Schriften zum Internationalen Recht B a n d
176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen ...
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Schriften zum Internationalen Recht B a n d
176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU
Von
Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg
D u n c k e r & I l u m b l o t * Berlin
KARL-THEODOR FRHR. ZU GUTTENBERG
Verfassung und Verfassungsvertrag
Schriften zum Internationalen Recht Band 176
Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU
Von
Karl-Theodor Frhr. zu G u t t e n b e r g
Duncker & Humblot • Berlin
Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2009 Duncker & Humblot C m b H . Berlin Satz: werksatz • Büro für Typografie und Buchgestaltung. Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union G m b H . Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-12534-0 Ccdruckt auf altcrungsbcständigcm (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9 7 0 G ®
Internet: http:/Avww.duncker- hu mblot .de
Vorwort Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht der Nostalgie. Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Prozesse. Trotz gelegentlich zweifelhafter Verfassung unserer Gesellschaften gab es selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung. So pionierhaft sich diesbezüglich der amerikanische Pfad zu gestalten wusste, so eklektisch eigen wurde der europäische beschritten. Letzterer befindet sich wiederkehrend am Scheideweg. Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen? Zumindest verpasste Europa in den Jahren 2007 und 2008 zum wiederholten Male den icaipöq (Kairos) und ließ die notwendige Unbedingtheit des Gestaltungswillen nur schemenhaft erkennen. Es ist indes müßig zu debattieren, ob es die - letztlich nie eingeräumte - Furcht vor der eigenen Courage oder lähmender Pragmatismus war, der aus einem hart erkämpften Verfassungsvertrag schließlich einen .Vertrag von Lissabon" werden ließ und selbst diesen in vermeidbare Warteschleifen drängte. Gleichwohl bildet auch diese Zäsur ein lebendiges wie traditionell paradoxes Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist. Demzufolge hätte die vergleichende Beurteilung zweier Verfassungsprozesse mit einem gewissen Optimismus bei jeder „europäischen Krise" enden können. Die Betrachtungen und Bezugnahmen dieser (2006 eingereichten) Monographie gehen nunmehr bis in das Jahr 2007 - abgesehen von einigen punktuell aktualisierten Gedanken. ***
Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen. Oder nach anderem - im obigen Sinne untypischem - Verständnis der vereinzelten Wahrnehmung eines ..Kairos".
6
Vorwort
Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste. Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teilnehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht „legendär" zu nennende „Häberle-Seminar", das dem von Konrad Hesse geprägtem Vorbild längst weit enteilt ist - ohne den „akademischen Enkeln" Erinnerungen und Berufungen auf eine Leitfigur der Verfassungslehre zu entwinden. Der Gedanke an die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft - und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels. Von Herzen Danke meinem großen Lehrer Prof. Dr. Dies. mult. h.c. Peter Häberle für Unzähliges, das kein Vorwort angemessen abbilden könnte. In besonderer Verbundenheit danke ich einem weiteren tatsächlich bedeutenden Europäer, Prof. Dr. Rudolf Streinz. Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später parlamentarische „Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte. Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen und ich bin allen überaus dankbar für unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl: Wirkliche Besserung ist kaum absehbar. Meiner Frau und meinen Töchtern sei diese familienunfreundliche Lektüre in tiefer Dankbarkeit zugedacht. Sie sind der unerreichte wie dauerhafte ,/echte Augenblick" meines Lebens. Berlin, im Winter 2008
Karl-Theodor Frhr.
zu Guttenberg
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung
15
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union
19
I.
Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
20
1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses 2.
Die ..Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa?
22
3.
Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen
23
4.
Die Entstehung des Verfassungsstaates - der ..Vorabend" der Bundesverfassung
24
a) Wege zur Emanzipation - von den „Fundamental Orders of Connecticut" zur Unabhängigkeitserklärung
24
b) Wege zum Konsens - von den ..Articles of Confederation" zum ..Great Compromise"
27
c) Der Verfassungskonvent
29
d) Ratifizierung und ..Federalists" gegen „Antifederalists"
33
e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Menschenrechte: konstitutionelle ..Morgendämmerung" - die Bill of Rights
35
..We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung
38
6.
Eine (ge)zeitenfeste Verfassung
40
7.
Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze
41
5.
II.
.. 20
8.
Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbstverwirklichung
9.
Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses
. . . . 45 47
10. Eine dynamische Verfassung - „living Constitution"
48
11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates
49
Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses
51
1. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses
52
2.
Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses
53
a) Von Paneuropa zur Europa-Union ( 1 9 2 3 - 1 9 4 4 )
53
b) Verfassungsentwürfe nach 1945
59
aa)
Hertensteiner Programm (1946)
59
8
Inhaltsverzeichnis bb)
Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (1948)
59
cc)
Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948)
60
dd)
Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951)
61
c) Wege zum Europarat
61
d) „Verfassungsentwürfe" ab 1952
64
aa)
Die Europäische G e m e i n s c h a f t für Kohle und Stahl (1952)
...
bb)
Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen G e m e i n s c h a f t - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EG KS (1953)
cc)
64
65
Römische Verträge (1957)
67
e) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre
68
f) Stationen zur Europäischen Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren
69
aa)
Der Entwurf von M a x Imbodcn (1963)
69
bb)
Die Verfassungsdiskussion 1984 - D a s Europäische Parlament als Akteur
70
(1) Ausgangspunkte der Debatte
70
(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments
71
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion
74
cc)
Die Einheitliche Europäische Akte (1986)
75
dd)
Der Verfassungsvertrag der G e m e i n s c h a f t der Vereinigten Europäischen Staaten von F. C r o m m e (1987)
76
ee)
Der Vertrag von Maastricht (1992)
77
ff)
Die Verfassungsdiskussion 1994 - der Herman-Bericht
79
(1) Ausgangspunkte der Debatte
79
(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments
80
(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion
82
gg)
Der Vertrag von A m s t e r d a m (1997)
84
hh)
Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwende
84
ii)
Konstitutionelle „ M o r g e n d ä m m e r u n g " in Europa - die G r u n d rechtecharta
87
(1) Die Sachlage vor dem Herzog-Konvent
88
(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents
90
Mit „ H u m b o l d t " nach Nizza?
94
jj)
(1) Gründe für ein Debatten-Crescendo
97
(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte
100
(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Auseinandersetzung
102
(a)
Das Ideal einer ..Föderation von Nationalstaaten"
...
103
9 Inhaltsverzeichnis (b) Das Ideal eines „Europas der Nationen"
106
(c) Das Ideal eines „Europas der Regionen"
108
(d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz
109
(e) Zwischenfazit
110
(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und politischer Diskussion
111
(a) Die Legitimationsfunktion als G r a d m e s s e r der (politischen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild?
III
(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Verfassungsdebatte
114
(c) Integrations- und Identifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe. EU-Skepsiskultivierung
116
kk)
Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung
II)
Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge
..
120
(1) Ausgewählte Verfassungsattribute
122
(2) Die Qualifikation der Verträge durch den E u G H - ein „europäisches M a r b u r y vs. M a d i s o n "
124
(3) Völkerrechtliche Qualifikationen
129
(4) Konstitutionelle Defizite der Verträge
131
m m ) Aus der Nizzastarre zum Konvent
nn)
118
135
(1) Der Post-Nizza-Prozess - parlamentarische Einfiusssphären
135
(2) Die Erklärung von Laeken - eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte
139
Inkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis
140
(1) Das Verfassungsverständnis - allgemeine Überlegungen
.
(2) Der „europäische" Verfassungsbegriff
141 142
(a) Zwei Vorfragen
143
(b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbegriffes
145
(c) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen
...
147
(d) Staat und Verfassung im „wechselseitigen Korsett"? .
149
(e) Fazit
153
(3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern
154
(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung
159
(b) Das Vorverständnis von Demokratie. Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung
160
oo)
Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Entwürfe
164
pp)
Der Europäische Konvent
166
(1) Auftrag und Z u s a m m e n s e t z u n g - das innovative Konventsmoment
166
10
Inhaltsverzeichnis (2) Die Gestaltung der Konventsarbeit (3) Inkurs: Der Konvent als Zentralisierungsplattform'?
qq)
rr) 3.
167 ....
169
(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit?
172
(5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mitglieds
174
(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme) im Europäischen Rat
175
Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents
...
180
(1) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsvertrag?
180
(2) Inhaltliche A n m e r k u n g e n . Präambel und „Leitmotto". Plädoyer für eine „Europäische Gesprächskultur"
185
Elemente einer Ratifikationskrise
188
Drei Folgerungen
192
III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge ...
194
1.
Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a - ein Faktor des europäischen Einigungsprozesses
197
2.
Die konkrete Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess
199
a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg?
199
b) Die 6 0 e r Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz
204
c) Die 7 0 e r Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern
207
d) Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation
210
e) Die Folgejahre nach 1 9 8 9 / 9 0 sowie ein Ausblick
213
3.
Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter
215
4.
Inkurs: Teilaspekte einer Europäischen Rechtskultur. Europaverständnis
217
5.
Ein historisch gewachsenes „transatlantisches V e r f a s s u n g s f u n d a m e n t "
219
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates ( U S A ) bzw. der Verfassungsgemeinschaft ( E U ) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien I.
221
G e b u n d e n e Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung
222
a) USA: Die A m e n d m e n t s als Abbilder einer Verfassungsergänzung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte
222
aa)
Artikel V der Bundesverfassung - ein Faktor der Stabilität und Flexibilität
223
bb)
„Self-Restraint" in der Verfassunggebung
226
cc)
Initiative und Ratifikation - das Verfahren
229
(1) Das Modell „congressional proposaP' - der Regelfall
...
(2) Das Modell „constitutional Convention" - Option zur Totalrevision?
229 231
12 Inhaltsverzeichnis (3) Versuche zur Begrenzung von „amending power"
235
(4) Ratifikationserfordernisse und Problemlagen - das Kurios u m 27. A m e n d m e n t
236
(5) Beendigung des Amendment-Verfahrens
242
dd)
Möglichkeit der Interpretation von A m e n d m e n t s
243
ee)
Die generellen W i r k k r ä f t e des Amendment-Verfahrens
245
b) Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs(vertrags)änderung
248
aa)
249
bb)
2.
Verfassunggebung in der Supranationalen Union Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts
251
cc)
Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge
252
dd)
Verfassungsänderung nach dem Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren
256
(1) Das Fünfstufenmodell des Verfassungsvertrages
256
(2) G e m e i n s c h a f t s a u t o n o m e Verfassungsänderung betreffend einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung
260
Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte
260
a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation
262
b) Der U S - S u p r e m e Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit
271
aa)
Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - M a r b u r y vs. Madison
271
bb)
A n m e r k u n g e n z u m Wesen des ..judicial review"
277
cc)
Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels
279
(1) M o m e n t a u f n a h m e n einer Verfassungsgerichtshistorie
279
...
(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik - Anmerkungen zur ..political question doctrine"
285
(3) Inkurs: ..counter-majoritarianism"
289
c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit - Richtwerte f ü r den E u G H ? aa)
290
Verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten
bb)
Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit
d ) Der E u G H als Verfassungsgericht. Verfassungsrechtsprechung
291 ....
297
...
301
aa)
Das Rollengeflecht des E u G H
303
bb)
Der E u G H als „Motor der europäischen Integration"?
308
cc)
Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft
311
e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung
312
12
Inhaltsverzeichnis f) 3.
Vergleichende Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz der Aufgaben
313
G r u n d g e d a n k e n und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft (Europäische Union)
317
a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten
318
b) Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten aa)
318
Grundlagen des amerikanischen Föderalismus
318
(1) Charakter eines Bundesstaates
321
(2) Funktionsweise des US-Föderalismus
322
(3) Inkurs: Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebene
323
bb)
Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte
324
cc)
Ergänzungen aus vergleichender Sicht
329
c) Das Prinzip der Gewaltenteilung
331
aa)
Vorbemerkung
331
bb)
Die Ausgestaltung in den USA
332
cc)
Die Ausgestaltung in der Europäischen Union
335
d) Identität und der Begriff der Nation
338
e) Das Demokratieprinzip - Anmerkungen
343
f) Inkurs: Verbreitung direktdemokratischer Elemente
349
g) Das Verhältnis zwischen Recht und „ M o r a l " . Souveränitätsverzicht
350
h) Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung
353
i) Ausgewählte institutionelle Aspekte
354
j) Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights
356
k) Wertegemeinschaft Europa und USA - „ever closer union" und „ever strenger union" V.
357
Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein R e s ü m e e
358
1. Vergleichende A n m e r k u n g e n zum Konventsverfahren
359
2.
Vergleichende A n m e r k u n g e n zu den Konventsergebnissen
364
3.
Lehren für die Europäische Union aus d e m Vergleich der Verfassunggebungsprozesse
369
C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Kuropas und d e r USA
373
I.
Einleitung
373
II.
Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas
374
1. Bisherige Regelungen im Primärrecht der Europäischen G e m e i n s c h a f t
374
2.
Die Europäische Grundrechtecharta
375
a) Gottesbezug
375
3.
b) Kirchen und Religionen
376
Der Entwurf des Europäischen Konvents
377
a) Änderungsanträge
379
13
Inhaltsverzeichnis b) Die Beratungen der Regierungskonferenz
381
c) Bewertung
381
Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) der Europäischen Union sowie in den deutschen Bundesländern
382
a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
383
b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union
388
c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland
388
III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des U S - S u p r e m e C o u r t zur Trennung von Staat und Religion
391
1. Die Frage nach einem „ G o t t e s b e z u g " in der Verfassung der Vereinigten Staaten von A m e r i k a
393
4.
a) Entstehung und Entwicklung der „Establishment C l a u s e "
393
b) Inhalt und Reichweite der „Establishment C l a u s e " nach der Rechtsprechung des S u p r e m e Court
395
aa)
Die Vertreter einer Trennung und einer Z u s a m m e n a r b e i t zwischen Staat und Religionsgemeinschaften
bb)
Z u s a m m e n f a s s e n d e r Überblick über die Rechtsprechung des Supreme C o u r t
2.
Gottesbezug in den bundesstaatlichen Verfassungen
IV. Das US-Modell ein Vorbild für Europa?
395 396 399 402
Nachwort
403
Zusammenfassung
405
Anhänge
408
Literaturverzeichnis
416
Sachwortverzeichnis
465
. £ s wird ein Tag kommen, wo man jene beiden ungeheuren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Vereinigten Staaten von Europa einander gegenüberstellt. sich die Hände über den Ozean hinüber reichen wird [ . . . ) jene beiden unendlichen Gewalten: die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes, miteinander verbinden wird sehen." 1 Victor
A.
Hugo
Einleitung
„ E p l u r i b u s u n u m " , „ A u s v i e l e m e i n e s " - s o l a u t e t e d a s M o t t o , u n t e r d e m vor ü b e r 2 1 5 J a h r e n d i e a m e r i k a n i s c h e n 2 S t a a t e n z u r U n i o n z u s a m m e n f a n d e n . Ein M o t t o , d a s p r o g r a m m a t i s c h z u v e r s t e h e n ist. D a s L a n d , d a s w i e kein a n d e r e s d e n P l u r a l i s m u s a u f s e i n e F a h n e n g e s c h r i e b e n hat, e r ö f f n e t erst a u f d i e s e r e i n h e i t l i chen. g e m e i n s a m e n Basis den S p i e l r a u m für die Entfaltung von Vielheit. Sich zu einer Nation zu vereinigen, die ursprüngliche a u t o n o m e Vielfalt gegen einen von e i n e r Z e n t r a l r e g i e r u n g g e w ä h r t e n P l u r a l i s m u s e i n z u t a u s c h e n b e d e u t e t e i n d e s Verzicht; die bisher unter losem Konföderationsdach weitgehend selbständigen E i n z e l s t a a t e n m u s s t e n u m d e s G e m e i n s a m e n w i l l e n d e n A n s p r u c h auf d a s E i g e n e zurückschrauben und Souveränitätsrechte abgeben.
1 V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach der Proklamation der Zweiten Französischen Republik, wurde er 1849 in die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt), im Internet abrufbar unter http://www.e\ameneuropaeum.com/EEE/ EEE2003/24Ideen.htm. 2
„Amerika" und ..amerikanisch" beziehen sich nach allgemeinem Sprachgebrauch im Folgenden auf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontinentsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlerweile ist jedoch geklärt, dass die Namensgebung auf zwei Deutsche zurückzuführen ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann begeisterte sich für den Entdecker und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete Kosmograph M. Waldseemiiller nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen auf der seiner ..Cosmographiae Introductio" beigegebenen Weltkarte von 1507 für den neuen und erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen. Vespuccis Vornamen Amerigo (der sich von Imre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater heiliggesprochenen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der Kontinente der ..Alten Welt". Europa. Afrika, zu feminisieren und in dieser Form als „America" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontinent nach Amalrich, dem Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten Stadt Maracaibo benannt worden sei. sind einwandfrei widerlegt. Vgl. F. Luubenberger, Ringmann oder Waldseemüller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika, in: Archiv für Wiss. Geographie, Bd. XIII. H. 3; A. Ronsin, Dicouverte et bapteme de V Amerique, 2. Aufl. 1992.
16
A. Einleitung
Wie schwer ein solcher Verzicht fällt, wie nahe das Eigene und wie fern das Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt sich in aller Deutlichkeit in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung, der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeisterung zu erwecken vermag. Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte. Szenenwechsel: Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick darf sich keineswegs auf Dezember 2001 beschränken, in dem sich ein pluralistisch zusammengesetztes 105-köpfiges Gremium an die Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa" machte. Am 28. F e b r u a r 2 0 0 2 versammelten sich in Brüssel die Vertreter von Regierungen und Parlamenten aus ganz Europa zu der ersten Sitzung des EU-Konvents. Einheit in der Vielfalt: Die Verfassung einer freiheitlichen Gemeinschaft gab Anlass zu intensiven Debatten innerhalb des Konvents. Als der europäische Verfassungskonvent seine Beratungen aufnahm, war dies von allgemein verbreiteter Skepsis begleitet. Die Erwartungen wurden von allen Beteiligten heruntergespielt. Bezeichnenderweise schien (zumindest in der Anfangsphase des Konvents) nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen. 3 Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis der europäischen Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" bezeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen. Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationsprozess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsam zu wissen, welche Perzeption die fortschreitende europäische Integration und das Projekt „europäische Verfas-
3
Vgl. M. Rosenfeld. T h e European Convention and Constitution Making in Philadelphia, in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.
17 A. Einleitung
sung" in den USA erfährt, um im sich wandelnden transatlantischen Verhältnis 4 für Verständnis zu werben und um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Die konstitutionelle Fortentwicklung Europas betrifft die USA als wichtigsten Partner der Europäischen Union unmittelbarer als dies in manchen Kreisen der amerikanischen Administration und einzelner Think Tanks wahrgenommen werden will. Die Annahme, die USA würden das europäische Interesse teilen, den Prozess der europäischen Integration dauerhaft in eine „transatlantische Partnerschaft der Gleichen" einzubetten, führt (mittlerweile) allerdings zu weit. 5 Allerdings gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin eine Vielzahl verknüpfender Aspekte, die freilich einer ständigen Neudefinition unterworfen sind. Eindrucksvoll waren in diesem Kontext die Worte von Präsident J. F. Kennedy, der am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1962 in der Hall of Independence in Philadelphia seine transatlantische Rede mit dem Wunsch beendete, das sich einigende Europa und die Vereinigten Staaten dereinst in einer „Declaration of Interdependence" verbunden zu sehen. Selbst wenn die transatlantische Atmosphäre wiederkehrend einigen Turbulenzen unterworfen ist, sollte das feinsinnige Wortspiel mit der amerikanischen „Declaration of Independence" vom 4. Juli 1776 nicht in Vergessenheit geraten. Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas zukünftige Rolle in der Welt mit historischen Argumenten unterfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik oder - im Gegenteil - auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte sich ein kurzer Rückblick auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozes.se und demzufolge auf einige Kapitel aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfeldern. kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurteilen, Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage zu versetzen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren. Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissenschaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt und kursorisch
4 Mit ..transatlantisch" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten jenseits und diesseits des Atlantiks. ?
So aber G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. im Internet unter www.rewi.hu-berIin.deAVHI/deutsch/fce/fce402/burghardt.htm. S. 1.
18
A. Einleitung
v o r g e n o m m e n 6 u n d z u m T e i l i n s e i n e r B e r e c h t i g u n g v e r n e i n t 7 , z u m Teil e i n g e schränkt bejaht8. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die a m e r i k a n i s c h e Verfassung der Tatsache, dass d i e T h e o r i e v o n V e r f a s s u n g u n d S t a a t d e r E r f a h r u n g g e f o l g t ist, s t a t t sie z u m Ausfiuss einer Idee zu m a c h e n , die die Wirklichkeit umgestalten sollte.9 In Kraft gesetzt nämlich w u r d e das amerikanische Verfassungssystem buchstäblich o h n e w i r k l i c h e V o r s t e l l u n g v o n e i n e m S t a a t . Ü b e r s p i t z t l i e ß e s i c h d e r G e d a n k e anschließen, d a s revolutionäre A m e r i k a k a m erst über d e n U m w e g der praktischen E r f a h r u n g zu seinen Verfassungsprinzipien.10 Europa musste, vielleicht durfte einen anderen W e g beschreiten, bediente sich allerdings ähnlicher Mittel und fand viele inhaltliche B e z u g s p u n k t e im amerikanischen Verfassungsstaat.
6
Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung. Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003. der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechtsvergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hülscheid/. Europäischer Konvent. Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005). S. 429 ff. 7
Vgl. etwa S. Hobe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1. 2003. S. I ff.. 12. 8 W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Integration. 2 / 2 0 0 2 . S. 83 ff.. 93. 9 Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frankfurt a. M. 2001. 10 Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war. wie der Staat zu gestalten sei. um das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichsweise gering.
B. Verfassungserweckung u n d Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Entwicklungslinien in den USA u n d d e r E u r o p ä i s c h e n Union Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikanische Verfassung als Vorbild. 1 Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der Ähnlichkeit pluralistischer Beeinflussung fast geboten. 2 Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zurückblicken. die andere fertigt sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklungen außer Acht zu lassen. Europa steht in vielerlei Hinsicht bereits auf festen Füßen, die jedoch einer dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen. Diese Voraussetzungen zu Grunde gelegt soll ein Begriffspaar gebildet werden, das den unterschiedlichen Status der Verfassungsentwicklung widerspiegelt, die kulturelle Basis jenseits der Verfassungskultur allerdings fast umkehrt: Verfassungsbestätigung und Verfassungserweckung. Die Kultur ist für beides Impulsgeber, kontrastiert jedoch in ihrer Ursprünglichkeit. Während in den Vereinigten Staaten der Einfluss und die Kombination eigentlich fremder Kulturen der Verfassung erst zu ihrer Genese verhalfen, kann Europa auf ein jahrhundertelanges Nebeneinander, und - aus gewissen Blickwinkeln, etwa dem des christlichen Abendlandes - auf Verschmelzungen zurückblicken, die Grundlage aller Verfassungsbildung und damit auch ihrer Erstarkung sind.' Gewiss, auch die Einflüsse auf die erste Fassung der amerikanischen Verfassung waren europäische, jedoch 1
Vgl. unten III. und IV. sowie II.2.f)jj)(4)(a).
:
Auch im Sinne einer ..kulturellen Verfassungsvergleichung*', vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 252 ff. unter Bezugnahme auf die ..Verfassungsvergleichung als ,fünfte 1 Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders.. Grundrcchtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ 1989. S. 913 ff.). Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch angesichts der bislang zu konstatierenden Verfassungsfortschritte - von „Verfassungserstark u n g " zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus sich selbst. Dem Wort ..Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken, die die „Gründungsväter" und bis heute große Denker (aber auch gelegentlich allein die Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde „Europa" zuteil werden lassen.
20
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und mehr autarken amerikanischen Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Europa noch steht: Verfassungsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusstsein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge einander bedingt, wird auch von der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der Demokratie verpflichtete Verfassung entwickelt und bestätigt sich nicht zuletzt durch die Bevölkerung.
I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses Europa und die Vereinigten Staaten einem Vergleich zu unterziehen bedeutet auch immer, die wechselseitigen kulturellen Impulse mit einzubeziehen. Die Vereinigten Staaten, ihr Selbstverständnis, die heutigen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente wären ohne die englische Prägung, begonnen durch die Gründung von Kolonien Anfang des 17. Jahrhunderts 4 (Jamestown und die Kolonie Virginia 1607 5 ) an der nordamerikanischen Ostküste, nicht denkbar. Insbesondere brachten viele dieser Siedler ein in England ausgebildetes Grundverständnis der Möglichkeiten und Errungenschaften eines Rechtsstaats mit auf den neuen Kontinent. Die tiefe Verwurzelung der Freiheit in ihren „status negativus, activus und positivus" 6 rührt bereits aus dieser Zeit. Einen hohen Stellenwert nahmen alsbald die Menschenrechte nach der Bill of Rights von 1689, die Beteiligung der wohlhabenden Bürger an Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Traditionen
A n w e n d u n g finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der E r w e c k u n g nach Ansicht des Verf. noch fortdauert. 4 Es würde freilich zu weit f u h r e n , spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf die großen Entdecker wie C. Columbus oder A. Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika: dies gelang wohl erst 1512 d e m spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas. Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische Wurzeln in den südlichen Staaten wie Kalifornien, N e w Mexico. Texas oder Florida durch einen hohen hispanischen, lateinamerikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert, nachdem Florida erst 1819 von Spanien erworben. Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische Gebiete wie Kalifornien 1845 „einverleibt" wurden. ? Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswerterweise, 1577 von F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion). 6
In Anlehnung an G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. 1905. S. 81 ff.; siehe auch ders.. A l l g e m e i n e Staatslehre. 3. Aufl. 1914 (Neudr. 1960). S. 4 1 8 ff.: D.P.Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR I I I (1986), S . 2 3 0 f f . ; G. Radbruch. Rechtsphilosophie. 3. Aufl. 1932 (Studienausg. 1999). S. 67 ff.: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, S. 344 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
21
der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf „habeas corpus" bei Inhaftierung ein. 7 Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen gemeinen Recht (Common Law), auf den von der Krone gewährten verfassungsähnlichen Kolonialcharten 8 , auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungskörperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London. Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden englischen Potentials, das sich weiterhin durch die (Amts-)Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand im Zeichen europäischer Großmachtrivalitäten, die sich durch die Bemühungen der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande 9 und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren lassen. Insbesondere wird der französischen Gestaltungskraft oftmals ein allzu geringer Stellenwert eingeräumt. 1 0 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763 spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispielsweise wird die Zahl der Deutschen 1775 auf 200 000 geschätzt) durch kulturelle Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordamerika zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht - Puritaner, Quäker. Hugenotten, englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende „Western Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im Wesentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen Philosophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen
Vgl. auch M. Berg. Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a - Teil II. Historische und Politische Entwicklung, in: Staatslexikon. Sechster Band. 7. Aull 1992. S. 3 7 3 ff.: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S.3. h
Es gab drei Rechtstypen der Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in den einzelnen Bundesstaaten spürbar ist: die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerkolonie (Maryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Häven in Connecticut): hierzu ausführlich K. Loewenstein (1959). S. 2 f.; W. Brugger, E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001. S. 1. 9 Die Holländer k a u f t e n 1626 die Insel Manhattan f ü r 24 Dollar den Indianern ab und gründeten dort N e w Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New York. 10 Während des 16. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontinents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren Westen gelangten (beispielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Salle 1 6 4 3 - 1 6 8 7 . der „patron saint" von Chicago); erst 1699 wurde die französische Kolonie von Louisiana an d e r M ü n d u n g des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Kolonialperiode in der US-amerikanischen Geschichte K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. I ff.
22
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft tragen eine unverkennbar europäische Kennzeichnung." T. Jeffersons11 Zeit von 1784 bis 1789 als Gesandter in Paris darf zu den Marksteinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich am englischen Recht, am antiken Republikanismus und am Individualismus der Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. In seine Präsidentschaft fällt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich (1803). Die Vertreter „seiner" politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Republikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle Einfiussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betätigte er sich auch als Architekt und orientierte sich bei seinen für die amerikanische Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen Antike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten. 2.
Die „Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa?
Dahingegen die berühmte Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als Abkehr von Europa zu bezeichnen wäre unzutreffend. Unabhängigkeitserklärungen können Wirkungen in zwei Richtungen entfalten: einerseits wird dem Neuen, Innovativen ein hohes Gewicht eingeräumt, andererseits bilden traditionelle Elemente den notwendigen, kontrollierenden Gegenpol. 3 Konservative und moderne Gedankengänge, mit einer vordergründigen Betonung des Fortschrittlichen, treffen " So gibt es ein schöpferisches Musikleben nach europäischem Vorbild seit etwa 1800. Als frühester Komponist gilt der aus Mähren s t a m m e n d e A. P. Heinrich. Die Komponisten der sog. „ N e u e n g l a n d s c h u l e " (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) wie J.K. Paine!H. Parker
und E. McDowell sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason und C A / . Loefßer, griffen später auf C. Debtissy und M. Ravel zurück: vgl. zur amerikanischen Musikgeschichte H.W. Hitcheock. Music in the United States, 2. Auflage 1974. Die amerikanische Kunst w u r d e stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der Architektur W. Gropius/L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts M. Ernst IL. Moholy-Nagy oder N. Gabo. siehe umfassend M. Baigell, A History in American Painting, 1971. 12
Siehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Malone, Jefferson and his T i m e . 6 Bde. 1 9 4 8 - 1 9 8 1 sowie R.M. Johnstone, Jefferson and the Presidency, 1978. n
Dies offenbart sich in j ü n g s t e r Zeit beispielsweise in Kroatien. Slowenien oder in den baltischen L ä n d e r n , die nach d e m Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser „westliche" Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brauchtumpflege nachgehen, die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung in Osteuropa T. Schweisfurth/R.AIIeweldt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteuropa. in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
23
sich auch im Streben nach Souveränität. Ein veränderten Umständen angepasstes Staatswesen würde ohne die Rückbesinnung auf grundsätzlich staatstragende Elemente in Kürze zusammenbrechen. Der Text der von Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung ist Spiegelbild dieses Phänomens. Er besteht aus drei Teilen, wobei einer Auflistung der Demütigungen und Ungerechtigkeiten Englands eine Rechtfertigung der Revolution und schließlich eine Darstellung der Grundlagen des neuen amerikanischen Gemeinwesens folgt. Und selbst dieses „neue" Gemeinwesen folgt tief ausgetretenen europäischen Spuren. Da eine Bezugnahme der Kolonien auf das englische Recht über Jahre fruchtlos blieb, greift man auf die Gedanken der Aufklärung und damit auf Elemente das Natur- und Vernunftrechts zurück. So wurde unter anderem wie folgt formuliert: „We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that a m o n g these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among M e n . deriving their just powers from the consent of the governed, - Thal whenever any Form of Government b e c o m e s destruetive of these ends. it is the Right of the People to alter or to abolish it. and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to t h e m shall seem most likely to effect their Safety and Happiness." 1 4
3.
Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen
Auch die Verfassungen der Einzelstaaten 15 , die teilweise den Anregungen des 2. Kontinentalkongresses 16 1775/76 folgten, umfassten indes Grundrechtserklärungen. die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in einigen ihrer Basis- und
2. Aufl. 1997, S . 4 5 f f . : H. Roggeniann. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West 1996. S. 177 ff.; rechtsvergleichend H. Roggeniann (Hrsg.). Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999: G. Brunnen Verfassunggebung in Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1995, S. 258 ff.; R. Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, in: JöR 43 (1995), S. 258 ff. u
Zitiert nach P. Kurland/R. Urtier, T h e Founders' Constitution, Vol I. 1987. S. 9 ff.; komplett abgedruckt bei R. D. Rotunda. Modern Constitutional Law. 6 t r ed. 2000. Appendix A. S. 524 ff.; siehe zum Inhalt der Unabhängigkeitserklärung auch W. Brugger, E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht d e r U S A , 2. Aufl. 2001. S . 2 f . , ausführlich J. Heideking, Die Verfassung vor d e m Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung d e r amerikanischen Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 . 1988: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 5 ff. 15
1780 hatten sich bereits elf von 13 Staaten eine Verfassung gegeben. South Carolina und N e w Hampshire griffen dabei als erste noch nicht einmal auf die Anregungen des Kontinentalkongresses zurück. 16
Dazu K. Loewenstein (1959). S. 6.
24
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Programmideen 1 7 ihre ersten kodifizierten, staatstragenden Bewährungsproben auf dem nordamerikanischen Kontinent. Die nachfolgende Bundesverfassung erfuhr eine nachhaltige Prägung durch die Neuerungen in den Einzelverfassungen, die neben der umfassenden Betonung der Gewaltenteilung von einer Stärkung der gesetzgebenden Körperschaften als Mittelpunkt der Staatsgewalt über die eingeschränkteren Rechte der gewählten Gouverneure als Inhaber der ausführenden Gewalt bis zu einer gesteigerten religiösen Toleranz und einer Intensivierung der demokratischen Grundsätze der Volkssouveränität reichten. Sogar im Hinblick auf den momentanen Zustand der Entwicklung Europas erweist sich die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1774 und 1788 als aufschlussreich. Das Ergebnis der Kontinentalkongresse waren die 1777 beschlossenen und 1781 ratifizierten Articles of Confederation, die erste Verfassung der Vereinigten Staaten. Diese Konföderationsartikel etablierten einen Staatenbund, den K. Loewenstein „als historisch übliche und wohl auch zweckmäßige Übergangsstufe [ . . . ] von gesonderten Einzelstaaten zum echten Bundesstaat" 18 qualifizierte. Inwieweit diese Erscheinungsform mit der europäischen Wirklichkeit vergleichbar ist, wird noch zu zeigen sein. 1 '' An dieser Stelle nur so viel zur Ausgangslage: In Europa wie in den Vereinigten Staaten existierten Einzelstaaten beziehungsweise wie in Deutschland Länder vor der Schaffung eines übergeordneten „Bundes". Gemeinsam ist beiden Entwicklungen die Urheberschaft der Gründungsinitiative, die nicht „dem Volk", sondern den Vertretern der Einzelstaaten zuzubilligen ist. 4.
Die Entstehung des Verfassungsstaates - der „Vorabend" der Bundesverfassung
a) Wege zur Emanzipation - von den „ Fundamental Orders of Connecticut" zur Unabhängigkeitserklärung Knüpfte man die amerikanische Verfassungsgeschichte an das Vorhandensein eines Textes, der zumindest einige der heute allgemein angelegten verfassungstheoretischen Kriterien erfüllt, so ließen sich bereits die 1638 in Hartford erlassenen Fundamental Orders of Connecticut heranziehen, um das frühe Aufkeimen konstitutioneller Strukturen abzubilden. 20 Tatsächlich sollte es aber fast 140 Jahre 17
N. Hinske, A u f k l ä r u n g , in: Staatslexikon. Bd. 1 , 7 . Aufl. 1992. S. 391 ff. klassifiziert die tragenden Ideen der Aufklärung in ..Programm-. Kampf- und Basisideen". 18
K. Loewenstein (1959), S. 7. In Art. II der Konföderationsartikel heißt es: ..Each State retains its sovereignty, f r e e d o m . and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this Confederation expressly delegated to the United States, in C o n g r e s s assembled." 19 20
Siehe unten IV. 3. b).
Sie gehen damit sogar dem englichen „Instrument of Government" von O. Cromwell aus dem Jahr 1653 vor.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
25
d a u e r n , bis ein D o k u m e n t einer B e w e g u n g e n t s p r a n g , die a l l g e m e i n unter d e m Begriff „ A m e r i c a n Revolution" resümiert wird.21 Vorangegangene Einigungsbem ü h u n g e n u n t e r d e n K o l o n i e n w i e e t w a B . Franklins P l a n e i n e s B u n d e s a u s d e m Jahre 1754 oder die bereits 1743 geschlossene „ N e w England C o n f e d e r a t i o n " konnten keine stabile, g e m e i n h i n akzeptierte O r d n u n g etablieren. A u f d i e E i n z e l h e i t e n d e r a m e r i k a n i s c h e n R e v o l u t i o n ist a n d i e s e r S t e l l e n i c h t a u s schweifend einzugehen.22 B e w e g g r ü n d e und Resultat sollen j e d o c h nicht gänzlich v e r s c h w i e g e n w e r d e n , n a c h d e m a u c h sie geistiger A u s g a n g s p u n k t der folgenden V e r f a s s u n g s b e w e g u n g waren.23 Ein vergleichsweise trivialer Auslöser, d e r Versuch des britischen Parlaments, die Kolonien durch Zölle und Besteuerung an den Kosten des S i e b e n j ä h r i g e n Krieges zu beteiligen, e n t f l a m m t e ab 1763 eine
21
Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird - in Analogie zur Französischen Revolution - tatsächlich überwiegend als ..Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zumindest das Selbstverständnis der G r ü n d u n g s v ä t e r der Vereinigten Staaten ist damit aber keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einer neuen Gesellschaft, nicht um die Umwälzung bestehender Staats- und Machtverhältnisse, sondern - wie bereits anlässlich des ersten Kontinentalkongresses 1774 in Philadelphia z u m Ausdruck gebracht - um die Wiedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763. um die Restauration der durch die englische Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opolka, Politische Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen Revolution, in: E. B r a u n / F . H e i n e / U . Opolka (Hrsg.). Politische Philosophie, 6. Aufl. 1998. S. 183 f. Insbesondere hat aber bereits T. Paine. einer der publizistischen Wegbereiter sowohl der amerikanischen Unabhängigkeit w i e dann später d e r Französischen Revolution, in seinem Werk diesen restaurativen Aspekt deutlich betont, auch wenn er einer der ersten war. die das damalige amerikanische Geschehen als Revolution bezeichneten. So heißt es in Paines berühmter Schrift ..Die Rechte des M e n s c h e n " aus den Jahren 1791/92. die Revolution in A m e r i k a sei ..eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des M e n s c h e n und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet", zitiert nach einer Übersetzung von D.M. Forkel, hrsg. von T. Stemmler, 1973. S. 173. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch eine rückblickende Ä u ß e r u n g von J. Adams in einem Brief an T.Jefferson vom 24. August 1815: ..Die Revolution fand im Herzen des Volkes statt, und diese wurde bewirkt von 1760 bis 1775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen Blut in Lexington vergossen w u r d e " , vgl. J.Adams, in: L . J . C a p p o n (Hrsg.). T h e A d a m s Jefferson Letters. T h e Complete Correspondence between T. Jefferson and A. and J. Adams, 11. 1959. S . 4 5 5 . Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der ..Revolution" der Klassiker von H. Arendt. Über die Revolution. 1965 (engl. Originalausgabe 1963) sowie K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. 3. Auflage 1973: C. Lindner, T h e o r i e der Revolution. 1972: H. Wassmund. Revolutionstheorien. 1978: K. Lenk. T h e o r i e n der Revolution, 2. Auflage 1982. 22 Detaillierte Darstellungen der . A m e r i c a n Revolution" finden sich bei C. Bonwick, T h e A m e r i c a n Revolution. 1991: D. Higginbotham, T h e War of A m e r i c a n Independence. 1977: H.-C. Schröder. Die amerikanische Revolution. 1982: H. Dippel. Die amerikanische Revolution 1 7 6 3 - 1 7 8 7 , 1985: S.E. Morison it. a.. T h e Growth of the A m e r i c a n Republic, 2 Bde.. 7. Auflage. 1980: F. Freidel (Hrsg.), Harvard G u i d e to A m e r i c a n History, 2 Bde.. C a m b r i d g e (Mass) 1974: A.M. Schlesinger, T h e Cycles of A m e r i c a n History, Boston 1986. Siehe auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 4 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte - nach der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt - schließlich zur bereits erwähnten Erklärung der Unabhängigkeit durch die ..dreizehn vereinigten Staaten von Amerika'" am 4. Juli 1776. 24 In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher Souveränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe von einer „Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt: „We, T H E R E F O R E . the Representatives of the U N I T E D STATES OF A M E R I C A [ . . . ] , do. in the N a m e , and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare. That these United Colonies are. and of Right ought to be F R E E A N D I N D E P E N D E N T STATES [ . . . I " 2 5 .
