweglos privaten Charakter« von Erinnern in einer Gesellschaft an, die aus Benjamins Sicht traditionslos geworden ist. Indem Proust signalisiert, »›Die Erlösung ist meine private Veranstaltung‹«184, kündige er die »Verkümmerung der Erfahrung« im gesellschaftlich-historischen Sinne an, sagt Benjamin, der diese aus der »Trennung von individueller und kollektiver Erinnerung« hervorgehen sieht. 185 Wie Benjamin meint, weist seine Vision den Weg aus dieser Misere. Er sieht die Traditionspflege – wobei diese der Pflege einer Kultur des ›Eingedenkens‹ in etwa gleichkommt – als Möglichkeit, das Phänomen des unwillkürlichen Erinnerns aus seiner exklusiv-privaten Funktionsbestimmung zu befreien und für das Kollektiv, will sagen: die Menschheit als Ganzes dienstbar zu machen. Wie er mit überaus kritischem Tenor meint,
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Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin:
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Werke Werke Werke Werke Werke
I.2, 611. I.2., 615; vgl. Weber: »Erfahrung«, 240. I.2, 641f.; vgl. Weber: »Erfahrung«, 241. I.2, 643. I.2., 613; Weber: »Erfahrung«, 240.
trage der von Proust gemünzte Begriff mémoire involontaire »die Spuren der Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehört zum Inventar der vielfältig isolierten Privatperson«.186 Auf diese Feststellung folgt das oben zitierte Loblied auf die Kulte und Feste, die das willkürliche Erinnern aus der Isolation führen und eine »Verschmelzung der beiden Materien des Gedächtnisses herbeiführen« sollen. In einer Notiz zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte setzt Benjamin die so verstandene Traditionspflege – als »Diskontinuum des Gewesenen« – der Historie – als »Kontinuum der Ereignisse« – entgegen. Unter der Überschrift »{Problem der Tradition I} / Die Dialektik im Stillstande« schreibt er: (Grundlegende Aporie: ›Die Tradition als das Diskontinuum des Gewesnen im Gegensatz zur Historie als dem Kontinuum der Ereignisse.‹ – ›Mag sein daß die Kontinuität der Tradition Schein ist. Aber dann stiftet eben die Beständigkeit dieses Scheins der Beständigkeit die Kontinuität in ihr.‹) (Grundlegende Aporie: ›Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum.‹ – ›Aufgabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden.‹) Weiteres zu diesen Aporien: ›Das Kontinuum der Geschichte ist das der Unterdrücker. Während die Vorstellung des Kontinuums alles dem Erdboden gleichmacht, ist die Vorstellung des Diskontinuums die Grundlage echter Tradition.‹187
Hier wird klar, welch geradezu zwingender Zusammenhang zwischen ›Tradition‹ (als Vehikel kollektiven ›Eingedenkens‹), Individual- und Kollektiverinnern (willkürlichem wie unwillkürlichem), Erfahrung (als Produkt des Zusammenspiels von Tradition und Erinnern) und der Historismuskritik in Benjamins Spätwerk hergestellt wird. Bei aller systemischer Kohärenz, die diese Ingredienzen der Benjamin’schen ›kulturdialektischen Methode‹ ergeben, wird Diskontinuität zum entscheidenden Parameter erklärt. Diese ist jedoch nicht als Gegensatz zu Kontinuität zu denken, schafft sie doch paradoxerweise die Voraussetzung für ein neues ästhetisches Ordnungsprinzip, das sich augenblicklicher, sich immer neu und anders einstellender ›Konstellationen‹ bedient. Adorno deklariert die »Hölderlin’schen Korrespondenzen«, wie er sie in der späten Lyrik des Dichters entdeckt, als Ergebnis des Hölderlin attribuierten »parataktischen Verfahrens«; dieser mit poetologischer Intention
186 187
Benjamin: Werke II.2, 611. Benjamin: Werke I.3, 1236.
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vollzogene, strategische Akt mutet wie die dichterische Umsetzung von Benjamins ›kulturdialektischer Methode‹ an. Adorno schreibt: Im tiefsten Verhältnis zum parataktischen Verfahren stehen die Hölderlinschen Korrespondenzen, jene plötzlichen Beziehungen antiker und moderner Schauplätze und Figuren. [..] Zeiten durcheinander zu schütteln, Entlegenes und Unverbundenes zu verbinden, das dem Diskursiven entgegengesetzte Prinzip solcher Assoziationen mahnt an die Reihung grammatischer Glieder.188
Adorno scheint in Hölderlins Hymnen ein Alternativprogramm entdeckt zu haben, das sich der oben erörterten Aporie entledigt: der Frage nach dem ›Stellen-Wert‹ – nach Lokus, Funktion und Tragweite – dichterischen Erinnerns: seiner kollektiven bzw. individuellen Ausrichtung, seines absoluten bzw. bedingten Auftrags. 3.2.3. Gefäße des Erinnerns: Rilkes Puppen aus Proust’scher / Benjamin’scher Perspektive Doch kehren wir – rondohaft – noch einmal zu Rilke und seinem Puppenessay zurück. Wenn ich nun einige Stränge der zuletzt angestellten Überlegungen zusammenführe, möchte ich mich einer offen gebliebenen Frage widmen: der Frage nach dem Doppel-Charakter der Puppe, ihrer Aufspaltung in ›Puppen-Ding‹ und ›Puppen-Seele‹. Wie ich meine, bietet die von Proust und nach ihm Benjamin vorgenommene Unterscheidung zwischen ›mémoire volontaire‹ und ›mémoire involontaire‹ den Schlüssel für eine Erklärung dieser merkwürdigen Konstruktion, – eine mögliche Erklärung, die in der Puppe des Essays eine äußerst komprimierte Chiffre erkennen lässt, deren Bedeutungspotential in verschiedene Richtungen ausstrahlt. In seiner Schrift Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus beleuchtet Benjamin die Unterscheidung zwischen ›willkürlichem‹ und ›unwillkürlichem‹ Erinnern unter anderem im Kontext von Theodor Reiks bzw. Sigmund Freuds Traumtheorie, die er knapp und konzis folgendermaßen umreißt: Die Ausführungen, in denen Reik seine Theorie des Gedächtnisses entwickelt, bewegen sich zum Teil ganz auf der Linie von Prousts Unterscheidung zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Erinnern. ›Die Funktion des Gedächtnisses‹, heißt es bei Reik, ›ist der Schutz der Eindrücke; die Erinnerung zielt auf ihre Zersetzung. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die
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Adorno: »Parataxis«, 479.
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Erinnerung ist destruktiv.‹ Den fundamentalen Satz von Freud, welcher diesen Ausführungen zugrunde liegt, formuliert die Annahme, ›das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur‹. Es ›‚wäre also durch die Besonderheit ausgezeichnet, daß der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterläßt, sondern gleichsam im Phänomen des Bewußtswerdens verpufft‹. Die Grundformel dieser Hypothese ist, ›daß Bewußtsein und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind‹. Erinnerungsreste sind vielmehr ›oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist‹. Übertragen auf Prousts Redeweise: Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist.189
Benjamins Ausführungen über Freuds Theorie des Erinnerns stehen aber in einem weiteren Kontext, und die hier entfaltete Argumentation wird im Lichte der Freud’schen Erinnerungstheorie verständlicher. Im Laufe dieser Argumentation stellt Benjamin einen Zusammenhang zwischen mémoire involontaire, Aura und Erfahrung auf der einen Seite her, während er auf der anderen mémoire volontaire mit dem ›Verfall‹ von Aura und – um eine andernorts angebrachte Vokabel zu zitieren – »Verkümmerung der Erfahrung« korreliert. Hierbei liefert er zwei miteinander verzahnte ›Definitionen‹ für den Begriff, auf den es hier vor allem ankommt: den Begriff der ›Aura‹. Wie er schreibt, entsprechen der ›Aura‹ eines Gegenstandes zum einen die »in der mémoire involontaire beheimatet[en]« Vorstellungen, die »sich um [diesen] Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben«. Weiterhin entspricht »die Aura am Gegenstand« – so Benjamin – »einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt«.190 Als Nächstes wird ein Zusammenhang zwischen dem Phänomen des Photographierens, einer Ausdehnung der Tätigkeit des willkürlichen Erinnerns und einer Einbüße an ›Übung‹ in diesem eigenwilligen Sinne konstatiert. Wie es heißt: Die auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten Verfahren erweitern den Umfang der mémoire volontaire; sie machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft, in der die Übung schrumpft.191
189 190 191
Benjamin: Werke I.2, 612f.. Benjamin: Werke I.2, 644. Benjamin: Werke I.2, 644.
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Eine implizite Analogie zwischen der ›destruktiven Kraft‹ des Erinnerns im Sinne Freud’scher Theoriebildung und jener des photographischen ›Festhaltens‹ von ›Erlebnissen‹ – im pejorativen Sinne dieser Benjamin’schen Vokabel – wird gezogen: Destruktiv ist diese Kraft deshalb, so Benjamin, weil durch sie den Erlebnissen die Möglichkeit genommen wird, zu ›Erfahrungen‹ zu werden. Die Wiederholbarkeit des willkürlich Erinnerten als ein allzeit Verfügbares, allzeit Abrufbares wird mit einer nur bedingt kontrollierbaren Form von Wiederholung und Wiederholbarkeit kontrastiert, die sich aus dem ›Gebrauchscharakter‹ der Gegenstände ergibt, – einer Form von Repetition, die »Erfahrung im strikten Sinn« erst möglich macht, und zwar Repetition, die idealiter durch Traditionspflege gesichert wird. Zuvor hatte Benjamin konstatiert: Erfahrung [ist] eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sie weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen.192
Die Metapher, der sich Benjamin hier bedient, um die ihm vorschwebende Prozess der ›Erfahrungsbildung‹ zu beschreiben, ist bemerkenswert. Etwas weiter unten, wo Benjamin auf Prousts ›Entdeckung‹ des unwillkürlichen Erinnerns zu sprechen kommt und Proust folgt, indem er dieses überaus affirmativ als eine Art Heilmittel gegen den Verdruss ›ärmlicher Erinnerungen‹ erkennt, schreibt Benjamin: »[...] ehe der Geschmack der madeleine [...] ihn eines Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe«, sei Proust auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihn in Bereitschaft gehalten habe, das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig sei. Das sei die mémoire volontaire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, daß die Informationen, welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten.193
Als eine Art vorläufiges Fazit seiner Ausführungen über Formen des Erinnerns zitiert Benjamin zustimmend den folgenden Proust’schen Satz: »›So steht es mit unserer Vergangenheit. Umsonst, daß wir sie willentlich zu beschwören suchen; alle Bemühungen unserer Intelligenz sind dazu nichts nutze.‹«194 Um dann in seinen eigenen Worten fortzufahren:
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Benjamin: Werke I.2, 608. Benjamin: Werke I.2, 610; Hervorhebung der Vf.. Benjamin: Werke I.2, 610.