Die Erklärung ermöglichte den Amerikanern die völkerrechtliche Anerkennung als Krieg führende Partei und punktuelle Hilfe durch andere Mächte. Erst im Pariser Frieden von 1783 fand die Unabhängigkeit nach einem wechselvollen Krieg unter Beteiligung Frankreichs, Spaniens und der Niederlande ihre tatsächliche Anerkennung durch das englische Mutterland. Die Declaration of Independence wurde zu einem der bedeutenden Dokumente der Menschheitsgeschichte, in Sprache und Anspruch gelegentlich (allzu pathetisch) mit den Geboten der großen abendländischen Religionen verglichen. Ihr Gedankengerüst formte das Fundament der folgenden Verfassungsentwürfe. 2 6 Inhaltlich bildet sie die c o m m u n i s opinio der aufgeklärten Naturrechtslehre. Der Einfluss J. Lockes ist überall dort spürbar, wo von Konsens und Widerstand die Rede ist."
2? Im transatlantischen Kontext bedeutsam die Dissertation von O. Vossler, Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an T h o m a s Jefferson. 1929. 2 ~ An der Erklärung waren folgende bisherigen Kolonien beteiligt: Connecticut. Delaware. Georgia. Maryland, Massachusetts, New Hampshire, N e w Jersey, New York. North Carolina. Pennsylvania. Rhode Island. South Carolina und Virginia. Umfassend zur Unabhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole. T h e Decision of American Independence. 1975. Eine heute ..klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung liefert C.L Becker; T h e Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960). 25
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History. 1983, S. 2 8 0 f. 26
Hierzu W. P Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassung und politische Ideen der amerikanischen Revolution. 1973: B. Bailyn, T h e Ideological Origins of the A m e r i c a n Revolution. Neuausg. 1992. 2
Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Abrechnung mit dem englischen König George ///. überlagert. Dort wird das archaische Motiv des Widerstands gegen einen Tyrannen a u f g e g r i f f e n . Insoweit steht die Erklärung durchaus in gewisser Rechtstradition der Monarchomachen. der Absetzung Philipps 11.1581. der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Rights von 1689. Diesen Aspekt heben auch
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
27
Die vielfältigen europäischen Einflüsse auf Staatsphilosophie und verfassungspolitisches Ideengut, der spürbare Impuls der großen englischen Juristen Cocke und Blackstone28 sowie nicht zuletzt das gestärkte Selbstbewusstsein nach über 20 Jahren erbittertem Ringen aus dem als Klammergriff empfundenen Beharren der englischen Krone verdichteten sich schließlich zu dem, was man den „amerikanischen Konsensus am Vorabend der Bundesverfassung" genannt hat. 29 Wie auch J. Ellis in seinem Werk „Founding Brothers" in sechs Episoden über die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einigkeit über Jeffersons Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zunächst nicht über den Willen, das Joch der englischen Krone loszuwerden, hinaus. „The first founding (1776) declared American independence; the second (1787), American statehood". 3 0 In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war zwischen „Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstritten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeitsfelder der Tagespolitik eine Spannung zwischen den damals von Hamilton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der Einfluss derjenigen, die in den USA auf den „State rights" bestehen, nimmt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu. b) Wege zum Konsens - von den „Articles of Confederation" zum „Great Compromise" Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch. Er umfasste neben der Unabhängigkeitserklärung auch einzelstaatliche Verfassungsbemühungen, die teils den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grundrechtserklärungen und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Articles of Confederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauer-
W. Reinhard. Vom italienischen H u m a n i s m u s bis zum Vorabend der Französischen Revolution. in: H. F r e n s k e / D . M e r t e n s / W . R e i n h a r d / K . Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausgabe 1996. S. 241 ff., 369. sowie E. Angermann. Ständische Rechtstradition in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200 (1965). S. 61 ff. hervor. Der Rückschluss Reinhards (1996). die Unabhängigkeitserklärung sei damit nicht von Rousseau abhängig, geht allerdings fehl, da mit Rousseaus Idee des ..volonte generale" gerade die Forderung nach e i n e m Selbstbestimmungsrecht gegenüber Spanien und Großbritannien begründet wurde. :s
Siehe umfassend mit Blick auf das englische ..Erbe" das klassische Werk von C. E. Stevens. Sources of the Constitution of the United States - Considered in Relation to Colonial and English History. 2 nd ed. 1894. reprint 1987. 29 Vgl. auch H. Steinherger. 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung; Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 4. Juni 1986. 1987. S . 6 : umfänglich C. Rossiter. T h e Political T h o u g h t of the American Revolution, 1963; C.L Becker. T h e Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960).
J. Ellis, T h e Founding Brothers. T h e Revolutionär)- Generation, 2002. S. 27.
28
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
haften Verfassung. Beachtenswert sind in diesem Bezugsrahmen Connecticut und Rhode Island, deren Verfassungen erst 1819 bzw. 1842 folgten, nachdem sich ihre bisherigen königlichen Charters nach leichten Modifizierungen längerfristig als zweckdienlich erwiesen hatten. Die Einzelstaatsverfassungen waren sogleich Experiment und Impulsgeber für die nachmalige Bundesverfassung. Von einem sanften Anstoßen späterer Verfassungsprinzipien kann hingegen nicht gesprochen werden. Gegenüber den ursprünglichen königlichen Charters erhielt die Legislative einen höheren Stellenwert, unter anderem durch möglichst gleichmäßige Repräsentation. Der Gedanke der Volkssouveränität erfuhr stabile Grundlegungen. 1 1 Die Repräsentanten der Exekutive - von Versammlungen gewählte Gouverneure - mussten beschränkte Rechte hinnehmen. Von überragender Tragweite war schließlich die nachhaltige Etablierung der Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten. 3 2 Ferner galt das Zweikammersystem (mit der Ausnahme Pennsylvanias) als unentbehrliches Instrument zur Balancierung und Entschärfung unvermeidlicher Konflikte zwischen Exekutive und Legislative. Die Brückenfunktion vom ungeordneten Nebeneinander der Einzelstaaten zum letztlich errichteten Bundesstaat nahmen die Anicles of Confederation ein. die einen Staatenbund zu begründen wussten, der aus de facto souveränen Staaten bestand, deren verbindendes Element ein Kongress sein sollte, in dem jeder Staat eine Stimme besaß. Die Begriffe Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit fanden erstmals zusammengehörig im Hinblick auf Einzel- oder Mitgliedsstaaten Berücksichtigung: „Each State retains its souvereignty, f r e e d o m . and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this confederation expressiv delegated to the United States, in Congress assembled.*'"
Inhaltlich wurde für Verfassungsänderungen Einstimmigkeit gefordert. Der Kongress, der ursprünglich nicht als Zentralregierung gedacht war und lediglich marginale Zuständigkeiten vereinnahmte u , dehnte seine Rechte in der Folgezeit sukzessiv aus. Eine permanente zentrale Exekutivgewalt fehlte in den Anicles aber ebenso wie eine Regelung der Gerichtsbarkeit, des zwischenstaatlichen Handels und der Steuererhebung." Das Fehlen einer Finanzhoheit und von Zwangsbe31
Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten und lediglich in Massachusetts erfolgte eine B e f r a g u n g des Souveräns zur Verfassung. 32 33
Z u m Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c).
Art. II. Zitiert nach R.D.Rotunda u.a.. M o d e r n Constitutional Law, 6* ed. Appendix B.
2000.
34
Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten. 35
Vgl. zu Einzelheiten K. Loe wen stein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 7 f. Siehe auch W. Brugger, E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht der U S A . 2. Auflage 2001, S. 2 f.
29
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
fugnissen ließ nach d e m Wegfall der äußeren Bedrohung das Unvermögen zur einheitlichen Willensbildung klar zu Tage treten, w a s sich äußerst negativ auf die Handels- und Finanzpolitik niederschlug. Letztere musste nach der Einbuße der durch das britische Merkantilsystem gesicherten Handelsbeziehungen neue V e r b i n d u n g e n g e w i n n e n , in d e r a u s w ä r t i g e n Politik galt es V e r s t i m m u n g e n mit England und Spanien geschlossen zu begegnen36 und zwischen den Staaten k a m es zu förmlichen Handelskriegen aufgrund rigider Zollschranken und mangelhafter Zusammenarbeit.
c) Den
Der
Verfassungskonvent37
S c h w ä c h e n d e r Articles o f Confederation
sollten
schließlich die
1787 in Philadelphia v e r s a m m e l t e n 55 Delegierten der Einzelstaaten
ab 38
Mai - aus-
36
Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolitischem Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach, seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 1784 nach London reiste, um der Großbritannien einen Handelsvertrag vorzuschlagen, musste er unverrichteter Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten, ob er eine Nation oder einen der 13 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien eine Klärung der Grenze zu Florida zu erzielen, war der Kongress e b e n s o erfolglos wie bei der angemessenen Begleichung der e n o r m e n Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch K. Loewenstein (1959), S. 7 f. Auf die Details des Konvents. Verfahrensbesonderheiten, dessen Z u s a m m e n s e t z u n g und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf g r u n d l e g e n d e Betrachtungen verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideking. Die Verfassung vor d e m Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1988: A. Adams fW. P. Adams (Hrsg.). Die A m e r i k a n i s c h e Revolution und die Verfassung: 1 7 5 4 - 1 7 9 1 . 1987. Z u d e m die historischen Darstellungen von D.J. Haupt ly. A Convention of Delegates - the Creation of the Constitution. 1987: D. G. Smith. T h e Convention and the Constitution. T h e Political Ideas of the Founding Fathers. 1987; L W. Levy (Hrsg.). T h e Framing and Ratification of the Constitution. 1987; J.D. Elazar. T h e A m e r i c a n Constitutional Tradition. 1988. Siehe auch C. Wolfe. On Understanding the Constitutional Convention of 1787. in: T h e Journal of Politics. 39 (1977). S . 9 7 f f . ; C.C. Jillson. Constitution-Making: Alignment and Realignment in the Federal Convention of 1787, in: T h e A m e r i c a n Political Science Review, 75 (1981), S. 598 ff.; A.H. Kelly/W.A. Harbison/H. Beiz (Hrsg.), T h e A m e r i c a n Constitution - its Origins and Development, 7th ed. 1991. Klassische Standardwerke sind weiterhin: N.C. Towle. History and analysis of the Constitution of the United States, 3^ ed. 1871. reprint 1987; C. van Dören, T h e Great Rehearsel. T h e Story of the M a k i n g and Ratifying of the Constitution of the United States, 1948. 38
Rhode Island war nicht vertreten. Einige radikale Republikaner wie P. Henry und S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den ..Nationalists", sich gegen die B e f ü r w o r t e r einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washington bis Mitte September andauerten, waren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf
30
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nahmslos Vertreter der bürgerlichen und landbesitzenden Schicht - durch die Schaffung eines zentralen Regierungssystems entgegenwirken. Die genannten Delegierten werden verbreitet als „Verfassungs- oder Gründerväter" („founders") bezeichnet. Tatsächlich ist hierbei aber ein differenzierterer Blick angebracht. Der Historiker / Ellis hat die amerikanischen „Verfassungsväter" im Anschluss an die „Gründerväter" der Unabhängigen Vereinigten Staaten „founding brothers" und die Verfassunggebung elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung „the second founding" genannt. 3 9 Neben den klangvollen Namen der Konventsmitglieder rückten in jüngerer Vergangenheit weitere Verfassungsväter ins Blickfeld der Verfassungshistoriker. Dies ist insbesondere auf die erneut aufgeflammte Debatte um die Bedeutung der „original meaning" in der Verfassungsinterpretation zurückzuführen. Im Zuge dieser Diskussion erscheinen eigentliches Konzept und Zusammensetzung der Gründer immer weniger fassbar. Das Spektrum der „Founders" schließt im englischen Sprachgebrauch „drafters", „framers", „ratifiers", „adopters" und selbst „we the people" ein. Neben den Konventsdelegierten selbst werden verbreitet auch die zahlreichen Teilnehmer an den einzelstaatlichen Ratifizierungskonventen genannt. Einige erweitern diesen Ansatz um die Zahl all derer, die die öffentliche Debatte um die Verfassung zu prägen verstanden. Allerdings ist die Kategorie „public debate" selten zitierfähig und kaum konkret genug, um den Vorwurf einer gewissen Willkür in der Auswahl zu entkräften. 4 0 Die damalige Entscheidung zu einem völligen verfassungstheoretischen Neubeginn markierte den entscheidenden Wendepunkt zur konstitutionellen Moderne. Federführend für diese Entwicklung war ein damals 36-jähriger Delegierter aus Virginia, J. Madison41. Er schlug eine radikale Abweichung vom ursprünglichen der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite, vgl. dazu J. Heideking, Revolution. Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1. S. 32 ff.. 43. Weitere bekannte Delegierte waren A. Hamilton (New York), der 81-jährige B. Franklin und J. Wilson (beide Pennsylvania). G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesandter in Paris weilte, später ..the Cato of his country without the avarice of the R o m a n " nennen sollte) sowie
J. Dickinson (Delaware). 39
Vgl. J. Ellis. T h e Founding Brothers. T h e Revolutionary Generation. 2002.
4
" Vgl. zu der Diskussion um die Auswahl d e r ..Founders" neuerdings S. Cornell, T h e Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1 7 8 8 - 1 8 2 8 , 1999: zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbildung in der einzelstaatlichen ..public debate": B. McConville, These Daring Disturbers of the Public Peace: T h e Struggle for Property and Power in Early N e w Jersey, 1999 sowie W. Holton, Forced Founders: Indians. Debtors. Slaves, and the Making of the American Revolution in Virginia. 1999. 41 Z u r Person J. Madison und dessen Einfluss auf die Verfassungswerdung siehe die bemerkenswerte Studie von J.N. Rakove. J a m e s M a d i s o n and the Creation of the A m e r i can Rcpublic, 1990: zu dessen späterer Präsidentschaft ( 1 8 0 9 - 1 8 1 7 ) R.A. Rutland. T h e Presidency of J a m e s Madison, 1990.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
31
Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, sondern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungsform ersetzt werden. Madisons Vorstellungen basierten auf einem eigenen Entwurf, der als „VirginiaPlan" bekannt werden sollte. 42 Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte. Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da sich die Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundesstaates richten sollte. Virginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt. An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der Interessenkonflikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren einerseits die „Nationalisten" - Befürworter einer starken Zentralregierung (die sich entgegen dem heutigen Sprachgebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Namen Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung unauflöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet. Schließlich konnte ein für die Konventsmitglieder akzeptabler Kompromiss (ehrfurchtsvoll „The Great Compromise" genannt) erzielt werden: im Repräsentantenhaus war nunmehr eine Vertretung nach der Bevölkerungszahl vorgesehen, der Senat bot hingegen ungeachtet der Größe jeweils zwei Sitze für die einzelnen Staaten. 43 Der Souveränität der Einzelstaaten wurde durch das innovative Prinzip des Föderalismus 44 und durch die Entscheidung über ein neues Wahlrecht 45 RechJ - Der Verfassungsdebatte lagen drei ..Plans" zugrunde. Der Vorschlag von New Jersey („New Jersey-Plan"), d e r e i n e Kollektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i.Ü. auch P. Widmer. Der Einfluss der Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. 38 (1988), S. 359 ff.), der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten ..Plan" legte A. Hamilton vor; darin wurde ein System bevorzugt, das d e m ..British G o v e r n m e n t " als laut Hamilton ..the best in the world". frappierend ähnelte. 43
Aktualität erlangten diese Frage und die Argumente der früheren Auseinandersetzung bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2 0 0 0 und der knappen (letztlich gerichtlichen) Entscheidung für den Wahlsieger G. W. Bush. 44 45
Dazu ausführlicher unten IV. 3.b).
Für die Wahl zum Repräsentantenhaus, d e m einzigen Bundesorgan, das nach der ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste. galt die Bestimmung, dass die Qualifikationen für die W ä h l e r nicht höher angesetzt werden dürften als für das ..populäre" Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I §2 par 1 der Verfassung). Dem Kongress wurde lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten ..Zeiten. Orte und
32
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nung getragen. Der Bundesregierung wurde die Befugnis erteilt, Einfuhrzölle und Steuern zu erheben, eine Flotte und ein Heer zu unterhalten, die Milizen der Staaten zu beaufsichtigen (und nötigenfalls militärisch einzusetzen) sowie den Handel zwischen den Staaten und dem Ausland zu regulieren. Den Gipfel der Machtfülle bildete die berühmte Bestimmung, die es dem Kongress ermöglichte, alle Gesetze zu beschließen, die notwendig und angemessen („necessary and proper") seien, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen wahrzunehmen (Art. I § 8 par. 18 der Verfassung). Eine weitere Beschränkung der Einzelstaaten bildete das Verbot der Münzprägung und Papiergeldausgabe. Allerdings wurde damit erst ein gemeinsamer Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Außenhandelspolitik ermöglicht. Kompensation für den Verlust der einzelstaatlichen Souveränität sollte der Senat bieten, über den die Staaten Einfiuss auf die Gesetzgebung, den Abschluss von Verträgen und die Ernennung hoher Amtsinhaber nehmen konnten. Nicht mehrheitsfähig waren Anregungen, ein Organ („Council of Revision") zu schaffen, das Gesetze der Einzelstaaten u n d / o d e r des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen würde. Auch die Zuweisung dieser Funktion an den in der Verfassung vorgesehenen Obersten Gerichtshof fand keine Zustimmung. Essentiell für die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerkennung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent in drei Klauseln deutlich. Nach Art. I § 2 par. 3 der Verfassung sollten bei der Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zuteilung von Sitzen im Repräsentantenhaus „other persons" (womit Sklaven gemeint waren) als DreiFünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß Art. IV § 2 par. 3 der Verfassung ein flüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er geflüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von Sklaven vom Kongress bis zum Jahre 1808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von nicht mehr als 10 Dollar auf jeden importierten Sklaven erhoben werden (Art. I § 9 par. 1 der Verfassung). Die einzelstaatlichen Verfassungen dienten, wie bereits erwähnt, als wegweisender Erfahrungsschatz für die Inhalte der Bundesverfassung. Vorbilder etwa für die Gestaltung der Bundesgewalt mit einer Zweikammerlegislative, einer Einmannexekutive und einem obersten Gerichtshof waren insbesondere die Verfassungen von New York und Massachusetts." 6 A r t " der Wahlen zu ändern (Art. I §4 par. 1 der Verfassung). Vgl. auch K.L. Shell. Die Verfassung von 1787. in: W . P A d a m s u . a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 1. 1990. S. 277 ff., 2 8 0 f. 46
Z u m Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W. P. Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution. 1973. Siehe zu deren Einfiuss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller. Die Quellen der amerikanischen Verfassung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 16 (1953), S. 107 ff.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
33
Die am 17. Sept. 1787 verabschiedete Verfassung spiegelte letztlich den mühselig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in einem materiell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder eines ausgeprägten Zentralismus offenbarten. d)
Ratifizierung
und
„Federalists" gegen
„Antifederalists"
Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifizierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechtslage schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipiell Einstimmigkeit vor. welche angesichts der zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien. So beschloss man. die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den einzelnen Staaten zu überlassen. 47 Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungsentwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese Taktik zahlte sich aus. denn am 2. Juli 1788 wurde durch die Zustimmung des zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina und Rhode Island zögerten mit der Ratifizierung noch bis zum 21. November 1789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände gegen den Verfassungsentwurf zu brechen. 4 8 Wie unter einem Brennglas prallten dort die herausragenden Vertreter von Federalists und Antifederalists aufeinander, die in einer geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Fundament der Revolution in zwei Varianten des Republikanismus zu spalten wußten. Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Antifederalists befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den „Articles of Confederation"" vorgesehen war. 49
47
Gleichzeitig wurde, dem Beispiel aus Massachusetts folgend, allmählich das Volk als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht. 4S
Hierzu ausführlich L.G. de Pauw, T h e Eleventh Pillar: N e w York and the Federal Constitution. 1966: R. Brooks, Alexander Hamilton. Melanchton Smith and the Ratification of the Constitution in New York, in: William and M a r y Quarterly 24 (1967), S. 339 ff. 49
Unter B e r u f u n g auf Montesquieu widersprachen die Antifederalists der Auffassung, ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Republik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete man als potentielle G e f a h r für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den A r g u m e n t e n und Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main. T h e Antifederalists. Critics of the C o n stitution 1781 - 1 7 8 8 , 1961; C.M. Kenyon. M e n of Little Faith: T h e Antifederalists on the Nature of Representative Government, in: William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 ff. Neuerdings S. Cornell. T h e Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer ..Bundesrepublik" mit einer effektiven Zentralgewalt sowie für eine Stärkung und Expansion der Wirtschaft eintraten. Den theoretischen und intellektuellen Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem gemeinsamen Pseudonym ..Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen sie die Bedeutung und Vorteile der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter dem Titel „Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht als eines der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten im Verfassungsleben 5 0 , vielleicht sogar in literarischer Hinsicht. 51 In deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals geführte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwerfen. Zudem ist eine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der „Papers"bedenkt: Sie waren zunächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ein Jahr lang, nämlich 1787/88. in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor sie zusammengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass für diese eifrige Publikationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatlichen Verfassung zu werben. Es war nicht vorgesehen, die Verfassung per Volksentscheid zu ratifizieren, vielmehr oblag diese Aufgabe gewählten Konventen. Dennoch richteten sich die Artikel der Autoren ebenso wie die Artikel und Pamphlete der Verfassungsgegner unmittelbar an die interessierten Bürger; es wurde argumentiert, polemisiert, mit zahlreichen Mitteln der politischen Rhetorik um Zustimmung gerungen. Offenbar fand diese öffentlich geführte Kontroverse um die künftige Gestalt der Union auch die erwünschte Resonanz; sie erweckte Leidenschaften. Gerade mit Blick auf in A m e r i c a . 1 7 8 8 - 1 8 2 8 . 1999. Siehe auch die Textsammlung von H.J.Storing!M. Dry (Hrsg.). T h e Complete Anti-Federalist, 7 Bde. 1977. 50
Die Begrifflichkeit ..Klassikertexte im Verfassungsleben" prägte P. Häberle. Siehe ders., Klassikertexte im Verfassungsleben. 1981 sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S . 4 8 1 ff. 51
J. Gebhardt spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einem „Iivre de circonstance. das dank des Formats seiner Autoren und des Erfolgs der vertretenen politischen Position schließlich einen hervorragenden Platz e i n n e h m e n sollte im literarischen corpus der a m e rikanischen Ziviltheologie", vgl. ders.. T h e Federalist (1787/88). in: H. Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. II. 5. Aufl. 1987, S . 5 8 ff., 58. Textausgaben wurden u. a. herausgegeben von J.E. Cooke ( Hrsg.), T h e Federalist, 1961; C. Rossiter (Hrsg.), T h e Federalist, 1961: B. F. Wright. T h e Federalist, 1961 - mit o f t zitierter Einleitung; /. Kramnick (Hrsg.). T h e Federalist Papers. 1987. Deutschsprachige Übersetzungen editierten u. a. A. und W. P. Adams (Hrsg), H a m i l t o n / M a d i s o n / J a y : Die Federalist Artikel. 1994 sowie F. Ermacora (Hrsg.), Alexander Hamilton. J a m e s Madison, John Jay. Der Föderalist. 1958. Zur politischen Interpretation der Federalist Paper vgl. D. F. Epstein. T h e Political Theory of the Federalist, 1984. Siehe auch K. von Oppen-Rundstedt. Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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den europäischen Einigungsprozess ist es erhellend, wie eine von Leidenschaft getragene Einigung andere Kräfte freisetzt als ein Zusammenfinden, das auf mühsamen, kleinteiligen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen beruht. Gleichwohl: Über die unmittelbare Bedeutung der Federalist Papers in der Auseinandersetzung um die Verfassung sind die Meinungen geteilt; New York jedenfalls wählte einen anti-federalistischen Konvent. Nachdem jedoch mit Virginia als zehnter Staat nach Massachusetts ein anderer großer Schlüsselstaat die Verfassung ratifiziert hatte, stand der Staat New York vor der Wahl, der Union fernzubleiben und eine Sezession der Stadt New York zu riskieren oder sich dem Druck der Umstände zu beugen. Der Konvent entschloss sich schließlich mit knapper Mehrheit für die Ratifizierung. Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis ein wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher. Der Verdienst der Federalist Papers lag weniger in deren tagespolitischem Erfolg als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis der amerikanischen Republik. Der Schritt zu einer neuen, die nationale Willensbildung und Entscheidungsfindung vereinfachenden Fasson staatlichen Zusammenlebens hatte sich zuletzt trotz oder gerade aufgrund der langatmigen Ratifikationsauseinandersetzung vollzogen. Einige der Staatsversammlungen hatten die neue Verfassung allerdings nur unter der Prämisse ratifiziert, dass G. Washington als erster Präsident den Beschluß eines Grundrechtekatalogs im Kongress durchsetzen würde. e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Menschenrechte: konstitutionelle „Morgendämmerung" - die Bill of Rights In ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776 kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Verfassung sein, die den Schritt von traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit zu meistern vermochte, als sie erstmals Regeln der Staatsorganisation („Constitution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog („Virginia Bill of Rights" 5 2 ) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen
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In Art. I der Erklärung heißt es: ..Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte ( . . . ] und zwar auf G e n u ß des L e b e n s und d e r Freiheit und dazu die Möglichkeit. Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Übersetzung von W. P Adams, im Internet unter http://chnm.gmu.edu/declaration/german.html). Hinzu kamen unter a n d e r e m Gewährleistungen der Pressefreiheit ( Art. 12) und der freien
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Menschenrechten und die Rechtsentwicklungen in England bildeten den geistigen Unterbau, um die bedeutendsten Freiheiten als allgemeine Bürger- oder Menschenrechte in einem Grundrechtskatalog zu konzentrieren und als positives Gesetz zu verkünden. 5 3 Es mag der damaligen Mentalität der Siedler, ihrem ausgeprägten Unabhängigkeitssinn und deren gewachsenem Streben nach Glaubensfreiheit zuzuschreiben sein, dass sich eine beispiellose Offenheit für zeitgenössische Staatsphilosophie beobachten ließ, die schließlich in deren konkreter Umsetzung mündete. Laut O. Vossler sieht der Amerikaner „im Mayflower Compact, in den Covenants von Connecticut [ . . . 1 wirklich durch Vertrag Staaten entstehen, ihm ist in allen diesen Punkten das Naturrecht gar nicht Theorie und Literatur, sondern fassbare, sichtbare, lebendige Wirklichkeit." 5 4 Zwar steht die Menschenrechtserklärung von Virginia noch außerhalb, also formal getrennt von der „Constitution or Form of Government". Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis es zu der Verschmelzung beider Bestandteile kam. In der Verfassung Pennsylvanias vom 28.9. 1776 wurde erstmals diese für das spätere Verfassungsverständnis wesentliche Verbindung formuliert: „We [ . . . ] do ordain. declare and establish the following Declaration of Rights and Frame of Government, to be the Constitution of this c o m m o n w e a l t h . " 5 5
Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass Grundrechte dauernde Berücksichtigung fänden. 5 6 So kam es schließlich, dass
Religionsausübung (Art. 16). Siehe zu den ersten amerikanischen Entwürfen von G r u n d rechtskatalogen bereits H. Hägermann, Die Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen. 1910. Vgl. auch B. Schwanz. T h e Great Rights of M a n k i n d . A History of the American Bill of Rights. 1977: R.A. Rutland. T h e Birth of the Bill of Rights. 1 7 7 6 - 1 7 9 1 . 1955. 53
Bereits das Massachusetts Body of Liberties von 1641 enthielt ein detailliertes
Bekenntnis zu Individualrechten. In den General Fundamentals von New Plymouth aus dem Jahre 1671 wurde die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Rechtsprechung, die Achtung von Leib. Leben. Freiheit, g u t e m Namen und Besitztum sowie die Glaubens-, Gewissensund Kultusfrreiheit für unverletzlich erklärt, vgl. dazu R. Zippelius. Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999. S. 329: J. Hatschek. Allgemeines Staatsrecht. Bd. II. 1909. S. 133 f. 5-1 O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrechte, in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfreiheiten. 1964 (2. Aufl. 1974). S. 166 ff.. 180 f. 55 Vgl. ..The Constitution of Pennsylvania", zitiert nach S.E. Morison (Hrsg.), Sources and D o c u m e n t s Illustrating the A m e r i c a n Revolution 1 7 6 4 - 1 7 8 8 , 2. Aufl. 1929, Neudr. 1953, S. 162 f. 56
Bis 1780 schufen lediglich sechs Staaten Grundrechtserklärungen (Virginia. Delaware. Pennsylvania. Maryland. North Carolina, Massachusetts). Inhaltlich gab es hierbei erhebliche Differenzen. So war die Frage nach dem konkreten Inhalt von „Freiheit" nicht eindeutig im Sinne einer allgemeinen Übereinstimmung zu beantworten. Freiheit als politische Partizipation war nicht gleichmäßig verwirklicht; in fünf Staaten waren beispielsweise nur Protestanten a m t s f ä h i g . Das Gleichheitsprinzip der Unabhängigkeitserklärung war
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Herrschaftsordnung und Grundrechte in der westlichen Verfassungstradition seit der Einbeziehung der Ten Amendments als „Bill of Rights" in die amerikanische Verfassung im Jahre 1789 57 (ratifiziert 1791) eine untrennbare Einheit bilden und nicht hinweg zu denkender Bestandteil moderner Verfassungen sind. 58 Selten wird darauf verwiesen, dass im Prozess der amerikanischen Verfassunggebung 1787/88 die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte eintraten. 5 " Hamilton, Madison und Jay, betonten in den gemeinsam von ihnen verfassten Federalist Papers, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen. das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: ..Hier müssen wir | . . . ] letzten Endes das einzige solide Fundament für alle unsere Rechte suchen." 6 " Bekanntlich konnten sich die Föderalisten mit diesem Ansatz nicht durchsetzen. Auf Druck der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme ein Grundrechtskatalog entworfen, die Bill of Rights, für die die amerikanische Verfassung berühmt geworden ist. Der „Vorabend" der Bundesverfassung nahm unter d e m Gesichtspunkt der Verknüpfung dieser heute untrennbar erscheinenden Elemente also durchaus den Zeitraum bis 1789 in Anspruch. Das Jahr 1791 mag als die „Morgendämmerung" einer modernen Verfassung bezeichnet werden, die der englischen Tradition von der Magna Charta 1215 über die Petition of Right 1627, die Habeas Corpus Act 1679 und die Bill of Rights 1689 folgend strukturell und inhaltlich schon ein Stück in die Zukunft enteilt war. vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren Umsetzung bestimmt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Berücksichtigung. Vgl. hierzu W.P.Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Revolution. 1973. Der Kongress verabschiedete am 25. September zunächst zwölf Verfassungszusätze (.Amendments). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den A m e n d m e n t s unten ausführlich IV. 1. a) Zur Geschichte der amerikanischen ..Bill of Rights" vgl. aus neuerer Zeit das sehr umstrittene Werk von L IV. Levy, Origins of the Bill of Rights. 1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung bespricht A. ReedAmar. T h e Bill of Rights: Creation and Reconstruction, 1998. Siehe auch C.R. Smith. To form a more perfect union. T h e ratification of the Constitution and the Bill of Rights, 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993. 58 Vgl. auch K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. 1984. S. 65: W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999. S. 26.
Anders freilich W. Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. H e f t 3 / 1 9 9 4 . S. 22 ff. 60
Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilton).
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik - der Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rechte des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten sich entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwortung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte. Der entstandene Verfassungsstaat auf der Grundlage des Dokuments von 1787 war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformierte Staat, der sich eigentlich erst jetzt als in sich geschlossene Nation betrachten konnte, weit deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man einen Vergleich mit 1776 an. so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings Verwaltung und Staats Verständnis lediglich Modifizierung erfahren durften. 1787 wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abgegeben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen Selbständigkeit der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde. 5.
„We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung
Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche Verfassung der Welt. 61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel 62 manifestieren sich Herkunft, Fundament und Auftrag dieses Werkes. „We the People[... 1" ist mehr als lediglich der Ausdruck des Demokratiegedankens, der freilich zu den Säulen amerikanischen Verfassungsdenkens zu zählen ist. 63 Das Volk wird als 61
P r o f u n d e Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa R. IV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change and Relevance of S u p r e m e Court Decisions. 1992. S. 1 ff., 7 ff.: D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988. S. II ff.; J.E. Nowak! R.D. Rotunda, Constitutional Law. ö^ed. 2000. ch. 1,2,3.12.20: LH. Tribe, A m e r i c a n Constitutional Law. 3* ed. 2000. 62
Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend erläutert von M. Adler! W.Gortnan, T h e A m e r i c a n Testament. 1975, S . 6 3 f f . Den Zweck. Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsvergleichend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 9 2 0 ff.; vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J . L i s t l / H . Schambeck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und B e w ä h r u n g . Festschrift für J . B r o e r m a n n . 1982, S. 211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People I: Foundations. 1991. 63
Z u m Demokratieprinzip ausführlicher unter IV.3.e).
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Träger der verfassunggebenden Gewalt festgeschrieben.64 Diese B e z u g n a h m e , die i n d i e s e r F o r m e r s t m a l i g E i n z u g i n e i n e m o d e r n e V e r f a s s u n g hielt"5, i m p l i z i e r t a b e r a u c h d i e B i l l i g u n g u n d P r ä g u n g d u r c h d i e B ü r g e r e i n e s L a n d e s , i n d i e s e m Fall sogar den H i n w e i s auf die revolutionäre Vorgeschichte, und entfaltet schließlich identitätsstiftende Wirkung. Gleichzeitig wird der Schaffende z u m Adressaten. W o b e i d e r B e g r i f f d e s „ S c h a f f e n d e n " w e i t z u v e r s t e h e n ist: e i n e L e g i t i m a t i o n durch eine Volksabstimmung gab es nämlich ebensowenig wie zu den meisten folgenden Verfassungsentwürfen anderer Länder.66 Die Volkssouveränität fand z w a r v o n B e g i n n a n i n d e r a m e r i k a n i s c h e n V e r f a s s u n g ihre t h e o r e t i s c h e V e r a n k e rung;67 sie entfaltete sich h i n g e g e n inhaltlich und in der W a h r n e h m u n g erst eine G e n e r a t i o n später, da d i e Verfassungsväter keine D e m o k r a t e n im eigentlichen Sinne waren. Sie zählten zu der konservativen Oberschicht, die von e i n e m tiefen Misstrauen gegen jegliche Volksherrschaft gekennzeichnet war.68 D e n n o c h stand
64 So hat auch der U S - S u p r e m e Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war, vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat.) 316. 4 0 3 (1819): Chisholm v. Georgia. 2 U.S. (2 Dali.) 419.471 (1793); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 W h e a t . ) 304. 324 (1816). 65 Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der ..Verfassung" die unterschiedlichsten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, wolle er nicht in Anarchie verfallen, sich an bestimmte Ordnungsvorstellungen halten müsse. Freilich handelte es sich hierbei o f t m a l s lediglich um die Fixierung real vorhandener Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines Herrschers o d e r vertraglichen Absprachen beruhten. Es konnte weder von einer O r d n u n g des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher Prinzipien die Rede sein. Diesbezüglich war Verfassung alleine „institutio" und nicht „constitutio", vgl. auch G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Auflage 1914 (Neudr. 1960). S. 505, 521; K. Stern. Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: G . M ü l l e r u . a . (Hrsg.). Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, Festschrift für Kurl Eichenberger zum 60. Geburtstag. 1982, S. 197 ff.. 200. Z u m Verfassungsbegriff unten ausführlich unter B . I I . 2 . f ) n n ) . 66 Eine A u s n a h m e bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe allgemein aus d e m deutschsprachigen Schrifttum H. Schneider. Volksabstimmung in der rechtsstaatlichen Demokratie, in: O. B a c h o f / M . D r a t h / O . G ö n n e n w e i n / E . Walz (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Walter Jellinek. 1955, S. 155 ff.; K. Hernekamp, Formen und Verfahren direkter Demokratie, 1979: J. Gebhardt. Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991. B 2 3 . S. 1 6 f f . ; W.Schmitt Glaeser. Die Antwort gibt das Volk, in: P. B a d u r a / R . S c h o l z (Hrsg.). Festschrift für Peter Lerche. 1993. S. 315 ff. Vgl. auch H. K. Heußner. Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland. 1994 sowie R. Grote. Direkte Demokratie in den Staaten der Europäischen Union, in: Staats Wissenschaft und Staatspraxis, 1996. S. 317 ff. 67 Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses C. Rossiter. T h e Political T h o u g h t of the A m e r i c a n Revolution, 1963, S. 170 ff., 185 ff.; siehe auch J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen und Prozesse eliedstaatlicher Interessenwahrune in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1992. S. 26 m. w. N. 68
Vgl. K. Loewenstein (1959), S. 8 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrachtung. A n w e n d u n g und Gestaltung der Verfassung. Bestätigt und gestärkt durch die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus. 6.
Eine (ge)zeitenfeste Verfassung
Ursprünglich für einen Agrarstaat mit einer Gesamtbevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen konzipiert, gilt die Verfassung mittlerweile in einem Staat, dessen Bevölkerung sich seit 1789 mehr als versechzigfacht hat 6 '' und der selbstbewußt f ü r sich den Standort der Wiege des Fortschritts in Anspruch nimmt. Tatsächlich entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer hochindustrialisierten, beherrschenden Weltmacht - und dies mit einer in ihren Kerngehalten wenig revidierten Verfassung. Die Grundentscheidung der Verfassungsväter, nur die fundamentalen Grundsätze durch die Verfassung selbst zu regeln 7 0 , hat sich möglicherweise auch angesichts dieser Entwicklung bewährt. Menschen. Institutionen. Organe und Machthaber mussten - vielleicht d u r f ten - sich mehr als zwei Jahrhunderte an einem nahezu unveränderten Verfassungstext o r i e n t i e r e n . Veränderungen des Wertebewußtseins, System Wechsel, außenund innenpolitische Neuordnungen fanden gerade nicht ihren Niederschlag in gänzlich neuen Verfassungsentwürfen. Die Flexibilität eines konzentrierten, gestrafften Werkes ist demzufolge Ursache und Messlatte der Dauerhaftigkeit dieser Verfassung, die lediglich 4400 Worte umfasst und damit die kürzeste aller geschriebenen Verfassungen ist. Im Zuge der Verfassungsbestätigung der vergangenen 200 Jahre hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ein mitunter ritualisierter Verfassungspatriotismus ausgebildet. Neben idealisierten Darstellungen des Grundkonsenses von 1787 und der darauf beruhenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen des historischen Verfassungsgebers ist wohl auch dies auf die Knappheit des Textes zurückzuführen. Nach Currie hat diese Entscheidung „erheblich zur gesunden und weit verbreiteten Auffassung beigetragen, dass die Verfassung ewige und heilige Vorschriften enthält, an denen man nicht ohne zwingenden Grund rütteln sollte. 7 1 " Auch in England als Wunderwerk menschlichen
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Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Jahr 1990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alle neueren Daten sind ein Ergebnis der Fortschreibung der Statistik. Der Fortschreibung zufolge ist die Bevölkerung allein bis zum 1.7. 1998 auf 270 Mio. angestiegen. 70 So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCulloch v. Maryland. 17 U.S. 316 (1819). 71 D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S.78. Vgl. auch J. Annaheim (1992). S. 24.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Geistes gerühmt 72 , wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut Fraenkel mehr und mehr zum „Objekt eines irrationalen Staatskults" 73 . 7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze Bei aller mythischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie erbittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die heutige Zeit: eine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist freilich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfelds und nicht oder nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar erscheinende amerikanische Verfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompromisse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip oder als politische Lebensform 7 " das amerikanische Verfassungsdenken in erheblichem Masse beeinflusst hat. 75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Verfassung gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesellschaftlicher, vielleicht kultureller V e r ä n d e r u n g e n w a r e n . Der Versuch, die amerikanische Verfassungsgeschichte einer Strukturierung zu unterziehen wurde mehrmals unternommen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen, die freilich differierenden Grundausrichtungen der jeweiligen Forschungsvorhaben entspringen. 7 Der vergleichende Blick auf die Verfassungsentwicklung Europas soll eine Auseinandersetzung mit den verfassungsbezogenen Wendepunkten in den Vereinigten Staaten rechtfertigen. Verfassungsbestätigung erfährt damit 72 So bezeichnete W.E. Gladstone, in: T h e North American Review. Sept. 1878. S. 179 die Verfassung als ,,[...]the most w o n d e r f u l instrument ever Struck off at a given time by the brain and purpose of m a n . " Vgl. auch E. S. Corwin. Sonic Lessons f r o m the Constitution of 1787. in: R. Loss (ed.). C o r w i n on the Constitution. Vol. I 1981, S. 157 ff., 164 f. 73
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 3. Aufl. 1976, S. 21. Siehe auch C.M. Kiene. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8. 74
Diesen Terminus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten. R. Zippelius in seiner ..Allgemeinen Staatslehre", 13. Auflage 1999. S. 2 3 3 ff., 432. 75
Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betrachtung des amerikanischen ..Verfassungscharakters", vgl. unten B . I . 9 . 76
In diesem Z u s a m m e n h a n g von ..kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der Gefahr der Widersprüchlichkeit verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus der Kraft immanenter Veränderung. Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte stammt von K.LHall, A Comprehensive Bibliography of A m e r i c a n Constitutional and Legal History. 1 8 9 6 - 1 9 7 9 , 5 Vol. 1984. Siehe auch EM. McCarrick. U.S. Constitution: a Guide to Information Sources. 1980: A. T. Mason. A m e r i c a n Constitutional Development. 1977; S.M. Millen. A Selected Bibliography of American Constitutional History. 1975.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
sowohl eine Begrenzung als auch eine Erklärung hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von „verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in einigen verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob sie letztlich ihre Entsprechung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein. 78 Lassen sich nun allgemein verfassungsgeschichtliche Wenden konstruieren, die sich in allen rückblickenden Betrachtungen moderner Verfassungen zwangsläufig einstellen müssen, sobald eine gewisse gesellschaftspolitische, soziale oder kulturelle Veränderung Platz gegriffen hat? K. Loewenstein teilt die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten von der Gründung der Union bis zu den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in drei Abschnitte, wobei sich der erste von der Etablierung der Republik bis zur Rekonstruktionsperiode nach Abschluss des Sezessionskrieges erstrecken sollte, der zweite von diesem Zeitpunkt bis zur großen Depression 1929 reichte und schließlich der dritte die Zeitspanne vom Roosevelt'sehen New Deal bis zur Gegenwart umfasse. 7 9 Eine andere Einteilung nimmt J. Annaheim unter dem Aspekt der Entwicklung des amerikanischen Föderalismus vor. 80 Dieser Ansatz soll aufgrund der bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken Berücksichtigung finden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart eine grobe Dreigliederung vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen „dual federalism" und .kooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der „neueren Entwicklung" 8 1 ausrichtet. Der „dual federalism" erfährt noch eine abgestufte Betrachtung, indem zwischen „Aufbau" ( 1 7 8 9 - 1 8 6 1 ) und „Bewährung" ( 1 8 6 1 - 1 9 3 3 ) unterschieden wird. Ähnlich wird der „cooperative federalism" in „Grundlegung" ( 1 9 3 3 - 1 9 4 1 ) und „Ausdifferenzierung" ( 1 9 4 1 - 1 9 6 0 ) sowie die „neuere Entwicklung" in „präsidentiellen Reformföderalismus" ( 1 9 6 0 - 1 9 8 0 ) und „Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Aufgliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt A. B. Gunlicks vor. 82 7S
H i e r / u unten B. II. und z u s a m m e n f a s s e n d unter B.V. 1.