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Darum steht Proust nicht an, zusammenfassend zu erklären, das Verflossene befinde sich ›außerhalb des Bereichs der Intelligenz und ihres Wirkungsfeldes in irgendeinem realen Gegenstand . . . In welchem wissen wir übrigens nicht. Und es ist eine Sache des Zufalls, ob wir auf ihn stoßen, ehe wir sterben, oder ob wir ihm nie begegnen.‹ Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann.195
In einem Punkt gibt Benjamin dem ›Entdecker‹ des willkürlichen Erinnerns recht; in einem anderen erhebt er kritische Bedenken. Während er, wie Proust, das ›Verflossene‹ in »realen Gegenständen« sucht – eindrucksvollstes Zeugnis davon ist wohl das quasi-enzyklopädische PassagenWerk –, beklagt Benjamin den Rückzug der Erinnerungstätigkeit – des unwillkürlichen Geschehens – in den privaten Bereich, denn, wie er gleich hinzufügt: »Diesen ausweglos privaten Charakter haben die inneren Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu werden.«196 Diese Äußerung, die eine fundamentale Kritik an Prousts ›privatistischer‹ Erinnerungspoetik birgt, wird verständlicher, stellt man sie in den Kontext der zuvor zitierten Gedanken über die Bedeutung von Kulten, Ritualen und dergleichen für eine Zusammenführung des individuellen mit dem kollektiven Eingedenken. Das Ideal einer solchen ›Amalgamierung‹ des Individuellen mit dem Kollektiven wird im Laufe der Baudelaire-Studie wiederholt und in wechselnden Nuancen formuliert. Doch möchte ich mein Interesse auf das richten, worüber Proust und Benjamin sich einig sind: die These, wonach »das Verflosssene sich [...] in irgendeinem realen Gegenstand (befindet)«. Wie mir scheint, ist diese These von zentraler Bedeutung für Prousts wie für Benjamins Erinnerungspoetik. Unter Reaktivierung der zuvor verwendeten Metapher des Fließens, die die Tätigkeit einer unbewussten, Erfahrung bildenden Instanz charakterisieren sollte, meint das »Verflossene« jetzt zum einen – gemäß manch umgangsprachlichem Gebrauch – das Vergangene, die Vergangenheit. Zugleich und konkreter meint es aber auch potentiell in Erfahrung verwandelbare Erlebnisse (im Sinne Benjamin’schen Sprachgebrauchs), denen aber eine solche Verwandlung versagt bleibt, wenn sie vom ›schlechten‹ Behälter aufgefangen werden, der sie nicht ›aufzubehalten‹ vermag, d.h.,
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Benjamin: Werke I.2, 610; Hervorhebung der Vf.. Benjamin: Werke I.2, 610.
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wenn sie über das willkürliche Erinnern quasi – um im Bild zu bleiben – ›entleert‹ werden. Mit Blick auf Rilkes Puppenmotivik verweise ich auf frappante Übereinstimmungen in der Bildersprache, der sich Benjamin zur Charakterisierung des willkürlichen und des unwillkürlichen Erinnerns bedient, und der vom Puppenessay entfalteten. Nach meiner Deutung des Essays diente die Puppe als ›Gefäß‹ für in sie hineinprojizierte Kindheitserlebnisse. Im einen Fall erwies sie sich bald als schlechtes ›Gefäß‹, das mit Angeeignetem aus dem Leben des kindlichen Gegenübers ›abstürzte‹, im anderen jedoch als intaktes, das das Angeeignete sicher aufbewahrte und zu gegebener Zeit preisgab. Ich will nun versuchen, Benjamins auf opponierende Formen des Erinnerns gemünzte Metaphorik auf Rilkes Puppenmotivik zu übertragen: Das ›Puppen-Ding‹ – als ›schlechtes‹ Gefäß – wäre demnach als eine Art ›Funktionär‹ willkürlichen Erinnerns zu denken, während die ›PuppenSeele‹ – als ›gutes‹ Gefäß – sich mit der Tätigkeit des unwillkürlichen Erinnerns korrelieren ließe. Wenn wir Benjamins in der Baudelaire-Studie vorgenommene, kritische Auseinandersetzung mit der Photographie etwas näher anschauen, treten motivische Parallelen zu Tage, die Rilkes Puppe in diesem neuen Licht noch intensiver beleuchten und dabei ein gemeinsames Fundament von Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken erkennbar werden lassen. Im Abschnitt »Über einige Motive bei Baudelaire« der BaudelaireStudie kommentiert Benjamin die von Proust beanstandete »Dürftigkeit«, den »Mangel an Tiefe in den Bildern [...], die ihn die mémoire volontaire von Venedig vorlegt«, und er zitiert Proust, wenn er meint, »beim bloßen Wort ›Venedig‹ sei ihm dieser Bilderschatz ebenso abgeschmackt wie eine Ausstellung von Photographien vorgekommen«.197 Benjamin greift die von Proust gezogene Analogie zwischen Photographie und mémoire volontaire auf und erweitert sie, indem er Bilder, die »aus der mémoire involontaire auftauchen«, mit solchen ›dürftigen‹, ›abgeschmackten‹ aus dem Fundus der mémoire volontaire kontrastiert. Er schreibt: Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ›Verfalls der Aura‹ entscheidend teil. Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick
197
Benjamin: Werke I.2, 646.
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zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird [...], da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.198
Beide von Benjamin beschriebene Phänomene – zum einen die fast tödliche Weigerung, den Blick des Gegenübers zu erwidern, zum anderen die mit der Erfahrung der Aura erfüllte Erwiderung des Blickes – finden wir im Rilke’schen Puppenmotiv ausgestaltet, wo sie in einem ähnlich dualistischen Verhältnis auftreten. Weitere Reflexionen über den Gegensatz zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Erinnern fügen der oben ausgemachten motivischen Kongruenz eine zusätzliche Dimension hinzu. In meiner Rilke-Deutung arbeitete ich komplexe Zusammenhänge zwischen zwei Motiven heraus, die im Kontext dieser Benjamin-Lektüre noch einmal besonderes Gewicht erhalten: Antlitz und Gefäß. Wie ich zeigen konnte, ziehen sich Verknüpfungen dieser beiden Chiffren wie ein roter Faden durch eine ganze Reihe von Dichtungen aus dem Umkreis des PuppenEssays hindurch. Der Gehalt dieser beiden Chiffren näherte sich durch zunehmende Verdichtung zusehends an. Die Puppe erhält die ungeheure Bedeutung für den Essayisten des ihr gewidmeten Essays durch ihren Blick. Ihre Beziehung zum kindlichen Gegenüber wird von der Erwiderung bzw. Nicht-Erwiderung des kindlichen Blickes bestimmt. Als ›schlechtes‹ Gefäß verkörpert die Puppe eine solche Verweigerung; als ›gutes‹ leistet sie die Erwiderung und erfüllt somit ihre vornehmlichste Aufgabe für das kindliche Gegenüber. Nun hatte ich vorgeschlagen, Blick und Gefäß – ähnlich wie bei Benjamin – als Chiffren für Erinnerungsformen und –prozesse zu lesen und die Gleichsetzung von Blick und Behälter, die Benjamin in seinen Reflexionen über die zwei Formen des Erinnerns gedanklich vollzieht, auf Rilkes Puppenmotivik zu übertragen. Nehmen wir die oben zitierte Passage aus der Baudelaire-Studie wieder ins Visier. Dort korrelierte Benjamin den fast tödlichen, weil ›leeren‹ Blick der Kamera mit der mémoire volontaire als einem, wenn man so will, ›entleerenden‹ Mechanismus, der aus dem Stoff potentieller Erfahrung ›dürftige‹, ›abgeschmackte‹ Bilder fabriziert, während er den erwidernden Blick einer anderen Art von Bild gleichsetzte – einem Bild erfüllt von der »Erfahrung der Aura«. Um diese hermeneutische Engführung auf den Begriff zu bringen: In der im Puppenessay konstruierten Dualität zwischen ›Puppen-Ding‹ und ›Puppen-Seele‹ verkörpert das ›Puppen-Ding‹ die tödli-
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Benjamin: Werke I.2, 646.
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che Verweigerung, die Nicht-Erwiderung des Blickes, wodurch Angeeignetes aus dem Gegenüber nicht ›aufbehalten‹ wird, wohingegen die ›PuppenSeele‹ dem Benjamin’schen Ideal eines Zurückblickenden entspricht, der dem Gegenüber die »Erfahrung der Aura in ihrer Fülle« zukommen lässt. In diesem Kontext sei an Benjamins Satz erinnert, wonach »die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung (entspricht), die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt«. Wendet man diese Maxime auf Rilkes Puppenmotivik an, so fügen sich ihre Ingredienzen zu einem kohärenten Bild, das eine tiefgründige Affinität zwischen Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken aufscheinen lässt. In der Sprache des Puppenessays heißt dies: Als ›Übergangsobjekt‹ zwischen Ich und Welt fungiert die Puppe als ›Übungsgegenstand‹, der als solcher einen Gebrauchsgegenstand im besten Sinne des (Benjamin’schen) Wortes darstellt. Sie dient der Bildung von Erfahrung. Als Orientierungsund Bezugspunkt, auf den im Laufe der Kinderzeit permanent rekurriert wird, schafft sie ›Tradition‹ im privaten – wenn auch nicht im kollektiven – Sinne des Wortes. Aber sie kann potentiell zwei unterschiedliche Gestalten annehmen. Erscheint sie lediglich als Artefakt aus der Kindheit, als sterile Konserve ohne weitere Bedeutung für den Erwachsenen, so wird sie zum ›Archiv‹ für erfahrungsleere Erinnerungen im pejorativen Sinne des Wortes. Wird sie als den Blick erwiderndes Gegenüber wahrgenommen, so erhält sie den Status eines auratischen Gegenstandes, der dem Angeblickten »die Erfahrung der Aura in ihrer [ganzen] Fülle« zukommen lässt. Wie ich meine, bietet diese – freilich sehr schematische – Deutung, die im übrigen dem Puppenessay eine ›subkutane‹ Kritik an der ›neuen Kunst‹ der Photographie implizit unterstellt, eine plausible Erklärung für das doppelgesichtige Puppenmotiv. Im Kontext des Benjamin’schen Aurabegriffs lässt sich die Puppenmotivik noch aus einem anderen Winkel beleuchten. ›Projektion‹ und ›Fremdheit‹ waren die Vokabeln, derer ich mich bediente, um die Rilke’sche Puppe in ihrer zwiespältigen Gestalt zu erfassen. Diese Vokabeln erwiesen sich auch als fruchtbar für die Kontextualisierung des Puppenessays in Benjamins Diskurs über Photographieren und Erinnern, für den unter anderem der Aurabegriff sich als konstitutiv zeigte. In diesem Diskurs beschreibt Benjamin die »Erfahrung von Aura« als einen Prozess der Projektion und Rückprojektion. Wie es heißt: Die Erfahrung der Aura beruht [...] auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glauben-
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de schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. Die Funde der mémoire involontaire entsprechen dem.199
Diese romantisch anmutende Vorstellung versieht das Aura erfahrende Subjekt mit einer wesentlichen Rolle insofern, als es die Instanz darstellt, die die in Augenschein genommene Erscheinung »mit dem Vermögen belehn[t], den Blick aufzuschlagen«. Gemeint ist allerdings kein narzisstisches Projektionsverhältnis. Im Gegenteil: Wie es im Folgenden heißt, »entfallen« die »Funde der mémoire involontaire« »der Erinnerung, die sie sich einzuverleiben sucht«. Sie »stützen […] einen Begriff der Aura, der die ›einmalige Erscheinung einer Ferne‹ in ihr begreift«.200 Benjamin schreibt diesen Austausch des ›Nicht-Identischen‹, der wohlgemerkt vom ›belehnenden‹ Subjekt initiiert wird, der Tätigkeit des unwillkürlichen Erinnerns zu und sieht in der »Belehnung« letztlich einen »Quellpunkt der Poesie«.201 Zuvor – im Kontext seiner Kritik an der Photographie – hatte er die Geltungsbereiche des willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerns abgesteckt. Wie er konstatierte: »Die Photographie mag sich unbehelligt die vergänglichen Dinge zu eigen machen, die ein Anrecht ›auf einen Platz in den Archiven unseres Gedächtnisses‹ haben, wenn sie dabei nur haltmacht vor dem ›Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen‹; vor dem der Kunst, in dem nur das eine Stätte hat, ›dem der Mensch seine Seele mitgibt‹.«202 Demnach können wir folgern: ›Belehnung‹ bedeutet so viel wie ›etwas die (menschliche) Seele mitgeben‹. Bei Benjamin formuliert sich also auf verästeltem Wege die Vorstellung eines Zusammenwirkens von einem ›die Seele mitgebenden‹ Menschen, dem, was »der Mensch seine Seele mitgibt«, das jedoch nicht ›einverleibt‹ wird, unwillkürlich Erinnerbarem und Kunst. Die Fremdheit – als Aspekt des (nur) unwillkürlich Erinnerbaren – markiert ein auf Austausch angelegtes, aber Nicht-Identität wahrendes Projektionsverhältnis zwischen Belehnendem und Belehntem, und sie prägt somit auch die Kunst, die aus ihr idealiterweise hervorgeht. Das sind zugleich die Parameter, die Rilkes am Puppenmotiv entfaltetes erinnerungspoetisches Programm ausmachen, mit dem entscheidenden Unterschied aber, dass der Mensch »seine Seele« hier einem einzigen Ding ›mitgibt‹: einem menschlichen ›Abbild‹ aus Leinen und Watte. Die ›Belehnung‹, die hier stattfindet,
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Benjamin: Benjamin: Benjamin: Benjamin:
Werke Werke Werke Werke
I.2, I.2, I.2, I.2,
646f. 647. 647. 644f.
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ist quasi narzisstisch präfiguriert. Vorläufig kann man also konstatieren: Die aus Rilkes Puppenessay herauskristallisierbare Erinnerungspoetik und Benjamins aus vielen verschiedenen Quellen ›zusammengelesene‹ weisen eine ganze Reihe wesentlicher Affinitäten auf, unterscheiden sich aber in der soeben erörterten Hinsicht, nämlich insofern als ›Belehnung‹ in Benjamin’schem Sinne sich potentiell auf Mensch, Ding und Natur erstreckt, während sie in Rilkes Puppenessay einem menschenabbildenden Ding bzw. ›Kunst-Ding‹ vorbehalten bleibt, das nur kraft seiner Menschenähnlichkeit mit der Seele des Menschen ›belehnt‹ werden kann. Dass andere Dichtungen Rilkes das Feld des ›Belehnbaren‹ wesentlich erweitern, ändert wenig an der Argumentation, die der Puppenessay für sich genommen entwickelt. Hier manifestiert sich besonders deutlich die in Rilkes Werk auszumachende Tendenz zur Verabsolutierung der Beziehung zwischen einem Subjekt und einem dieses wie auch immer spiegelnden Gegenüber. Beim Versuch, Art und Ausmaß der Affinität zwischen Rilke und Benjamin auszuloten, etwa, um gewisse literarhistorische Kontinuitäten auszuarbeiten, Traditionen zu identifizieren, aus denen beide gemeinsam schöpfen bzw. die durch ihre Dichtung neu belebt werden, wiegen solche Differenzen unter Umständen schwerer auf als ausgemachte Gemeinsamkeiten. Um die Differenz in Art und Umfang des ›Belehnbaren‹ zu relativieren, möchte ich aber abschließend auf eine noch nicht ausreichend gewürdigte Eigenschaft der ›er-wachsenen‹ Puppen der Lotte Pritzel hinweisen, von denen der Puppenessayist sich bekanntlich inspirieren ließ. Diese stellen keine kindgemäßen Stoffpuppen dar, sondern präsentieren sich als hochgradig stilisierte, bizarr anmutende Frauengestalten. Sollen wir uns sie als erwachsene Pendants zu Puppen aus der Kinderstube vorstellen, so muss ihre radikale Transformierung geradezu beunruhigend wirken; so erscheinen sie, als hätten sie – losgelöst vom kindlichen Gegenüber – all die Jahre ein unkontrolliertes und unkontrollierbares Eigenleben geführt. So scheint auch deren Kapazität für narzisstische Projektion an eine Grenze zu geraten; ein Potential für Fremdheit im Verwandten hingegen, – dies die Voraussetzung für ›Belehnung‹ im Benjamin’schen Sinne –, tut sich hier auf. Diese Komponente der Puppenmotivik zeigt womöglich eine gewisse ›Metamorphose‹ der im Zeichen von Projektion und absolutem Bezug stehenden Dichtung an. Die Veränderung kann womöglich gelesen werden als eine Modifikation der verabsolutierten Bespiegelungsvision, mit der die Aufzeichnungen im Sinne einer Lesart zumindest ausklingen. So zeigt sich die im Puppenessay entwickelte Erinnerungspoetik als anschlussfähig für 314
neue Impulse, neue Visionen, wie sie Benjamin entfaltet und dichterisch wie essayistisch formuliert. 3.2.4. Zur ›Frage der Darstellung‹: Wege zum ›bildnerischen und intellektuellen Ganzen‹ In diesen Schlussbemerkungen will ich an den Gedanken einer von Rilke und Benjamin in vielerlei Hinsicht geteilten poetologischen Vision festhalten und das Gemeinsame über das Trennende stellen. Hier will ich aber auch Adorno und Musil in die Frage nach möglichen Affinitäten und Traditionszugehörigkeiten einbeziehen, und zwar, indem ich zum einen auf Adornos Parataxis-Ästhetik als Sprachkritik rekurriere sowie einen wichtigen Aspekt von Benjamins früher Sprachkritik aufgreife und dessen Weiterentwicklung verfolge, um ihn letztlich mit Blick auf Musils visionäre Poetologie in den Kontext Benjamin’schen und Rilke’schen Erinnerns zu stellen. Dieser lässt sich als die »Frage der Darstellung« umreißen, so die Formel, mit der Benjamin die »[e]rkenntniskritische Vorrede« zu seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels eröffnet.203 In seinem frühen sprachkritischen Traktat hatte Benjamin eine Vision von Sprache als Mitteilung der ›prädizierenden‹ Sprache ›bürgerlicher‹ Diskursivität entgegengesetzt und – folgt man der Argumentation dieser Arbeit – sie im Spätwerk in Form einer Art »integraler Prosa« in seinem eher skizzierten als ausformulierten erinnerungspoetischen Programm mit historismuskritischem Impuls eingebettet. Adornos Hölderlin-Aufsatz operierte mit einem linguistischen Begriff, woraus er eine gewissermaßen ikonoklastische Hölderlinexegese herleitete. Hier kämpfte – ganz im Geiste des ›linguistic turn‹ – eine ›parataktische‹ gegen eine ›idealismuskonforme‹, will heißen ›hypotaktische‹ Lesart an. Der von Adorno inszenierte, auf scheinbar linguistischem Boden ausgefochtene Richtungskampf erhielt seine Selbstlegitimation durch die These, nicht erst im Interpretationsgang, sondern schon im dichterischen Prozess selbst versuche eine Ästhetik des Parataktischen sich gegenüber einem hypotaktischen Dichtungsprinzip zu behaupten; der Dichter lasse sich mal vom Gedanken leiten, mal überlasse er sich dem Impuls des ›Gedichteten‹. Ich möchte die hier benutzten linguistischen Begrifflichkeiten hinterfragen, indem ich einen kritischen Blick auf Adornos im Anschluss an Benjamin geführten Kampf gegen eine
203
Benjamin: Werke I.1, 207.