79
K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 16. 80
Siehe J. Annaheim (1992), S. 38 ff.
81
Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte „devolution revolution"; vgl. hierzu A.B. Gunlicks. Föderative Systeme im Vergleich: Die USA und Deutschland, in: H . H . von A r n i m (Hrsg.). Föderalismus - hält er noch, was er verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t , auch im Lichte ausländischer Erfahrungen. 2000. S . 4 1 ff.. 55 ff.. J. Kincaid. De Facto Devolution and Urban Defunding: The Priority of Persons over Places. in: 21 Journal of Urban Affairs (1999) no. 2. S. 135 ff. 82
Vgl. hierzu A.B. Gunlicks (2000), S . 4 1 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen Föderalismus, in: P. K i r c h h o f / D . K o m m e r s (Hrsg.). Deutschland und sein Grundgesetz: T h e m e n einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993. S . 9 9 f f .
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
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Der Nachteil einer lediglich an den Erscheinungsformen des Föderalismus orientierten, gegliederten Verfassungsgeschichte wird offensichtlich, wenn man eine Einbeziehung des ersten Adressaten der Verfassung in diese Konstellationen anstrebt. So gibt es verfassungsspezifische Wendemarken, welche die Bevölkerung, letztlich die Gesellschaft tatsächlich aufzuwühlen und zu prägen vermochten, die von anderer Qualität waren als solche, die sich nur am Zusammenspiel der Kräfte des Bundes und der Einzelstaaten ausrichteten. D. P. Currie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts. S3 Demnach soll es in der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs „große Wenden" gegeben haben: „die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einer neuen Nation. Die zweite war die Verstärkung des Bundes durch die Annahme der jetzigen Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court während der Amtszeit des großen Chief Justice John Marshall. Die dritte war die Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments' nach dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen den Sozialstaat. Die fünfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während der .New Deal" Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechsten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen Prozesses eingesetzt - wie Chief Justice H.F. Stone schon 1938 voraussagte." 8 4 Eine „siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand, dass seit 1969 vier republikanische Präsidenten zehn neue Richter zum Supreme Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, eine konservative Wende herbeizuführen. 8 5 Obgleich sich über die Auswahl der einzelnen „Wenden" trefflich streiten ließe, zeigt Curries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfassungsentwicklung wurde und wird im Wesentlichen durch die Entscheidungen des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu ausgerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf 83 D.P. Currie. Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: J Ö R 46 (1998). S. 511 ff.
84 85
D.P. Currie (1998), S. 511 f.
Vgl. D.P Currie (1998), S. 512, 524.. der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich angedeutet sehen will.
44
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden. B. Ackermann hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei „U.S. constitutional regimes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende „transformations" hinzunehmen hatten. Sh Das erste „Regime" sei mit der Gründung der Union geschaffen worden, das zweite in der Phase der „Reconstruction" und das dritte während des „New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann für sich beanspruchen, im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste „Regime" ist Teil eines Rahmens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts transatlantisch um die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschenrechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt. 87 Die Periode der „Reconstruction" ( 1 8 6 5 - 7 7 ) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre 1848 verglichen 88 , wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfristig substantielle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des „New Deal" lassen sich durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada ziehen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die W i r t s c h a f t s m i s e r e . D i e Verfassungskrisen in Argentinien und Weimar führten freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen. Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Verfassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur Entwirrung des „Wendengeflechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewährenden Verfassung soll den sich stets erneuernden Bedeutungszusammenhang von Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.
86
B. Ackermann, We the People, Vol. 2: Transformations, 1998.
*' Siehe dazu das klassische Werk R. R. Palmers, Age of Democratic Revolutions, 2 Bde. 1959. Vgl. nur M. Tushnet. T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law. in: 108 Yale L a w Journal (1999). S. 1225 ff. 89
Vgl. M. Tushnet (1999), ebenda.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
45
8. Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbstverwirklichung Die amerikanische Verfassung hat. neben der Unabhängigkeitserklärung als das wahrscheinlich wichtigste, definitorische Element der amerikanischen res publica, im Laufe der eigenen, amerikanischen Geschichte kontinuierlich als Bezugspunkt gedient. Etwas Analoges hat es beispielsweise in Deutschland nicht gegeben." 1 Greift man das oben angeführte Bild der verfassungshistorischen „Wenden" wieder auf, so lassen sich die beschriebenen Schritte von den einzelstaatlichen Verfassungen zu einer bundesstaatlich ausgerichteten, übergeordneten Verfassung in der Gestalt von 1787 sowie die anschließend erfolgte Einbettung der Grundrechte als erste Wendepunkte markieren. Dabei soll die Wegstrecke konstitutioneller Selbstfindung vom Mayflower Compact91 bis zur Verfassung Virginias als eigentlicher Ausgangspunkt dienen. Die kühne Feststellung der „konstitutionellen Selbstfindung" geht Hand in Hand mit der kulturellen Selbstverwirklichung einer Bevölkerung, die sich die Unabhängigkeit 1776 nicht nur auf dem Papier, sondern im Herzen erstritten hatte. Amerikanische Kultur beginnt demzufolge nicht erst mit der Declaration of Independence oder den letztlich erfolgreichen Bemühungen um eine Verfassung. Sie findet vielmehr hierin ihre ersten Höhepunkte. Die Asomnie amerikanischen Verfassungsdenkens und - l e b e n s über mehr als zweihundert Jahre ist ebenso Zeugnis positiven Auslegungsgebarens wie gelegentliches Abbild eines herausgeforderten Aktionismus. Verfassungsgeschichte muss in den Vereinigten Staaten als Verfassungsgegenwart angesehen werden. 92 Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bildeten das „supreme law of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen 90
In den m e h r als zweihundert Jahren der amerikanischen Verfassung, hat Deutschland das Ende des Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, den Deutschen Bund. 1848. später den Norddeutschen Bund, die Bismarck'sche Reichsverfassung von 1871. die Weimarer Verfasssung. die Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft des Dritten Reichs, die Besatzungszeit, zwei Verfassungen d e r D D R und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser Gegenüberstellung G. Casper. Die Karlsruher Republik. Rede beim Staatsakt zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 28. S e p t e m b e r 2 0 0 1 in Karlsruhe. http://www.bverfg.de/texte/deutsch/aktuell/Casper.html. 91 Vor der Landung des berühmten Segelschiffs am 21. 11. 1620 bei C a p e Cod schlössen 41 M ä n n e r aus den Reihen der Pilgerväter den Mayflower Compact, in d e m sie sich zur A u f r i c h t u m g einer gesetzlichen O r d n u n g in der zu gründenden Siedlung Plymouth verpflichteten. 92
Ähnlich K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. VII. Frederick W. Turner III sagte 1971 in einem Vorwort zur Neuauflage von C.A. Eastman IE. Eastman. Indian Boyhood. 1902: „Die Geschichte existiert f ü r uns nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird die Vergangenheit lebendig, oder, akurater ausgedrückt, dann wird deutlich, w a s Geschichte schon i m m e r gewesen ist - ein Teil der Gegenwart."
46
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
und Gesetzen hatte. Dies ermöglichte der Zentralregierung die nötige coercive power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madison und Hamilton als unabdingbar für die innere Stabilität der Union erachteten. Auch P. Häberle93 verdeutlichte, in einer Verfassung seien nicht lediglich blanker juristischer Text oder normatives „Regelwerk", „sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" zu sehen. Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft ihrer Nation. Sie waren sich bewußt, dass die Regierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausgerichtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis. 94 Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhunderts stehen. 95 Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition wie im ähnlichen Maße regulierende Barriere für allzu modernistische Bestrebungen. Zusammenfassend wäre es also verwegen zu behaupten, die amerikanischen Verfassungen nach 1776 faßten lediglich in Worte, wie man in Amerika glaubte, dass die britische Verfassung hätte geraten müssen. In fortwährendem Rückgriff auf ihre Wurzeln und Ursprünge erlangte die amerikanische Nation mit der Verfassung neben einem Instrument der Selbstinterpretation eines der (kulturellen) Selbstverwirklichung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1787 zunächst ein grundsätzlich neuer Verfassungsbegriff am Ende einer Entwicklung und am Anfang eines Siegeszuges eines in sich wachsenden „Exportartikels" stand. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die amerikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum Ausfluss einer Idee zu machen, die die Wirklichkeit umgestalten sollte. 96 Die amerikanische Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung und nationalen Einheit des Landes und verobjektivierte den Willen ihrer „founding fathers". Sie kann in ihrer ursprünglichen Gestalt als Resultat einiger wesentlicher Einflussfaktoren betrachtet werden: als Erwiderung der vorhersehbaren Schwächen des amerikanischen Staatenbundes unter den Articles of Confederation; als An93
Siehe P Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1998.
S. 83. w
H i e r / u ausführlich unter B.IV. l . a ) a a ) .
95
Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht. M ü n c h e n 2000. S. 18 in Fn. 5.
96
Ähnlich auch D. Howard. Die G r u n d l e g u n g der amerikanischen Demokratie. Frankfurt a . M . 2001.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
47
passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen Einzelstaaten vertraut waren 97 und als Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen und politischen Ideen. 9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses Die offensichtlichen Grundprobleme, etwa der Ausgleich zwischen Zentralgewalt und Einzelstaaten wurde durch Kompromisse gelöst. So erlangte die neue Bundesverfassung einen pragmatischen und vergleichsweise undoktrinären Charakter. Der philosophische Schwung der Unabhängigkeitserklärung von 1776 mag verloren gegangen sein - die entsprechend nüchtern ausfallende VerfassungsPräambel legt hierfür bereits klares Zeugnis ab. Dennoch gewährt die Bundesverfassung erheblichen Spielraum zur Deutung und, im juristischen Sinne, zur Auslegung. Das nordamerikanische Verfassungsverständnis ist wesentlich durch die Vorstellung von Konsens geprägt. In der Praxis bewies sich diese Bewandtnis erstmals anlässlich des Verfassungskonvents von 1787 in der bereits geschilderten Einigung zwischen den kleineren Staaten und Madison hinsichtlich des Proporzes im Zweikammersystem. Gleichwohl war die Gesellschaft der Vereinigten Staaten bereits seit langem an die selbstverständliche Praxis einer bestimmten Art von Staatlichkeit und Konsensherstellung gewöhnt. Kein anderes postkoloniales Staatswesen sollte über diese Grundlage einer politisch geschulten Zivilgesellschaft verfügen. 98 Insgesamt ist die Perzeption vom „Kompromiss als politischer Lebensform" 9 9 ein Ankerpunkt des amerikanischen Verfassungsverständnisses. Individuelle Interessen sollen auf der Basis persönlicher Entfaltungsfreiheit, Meinungs- und Glaubensfreiheit organisiert und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bundesstaates zur Durchsetzung ihrer Ziele in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden. Aufgrund einer ausgeprägten „Partikularisierung" der Politik ergibt es sich nicht selten, dass die Kompromisse kein ausbalanciertes Resultat berücksichtigenswerter Interessen sind, sondern unter erheblichem - zuweilen unverhältnismäßigem - Einfluss partikulärer Kräfte erwachsen oder scheitern.
So auch K.L Shell, Die Verfassung von 1787. in: W . P . A d a m s u . a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Bd. 1, F r a n k f u r t / N e w York 1990. S. 2 7 7 f f , 277. 98
Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in Lateinamerika und später in A f r i k a oder sie waren nur wenige Jahrzehnte alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der außereuropäischen Welt in W. Reinhard. Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den A n f ä n g e n bis zur Gegenwart. 1999. S. 4 8 0 ff. 99
Vgl. zu dieser Bezeichnung R.Zippelius, Allgemeine Staatslehre. S. 2 3 3 ff. m.w. N.
13. Aufl. 1999.
48
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der dauernde Zwang zu Koordination und Kompromiss erzeugt allerdings auch Reibungsverluste und gefährdet nicht selten Klarheit und Kontinuität amerikanischer Politik. Die verfassungsrechtlich gewollte „Langsamkeit" der Politikprozesse in den USA ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig durch das Phänomen des „divided government" verstärkt worden. Der Umstand, dass häufig der Präsident und die Kongressmehrheit nicht derselben Partei angehören, hat zusätzlich Entscheidungsprozes.se gehemmt. In der zweiten Amtsperiode von G. W. Bush offenbarte sich jedoch auch ein umgekehrtes Phänomen immanenter Schwächung, nämlich bei klaren Mehrheiten der „Präsidentenpartei" in den beiden Häusern des Kongresses. Auch wenn es paradox klingen mag, führt dies umso eher zu Lähmungserscheinungen. Auf den zweiten Blick wird deutlich: das System der „checks und balances" wird hiermit unelegant, aber effektiv ausgehebelt. 10.
Eine dynamische Verfassung - „living Constitution' 4
Die amerikanische Verfassung wird weithin als „living Constitution" bezeichnet und begriffen. 1 ' 10 Zwar könnte sie für den kontinental-europäischen Juristen angesichts fehlender scharfer Kompetenzabgrenzungen sowie begrifflich schwammig umrissener Tatbestände, die demzufolge kaum als Obersatz eines Subsumtionsschlusses dienen können, als Aufruf zur Rechtsunsicherheit verstanden werden. Ihre Kürze und inhaltliche Unbestimmtheit gereicht ihr hingegen zur Stärke. Es liegt daher nahe, die Verfassung der Vereinigten Staaten eben nicht als dauerhaft unberührbaren. in einem Flechtwerk von Kompetenznormen fassbaren Zustand, sondern als dynamischen Evolutionsprozess zu begreifen. Letztere Annahme könnte die Schlußfolgerung nach sich ziehen, das amerikanische Verfassungsrecht habe nie eine hohe Stufe dogmatischer Durchbildung erreicht. 101 Diese Feststellung ist jedoch nur im Hinblick auf dogmatische Grundsätze nachzuvollziehen. die ihren Ursprung in zuweilen engen Maßstäben (kontinental-)europäischen Rechtsdenkens haben. Das amerikanische Faktum einer gewissen Scheu vor starren Begrifflichkeiten und abstrakten Systematisierungen bedeutet nicht die Abkehr von jeglicher Dogmatik. Im Gegenteil, der Charakterzug der amerikanischen Verfassung als „living Constitution" erfordert gerade eine dogmatische Einbettung, die in über 200 Jahren erprobt und bestätigt wurde. Die Notwendigkeit ergibt sich bereits aus der Gefahr der Konturlosigkeit höchsten, verbindlichen Rechts, verbunden mit einem allzu offenen Spielraum richterlicher Interpretationstätigkeit.
100
Vgl. statt vieler R. \V. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change and Relevance of S u p r e m e Court Decisions, Revised Edition, 1992. S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padover, T h e Living U.S. Constitution. rev. ed. 1995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention ( E M R K ) als „living instrument". 101
So C.M. Klette. Zur E i n f ü h r u n g : Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8 ff.. 9.
1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung
49
Die amerikanische Verfassung soll die festen, abstrakten Grundbedingungen des Staates festlegen und ist nicht - wie in der Schweiz über die Volksinitiative - auch eine stete „Plattform der politischen Auseinandersetzung". Sie ist der Zusammenhalt einer sonst sehr heterogenen Gesellschaft, und bildet so einen eigentlichen „dignified part" des amerikanischen Staatsrechts (Verfassungspatriotismus), ohne aber nur noch repräsentative Funktion zu haben. Die grundsätzliche Flexibilität der amerikanischen Verfassung, ihre Beständigkeit und Kürze können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechtsordnung der USA einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aufzuweisen hat. Vielleicht sind es gerade die genannten Charakteristika der Verfassung, die zu diesem differenzierten Erscheinungsbild mit beizutragen wissen. Beispielsweise beinhaltet die Willensbildung zwischen Union und Bundesstaaten, zwischen den Bundesstaaten und innerhalb eines Bundesstaates sowie schließlich die Assoziation dieser einzelnen Umstände ein vergleichbares Maß an Problemstellungen wie die gegensätzlichen Interessen und weitgehend fehlende Homogenität zwischen den Regionen und den Bundesstaaten." 0 Die Schwierigkeiten, die sich aus dem steten, durch das Enteilen der Technik hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Wandel ergeben haben und werden, seien an dieser Stelle nur angedeutet. 11.
Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates 103
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine präsidialdemokratische Republik mit bundesstaatlicher Verfassung. Sie verzichtet auf die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft, um den ehernen Prinzipien Gewaltenteilung und gegenseitige Gewaltenhemmung stärkere Geltung zu verleihen. Die Furcht vor einer allzu starken Machtkonzentration ebnete den Weg zu einer Bundesverfassung, deren Handhabe gegen jegliche einseitige Machtposition ein vielverzweigtes System der Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung sowie föderativer Gewaltenbalance erfordert. Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb angelegten Wahlen, am Konfliktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bilden die Messlatte des Umgangs. Unter der Alleinherrschaft eines von einer demokratischen Mehrheit gewählten Parlaments und einer von einem demokratischen Parlament abhängigen Regierung 102
Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995, S . 7 5 ; L L Joffe, English and A m e r i c a n Judges as Lawmakers, 1969. S. 69. 103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden ..transatlantischen Vergleichs" eingegangen (vgl. unter B.1V.3. und B. V.).
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
50
hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der religiösen Sekten, sondern auch die Eigentumsrechte der (eine dünne Oberschicht bildenden) ökonomischen Elite für gefährdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung der USA. Der Rousseau sehe Gedanke eines a priori gültigen Gemeinwohls ist ihr ebenso fern wie die Vorstellung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unterdrückung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient sei, wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einzelinteresse einen dominierenden Einfiuss auszuüben in der Lage sei. Die Ablehnung einer „direkten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen „Republik" wird mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mittels einer Repräsentativverfassung nicht nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermöglicht werde. 104 Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind: der Bereitschaft, den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation zusammengesetzt ist, eine freie Entfaltungsmöglichkeit und den Gruppen selber ein freies Betätigungsrecht zu gewähren. Nach E. Fraenkel garantiert das naturrechtlich legitimierte amerikanische Verfassungsrecht nicht nur die Existenz dieser Gruppen, sondern legt auch die Spielregeln fest, nach denen sie im Gesamtgefüge der nationalen Einheit zu operieren berufen sind und normiert zugleich die Beschränkungen, die einer jeden dieser Gruppen und der Gesamtheit auferlegt sind. 105 Beides sei zur Pflege des Gemeinwohls einer Nation unerläßlich, die sich gerade deshalb als politische Einheit fühle, weil die autonome Entwicklung der Partikulargruppen gewährleistet ist, aus der sie sich zusammensetzt.
'" 4 Siehe aber auch E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S . 3 9 f . : „Es wäre allzu einfach, den Drang und den Glauben nach einem einheitlichen .Gemeinwillen' lediglich als .falsches B e w u ß t s e i n ' abzutun: und es wäre allzu bequem, die Existenz und die Betätigung der G r u p p e n w i l l e n lediglich als soziale Verfallserscheinungen abzulehnen. Besteht doch die Gefahr, dass ohne den Glauben an das Vorhandensein eines Gemeinwillens das G e m e i n w o h l gefährdet, wenn nicht gar beeinträchtigt wird, weil sich sonst herausstellen mag. dass ein Gruppenkompromiss entweder unmöglich o d e r lediglich unter einseitiger Berücksichtigung der Interessen der stärksten dieser Gruppen zu erreichen ist. W i e denn andererseits die G e f a h r besteht, dass ohne die Gewährung eines freien Betätigungsrechts die Minoritätsgruppen sich vernachlässigt, wenn nicht gar vergewaltigt fühlten, und der amerikanischen Nation niemals hätten eingegliedert werden können bzw. ihr wieder entfremdet worden wären." sowie ders., S. 343 ff. 105
E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S. 343 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
51
Es ist richtig: Der stärkste Integrationsfaktorder Vereinigten Staaten von Amerika ist die Anerkennung des pluralistischen Charakters der amerikanischen Nation.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses Europa als Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, am Ende dieser Stufenleiter angelangt und auf dem Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen Konservatismus 1(16 und Moderne werden, der weder die Option der Grad Wanderung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag. Beides bedarf einer stützenden Konstante, einer organisierten „Seilschaft", die in Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu finden sein dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf romantischer Verklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Integrationsdefizits zugeführt werden. Emotionale Bindungen sind der oftmals von einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt wesenseigen. jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane eine bedeutsamere Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen. 1 0 7
106
Der Konservatismus ist angesichts seines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit der Französischen Revolution zum S a m m e l b e g r i f f für politische Strömungen und Ideen: in England erscheint der Begriff erst 1830. als J. W. Croker die Tories als „conservative p a r t y " bezeichnet) vom Traditionalismus oder vom sog. ..natürlichen Konservatismus" zu unterscheiden (vgl. dazu ausführlich K. Mannheim. Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. 1927). Während der Traditionalismus die ..allgemein-menschliche Eigenschaft" bezeichnet. ..dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf Neuerungen eingehen", ist der Konservatismus ein erst in der M o d e r n e möglich gewordenes Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und die Spaltung der Ideenwelt in Gegner und Befürworter des ..Fortschritts" voraussetzt, vgl. Mannheim, ebenda. Hier soll der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung zur M o d e r n e bestimmt werden; ein lebensfähiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur M o d e r n e als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden, vgl. auch H. Ottmann. Konservatismus, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl. 1985, S. 636 ff. 107 Vgl. im weiteren Sinne auch R. Streinz, Europäische Integration durch Verfassungsrecht. in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einer europäischen Wissensgesellschaft, Heft VIII. April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.J. B l a n k e / S . Mangiameli (Hrsg,). Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 1 ff.
52
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1.
Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses
Die Debatte um die Verfasstheit der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union 108 ist so alt wie diese selbst. In ihr spiegelt sich von Anfang an die Intention der Europäischen Gründerväter, mehr als lediglich ein loser Zusammenschluss gleich gesinnter Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele und auch mehr als nur ein Binnenmarkt zu sein. Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbunden ist, gab es Vorläufereiner Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden Mittelalter. 109 Eine Verfassungsgeschichte Europas bedürfte freilich des Blickes bereits in die Antike. Allerdings würde selbst die Beschränkung auf einzelne Wegmarken europäischer Verfassungsgenese den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Dezimierung auf Aspekte, die ihren Ursprung im 20. Jahrhundert finden, ist daher ein dürftiger Ansatz, jedoch gleichzeitig die Bändigung eines der Ausschweifung gefährdeten Blickwinkels, der seinen Ausgangspunkt aber im Versuch des Verständnisses einer Jahrtausende währenden Entwicklungslinie „europäischen Denkens" zu finden sucht. 110 Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamythos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Dubois und bildlicher Darstellungen wie Rembrandts „Raub der Europa". Gedanklich einzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rotterdam, die Erwägungen Sullys im 17., des Abbe de Saint-Pierre im 18. oder von Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert." 1 Auch würde „Die Christenheit und Europa" des l !
" ' Zu den Begrifflichkeiten „Europäische G e m e i n s c h a f t e n " und „Europäische U n i o n " und deren substantieller Unterfütterung Li. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C . D . C l a s s e n u . a . (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber a m i c o r u m T h o m a s O p p e r m a n n . 2001, S. 163 ff. 109 Ein guter Überblick findet sich bei R. Streinz!C. Ohler/C. Herrmann. Die neue Verfassung für Europa. E i n f ü h r u n g mit Synopse. 2005, S. 1 ff. Siehe auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 . Vgl. auch R. Streinz, Der europäische Verfassungsprozess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der A k a d e m i e für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidcl-Stiftung, 2008. S. 6 f. 110
Siehe aber ausführlich beispielsweise W. Schmale, Geschichte Europas, 2002 sowie M. Zuleeg. Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: Z N R 1997. S. 2 7 0 ff. Vgl. auch U. Everling, Unterwegs zur Europäischen Union. 2001: R.Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Hattenhauer. Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004: H. Wehberg. Ideen und Projekte betreffend die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren. 1984. 111
Man müsste Dantes Idee einer „Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die
Gedanken von Podiebrad. Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
53
D i c h t e r s Novalis g r ö ß e r e B e a c h t u n g v e r d i e n e n , e b e n s o „ V o r d e n k e r " E u r o p a s w i e C. F.
von Schm idt - Ph i sei deck. G. Mazzini o d e r V. Hugo.
2.
Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses a)
Von
Paneuropa
zur
Europa-Union
(1923 -1944)
Der „Verfassungsprozess" der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n - bis hin zur Eur o p ä i s c h e n U n i o n - ist v i e l s c h i c h t i g e r a l s o f t m a l s d a r g e s t e l l t " 2 ( - a l l e i n a u s d e r Zeit
1 9 3 9 - 1 9 8 4 h a t W . Lipgens n a h e z u
vorgelegt punkt
in
13
150 Texte mit Verfassungsvorschlägen
- ) u n d soll i n dieser ( e i n g e g r e n z t e n ) U n t e r s u c h u n g s e i n e n A u s g a n g s der
„Pan-Europa-Bewegung"
des
Grafen
Coudenhove-Kalergi
finden,
die freilich bereits in den 20er Jahren d e s vergangenen J a h r h u n d e r t s ihre G e b u r t s s t u n d e erlebte und d a m i t erheblich f r ü h e r als die G r ü n d u n g d e r E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n a n z u s e t z e n ist. B e r e i t s im N o v e m b e r
1 9 2 3 h a t t e R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. g e b o r e n
1894
i n T o k y o als S o h n e i n e s k . u . k . D i p l o m a t e n u n d e i n e r J a p a n e r i n , e i n s c h m a l e s B u c h veröffentlicht1 u, in d e m er seine Neigung, in Erdteilen zu denken und die Welt nach seinem persönlichen Ermessen zu formen, erstmals einer größeren Öffentlichkeit
der Folge auch J. Bentheim, F. Gentz und selbst Napoleon Bonaparte (er schreibt 1816 auf seiner Verbannungsinsel St. Helena in sein „ M e m o r i a l de Sainte Helene": „Eine meiner Lieblingsideen war die Z u s a m m e n s c h m e l z u n g , die Vereinigung der Völker, die durch Revolution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, eine ..association europeenne" zu verwirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und Glück gebracht, nicht zuletzt auch ein gleiches System in ganz Europa: ,.un code e u r o p e e n . une cour de Cassation europeenne"). Vgl. auch die wichtigen Impulse von /. Kant (er betont in seiner Schrift . Z u m ewigen F r i e d e n " (1795) die Notwendigkeit, einen Bund der Nationen zu schaffen und e n t w i r f t ein ..Bundes-Europa"), G. F. Hegel und F.W. Schelling. Weitergesponnen wurden diese Gedanken (von der Überlegenheit Europas) etwa von .4. Comte. Siehe sodann auch die Schriften von J.K. Bluntschli, K.Frantz, aber auch K.Marx (er teilte etwa die Überzeugung Hegels, dass Westeuropa der fortgeschrittenste und begabteste Teil der Welt sei, also d e r einzige, der reif wäre, die Z u k u n f t der Menschen zu formen. Marx begrüßte die freiheitlichen Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch unterdrückten Polen als ..dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen Gesellschaft. Freilich war er überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom liberalen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbeigeführt werden könnte, sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burckhardt und B. von Suttner verwiesen. 112
Die „europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen betrachtet vertiefend auch W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002. 113
W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, 1986. 114
R.N.
Graf Coudenhove-Kalergi.
Paneuropa.
1923.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
verriet. Der Titel „Pan-Europa" stand für ein Programm mit weit reichenden Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapitale, eine gemeinsame Währung und Armee, schließlich die Verabschiedung einer Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa. „Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert", prophezeite Coudenhove-Kalergi im Vorwort 115 , und die europäische Integration wurde für den gerade 29-jährigen Aristokraten zur Lebensaufgabe: „Durch Agitation in Wort und Schrift soll die europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentlichen Meinung aller Völker aufgerollt werden, bis jeder Europäer sich gezwungen sieht, zu ihr Stellung zu nehmen." 1 1 6 Im Frühjahr 1924 gründete er in Wien die Paneuropa-Union 1 1 7 , eine - nach heutigem Sprachgebrauch - Nichtregierungsorganisation, welche zunächst die Öffentlichkeit mobilisieren sollte. Unter maßgeblicher Beteiligung W. Heiles formierte sich indessen innerhalb der Friedens- und Völkerbundbewegung eine Gegenströmung. Als Antwort auf die Gründung der Paneuropa-Union hoben deutsche und französische Parlamentarier im Frühling 1924 ein „Komitee für die Interessengemeinschaft der europäischen Völker" aus der Taufe, später umbenannt in „Bund für Europäische Cooperation". Ähnlich wie die Paneuropa-Union verstand sich das Komitee als „pressure group" für Europa in den Parlamenten. Regierungskreisen und in der politischen Publizistik. Grundlegend war dabei die Orientierung am Völkerbund, der den institutionellen Rahmen für die europäische Integration darstellen sollte. Im Unterschied zur Paneuropa-Union betrachteten die Mitglieder des Komitees Großbritannien als einen Teil Europas, dessen Einbeziehung als elementar galt. Ähnlich waren dagegen die langfristigen Ziele: eine weit reichende politische und wirtschaftliche Integration der Staaten Europas, die ihren Abschluss in der Schaffung supranationaler Institutionen, eines Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung finden sollte. Damit standen sich seit 1924 zwei politische Organisationen gegenüber, die unterschiedliche Europa-Konzepte verfochten: europäische '15 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923. 116 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. 1923. 117
U m f a s s e n d zur Paneuropa-Union beispielsweise ihr langjähriger Präsident O. von Habsburg. Die Paneuropäische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit. 1999: vgl. auch jüngst A. Ziegerhofer-Prettenthaler. Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Pancuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren. 2(X)4. Als Gründer. Präsident und C h e f p r o g r a m m a t i k e r der von ihm ins Leben gerufenen B e w e g u n g entwickelte Graf Coudenhove-Kalergi eine Strategie persönlicher Lobbyarbeit - im Dialog mit Kanzlern und Königen. U n t e r n e h m e r n und Geistesgrößen. Formen der Kommunikation, die heute z u m einen angesichts der ..europäischen L ä h m u n g " weiter Kreise der europäischen Intellektualität (deren sporadisches und allzu spätes Eingreifen, wie etwa seitens
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Integration innerhalb des Völkerbundes, unter Einbeziehung Großbritanniens und der UdSSR - oder Paneuropa als kontinentaleuropäisches Bündnis mit losen Verbindungen zur internationalen Staatengemeinschaft. 1 I S Gemeinsam war beiJ. Habermas, und J. Derrida. Nach d e m Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003, auch in: Blätter f ü r deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff. hierüber nicht hinwegtäuschen kann), z u m anderen hinsichtlich des Informationsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen Teilen d e r europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je. wenigstens dringend geboten erscheinen. Im Lichte der aktuellen Zurückhaltung europäischer Intellektueller innerhalb der Verfassungsdebatte (ausgenommen juristischer Fachkreise) sowie in der Diskussion um Gestalt und Z u k u n f t Europas schlechthin, sei beispielhaft - im R a h m e n eines für j e d e Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an einige Beiträge nach dem ersten Weltkrieg erinnert. Im Frühjahr des Jahres 1919 erscheinen in der renommierten L o n d o n e r Zeitschrift Athenäum zwei ..Letters from France", verfaßt von d e m französischen Dichter P. Valery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe, die Valery noch im selben Jahr als Essay unter dem Titel ..La crise de 1'esprit" im französischen Original veröffentlicht.), von der E r f a h r u n g des erst wenige M o n a t e zuvor zu Ende gegangenen Weltkrieges und von d e m klaren Bewußtsein, dass dieser Krieg einen epochalen Einschnitt in d e r Geschichte Europas markiert (die Schrift ist abgedruckt in: J. Hytier (Hrsg.), P. Valery. OEuvres. 1957. T. I. S. 9 8 8 ff). Valery begreift dabei die Krise Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Dimension. Diese Krise Europas sei in erster Linie eine Krise des Geistes, j e n e s „esprit europeen", der die eigentliche Essenz Europas a u s m a c h e und seine Zivilisation von allen anderen unterscheide. Für den Cartesianer Valery ist dieser europäische Geist nichts anderes als der Geist der W i s s e n s c h a f t , wie er sich auf d e m Kontinent seit der griechischen Antike herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L da Vinci exemplarisch verkörpert wurde. Valery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer Weise ein ausgeprägtes Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch bei anderen europäischen Schriftstellern in den Jahren nach d e m Ende des 1. Weltkrieges zu finden ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus d e m deutschen Sprachraum nur H. v. Hofmannsthal mit seinem Essay des Jahres 1922 mit dem Titel „Blick auf den geistigen Zustand E u r o p a s " angeführt (Der Text findet sich bei P.M. Lützeler (Hrsg.), ..Hoffnung Europa". Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994. S. 258 ff.) Vergleichbare Belege für ein ausgeprägtes europäisches Krisenbewußtsein aber finden sich auch bei O. Spengler in seinem „Untergang des A b e n d l a n d e s " ( 1 9 1 8 / 2 2 ) . bei S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers." (postum 1944). in Spanien bei J. Ortega Y Gasset in seinem ..Aufstand der M a s s e n " (1929) oder später in England bei -4. Toynbee in seiner Universalgeschichte „A Study of History" ( 1 9 3 4 - 6 1 ) . Valerys Schrift „La crise de 1'esprit" kann als der erste bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, die in den zwanziger Jahren auf d e m gesamten Kontinent, mit besonderer Intensität aber in Frankreich und Deutschland g e f ü h r t worden ist. Europa wird in beiden Ländern z u m T h e m a einer kaum zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar z u m Gegenstand von zumeist allerdings eher zweitrangigen R o m a n e n . Novellen und Gedichten (einen Überblick mit zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Lützeler. Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. M ü n c h e n 1992. S. 272 ff. sowie V. Steinkamp. Die Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach d e m Ersten Weltkrieg. ZEI-Discussion paper. 1999. 118
Unterschiedlich sah man auch die Modalitäten der Finanzierung: Der Bund für Europäische Cooperation konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer europäischen Annäherung sein mussten." 9 Wenig später glaubte sich Coudenhove-Kalergi indes am Ziel. Am 5. September 1929 schlug der französische Außenminister (und zeitweilige Ministerpräsident) A. Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf vor, die europäischen Staaten durch eine föderale Verbindung enger zusammenzuführen. Vorstellungen, die - auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Einigung - vieles von dem vorbereiteten, was nach 1945 geplant oder begonnen wurde. Sein deutscher Amtskollege G. Stresemann lobte in einer Antwortrede die wirtschaftliche Seite der Idee, doch er verhehlte nicht die Skepsis des Realpolitikers gegenüber der Aussicht auf eine politische Integration Europas. 12 " Dennoch - Briands Initiative setzte das Thema für einen Moment auf die Agenda der Weltpolitik. So geht aus einem Dossier der französischen Botschaft in Washington hervor, dass in der amerikanischen Öffentlichkeit der Europaplan Briands so ausführlich diskutiert wurde wie selten ein Thema der europäischen Politik. 121 Doch Briands Auftritt kam zu spät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Monate später nachgelegten Europa-Memorandum 1 : 2 die nationalen Interessen und Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite - um die Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jenseits des Rheins. Das Memorandum fordert, die Zusammenarbeit der europäischen gierungen zurückgreifen, die das Anliegen einer europäischen Verständigung unter d e m Dach des Völkerbundes unterstützten. Dagegen suchte und fand Graf Coudenhove-Kalergi finanzielle Unterstützung in e i n e m Kreis von U n t e r n e h m e r n und Bankiers, die sich unter der Leitung R. Boschs zu einem Paneuropa-Förderkreis zusammenschlössen. 119 Die deutsch-französische Europa-Debatte hat - und das verleiht ihr eine zusätzliche Dimension - ihren Ausgangspunkt in der nach dem ersten Weltkrieg zeitgleich in beiden Ländern einsetzenden Diskussion über die Z u k u n f t der deutsch-französischen Beziehungen. Beide T h e m e n k r e i s e sind natürlich nicht identisch, aber auch schon deshalb nicht voneinander zu trennen, weil in der W a h r n e h m u n g sowohl der Franzosen w i e der Deutschen beide Länder a u f g r u n d ihrer Größe, ihrer zentralen Lage, ihrer Vergangenheit sowie ihrer politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt ihrer kulturellen Bedeutung wegen den eigentlichen Kern Europas bilden - eine Konzeption, die sich im übrigen schon im frühen 19. Jahrhundert bei dem in Paris lebenden deutschen Schriftsteller L. Börne findet, der von einem „ N u k l e u s - E u r o p a " spricht, und wenig später auch in V. Hugos Vision von den „Vereinigten Staaten von E u r o p a " w i e d e r auftaucht und die bis in die Gegenwart unter Berücksichtigung vielerlei berechtigter Kritik in der Vorstellung von einer ..deutschfranzösischen Achse" oder dem Bild von der deutsch-französischen Freundschaft als Motor des europäischen Einigungsprozesses fortwirkt.