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Sprache der ›Prädikation‹ werfe unter Berücksichtigung bereits formulierter, ähnlich skeptischer Urteile. In einer unlängst erschienenen Monographie mit dem Titel The Persistance of Subjectivity analysiert Robert B. Pippin204 Adornos tendenziösen Gebrauch des linguistischen Terminus ›predication‹ in Hinblick auf dessen Bedeutung für seine Philosophie des ›Nicht-Identischen‹. Wie Pippin einleuchtend argumentiert, speist sich Adornos Kritik an der prädikativen Sprache aus seiner Animosität gegenüber dem sogenannten Identitätsdenken, das auf einer Ebene zumindest einer Kritik an der begrifflichen Sprache selbst gleichkommt. »[A]ccording to Adorno«, so Pippin, what is basically going wrong [...] amounts to a kind of logical confusion between the status of concepts, or universals, and their relation to instances, or particulars. This, in the simplest sense, is what [Adorno] means by identity thinking: a regimentation of our experience of particulars such that they are identified by attending only to their conceptually salient aspects, whether these be common markers or common similarities to a paradigmatic instance. Elements of experience that do not ›fit‹ what we might conceptually require of them are systematically ignored, even ›suppressed‹, in a way Adorno often links not with a mistake or simple confusion but with ›domination‹ (Herrschaft) or compulsion, force (Zwang), as if simply thinking in a distorted or simplifying way like this amounts to an exercise of power [...].205
In Adornos Geschichts- und Gesellschaftskritik meint Pippin eine reduktionistische Ablehnung von »discursive practices and normatively constrained conduct best codified and defended in German Idealism« zu erkennen, die Adorno als »explicans for everything from bourgeois hypocrisy to maldistribution of resources to the ›coldness‹ of ›the administered world‹« diene, wobei solche ›diskursiven Praktiken‹ mit dem pauschalen Begriff der Prädikation erfasst werden. Wie Pippin schreibt: »Adorno can give the impression that he thinks of all predication as a form of identification, as if he has simply confused the ›is of predication‹ with the ›is of identity‹.« Bezug nehmend auf Anke Thyens Beitrag zu diesem Thema schreibt Pippin: Adorno should have distinguished between ›identifying‹ and ›identity‹ thinking; successfully being able to determine one object as not another is in that sense to have identified it, but that need not mean that the object itself need be exclusively ›identified‹ with such determining predicates and certainly need not mean that the object be identified with its conceptually determining markers,
204 205
Robert B. Pippin: The Persistance of Subjectivity, Cambridge 2005. Pippin: Persistance of Subjectivity, 102f..
316
whatever that could mean. Likewise with distinctions between ›identifying as‹ and ›identifying with‹, and so on.206
In ähnlicher Weise hatte Thyen Adornos emphatische Verteidigung des ›Nicht-Identischen‹ von der linguistischen Seite her analysiert und titulierte den mit großer Beschwörungskraft, aber, wie sie meinte, wenig Substanz versehenen Begriff – »das Nichtidentische bei Adorno [ist] kein Begriff, sondern nur ein Begriffssymbol: eine Leerstelle für einen Begriff«207 – als »eine logische Metapher« und nahm dabei Adornos Feindlichkeit gegenüber der vermeintlich ›prädizierenden‹ Sprache unter die Lupe, indem sie schrieb: Daß das principium identitatis der Logik, Tautologien, aber auch nichttriviale Identitätsbehauptungen vom Typus ›Der Morgenstern ist der Abendstern‹ und analytische Sätze ununterschieden als Exemplifikationen von Identität vorkommen, mag man noch akzeptieren. Schwieriger wird dies, wo [Adorno] auch Subsumtionen, Klassifikationen, ja sogar einfache prädikative Urteile als Beispiele für die Ausgrenzung des Nichtidentischen präsentiert. [...].208
Pippin pflichtet Thyen bei, wenn letztere behauptet, dass Adorno: nie zwischen ›Etwas identifizieren als . . .‹ und ›Etwas identifizieren mit . . .‹ unterscheidet. Zunächst werden alle Redeformen, in denen nicht gegen das logische Identitätsprinzip verstoßen wurde, als Beispiele notwendigerweise identifizierenden Denkens ausgegeben, um sie dann sämtlich als bloße Identitätsbehauptungen unter generellen Tautologienverdacht zu stellen. Selbst wenn es zuträfe, dass alle Deklarativsätze Identifikationen von etwas als etwas repräsentieren, wird in ihnen doch nicht bloß Identität ausgesagt.209
Thyens bissiges Fazit lautet: Was sich als immanente Kritik der Logik identifizierenden Denkens versteht, ist häufig nur Gesellschaftstheorie in logisch-philosophischem Sprachgewand. Die Logik und die Logiker selbst brauchen sich dann nicht angesprochen zu fühlen. Genau dieses theoretische Defizit aber ist als undurchschautes der Grund für die quasi-ästhetische Aura des ›Nicht-Identischen‹.210
206 207 208 209 210
Pippin: Persistance of Subjectivity, 105. Anke Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt/Mn. 1989, 70. Thyen: Negative Dialektik, 70. Thyen: Negative Dialektik, 72. Thyen: Negative Dialektik, 72.
317
Im Rahmen dieser Arbeit – zumal in diesen abschließenden Bemerkungen – kann ich natürlich nicht auf Adornos Negative Dialektik und das mit der Propagierung ihrer gedanklichen und praktischen Umsetzung einhergehende Plädoyer für die Wahrung bzw. ›Rettung‹ des ›NichtIdentischen‹ eingehen. Nur eines sei angemerkt: Im Tenor Adorno’scher Argumentation in einem Werk, das gegen die idealistische Tradition anschreibt, ohne deren Parameter aufzugeben, manifestieren sich Wertvorstellungen, die die hier zur Diskussion stehenden sprachlichen, psychologischen und ästhetischen Phänomene betreffen. In Adornos Absage an die ›prädizierende‹ Sprache in der Negativen Dialektik und Benjamins in ähnlichem Geiste formulierter in seinem frühen Traktat über die Sprache des Menschen drückt sich ein diffuses Unbehagen an fundamentalen Sprachoperationen aus, wodurch Erfahrungen und Erkenntnisse ›auf den Begriff‹ gebracht, wodurch Dinge und Phänomene mit ›Namen‹ versehen werden, wodurch unterschiedliche Erfahrungen und Erkenntnisse ›auf einen gemeinsamen Nenner gebracht‹ werden. Adorno benutzt das Wort ›Prädikation‹ pauschalisierend zur Benennung all solcher, oft sehr komplexer und linguistisch differenzierungsbedürftiger Operationen. In Adornos ideologisch aufgeladener Verwendung dieses ›leeren Begriffs‹ bedeutet Prädikation letztlich Urteil, Vereinnahmung, Gewalt, – Urteil nicht im Hölderlin’schen Sinne als Moment der ›Ur-Teilung‹, sondern umgekehrt als Moment gewaltsamer ›Identifikation‹. Das, was in Folge solcher ›Prädikation‹ geopfert zu werden droht – das ›Nicht-Identische‹ –, wird zum hohen, ›rettungswerten‹ Gut erklärt. Wie Pippin meint, lasse sich Adornos Argument auf eine relativ triviale Geste reduzieren, die besagt: »›remember the forgotten non-identical‹«.211 Diese provokant banale Formel ruft Assoziationen an Benjamins neue Form der Geschichtsschreibung, will heißen, Geschichtslesung hervor. ›Parataxis‹ – ein weiterer linguistischer Terminus, der sich zum überstrapazierten Begriff der ›Prädikation‹ hinzugesellt – avanciert zu einem in ähnlicher Weise ideologiebesetzten ›Sprachgewand‹, hinter dem sich das vermeintliche Allheilmittel für eine vom Identitätsdenken regierte Sprache, vom Identitätsdenken diktierte dichterische Tradition verbirgt – dies eine Tradition, aus deren Mitte, in deren ›reifem Ausdruck‹ Elemente einer neuen, parataktischen Sprache, einer neuen, parataktischen Dichtung entsteht, die mittels Reihung Verzicht auf prädizierende Gewalt übt, so Ador-
211
Pippin: Persistance of Subjectivity, 105.
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nos Hölderlininterpretation. In einem ebenso ideologiebesetzten ›Sprachgewand‹ gekleidet erscheint die ›Hypotaxis‹ als Sprachoperation, die solcher prädizierenden Gewalt eben nicht entsagt. An solchen – wohlgemerkt hochgradig metaphorisierten – Termini, die ihre rein linguistische Bedeutung weiter hinter sich lassen, knüpft sich Eric Santners Hölderlinexegese an, der es gelungen war, die Ansätze von Theodor W. Adorno und Hayden White in einer Weise zu verbinden, dass Benjamins Historismuskritik aus einer neuen Perspektive neu gelesen werden konnte. In solchen Vokabeln wie ›Parataxis‹, ›Hypotaxis, ›Prädikation‹ äußern sich formellhaft ganz bestimmte Wertvorstellungen, und in diesem Sinne erfüllen sie eine nützliche Anzeigefunktion. Mittels der Formel des ›Hypotaktischen‹ lässt sich, wie bereits erörtert, der von Benjamin thesenweise bekämpfte Historismus in ein neues Licht rücken, während die Adorno’sche Formel des ›Paratakischen‹ mit Gewinn angewandt werden kann, um wichtige Nuancen der Art von Geschichtslesung hervorzuheben, die Benjamin im Spätwerk propagiert. Erinnern teilt sich in zwei Formen auf, wobei die eine, das willkürliche Erinnern (wiederum als Analogon der Photographie), mit der ›prädizierenden‹ Sprache korreliert wird, das unwillkürliche hingegen mit einer (nicht näher charakterisierten) Bildersprache oder Sprache des Bildes. Die ›neue Kunst‹, die sich hier ankündigt, ist parataktisch geprägt, speist sich aus dem unwillkürlichen Erinnern, entfaltet eine nicht-prädikative ›Bildersprache‹ und steht – bei aller Rede von ›Belehnung‹ und Verwandtnis – im Zeichen des NichtIdentischen statt einer mit ›Gewalt‹ herbeigeführten Identität. So könnte die vereinfachte Devise lauten, mittels derer man diese neue, poetologisch entfaltete Ästhetik erfassen könnte. Doch kommen wir noch einmal auf Robert Musil zu sprechen. Adornos Kritik an der Prädikation betrifft verschiedene nicht klar differenzierte Vorgänge, darunter zwei wesentliche Dimensionen der Sprache, die von konstitutiver Bedeutung sind für Törleß’ bzw. Musils eigene Sprachkritik: Signifikationsprozesse und das Operieren mit Begriffen. In seiner Agitation gegen die Gewalt der begrifflichen Sprache dürfte Adorno in Musil einen sympathisierenden Vorreiter gesehen haben, fällt Musils Urteil über das vom Begriff beherrschte Gebiet des ›Ratioïden‹ bei ähnlicher Fundierung ähnlich negativ aus, ist doch, wie er meint, »alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfassbare« – der Stoff des Begrifflichen also – durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander (ge-
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kennzeichnet), sodaß sie sich auch in schon früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnlich einfügen [...].212
Und wie es weiter heißt: Vor allen Dingen aber schon dadurch, dass sich die Tatsachen auf diesem Gebiet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen. [...] Man kann sagen, das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung.213
Der von Musil aufgestellte Dualismus des ›Ratioïden‹ und des ›NichtRatioïden‹ beinhaltet solche Kontraste wie den zwischen »der Herrschaft der Regel mit Ausnahmen« und der Herrschaft der »Ausnahmen über die Regel«, zwischen Begriff und Urteil auf der einen Seite und ›Idee‹ auf der anderen, zwischen den bereits erwähnten »toten« und »lebendigen« Gedanken. Ich subsumierte das Gegensätzliche an solchen Oppositionspaaren unter der Formel ›Gleichung versus Gleichnis‹.214 ›Ratioïdes‹ Denken wird von Musil als ein »sich an der beschienenen Oberfläche« bewegendes charakterisiert, »das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann«215: In dieser Formulierung und ähnlichen klingt Prousts Charakterisierung der mémoire volontaire als einer Art Verwalter jederzeit verfügbarer, vollkommen ›beleuchteter‹ und illuminierbarer Reminiszenzen an – Reminiszenzen, die aber dem Erinnernden so ›dürftig‹ und ›abgeschmackt‹ erscheinen wie dem Essayisten Musil die ›toten‹ Gedanken, – Gedanken, nämlich, die so »gleichgültig (bleiben) wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten«.216 Jene dem Bereich des ›Nicht-Ratioïden‹ zuzuordnenden ›lebendigen‹ Gedanken bedürfen, wie das unwillkürliche Erinnern auch, »etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, [...] so daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch [reißt...]«.217 Wie Musil bemerkt, mögen solche Gedanken »schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein«, aber sie werden »erst in dem Moment lebendig«, da das, was »nicht mehr Denken« ist, »zu [ihnen] hinzutritt«.218 Wie das unwillkürlich Erinnerte 212 213 214 215 216 217 218
Musil: Werke 8, 1026. Musil: Werke 8, 1026f. Siehe Kapitel 1.3.1. dieser Arbeit. Musil: Werke 8, 136. Musil: Werke 8, 136. Musil: Werke 8, 136. Musil: Werke 8, 136f.
320
handelt es sich hierbei um etwas, das im Verborgenen bereits existiert und wirkt, etwas aber, das nicht durch gedankliche Anstrengung ›abgerufen‹ werden kann. Törleß’ Sprachkrise war weitgehend vom mit Qual vernommenen Unvermögen der rein begrifflichen Sprache bedingt, solche Gedanken ›verfügbar‹ zu machen, an die Oberfläche zu holen, restlos zu beleuchten. Die Signifikationskraft dieser Art von Sprache erwies sich als fundamental begrenzt und – um in der topologischen Redeweise des Romans zu bleiben – als unfähig, in die Tiefe zu dringen. So wie die mémoire involontaire bei Proust und Benjamin einen hohen Wert erhält gegenüber der durch Registrierund Reproduzierbarkeit gekennzeichneten mémoire volontaire und kraft ihrer Fähigkeit, ›Schätze‹ aus der Tiefe hochzuholen – und sei es auf noch so flüchtige Weise – dem Geltungsbereich der Kunst zugeordnet wird, so – bei Musil – das auf ›nicht-ratioïdem‹ Wege Erfahrbares auch. Die ›Tatsachen‹, die sich auf diesem Gebiet dartun, die Beziehungen, die sie hier eingehen, seien »unendlich unberechenbar« – wie unwillkürlich Erinnertes, mag man hinzufügen. So gilt dieses Gebiet Musil als »das Heimatgebiet dies Dichters«.219 Zwar spricht Musil auch in diesem Zusammenhang von ›Urteil‹, ›Begriff‹ und ›Vernunft‹, aber mehr noch von ›Flüchtigkeit‹ und ›Willkür‹. Er schreibt: »Auf diesem [Gebiet] ist das Verständnis jedes Urteils, der Sinn jedes Begriffs von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als Äther, von einer persönlichen Willkür.«220 Im Wort vom »Heimatgebiet des Dichters«, vom »Herrschaftsgebiet seiner Vernunft«221 wird die Aufgabe des Dichters in Abgrenzung zu dem auf dem Gebiet des ›Ratioïden‹ Tätigen folgendermaßen bestimmt: Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist hier von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehnisabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden. [...].222
Und doch verschreibt sich Musil keinem starren Dualismus, der einem der beiden Geltungsbereiche alleinige ›Herrschaft‹ einräumt. Vielmehr
219 220 221 222
Musil: Werke 8, 1029. Musil: Werke 8, 1028f.; Hervorhebung der Vf. Hervorhebung der Vf. Musil: Werke 8, 1029.
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sieht seine Vision – ohngeachtet einer nicht zu leugnenden Privilegierung des ›Nicht-Ratioïden‹ – eine Synthese des einen mit dem anderen, des ›ratioïden‹ mit dem ›nicht-ratioïden‹ Erfahrungs- und Erkenntnismodus vor. Anders als bei Prousts Kontrastierung der mémoire volontaire mit der mémoire involontaire, die lediglich letztere Form des Erinnerns für ›poesiefähig‹ erklärt, formuliert Musil keine strikte Trennung etwa zwischen Formen der Erkenntnis, die »tote« bzw. »lebendige« Gedanken hervorbringen. Wie er schreibt: Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.223
Zwar überwiegt in diesem Bild der im Dunkel harrende Anteil solcher Erkenntnisse, aber der illuminierte Gedanke hat durchaus seinen Platz, seine Funktion. Was dies betrifft, ist Musils Vision weitaus versöhnlicher als die eines Proust oder Benjamin. So verwundert es auch nicht, dass Musils Ulrich zumindest theoretisch versucht, den widerstrebenden »Verhaltensweisen des Gleichnisses«, aus denen einerseits »Traum und Kunst«, andererseits »Wahrheit und Wissen« entstehen,224 zu einer Synthese zu verhelfen. Nichtsdestotrotz spricht Musil in seiner Rolle als Advokat des ›nicht-ratioïden‹ Prinzips letztlich eine lautere Sprache. Was Musil sich vornimmt, ist nur möglich, wo keine unerschütterbar feste Ordnung diktiert, wo keine »Zentrierung der Einfälle« um der Systematisierung willen verlangt wird, sondern vielmehr Platz da ist für eine den ›Möglichkeitssinn‹ ermöglichende ›Dezentrierung‹. In Benjamins Reflexionen über den »Begriff des Traktats – Erkenntnis und Wahrheit« in der »Erkenntniskritische[n] Vorrede« zum Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) klingen Musil’sche Visionen an. Schon die Vokabeln, mit denen Benjamins poetologisch argumentierende Apologie des Traktats operiert, korrelieren weitgehend mit den von Musil bemühten. Ich hatte konstatiert, dass Benjamins Insistieren auf der Nichtigkeit einer prädizierenden Sprache und der durch sie erzeugten Diskursivität mit der Suche nach Strategien einherging, die die quintessentielle »Frage der Darstellung«225 lösen sollten. Die Vorrede zum Trauerspielbuch widmet
223 224 225
Musil: Werke 8, 137. Musil: Werke 2, 581f.. Benjamin: Werke I.1, 207.