Die Debatte mit den Reden Briands und Stresemanns findet sich abgedruckt bei W. Lipgens, Europäische Einigungsidee 1 9 2 3 - 1 9 3 0 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: HZ 203 (1966). S. 46 ff., 78 f., 80 ff.: vgl. auch C. Navari. T h e Origins of the Briand Plan, in: Diplomacy and Statecraft 3,1 (1992). S . 7 4 f f . 121 Vgl. C. Navari (1992), S . 9 9 : vgl. im weiteren Kontext auch S. Kneeshaw, In Pursuit of Peace: the American reaction to the Kellogg-Briand Pact. 1 9 2 8 - 2 9 , 1991. 122
Vgl. ausführlich W. Lipgens (1966). S. 82 f.; C. Navari (1992), S. 99 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Staaten zu institutionalisieren, eine Europäische Konferenz auf Regierungsebene einzurichten sowie einen Ständigen Politischen Ausschuss als europäisches Exekutivinstrument. Überdies regt ein Zusatz an. die Grenzgarantien des LocarnoPaktes auf die osteuropäischen Staaten auszudehnen. Ein solches Ost-Locarno aber war der deutschen Außenpolitik nicht abzuringen, denn diese zielte trotz aller Verständigungsbereitschaft langfristig darauf an, das Reich wieder als Großmacht zu etablieren. So zeugt das Memorandum der französischen Regierung gleichermaßen von Briands Glauben an die Gemeinschaft Europas wie von der Hilflosigkeit einer Außenpolitik, die Deutschlands erneutem Griff nach der Weltmacht nur noch wenig entgegenzusetzen vermochte. Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und nationalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen Verhältnisse jener Jahre und die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war endgültig der Weg zu einer nochmaligen gewaltsamen Explosion des Nationalismus beschritten. Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucksvolle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - aktuelle, grundlegenden Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas vor allem in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spektrum demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahl maßgeblicher Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souveränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egoismus und Gegeneinander der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemeinschaft Europas nach föderalistisch-bundesstaatlichen Prinzipien für notwendig hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa gegenüber totalitären Kräften gesichert und die für Wiederaufbau und Wohlstand hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden. 1 2 3 So heißt es etwa in einer Erklärung von Vertretern wichtiger Widerstandsbewegungen Frankreichs, die im Juni 1944 ein Französisches Komitee für die europäische Föderation gründeten: 123
Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W. Lipgens. Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1 9 4 0 - 1 9 4 5 . 1968. Die Europaideen des Widerstands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen, nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten ..Europaideen*' des NationalsoziaIismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung „Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und friedliches Europa wieder aufzubauen. wenn es bei der z u s a m m e n g e w ü r f e l t e n Existenz nationaler Staaten bleibt. [ . . . ] Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und Frieden entwickeln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem europäischen Bundesstaat folgende Zuständigkeiten überantworten: die wirtschaftliche und handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaffneten Streitkräften und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die S c h a f f u n g einer europäischen Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische Bundesregierung muss das Ergebnis nicht einer Wahl durch die Nationalstaaten, sondern einer demokratischen und direkten B e s t i m m u n g durch die Völker Europas sein." 124 Die Sozialistische Partei Italiens veröffentlichte
1942 aus d e m Untergrund
folgende Erklärung: „Die G r u n d f o r d e r u n g hinsichtlich der zukünftigen O r d n u n g in Europa 1... | muss darin gesehen werden, dass die bereits bestehende Einheit der europäischen Gesellschaft durch politische Z u s a m m e n f a s s u n g sichergestellt werden muss. [ . . . ] Die europäische Föderation darf keine in ihren Vollmachten eingeengte Union sein, der ständig von den souveränen Staaten her G e f a h r droht." 1 2 5 B e m e r k e n s w e r t neben allzu vielen Unerwähnten auch der deutsche Widers t a n d s k ä m p f e r H.J. Graf von Moltke, h i n g e r i c h t e t
1 9 4 5 in P l ö t z e n s e e , d e r
1942
an einen Freund in England schrieb: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden?" 1 2 6 Unter den während der Kriegsjahre 1 9 3 9 - 1 9 4 5 formulierten Studien und M a nifesten befeinden sich auch einige V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e . Zu ihnen zählten beis p i e l s w e i s e A. Spinellis F l u g s c h r i f t „ G l i S t a t i U n i t i d ' E u r o p a e le v a r i e t e n d e n z e p o l i t i c h e " v o m O k t o b e r 1941 u n d d e r A n s a t z d e r S e k t i o n Basel d e r s c h w e i z e r i s c h e n Europa-Union, d i e
1942 unter der n a m h a f t e n M i t w i r k u n g von
W. Hoegner
u n d H . G . Ritzel m i t d e r A u s a r b e i t u n g e i n e r „ V e r f a s s u n g f ü r d i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n von E u r o p a " b e g o n n e n und bis 1944 zu d i e s e m Z w e c k 80 Sitzungen abgehalten u n d , w i e W . Lipgens feststellt, e i n e n a u s g e r e i f t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f m i t e t w a 9 0 Artikeln n a c h d e m b e k a n n t e n H a a g e r K o n g r e s s von 1948 veröffentlicht hatte.127
124
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 2 4 4 ff.
125
Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf der italienischen Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. Spinelli und E. Rossi berühmt gewordene Manifest von Ventotene. 126
S. 2 0 f.
H.J. Graf von Moltke, Letzte Briefe aus dem G e f ä n g n i s Tegel, 10. Auflage 1965.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe", der im Rahmen der Faneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde. 128 b)
Verfassungsentwürfe nach
1945129
aa) Hertensteiner Programm (1946) Zahlreiche dieser und ähnlicher Vorstellungen fanden einen ersten gemeinsamen Niederschlag nach dem Kriege im historischen Treffen von Persönlichkeiten des Widerstandes und europäischer Föderalisten vom 14.-21. September 1946 in Bern und am Vierwaldstätter See. :;i " Dabei einigten sich Vertreter aus zwölf europäischen Ländern 1 3 1 und den USA auf den Zusammensehluss aller europäischen Einigungsbewegungen in einer „Aktion Europa-Union". 1 3 2 Das Aktionsprogramm hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte befassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen Protektionismus signalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte (u. a. föderativer Charakter der Union, keine neue Weltmacht, gemeinschaftliches Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten, Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden sich später in den Gemeinschaftsverträgen bzw. im Unionsvertrag wieder. 133 bb) Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (1948) Wenige Tage zuvor hatte W. Churchill in einer Aufsehen erregenden Rede in Zürich dazu aufgerufen, einen „Europarat" als ersten Schritt zu den „Vereinigten
127 Der Entwurf fiel durchaus „schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie, sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings m e h r ..Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. IV. Lipgens (1968). Text 22). 128
Texte mit kurzer E i n f ü h r u n g bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2 0 0 0 . 2 0 0 1 . 129
Vgl. vertiefend G. Brunn. Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 2002; XI.-T. Bitsch. Histoire de la construction europeenne de 1945 ä nos jours, 1999. Siehe auch F. Knipping. Rom. 25. März 1957. Die Einigung Europas. 2004. 130
Das Treffen und den Text dokumentiert u . a . die Quelle unter http://www.jefniedersachsen.de/hertenstein.html. 131
Belgien. England. Frankreich. Griechenland. Holland. Italien. Liechtenstein. Polen. Österreich. Schweiz. Spanien. Ungarn. 132
Am 17. 12. 1946 erfolgte dann der Z u s a m m e n s c h l u s s zur ..Union Europeenne des Federalistes". 133
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II. 14.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Staaten von Europa" zu bilden" 4 ; die Aussöhnung und Partnerschaft Deutschlands und Frankreichs müsse hierfür die Grundlage bilden. Im Mai 1948 erneuerten Politiker und Vertreter privater europäischer Verbände aus fast allen Staaten Westeuropas den Appell für eine Einigung Europas und die Errichtung eines „Europarates" auf ihrem Haager Kongress, aus dem einige Monate später die Gründung der „Europäischen Bewegung" hervorging. 135 Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 veranstalteten „Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der „Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Menthon erarbeitete im Juni 1948 einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente in Interlaken (im September 1948), der erstmals eindeutige Regeln für die doppelte Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt. 136 Menthon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Daneben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NATO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und Mitgliedstaaten. cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948) Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer Föderalisten einen Vorentwurf einer europäischen Verfassung, der am 1l.Novem134
Die Rede Churchills findet sich unter a n d e r e m bei W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. D o k u m e n t e 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments. 1986. S. 2 1 4 ff. 135
Es war die Zeit der großen H o f f n u n g e n und entsprechenden Ambitionen, über einen Europäischen Verfassungsrat in einem Wurf und mit e i n e m Vorgriff auf eine ohnehin in diese Richtung weisende Z u k u n f t ein Vereinigtes Europa herzustellen. Im März 1948 wurde immerhin von 190 Abgeordneten des britischen Unterhauses und von 169 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung die E i n b e r u f u n g einer Europäischen Verfassungsgebenden V e r s a m m l u n g gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen Möglichkeiten, die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten. 136
Vgl. IV. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002. S. 49 ff. "
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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ber 1948 verabschiedet wurde. 117 Der Entwurf eines einheitlichen europäischen Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeitsverlagerung. Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen. Gruppen von Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Subsidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen konnten. dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951) 72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich unter dem Vorsitz des bereits oben benannten Präsidenten der Paneuropa Bewegung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um ein „Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu rufen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg einen sehr knappen (18 Artikel) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundesverfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden. Verfassungsrevisionen). Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kompetenzverteilung. Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten sollten genau festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung („Bundesrat") und Bundesgericht vorgesehen. 138 c)
Wege zum Europarat
Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch ein ansehnlicher Teil der politisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren „Erbfeindländern" 137 138
Vgl. VV. Loth (2002). S. 55 ff.
Ein Abdruck dieses Verfassungsentwurfes findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/ I.Contiades (Hrsg.), Die Verfassungen Europas. 1966. S . 6 3 I ff.; vgl. auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001.11.20.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Frankreich und Deutschland - in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurückhaltende und Gegenkräfte, die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gaulle.139 Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der grundsätzlichen Auffassungen zur Zukunftsgestaltung Europas, wie sie die politischen Diskussionen und Entscheidungen der Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wesentlich bestimmten, ist hier nur stark vereinfacht möglich. Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit mancher Argumentationslinien zur Verfassungsdiskussion der jüngsten, vergangenen Jahre. Die „Zeitlosigkeit" der „europäischen Debatte" ist folglich gleichermaßen Ausdruck von stabilisierender Stringenz und ermüdender Stagnation. Den damaligen Befürwortern einer „Neuordnung Europas" zufolge war das System der souveränen Nationalstaaten in Europa unfähig, zwischenstaatliche Konflikte gewaltlos zu lösen und damit implizit den Frieden zu sichern: auch wäre im „Schrebergartensystem" seiner Volkswirtschaften eine optimale Entfaltung der Produktionsfaktoren und damit des Wohlstandes kaum zu ermöglichen gewesen: schließlich stellte sich nicht nur angesichts der Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte die Frage, wie die gemeinsamen Interessen Europas in der Weltpolitik einschließlich seiner Verteidigung angemessen zu vertreten wären. Konsequenterweise hätten diese Aufgaben in den Augen jener „Europäer" die Schaffung einer über den Nationen stehenden („supranationalen") gemeinsamen politischen Ordnung in Form eines föderalistischen Bundesstaates erfordert, zu dessen Gunsten die Einzelstaaten auf Teile ihrer Entscheidungsbefugnisse hätten verzichten müssen. Demgegenüber wurde vertreten, Grundlage der politischen Identität der europäischen Völker und des durch sie legitimierten staatlichen Handelns seien nach wie vor die Nationalstaaten. Die zur Lösung der gemeinsamen europäischen Probleme und Aufgaben erforderlichen Schritte könnten nur so weit reichen, wie jeder beteiligte Staat aus eigener Entscheidung zu gehen bereit sei. Europäische 139
Für Großbritannien hatte Churchill bereits in seiner Züricher Rede ein anderes Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre, dem britischen Commonwealth of Nations (vgl. W. Churchill, a. a. O.). Mit der tatsächlichen Gestaltung Europas nach 1945 auf der Grundlage der alten nationalstaatlichen O r d n u n g (die. zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage gestellt wurde), war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit z u n e h m e n d e r Entfernung vom Kriege und w a c h s e n d e m Selbstbewusstsein der Staaten nach d e m Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
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Zusammenarbeit sei somit - zumindest vorerst - nur möglich in den Formen herkömmlicher internationaler Zusammenarbeit oder eines Staatenbundes der unabhängigen („souveränen") Einzelstaaten, nicht aber durch deren Unterordnung unter Entscheidungen supranationaler Organe. Die unterschiedlichen Vorstellungen in Europa über die Zukunftsgestaltung, insbesondere den Grad der Einigung des Kontinents, waren mit Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch vielfältigen Einwirkungen der politischen Entwicklung unterworfen, in erster Linie dem beginnenden, bald alles überschattenden Ost-WestKonflikt. Nach 1945 sah es trotz aller Einigungspläne für Europa zunächst so aus, als werde sich am wiederhergestellten System der unabhängigen Nationalstaaten kaum etwas ändern. Mit der Teilung Europas, das heißt der Eingliederung der osteuropäischen Staaten und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Machtbereich der UdSSR, ergaben sich jedoch bald völlig neue Interessenkonstellationen und Impulse zur Einigung (nunmehr) Westeuropas. Sie waren bestimmt vom Bedürfnis der USA und Westeuropas nach Sicherheit, wirtschaftlicher Stabilität und Eindämmung des Kommunismus. 1 ' 10 Vor dem Hintergrund des bestimmenden Einflusses der beiden Supermächte über Europa war der erste Schritt zu einer von den Europäern selbst ausgehenden organisierten Zusammenarbeit, zu der sich bald die Mehrzahl der westeuropäischen Staaten bereit fand, geprägt vom Kompromiss. Der am 5. Mai 1949 von zunächst zehn Staaten in Straßburg gegründete Europarat erhielt einerseits keine supranationalen Befugnisse, wie vor allem die Europäische Bewegung es forderte. Andererseits bedeutete er das Äußerste dessen, was die zurückhaltenderen Staaten an Einigung akzeptieren konnten. Der Kompromiss spiegelt sich auch in Gestal-
uo
Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer G r ü n d u n g 1949 unter ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenauer ebenfalls f ü r den Weg der Westintegration und der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleichberechtigten A u f n a h m e in die europäische Staatengemeinschaft, zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und zur Sicherung der j u n g e n Demokratie gegenüber d e m K o m m u n i s m u s wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands gesehen. Im GG wird neben d e m Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille ausgedrückt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu d i e n e n " ( Präambel); in Art. 24 Abs. 1 GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen, dass der Bund ..durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertrag e n " könne. ..Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen: er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte O r d n u n g in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuropas waren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage - sei es wegen auferlegter oder selbst gewählter Neutralität wie bei Finnland. Österreich. Schweden und der Schweiz, a u f g r u n d autoritärer Regime w i e in Spanien und Portugal oder aus einer historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere durch seine Bindungen im weltweiten C o m m o n w e a l t h ) und den skandinavischen Staaten, die im 1951 gegründeten Nordischen Rat eine engere Z u s a m m e n a r b e i t einleiteten.
64
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
tung. Zusammensetzung und Wirkkraft der wichtigsten Organe des Europarates wider. 141 Auch wenn dem Europarat supranationale Entscheidungsbefugnisse fehlen, sind seiner freiwilligen Zusammenarbeit nicht unbedeutende Erfolge zu verdanken. Sie betreffen die Angleichung von Politik und Gesetzgebung der Mitgliedstaaten in Teilbereichen von Erziehung und Bildung. Rechtswesen. Sozialpolitik und Umweltschutz, kulturelle Initiativen sowie nicht zuletzt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1 4 2 ; sie bietet die Möglichkeit, wegen Menschenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage zu erheben. Eine verfassungsgeschichtliche Betrachtung Europas (wie der Europäischen Union) wäre ohne einen Blick auf die Errungenschaften des Europarates unvollständig. d)
„Verfassungsentwürfe " ab 1952
aa) Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952) 1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am 18. April 1951 den - in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaffenen - EGKS-Vertrag 143 und hoffte, dass dies „automatisch" auch die engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit sich bringen würde. Dieser Gedanke war auch in der Organisation der EGKS enthalten, die eine Versammlung (d. h. ein Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Ministerrat vorsah. Bemerkenswert ist, dass Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl der Delegierten zur Versammlung benannte. Die gegenseitige Abhängigkeit und Überwachung der Organe sollte eine rechtsstaatliche Legitimation gewährleisten. 141
Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Europarat K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956: J.-L Burban, Le Conseil de l ' E u r o p e . 1985 (2eme ed. 1993); A. Gimbal, Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Politik 12/1997. S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: 50 Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre Europarat. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000. S. 17 ff.; M. Wittinger, Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte", 2005. 142 Hierzu beispielsweise G.C. Rodriguez Iglesias, Die Stellung der E M R K im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h und Bewahrung. Festschrift für R . B e r n h a r d t . 1995. S. 1269 ff.: M. Hilf. Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen U m b r u c h und Bewahrung. S. 1193 ff.: C. Busse. Die Geltung der E M R K f ü r Rechtsakte der EU, in: N J W 2000. S. 1074 ff.: H. Waldock. Die Wirksamkeit des Systems der E M R K . in: E u G R Z 1979. S. 599 ff. 143
Vgl. etwa bereits K. Carstens, Die Errichtung des G e m e i n s a m e n Marktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. A t o m g e m e i n s c h a f t und G e m e i n s c h a f t f ü r Kohle und Stahl, in: Z a ö R V R 18 (1958), S . 4 5 9 ff.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
65
Der EGKS-Vertrag kann als erste „Vertragsverfassung" bezeichnet werden, die konkrete und wirksame Schritte in Richtung einer gemeinsamen politischen Union einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus. bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EGKS (1953) Kontrastierend zur „pragmatischen Integrationsmethode" ist die Verfassungsidee Teil eines permanenten Diskussionsprozesses über Reform und Gestaltung der europäischen Einigung gewesen und rückte immer dann auf die Tagesordnung, wenn die Integration in eine neue Phase trat oder in eine Krise geriet. 144 Der erste politisch bedeutsame Entwurf für eine konstitutionelle Neugründung Europas entstand im Nachkriegseuropa 1953 im Zusammenhang mit den Plänen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Dieser Ansatz ist auch in klarer Abgrenzung zu den Verfassungsentwürfen der benannten Gruppen der Europabewegung während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, deren Pläne meist die Umwandlung Europas in einen föderalen Bundesstaat mit eigener Haushaltskompetenz, gemeinsamer Armee und weitreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen implizierten. 145 Während sich 1950 die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass „Europa sich nicht mit einem Schlage" herstellen lassen könne, sondern mit der EGKS nur eine „erste Etappe der europäischen Föderation" 146 auf wirtschaftlichem Gebiet zu verwirklichen war, gewann die Gründung einer umfassenden politischen Gemeinschaft während des Koreakriegs und der damit verbundenen deutschen Wiederbewaffnung erneut an Bedeutung. Analog zum Modell des Schuman-Plans schlug Frankreich eine frühzeitige Einbindung Deutschlands in ein supranational organisiertes europäisches Sicherheitssystem vor. Letztlich beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anregung von J.Monnet (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und P.H. Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versammlung des Europarates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte „ad hoc"-Versammlung zu beauftragen, einen Vertragsentwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese „verstärkte" Versammlung der EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwurf 1 4 7 ausar-
144
Vgl. W. Weidenfeld. W i e Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union. 1991. S . 7 6 . 145
Hierzu die D o k u m e n t e in W. Lipgens. 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung. Bonn 1986. 146
..Erklärung zur M o n t a n u n i o n " , 9. Mai 1950. in: W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung. Bonn 1986. Dok. 67, S. 293 f.
66
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
b e i t e t e . D i e s e n E n t w u r f l e g t e d i e V e r s a m m l u n g a m 9 . M ä r z 1 9 5 3 vor. E r w u r d e v o m R a t d e r s e c h s A u ß e n m i n i s t e r d e r E G K S a m 10. M ä r z g e b i l l i g t . Z w a r w a r der „ A d - h o c - E n t w u r f " vorsichtiger formuliert als die Pläne der f ö deralistischen B e w e g u n g („Verfassung" oder ..Bundesstaat" tauchten als Begriffe nicht auf), d o c h inhaltlich richtete sich der Plan weitgehend am Leitbild eines europäischen Bundesstaates aus. Einige „Verfassungsfunktionen"148, wie die Legitimations149- und Organisationsfunktion150 der vorgelegten Konzeption gestalteten sich ähnlich den E n t w ü r f e n der Europabewegung: eine demokratisch legitimierte, föderale Organisationsstruktur mit einer weitgehend gleichberechtigten Völkeru n d S t a a t e n k a m m e r ( S e n a t ) n a c h a m e r i k a n i s c h e m M o d e l l ( A r t . 1 1 u n d 16), w e l che auch die Hoheit über den Haushalt erhalten sollte (Art. 75). Z u d e m sollte das Parlament den „Europäischen Exekutivrat" mit Präsident und Ministern kontrollieren (Art. 31). G e m e i n s c h a f t s r e c h t sollte V e r f a s s u n g s v o r r a n g g e g e n ü b e r den M i t g l i e d s s t a a t e n e r h a l t e n ( A r t . 4 ) u n d e i n k l a g b a r bei e i n e m G e r i c h t s h o f sein (Art. 3 8 - 4 9 ) . Der Entwurf verfügte über keinen Menschenrechtskatalog, sah aber
147
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001,11.23.b). 148
Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grundzügen C. Walten Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1 2000. S. I ff.. 5 f. entlehnt. 149
Indem sie die Macht d e m subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich auf den Willen eines souveränen Volkes stützt, hat die Verfassung zunächst die Funktion. M a c h t a u s ü b u n g zu legitimieren. Indem sie sich auf die Volkssouveränität als pouvoir constituant beruft, schafft sie die Grundlage für die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt: Weil nur die Verfassung aus den vorrechtlichen Gegebenheiten der verfassungsgebenden Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ. Gesetz und jeder Rechtsakt auf die Verfassung z u r ü c k f ü h r e n lassen. Sie ist damit der M a ß s t a b allen rechtlichen und politischen Handelns. Weil die Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Stelle steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese Durchsetzbarkeit kommt üblicherweise einem Verfassungsgericht zu. Es verfügt außerdem über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt Unvollständigkeiten in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. S. 268 ff., 272. 150
Die Verfassung legt die O r g a n i s a t i o n - und Verfahrensregeln fest, die eine den Legitimationsprinzipien k o n f o r m e H a n d h a b u n g der öffentlichen Gewalt garantieren. Deshalb enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsgewalt. die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exekutive. Legislative und Judikative die Kompetenzen d e r einzelnen Organe verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995 (12), S. 581 ff., 584. Der enge Z u s a m m e n h a n g von Organisations- und Legitimationsfunktion zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im Namen des souveränen Volkes die Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch das Vertrauen entziehen, d. h. sie absetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrument der Herrschaftsausübung.
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
67
die Aufnahme der E M R K als „integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompetenzen der Gemeinschaft waren allerdings begrenzter als in den Verfassungsplänen der Europabewegung. Der ..Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der Montanunion und EVG entsprechen sollte, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebiete der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber „durch einstimmigen Beschluß" des Ministerrats (Art. 69). Diese zögerlichen Formulierungen lassen eine Deutung auf den Wandel der europapolitischen Interessen zu Ungunsten eines verfassungspolitischen Integrationssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs führte. Das Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG und EPG. Vor allem Frankreich erschien der Preis eines nationalen Souveränitätsverlustes zugunsten einer europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsentwurf scheiterte zusammen mit der EVG in der französischen Nationalversammlung (30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bundesstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Bereich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein rhetorische Figur. Leitbilder wie „Vereinigte Staaten von Europa" 1 5 1 wirkten „wie der Aufputz von Sonntagsreden" 1 5 2 .
cc) Römische Verträge (1957) Die von der Regierungskonferenzder sechs Gründungsstaaten (Belgien. Deutschland. Frankreich. Italien. Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von P.-H. Spaak verfassten Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen - anders als bei der EGKS - die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Verträge 153 übernahmen im Wesentlichen die institutionelle Gestaltung der EGKS und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert. 154
151
Siehe aber T.R. Reid. T h e United States Of Europe: T h e New S u p e r p o w e r and the End of American Supremacy. 2005. 152
H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfmalität: Föderation, Konföderation - o d e r was sonst?, in: Integration. 3 / 2 0 0 0 . S. 171 ff., 171; siehe auch W. Weidenfeld. Europäische Verfassung fiir Visionäre?, in: Integration. 1/1984. S. 33 ff.. S. 38. 153
Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur G r ü n d u n g einer Europäischen Union. Herausragende D o k u m e n t e von 1930 bis 2000. 2001, II.24.b). 154
Im Einzelnen z. B. W. Loth, E n t w ü r f e einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002. 16 ff.
68
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungsfähigkeit (Einstimmigkeit im Rat) und an parlamentarischer Kontrolle konstatiert. e)
Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre
Gerade angesichts der gelegentlich romantisierenden und den Vergleich zu den USA suchenden Bezeichnung „Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften" (bzw. überaus gewagt der „Europäischen Union") ist zu fragen, ob sich die Beteiligten in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auch über die Ausgestaltung der hoheitlichen öffentlichen Gewalt der Europäischen Gemeinschaften überhaupt Gedanken gemacht haben bzw. machen mussten. Aufgrund der Qualifizierung der Gemeinschaften als lediglich „funktionelle Zweckverbände wirtschaftlicher Integration" 155 . die vordergründig keine wie immer gearteten „verfassungsrechtlichen" Probleme aufwerfen konnten -soll auch im Hinblick auf die „Verfassungsdebatte" im Rahmen des „Europäischen Konvents" 156 dieser Fragestellung nachgegangen werden. Tatsächlich haben sich die „europäischen Gründungsväter" sehr intensiv mit der Thematik der Ausgestaltung und Strukturierung der hoheitlichen öffentlichen Verbandsgewalt beschäftigt, die sie den drei Europäischen Gemeinschaften mitzugeben beabsichtigten. Sie fanden hierbei auch umfassende Unterstützung durch die Lehre, wie die Fülle einschlägiger Gutachten belegt, die in der zweiten Jahreshälfte 1952 von führenden deutschen Staatsrechtslehrern verfasst wurden. 157 Auslöser war die vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland auf die geplante EVG und Gegenstand der Auseinandersetzung war die von H. Kraus erhobene Forderung nach „struktureller Kongruenz und Homogenität" der hoheitlichen, öffentlichen Verbandsgewalt der EVG im Verhältnis zur Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten, im konkreten Fall jener der Bundesrepublik. 158
155
Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. S. 196.
156
Hierzu unten B . I V . 2 . f ) o o ) .
15
Gesammelt in den Veröffentlichungen des Institutsßir Staatslehre und Politik e. V. in
Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag. Bd. 2, 2. Halbband: Das Gutachtenverfahren ( 3 0 . 7 . - 1 5 . 1 2 . 1952), 1953. 158
Nach der später ..Lehre" genannten These von der notwendigen ..strukturellen Kongruenz und H o m o g e n i t ä t " durften gem. Art. 24 Abs. 1 GG deutsche Hoheitsrechte nur an solche zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur d e m staatsrechtlichen. rechtsstaatlichen A u f b a u des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen Staatswesens ..kongruent" ist. Die jüngste „Verfassungsdebatte" in der Europäischen Union nahm dabei Überlegungen auf. die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu W. Hummer, Eine Verfassung für die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in: H. T i m m e r m a n n (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion. 2001).
II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung
69
Der Ansatz von der notwendigen „strukturellen Kongruenz und Homogenität" der Verbandsgewalt internationaler/supranationaler Organisationen im Allgemeinen und der EVG im Speziellen in Bezug auf die Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten wusste sich - wie soeben beschrieben - aber nicht durchzusetzen. Im Ergebnis erscheint es nicht vermessen, die Europäischen Gemeinschaften konzeptionell als eine „inkongruente" und „inhomogene" Verbandsgewalt „sui generis" zu bezeichnen - und zwar nicht nur ohne Gewaltenteilung, sondern sogar „gewaltenfusionierend" (mit einem exekutiv rekrutierten Rat als Hauptlegislator), ohne Grundrechtskatalog, ohne vertikale Kompetenzverteilung, mit einem Europäischen Parlament ohne Legislativbefugnisse etc. -. die sich bewusst vom staatsrechtlichen Modell ihrer Mitgliedstaaten abhob. 1 -" Hervorzuheben ist, dass die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in keiner der Ratifikationsdebatten in den sechs Gründungsstaaten verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten, und die parlamentarischen Genehmigungsverfahren mit großen Mehrheiten erfolgten. 160 f)
Stationen zur Europäischen
Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren
aa) Der Entwurf von Max Imboden (1963) Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den Fouchet-Plänen (Februar 1961) 161 und dem Davignon-Bericht (1970) 162 sowie dem Tindemans-Bericht (1975) 161 insbesondere der Entwurf von M. Imboden 164 159
So auch W. Hummer. „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und A r g u m e n t e , Sonderheft 1/2003. S. 53 ff.. 55. 1611
Vgl. etwa H.-J. Küsters. Die G r ü n d u n g der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
1982. S. 472 ff.; S. Griller/F. MaislingerlA. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundlagen einer EG-Mitgliedschaft. 1991, S. 2 3 6 ff. 161
Hierzu u. a. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eu-
ropäische Union 2004. Bilanz und Perspektive. 2004, S. 7. 1962 waren die so genannten Fouchet-Pläne grandios gescheitert, die gleichfalls eine engere politische Zusammenarbeit und sogar eine g e m e i n s a m e Außen- und Sicherheitspolitik beabsichtigten. Trotz allem wurde bereits ein Jahr darauf der Dcutsch-Französische-Freundschaftsvertrag unterzeichnet. die Initialzündung für den so genannten (bis heute nicht unumstrittenen) ..Motor der Integration". 162
Vgl. etwa S. Petkovic, Geschichte der politischen Integration in Europa - Teil 2 (von der E P Z zum Vertrag von Nizza), 2003, S. 6 f. im Internet: cdl.niedersachsen.de/blob /images/C4786923_L20.pdf. Siehe übrigens aus den 70cr Jahren auch den Verfassungsentwurf von J. Dorren (1977). a b r u f b a r unter http://www.uni-trier.de/~ievr/eu_verfassungen /dorren.htm. 16
' Vgl. W. Wessels, Europäische Union 1980. Fragen und Thesen im Hinblick auf den Tindemans-Bericht zur Europäischen Union. 1975: Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2004), S . 8 . Tindemans ..Bericht über die Europäische
70
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
hervorzuheben. Er hielt den „funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll, für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und das deutsche Grundgesetz (GG) wollte Imboden versuchen, „den noch schwer fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu geben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern." 165 Er sah die Organe ..Rat"(als Regierung), „Europäische Versammlung"-bestehend aus Abgeordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie einen Gerichtshof vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 2 2 - 2 5 ist ausdrücklich eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten enthalten. 166 Seit Gründung der EWG (1958) standen Erfolge und Rückschläge im Einigungsprozess in einem dynamischen Wechselspiel. Bereits 1968 war die Zollunion verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen wurde jedoch zwei Jahre vorher ein entscheidendes Instrument supranationaler Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich. bb) Die Verfassungsdiskussion 1 9 8 4 Das Europäische Parlament als Akteur il D a s Repräsentantenh a u s entschied sich d a h i n g e g e n b e k a n n t l i c h f ü r die bis h e u t e praktizierte M e t h o d e . Ergänzungen in F o r m zusätzlicher Artikel vorzuschlagen.642 Schlicht ignoriert wurde dabei eine Empfehlung, zunächst beide K a m m e r n des Kongresses beschließen
S. 188. was freilich zu heftigen Kontroversen führte. Z u m einen wurde die G e f a h r einer subversiven D o m i n a n z von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so der Delegierte Gerry, siehe Farrand (1937). Bd. 1. S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der Kongress wohl als Erster ein A m e n d m e n t für notwendig erachten würde, eine Übertragung der ..Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte, dass lediglich Veränderungen, die die Machtposition der Staaten festigen würden, begründete Aussicht auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamiltons bei Farrand (1937). S. 558. Schließlich wurde der Vorschlag Madisons a n g e n o m m e n , der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kongresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten vorsah. 640 Vgl. Hollingsworth v. Virginia. 3 Dali. (3 U.S.) 378 (1798). Den Gouverneuren der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfalls gegen eine Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendments, das die außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies K. Loewenstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 41, 310 ff. f>il
Siehe Annais of Congress, Bd. 1 (1789). S. 4 3 3 ff. Gleichzeitig war bei den AntiFederalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, e n g mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwendige B e i f ü g u n g und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte, vgl. E. P. Smith. T h e Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. J a m e s o n . Essays in the Constitutional History of the United States in the Formative Period, 1 7 7 5 - 1 7 8 9 , 1889. S . 4 6 f f . Madison freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach d e r Ratifizierung und versicherte die anschließende A u f n a h m e einer Bill of Rights. Die ..amending articles" verteidigte er im übrigen als ein „neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion „equally against that extreme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 4 3 ) zu wachen, vgl. auch J.R. Vile. American Views of the Constitutional A m e n d i n ? Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 ff.. 49 f. M2
Vgl. Annais of Congress. Bd. I (1789). S. 717.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
231
zu lassen, ob A m e n d m e n t s überhaupt notwendig („necessary") seien, bevor detaillierte Vorschläge in Betracht g e z o g e n würden.64- D e r S u p r e m e C o u r t entschied s c h l i e ß l i c h i n d e n National Prohibition Cases, d a s s d i e z w e i
Kammern des
Kon-
gresses durch den Vorschlag eines A m e n d m e n t s konkludent die Notwendigkeit einer Revision z u m Ausdruck brächten.644
(2)
Das
Modell
„constitutional
Convention
"
-
Option
zur
Totalrevision?
Das zweite v e r f a s s u n g s m ä ß i g vorgesehene Modell, der „constitutional Convention" w u r d e bislang noch nicht erfolgreich b e m ü h t . Hierbei m ü s s e n zwei Drittel d e r G e s e t z g e b u n g s k ö r p e r s c h a f t e n aller Einzelstaaten die E i n b e r u f u n g eines Verfassungskonvents beschließen, d e r d a n n die Freiheit besäße, alle erdenklichen Ergänzungen sowie de facto Änderungen der Verfassung vorzunehmen. Selbst die A n n a h m e einer gänzlich neuen Verfassumg wäre im R a h m e n des Möglichen. Eine solche Totalrevision, w i e sie beispielsweise in der S c h w e i z e r V e r f a s s u n g vorgesehen ist"5, w u r d e in der Vergangenheit m e h r f a c h vorgeschlagen."" Die B u n d e s v e r f a s s u n g unterscheidet nicht ausdrücklich z w i s c h e n Teil- und G e s a m t ä n derungen der Verfassung, sondern spricht in Art. V lediglich von „ A m e n d m e n t s
M3
Ebenda S . 430.
644
Siehe National Prohibition Cases 253 U.S. 350. 3 8 6 (1920): „ T h e adoption by both Houses of Congress. each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an a m e n d m e n t to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary by all w h o voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not essential. None of the resolutions whereby prior a m e n d m e n t s were proposed contained such a declaration." Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Q u o r u m , wonach für das ..proposal" die Zweidrittelmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder ausreichend sein sollte, vom Supreme C o u r t festgestellt. 645
Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 kam in der Schweiz eine zweite große Totalrevision nach 1874 zur A b s t i m m u n g und wurde trotz niedriger Stimmbeteiligung (35.4%) deutlich a n g e n o m m e n . Die neue Verfassung trat am 1.1.2000 in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Schweizer Verfassung bieten etwa M. Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in: ders.. Staat und Recht, 1971. S. 2 1 9 ff.: L. Wildhaber, D a s Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: J ö R 26 (1977), S. 2 3 9 ff. ( z u m Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 1977) und B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenw ärtige Stand des Vorhabens, in: ZaörV 47 (1987), S. 699 ff. N u n m e h r R.J. Schweizer Die erneuerte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 2 6 3 ff. Den wichtigen Bezug schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, „Werkstatt Schweiz": Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders.. Europäische Rechtskultur (1994). Taschenb. 1997, S. 355 ff. her. 646
Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei R e f o r m i n g American Government. T h e Bicentennial Papers of the Constitutional System. 1985. Für eine genauere Beschreibung und nen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Constitution. Proposais from Reconstruction to the Present, 1991.
D. Robinson (Hrsg.), C o m m i t t e e on the Analyse der einzelAn Examination of
232
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
to this Constitution". Soweit die Verfassungsrechtslehre gleichwohl an diese Unterscheidung anknüpft, gehen die Meinungen darüber auseinander, welches Organ die Obliegenheit einer Totalrevision wahrzunehmen befugt ist. Nach einer entstehungszeitlich argumentierenden Richtung ist der Kongress ausschließlich ermächtigt. Teiländerungen der Verfassung vorzuschlagen, während das Unternehmen einer Totalrevision von dem als Pouvoir constituant eingesetzten Verfassungskonvent durchzuführen ist. 647 Im Unterschied dazu lehnt eine verbreitete, das „geltungszeitliche" Auslegungselement betonende Auffassung solche organspezifischen Kompetenzzuweisungen ab und räumt Kongress und Verfassungskonvent gleichermaßen die Befugnis zur Vornahme von Total- und Teilrevision ein. Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist diese Methode mit etlichen rechtlichen Fragen behaftet. 6 4 8 Wann und wie ist ein Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforderlichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment erstreben oder lediglich eine ähnliche Angelegenheit betreffen? Kommt es bei dem notwendigen Quorum auf ein gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden? 64 '' Kann ein Konvent nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüberschaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem „constitutional Convention" anhaftet. 6 5 0 In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben wenige Themenkreise eine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus wie die Möglichkeit der Einberufung eines weiteren Verfassungskonvents, sei es um das Dokument von 1787 einer Totalrevision zu unterziehen oder sei es „nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents-Alternative scheiterte einige 647
Vgl. zu diesem Streit mit einer Darstellung der unterschiedlichen Positionen W.S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956. S . 2 1 8 : D.P.Lacyl P.L. Martin. A m e n d i n g the Constitution: the Bottleneck in the Judiciary Comniittees, in: 9 Harvard Journal on Legislation ( 1 9 7 1 / 7 2 ) . S. 6 6 6 ff.. 671 f.; W.A. Platz. Article V of the Federal Constitution, in: 3 T h e George Washington L. Rev. (1934), S. 17 ff., 24 f. f>:8
Eine umfängliche Studie d e r „Convention m e t h o d " gibt C. BrickfieUl. Problems Relating to a Federal Constitutional Convention. 85th Congress, Ist sess., 1957. Siehe auch R. Caplan. Constitutional Brinksmanship. A m e n d i n g the Constitution by National Convention, 1988. ,vi y ' Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf bleiben kann oder soll, ehe er als überholt gelten kann. vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 I . 650
Eine gründliche Analyse der einzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten Lösungsansätzen geben Brickfield (1957) und Caplan (1988). Siehe auch Federal Constitutional Convention. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on Separation of Powers. 90th Congress. Ist sess. (1967); W. Edel. A Constitutional Convention: Threat or Challenge?, 1981: American Bar. Association (Hrsg.), A m e n d m e n t of the Constitution by the Convention Method under Article V, 1974.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
233
Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents, nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte. 651 In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezirke („reapportionment decisions") zu initiieren. 652 Zwei Staaten fehlten zu einer erfolgreichen Petition für eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten 6 5 3 sowie für ein ..balanced budget amendment" 6 5 4 . Während in der amerikanischen Verfassungslehre einige die Auffassung vertreten, zahlreiche Sicherungshebel würden einen Konvent als risikolose politische Option erscheinen lassen 655 , setzen andere in zuweilen dramatischen Worten eher warnende Akzente 6 5 6 . Letztere verweisen unter anderem auf den Umstand, dass bislang nicht einmal ein Gesetz zur Regelung eines solchen Konvents verabschiedet wurde. 657 Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Konvent dominiert. Z u m einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum
651
Dazu Brickfiekl (1957). S. 7, 89.
652
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark (1986). S. 66 f.; Caplan (1988). S. 73 ff. 653
Vgl. Brickfield (1957), S. 8 f.. 89.
654
Gründliche Diskussionen zu diesem ..proposal" finden sich in: W. M o o r e / R . Penner.