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sich genau dieser Frage. Wie Benjamin gleich zum Auftakt konstatiert, liege es nicht »in der Gewalt des bloßen Denkens«, Abgeschlossenheit im Sinne einer glücklichen Lösung dieser Frage zu erreichen. Wie Musil beruft sich Benjamin auf die Mathematik, um aber, wie Musil auch, dem Rechnen ›mit festen Größen‹, dem Lösen eindeutiger, restlos ›aufgehender‹ Gleichungen eine Form von Geistestätigkeit gegenüberzustellen, die im Gegensatz zur mathematischen die ›Frage der Darstellung‹ nicht umgehen kann. Wie Benjamin argumentiert, belege es die Mathematik »deutlich, [...] daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems [...] das Signum echter Erkenntnis ist«; »gleich bündig« stelle sich aber »ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar« (Hervorhebung der Vf.). Der »Synkretismus«, dem sich die vom »Systembegriff« bestimmte Philosophie »zu bequemen« drohe, suche »die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen [...] als käme sie von draußen her zugeflogen«. Wie Benjamin programmatisch verkündet, müsse die Philosophie aber, wolle sie »nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, [...] der Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System Gewicht (beilegen)«.226 ›Wahrheit‹, im Gegensatz zu ›Erkenntnis‹, nähert man sich demnach durch Einübung in die der Darstellung von Wahrheit gemäße Form, und diese – ›propädeutische‹ – Form heißt: ›Traktat‹. In der »[e]rkenntniskritischen Vorrede« zum Trauerspielbuch wird diese Übungsform poetologisch bestimmt, sprich: in Form eines ›Traktats über das Traktat‹. Wie Benjamin ausführt, bleiben Traktate die Bündigkeit einer Unterweisung [...] versagt. Nicht weniger entraten sie der Zwangsmittel des mathematischen Beweises. […] Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode. Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats.227
Darstellung als Umweg und Umweg als methodischer Charakter des Traktats: Diesen Leitgedanken erläutert Benjamin ausführlich, wenn er schreibt: Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention [Hervorhebung der Vf.] ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unter-
226 227
Benjamin: Werke I.1, 208. Benjamin: Werke I.1, 208.
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schiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik.228
Benjamins ausgedehnter Vergleich des Traktats mit einem Mosaik versieht sein Modell mit klaren metaphorischen Konturen. »Wie bei der »Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung«, so Benjamin. »Aus Einzelnem und Disparatem« trete das Mosaik zusammen, und gerade deswegen könnte »nichts [...] mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit lehren«.229 Das diskursiver Intention sich entziehende Kompositionsprinzip – hierin sind Anklänge an eine Adorno’sche Ästhetik des ›Gedichteten‹ zu entdecken –, die aus- und zurückholende Rhythmik des Gedankenflusses zeitigt die entscheidende ›Wahrheitsfindung‹. Wie Benjamin schreibt: Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht es aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen läßt.230
Als ›Form der Darstellung‹ vereinigt das Mosaik – dies ein Vorbild für das Traktat bzw. eine ihm verwandte Kunstart – das Moment intentionslosen Fließens mit der Verfestigung zu einem ›Ganzen‹: einem ›bildnerischen und intellektuellen Ganzen‹. Das Traktat wird von Benjamin als »eine eigenbürtige prosaische Form« gepriesen – man erinnere sich an das späte Wort von der »integralen Prosa« –, dessen Gegenstand »die Ideen« seien. Diese begreift er, wie in seiner frühen sprachkritischen Abhandlung auch, als ein Sich-Selbst-Darstellendes. Diese kategoriale Bestimmung der ›Idee‹ liefert das Fundament für die Benjamins Argumentation tragende Dichotomie: ›Wahrheit‹ versus ›Erkenntnis‹. Wie er zunächst konstatiert: Wenn Darstellung als eigentliche Methode des philosophischen Traktats sich behaupten will, so muß sie Darstellung der Ideen sein. Die Wahrheit, verge-
228 229 230
Benjamin: Werke I.1, 208. Benjamin: Werke I.1, 208. Benjamin: Werke I.1, 208.
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genwärtigt im Reigen der dargestellten Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich.231
Wie Musil problematisiert Benjamin den festen Charakter dessen, was zum ›Gegenstand‹ der Erkenntnis wird: Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein – und sei es transzendental – innegehabt werden muß. Ihm bleibt der Besitzcharakter.232
Erkenntnis als Besitz setzt Vermittlung voraus. ›Wahrheit‹ hingegen ist per definitionem kein Vermitteltes. Als »Darstellung ihrer selbst« ist ihr die Methode »als Form mit ihr gegeben«.233 Darstellung, verstanden in diesem Sinne, bleibt also von der Art epistemologischer, wenn man so will, ›begriffs-stütziger‹ Sprachkritik, die Törleß umtreibt, gänzlich unberührt, denn Benjamins wichtige Unterscheidung zwischen Erkenntnis als epistemologischer und Wahrheit als ontologischer Kategorie wird mit einer explizit platonischen ›Ideenlehre‹ hinterlegt, die den sprachkritischen Zugriff im Sinne Törleß´scher Sprachverwirrung von vornherein ausschließt. Als Form, die sich selbst darstellt, »eignet [Wahrheit]«, so Benjamin, nicht einem Zusammenhang im Bewußtsein, wie die Methodik der Erkenntnis es tut, sondern einem Sein. Immer wieder wird als eine der tiefsten Intentionen der Philosophie in ihrem Ursprung, der Platonischen Ideenlehre, sich der Satz erweisen, daß der Gegenstand der Erkenntnis sich nicht deckt mit der Wahrheit. Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit. Die Erkenntnis richtet sich auf das Einzelne, auf dessen Einheit aber nicht unmittelbar. Die Einheit der Erkenntnis – wenn anders sie bestünde – wäre vielmehr ein nur vermittelt, nämlich auf Grund der Einzelkenntnisse und gewissermaßen durch deren Ausgleich, herstellbarer Zusammenhang, während im Wesen der Wahrheit die Einheit durchaus unvermittelt und direkte Bestimmung ist. Dieser Bestimmung als einer direkten ist es eigentümlich, nicht erfragt werden zu können. [...] Als Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller Frage.234
Um mit Musil zu reden: Erkenntnis gründet im »wissenschaftlich Systematisierbare[n]«; dieses Produkt einer Denkoperation stellt das »in Gesetze und Regeln Zusammenfassbare«235 dar, wohingegen ›Wahrheit‹ 231 232 233 234 235
Benjamin: Werke I.1, 209. Benjamin: Werke I.1, 209. Benjamin: Werke I.1, 209. Benjamin: Werke I.1, 209f.. Musil: Werke 8, 1026.
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sich aller Begriffsbildung entzieht. Benjamins in der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels gelieferte Antwort auf die ›Frage der Darstellung‹ deckt sich mit dem prädikationsfeindlichen Sprach- und Dichtungsverständnis, das seine frühe Abhandlung Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen entwickelt, aber in der späteren Schrift hat die »Lösung des Darstellungsproblems« eine konkrete Form angenommen: Der Benjamin des Trauerspielbuchs deklariert das Traktat als einzige der (Selbst-Darstellung von) Wahrheit adäquate Übungsform. Mittels dieser hat die menschensprachliche Annäherung an ›Wahrheit‹ als ›Sein der Ideen‹ versuchsweise zu erfolgen. So präskriptiv dieser Leitgedanke anmuten mag, so frei soll die Form seiner Umsetzung ausfallen. Ganz im Sinne Musil’schen Essayismus soll die »intermittierende Rhythmik« des Traktats »Lösungsmöglichkeiten« entwerfen, Lösungsmöglichkeiten, die »kein Ende« nehmen. Um das bekannte Musil’sche Wort noch einmal zu bemühen, geht es darum, »immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken«,236 im ›Reigen‹ einer ausladenden Form sprachlich durchzuexerzieren.237 Versprachlichung erfolgt hierbei aber nicht in Form permanenter Iteration; sie bedeutet kein wiederholt müdes Ansetzen zu immer neuen, begriffslastigen Signifikationsprozessen, die ›zu kurz greifen‹ im Sinne Törleß’schen Unbehagens an einer defizitär-prädikativen Sprache. Benjamins Traktat, wie Musils bzw. Ulrichs Gleichnis, kommt eine spielerische, aber nicht minder bedeutsame Aufgabe zu, die sich im Rahmen einer Vielzahl von wertenden Dichotomien stellt, allen voran die wichtige Unterscheidung zwischen Begriff bzw. Urteil und ›Idee‹. Ganz im Sinne Benjamins weist Musil Begriff und Urteil dem Geltungsbereich des ›Ratioïden‹, die ›Idee‹ der Sphäre des ›Nicht-Ratioïden‹ zu. Ferner opponiert ›Vernunft‹ gegen ›Willkür‹, das durch logisches Denken Erfassbare gegen ›Wahrheit‹, das Berechenbare gegen das Unberechenbare, das ›tote‹ gegen das ›lebendige‹ Denken, das (restlos) Illuminierbare gegen das nur sporadisch und punktuell sich bemerkbar machende, nur intuitiv zu erahnende Verborgene ›am Grund des Daseins‹, – so der Dualismus, der sich in Musils Dichtung und Essays immer wieder abzeichnet. Überspitzt gesagt: Die Urteils- bzw. Begriffsbildung bedient sich der prädikativen Sprache und steht im Zeichen des ›bloßen Denkens‹ (als ›gewaltsamen‹ Instruments) 238
236 237 238
Musil: Werke 8, 1029. Musil: Werke 8, 1029. Vgl. Benjamin: Werke I.1, 207.