The Constitution and the Budget. 1980; American Enterprise Institute. Proposais for a Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch W.T. Barker. A Status Report on the .Balanced B u d g e t ' Constitutional Convention, in: 20 T h e J. Marshall L. Rev. (1986). S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen f ü r diesen Konvent für rechtsunwirksam hält. 655 Siehe nur Caplan (1988): P. Weber. T h e Constitutional Convention: A Safe Political Option, in: 3 T h e J. of L a w & Politics (1986), S . 5 1 ff.. J.T.Noonan, T h e Convention Method of Constitutional A m e n d m e n t - Its Meaning. Usefulness and W i s d o m . in: 10 Pac. L.J. (1979). S. 641 ff. 656
Vgl. etwa L. Kean. A constitutional Convention Would Threaten Rights We Have Cherished for 200 Years. in: 4 Det.Col. of L. Rev. (1986), S. 1087 ff.; A. Sorenson. T h e Quiet C a m p a i g n to Rewrite the Constitution, in: Sat. Rev. vom 15. Juli 1967, S. 17 ff.; G. Gunther. Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer. Bar A s s o c . J . (1979). S. 1046 ff. 657
Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin. den Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit d e m Vorsatz, den wissenschaftlichen Spekulationen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten, vgl. S. Ervin, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of A m e n d i n g the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 8 7 5 ff.; siehe auch ders., Proposed Legislation on the Convention Method of A m e n d i n g the United States Constitution, in: 85 Harvard L. Rev. (1977), S. 1612 ff.
234
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontrolle entweder der Kongress oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund. Die Option einer „limited constitutional Convention" untersuchte insbesondere W. Dellinger, um schließlich festzustellen, dass eine inhaltliche Begrenzung des Konvents abzulehnen und jede gliedstaatliche Petition, die auf eine solche Begrenzung abzielte demnach unwirksam sei. 658 Diese Position gründet auf der Überzeugung, dem Kongress ebensowenig ein exklusives Vorschlagsrecht für Amendments zu gewähren wie den Legislaturen der Einzelstaaten einzuräumen, Amendments, die die gliedstaatlichen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren. 65 ' Würde nun einem von beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsichtlich einer Kontrollkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents. Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begrenzung erfährt. 6 6 0 Die einzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen würden nach Artikel V zumindest „ungefähre" Parallelen zu den dort genannten Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei, „housekeeping rules" 661 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent viele seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerichten allgemeine Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der Begrenzungsoption. Allerdings unter diametralen Prämissen. Während Dellinger das gesamte Amendment-Verfahren als eine „series of formalities" beziehungsweise ein „set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy objectives" 662 einschätzt, stellt Rees den Gedanken des „contemporary consensus"
658
Siehe W. Dellinger, T h e Recurring Question of the .Limited* Constitutional C o n vention. in: 88 Yale L. Rev. (1979). S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichtweise offenbart auch C.L. Black. Amending the Constitution: A Letter to a C o n g r e s s m a n . in: 82 Yale L.J. (1972), S. 189 ff. Eine Begrenzung des Verfassungskonvents auf lediglich ..stückweise Ä n d e r u n g e n " („piecemeal changes") schlägt A. Diamond. A Convention for Proposing A m e n d ments. T h e Constitution*s Other Method, in: 11 P U B L I U S (1981), S. 1113 ff. vor. Dagegen J.R. Vile. Ann D i a m o n d on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 P U B L I U S (1989), S. 177 ff. sowie ders.. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991). S . 4 4 f f „ 65. 659
Dellinger (1979), S. 1630.
660
Vgl. G. Rees. T h e A m e n d m e n t Process and Limited Constitutional Conventions, in: 2 Benchmark (1986). S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht als B e f ü r w o r t e r eines erneuten Verfassungskonvents sieht, vgl. ebenda. S. 80. so widerspricht er doch Dellinger insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von allen Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben. 661 662
Ebenda S. 86.
Siehe W. Dellinger. T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n ding Process. in. 97 Harvard L. Rev. (1983). S. 386 ff., 4 1 8 . 432.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
235
in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich befürwortet. Für Dellinger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der formellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen, da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Auslegung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist. 663 (3)
Versuche zur Begrenzung von „amending power"
Obgleich die beiden vorgesehenen Methoden der Verfassungsergänzung einer weitreichenden, bundesweiten Einbeziehung der Regionen und Einzelstaaten bedürfen. um die erforderlichen qualifizierten Mehrheiten zu erlangen, mangelte es in der Vergangenheit nicht an Versuchen, die vorgebenen Barrieren noch zu verschärfen. Bereits dem Verfassungskonvent von 1787 wurde der letztlich gescheiterte Vorschlag unterbreitet, Art. V um die Klausel ,.no State shall without its consent be affected in its internal policy" zu ergänzen. 6 " Ein weiterer Anlauf, die „amending power" einer verstärkten Begrenzung auszusetzen wurde 1861 unternommen, als der Kongress den Staaten nahelegte, alle zukünftigen Amendments zu blockieren, die den Kongress autorisieren würden, „to interfere, within any State, with the domestic institutions thereof f...]" 6 6 5 . Nachdem bereits drei Staaten einen diesbezüglichen Entwurf ratifiziert hatten, beendete der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs vorzeitig den Fortgang dieses Vorhabens. 666 Wenig später versuchten einige Kongressmitglieder vergeblich die Verabschiedung des 13. Amendments (Verbot der Sklaverei) zu verhindern, indem sie d a r a u f h i n w i e sen. dass der „amending process" nicht für eine derart große Veränderung innerer Angelegenheiten der Einzelstaaten missbraucht werden dürfte. 6 6 7 Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigkeit des 18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh663 Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe sogleich), die Dellinger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen bewältigt, vgl. ders. (1983), S . 4 1 9 f f . Kritisch allerdings LH. Tribe. A Constitution We Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 4 3 3 ff. Siehe auch J.R. Vile. Judicial Review of the A m e n d i n g Process: the DellingerTribe Debate. in: 3 J. of Law & Politics (1986), S. 21 ff. 664 Vgl. M. Farrand. T h e Records of the Federal Convention of 1787. Bd. 1, Revised Edition 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S . 6 3 0 . 665
Siehe 57 Cong. G l o b e 1 2 6 3 ( 1 8 6 1 ) .
666
Dazu ausführlich H. Arnes, T h e Proposed A m e n d m e n t s to the Constitution of the United States Düring the First Century of Its History. H. Doc. 353, pt. 2. 54th Congress, 2d sess., 1897. S. 363. 667
Vgl. 6 6 Cong. G l o b e 921, 1 4 2 4 - 1 4 2 5 , 1 4 4 4 - 1 4 4 7 , 1 4 8 3 - 1 4 8 8 ( 1 8 6 4 ) .
236
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwendungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Verfassungsversion sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätzlicher oder ergänzender Vorschriften von Art. V der Verfassung umfasst sei. 668 Zudem habe der Kongress keine verfassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder deren Verzicht darauf berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht, einem Gliedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf „equal suffrage" im Senat vorenthalten/'" Die Berücksichtigung „überpositiver" Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem amerikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller Einwände letztlich aufrechterhalten. 6 7 "
(4)
Rcitifikationserfordernisse und Problemlagen das Kuriosum 27. Amendment
-
Die Ratifikation 671 erfordert laut Art. V S. 1 der Verfassung bei beiden Initiativ-Modellen eine Mehrheit von drei Vierteln der einzelstaatlichen Legislaturen. Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die gesetzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten einzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben. 672 Zur großen Überraschung der amerikanischen Bevölkerung wurde 1992 das bereits erwähnte 27. Amendment ratifiziert. 203 Jahre nach seinem „proposal". Dies warf freilich die Frage nach der erlaubten zeitlichen Anhängigkeit eines Amendments auf. Grundsätzlich wurde dem Kongress das Recht zugestanden, mit dem „amendment-proposal" ein angemessenes („reasonable") Zeitlimit zu verbinden. 6 7 1 Seit dem 18. und mit der Ausnahme des 19. Amendments hatte der Kongress allen Ergänzungsvorschlägen eine Formulierung beigefügt, wonach das 668 669 670
Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920). Vgl. Leser v. Garnett. 258 U. S. 130 (1922). Vgl. National Prohibition Cases und Leser v. Garnett, ebenda
61
Zur Ratifikation der G r ü n d u n g s v e r f a s s u n g und der Bill of Rights C.R.Smith. To Form a More Perfect Union. T h e Ratification of the Constitution and the Bill of Rights. 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993. 672 Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässlich des 21. A m e n d m e n t s ( A u f h e b e n der Prohibition) bemüht, da man sich hiervon eine raschere Umsetzung versprach. 671
In B l a c k ' s Law Dictionary wird „reasonable t i m e " definiert als „such length of time as may fairly, properly, and reasonably be allowed or required, having regard to the nature of the act or duty. or of the subject-matter. and to the attending circumstances",
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
237
jeweilige Amendment nach einer Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei „proposals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 18I0beziehungswei.se 1861 vorgelegt wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht ratifiziert. In seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staaten 1924 vorgelegte „child labor amendment" 13 Jahre später ratifiziert werden könnte. 67,1 Dies sei eine „political question" 6 7 5 , die der Kongress zu lösen habe, wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht in Betracht. 676 Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongresses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen zu setzen. 677 Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne „proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürften. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Beschränkungen. so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass ein funktionierender „amending process" als solcher das gewichtigste Argument gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere. 67 * Drei logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme Court untermauern: ..First, proposal and ratification are not treated as unrelated acts but as succeeding steps in a Single endeavor. the natural inference being that they are not to be widely separated in time. Secondly. it is only when there is d e e m e d to be a necessity therefor that a m e n d m e n t s are to be proposed. the reasonable implication being that when proposed
vgl. H.C.Black. B l a c k ' s Law Dictionary. 6 , h edition 1990. S. 1483 (vgl. auch die achte Neuauflage von B.A. Garner (ed.). 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat der S u p r e m e C o u r t in Twin Lick Oil Co. v.Marbury, 91 U . S . 5 8 7 . 591, 23 L . E d . 3 2 8 hergestellt, indem er feststellte: .Jiow long a .reasonable t i m e ' ought to be is not defined in law, but is left to the discretion of the j u d g e s . " 674
Coleman v. Miller 307 U.S. 433 (1939).
675
Hierzu kursorisch unter B . I V . 2 . b ) c c ) ( 2 ) .
676
In Coleman v. Miller, e b e n d a , wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation für zulässig mit der etwas seltsam a n m u t e n d e n Begründung, dass damit eine S t i m m e mehr für das Z u s t a n d e k o m m e n der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es aber einem Staat, der ein ..proposal" bereits a n g e n o m m e n hat. nicht ermöglicht, diesen wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 2 . 677
Dillon v. Gloss 256 U. S. 368 (1921).
678
Ebenda 374.
238
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
they are to be considered and disposed of presently. Thindly, as ratification is but the expression of the approbation of the people and is to be effective when had in three-fourths of the States, there is a fair implication that that it must be sufftciently contemporaneous in that n u m b e r of States to reflect the will of the people in all sections at relatively the same period. which of course ratification scattered through a long series of years would not do." 6TO
Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als sie entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwebender „proposals" mit sich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden „are still pending and in a Situation where their ratification is some of the States many years since by representatives of generations now largely forgotten may be effectively supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of the present or some future generation. To that view few would be able to subscribe, and in our opinion it is quite untenable." 6 8 0 Was also dem Supreme Court 1921 ohne Gegenstimme untragbar („untenable") erschien, erwies sich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar. Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirklichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von einer „reasonable time period" die Rede sein konnte, war heftig umstritten. 6 * 1 Das Office of Legal Counsel des Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die wesentlichen Bezüge zur D/7/ö/i-Entscheidung des Supreme Courts herstellte. 682 Dabei wurden die drei oben genannten „considerations" des Gerichtshofs als nicht überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schritte in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument, ein Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat
679
Ebenda 374 f.
680
Ebenda.
f>sl
So schrieb beispielsweise LH. Tribe. T h e 27th A m e n d m e n t Joins the Constitution, in: Wall Street Journal. 13. Mai 1992. S. A I 5 : ..Article V says an a m e n d m e n t .shall be valid to all Intents and Purposes. as part of this Constitution' when .ratified' by three-fourths of the states - not that it might face a veto for tardiness. Despite the Supreme C o u r t ' s suggestion. no speedy ratification rule may be extracted f r o m Article V ' s text, strueture or history." 682
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
239
eines Konsenses sein sollte, nirgends auf eine Zeitgleichheit der Übereinstimmung hin. 683 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die einzig angebrachte Form der Auslegung von Art. V sei „ to provide a clear rule that is capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be disfavored." 684 Dieser Ansicht ist unter Berufung auf eine enge Wortlautauslegung der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artikel V enthält keinerlei Hinweis auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl Fristsetzungen aufweist. 685 Die Verabschiedung des 27. Amendments wirft indessen die Frage auf, ob einem Amendmentvorschlag eine „Ewigkeitsgarantie" innewohne. 686 Dies kann jedoch höchstens für „proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist - mit Ausnahme von Regelungen, die an eine Bedingung oder Frist gebundenen sind - den meisten Verfassungsvorschriften der Wille der jeweiligen „Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibilität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten. 687
683
Ebenda. S. 111 f.
684
Ebenda. S. 113.
685
Vgl. etwa Art. I §7 par. 2; Art. II § I par. 3 („immediately"); Art. II § 2 par. 3.
6S6 Ygl. dazu Congressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 S u p p l e m e n t : Cases Decided to June 26. 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S . 9 0 4 . 6S7
Es würde auch zu weit führen, das Z u s t a n d e k o m m e n des 27. A m e n d m e n t gleichzeitig einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Z u s a m m e n h ä n g e n gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetzter Umsetzungsfristen zu nennen - sei es mittels des Textes selbst o d e r a u f g r u n d der den Vorschlag begleitenden Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung des Kongresses während des A m e n d m e n t - V e r f a h r e n s legt eine solche Sichtweise nahe. Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzuziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf, verwickelte schließlich angesichts des vorgeschlagenen ..Equal Rights A m e n d m e n t " sowohl Kongress als auch die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. B e f ü r w o r t e r und G e g n e r dieser ausschießlichen B e f u g n i s des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ..political question doctrine", um ihren Standpunkt zu untermauern, vgl. nur: Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th C o n g r e s s , 2d sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) .
240
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Kontext des Ratifikationsverfahrens stellte sich wiederkehrend die Frage, ob ein Staat, der bereits ratifiziert hat. diesen Schritt wieder mit der Folge rückgängig machen kann, dass der Kongress diesen Staat nicht der erforderlichen Mehrheit zurechnen darf. Insgesamt legt die bisherige Praxis den Schluss der Unwirksamkeit eines solchen Vorgehens einzelner Staaten nahe. Andeutungen des Supreme Court in Coleman v. Miller688 und die Maßnahmen des Kongresses bei der Ratifikation des 14. Amendments 6 8 9 stützen diese Einschätzung. Ebenso könnte insoweit von einer ausschließlichen Kompetenz des Kongresses ausgegangen werden. Es handelt sich letzlich um eine „political question", die, wenn überhaupt, lediglich einer eingeschränkten Justiziabilität zugänglich ist. Eine andere Ansicht in dieser Angelegenheit vertrat das Office of Legal Counsel des Justizdepartments erneut im Verfahren des 27. Amendments. Die Coleman-Entscheidung wurde als nicht bindend, das Vorgehen des Kongresses bezüglich des 14. Amendments als „aberration" bezeichnet. 6 '" Als Begründung wurde unter anderem vorgebracht, der Kongress werde durch Artikel V der Verfassung nur zum Vorschlag eines Amendments und zu Empfehlungen bezüglich der „Mode of Ratification" ermächtigt. Zudem sei eine derartige Ausdehnung der Befugnisse des Kongresses schwer mit d e m G r u n d g e d a n k e n der „Separation of p o w e r s " und des Föderalismus zu vereinbaren. 691 Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten 688
307 U.S. 4 3 3 . 4 4 8 . (1939): „Thus, the political departments of the Government dealt with the effect of previous rejection and of attempted withdrawal and determined that both were ineffectual in the presence of an actual ratification." 689
Nach den Widerrufen der Ratifikation des 14. A m e n d m e n t s seitens der Staaten Ohio und N e w Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierungen - dreier Staaten (Georgia. North Carolina. South Carolina), die im Vorfeld bereits die Ratifikation versagt hatten, entbrannte ein Streit sowohl über die Wirksamkeit der W i d e r r u f e als auch der Gültigkeit einer Ratifikation nach bereits erfolgter Zurückweisung. Der Kongress selbst stellte schließlich die Wirksamkeit der Ratifikation fest, indem er die W i d e r r u f e O h i o s und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fragen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen „Equal Rights A m e n d m e n t " , siehe Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress, l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Allerdings konnte angesichts des gescheiterten ..amendment-proposal" keine Klärung der Angelegenheit erzielt werden, vgl. dazu insgesamt ausführlich Congtressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the S u p r e m e Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26. 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 , S. 905. Siehe auch E.S. Corwin!M. L Ramsey, T h e Constitutional Law of Constitutional A m e n d m e n t , in: 27 Notre D a m e Lawyer (1951), S. 185 ff.. 201 ff. 690
Vgl. 16 Ops. of the O f f i c e of Legal Counsel (1992), S. 102 ff.. 125.
691
Ebenda. S. 121 ff. mit weiteren A r g u m e n t e n .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
241
nicht unter dem Diktat des Prinzips der „stare decisis" 692 handeln muss. Entscheidungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der Kammern. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung von Fragen, die letztlich einer Verfassungsinterpretation bedürfen, aber gleichzeitig „political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den „politischen Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Verfassung gebunden 6 9 3 , welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustandekommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen, dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis die Maßnahme „politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten der Gerichte beschneidet. 6 9 4 Auch wenn die Entscheidungen Dillon v. Gloss™5 und Coleman v. Miller696 nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag. so lässt sich doch auf einige grundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen. Die Einlassungen des Gerichts, wie lange ein Amendment-Vorschlag „reasonably" schweben dürfe bevor er unwirksam würde, sind auch auf die Frage einer späteren Ratifikationsrücknahme übertragbar. Dazu zählen insbesondere die oben genannten drei Schritte der Begründung, die der Supreme Court in Dillon v. Gloss angestellt hatte. Indes muss eine Bezugnahme auf diese Entscheidung nicht bedeuten, dass der Kongress einen Widerruf der Ratifikation nicht auch - stillschweigend - hinnehmen könnte, wenn er etwa zu der Einsicht gelangte, der Widerruf würde nicht die erforderliche „contemporaneous expression
692
Eingehender zu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nachweisen M. Leder. Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998 sowie G. Seyfarth. Die Ä n d e r u n g der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998. insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Oliphanr, A Return to Stare Decisis. in: American Bar Ass. Journal 1928, S . 7 1 ff.; R. Laim. Stare Decisis. T h e Fundamentals and the Significance of Anglo-Saxon Case Law. 1947. 693
Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung.
694
Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v. Miller, 307 U.S. 433, 4 5 0 ff. (1939), der „no basis in either Constitution or Statute" fand, der Gerichtsbarkeit entsprechende Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. „Article V. speaking solely of ratification. contains no Provision as to rejection." Hinsichtlich einer etwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme Courts befand Hughes: „Where are to be found the criteria for such a judicial determination? None are to be found in Constitution or Statute", vgl. ebenda 4 5 3 f. Siehe insgesamt zur Fragestellung, inwieweit es sich hierbei um eine „political question" handelt L Henkin, Is There a .Political Q u e s t i o n ' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976), S. 597 ff. 695
256 U.S. 368 (1921).
696
307 U.S. 4 3 3 (1939).
242
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
of the people's will" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress gerade die „Handlungshoheit" hinsichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation erhalten. 6 '' 7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung, Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität „todeal with subsidiary matters of detail as the public interest and changing conditions may require." 698 In Coleman v. Miller vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese „matters of detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach. 6 9 9 Ferner lässt Artikel V. dessen Wortlaut lediglich die „Ratifikation" und diesbezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass ein Staat nach dem Akt der Ratifikation keine weitere rechts wirksame Beurteilung mit der Folge der Rücknahme der Ratifikation des Amendments vornehmen kann. Das gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen, ein Gliedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn eine Annahme habe „in toto and for ever" zu erfolgen 7 0 0 lässt sich dagegen kaum auf die Frage einer späteren Rücknahme übertragen. (5)
Beendigung
des Amendment-Verfahrens
Das Amendment-Verfahren endete früher mit der offiziellen Unterrichtung des von dem Amendment betroffenen Ministers durch die einzelstaatliche Legisla697
Nach der G e g e n a u f f a s s u n g musste diese Kompetenz auf einen „executive official" (heute den sog. ..Archivist") übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit eines W i d e r r u f s der Ratifikation w i e d e r u m das Justizdepartment konsultieren könnte. Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des ..Archivist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer ..political question", über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. of the Office of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.. 116 ff. 698
Ebenda 375 f.
699
Coleman v. Miller 307 U.S. 433. 4 5 2 ff. (1939). Differenzierend in diesem Kontext das Sondervotum von Justice Black, ebenda 4 5 6 . 4 5 8 . der sowohl den Kongress als auch den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Z u s a m m e n h a n g von Artikel V lur berufen hält. Z u d e m forderte Black die Formulierung „reasonable t i m e " aus Dillon v. Gloss zu verwerfen. Hierauf wird u. a. in Congressional Research Center, Analysis and Interpretation. Annotations of C a s e s Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate D o c u m e n t No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26, 1998. Senate D o c u m e n t No. 1 0 6 - 8 . S. 908, Bezug g e n o m m e n . Im Wortlaut befand J. Madison. als in N e w York die Ratifizierung der Verfassung unter der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser A m e n d m e n t s diskutiert wurde: „ T h e Constitution requires an adoption in toto and for ever. It has been so adopted by the other States. An adoption for a limited time would be as defective as an adoption of some of the articles only. In short any condition whatever must viciate the ratification", zitiert nach: H. Syrett (Hrsg.). T h e Papers of Alexander Hamilton. Bd. 5. 1962, S. 184.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
243
turen. die bestätigten („authenticate"), dass sie das vorgeschlagene Amendment ordnungsgemäß ratifiziert hatten. So bindend dieses Amendment für den Minister war, so endgültig war dessen Bestätigung durch Verkündung („proclamation") für die Gerichte sowohl im Hinblick auf etwaige folgende Einwände als auch angesichts der vermuteten Richtigkeit des legislativen Ratifikationsverfahrens. 701 Diese ministerielle Aufgabe war sodann auf einen Funktionär, den sogenannten Administrator of General Services10' übertragen worden, bevor man zuletzt den Archivist of the United States für zuständig erklärte 703 . In der Entscheidung Dillon v. Gloss erklärte der Supreme Court, dass das 18. Amendment mit dem Zeitpunkt der Ratifikation des (damals für die erforderliche Mehrheit entscheidenden) 36. Staates in Kraft getreten sei und nicht erst mit dem Datum der Proklamation des Ministers. 704 Auf die deckungsgleiche heutige Verkündung durch den Archivist ist diese Regelung zweifellos entsprechend anwendbar. dd) Möglichkeit der Interpretation von Amendments Inwieweit Artikel V der Bundesverfassung tatsächlich richterlicher Auslegung zugänglich ist, gehört wie bereits mehrfach erwähnt zu den umstrittendsten Fragen im Kontext des Amendment-Verfahrens. Vor 1939 erklärte sich der Supreme Court (trotz der Erkenntnis von der Endgültigkeit einer Ratifikation nach der offiziellen Bekanntmachung durch die jeweiligen Gliedstaaten 705 ) bei einigen Einsprüchen gegen die Gültigkeit von Amendments zwar für zuständig, ließ jedoch alle Begehren an der Begründetheit scheitern. Die in vielerlei Hinsicht unbefriedigende Entscheidung Coleman v. Miller bedeutete schließlich einen Wendepunkt in der Haltung des Gerichtshofs, 7 0 6 der nicht weniger als vier unterschiedliche Meinungen in seinen Reihen vereinte, wovon keine von mehr als vier Richtern 701 Vgl. Act of April 20. 1818. See. 2, 3 Stat. 4 3 9 sowie Leser v. Garnett, 258 U.S. 130. 137(1922). 702
Siehe 65 Stat. 7 1 0 - 7 1 1 . See. 2: Reorg. Plan No. 20 of 1950. See. l ( c ) . 6 4 S t a t . 1272.
703
National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 2291, 1 U . S . C . See. 106b. 704 705
Dillon v. Gloss, 256 U.S. 368. 376 (1921). User v. Garnett. 258 U.S. 130 (1922).
706 Vgl. Coleman v. Miller, 307 U. S. 4 3 3 (1939). Streitpunkt war die erfolgte Bestätigung einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sieh aus dreierlei Gründen Angriffen ausgesetzt sah: zum einen sei das A m e n d m e n t („child labor a m e n d m e n t " ) bereits einmal zurückgewiesen worden: darüberhinaus sei für die Ratifikation ein „ u n r e a s o n a b l e " Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen: zum dritten seien die Kompetenzen des Vizegouverneurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine S t i m m e als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet w u r d e . Ausführlich zu dieser Entscheidung statt vieler H.H. Clark. C o l e m a n v. Miller: A m a j o r reduetion of the Jurisdiction of the Supreme C o u r t . 1942: R.F. Fairchild Cushman/B.S. Koukoutchos, C a s e s in Constitutional Law. 9. Aufi. 1999. Ch. 11. Siehe aber auch bereits Fairchild v. Hughes, 258 U.S. 126 (1922), als der S u p r e m e C o u r t konstatierte, eine private Person könne nicht vor
244
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
unterstützt wurde. D i e Mehrheit urteilte, dass die Kläger - Mitglieder des Senats von K a n s a s - j e d e n f a l l s ein ausreichendes Interesse geltend m a c h e n konnten, um die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu b e g r ü n d e n . Materiell ging es freilich wie o b e n bereits a n g e d e u t e t stets um d i e Frage, i n w i e w e i t es sich bei den strittigen P u n k t e n u m ..political q u e s t i o n s " h a n d e l e u n d , w e n n d i e s z u b e f ü r w o r t e n sei, o b diese überhaupt G e g e n s t a n d richterlicher Kontrolle sein dürften.707 Letzten E n d e s s t e h t Coleman v. Miller f ü r d i e E r k e n n t n i s , d a s s e i n i g e E n t s c h e i d u n g e n h i n s i c h t lich „ p r o p o s a l " u n d R a t i f i k a t i o n v o n A m e n d m e n t s a u s s c h l i e ß l i c h d e m K o n g r e s s v o r b e h a l t e n s i n d - sei e s a n g e s i c h t s d e s k l a r e n W o r t l a u t s d e r w e s e n t l i c h e n B e s t i m m u n g ( A r t . V ) o d e r sei e s a u f g r u n d f e h l e n d e r E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i e n s e i t e n s d e r Gerichte, um abschließend und angemessen über A m e n d m e n t s zu befinden. Der S u p r e m e C o u r t a k z e n t u i e r t e d i e s e n G e d a n k e n i n Baker v . Carrim, i n d e m e r s i c h e r n e u t - a u c h u n t e r B e z u g n a h m e a u f Coleman v. Miller - d e r . . p o l i t i c a l q u e s t i o n doctrine" annäherte: „ ( C o l e m a n ] held that the questions of how long a proposed a m e n d m e n t to the Federal Constitution remained open to ratification. and what effect a prior rejection had on a subsequent ratification, were committed tocongressional resolution and involved criteria of decision that necessarily escaped the judicial grasp."™' Beide g e n a n n t e n A s p e k t e h o b d e r Gerichtshof erneut als „political q u e s t i o n s " hervor.710 Eine Überzeugung, die in späteren Entscheidungen bestätigt werden sollte.7"
den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und A n n a h m e eines A m e n d m e n t s erstreiten. 707
Dazu neben den Sondervoten in Coleman v. Miller der bereits oben im Z u s a m m e n hang mit d e m Steit um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees. T h r o w i n g Away the Key: T h e Unconstitutionality of the Equal Rights A m e n d m e n t Extension, in: 58 Texas L. Rev." (1980). S. 8 7 5 ff.. 886 ff.: ders. C o m m e n t . Rescinding Ratification of Proposed Constitutional A m e n d m e n t s . A Question for the Court, in: 37 La. L. Rev. (1977). S. 896ff. der eine generelle Befugnis des Supreme Court zum J u d i c i a l review" befürwortet. Im Ergebnis ähnlich, j e d o c h mit klaren Einschränkungen auf lediglich „formale Fragen" W. Dellinger. T h e Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the A m e n d m e n t Process. in: 97 Harvard L.Rev. (1983), S. 3 8 6 f f . . 4 1 4 f f . Siehe weiterhin LH. Tribe. A Constitution We Are A m e n d i n g : In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 4 3 3 ff., 4 3 5 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu dieser T h e m a t i k findet sich auch in den ..Hearings" zur Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the Senate Judiciary S u b c o m m i t t e e on the Constitution. 95th Congress. 2d sess. (1978); Equal Rights A m e n d m e n t Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress. l s t / 2 d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Z u d e m befassten sich zwei gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu d e m Schluß einer zumindest eingeschränkten Justiziabilität zu k o m m e n . Dyerv. Blair. 390 F. Supp. 1291 ( D . C . N . D . III., 1975); Idaho v. Freeman. 529 F. Supp. 1107 ( D . C . D . Idaho, 1981). aufgehoben und „remanded to d i s m i s s " durch den Supreme Court. 4 5 9 U.S. 809 (1982). 708
Baker v. Carr. 369 U. S. 186. 2 1 4 (1962).
709
Ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
245
ee) Die generellen Wirkkräfte des Amendment-Verfahrens Auch nicht ratifizierte Vorschläge für eine Verfassungsänderung oder -ergänzung können eine Verfassungskultur prägen. Dieser Aspekt gerät allzu leicht in Vergessenheit. Dabei scheint sich zunächst eine unterschiedliche Betrachtungsweise aufzudrängen, je nachdem wie weit ein Amendment-Vorschlag im Verfahren fortgeschritten ist. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht derart pauschal bewertet werden, da auch (bereits im Kongress) gescheiterte „proposals" durchaus zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit geführt haben 7 2 und andere fast unbemerkt zuletzt sogar ratifiziert wurden 7 1 3 . Allein die Diskussion einer etwaigen Verfassungsergänzung - oder Verfassungsänderung außerhalb der Vereinigten Staaten - leistet mehr als lediglich einen Beitrag zur Fortentwicklung eines gewachsenen Verfassungsverständnisses; sie ist Ausdruck. Bestandteil und - insbesondere wenn sie öffentlich ausgetragen wird - Mittlerin einer lebendigen Verfassungskultur. Gleichzeitig werden unverzichtbare Fundamente für j e d e erfolgreiche Verfassunggebung errichtet. Das Ausschlußprinzip wird somit zwar an der Verfassung ausgerichtet, jedoch nicht an ihr vollzogen. Neben den 27 durch die erforderliche Dreiviertelmehrheit der Staaten ratifizierten Amendments wurden den Staaten sechs weitere Vorschläge zur Entscheidung vorgelegt, die jedoch nie ratifiziert wurden. 7 1 4 Von den zwölf vorgeschlagenen Amendment-Artikeln aus dem Jahre 1789 wurden die Artikel III bis XII rati7I
" E b e n d a 2 1 7 : „a textually d e m o n s t r a b l e constitutional c o m m i t m e n t of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable Standards for resolving it." 7.1
Siehe Powell v.McCormack, 395 U.S. 486 (1969); O'Brien v. Brown, 409 U.S. I
(1972); Gilligan v. Morgan,413 U.S. 1 (1973). Vgl. aber auch einschränkend Uhler v. AFL-
CIO. 468 U. S. 1310(1984) und das Sondervotum von Justice Powell in Goldwater v. Carter, 444 U.S. 996, 1001 (1979). 7.2
Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die ..Amendments Proposed in Congress by Senator John J. Crittenden. D e c e m b c r 18. 1860" bzw. ..Amendments Proposed by the Peace C o n f e r e n c e . February 8 - 2 7 . 1861" (im Wortlaut abgedruckt bei PL Ford, T h e Federalist. A c o m m e n t a r y on the Constitution of the United States by Alexander Hamilton. J a m e s M a d i s o n and John Jay edited with notes, illustrative d o c u m e n t s and a copious index by Paul Leicester Ford. 1898). 713
Die Ratifizierung des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. A m e n d m e n t überraschte selbst Kenner des amerikanischen Verfassungslebens: das über 200-jährige Verfahren trug unterdessen nicht wesentlich zur Prägung der amerikanischen Verfassungskultur bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ratifikation S. Slavin, (ed.), T h e Equal Rights A m e n d m e n t . T h e Politics and Process of Ratification of the 27th A m e n d m e n t to the U.S. Constitution. Vol. 2. 1982. 714
Da diese sechs ..proposals" bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu finden sind (vgl. aber G.Anastaplo, T h e Constitution of 1787. 1989. S . 2 9 8 f . ) . werden sie im Originaltext im A n h a n g abgebildet. Zu d e m prominenten, gescheiterten ..Equal Rights A m e n d m e n t " vgl. M. Berry, W h y E R A Failed: Politics. W o m e n ' s Rights, and the A m e n d i n g Process of the Constitution. 1986: J. Manbridge. Why we lost the E R A . 1986.
246
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
fiziert und gingen als die ersten zehn Amendments unter dem Begriff „Bill of Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment (1992). Obgleich die Option einer formalen Verfassungsergänzung mittels des Amendment-Prozesses nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde, tauchten doch in der amerikanischen Verfassungsgeschichte, wie an den obigen Beispielen illustriert, wiederkehrend Spannungen und heftige Kontroversen über Einzelheiten und Leitgedanken des Amendmentverfahrens auf. Einigen Problemstellungen ist allerdings eine gewisse Konstanz, auch in der unerbittlichen Haltung der konträr vertretenen Positionen nicht abzusprechen. Zu nennen ist etwa der Grundkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach einem formalen Verfahren nach Artikel V. das bereits T. Jefferson pointierte 715 , und dem Favorisieren einer Verfassungsanpassung durch eine starke Gerichtsbarkeit, was wiederum Äußerungen von Chief Justice J. Marshall1* und später W. Wilson717 oder C. Tiedeman7!K deutlich werden lassen. 719 Periodisch traten offen kundgetane Sorgen um die eigentliche Angemessenheit und die anti-demokratischen Wesenszüge des Amendment-Prozesses zutage. 720 Naturgemäß waren diese Bedenken stets am Ende langer Zeitspannen zu konsta7,5
So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P.L. Ford (ed.), The
Works of T h o m a s Jefferson. Vol. 6. 1904 - 5 , S. 3 ff. 716
Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als erstrebenswerte Alternative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Cahn. An A m e r i c a n Contribution. S u p r e m e Court and Supreme Law. 1954, S . 2 5 . Neben den A n m e r k u n g e n Marshalls zur Rechtfertigung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung Marbttry v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der Verfassung als „unwieldly and cumberous m a c h i n e r y " in Barron v. Baltimore, 7. Pet. 242. 150 (1833) bemerkenswert. 71 Siehe insbesondere W. Wilson, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), T h e Papers of Woodrow Wilson. Vol. 4. 1968. S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für eine Fortentwicklung der Verfassung prägnant hervorhebt. 718
C. Tiedeman. T h e Unwritten Constitution of the United States. 1890. S . 4 3 : ,,|the] flesh and blood of the Constitution [are found] in the decisions of the courts and acts of legislature. which are published and enacted in the enforcement of the w ritten Constitution." Das Werk kann als ..Klassiker" amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden. 19 Fundierte Einblicke in das Wechselspiel zwischen Artikel V und der Rolle der Gerichtsbarkeit gibt B. Acker man. T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984)". S. 1013 ff.: ders.. Transformative Appointments. in: 101 Harvard L. Rev. (1988), S. 1164 ff. 720
So beispielsweise in den Schriften von S.G. Fisher, der in ders.. T h e Trial of the Constitution. 1972 (Neudruck der Ausgabe von 1862), S. 55 die berühmt gewordenen rhetorischen Fragen stellte: „Why should they not be m a d e by Congress. if d c m a n d e d by necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified by the people, what is the difference, whether their consent be expressed by a Legislature or by a Convention which they have elected. or before or after the alteration be m a d e it
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
247
tieren - wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913 -, während derer keine Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingegen in Zeiten höchster Amendment-Kreativität 7 2 1 diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu vernehmen waren. 722 Die Rechtsfragen im Zusammenhang mit der formalen, gebundenen Verfassunggebung in den Vereinigten Staaten legen einige Grundsätze des amerikanischen Verfassungsverständnisses offen. Einerseits bestimmen Gerichtshof und Kongress letztlich das „Uhrwerk" der Verfassung. Zeit und Verfassung findet in ihrer inneren Bedingtheit eine Kontrolle. 723 Der Gerichtshof hat trotz der selbst auferlegten Zurückhaltung allein schon in der Begründung derselben gewichtige Argumente für gewisse zeitliche Regelungen und Fristen getroffen. 7 : 4 Weiterhin ist die unbestrittene Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der grundsätzlichen Option. Verfassungsergänzungen im Zuge eines formalen Verlahrens durchzuführen, eindrucksvolles Zeugnis ihres tief verwurzelten Engagements um einen funktionierenden „Konstitutionalismus". Dabei entspricht es einer verbreiteten Ansicht, tiefgreifende Regierungsprobleme seien gegebenenfalls durch eine Revision der Verfassung zu lösen. 725 Derlei Bestrebungen stehen in einem steten Spannungsfeld zu den ebenso „geistreichen" Empfehlungen „moderner Madisons", die einen Verschleiß des Amendment-Instruments befürchten und daher gewisse verfassungsrechtliche Fragen ohne Rückgriff auf die Verfassung lösen
would still be the wishes of the same people carried into effect. If the people should be dissatisfied, they can say so through another Congress. If they continue to be satisfied after the alteration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on the Constitution, as is the case in England." Weiter bekräftigte Fisher, „ | t | h e Constitution belongs to the people of 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert: „|i]t must and will be modified to suit the wishes of the former. by their representatives in Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament". vgl. ebenda. S . 9 6 f . Ähnlich später H. Croly, Progressive Dcmocracy. 1909. S. 130. der Artikel V als ..the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulfilment" zu portraitieren wußte. 721
Eine Darstellung auffälliger ..amendment Clusters" bietet A. Grimes, D e m o c r a c y and the A m e n d m e n t s to the Constitution. 1978. S. 157 f. 722
Bei J.R. Vile. A m e r i c a n Views of the Constitutional A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V, in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . . 67 f. findet sich eine historische Zusammenstellung aller Bedenkenträger. die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V der ..Büchse der P a n d o r a " gleichstellen. 723 Grundsätzlich zu ..Zeit und Verfassung": P. Hüberle, Zeit und Verfassung, in: Z I P 21 (1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: R. D r e i e r / F . S c h w e g m a n n (Hrsg.). Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976. S. 293 ff. Siehe auch ders., Zeit und Verfassungskultur, in: A. P e i s l / A . Möhler (Hrsg.), Die Zeit. 1983. S. 289 ff. 724
Vgl. erneut die Entscheidungen Dillon v.Gloss, 256 U . S . 3 6 8 , 376 (1921) und
Coleman v. Miller, 307 U.S. 433 (1939). 725
Wobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den Ansatz von R. G. Tugwell, T h e Emerging Constitution. 1974.
248
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
wollen. 726 Letztlich ist es aber auch gerade den „stabilen" Gegensätzlichkeiten innerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt blieb. Die amerikanische Bundesverfassung entspringt einer emotional aufgeladen Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts und sie lebt in der Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konflikte allein im AmendmentVerfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag. Trotz fundamentaler Umwälzungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte im gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und politischen Umfeld 27 erscheint das parallele „Wachstum" der amerikanischen Verfassung um zehn plus siebzehn Amendments nur auf den ersten Blick dürr. Die beispielhafte Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Verfassung hat neben der Möglichkeit der formalen Verfassungsergänzung also weitere Gründe. Die wesentlichen Veränderungen - und eben nicht lediglich Ergänzungen - sind demzufolge auch auf anderen Wegen als dem der gebundenen Verfassunggebung durchgesetzt worden. Die Geschichte der amerikanischen Revisionspraxis zeichnet sich insgesamt und in föderativer Hinsicht durch zwei Merkmale aus: Formell wie gesehen dadurch, dass bislang alle Verfassungsergänzungen auf Vorlagen des Kongresses beruhten, die Gliedstaaten ihr Recht auf Einberufung eines Verfassungskonvents somit noch nie durchgesetzt haben, und materiell schließlich dadurch, dass die im 20. Jahrhundert gewachsenen Kompetenzverlagerungen auf den Bund weniger eine Folge förmlicher Anpassungen des Verfassungstextes, sondern vielmehr Ergebnis richterlicher Verfassungsinterpretation sind. 72 " b)
Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs(Vertragsänderung
Aus der verfassungshistorischen Betrachtung der heutigen Europäischen Union ergaben sich bereits unterschiedliche Entwicklungsschritte, die verfassungsschöpfenden wie verfassungsändernden Charakter hatten. Es drängt sich daher auch 72l> Vgl. dazu auch kritisch m . w . N J.R. Vile. American Views of the Constitutional A m e n d i n g Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 A J L H (1991), S . 4 4 f f . , 61 ff. 27
Einen Einblick in den A m e n d m c n t - P r o z e s s und dessen Konnexität zur amerikanischen politischen Realität gewährt R. Bernstein. A m e n d i n g A m e r i c a . 1993. 28
Es ist d a h e r durchaus schlüssig, dass die unter bundesstaatlicher Sichtweise besonders wichtigen A m e n d m e n t s allesamt noch vor den sogenannten „New D e a l " - R e f o r m e n a n g e n o m m e n wurden: so die „Bill of Rights", die Abschaffung der Sklaverei (13. Amendment), das Recht auf „ d u e process" (14. A m e n d m e n t ) , die E i n f ü h r u n g einer Bundeseinkommenssteuer (16. A m e n d m e n t ) und die Volkswahl der Senatoren (17. A m e n d m e n t ) , vgl. auch mit Betonung der gliedstaatlichen Aspekte J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. S . 2 2 0 mit F n . 4 .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
249
ein Blick auf die „gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte umfassen soll. aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterscheidung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völkerrechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten, auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen Einschränkungen unterliegt. Jedoch erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 4 0 1 WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt. Im Übrigen: jede Vertragsänderung bewirkt zugleich eine materielle Verfassungsänderung auf nationaler Ebene, ohne dass der Text etwa des Grundgesetzes (GG) geändert würde: Art.23 Abs. 1 GG verweist konsequent auf Art.79 Abs. 2 und 3, nicht aber auf Absatz 1, in dem für jede Grundgesetzänderung eine ausdrückliche Änderung des Textes vorgeschrieben wird. 729 In der Supranationalen Union bestimmt sich bereits der Verfassunggeber anders als im Staat und die Institution der Verfassung ist zunächst nicht auf einen bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber im weiten Sinne ist, wem es gelingt. Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffenen Herrschaftsverbandes mit der Autorität einer Verfassung im normativen Sinne durchsetzen. Im Staat soll das beispielsweise das Volk, es kann aber auch grundsätzlich ein anderer Machtträger sein. Nach T. Schmitz, ist in der Supranationalen Union hingegen die verfassunggebende Gewalt bei den Mitgliedstaaten fixiert, denn die Verfassung könne als die höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag) 7:9
Vgl. auch I. Pernice. Grundlagenpapier. Die Europäische Verfassung, 16. SinclairHaus-Gespräch. 1 1 . / 1 2 . Mai 2001. Wenn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Europäischen Union als G e s a m t ä n d e r u n g der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu T. Oldinger. Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union. 1999). verdeutlicht dies, in welchem M a ß e allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im Verfassungstext zum Ausdruck k o m m e n muss.
250
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem Völkerrecht den Staaten vorbehalten. 7 '" Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme, welche die Verfassungsnormen entstehen lässt. ausschließlich ihnen zuzurechnen. Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokratischen Verfassungstheorie in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach dieser Darstellung nicht geben. Dieser Ansatz bedarf allerdings einer wichtigen Ergänzung: Eine Ausblendung bzw. Nicht- Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung ist damit keineswegs verbunden. Im Lichte der demokratischen Verfassungstheorie muss die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfassung wenigstens weitmöglichst angenähert werden. Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre kommt es zudem auf eine entsprechend weit gehende Integrationskraft der Unionsverfassung an, um die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits beeinträchtigten Integrationsfunktion effektiv zu ergänzen. Beides würde freilich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen, bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und Integrationskraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wäre. Einen dieser Schritte könnte neben einem öffentlich hinreichend begleiteten Konvent ein „duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Unionsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden. 731 Sie würden dabei als Angehörige zweier „Völker" im demokratietheoretischen Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines „Unionsvolkes", das zwar kein Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine politische Gemeinschaft von Menschen wenigstens für seinen Herrschaftsverband demokratische Legitimation vermitteln kann.
730
So T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organisationsmodell einer prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und staatstheoretischen Implikationen. 2001, S. 4 3 2 ff. 731
T. Schmitz (2001), S. 4 4 0 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem ..Doppelr e f e r e n d u m " und schlägt weitere ..Schritte" w i e etwa eine ..vorbereitende Verfassungsv e r s a m m l u n g " deren notwendige Unterstützung „durch eine breite öffentliche Diskussion durch flankierende M a ß n a h m e n zur Förderung einer unionsweiten öffentlichen Verfass u n g s d i s k u s s i o n " gesichert würde. Solche Schritte ließen es z u d e m „sinnvoll erscheinen, zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen".
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
251
bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts Die europäische Rechtsetzung ist das Spiegelbild der institutionellen Ordnung der Europäischen Union. Die Organisationsstruktur der Union kann (noch) nicht als in sich geschlossenes institutionelles System verstanden werden. Das Bild einer supranationalen Gemeinschaftsebene, die der nationalen Ebene übergeordnet ist und auf diese durch ein-seitige Hoheitsakte einwirkt, blendet die in nicht unwesentlichen Teilbereichen weiterhin dominierende nationale Ebene aus und ist eher zu ersetzen durch das Bild eines interdependent-kooperativen Systems. Europäische Rechtsetzung wird durch die Kooperation der Mitgliedstaaten mit den Organen der Europäischen Union geprägt. Diese Zusammenarbeit bestimmt alle Phasen des umfassend zu verstehenden Normgebungsprozesses: Neben der vorlegislatorischen Politikformulierung sowie der Umsetzungs- bzw. Anwendungskontrolle im nachlegislatorischen Stadium bestimmt sie vor allem die Entscheidungsfindung in der legislatorischen Phase und die Normpräzisierung im Rahmen der Komitologie („tertiäre Rechtsetzung"). Damit wird nicht nur das Primärrecht, sondern auch das Sekundärrecht durch die Regierungen der Mitgliedstaaten geprägt. Die überstaatliche Kooperation entspricht den Erfordernissen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der Europäischen Union. Die ursprünglichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Durchsetzung der Gemeinschaftsziele waren vorrangig auf eine Beseitigung der Behinderungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes gerichtet. Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstands werden weitere Integrationsfortschritte vor allem durch eine aktive Ausweitung gemeinschaftlicher Politikbereiche erreicht. Auf diesen Tätigkeitsfeldern gibt es entsprechend und mittlerweile fast traditionell stärkere Beharrungstendenzen der Mitgliedstaaten. Mit einer schrittweisen Reduzierung der Legislativfunktion der Kommission nimmt das Gemeinschaftssystem Abschied von der ursprünglichen Konzeption einer spezifischen, auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses ausgerichteten Funktionenteilung zwischen Parlament. Rat und Kommission und entwickelt sich zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung mit einem Zweikammersystem. Die Einbußen der Kommission verringern die Durchsetzungsmöglichkeit genuiner Gemeinschaftsinteressen und ermöglichen eine verstärkte Einflussnahme seitens der nationalen Exekutiven auf die Organe der Gemeinschaft. An die Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten die koordinierten nationalen Partikularinteressen. Eine Rückbesinnung auf die tradierte gemeinschaftsspezifische Funktionenteilung ist angesichts gefestigter Verfahrenspraktiken weder normativ noch faktisch gangbar. In Einklang mit der konstatierten Verfassungsentwicklung und -praxis steht nur eine Lösung, welche die Interpretation des Primärrechts auf der Grundlage der tatsächlichen Entwicklung fortschreibt. Das Gemeinschaftssystem ist durch weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Ausrichtung auf eine ebenenübergreifende Kooperation fortzuschreiben.
252
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Dieses Ergebnis entspricht dem dynamischen Charakter des Unionsrechts. Noch stärker als die nationalen Verfassungen sind die Verfahrensregeln der Europäischen Union ständigem Wandel unterworfen. Ihre Ausgestaltung wird durch die vertragsändernde und vertragsergänzende Verfassungsentwicklung im Zuge der Vertragsrevisionen sowie durch die verfassungsimmanenten Formen einer gestaltenden Fortbildung fortlaufend verändert. Die Entwicklung zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung wird begleitet von dem erkennbar zunehmenden politischen Druck seitens der Mitgliedstaaten, die europäischen Rechtsetzungsverfahren in Analogie zu den vertrauten Paradigmata nationaler Normgebungsverfahren auszugestalten. Gleichzeitig sind die Regierungen und die nationalen Interessenverbände bestrebt, die europäische Rechtsetzung intergouvernemental, also auf unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auszurichten. Trotz der durch zunehmende Kompetenzübertragung auf die Union herbeigeführten zentripetalen Entwicklung bleiben die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf europäischer Ebene die zentralen Akteure. Angesichts kooperativer Steuerungsmechanismen haben ihre Regierungen verstärkt Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Gestaltung öffentlicher Aufgaben zurückgewonnen. Unvereinbar mit dem derzeitigen Integrationsverlauf erscheint deshalb eine Sichtweise, nach der die Mitgliedstaaten im Zuge der weiteren Integration künftig in einer neuen „staatlichen Einheit" aufgehen oder von ihr überlagert werden. Das kooperative europäische Regelungssystem hebt den Nationalstaat nicht auf, sondern stärkt ihn letztlich. Mit zunehmender (und eigentlich wünschenswerter) Vertiefungsdebatte der Union wurde es schwieriger, die noch bestehenden Defizite in der Verwirklichung der funktionalen Grundsätze zu überwinden. Ursache waren die in vergleichbarem Maße wachsenden Befürchtungen, die Mitgliedstaaten könnten dabei zuviel von ihrer Souveränität und Identität einbüßen. Solche Befürchtungen manifestierten sich auch in den Exekutiven der Mitgliedstaaten. Abhilfe verspricht bis heute deshalb wohl nur eine breite öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Parlamente und aller gesellschaftlichen Gruppierungen. 7 ' : cc) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge Fraglich war freilich, ob das Verfahren der Vertragsänderung für eine solche öffentliche Debatte Raum lässt. Die Abänderbarkeit der derzeitigen europäischen Verträge, die den Kern des europäischen Primärrechts ausmachen 7 3 3 , durch explizite Vertragsänderung ist in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder 732
So W. Dix. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff. 733 Nicht weiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen Primärrechts.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
253
die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden Regierungskonferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten beraten und beschlossen. Sie bedürfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völkerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. In Deutschland bemisst sich der Ratifizierungsprozess nach Art. 23 GG. Dieses Verfahren sichert zwar den Regierungen größtmögliche Handlungsfreiheit für die Aushandlung der Vertragsänderungen. Andererseits begünstigt es eine Fortschreibung des vertraglichen Acquis, die sich möglichst eng an den bisherigen Texten orientiert, schon um die spätere Zustimmung in den Parlamenten und Volksabstimmungen nicht zu gefährden. Auch deshalb haben sich die vertraglichen Grundlagen der Union zu einem sehr komplexen Gebilde von Kompromisslösungen entwickelt. Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supranationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausreichend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite politische Debatte und über die Köpfe der Parlamente und der Bevölkerung hinweg zustande gekommen. Änderungen des Primär rechts können jedoch auch außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfahren des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu nennen, welches in Gestalt der jeweiligen Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Daneben bestehen jedoch weitere Mechanismen der Änderung von Primärrecht außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang ist zwischen „vereinfachten" und „autonomen" Verfahren der Vertragsänderung zu unterscheiden. 734 Das sog. „vereinfachte" Verfahren unterscheidet sich von dem in Art. 48 EUV vorgesehenen regulären Vertragsänderungsverfahren dadurch, dass
734 Dazu ausführlich H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), E U - K o m m e n t a r . 2000. Art. 4 8 . Rn. 11, mit umfangreichen Nachweisen; vgl. auch eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 1 0 . 2 0 0 3 ) im Auftrag des
Verf.
254
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
an Stelle einer Regierungskonferenz Vertragsänderungen durch den Rat mit einstimmigem Votum vorgenommen werden. Ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis nach den jeweiligen Vorgaben der nationalen Verfassungen besteht jedoch auch im Rahmen dieses Verfahrens. 735 Demgegenüber fehlt es an diesem Ratifizierungserfordernis im Rahmen des „autonomen" Vertragsänderungsverfahrens, das eine - in der Regel vom Rat einstimmig auszuübende - Vertragsänderungsbefugnis der EU-Organe, zumeist für technische Anpassungen, vorsieht. 736 Das EU-Recht kennt hinsichtlich der gemäß Art. 48 EU-Vertrag vorzunehmenden Abänderung von Primärrecht keine vergleichbaren inhaltlichen Schranken, wie sie etwa für den deutschen (Verfassungs-)Gesetzgeber bzgl. der Abänderungsmöglichkeiten des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt sind. 737 Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Verträge frei, ohne inhaltliche Begrenzung jede Art von Änderungen oder Ergänzungen der Verträge, auf denen die Union beruht, vorzunehmen. Gleichwohl wird im Schrifttum der Standpunkt vertreten, es gebe einen (ungeschriebenen) änderungsfesten Kern des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts. Dazu werden etwa die in der Union zugrunde liegenden Strukturprinzipien des Bekenntnisses zu den Menschenrechten und zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit gezählt. 738 Nicht hierzu zählt aber etwa der bereits erreichte Stand der Integration. Eine „Umgehung" der genannten ausdrücklichen Vertragsänderungsverfahren durch implizite Vertragsänderungen hält der EuGH nach ständiger Rechtspre735
Beispielhaft seien an dieser Stelle die folgenden Anwendungsgebiete dieses Verfahrens genannt: Art. 17 A b s . 1 E U V (Festlegung einer g e m e i n s a m e n Verteidigungspolitik): Art. 42 E U V (Überführung von Teilen der bisherigen dritten Säule des E U V in den EG-Vertrag): Art. 190 Abs. 4 E G V (einheitliches Wahlverfahren f ü r das Europäische Parlament); Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft). 736 H i e r / u zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assoziierung); Art. 2 1 3 Abs. 1 (Änderung der Zahl der Kommissionsmitglieder); Art. 2 4 5 Abs. 2 ( Ä n d e r u n g der Satzung des E u G H ) ; Art. 7 Abs. 3 E U V (Aussetzung des Stimmrechts bestimmter MitgliedStaaten); Art. 67 Abs. 2 (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im Bereich Justiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen weiteren Anwendungsgebieten dieses Verfahrens nur die Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000). Art. 4 8 . Rn. 12.
H.-J. Cremen in: C . C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag und EG-Vertrag. 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. R n . 4 , mit ausführlichen weiteren Nachweisen aus dem Schrifttum. 738
In diesem Sinne m . w . N . C. Vedder/H.P. Folz, in: E. G r a b i t z / M . Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung), Art. 48. Rn. 20. die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfassungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso, allerdings mit abweichender B e g r ü n d u n g H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 8. der dies damit begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten g e m e i n s a m e , ihrer Verfügungsgewalt entzogene Grundsätze auch d e m Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt werden (in diesem Sinne auch W. Meng, in: H. von der G r o e b e n / J . T h i e s i n g / C . D . Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum E G V / E U V . 5. Aufl. 1999. Art. N. Rn. 59 0-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
255
chung für ausgeschlossen. Danach seien Änderungen der Verträge grundsätzlich nur im Wege der vertraglich vorgesehenen Änderungsverfahren möglich. 7 * 9 Nach dieser Auffassung ist eine implizite Änderung der Verträge, etwa durch konkludenten. gleichzeitig mit einem Organakt von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Änderungsvertrag oder durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht, selbst bei einem Einverständnis aller Mitgliedstaaten nicht möglich. 740 Daneben kommt auch eine implizite Abänderung von Vertrags Vorschriften durch bloßes Organhandeln, wie etwa durch eine schlichte Praxis des Rates nicht in Betracht. 741 Demgegenüber soll nach überwiegender Auffassung im wissenschaftlichen Schrifttum die ausdrückliche Änderung bzw. Aufhebung von Primärrecht durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich auch außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV möglich sein. 742 Diese Befugnis der Mitgliedstaaten folgt aus ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge" und der Tatsache, dass das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nach wie vor auf den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beruht. Aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Akte des Völkerrechts wäre demzufolge eine Abänderbarkeit dieser Verträge auf die dargestellte Art und Weise grundsätzlich möglich. Gleichwohl greifen auch bei derartigen, außerhalb von Art. 48 EUV erfolgenden Änderungen von Primärrecht die verfassungsrechtlichen Ratifizierungsanforderungen an den jeweiligen völkerrechtlichen Änderungsakt, so dass sich an der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnis der nationalen Parlamente in diesem Fall nichts ändern würde.
739
E u G H . Rs. 4 3 / 7 5 . Slg. 1976. 4 5 5 . rn. 5 6 / 5 8 (Defrenne / Sabena); vgl. hierzu auch
H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48. Rn. 16. 740 Dazu ausführlich H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.). K o m m e n t a r zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn 4 f. Anden; aber BVerfGE 68. 1 (82), das eine konkludente Vertragsänderung durch einen sonstigen Änderungsvertrag für möglich hält. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl. 1994. Rn. 529 hält auch eine nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht für denkbar. 741
In d i e s e m Sinne E u G H Rs. 6 8 / 8 6 . Slg. 1988. 855, Rn. 24 (Vereinigtes K ö n i g r e i c h /
Rat). 42 Diese völkerrechtlich wirksame Vorgehensweise kann aber zu e i n e m Konflikt mit Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht führen. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich komplexen Debatte nur C. VedderfH.P. Folz, in: E . G r a b i t z / M . H i l f (Hrsg.). Das Recht der Europäischen Union. Kommentar. 2 0 0 3 (Stand: 21. Erg.Lieferung). Art. 4 8 . R n . 4 6 f f . S o auch etwa H.-J. Cremer, in: C. C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), K o m m e n t a r zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn. 5: differenzierend aber H.-H. Herrnfeld. (2000). Art. 48. Rn. 16. d e r e i n e (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt, das Verfahren des Art. 48 E U V zu respektieren. Die allgemeinen Regelungen des Völkerrechts sollen d e m g e g e n ü b e r durch Art. 48 E U V verdrängt worden sein. Jedoch stehe dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der .Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Ü b e r e i n k u n f t von dieser Selbstverpflichtung zu lösen.
256
B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
Zusammenfassend kann deshalb festgehalten werden, dass alle bisherigen, expliziten oder impliziten Verfahren der Änderung von Vertragsprimärrecht, sieht man einmal von den beim Verfahren der „autonomen" Vertragsänderung geltenden Besonderheiten ab. durch ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis flankiert werden. dd) Verfassungsänderung n a c h d e m Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren Ein Schlüssel dafür, ob eine europäische Verfassung auf Dauer handlungssteigernd sein wird, liegt in dem Mechanismus, der für künftige Verfassungsänderungen gefunden wird. Verfassungsergänzungen werden unvermeidlich sein und sind fraglos Ausdruck einer gewissen Normalität. Hierfür werden aber in Zukunft nicht mehr einstimmige Totalrevisionen erforderlich sein. Verfassungsergänzungen und Verfassungsänderungen im Sinne amerikanischer Amendments könnten im Prinzip mit qualifizierter Mehrheit möglich werden. Die Ausnahmetatbestände, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, sind selbstredend. Aber nur mit Hilfe einer klaren Trennung von fundamentalen und eher technischen Fragen der Verfassungsentwicklung kann europäische Verfassungskontinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen Erfahrungs- und Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach Art. IV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wird die Konventsmethode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeführt. Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen, den Konvent nicht einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist." Obschon am Ende wiederum eine Regierungskonferenz stehen soll, „um die an dem Vertrag wahrzunehmenden Änderungen zu vereinbaren", ist der vorgesehene Modus für Verfassungsergänzungen eine bedeutende Stärkung des föderalen Unionsprinzips, sofern der Europäische Rat am Ende im Normalfall mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. Jedenfalls darf Zwang zur Einstimmigkeit bei künftigen Verfassungsergänzungen nicht die faktische Unveränderbarkeit der Verfassung in einer Europäischen Union mit 27 oder mehr Staaten bedeuten, so als müsste dem derzeit möglichen Verfassungsergebnis eine Ewigkeitsgarantie gewährt werden. (I)
Das FünfstufenmodeII des
Verfassungsvertrages
Durch den Verfassungsvertrag wird eine fünfgliedrige Verfahrenskette zur Änderung und Anpassung des gesamten Vertrages sowie einzelner verfahrensrechtlicher und substantieller Aspekte normiert: 7 4 3
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
257
Die erste Stufe bilden nunmehr zwei „ordentliche" Verfahren zur Änderung des Verfassungsvertrages gemäß Art. IV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei Varianten, wobei in der ersten Variante „Konvent plus Regierungskonferenz" der Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, sollte der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschließen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im „Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz abzugeben. In der zweiten Variante ..Regierungskonferenz ohne Konvent" kann der Europäische Rat jedoch mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten, wenn das Konventsverfahren aufgrund „des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist". Für den Fall, dass die Zustimmung des Europäischen Parlaments hierzu vorliegt, wird auf der Grundlage eines Mandats des Europäischen Rates eine Regierungskonferenz zur Prüfung und zu etwaigen Änderungen des Vertrages einberufen. Verweigert hingegen das Parlament die Zustimmung, hat die Regierungskonferenz auf der Grundlage der dann im Konsensverfahren von einem Konvent angenommenen Empfehlungen zu arbeiten. Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. IV-444 VerfV die Regeln für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen sich zwei „Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne notwendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern: So kann der Europäische Rat zum einen in Bereichen, in denen der Rat nach den Bestimmungen des Verfassungsvertrages einstimmig entscheiden muss, einstimmig eine Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen Gesetzgebungs-, sondern nach „besonderen Gesetzgebungsverfahren" annimmt, einstimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zu überführen. Beide genannten Beschlüsse unterliegen freilich der Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie einem Vorbehaltsrecht der jeweiligen nationalen Parlamente. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren scheitert, wenn auch nur ein einziges nationales Parlament innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung einer entsprechenden Vertragsänderungsinitiative sein Veto einlegt. Allerdings entfällt im Gegenzug die Verpflichtung zur Ratifikation der Vertragsänderungsbeschlüsse.
7J3
Vgl. A. Maurer. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungsermächtigungen der Organe. SWP-Diskussionspapier, 2005.
258
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Art. IV-444 VerfV findet seine weitgehende Entsprechung in der Passerelle innerhalb der ehemaligen, durch den Maastrichter Vertrag festgelegten Justizund Innenpolitik (Art. 42 EUV): Durch dieses Verfahren wird die Möglichkeit eröffnet, über einen längerfristigen Zeitraum auch diejenigen Politikfelder und Bereiche in die qualifizierte Mehrheit zu übertragen, bei denen es im Konvent bzw. in der Regierungskonferenz (zum Teil erwartbar) nicht gelungen ist. Durch die Einstimmigkeit der Übergangsentscheidung behält somit jeder Staat die Entscheidungshoheit über diesen signifikanten Schritt. 744 Der Verfassungsvertrag sieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß Art. IV-445 VerfV der Europäische Rat eine „Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen von Teil III Titel III erlassen" kann. 745 Der entsprechende Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über ein Vetorecht. Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen, weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertragsänderungen nicht zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen. Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder der Rückgriff auf das ordentliche Vertragsänderungsverfahren vonnöten. Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1-18 VerfV schließlich eine Bestätigung der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung bereits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen, obgleich „ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat einstimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Maßnahmen erlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags gestattet Art. 1-18 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzelfall begrenzte Präzisierung bzw. Befugniserweiterung der Union. Hieraus ergibt sich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht 744
Andererseits stellt die Passerelle als B e f u g n i s e r w e i t e r u n g des Europäischen Rates einen Schritt dar. der die institutionelle Balance z w i s c h e n den Organen Parlament. Rat und K o m m i s s i o n deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert. In der Umsetzung von Art. IV-444 werden sich d a h e r wohl auch grundsätzlichere Fragen der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen, vgl. auch A. Maurer (2005), S. 25. 745
Diese Formulierung bezieht alle internen Politiken der Union vom Binnenmarkt über die Wirtschafts-, W ä h r u n g s - . Innen- und Justizpolitik bis hin zur Gesundheits- und Bildungspolitik mit ein.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
259
gedeckt ist. Ausgenommen sind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmung jedwede Harmonisierung ausschließt. Demzufolge sind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-, Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden. 7 4 6 Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so genannte „Notbremsen" für die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimmter Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass ein Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbehalt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat „die Kosten oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III-136.2 VerfV). Auch im weiten Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Ratsvorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg für eine Konsenslinie zwischen jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtlichen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten. Der Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechtsakt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber die Kommission um die Vorlage eines neuen Vorschlags ersuchen. Jeder Staat, der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner Strafrechtsordnung für unvereinbar hält, verfügt im Bereich der Strafrechtszusammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende Ratsverfahren zu stoppen. 747 Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Frage befassen und innerhalb einer Frist von vier Monaten entscheiden. Lässt sich analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen, kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit eingeleitet werden, an der sich mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerfV). Im Bereich der sozialen Sicherheit zeitigt die „Notbremse" wohl keine weiteren Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration. 74s Dahingegen eröffnet das Vetoverfahren in der Strafrechtszusammenarbeit de facto eine Fort-
746
Dazu A Maurer (2005). S. 26.
747
Art. III-270.3 VerfV'.
748
Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den ..Rückbau" der Integration sanktionieren.
260
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
entwicklung dieses Politikfelds unterhalb der Schwelle der Vertragsreform. Mit Blick auf beide „Notbremsen" mag sich die Unbestimmtheit des Verfahrenszeitpunkts als problematisch erweisen. So wird es sich gegebenenfalls nur im Rahmen eines Interinstitutionellen Abkommens zwischen Europäischem Parlament und Rat klären lassen, ob Staaten die „Notbremse" in jeder Phase des Gesetzgebungsverfahrens oder nur in einer bestimmten Phase der ratsinternen Vorabstimmung ziehen dürfen. (2)
Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung
betreffend
Der Europäische Rat entscheidet nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages künftig ohne Ratifikationserfordernis, ob für einen Politikbereich zur Mehrheitsentscheidung übergegangen wird. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen nur unterrichtet werden. Damit wird die Stellung von Deutschem Bundestag und Bundesrat erheblich geschwächt, da das in Art. 23 GG bei Hoheitsübertragungen vorgesehene 2/3-Erfordernis entfällt. Die Parlamente und insbesondere die Opposition werden dadurch nicht unerheblich geschwächt. Dies ist besonders problematisch, wenn die sich aus der betroffenen Rechtsgrundlage ergebenden Kompetenzen nicht klar abgegrenzt sind. 2.
Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte
..In the Performance of assigned constitutional duties each branch of the Government must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any branch is d u e great respect from the others." 7 4 9
Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der aller Verfassungsorgane bei der zweiten „Alternative" der Einflussnahme auf die Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können. Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden als man letztere zum Gegenstand der Tätigkeit bestimmt. Gilt es nun eine verfassungsrechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifelsfrei mittels der Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich. Die spezifische „Gestimmtheit des Verfassungsrechts" (K. Stern) führt zu Besonderheiten bei der Interpretation. „We must never forget that it is a Constitution we are expounding", hat der Supreme Court der USA bereits 1819 dekretiert. 750 749 750
United States v. Nixon. 4 1 8 U. S. 683. 7 0 3 (1974).
MeCulloch vs. Maryland 17 U.S. 3 1 6 (407). Der Richter hat innerhalb des Interpretationsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst. H i e r f ü r steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur V e r f ü g u n g ,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
261
D e m g e m ä ß h a t s i c h d i e W i s s e n s c h a f t seit l a n g e m b e m ü h t , „ P r i n z i p i e n d e r V e r fassungsinterpretation" - so das T h e m a der Freiburger Tilgung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer von
1961
- h e r a u s z u a r b e i t e n , w i e ü b e r h a u p t ein
Großteil der jüngeren Arbeiten z u m T h e m a Auslegung der Verfassungsauslegung g e w i d m e t sind.751 D a b e i wird e r s c h ö p f e n d die „ K o m p l e x i t ä t der Interpretationsaufg a b e " o d e r ihre „Unerschöpflichkeit", der sich j e d e E p o c h e unter ihren jeweiligen B e d i n g u n g e n neu zu stellen hat, betont. U n z w e i f e l h a f t führt vor allem die Rechtsbildung zu S p a n n u n g e n , zuweilen auch zu Konflikten, zwischen den nach der Gewalten- und Funktionenordnung der Verfassung zur generellen Rechtserzeugung berufenen Parlamenten und den Verfassungsgerichten. Vielfach wird etwa die Besorgnis zu zunehmender Nebenordnung und Annäherung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung betont. D a h i n t e r steht eine d e m a n g e l s ä c h s i s c h e n Rechtskreis vertraute T e n d e n z . G e s e t z e s recht und Richterrecht z u n e h m e n d als sich wechselseitig ergänzende, arbeitsteilige Modalitäten im Rechtsfindungsprozess zu sehen.
die mit den Stichworten „Wortlaut der N o r m " , „Wille des Gesetzgebers" und „Teleologie" angedeutet sei, insbesondere durch die ..Rechtsvergleichung" anzureichern ist (P. Hiiberle). Noch i m m e r gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung ..die Rekonstruktion des klaren o d e r unklaren G e d a n k e n s ist. der im Gesetz angesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist." Die Aufgabe des Richters. Recht zu sprechen, verbietet ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbesondere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung („deni de justice") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und Lücken zu füllen, etwa durch Analogien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst. Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, die d e m gesetzten Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden und d a m i t in gewissem Sinne selbst die N o r m e n zu schaffen, an die sie gebunden sind. Diesen Zwiespalt brachte der Richter am U S - S u p r e m e C o u r t Hughes treffend auf den Punkt: ..We. the j u d g e s , we are under the Constitution, but the Constitution is, what the j u d g e s say, it i s " (zitiert nach en.thinkexist.com/quotation/we_are_under_a_constitutionllbut_the_constitution/158023.html). Der Richter war - entgegen der Forderung von Montesquieu - in Europa niemals lediglich ..la bouche qui prononce les paroles de la loi"(der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis. Anders im angelsächsischen Recht. 751
Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Darstellung bei P. Hiiberle. Europäische Verfssungslehre. 4. Aufl. 2 0 0 6 . S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene Analyse des Themenfeldes. Zu den ..Prinzipien der Verfassungsinterpretation" ders., ebenda. S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995 (Neudr. 1999). S. 1 9 f f . : R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
262
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung. 7 5 2 Sie ist ein ebenso unentbehrliches und - in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen 7 5 3 - auch allgemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde 7 5 4 ), birgt aber durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen. Unrichtig ist es allerdings anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde der Handlungsspielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist sich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfassungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhaltenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bildenden Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten: nur die eine - verfassungswidrige - Lösung bleibt ihm verwehrt. a)
Allgemeine
Erwägungen
zur
Verfassungsinterpretation
Die juristische Hermeneutik teilt grundsätzlich die Probleme der allgemeinen Hermeneutik 7 5 5 , die vor allem in der Frage kulminieren, ob das Sinnverstehen ein rational kontrollierbares, intersubjektiv prüfbares Verfahren ist. K. Hesse sieht 752
Dazu etwa K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. l . B d . . 2. Aufl. 1984. § 4 III 8 d. S. 135 ff.: K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995, Rdnr. 79 ff., jeweils m . w . N. 753
Vgl. auch BVerfGE 54. 277 (299 f.).
754
Justice Brandeis in seiner Dissenting Vote zu Ashwander v. Tennessee Valley Authority, 297 US 288. 346 ff.( 1936). 755
Eine „allgemeine H e r m e n e u t i k " als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften
ist im 19. Jahrhundert insbesondere von F.D.E. Schleiermacher und IV. Dilthey entwickelt worden, vgl. F. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik (hrsg. von H. Kimmerle), 2. Aufl. 1974: W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), G e s a m m e l t e Schriften. Bd. 5 . 7 . Aufl. 1982; ders., Entwürfe zur Kritik der historischen V e r n u n f t . , in: ders. (Hrsg.), G e s a m m e l t e Schriften. Bd. 7. 7. Aufl. 1979. Der Einfiuss beider reicht bis in die Gegenwart
(M. Heidegger. R. Bultmann. H.-G. Gadamer. E. Betti. G. Eheling). Die Differenz zwischen Methodologie, d. h. als Kunstlehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretanda und Strukturtheorie als Lehre vom Z u s a m m e n h a n g zwischen Zeichen Bedeutung (signum et res) spiegelt sich in der jüngeren Hermeneutikdebatte vor allem bei Gadamer und Betti. Die lange Jahre g e f ü h r t e Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geisteswissenschaftlicher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische Wissenschaftstheorie das Problem des Sinnverstehens in ihre Überlegungen einbezieht. Die Theorie der Interpretation (seit d e m 15. Jahrhundert nach dem griechischen ep|ir|V£D£lV „ H e r m e n e u t i k " genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt J.Schröder. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850. in: Z N R 2002. S . 5 2 f f . ) und spielte eine gewichtige Rolle in der T h e o l o g i e (als Lehre vom vierfachen Schriftsinn - sensus litteralis. allegoricus. moralis und anagogicus, vgl. T. v.Aquin, S u m m a theologiae I, 1 q. 10 - die Idee eines „ A u s l e g u n g s k a n o n s " war d e m n a c h früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst seit Schleiermacher diskussionswürdig). Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
263
demgemäß idealtypisch die Aufgabe der Verfassungs-Interpretation zutreffend darin, „das verfassungsmäßig »richtige4 Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu schaffen - nicht etwa nur. um der Entscheidung willen zu entscheiden. 4 ' 756 Eine Einschätzung, die „transatlantisch" Geltung beanspruchen kann, wenngleich ihrer Umsetzung kaum nachgekommen wird. 757 Die Suche nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation mündet oftmals zwangsläufig in einer Katalogisierung von Schlagworten 5S. die nicht falsch sein müssen, denen jedoch in der Regel das verbindende Element, eine Ummantelung der begrifflichen Nacktheit fehlt. Dabei könnte möglicherweise ein kulturwissenschaftlicher Ansatz einen Rahmen bilden, um differierend anmutende Zielsetzungen und Aufgabenstellungen ebenso einer übergeordneten Sichtweise unterzuordnen wie dies im Kontext verschiedener methodischer Ansätze bereits vorgenommen wird 759 . Unter dem Strich ist dabei eher eine fruchtbare Ergänzung und weitere Auskleidung des Kulturbegriffes zu erwarten als ein ungeordnetes Nebeneinander wirrer Termini unter einer vagen Bezeichnung. Eine Betrachtung der möglichen Interpretations-,.Objekte" legt die Vielfalt juristischer Hermeneutik offen. Grundsätzlich finden sich so viele Arten der Interpretation wie es Rechtsquellen gibt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht in erster Linie die Verfassung als „Quelle interpretatorischer Tätigkeit" und die obersten Gerichte der Vereinigten Staaten bzw. der Europäischen Union respektive der Europäischen Gemeinschaften. Wie am Beispiel der Vereinigten Staaten bereits illustriert ist die - in der Regel in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixierte - Verfassung konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutionalismus entspringt u. a. den bieten der Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre durch H. Kreizschmar sowie
A. Scherings Deutung der Musik L. v. Beethovens. 756
K. Hesse. G r u n d z ü g e des 20. Aufl. Neudr. 1999. S. 21.
Verfassungsrechts der
Bundesrepublik
Deutschland.
757
Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungswirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda. 758
So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer A u f z ä h l u n g von P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit. Billigkeit. Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis. Vernünftigkeit. Praktikabilität. Sachgerechtigkeit. Rechtssicherheit. Berechenbarkeit. Transparenz. Konsensfähigkeit. Methodenklarheit. Offenheit. Einheitsbildung, Harmonisierung, normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gercchte („gute") öffentliche Ordnung. 759
Vgl. P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998. S. 227: „Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, w a s kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaftliche Verfassungsinterpretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten."
264
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
g r o ß e n „ R e v o l u t i o n e n " d e s a u s g e h e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s . S e i t d e m h a t d i e „ K o n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g d e r H e r r s c h a f t " (D. Grimm™) in u n t e r s c h i e d l i c h e r G e s t a l t d e r historisch-politischen Welt ihre P r ä g u n g verliehen und d a r ü b e r hinaus i m Z u g e d e r G l o b a l i s i e r u n g der Politik und der A u s b r e i t u n g m a n c h e r A s p e k t e d e r Verfassungslehre die nicht-westlichen Gesellschaften erfaßt. Seiner Grundidee nach d r ü c k t s i c h i m m o d e r n e n B e g r i f f d e r V e r f a s s u n g d o r t , w o sie a l s „ O r d n u n g d e s Pol i t i s c h e n " (U.K. Preuß761) k o n z i p i e r t w i r d , d e r z e n t r a l e S i n n g e h a l t d e r p o l i t i s c h e n Kultur aus. Unter diesem Aspekt k o m m t der m o d e r n e n Verfassung eine doppelte F u n k t i o n z u : i h r e r s y m b o l i s c h e n F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d d e u t e t u n d n o r m i e r t sie die O r d n u n g s g e h a l t e d e r politischen Kultur d e r G e s e l l s c h a f t . Ihrer instrumentellen F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d l i e f e r t sie d a s S p i e l r e g e l w e r k f ü r d i e p o l i t i s c h e n P r o z e s s e d e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s . 7 6 2 A l s q u a s i - k a n o n i s c h e r T e x t s t e h t sie e i n m a l f ü r e i n e H e r meneutik der gesellschaftlichen Existenz mit e i n e m verbindlichkeitsfordernden G e l t u n g s a n s p r u c h . Z u m a n d e r e n ist sie K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t f ü r e i n e n p e r m a n e n ten h e r m e n e u t i s c h e n P r o z e s s d e r A u s l e g u n g d e r d u r c h sie v e r b ü r g t e n P r i n z i p i e n im M e d i u m der politischen D e u t u n g s k u l t u r der Gesellschaft. Ein weitreichender wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungshermen e u t i k ist v o r l ä u f i g n u r i n d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n u n d n e u e r d i n g s a u c h i n K a n a d a a u f g e n o m m e n w o r d e n . 7 ' 1 Er bewegt sich „Toward a Constitutional H e r m e n e u t i c s "
760
Vgl. D. Grimm. Die Z u k u n f t der Verfassung. Frankfurt 1991.