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bzw. des ›Ratioïden‹; den ›Ideen‹ kann sich der Mensch bzw. vielmehr der menschliche Sprachsinn höchstens versuchsweise nähern: auf dem Wege des Gleichnisses – so Musil – bzw. des Traktats – so Benjamin. Obwohl Törleß’ bzw. Ulrichs poetologische Vision eine Synthese des ›Ratioïden‹ und des ›Nicht-Ratioïden‹ ›vor-sieht‹, ähnelt Ulrichs Antwort auf die ›Frage der Darstellung‹ in ganz wesentlichen Momenten der von Benjamin im Trauerspielbuch bereitgestellten: ›experimentelle‹ Dichtung im Zeichen einer, wenn man so will, ›platonisierenden‹ Ideenlehre. Allerdings erreicht diese »Lösung des Darstellungsproblems« Musils Leser durch die Brechung eines fiktiven, ›mit-denkenden‹ Protagonisten hindurch, und bei Benjamin stellt sie das frühe Fazit einer Auseinandersetzung dar, die den Autor im Spätwerk unter veränderten Vorzeichen noch bzw. wieder umtreiben wird. Nicht zuletzt die »intermittierende Rhythmik« eines wiederholten Ansetzens zur Beantwortung der quintessentiellen ›Frage der Darstellung‹ prägt ja Benjamins späte Reflexionen über die ›kulturdialektische Methode‹. Der oben formulierte Katalog an Dichotomien, der das Musil’sche Ringen mit der ›Frage der Darstellung‹ gewissermaßen auf den Punkt bringt, entspricht der Frage nach Formen des Erinnerns. Dies zeigt sich auf exemplarische Weise im Bild des Fischernetzes, das Musil zur Zelebrierung des ›Nicht-Ratioïden‹ und der mit ihm korrelierten Sphäre, Benjamin zum Ausloten des dichterischen Potentials unwillkürlichen Erinnerns diente. Die frappanten Parallelen in der Wesensbestimmung von ›Erkenntnis‹ und ›willkürlichem‹ Erinnern einerseits, zwischen ›Wahrheit‹ und ›unwillkürlichem‹ Erinnern andererseits, sowie das im Hinblick auf Musil, Rilke, Proust und Benjamin konsensfähige Verdikt über die differerierende Wertigkeit der jeweiligen Größen, das in allen Fällen – ob implizit oder explizit – zugunsten von ›Wahrheit‹ und ›unwillkürlichem‹ Erinnern ausgesprochen wird, sind, wie ich meine, keine zufälligen oder nur punktuellen Erscheinungen. Die hier beleuchteten Erinnerungspoetiken weisen dem ›unwillkürlichen Erinnern‹ durchweg einen ähnlich positiven, poetologisch wichtigen Stellenwert zu wie Benjamin und Musil dem nach ›Wahrheit‹ statt ›Erkenntnis‹ trachtenden ›Sprach-Sinn‹. Die Korrespondenzen zwischen den von Musil und Benjamin ausgewiesenen (dichterischen) Wegen zur ›Wahrheitsfindung‹ – die die Grenzen zwischen Poesie und Reflexion fallen, ja, sie eins werden lassen – , und den erinnerungspoetischen Programmen, die sich aus den hier zur Diskussion gestellten Quellen ›herauslesen‹ ließen, sind vielfältig und weitreichend. Es liegt nahe, die ›Frage der Darstellung‹ und das gleichermaßen poetologisch bestimmte Sinnieren 327
über Formen des Erinnerns als Varianten eines einzigen, großen, für die hier versuchsweise (re-)konstruierte Tradition konstitutiven Anliegens zu betrachten, – mit allen Konsequenzen für die Art, wie man ihre dichterischen Zeugnisse deutet. So gesehen formieren sich die Einzelmomente dieses meines (doppelsinnigen) Versuchs einer Traditionsfindung – Erinnerungspoetiken, Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik und die mit diesen verknüpften poetologischen Visionen bzw. visionären Poetologien – zu Facetten eines dichten, aber auch weit verästelten Bezugskomplexes, in dem jede einzelne einen integralen Ausdruckswert erhält. Um Benjamins bildhafte Formel zu borgen: das in dieser Arbeit Dar- und Ausgelegte fügt sich wie ›Mosaiksteine‹ zu einem Ganzen, das sich aber offen hält für den ›Fluss‹ erneuter Reflexion. Am Schluss dieser letzten Betrachtungen möchte ich noch einmal – quasi im Sinne eines Epilogs – auf einen gemeinsamen Nenner der hier erkundeten visionären Poetologien zu sprechen kommen: auf das (wie auch immer geartete bzw. formulierte) Streben nach Vereinigung – und zwar mit der Intention, bei aller Komplexität vielfältiger hier erforschter Bezüge eine gewisse Engführung vorzunehmen, um die Konturen einer teils auf Gleichgesinntheit, teils auf Komplementarität, teils auf diametrale Oppositionalität beruhenden Tradition zu ziehen und dabei gewisse kritische Fragen (noch einmal) zu stellen, die ich ›ins Offene‹ entlassen möchte. In diesem Sinne will ich bei Robert Musil ansetzen und den Blick erneut auf die Musil’sche Mystik, wie sie vor allem in den Verwirrungen des Zöglings Törleß Ausdruck findet, richten und dabei eine bereits aufgeworfene, aber in seinem kritischen Gehalt nicht ausreichend bewogene Frage noch einmal erörtern. Zu fragen ist nach dem Stellenwert ›mystischen‹ Vereinigungsstrebens, wie es in diesem Werk, – und unter etwas veränderten Vorzeichen im Mann ohne Eigenschaften –, thematisiert wird. Die noch offen gebliebene Frage lässt sich auf verschiedene Weisen stellen. So etwa: Ähnelt Musil’sche Mystik der ›gottlosen Mystik‹ eines Fritz Mauthner, und wenn ja, besteht nicht Grund zum Zweifel an der ›Redlichkeit‹ Musil’scher ›Mystiker‹ in Bezug auf ihr Streben nach ›mystischer‹ Vereinigung? Will heißen: Muss nicht Musil’sche Mystik, wie Mauthners ›gottlose‹, als Notbehelf verstanden werden: als Notbehelf für eine ›bankrott‹ gewordene Wissenschaft, die eine defizitäre (Begriffs)-Sprache generiert bzw. von einer solchen getragen wird, und wenn ja, decouvriert sich das ›eigentliche‹ Anliegen der Musil’schen Auseinandersetzung mit Formen mystischer Erfahrung nicht letztlich als ein rein erkenntnis- und sprachkritisches? Anders gefragt: Bedienen sich Musil’sche ›Mystiker‹ nicht ›Gott‹ in seiner ›Unsagbarkeit‹ als eine Art Prüfstein für eine, 328
um mit Mauthner zu reden, als ›abgewertete‹ Währung empfundene Sprache, und wird nicht die sprachmystische Tradition, die sich in genuiner Weise und mit enormer intellektuell-bildhafter Zugkraft mit der Sprachnot erzeugenden Differenz Gottes auseinandersetzt, dabei in den Dienst einer wissenschaftlichen Erkenntniskritik gestellt, die vom ›hohen Kurs‹ ihrer ›Währung‹, sprich ihrer ›poetischen‹ Ausdruckskraft zu profitieren hofft? Kurzum: Ist die visionäre Vereinigungspoetologie Musil’scher Provenienz nicht letztlich von diesseitsgerichteten epistemologischen Fragestellungen durchdrungen? Womöglich liefert aber die von der negativen Theologie inspirierte Tradition christlicher Mystik auch ein anderes Paradigma, das Musil für seine Intentionen dienstbar zu machen versteht: eines, das Wege einer intellektuellen mit denen einer im weitesten Sinne des Wortes affektiven Gottesannäherung – um mit Grace Jantzen zu reden, ›knowing‹ mit ›loving‹ – verbindet. Meine auf den Törleß gemünzte Formel ›sexueller-epistemologische Verwirrungen‹ legt diese Möglichkeit nahe. Aber auch in diesem Fall gälte das dichterische Interesse weniger der Auslotung einer – zweidimensionalen – mystischen Praxis; vielmehr lieferte das duale mystische Paradigma die Legitimation für eine auf Dualität der Darstellung basierende Dichtung, sprich: für eine philosophisch-poetische Dichtung. Liest man den Mann ohne Eigenschaften als eine Reihe von auf poetischem Felde durchgeführten Gedankenexperimenten, zu denen nicht zuletzt das ins Zeichen einer ›taghellen Mystik‹ gestellte Erproben des ›anderen Zustands‹ gehöre, so läge diesem ›Projekt‹ eine tiefgründige Ironie inne, diente doch sein Telos – der ›andere Zustand‹ – zur Legitimation der Dichtungsweise, die zu dessen versuchsweiser Einlösung entwickelt wird. Letztlich ›heiligte‹ der erklärte, aber vermeintliche Zweck die Mittel: das intellektuell-bildhafte bzw. diskursiv-poetische ›Sprechen‹. Übt die intellektuell-affektive Mystik nicht vornehmlich die Faszination einer zweidimensionalen Erkundungspraxis aus, in der sich die Praxis Musil’schen Dichtens spiegeln kann? Beide hier ausgemalte Szenarien sind denkbar; in beiden Fällen kommt der Thematisierung mystischen Vereinigungsstrebens eine sekundäre Bedeutung, wenn nicht zu sagen, eine Art Alibi-Funktion zu. Während Musil’sche Mystik unter dem Verdacht der ›Zweckentfremdung‹ steht, finden sich bei Benjamin, der ebenfalls sprach- und erkenntniskritisches Terrain betritt and dabei die ›Frage der Darstellung‹ aufwirft, überraschende Berührungspunkte mit der mystischen Tradition, die Musil bei seinen Erkundungen derselben Frage bemüht. Ich begnüge mich hierbei mit einem punktuellen Verweis auf das überraschende und aufschlussreiche Anklingen der frühen Sprachphilosophie Benjamins an die sprachorientierte 329
Mystik Eckhardtscher Provenienz. Indem Benjamin in seiner frühen Abhandlung Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen nicht dem Menschen, wohl aber dem Menschenwort ›Beiwort-Charakter‹ attestiert und diesem das göttliche Wort als ›Sein‹ gegenüberstellt, nimmt er eine quasi-Eckhardt’sche Position ein. Wie eine Kernaussage des Mystikers lautet: Ich wende mich dem Wörtchen ›quasi‹ zu, das heißt ›gleichsam‹, das nennen die Schüler in der Schule ein Ad-verb: ein Bei-Wort. Das ist, was ich in allen meinen Predigten behandle. Das Allereigentlichste, was man von Gott sagen kann, das ist ›das Wort‹ und ›die Wahrheit‹. Gott nannte sich selber ein Wort. Der heilige Johannes schrieb: ›Im Anfang war das Wort‹ [Io 1,1], und das bedeutet, daß der Mensch ein Bei-Wort zu diesem Wort sein soll. [...] Es gibt einmal das geschaffene Wort – das ist der Engel und der Mensch und alle Schöpfung. Es gibt weiterhin das gedachte und geschaffene Wort, mit dem ich es vermag, Abbilder in mir zu schaffen. Außerdem gibt es ein Wort, das ungeschaffen und ungedacht ist. Das entäußert sich nie, sondern es ist immer in dem der es spricht; es ist immer in einem Empfangen begriffen im Vater, der es spricht und es bleibt in ihm.239
Man vergleiche den Benjamin des frühen sprachphilosophischen Traktats: Nun ist es klar, daß in der Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen dieses Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zwischen beiden bestritten wird. Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d.h. je existenter und wirklicher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener [...] die Beziehung zwischen Geist und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ist. Genau das meint [...] der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt. Denn es wird angesprochen im Namen und spricht sich aus als Offenbarung. Hierin aber kündigt sich an, daß allein das höchste geistige Wesen, wie es in der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht, während alle Kunst, die Poesie nicht ausgenommen, nicht auf dem allerletzten
239
Meister Eckhart: Deutsche Predigten. Eine Auswahl auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi«, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001, Predigt Q9, 55;57.