761
Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ..Zum Begriff der Verfassung. Die O r d n u n g des Politischen. 1994". 762 Eine ..Hermeneutik des Politischen" bewegt sich auf zwei E b e n e n . Analytisch ist sie eine empirisch-hermeneutische Theorie. Sie analysiert die soziokulturellen O r d n u n g s gefüge auf die ihnen unterliegende Ordnungslogik hin und versteht das durch die Pluralität von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstverständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen T h e o r i e spiegelt sich w i e d e r u m der anthropologische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden Wesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretationen in einem sehr grundsätzlichen Sinn der f u n d a m e n t a l e n menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen der historisch-sozialen Lage ein. Zweitens bauen auf einer solchen Grundhermeneutik des Menschlichen eine Vielzahl von Deutungen jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specificum einer solchen Hermeneutik des Politischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur, insofern sie Ausdruck des Ringens um das D e u t u n g s m o n o p o l f ü r die politische Kultur (die „Wahrheit" der Gesellschaft), dessen Durchsetzung und Aufrechterhaltung ist. Das M e d i u m der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesellschaft. Die machtgestützte H e r m e n e u t i k des Politischen und deren Manifestation in der politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftliche Stabilität, andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt. Das D e u t u n g s m o n o p o l der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser T h e m a t i k ausführlich J. Gebhardt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
265
( G . Leyh)76*, w i e sie s i c h i n d e r D e b a t t e z w i s c h e n t e x t i m m a n e n t a r g u m e n t i e r e n d e n „interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" n i e d e r s c h l ä g t 6 ? und in einen weiteren hermeneutischen Z u s a m m e n h a n g von „katholischen" und „ p r o t e s t a n t i s c h e n " I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a t a erstellt wird76". In diesen n a t u r g e m ä ß stets politisch a u f g e l a d e n e n D e b a t t e n zeichnet sich d a s P r o b l e m f e l d einer vergleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik767 in den mit verfassungsrichterlichem P r ü f u n g s r e c h t ausgestatteten Politien etwa der U S A , Deutschlands, Kanadas. Australiens und Frankreichs ab. wobei in einigen Ländern in der Rechtsa b e r a u c h P o l i t i k w i s s e n s c h a f t v o r d e r g r ü n d i g e i n I n t e r p r e t a t i o n s m o n o p o l d e r Verfassungsgerichtsbarkeit behauptet wird. Insgesamt hat sich eine in sich kontroverse Tradition der Verfassungshermeneutik herausgebildet, die auch unter modernen kulturhermeneutischen768 Vorzeichen zu analysieren wäre.769 D i e s e r U n t e r s u c h u n g v o r g e l a g e r t ist j e d o c h d i e F r a g e , o b e s t a t s ä c h l i c h d i e I n haberschaft eines Interpretationsmonopols geben kann - einen interpretatorischen
Siehe H. Beiz, Constitutional and Legal History in the 1980s: Reflections on A m e rican Constitutionalism. in: 4 Benchmark (1988), S. 243 ff.; M.A. Graber. W h y Interpret? Political Justification and American Constitutionalism. in: 56 T h e Review of Politics (1994). S. 4 1 5 ff. Zur amerikanischen Verfassungskuhur aus d e m deutschen Schrifttum J. Gebhardt. Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den USA. in: A k a d e m i e für politische Bildung (Hrsg.). Z u m Staatsverständnis der Gegenwart. 1987. 764 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics, in: 32 American Journal of Political Science (1988), No. 2, S. 369 ff.
765 Yg| p Kommers. T h e Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judicial Review, in: 47 T h e Review of Politics (1985). No. 3, S. 113 ff. 766
Dazu H. Levinson, Constitutional Faith. 1989.
6
Hierzu gibt es Ansätze bei J. Gebhardt/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. 1994 und im G e s a m t w e r k P. Häberles. Bedeutsam vor allem das Werk von D.N. MacCormick/R. S. Summers. Interpreting Statutes: a Comparative Study. 1991. 768
Es grenzt an eine Tautologie, von „Kulturhermeneutik" zu sprechen, da Hermeneutik i m m e r mit „ K u l t u r " zu tun hat: zum einen sind ihre Gegenstände zweifellos Erzeugnisse kultureller Praxis, anfangs vor allem religiöse, juristisch-politische und philosophische Texte. Zweitens stellen hermeneutische B e m ü h u n g e n ihrerseits ein kulturelles P h ä n o m e n dar. oft direkt in kulturelle Reflexivität einmündend. Drittens zielt Hermeneutik stets auf kulturelle Praxis, auf die Herstellung eines Z u s a m m e n h a n g s zwischen verschiedenen, meist auch räumlich und zeitlich getrennten kulturellen Dokumenten sowie zwischen deren Verfassern. Z u m Begriff der „ K u l t u r " sehr detailliert P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S. 2ff; ders.. Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat. 1980. S. 13 ff.; ders.. Vom Kulturstaat z u m Kulturverfassungsrecht, in: ders., Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht. 1982. S. I, 27 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen weiterführender Literatur. 769 Diese Forderung erhebt auch J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus (1987). Im vollausgebildeten Konstitutionalismus wird gebetsmühlenartig die Frage des verfassungsgerichtlichen Interpretationsmonopols behandelt, so wie es sich scheinbar in den USA herausgebildet haben soll.
266
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Alleinanspruch über Verfassungsbestimmungen, die wegen ihres besonderen Charakters nicht allein durch „schlichte" juristische Interpretation etwa im Sinne des Savignyschen Kanons zu erschließen sind, die aufgrund der normativen, materialen und funktionalen Besonderheiten des Verfassungsrechts einen „ K u n s t g r i f f ' erforderlich machen, der in der deutschen Verfassungslehre weithin als „Konkretisierung" bezeichnet wird. 770 Einer solchen Konkretisierung bedarf es im Verfassungsstaat namentlich bei den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien, wie Demokratie, sozialer Rechtsstaat. Bundesstaat und Gewaltenteilung, bei nahezu allen Grundrechten, schließlich bei Staatszielbestimmungen. Rechtsvergleichend lässt sich dieser Gedanke auch auf andere Verfassungsstaaten übertragen, wobei die Konkretisierungsaufgabe für das Verfassungsrecht zunächst auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Letztentscheidungsfunktion „fokussiert" scheint. Also doch insgesamt ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit? Mitnichten, selbst wenn man einer Letztentscheidungsfunktion monopolähnliche Strukturen nur schwer absprechen kann. Gleichwohl wird die richterliche Entscheidung durch vorhergehende Interpretationen anderer Teilnehmer am „Verfassungsleben" wesentlich mitbeeinflusst. P. Häberle spricht zu Recht von einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" und bezieht in die Prozesse der Verfassungsinterpretation „potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen. alle Bürger und Gruppen" ein. T ; : Häberles Gedanke wird in den Vereinigten Staaten zwar bislang (noch) nicht unverhohlen rezipiert, findet jedoch zunehmend theoretische Entsprechungen. :: So formuliert etwa W. Murphy treffend: „A final definitional matter is important, especially for A m e r i c a n s w h o o f t e n a s s u m e that j u d g e s have a monopoly on constitutional interpretation. In fact, however, even in a constitutional d e m o e r a e y with a constitutional text and judicial review. all public officials sometimes interpret - and properly if not always conrectly so - the Constitution. Not only j u d g e s but also legislators interpret when they resolve constitutional doubts for or against a bill as do executive officials when they decide they can, or cannot. consistently with their oaths of office carry out a particular Public policy. Even police officers engage in constitutional interpretation when they decide they can or cannnot arrest a n d / o r search a suspect. Moreover, leaders of interest groups frequently o f f e r
770
Vgl. etwa H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht. Völkerrecht. 1971, S. 340.
771
Siehe P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. A u f l a g e 1998, S. 2 2 8 ff., 229. Grundlegend ders.. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975. S. 2 9 7 ff., auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998, S. 155 ff.: vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess - ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998. S. 121 ff. 772 Freilich im Wesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: „Unter einem freundlichen Ausleger mein' ich den. welcher in einem fremden Buche seine eigne Meinung, obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt", vgl. ders.. Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 1817.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
267
interpretations of the Constitution, both to advance and defend their goals. Individua! voters can also join in the interpretive process by taking the time before casting their ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates' platforms." 7 '* Einige Beispiele außergerichtlicher Verfassungsinterpretation sollen die Gelt u n g s k r a f t d i e s e r A u s s a g e d i e s s e i t s u n d j e n s e i t s d e s A t l a n t i k s u n t e r s t r e i c h e n . 1861 s e t z t e A . Lincoln e i n e n M a r k s t e i n i n t e r p r e t a t o r i s c h e r T ä t i g k e i t a u ß e r h a l b d e s o b e r s ten G e r i c h t s h o f s als e r f e s t s t e l l t e : „ I h o l d , t h a t i n c o n t e m p l a t i o n o f u n i v e r s a l l a w . and of the Constitution, the U n i o n of these States is perpetual."774 Diese A u s l e g u n g war freilich nicht vollends abwegig, allerdings zu j e n e r Zeit weder offensichtlich n o c h u n b e d i n g t a l l e r o r t s p o p u l ä r . D a d a s V e r f a s s u n g s d o k u m e n t Lincolns S ä t z e textlich nicht explizit zu stützen w u ß t e , soll e r n e u t die P r ä a m b e l d e r V e r f a s s u n g in E r i n n e r u n g g e r u f e n w e r d e n , i n d e r e s u n t e r a n d e r e m h e i ß t „ j . . . ]in O r d e r t o f o r m a m o r e p e r f e c t U n i o n | . . . ] " . E s ist a l s o w e d e r v o n e i n e r a l l e i n „ p e r f e c t " g e s c h w e i g e denn von einer „perpetual Union" die Rede.77' D a s z w e i t e E x e m p e l m a g u n g e w ö h n l i c h e r s c h e i n e n u n d d o c h ist e s A b b i l d verfassungsinterpretatorischer Tätigkeit. Im Jahre 1936 wirkte die Mehrheit der a m e r i k a n i s c h e n B e v ö l k e r u n g a l s „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t " als s i e e n t g e g e n m a s s i v e r
773
W. F. Murphy, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation. 1 9 9 9 - 2 0 0 0 Harr)' Eckstein Lecture, Princeton 2000. www.democ.uci.edu/democ/papers/murphy.htm. Siehe auch W. F. Murphy U.E. Fleming/S.A. Barber. A m e r i c a n Constitutional Interpretation. 21x1 ed., 1995, Part III: W.F.Murphy. W h o Shall Interpret the Constitution?, in: 48 Review of Politics, 1986, S . 4 0 1 ff.; ders., Constitutions, Constitutionalism. and D e m o c racy, in: D. G r e e n b e r g / S . N . K a t z / M . B . O l i v i e r o / S . C . Wheatley (eds.), Constitutionalism and Democracy, 1993, S. U f f . jeweils mit weiteren Nachweisen. Entsprechend seines Einsatzes für eine ..representative" und gegen eine ..constitutional d e m o c r a c y " Demokratie tendiert etwa R.A. Dahl zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgebenden Körperschaft, die sich einer P r ü f u n g lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe. Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf der Wahlprozesse zu gewährleisten ..for an independent body to strike down laws that seriously damage rights and interests that|,] while not external to the democratic process[,] are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989. S. 191. Ähnlich M. Walzer. Philosophy and Democracy, in: 9 Political T h e o r y (1981), S. 379 ff. 397: „The j u d g e s must hold themselves as closely as they can to the decisions of the democratic assembly, enforcing first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and protecting its m e m b e r s from discriminatory legislation. They are not to enforce rights beyond these unless authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der Richterschaft zu politischen Entscheidungen erleichtert j e d o c h in der Regel die Rechtfertigung jeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J.H. Ely, Democracy & Distrust, 1980. 774 A. Lincoln. First Inaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), T h e Collected Works of A b r a h a m Lincoln. Vol. IV 1953, S. 262 f. 77? Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincolns Interpretation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im G r u n d e Lügen. Die Nation, die letztlich aus diesem Konflikt e r w u c h s , wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr oder weniger) ..united states" vor dem Bürgerkrieg auf.
268
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
höchstrichterlicher Ablehnung der „New Dear*-Gesetzgebung dem amtierenden Präsidenten F.D. Roosevelt mit einem Erdrutschsieg bei den Wahlen (46 von 48 Staaten Zustimmung) erneut ins Amt verhalf. Auch H. Kohls entschlossener Griff nach dem Stundenzeiger historischer Zeitenwenden im Jahre 1990 muss als bedeutender Beitrag zur Interpretation einer Verfassung erachtet werden. Die Entscheidung, die Wiedervereinigung und Aufnahme neuer Bundesländer unter die damalige Fassung von Artikel 23 GG zu legen, war ein interpretatorischer Vorgang, der es allen Beteiligten ermöglichte, annähernd ohne richterliche „Beaufsichtigung" die Bedingungen der Wiedervereinigung zu verhandeln. Zudem blieb das Grundgesetz mit lediglich kleineren Modifikationen auch die Verfassung der vereinten Nation. Die zunächst plausibler erscheinende Interpretationsalternative, nämlich Artikel 146 GG a. F., hätte eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung erfordert, die schließlich die Bedingungen für die Wiedervereinigung enthalten hätte. 76 Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft einer Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung führt zurück zu der Forderung. Verfassungsinterpretation unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu betreiben. Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Bezugspunkt verantwortlicher Interpretationstätigkeit sein kann. Das Zusammenspiel unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben Beteiligten - ein „polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten - findet eine gemeinsame Zielsetzung in der Harmonisierung der eigenen Wunschvorstellungen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind. Dennoch werden westliche Konstitutionalismen und - d e m Prinzip des institutionellen Mimetismus folgend - auch ansatzweise nicht-westliche Verfassungsstaaten nun zunehmend von einer Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur gekennzeichnet, was der vorangegangenen These der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" nicht widerspricht, allerdings Zeugnis einer differie776
Aus der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit. in: V V D S t R L 49 (1990), S. 39 ff.; das S a m m e l w e r k von K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bde., 1991; siehe auch L Michael. Die Wiedervereinigung und die europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zur Bedeutung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. 1 S. I n. F. G G , in: AöR 124 (1999). S. 5 8 3 ff. Interessant ist diesbezüglich auch die Sichtweise aus dem amerikanischen Rechtskreis, vgl. n u r P. Quint. T h e Constitutional Law of G e r m a n Unification. in: 50 M d . L. Rev. (1991), S. 4 7 5 ff. und ders., T h e Imperfect Union: Constitutional Structures of G e r m a n Unification. 1997.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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renden Gewichtung unter den Verfassungsinterpreten ist. Die freilich unscharfe Kategorisierung in das Verfassungsleben mitformende „Prae-interpreten" und die letztliche Verantwortung tragende „Final-interpreten" (wie etwa US-Supreme Court, Bundesverfassungsgericht oder der französische Conseil Constitutionnel) soll eine kaum bestrittene Realität akzentuieren, die durchaus mit der Bezeichnung „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation" 7 7 7 belegt werden kann. Dass „Post-Interpreten" (beispielsweise die Verfassungslehre aber auch jeder „Verfassungsanwender") selbst wieder gleichzeitig „Prae-Interpreten" sind, lässt ein Kuriosum offenkundig werden: Die Gestaltung und Fortentwicklung von Verfassungskultur basiert auf einem „Kreislauf" der Verfassungsinterpreten. In den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Verfassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen, wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen. 7 7 8 Dies geschieht auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurückhaltung und bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die „political question doctrine" und „judicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos der zentrale Baustein kreativer Verfassunggebung ist, so gründet sich letztere in den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präsident, aber auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der englischen „Conventions" durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten. wodurch neben einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden. 779
777
So P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Auflage 1998. S . 2 3 0 : siehe auch ders.. Zeit und Verfassung, in: Z I P 21 (1974). S. 11 Iff. 118 ff." 778
Siehe hier/u und im folgenden auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 36 f. 77
'' Als Beispiele der L ü c k e n a u s f ü l l u n g sollen z u m einen der Aufbau der Bundesgerichtsbarkeit durch die „judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten Gerichtshof vorschreibt und die S c h a f f u n g von untergeordneten Gerichten d e m Kongress überlässt (Artikel III § 1 der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit für die S c h a f f u n g von Bundesbehörden, die allein d e m Kongress zusteht: oder die Nachfolgeregelung. wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der A u s ü b u n g ihrer Ä m t e r gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfassunggebung durch den Kongress erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit erlangte dabei die Auslegung der sogenannten „ c o m m e r c e " - K l a u s e l (Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der Bundeszuständigkeit, wobei der Kongress zu b e s t i m m e n hat. was letztlich unter Handel zu verstehen ist. Jeweils mit Z u s t i m m u n g des Supreme C o u r t dehnte der Kongress über Jahrzehnte den Begriff weit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-
270
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die folgende Betrachtung einzelner Gesichtspunkte der (richterlichen) Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten und später in der Europäischen Union versucht dem hohen Anspruch einer Berücksichtigung kultureller Prämissen zu folgen und legt seinen Schwerpunkt auf eine Untersuchung kreativer Verfassunggebung durch die obersten Gerichtshöfe. Diese Einführung sollte sich nur auf einen Anriss der genannten Vorfragen nach den Verfassungsinterpreten und der Beziehung von Verfassungsinterpretation zur Verfassungs-Kultur beschränken. Laut P. Höberle „färbt" kultureller Wandel die Verfassungsinterpretation. 7 8 0 Diese Aussage lässt sich aufgrund des oben Gesagten freilich auch insoweit umdrehen als Verfassungsinterpretation seit jeher den kulturellen Wandel zu „färben", jedenfalls zu beeinflussen verstanden hat. Das symbiotische Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung gilt letztlich auch für die europäische Ebene. Das oben aufgezeigte Verfassungsverständnis und der zugrunde zu legende „europäische Verfassungsbegriff' lassen demzufolge die Übertragung einer Vielzahl der vorgenannten Überlegungen auf die europäische Rangstufe zu ( - mit Ausnahme der gänzlich „staatsfixierten" Aspekte). 7 8 1
renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatlichem Handel auch im entferntesten in Verbindung steht. Aus der in Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur K r e d i t a u f n a h m e (..borrowing m o n e y " ) leitete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. Eine Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen G e m e i n s c h a f t e n eine gewichtige Rolle spielen sollte, nahm in den Vereinigten Staaten mittels der unterstellten Vollmachten des Kongresses ihren Anfang: die „implied powers". Aber auch d e m Präsidenten bzw. den zuständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der ..implied powers"-Regel o d e r durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbestimmungen im Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch für die Verfassungsfortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und - g e w o h n h e i t e n seien genannt: der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Xfilton, T h e Use of Presidential Powers 1 7 8 9 - 1 9 4 3 . 1944): die Rolle der Unterausschüsse im Kongress und der gewachsene Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung. 780 7sl
P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aullage 1998. S. 226.
Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den E u G H ) im europäischen Kontext (P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 2 6 8 ff. spricht von einer „ o f f e n e n Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa"): C. Huck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen G e meinschaften. 1998: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den E u G H . 1995; J. Auweiler, Die A u s l e g u n g s m e t h o d e n des Gerichtshofs der Europäischen G e m e i n s c h a f ten. 1997; W. Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995. Band 1. S. 205 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
271
b) Der US-Supreme Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit Die amerikanische Verfassung ist oberflächlich zunächst lediglich eine Darstellungsform allgemeiner Prinzipien, aus denen sich wiederum im einzelnen Gesetze und Kodifizierungen herausgebildet haben. Der Erfolg dieses Dokuments, der sich im Besonderen durch den Erhalt der Fundamente amerikanischer Regierungsstrukturen bestätigt sieht, gründet sich vornehmlich auf dem Umstand, dass es im Anschluss an die Gründergeneration nachfolgenden Besetzungen von Kongress und Supreme C o u r t 7 " ermöglicht wurde, die Verfassung zu interpretieren oder sie gegebenenfalls den Anforderungen wechselnder Zeiten anzupassen. Der amerikanische Föderalismus 7 8 3 hat in Verbindung mit angelsächsischen Traditionen ein Rechtswesen geschaffen, das sich unter anderem durch zwei vertikale Gerichtssysteme auszeichnet- die Bundesjudikative als dreistufige Pyramide mit Distriktgerichten, Appellationsinstanzen und dem Supreme Court einerseits, das gleichfalls mehrstufige Gerichtswesen der Einzelstaaten andererseits. Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Strafrechtsbereich. von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu j e n e m charakteristischen Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Common Law noch begünstigt wird. aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - Marbury vs. Madison Heute erscheint selbstverständlich, dass im Rahmen „moderner Staatlichkeit" die Bindung der Staatsgewalt an die Prinzipien Gewaltenteilung. Grundrechte der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungsrechte durch die Gerichte, letztlich durch ein Verfassungsgericht, überprüft wird. So eindeutig war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als der Supreme Court der Vereinigten Staaten 1803 den Rechtsstreit Marbury vs. Madison zu entscheiden hatte. 7SJ In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court
782
Aus der deutschspr. Lit: W. Haller. S u p r e m e Court und Politik in den U S A . 1972; Ii. Maaßen. Der U S - S u p r e m e C o u r t im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssystem ( 1 7 8 7 - 1 9 7 2 ) , 1977; W. Brugger. Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: JöR 42 (1994). S . 5 7 1 ff. Siehe auch (streitbar) M. Tushnet. Taking the Constitution away from the Courts. 1999: A.S.Miller, T h e S u p r e m e Court. M y t h and Reality. 1978; L. Tribe. Constitutional Choices. 1985: W H. Rehnquist, The Supreme Court. How i't Was - H o w It Is, 1987. 783 784
H i e r / u ausführlich unter B . l V . 3 b ) a a ) .
Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Po-
272
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
z u m e r s t e n M a l v i e r K r i t e r i e n , d i e i m L a u f e d e s 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t s e i n e n Siegeszug durch die westlichen Rechtsordnungen antreten sollten785: -
V e r f a s s u n g e n sollten schriftlich formuliert sein, um m e h r Rechtssicherheit zu verbürgen als G e m e i n s c h a f t e n , deren politische E n t s c h e i d u n g s m e c h a n i s m e n auf Tradition und Ü b u n g beruhen.
-
Die V e r f a s s u n g hat Vorrang g e g e n ü b e r Legislative, Exekutive und Judikative.
-
E s ist A u f g a b e d e r G e r i c h t e , u n d l e t z t l i c h d e s h ö c h s t e n G e r i c h t s , d i e s e V e r f a s sungsbindung zu überprüfen.
-
Verstößt ein Akt von Exekutive oder auch Legislative gegen die Verfassung, kann das höchste Gericht die Verfassungswidrigkeit aussprechen. D e r G e b u r t s o r t , die W i e g e d e r Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in d e n Ver-
einigten Staaten von A m e r i k a , ihre G e b u r t s s t u n d e , die „Inthronisation"786 als „ g l e i c h b e r e c h t i g t e r H ü t e r u n d F o r m g e b e r " d e r V e r f a s s u n g 7 8 7 a l s o i n d e r viel z i t i e r ten E n t s c h e i d u n g Marbury v . Madison.
Bevor m a n sich j e d o c h dieser z u w e n d e t ,
sollte erneut ein Blick auf die U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä r u n g von 1776 gewagt und dort ein gerne übersehener erster „ Z e u g u n g s a k t " für die spätere Verwirklichung verfassungsgerichtlicher Kontrolle in Augenschein g e n o m m e n w e r d e n . Er findet s i c h n a c h d e r A u f z ä h l u n g d e r u n a b ä n d e r l i c h e n R e c h t e i m e r s t e n Teil d e r E r k l ä r u n g : ..That to secure these rights. Governments are instituted among M e n . deriving their just powers f r o m the consent of the governed, - T h a t w h e n e v e r any Form of Government b e c o m e s destructive of these ends. it is the Right of People to alter or to abolish it, and to institute n e w G o v e r n m e n t , laying its foundation on such principles and organizing
sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000). S. 397 ff. 7s5
Vgl. hierzu W. Brugger. Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin d e r Universität Heidelberg. Heft 3 / 1 9 9 4 . S . 2 2 f f „ 22. Im deutschen GG finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1. 20. 92 und 93. 786 So W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S . 5 . 7S Vor allen Arten von ..Hüterideologie" warnt P. Hiiberle. da entgegen der oft zitierten These, der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien ..Hüter" der Verfassung, der Schutz derselben gerade allen Bürgern und allen Staatsorganen gleichermaßen anvertraut sei. Z u m anderen sei die Verfassung „öffentlicher Prozess", was sich in der Bewahrung von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. ders.. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 311 ff., 316. M . E . birgt die Bezeichnung des „ H ü t e n s " jenseits aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur Fortentwicklung, wenn man so will zur „Erziehung" in sich und darf daher nicht lediglich als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles „Be-hüten" nur in der Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den „gleichberechtigten Hüter" nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten aus. Hiiberle, e b e n d a , mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist freilich zuzustimmen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „authentischen" Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
273
its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness. [ . . . ] But when a long train of abuses and usurpations. pursuing invariably the s a m e Object, evinces a design to reduce them undcr absolute Despotism. it is their right. it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security." 78 *
Die Betonung der ..new Guards". die gelegentlich fälschlich in deutscher Übersetzung als „Regierung" im Sinne von „Government" gedeutet wurden 789 , eröffnen die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, originären Gewalt, wie sie sich später in der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einstellen sollten. Ferner hat A. Hamilton im Federalist bereits ein Wesensmerkmal der künftigen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben, als er das Spannungsverhältnis von der gelegentlichen Rolle des Gerichts als politischer Entscheidungsträger zum Prinzip der demokratischen Volkssouveränität offenlegte, da die Richter - wenn auch (indirekt) durch politisch legitimierte Organe in ihr Amt berufen - für ihre Entscheidungen „dem Volk" nicht direkt verantwortlich sind. Hamilton bemühte sich nun, diesen Widerspruch durch eine eher metaphysische denn empirische Deutung des „Volkswillens" zu zerstreuen, indem er die Verfassung als seine dauerhafte Artikulation und den Supreme Court als dessen Sprachrohr dem wankelmütigen, lediglich temporär durch Wahlen ausgedrückten Volkswillen gegenüberstellte. 7 " 0 Im selben Artikel des Federalist betonte er außerdem die Existenz einer Rangordnung von Gesetzen und wies darauf hin. dass es ein logisch unausweichliches Prinzip der Rechtsprechung sei, einen Widerspruch zwischen Gesetzen, die auf verschiedener Stufe stehen, durch Bevorzugung des höherrangigen Gesetzes zu lösen. Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts lediglich mit mageren Worten. Gemäß Artikel III § 1 wird die Judikative der Vereinigten Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten vollständige Gerichtssysteme. Artikel III §2 par. 1 der Bundesverfassung regelt die Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel III § 2 par. 2 schließlich die Aufgaben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz („original jurisdiction") nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er als Rechtsmittelgericht („appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Fälle, die den
788
Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of A m e r i c a n History, 1983, S. 2 7 9 f. T. Fleiner-Gerster erkennt in seiner „Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1995, S. 263 f." bereits diesen ursprünglichen gedanklichen Z u s a m m e n h a n g : die „u. a. von Locke geprägte A u f f a s s u n g bildete auch die Grundlage für die Verwirklichung d e r Verfassungsgerichtsbarkeit". 789
So auch Fleiner-Gerster (1995). S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis.
790
Vgl. A. Hamilton im Federalist Nr. 78.
274
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Bundesgerichten zugewiesen sind, in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht überprüfen kann. 791 Vergeblich sucht man hingegen eine ausdrückliche Regelung, die den Supreme Court ermächtigen würde, über die Auslegung der Verfassung und die Vereinbarkeit von nachrangigem Recht mit der Verfassung zu entscheiden. 7 " 2 Die Funktion der Normenkontrolle als Überprüfung von Gesetzgebung und exekutivem Handeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist dem Supreme Court in der Verfassung nicht explizit zugewiesen. Allerdings gab es bereits in den amerikanischen Kolonien und nach der Unabhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte Gesetze, die gegen königliche „Charters" und später gegen die gliedstaatlichen Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrannte die bis heute gelegentlich erbittert geführte Debatte über die diesbezügliche gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung einer „Charter" oder Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konsequenzen in die Rolle der Politik schlüpft. Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grundlegenden Entscheidungen mit der Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten wie auch der anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Kongresses. 7 9 ' Unter der Leitung von Chief Justice J. MarshalfM wurden bis heute tragende Weichen für die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung gestellt. 795 Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege des Supreme Court in seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsgericht zu ei791
Jedoch ist der Kongress ermächtigt, insoweit A u s n a h m e n zu erklären und das Verfahren einer Regelung zu unterwerfen. Artikel III § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. In der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des Supreme Court, sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung des S u p r e m e Courts zur E n t s c h e i d u n g s a n n a h m e und in welchen Fällen ein Annahmeermessen besteht, vgl. C. Egerer. Verfassungsrechtsprechung des S u p r e m e C o u r t der USA: die Wurzeln des Prinzips des „judicial r e v i e w " in M a r b u r y v. M a d i s o n . in: ZvglRWiss 88 (1989). S . 4 I 6 f f . . 417. 792 Das deutsche Recht etwa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 I Nr. 1. 2 . 4 a . 4 b und Art. 1001 G G .
Dazu umfänglich D.P. Currie, T h e Constitution in the S u p r e m e Court: T h e First Hundred Years 1 7 8 9 - 1 8 8 8 . 1985. S. 61 ff.; siehe auch die einflussreichen Schriften von E.S. Corwin: beispielsweise ders., T h e S u p r e m e Court and Unconstitutional Acts of Congress. in: 4 Michigan L. Rev. (1906). S. 6 1 6 ff.; J e « . . T h e Establishment of Judicial Review. In: 9 Michigan L. Rev. (1910). S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. (1911), S. 2 8 3 ff. 794
In den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den S u p r e m e Court begrifflich mit d e m jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere wenn es um die historische Einordnung ..bewegter" gerichtlicher Zeiten geht. Marbury v. Madison w u d e vom sog. Marshall-Court entschieden, aktuell sprach man wegen des seit 1986 (und bis 2 0 0 6 ) amtierenden Chief Justice \V. Rehnquist vom Rehnquist-Courl. 795
Dazu u . a . F. Frankfurter. John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard L. Rev. (1955), S. 217 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
275
n e m zentralen Organ der Integration und nationalen Vereinheitlichung war aber eben
seine
u n t e r J. Marshall
getroffene
Entscheidung
in
Marbury
v. Madison.
in welcher das Gericht für sich in A n s p r u c h nahm, ein Gesetz des Kongresses - den „Judiciary A c t " von 1789 - für verfassungswidrig zu erklären, weil der Kongress darin d e m S u p r e m e Court A u f g a b e n zugewiesen hatte, die ihm von der Verfassung ausdrücklich nicht zustanden.796 Mit dieser Entscheidung m a c h t e sich der S u p r e m e C o u r t de facto selbst zu e i n e m Verfassungsgerichtshof u n d d a m i t zur - gerichtlich - h ö c h s t e n Autorität in V e r f a s s u n g s f r a g e n . 7 9 7 Diese Entscheidung war g e w i s s e r m a ß e n a u c h eine Reaktion auf das B e d ü r f n i s nach einem dritten, zunächst nicht offen an der Macht beteiligten Staatsorgan, das der zu dieser Zeit besonders im D u a l i s m u s von Kongress und Präsident, der föderalen Struktur und den Grundrechten angelegte „ Z w a n g " zu M ä ß i g u n g und Ausgleich zu erfordern schien. Um das Prinzip der „checks and balances" zu sichern, ü b e r w a c h t der S u p r e m e C o u r t also die B e a c h t u n g der v e r f a s s u n g s m ä ß i -
796
Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrifttum eine u m f ä n g l i c h e Darstellung erfahren hat. soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. In der Streitsache ging es um die Zustellung der E r n e n n u n g s u r k u n d e an Marbury zum ,Justice of the Peace", die ihm Madison auf A n o r d n u n g Jeffersons verweigert hatte. Der S u p r e m e C o u r t gab im Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da j e n e r sich auf ein Gesetz berufen hatte, das der S u p r e m e letztlich für unvereinbar mit der Verfassung erklärte. Damit reklamierte der S u p r e m e C o u r t f ü r sich das benannte Recht. Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht a n z u w e n den. Die Verfassung sei höchstes Recht, d e m sich alles andere Recht unterzuordnen habe. Die B e g r ü n d u n g aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum Urteil ausführlich etwa W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S. 5 ff.: ders.. E i n f ü h r u n g in das öffentliche Recht der U S A . 2. A u f l a g e 2001, S. 7 ff.; C. Egerer (1989). S . 4 1 8 ff.: D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S. 15 ff.; zur historischen Einordnung vgl. G. Stourzh. Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: z u m Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert. 1974. Aus der Flut der amerikanischen Literatur: E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan L. Rev. (1914). S. 538 ff.: ders., John Marshall and the Constitution: A Chronicle of the Supreme Court. 1921; C G. Haines. T h e American Doctrine of Judicial Supremacy. 2" 1 ed. 1959: R.L Clinton. M a r b u r y v. M a d i s o n and Judicial Review, 1989: aus jüngerer Zeit die umstrittenen Monographien von P. W. Kahn, T h e Reign of Law: M a r b u r y v. Madison and the Construction of A m e r i c a , 1997 sowie W.E. Nelson. M a r b u r y v. Madison: T h e Origins and Legacy of Judicial Review. 2000. Siehe auch L.D. Kramer. Foreword: We the Court, in: 115 Harvard L. Rev. (2001), S. 4 ff. 797 Die Kritik an diesem Urteil ist seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803 gab es Initiativen auf Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren ( „ i m p e a c h m e n t " ) gegen die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im (Wahl-)Jahr 1912 empfahl Präsident T. Roosevelr. Entscheidungen des Supreme Court, mit welchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig erklärt wurde, einer Volksabstimmung zu unterziehen, vgl. dazu K. Heller, Der S u p r e m e Court der Vereinigte Staaten von Amerika. Probleme eines Höchstgerichts, in: E u G R Z 1985, S . 6 8 5 f f . , 686. Siehe auch W.W. van Alstyne. A Critical Guide to M a r b u r y v. Madison, in: 1969 Duke L. J., S. 1 ff., 17 ff.
276
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
gen Funktionsverteilung zwischen Kongress und Präsident, entscheidet Konflikte zwischen Bund und Gliedstaaten oder mehreren Gliedstaaten und garantiert in letzter Instanz den Freiheitsbereich des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Diese Bereiche des Verfassungsrechts waren justiziabel geworden, nachdem über die Kernsubstanz, die Grundprinzipien der Verfassung seit Verabschiedung der Bundesverfassung in der politischen Überzeugung der amerikanischen Bevölkerung, letztlich der gesamten „Verfassungsöffentlichkeit" ein weitgehender, oft bedingungsloser Grundkonsens geherrscht hatte. Demzufolge kann die amerikanische ,judicial supremacy" 7 9 8 - als bislang fassbares „Endstadium" vorgenannter Entwicklung - in hohem Maße der philosophischen und verfassungspolitischen Homogenität des Landes zugeschrieben werden. Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen, als „gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden, „what the law is" 799 , wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als „supreme law of the land" (Artikel VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht. Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe „Suprematie" der richterlichen Gewalt die tatsächliche ..Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch betrachtet, der berühmte Vorsitzende auch schon gelegentlich als „zweiter Schöpfer der Verfassung bezeichnet". Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung seines originären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung ( J u d i c i a l supremacy") als Interpret und Gestalter der Verfassung begründete. Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch „the Court will decide" gelebter Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik. Dies widerspricht nicht der oben angestellten Betrachtung, der Supreme Court sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird ein Idealzustand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschaftsformen eingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber judiziell „erarbeitet": und die vorhandenen Möglichkeiten, um die „Suprematie" etwa durch nachgeordnete Verfassunggebung seitens der anderen Gewalten oder durch die
798 Insbesondere unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist der Begriff „judicial s u p r e m a c y " von scharfen Debatten begleitet. Er wird zwar größtenteils zu Recht als Faktum anerkannt, jedoch gerade im Hinblick auf die „checks and balances" zuweilen sehr kritisch beurteilt. Gleichwohl scheint die A n n a h m e einer „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der S u p r e m e Court doch lediglich zwischen 1 8 9 0 - 1 9 3 7 tatsächlich extensiv auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts z u r ü c k w i e s und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'sehen N e w Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Ü b e r w i n d u n g der Weltwirtschaftskrise blockierte.
799
J. Marshall in Marbury v. Madison, ebenda.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
277
Bevölkerung (constitutional Convention) zu entwerten, wurden in den Vereinigten Staaten höchst selten oder im Falle des Konvents noch nie ergriffen. Im Kontext des Amendment-Verfahrens wurde bereits angesprochen, dass es lediglich vier A m e n d m e n t s bedurfte, um höchstrichterliche Entscheidungen aufzuheben. 8150 Dies erscheint angesichts der geringen Anzahl an A m e n d m e n t s zunächst viel, ist bei einer Betrachtung der Flut verfassungserheblicher Entscheidungen des Supreme Courts jedoch wiederum verschwindend gering. bb) Anmerkungen z u m Wesen des J u d i c i a l review" Der S u p r e m e Court muss demzufolge auch zu den markantesten Faktoren des amerikanischen Verfassungs(fort)lebens gezählt werden. Dabei entpuppte sich das Instrument des „judicial review", die Machtposition gegenüber Hoheitsakten der Exekutive 8 0 1 sowie - praeter Constitutionen! - der Legislative des Bundes 8 0 2 und der Einzelstaaten, als elementarer Bestandteil amerikanischer Verfassunggebung. Wras ist aber nun das Wesen des J u d i c i a l review"? 8 0 3 Nach E.S. Corwin enthält das Konzept des „judicial review" drei Feststellungen: z u m einen, dass die Verfassung im Verhältnis zu allem sonstigen Recht höherrangig sei; zweitens, dass die rechtsprechende Gewalt die Zuständigkeit zur Auslegung der Verfassung und zu deren Anwendung auf Rechtstreitigkeiten umfasse; schließlich die Erkenntnis, die Auslegungen des Gerichts seien geltendes Recht und bindend auch für die anderen Gewalten. 8 0 4 Dadurch erlangt das Mittel des „judicial review" noch eine weitere Dimension. Während nämlich die rechtsschöpferischen Akte und Bemühungen nachgeordneter Gerichte von den zuständigen Legislativen durch einfaches Gesetz beseitigt werden können, beinhaltet J u d i c i a l review" die Befugnis, die Verfassung gerade in wesentlichen Fragestellungen gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit auszulegen und diese Interpretationen auch durchzusetzen. So betonte auch A. Bickel, J u d i c i a l review" sei „f ...1 the power to apply and construe the Constitution in matters of the greatest moment, against the wishes of legisla-
800
Siehe oben B.IV. L a ) .
801
Unabhängig von der ..political questions doctrine" hat sich der Supreme Court auch nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu entscheiden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon, 4 1 8 U . S . 6 8 3 (1974). durch die Präsident Nixon während der Watergate-Affäre zur Herausgabe von 64 Tonbändern aufgefordert wurde. 802
Vgl. Marbury v. Madison. 5 U.S. 137 (1803).
803
Laut W. Brugger wird ..judicial review" - gerichtliche Ü b e r p r ü f u n g - in den Vereinigten Staaten üblicherweise im Sinn der ( V e r f a s s u n g s g e r i c h t ! i c h e n Kontrolle staatlicher Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987, S. I F n . 2 . 804
Siehe E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan L. Rev. (1914), S. 538 ff., 552.
278
B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
tive majority, which is, in turn, powerless to affect the judicial decision" 805 . Der Supreme Court ergriff anläßlich dreier weiterer Fälle früh die Gelegenheit, den Grundsatz des „judicial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und diesbezüglich auszudehnen. 806 Schließlich wurde mit der Etablierung des „judicial review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Gesichtspunkt Verfassungsgericht!icher Einflussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entscheidung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische Einwirkungen abzusichern. Diesen Zusammenhang erkennt auch B.-O. Bryde, wenn er den „Einfluß, den ein Gericht [ . . . | gewinnt ( . . . | auch von seinem eigenen strategischen Verhalten" abhängig macht. 807 Eine offene Konfrontation mit mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen und als Kontrollorgan unbrauchbar. ..Die geniale Art und Weise, in der Marshall in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte, ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungspolitik." 808 Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle erfolgreichen Verfassungsgerichte späterer Epochen von diesem Beispiel profitiert haben.8(19 Marbury v. Madison „zementierte" den Gedanken der selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, die begrifflich eine „unabhängige, gegenüber anderen Staats-, bzw. Verfassungsorganen verselbständigte Institution mit bestimmten Kompetenzen bzw. Funktionen" 810 voraussetzt. 805
A. Bickel in seinem berühmten und umstrittenen Werk ..The Least Dangerous Branch", 1962, S. 16. Das Zitat soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bickel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury v. Madison und der Begründungsarbeit von J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rangordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass Gerichte befugt seien, Gesetze für nichtig („void") zu erklären. Ein Konflikt zwischen Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den Präsidenten und schließlich durch das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel (1962), S. 1 ff. Bickels Beanstandung kann allerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen nicht rechtlicher, sondern durchweg politischer Natur sind. Durch ein Infragestellen der grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel. 806 Siehe Fletcherv. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87.3 L. Ed. 162 (\S\0),Martin v. Hunter's Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 4 L. Ed.97 (1816); 19 U.S. (6 Wheat.) 264. 5 L. Ed. 257 (1821). 807 Vgl. B.-O. Bryde. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse/G. Folke Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und -politik in Umbruchsituationen, 1999. S. 197 ff.. 199. 808 B.-O. Bryde, ebenda. 809 Zum Instrument des „judicial review" aus rechtsvergleichcnder Perspektive: A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law. 1989.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
279
cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Amerika hatten von Beginn an auch Modifikationen in der durch den Supreme Court geprägten, spürbaren Struktur und Wirkung der amerikanischen Verfassung zur Folge. Der Gerichtshof bekleidete dabei unterschiedliche Rollen - von einem eher ruhigen, begleitenden Auftreten, über ein forderndes, vorantreibendes Verhalten bis zu gelegentlich hemmenden Aktionen gegenüber gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Das Wirken des Supreme Court kann dabei in drei größere Phasen unterteilt werden, die sich im selben Atemzuge durch jeweils grundlegende Richtungen richterlicher Verfassungsinterpretation auszeichnen. Damit soll auch der Versuch einer Antwort auf das oben beschriebene Problem des „Wendengeflechts" gegeben werden. s " Freilich ließen sich die strukturellen Neuerungen in immer kleinere, kürzere Abschnitte unterteilen ohne unbedingt die Berechtigung bedeutender Perioden zu verlieren. Gleichwohl birgt eine solche Unter-Gliederung stets die Gefahr einer banalen Aufzählung schlichter historischer Daten, mit allen Verästelungen und etwaigen Sackgassen, deren Beitrag zu den großen Linien gesellschaftlicher Entwicklungen möglicherweise lediglich marginal ist. Ohne den im einzelnen sicher notwendigen Blick auf ausgewählte wichtige Abschnitte zu verlieren, die dieser gröberen Einteilung untergeordnet sind, soll lediglich eine Auswahl vorgenommen werden.