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Inbegriff des Sprachgeistes, sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in seiner vollendeten Schönheit, beruht.240
Die so formulierte ›Frage der Darstellung‹ steht im Zeichen eines ontologischen Sprachverständnisses; im Kontext der mystischen Lehre von der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ verknüpfen sich mystische Vereinigungsvisionen und Sprachkritik – als konstitutive Komponente der in dieser Weise gestellten Frage – auf geradezu zwingende Weise.241 Verweilen wir noch kurz beim erkenntniskritischen Moment der von Musil und Benjamin auf ähnliche Weise erörterten ›Frage der Darstellung‹, so kann man in Bezug auf den dritten hier untersuchten Dichter feststellen: Rilke’sche Vereinigungsvisionen wie die hier untersuchten, mitunter als ›mystisch‹ zu bezeichnenden weisen kein erkenntniskritisches Interesse im engeren Sinne des Wortes auf. Sie sind vielmehr ›produktorientiert‹. Denn die beiden hier ›nachvollzogenen‹ poetologischen Visionen – die Malte’sche wie die im Puppenessay formulierte – verbindet Eines: Die ersehnte Vereinigung zielt letztlich darauf ab, ein ästhetisches Werk zu generieren, und zwar ein im Rahmen absoluten Selbstbezugs harrendes, so der Eindruck, der sich letztlich trotz Erwägung alternativer Szenarien verfestigt. ›Vereinigung‹ stellt keinen vermeintlichen Zweck dar, sondern sie präsentiert sich als das Mittel zum Zweck: die ästhetische Erfüllung reinen, ›gespanntesten‹ Selbstbezugs. Auch hier erhalten dichterisch beschworene Vereinigungsvisionen eine Sekundärfunktion, aber eben eine für den anvisierten (dichterischen) Prozess integrale. Insbesondere was die hier erkundeten Erinnerungspoetiken betrifft, lesen sich die von Benjamin formulierten, hier erörterten visionären Vereinigungsvisionen wie Inversionen Rilk’scher, und zwar insofern, als Benjamin im Zuge der Ausarbeitung seiner für diese Poetik konstitutiven ›kulturdialektischen Methode‹ gegen die Verabsolutierung des individuellen Erfahrungsund Erinnerungshorizonts angeht, indem er diesen in einen kollektiven zu überführen sucht. Der ›große Wurf‹, dem dies gelingen sollte, musste im Fragmentzustand abgebrochen werden. Benjamins Berliner Kindheit um 1900 zeigt aber (hochpoetische) Wege zur zumindest ansatzweisen Umsetzung des unvollendet gebliebenen Vorhabens.
240 241
Benjamin: Werke II.1, 146f.. Dies zeigte Walter Haugs »Theorie des mystischen Sprechens« auf überzeugende Weise.
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Ich möchte meine Untersuchung mit einer Benjamin’schen ›Gegenvision‹ Rilke’scher Vereinigungs- bzw. Bespiegelungspoetik beschließen, um im exakt bemessenen ›Konträren‹ die terra comparationis der hier ausgeloteten Tradition textnah zu illustrieren. Man kann womöglich behaupten: Nirgendwo findet Benjamins Vision eines auf Gewinnung von Totalität abzielenden kollektiven Erinnerns so einprägsamen poetischen Ausdruck wie in der Miniatur »Der Fischotter« in seiner Berliner Kindheit um 1900. Erinnert wird in diesem Text, wie der Dichter als Kind vor dem »Zwinger des Fischotters« stand, »häufig, endlos wartend, vor dieser unergründlichen und schwarzen Tiefe, um irgendwo den Otter zu entdecken« (BK, 44). Das Kind erhascht kaum je einen Blick des Tieres, und wenn es denn »endlich (gelang),« so Benjamin, »war es sicher nur für einen Nu, denn augenblicklich war der gleißende Insasse der Zisterne wieder von neuem in der nassen Nacht verschwunden« (BK, 44). Der erinnernde Dichter weiß zwar, dass es »in Wahrheit [...] keine Zisterne (war), in der man den Otter hielt«, aber, wie er sich besinnt, war es ihm immer, wenn er »in sein [des Otters] Wasser blickte, [...] als stürze Regen in alle Gullis der Stadt, nur um in dieses Becken zu münden und sein Tier zu speisen« (BK, 44). In der Imagination des Kindes, dichterisch evoziert im vom Erinnerungsgedanken durchdrungenen Spätwerk, war der Fischotter »ein verwöhntes Tier [...] dem die leere, feuchte Grotte mehr als Tempel denn als Zufluchtsstätte diente. Es war das heilige Tier des Regenwassers« (BK, 44). Der Dichter fragt sich, ob das ›heilige‹ Tier »in diesen Abwässern und Wässern sich gebildet habe oder von seinem Strömen und von seinen Rinnseln sich nur speise«. Jedenfalls sei es »[i]mmer […] aufs äußerste beschäftigt [gewesen], so als wenn es in seiner Tiefe unentbehrlich sei«, und das Kind »hätte liebe, lange Tage die Stirne an sein Gatter legen können, ohne [sich] an ihn sattzusehen,« worin es »seine heimliche Verwandtschaft mit dem Regen (bewies)« (BK, 44). In der Metaphorik dieser Miniatur gleicht der kollektiv erlebte Regentag einem kleinen Mädchen, das sich »den Scheitel unter diesen grauen Kamm« beugt und sich die Haare von dessen »feinen oder groben Zähnen [...] langsam Stunden und Minuten strähn[en]« lässt, bevor der strömende Regen in die Gullis stürzt, um letztlich in die ›Zisterne‹ des Fischotters ›einzumünden‹. Im stundenlangen Belauschen des Regens von der Geborgenheit der elterlichen Wohnung aus liegt die persönliche Erfahrung, die sich als solche dem Regen ›mitteilt‹, um beim Fischotter in ein tiefgründiges Erinnerungsgefäß zu gelangen, – so die poetische Vision, die sich hier entfaltet. Über das Bild des kleinen Mädchens – als metaphorische Entsprechung des von einem Großstadtkollektiv erlebten Regentags – verbindet sich das Persönli332
che mit dem Kollektiven. So schafft der poetische Text die (metaphorische) Grundlage für die Konzipierung einer Art kollektiver mémoire involontaire, wie es Benjamins poetologisch formulierte, im weitesten Sinne des Wortes dichterisch einzulösende Vision vorsieht. Wenn der zurückblickende Dichter von ›seiner Zukunft‹ spricht, die ihm vom Regen ›zugerauscht‹ wird, »wie man ein Schlaflied an der Wiege singt« (BK, 45), schwingen verheißungsvolle Erwachensvisionen mit, die einer ganzen, zu ›erlösenden‹ Menschheit gelten, einer Menschheit, die immerzu auf das ›Heraufschießen‹ des »schwarze[n], gleißende[n] Leibe[es]« des Fischotters aus dem ›Tempel‹ der kollektiven, wie Regenwasser ›aufgefangenen‹ Erfahrung wartet, die das Tier ›bildet‹ bzw. nährt. Bei aller Beschwörungskraft der in Miniaturform versuchten Formulierung und schrittweisen Einlösung eines poetischen Programms, einer visionären Poetologie, bleibt das Dilemma Benjamin’schen Dichtens ungelöst: Die kollektive Erfahrung vermittelt sich höchstens in Form einer Idee, wenn auch einer auf ›bildhaft-intellektuelle‹ Weise formulierten, aber es ist eine, die angesichts des mit enormer Ausdruckskraft im Poetischen vollzogenen persönlichen Erinnerns verblasst. Hierbei gilt wie für alle drei in dieser Arbeit betrachteten Dichter und Dichtungen: Die quintessentielle ›Frage der Darstellung‹ behält ihre Dringlichkeit. Mit Blick auf diese Untersuchung als Ganzes könnte man im Rekurs auf zwei der Hölderlin’schen Erinnerungspoetik geltende Formeln auch sagen: Am Ende bleibt die Aporie bestehen, die sich ergibt aus dem Konkurrieren eines allseits erhobenen Anspruchs auf den – wie auch immer ›gedachten‹ – ›Totaleindruck‹ mit einer ›im Zeichen von Tageszeichen‹ florierenden dichterischen Praxis.
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