(1)
Momentaufnahmen
einer
Verfassungsgerichtshistorie
Im Anschluss an 1789 bildete der alles überlagernde Gedanken einer „Stärkung der Union" eine erste Phase. Daran knüpfte sich der Zeitraum, der den Schutz des „laissez-faire"-Systems und privatwirtschaftlicher Interessen gegen staatliche Interventionen zum wesensbildenden Merkmal hatte, bevor in einem dritten bis heute reichenden Abschnitt ein verstärkter Schutz individueller Rechte und die Herstellung von Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte. Betrachtet man darüberhinaus die beiden Begriffe,Zentralisierung" und „Demokratisierung" nicht grundsätzlich als unvereinbar und als in der Kombination widersprüchlich, sondern eher zueinander in einem dialektischen Bezug und Spannungsververhältnis stehend, so lassen sich diese als langfristige Entwicklungskonstanten (nicht 8.0
So P Häberle. D a s Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001, S. 311 ff., 313 f. In Europa begründeten dieses Konzept freilich zunächst Österreich (1867 - auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes 1920 wieder aufgelebt, dazu wegweisend G. Jellinek. Ein Verfassungsgerichtshof f ü r Österreich. 1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Kelsens (vgl. etwa ders.. Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: V V D S t R L 5 (1929), S. 30 ff. 8.1
Siehe oben B. 1.7.
280
B. V e r f a s s u n g s e r w e c k u n g und V e r f a s s u n g s b e s t ä t i g u n g
ohne gelegentliche Gegenbewegungen) konstatieren. Hierbei ist in einer ersten oberflächlichen Definition unter „Zentralisierung" im Wesentlichen die Stärkung der Stellung der Bundesorgane gegenüber den Einzelstaaten zu verstehen. Die „Demokratisierung" bezieht sich in diesem Kontext primär auf die amerikanische Bundesverfassung und muss im Zusammenspiel mit der ebenso erfolgten „Liberalisierung" derselben gesehen werden. Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200 Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch angesichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu diskutierende Schutz der Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke 812 - und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Gerichtsbarkeit ist nicht mit der anderer Verfassungsorgane, etwa des Parlaments oder der Regierung, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln (als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenenfalls durchsetzen können. Sie beruht einzig und allein in der gesellschaftlichen Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes. Seine Stellung als letzte und damit allgemein verbindliche Interpretationsinstanz für die Verfassung, eine Position die auf Marbury v. Madison beruht, hat es dem Supreme Court ermöglicht, in praktisch alle Lebensbereiche einzuwirken. Ein Umstand, den der Gerichtshof in seiner bewegten Geschichte gründlich (aus)genutzt hat. Unter den amerikanischen Verfassungsorganen wirkt er einzig unmittelbar sowohl auf Bundesrecht wie auch auf die den Gliedstaaten vorbehaltenen Bereiche der Rechtsetzung ein. Nachdem der nahezu ehern entwickelte Grundsatz des ,judicial review" im Zusammenspiel und in annähernder Kongruenz mit dem Begriff der J u d i c i a l supremaey" letztlich dazu führt, dass die Entscheidungen des Gerichts ausschließich in dem schwerfälligen AmendmentVerlahren außer Kraft gesetzt werden können, hat sich der Supreme Court eine Stellung von einzigartigem Einfiuss auf gesellschaftliche wie politische Verhältnisse geschaffen. C.E. Hughes wußte diese Gegebenheit mit leicht resignativem Unterton zu kommentieren: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is." 813 Wie bereits dargestellt ermöglichte es Marbury v. Madison dem Supreme Court. Gesetze und Verwaltungsakte von gliedstaatlichen Parlamenten. Kongress und Regierungen anhand konkreter Rechtsstreitigkeiten zu überprüfen und gegebenen-
812
Dazu unten B.IV.2b)cc)(2). Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907. zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional Law. Cases-Comments-Questions, 1986. S. 8. 813
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
281
falls für verfassungswidrig zu erklären. Hiervon machte der oberste Gerichtshof anfangs über lange Jahr nur in begrenztem Ausmaße Gebrauch, um die Befugnisse von Bundesregierung und Gliedstaaten gegeneinander abzugrenzen und um das Privateigentum vor unangemessenen Eingriffen der Einzelstaaten als auch des Bundes zu schützen. In die Amtszeit J. Marshalls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute wegweisenden Fälle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundeskompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten geprägt waren. Mit Martin v. Hunter's Lessee814 dehnte der Supreme Court seine Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genannten Entscheidungen sind deutliche Beispiele für das anfängliche Bemühen des Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staatsgewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch v. Maryland aus dem Jahre 1819 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich, die ursprünglich limitierten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten Gegenstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern. 8 , 5 Der Supreme Court stellte in der Begründung die in Artikel I § 8 aufgeführte „necessary and proper"-Klausel mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses trügen gleichzeitig die Befugnis in sich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und angemessenen Gesetze zu erlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte J. Marshalls: ..Let the end be legitimate, let it be within the scope of the Constitution, and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end. which are not prohibited, but consist with the letter and spirit of the Constitution, are constitutional." 8 1 6
Bis heute beansprucht diese Interpretation Geltung für die Beurteilung der Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam scheinende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Gliedstaaten wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden817 ausgelöst. Bereits damals stützte sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit völlig konturlose) Auslegung der ..interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der Bundesverfassung.
8.4
14 U.S. (I Wheat.) 304 (1816).
8.5
Vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U . S . (4 W h e a t . ) 3 1 6 (1819). Der S u p r e m e C o u r t erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States) durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für verfassungswidrig. 816
McCulloch v. Maryland, ebenda. S. 421.
8,7
22 U.S. (9 Wheat.) I (1824).
282
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scott v. Sandford81s eine Entscheidung, die ihm geballte, aus den Reihen der Nordstaaten wütende Entrüstung entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scott als eines der verheerendsten und juristisch selbstherrlichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungsgeschichte erachtet 819 , das als „prononcierteste Frühentscheidung des Supreme Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [ . . . ] Zeugnis von einem Geburtsfehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]." 820 Der Fall hatte die Frage zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Territorium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und nichtig seien. Das gelte für den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso für den Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens im Sinne der Sklavenhalter pervertiert. Dred Scott verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirtschaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivilisiertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grundwerte, ja über das, was Recht und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden für eine gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte. Verfassungsgerichten wohnt also, wie bereits dieses Beispiel anschaulich darlegt, neben ihrer Einordnung als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels auch stets die latente Gefahr inne. Auslöser gesellschaftlicher Brüche oder wenigstens „Wenden" im bereits genannten Sinne zu sein. Andererseits ist es auch der Dred Sow-Entscheidung mit zuzuschreiben.
818
60 U.S. (19 How.) 3 9 3 (1857).
819
Siehe nur LH. Tribe. A m e r i c a n Constitutional Law. 3"1 ed. 2000, S . 5 4 9 : „ [ . . . ] infamous decision [ . . . ] often recalled for its politically disastrous dictum [ . . . ] " ; W. Wiecek in: K. H a l l / J . W . E l y / J . B . G r o s s m a n / W . Wiecek (eds.), T h e Oxford c o m p a n i o n to the Supreme C o u r t of the United States, 1992. S. 380: „ [ . . . ] the greatest disaster the S u p r e m e Court has ever inflicted on the nation." H2
" C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996. S . 2 4 mit einer breiten Darstelung der Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. O.. S. 24 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
283
dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments 13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scott letztlich ad absurdum geführt wurde. Das zweifellos beschädigte Vertrauen in die Rechtsprechung des Supreme Court konnte dieserdurch gezielt eingesetzte Zurückhaltung in einigen prekären Entscheidung während der „reconstruction era" genannten Phase wieder verbessern. 821 So wies der Gerichtshof in Mississippi v. Johnson*" einstimmig das Klagebegehren, dem Präsidenten die Anwendung des ..reconstruction act" zu untersagen, mit der Feststellung zurück, das Gericht könne den Präsidenten nicht an einer Anwendung eines angeblich verfassungswidrigen Gesetzes hindern. Eine vergleichbare Zurückhaltung offenbarte der Supreme Court in Ex parte McCardle82\ Allerdings begann der Supreme Court im 20. Jahrhundert immer deutlicher, im Besonderen durch seine Entscheidungen in Grundrechtsfragen, die Verfassung und das politische System fortzuentwickeln und den Alltag der Bürger zunehmend mitzubestimmen. 8 2 4 Hierunter fiel anfangs vor allem die relativ weite Auslegung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die ihre Verankerung im ersten Amendment findet und die nunmehr nicht nur gegen Einschränkungsversuche der Bundesregierung sondern auch der Gliedstaaten behauptet wurde. Es folgten das Verbot der Rassentrennung und der Diskriminierung von Minderheiten auf der Grundlage des 14. Amendments sowie die Garantie eines fairen Prozesses für den Angeklagten, die tief in das gesamte Polizei und Justizwesen eingriff. Erwähnung verdient auch das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf eine Privatsphäre, gegen das beispielsweise die von Einzelstaaten angeordneten Verbote von Verhütungsmitteln und Abtreibungen verstießen.
821
Als „reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa ein Jahrzehnt d a u e r n d e Periode des „ W i e d e r a u f b a u s " des amerikanischen Bundesstaates bezeichnet, dessen Z u s a m m e n h a l t unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den „reconstruction a m e n d m e n t s " ( 1 3 - 1 5 ) zur amerikanischen Verfassung und mit d e m „reconstruction a c t " aus d e m Jahre 1867. Mit den A m e n d m e n t s wurde unter a n d e r e m die Sklaverei abgeschafft. alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das Wahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete „reconstruction act" verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und D u r c h f ü h r u n g von Neuwahlen unter militärische Kontrolle. 822
71 U . S . 4 7 5 (1867).
823
74 U.S. 5 0 6 (1869). In dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittelinstanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter entschlossen sich nach d e r mündlichen Verhandlung im M ä r z 1868 mehrheitlich für eine Verzögerung der Entscheidung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begründende N o r m außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des S u p r e m e Court ab. 824
Aus der deutschen Literatur J. Heideking, E i n f ü h r u n g in die amerikanische G e schichte. 1998, S. 68 f.
284
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unterworfen sind. Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der Rassentrennung (Segregation) mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 1954 urteilte eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung (Brown vs. Board of Education*25), dass die Segregation der Verfassung widerspreche und deshalb aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein. Um den politischen Wandel zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in Verbindung mit realer Politik gebracht werden. Im übrigen können sich im Zusammenhang der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Prozess des gesellschaftlichen Wandels durchaus Ähnlichkeiten, wenn nicht sogar Überschneidungen zu den Funktionen der Verfassung" 6 ergeben. Wagt man den Schritt von der „Funktion" zur „Aufgabe", so fallen der Verfassungsgerichtsbarkeit einige „.Aufgaben" zu, die im Verfassungskontext als „Funktionen" zu betrachten sind. Wieso sollte man der Verfassungsgerichtsbarkeit also nicht auch die Aufgabe der ..Bestandssicherung für Verfassungsnormen als ranghöchste Normen", eine „Schutzaufgabe durch Machtbegrenzung" oder eine „Integrationsaufgabe" zuweisen? Andere „Funktionen" der Verfassung lassen sich wohl schwieriger direkt in eine „Aufgabe" übertragen (etwa die der als „rechtliche Grundordnung" oder die „programmatische Funktion - Verfassung als ,Verhaltensentwurf"' und die „Legitimationsfunktion"). Es soll jedoch an die oben bereits genannten „typischen Elemente selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit" 827 und „Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erinnert werden. Dort fand sich unter Berufung auf P. Häberle der Begriff der „rationalen Rechtsprechungstätigkeit", wobei es nach diesem dabei auch um eine „Tätigkeit im Dienste der .Bewährung' nicht bloßer .Bewahrung' der Verfassung" geht. Diesem Aspekt könnte auch eine Zuordnung der drei letzten genannten Verfassungsfunktionen unterworfen werden. Wenn man nämlich Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Lichte des „Bewährens der Verfassung" betrachtet, so muss das oberste Rechtsprechungsorgan (auch unter gelegentlichem ..Bewahren") zwangsläufig ein „Bewähren" aller Verfassungsfunktionen gewährleisten.
825
347 US 4 8 3 (1954).
826
Dazu eingehend und in einer allgemeinen Darstellung etwa H. Schulze-Fielirz, Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz, in: J.J. H e s s e / G . F . S c h u p p e r t / K. H a r m s (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. Zur Rolle des Rechts in staatlichen Transformationsprozessen in Europa. 1999. S. 65 ff.. 66 ff. 827
Siehe auch P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 316 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
285
Ein deutliches Beispiel, d a s s z w a r t r e n n s c h a r f bei einer D a r s t e l l u n g d e r Prinzipien und Funktionen der einzelnen Teilbereiche (wie „Verfassung", „Verfassungsger i c h t s b a r k e i t " o d e r „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n " ) v o r z u g e h e n ist, g l e i c h w o h l j e d o c h mit einer R ü c k b e s i n n u n g auf die inneren Abhängigkeiten dieser Bereiche auch die Ü b e r s c h n e i d u n g e n , gelegentlich die K o n g r u e n z gewisser A x i o m e im Blick zu behalten sind.
(2)
Der
Verfassungsrichter
Anmerkungen
zur
zwischen
,.political
Recht
question
und
Politik
-
doctrine"
N a c h d e m nahezu j e d e r gesellschaftliche Konflikt als Freiheits- und Gleichheitsproblem formuliert werden kann, darf die Frage aufgeworfen werden, ob Verfassungsgerichte in j e d e m dieser Konflikte d a s letzte Wort haben sollen, selbst w e n n d i e V e r f a s s u n g n u r ein vages Prinzip von Persönlichkeitsentfaltung und G l e i c h b e h a n d l u n g vorgibt, über d a s die Verfassungsrichter g e n a u s o unterschiedliche Ansichten vertreten wie Bürger und Politiker? Die herrschende, gleichwohl heftig b e k ä m p f t e Meinung828 in den U S A bejaht diese Frage. D a s Spannungsfeld
828 Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im G e wand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Bendd, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, in: Z R P 1977, S. 1 ff.. 4. Die Problematik ergibt sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das über Fragestellungen zu entscheiden hat. die von erheblichen politischem Einschlag sind. Die richterliche Stellung wird doppelt kritisiert, einmal im Z u s a m m e n h a n g mit den „ g e h e i m e n " Wahlen und dem e n o r m e n politischen Einlluss durch die politische N o m i n i e r u n g und des weiteren aus der politischen Entscheidungskraft d e r einzelnen Richter. Die Literatur versucht eine Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben sollten (dazu M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, in: N J W 1976, S . 7 7 7 ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der juristischen Argumentation an politischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauensverfahren nachgewiesen (vgl. E u G H . E u G R Z 1976. S. 11; E u G H . E u G R Z 1983. S . 5 0 0 ) . Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland o f t unter dem Stichwort der political question doctrine geführt. Dabei werden die Möglichkeiten der A n w e n d u n g dieses aus d e m amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Werl durch das Bundesverfassungsgericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung der Bundesrepublik und lehnt ihre A n w e n d u n g durch das Bundesverfassungsgericht ab (S. etwa C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des BVerfG. 1996. S. 230: K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 2. Aufl., 1996. S. 151.; J. Bliiggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht. 1998. S. 177 ff.). Der Gedanke zur Entpolitisierung der Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht für abwegig gehalten. Dennoch sind es nur wenige Stimmen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja
286
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, ruft man sich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Erinnerung: (1) die Sicherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe, (2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozesses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate. 8 2 9 Gerade hinsichtlich des dritten Punktes droht, wenigstens bei ausufernder Inanspruchnahme der Prüfungskompetenzen, die Ersetzung der legislativen Prioritäten durch eine Herrschaft der Richter. Will man gleichzeitig die Kompetenzen des demokratischen politischen Prozesses sichern und starken und insgesamt in diesem Bereich mehr Qualität fordern, so ist die Debatte über die Beschneidung verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen letztlich unvermeidlich. Allgemein und freilich simplifiziert beruht der Legitimitätsanspruch der Gerichte auf ihrer Fähigkeit, Kontroversen solchermaßen in rechtliche Argumente zu übersetzen, dass sie entscheidbar sind, ohne dem Verlierer noch eine Chance der Unterstützung für die Fortsetzung des Streits zu g e b e n . " 0 Lässt ein Urteil mehrere Varianten der Auslegung zu. gerät das Gericht konsequenterweise selbst in den Streit. Nicht nur in den Vereinigten Staaten lösen Entscheidungen zunehmend symbolische Kreuzzüge aus, anstatt politische Diskussionen beizulegen. Diese Tendenz des Gerichts, seine Rechtsprechung bis in politische Maßnahmen hineinreichen zu lassen, und zudem die Verfassung als fortwährende Weiterentwicklung immer neu zu interpretieren, bringt sie selbst in die politische Diskussion. Sie gefährdet damit zwei Erfolgskriterien, die über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Verfassungsgerichts entscheiden : zum einen, inwieweit den Entscheidungen Folge geleistet wird, sondern auch inwieweit diese andere Entscheidungsarenen determinieren. Daran gemessen erreichen manche Verfassungsgerichte bereits die Grenzen der Akzeptanzbereitschaft innerhalb der jeweiligen Rechtskultur. Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier diskutierten Gestalt der Verfassungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte ..political question". 8 3 1
sogar dessen A n w e n d u n g durch das Bundesverfassungsgericht schon als vorhanden ansehen (so K. Dolzer. Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane. 1982. S . 2 9 f f . am Bsp. von E u G R Z 1983. 57 (70)). 829
Vgl. auch \V. Brüggen Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 3 / 1 9 9 4 . S. 22ff, 23. 830 831
Vgl. auch N. Lahmann, Legitimation durch Verfahren. 1969.
Hierzu insbesondere F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die Political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court. 1965. Vgl. auch den Überblick bei H. Ltuifer. Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess. 1968. S. I ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
287
Mit dem Fall Luther v. Borden (1849) 832 hat der Supreme Court, um zunächst der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der „political question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demokratischen Prozess einzumischen. Vordergründig sollte die Rolle des Richters als politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. In anderen Worten: weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden. 833 So viel zur Theorie. Allerdings: Die Rolle des „stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus auch bereits eine politische Dimension in sich tragen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der Rechtsprechung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen. 834 In der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten „Lochner-Ära" (etwa zwischen 1905 und 1937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzeswerk einer umfassenden Kontrolle unterzogen („strict scrutinity test"). Basierend auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er im einzelnen überprüfte. Annähernd 160 Gesetze hielten schließlich dieser Überprüfung nicht stand. Wohingegen sich der Gerichtshof in der sogenannten „NachLochner-Ära" nach 1937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur dann für verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei wählen konnte („rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Rechtsprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der 1936 in der Blütezeit der sogenannten „New Deal"-Gesetzgebung, in der der Supreme Court ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm des Präsidenten Rosseveit für verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichende Meinung wie folgt begründete: ..The power of courts to declare a Statute unconstitutional is subject to two guiding principles of decision which ought never to be absent from judicial consciousness. One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. T h e other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative
832
4 8 US (7 How.) 1. 12 L. Ed. 581.
833
Siehe auch B. Kroll. Der S u p r e m e Court - das oberste Gericht der U S A . in: JuS 1987. S. 9 4 4 ff.. 947. 834 Dazu aus Gewaltenteilung, Vom Rechtsstaat Grundrechte und
dem deutschen S c h r i f t t u m J. Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. zum Rechtswegestaat. 1999. S. 109 ff., 110 ff. und vor allem W. Brugger. Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987. S. 38 ff.
288
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
branches of the government is subject to judicial restraint. the only check upon our own exercise of power is o u r own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from the Statute books appeal lies, not to the courts. but to the ballot and to the processes of democratic government."*"
Soweit ersichtlich taucht an dieser Stelle der Begriff „self-restraint" im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erstmalig auf. Im Wesentlichen geht es bei der Beantwortung der Frage, ob nun eine „political question" vorliege stets um die selben Problemkreise: Handelt es sich um eine Rechtsfrage, was ist also justiziabel, und was eine „political question"? Im Ergebnis lässt sich dabei keine stringente Rechtsprechung des Supreme Court erkennen. Studiert man die Fülle der Entscheidungen des Supreme Court zur political-question-Theorie, so lässt sich eine klare Linie schwerlich feststellen; sie wird äußerst flexibel gehandhabt. Nur zählt es zum Geheimnis des Supreme Court festzulegen, wann er eine politicalquestion annimmt und wann nicht. Manche Sozialwissenschaftler haben zuweilen von einer richterlichen Vorherrschaft im amerikanischen Herrschaftsprozess gesprochen. Bei näherer Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der USA erscheint jedoch etwa der Begriff „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1 8 9 0 - 1 9 3 7 extensiver auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Rooseveltschen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. Ansonsten aber hat sich das Oberste Bundesgericht in vergleichsweise nüchterner Einschätzung etwaiger Friktionsfelder und potentieller Ansehensverluste politischen Auseinandersetzungen eher entzogen und sich bevorzugt für unzuständig erklärt als in öffentliche Konflikte eingemischt. 836 Alles in allem hat aber die mehr als zweihundertjährige Rechtsprechung dem Obersten Gericht soviel Autorität eingetragen, dass es längst zum respektierten Partner im Geflecht der checks and balances, der politischen Willensbildung und Machtausübung geworden ist. Demoskopische Erhebungen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder belegt, dass das Ansehen der Institution Supreme Court in der Bevölkerung viel größer ist als dasjenige der Präsidentschaft, vom Kongress ganz zu schweigen.
835 836
United States v. Butler. 297 U.S. 1 (1936).
Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die Verantwortung f ü r die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann solche Fälle zu ..political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit möglichen internationalen Implikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswärtigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen. Grenzstreitigkeiten. Anerkennung von Staaten. Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
(3)
Iiikurs:
289
„counter-majoritarianism"
Die Praxis des Supreme Courts, durch ständige Auslegung den Verfassungstext veränderten äußeren Umständen anzupassen ist letztlich bedeutsamer als die die gelegentlich spannungsgeladenere und im Ausland bis heute mehr beachtete Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur einen kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Verfassung durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt. 8 ' 7 In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Verfassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der „counter-majoritarianism" reduziert. also auf das Problem der „gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in Deutschland oder Österreich dient letzteres vielen als eines der führenden Paradigmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin. S3S Grundsätzlich ist die Debatte über das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden. 839 Hierbei wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird. Gesetze eines demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch diesbezüglich Politik treiben, anstatt Recht zu sprechen. Befürworter wollen dagegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die „Selbstbindung" der Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten" 0 . Für
837
So bereits K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S . 3 6 . s 58
Hierzu insbesondere A Bickel, T h e Least Dangerous Branch - T h e S u p r e m e Court at the Bar of Politics, 1962. Es sind j e d o c h vermehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu erhöhten Stellung dieses G e d a n k e n s kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A.Ackerman, T h e Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984), S. l()13ff. S. 1016: „Hardly a year goes by without some learned professor a n n o u n c i n g that he has discovered the final Solution to the countermajoritarian difficulty. or, even more darkly, that the countermajoritarian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemerinsky, T h e S u p r e m e Court 1988 Term - Foreword: T h e Vanishing Constitution, in: 103 Harvard L. Rev. (1989). S . 4 3 f f . ; ders., T h e Price of Asking the Wrong Question: An Essay on Constitutional Scholarship and Judicial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1984). S. 1207 ff.: B. Friedman. Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993), S. 577 ff.; jVf. V. Tushnet. Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory, in: 83 Michigan L. Rev. (1985), S. 1502 ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik („the majoritarian difficulty") auch S. Croley, T h e Majoritarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule of Law. in: 62 T h e University of Chicago L. Rev. (1995), S. 689 ff. 839
Für die amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (1962) und J.H. Ely, Democracy & Distrust. 1980; vgl. allgemein M. Cappelletti, T h e Judicial Process in Comparative Perspective. 1989. S. 3 ff.; für das deutsche Recht ist die Auseinandersetzung in der Weimarer Republik zwischen C. Schmitt und H. Kelsen immer noch äußerst beachtenswert. 840
Vgl. etwa U.K. Preuß, Umrisse einer neuen konstitutionellen Form des Politischen, in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994. S. 123 ff.
290
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
jVf. Cappelletti drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus. und Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte 841 . Dieser normative Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist. 842 . Entscheidend ist, dass diese Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt wird und sich gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der einen Seite steht dabei typischerweise die Ideologie der „Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkungen des Mehrheitswillens als „undemokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite offenbart sich der „Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen unterordnet. Der „Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik - und damit auf den „Rechtsstaat", ist aber weniger mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, als eher mit dem gesetzgebenden Parlament verbunden. c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichts barkeit - Richtwerte für den EuGH? Gerade im Hinblick auf eine Überprüfung der verfassungsgerichtlichen Elemente des EuGH sollen auch übergreifend kennzeichnende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit wenigstens angerissen werden, wobei bereits hier festgestellt werden darf, dass es bei den Kompetenzen und Funktionen durchaus zu Verschränkungen kommen kann, was auf dem Umstand beruht, dass beide unmittelbar einander zu bedingen wissen. Wie anders sollte beispielsweise die Funktion der Wahrung der Gewaltenbalance ohne die Kompetenz über Organstreitigkeiten aufrecht zu erhalten sein? Oder eine wirkungsvolle, evolutive Grundrechtssicherung ohne wenigstens eine dem Verfassungsbeschwerdeverfahren ähnliche Kompetenz herstellbar sein?
1,41
M. Cappelletti (1989), S. 118. 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren, dass es schlicht sinnvoll sei, eine Instanz zu schaffen, die auf juristischem Wege politische Konflikte letztendlich entscheidet. Dies setzt aber voraus, dass man die Vorherrschaft des Rechts anerkennt. * 42 Einiges m a g d a f ü r sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als „Dritte K a m m e r " des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Stone, T h e Birth of Judicial Politics in France. 1992. S. 209 ff.). W i e bereits der „ S c h ö p f e r " des europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit. H. Kelsen. festgestellt hat. wird ein Verfassungsgericht unvermeidlich legislativ tätig.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
291
aa) Verfassungsgerichtlichc Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten Im vollausgebildeten Konstitutionalismus stellt sich zudem die Frage des Verfassungsgericht! ichen Interpretationsmonopols, so wie es sich in den USA herausgebildet hat. Diese Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur prägt zunehmend „westliche", auch ansatzweise „nicht-westliche" Verfassungsstaaten. Ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungshermeneutik ist umfassend und jenseits schüchterener Debatten vorläufig nur in den USA in Gang gekommen. Er bewegt sich „Toward a Constitutional Hermeneutics" 841 , wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden „interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" niederschlägt 8 4 4 und in einen weiteren Zusammenhang von „katholischen" und „protestantischen" Interpretationsschemata erstellt wird 845 . Diese stets politisch aufgeladenen Diskurse offenbaren die grundsätzliche Notwendigkeit einer vergleichend untersuchenden Verfassungshermeneutik in den mit verfassungs-richterlichem Prüfungsrecht ausgestatteten Politien der USA. Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frankreichs. Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa erst spät Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einfluss des Staatsrechtlers H. Kelsens, ein wirklich aktives Verfassungsgericht in der Verfassung zu verankern. Die Ausbreitung dieser Institution fand in Westeuropa erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfügen, so wie etwa England. Auch Frankreichs court constitutione! verfügt nicht über die Kompetenzen z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können. Mit Vorsicht ist eine Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die historische Entwicklung des ..Rechtsstaats" oder der „Rule of L a w " zu behandeln, wie das deutsche und das englische Beispiel zeigen. 846 843
G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics. in: A m e r i c a n Journal of Political Science, No'. 2, vol. 32, 1988. S. 369 ff. 844
Dazu etwa D. P. Kommers, T h e Supreme Court and the Constitution: T h e Continuing Debate on Judicial Review, in: T h e Review of Politics. No. 3, vol. 47, 1985. S. 113 ff. 845
Hierzu beispielsweise das wichtige Werk von H. Levinson. Constitutional Faith.
1989. 846
Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern hat sich in einem ganz bestimmten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t findet weltweit zur D u r c h s e t z u n g ihrer jeweiligen V e r f a s s u n g i m m e r weitere Verbreitung und trägt d a m i t in den e n t s p r e c h e n d e n Ländern implizit zur Festigung oder A u s f o r m u n g gewisser gesellschaftlicher Strukturen bei. Z u r Verwirklichung der normativen A n f o r d e r u n g e n und zur Erhaltung des verfassungsrechtlichen K o n s e n s e s leisten Verfassungsgerichte e i n e n wesentlichen Beitrag. Die Verfassung wäre o h n e die Verfassungsgerichtsbarkeit lediglich auf ihren sozialen, g e s e l l s c h a f t l i c h e n Rückhalt verwiesen.847 Um aber eine in Konfliktfällen drohende Aufzehrung des verfassungsrechtlichen Konsenses z u v e r m e i d e n , ist d i e E i n r i c h t u n g d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t n a h e z u u n v e r z i c h t b a r . V e f a s s u n g s g e r i c h t e n ist g r u n d s ä t z l i c h d i e M ö g l i c h k e i t g e g e b e n , e i n e n von politischen und H a n d l u n g s z w ä n g e n sowie M a c h t e r h a l t u n g s i n t e r e s s e n vergleichsweise u n a b h ä n g i g e n Blick auf die Verfassung zu werfen. Politisch wie gesellschaftlich b e d e u t s a m und g e g e b e n e n f a l l s w i r k u n g s v o l l e r als die konkrete Gerichtsentscheidung kann dabei die generelle Existenz der gerichtlichen Kontrolle bereits im Vorfeld einer „ d r o h e n d e n " Auseinandersetzung mit anschließender Entscheidung in einer Streitsache sein, da Beteiligte w i e politische Instanzen g e z w u n g e n sein k ö n n e n , die V e r f a s s u n g s f r a g e bereits verhältnismäßig früh und u n a b h ä n g i g zu stellen.848
Deutschland aus d e m für die Restaurations/.eit nach den Unruhen von 1848 charakteristischen Kompromiss z w i s c h e n Liberalismus und Konservatismus. Deswegen unterscheidet sie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ..Rule of Law". Die Ideologie der „Rule of Law" entstand historisch in England unter dem Einfiuss einer starken Mittelklasse, die das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie, während die kontinentalen Rechtsstaatsprinzipien sich vor d e m Hintergrund von machtvollen und zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die ..Bourgeoise" nicht niederreißen konnte, sondern an denen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu erreichen. Der ..Rechtsstaat" e r w i e s sich flexibel genug, um im monarchisch-bürokratischen Kaiserreich genau w i e der Weimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staatsprinzipien zu sein. Der Inhalt des Begriffs hat sich jedoch seit seinem ersten Gebrauch radikal verändert, wenn man seine heutige Bedeutung im deutschen Staatsrecht, die auch demokratische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen Verfechter hatten. Ähnliches gilt für die „Rule of law". War diese Doktrin anfänglich vor allem eine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der S u p r e m e C o u r t eine Rechtsprechung geschaffen, die den Staat auf die Durchsetzung von Bürgerrechten v e r p f l i c h t e t - e i n e am A n f a n g des 19. Jahrhunderts undenkbare Entwicklung. Eine Minimaldefinition des „Rechtsstaats" könnte gleichwohl auch den Begriff „Rule of Law" umfassen. Eine u m f a s s e n d e Bibliographie zum T h e m e n k o m p l e x „Rule of L a w " findet sich auf der Website der Wellbank unter http:/Avwwl.worldbank.org/publicsector/legal/annotated.pdf. 847
Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungsrechtliche Anforderungen ausschließen, vgl. auch D. Grimm. Verfassung, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 7. Aufl.. Bd. 5, 1989 und 1995. S. 6 3 4 ff.. 639. 848 Bei einem Scheitern dieser „vor-gerichtlichen W i r k u n g " ist es dann A u f g a b e eines funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung dem politischen o d e r gesellschaftlichen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensbasis widerstreitender Interessen wieder zuzuführen. D.Grimm (1989 und 1995) betont aber
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
293
Mit dem Argument, auch Verfassungsgerichte seien gesellschaftlich oder öffentlich verantwortlich, wird teilweise in der Politik- und Rechtslehre der Versuch angestellt, eine der Politik äquivalente Verantwortlichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit zu formulieren. 8 4 9 Dieser Gedanke verdient Unterstützung, da er alle Beteiligten der Verfassungsöffentlichkeit daran erinnert, was „Verfassung" neben allen anderen Definitionen noch ist: ein Leitfaden für Verantwortungsübernahme, ein Dokument zur Regelung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Dabei sollte im verfassungsgerichtlichen Kontext allerdings eine Differenzierung von individueller Verantwortlichkeit der Richter und institutioneller Verantwortlichkeit des Gerichts vorgenommen werden. 8 5 0 Selbstverständlich sind zu den verfassungsgerichtlichen Kompetenzen neben den beiden bereits genannten die konkrete und abstrakte, die vorbeugende und auch gegebenenfalls völkerrechtliche Normenkontrolle, unterschiedliche Verfassungsschutzverfahren sowie in föderalen Ordnungen Bundesstaatsstreitigkeiten zu zählen. Wahlprüfungsverfahren und Gutachtenkompetenzen sollen nicht unerwähnt bleiben, wenngleich für den berechtigten Status eines Gerichts als Verfassungsgericht insgesamt nicht alle Kompetenzen gegeben sein müssen. Allerdings ist ein Mindestmaß an verfassungsgerichtlichen Funktionen zu fordern, die von der Grundrechtssicherung über den Schutz maßgeblicher Verfassungsprinzipien (wie Demokratie. Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Verfassung 8 5 1 , Gewaltenbalance im Kontext mit der Trennung der Staatsgewalten) bis zur Sicherung des Pluralismus und implizit d e m Minderheitenschutz zu reichen haben. 8 5 2 Für die europäischen, einzelstaatlichen Verfassungsgerichte ist das Aufrechterhalten einer kooperativen zutreffend, dass ,.|d]ie Bereitschaft, Machtfragen durch Gerichte schlichten zu lassen, I . . . ] freilich soziale und kulturelle Wurzeln [hat], die keineswegs überall, wo eine Verfassung besteht, gegeben sind. Fehlen sie. werden Verfassungsgerichte mit den Machthabern kurzgeschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Beide Male ist der Schaden für die Verfassung größer als beim völligen Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit." 849 Siehe etwa M. Cappelleiti, Who Watches the Watchmen?, in: ders., The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989. S. 57 ff.. 79 ff.: dazu auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit. Demokratie und Mißtrauen. 1998. S. 200 f. 850 Siehe auch B. Friedman, Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993). S. 577 ff. 851 Über die Verfassungsgerichtsbarkeit als ..Instrument zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung" sehr instruktiv C. Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. in: C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa. Teilband I: Berichte. 1986. S. 11 ff. Zu den antiken Grundlagen auch des Prinzips des Vorrangs der Verfassung vgl. bereits E.S. Corwin, The ..Higher Law". Background of American Constitutional Law, in: 42 Harvard L. Rev. (1928), S. 149ff. 153 ff. 852
Vgl. auch die Aufzählung bei P. Hiiberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 311 ff., S. 319. der noch die „friedliche Einordnung des nationalen Verfassungsstaates in regionale Verantwortungsgemeinschaften" unter dem Stichwort der „Völkerrechtsfreundlichkeit" und „die behutsame, buchstäblich so verstandene .Fortschreibung - der Verfassung" nennt.
294
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
B e z i e h u n g z u m E u G H m i t e i n z u b e z i e h e n ( o h n e dabei n ä h e r auf den v o m B V e r f G geprägten Begriff des „Kooperationsverhältnisses" eingehen zu müssen).853 D a n e b e n lässt sich a n w e i t e r e n V a r i a b l e n , die d e n g e n a n n t e n E l e m e n t e n e i n e r s e l b s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t h i n z u g e f ü g t w e r d e n sollen, d e r Institut i o n a l i s i e r u n g s g r a d von V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n m e s s e n 8 5 4 D a b e i ist z u n ä c h s t d i e Autonomie zu n e n n e n , als Fälligkeit von Institutionen, u n a b h ä n g i g e E n t s c h e i d u n g e n zu t r e f f e n u n d u m z u s e t z e n . Je w e n i g e r sie dabei in A b h ä n g i g k e i t z u a n d e r e n I n s t i t u t i o n e n s t e h e n , d e s t o h ö h e r d e r Institutionalisier u n g s g r a d . Trotz ihres R a n g e s als V e r f a s s u n g s o r g a n sind die V e r f a s s u n g s g e r i c h t e nicht in d e r L a g e , ihre E n t s c h e i d u n g e n selbst d u r c h z u s e t z e n , s o n d e r n h ä n g e n d a b e i v o n d e r A k z e p t a n z ihrer J u d i k a t e bei d e n A d r e s s a t e n a b . b z w . von deren B e r e i t s c h a f t , ü b e r h a u p t e i n e j u d i z i e l l e K o n f l i k t b e i l e g u n g zu w ä h l e n und nicht in andere Formen der Konfliktbewältigung auszuweichen. Diesbezüglich wird man d e m S u p r e m e C o u r t d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n e i n e n h o h e n G r a d a n institutioneller A u t o n o m i e z u b i l l i g e n k ö n n e n . Prinzipiell d ü r f t e a b e r d e r A u t o n o m i e g r a d i m B e r e i c h d e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g w e s e n t l i c h h ö h e r als i m B e r e i c h d e r U m s e t z u n g sein, w a s d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e w i e d e r u m d u r c h s p e z i e l l e F o r m e n w i e A p e l l e n t s c h e i d u n g e n , v e r f a s s u n g s k o n f o r m e A u s l e g u n g o d e r a u c h Fristsetzungen zu kompensieren suchen.855
853
Vgl. beispielsweise U. Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift E.Grabitz, 1995, S . 5 7 f f . : ders.. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union. 1995. S. 256 ff.: M.A. Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens. in: O . D u e u.a. (Hrsg.), Festschrift für U.Everling. 1995. Band 1, S . 2 2 3 f f . : C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, 489 ff.. 494 f.: M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozess der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DVBl. 1994. S. 316 ff.. 323 f.: H. Gersdorf. Das Kooperationsverhältnis zwischen deutscher Gerichtsbarkeit und EuGH, in: DVB1.1994. S. 674 ff. 854 Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzipien) sind teilweise an Gedanken von R. Lhoita, Paper zur gemeinsamen Tagung von DV'PW. ÖGPW und SVPW am 8./9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: ..Der Wandel föderativer Strukturen", Verfassungsgerichte im Wandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse am Beispiel der BRD. der Schweiz und Österreichs. 2001. angelehnt. Lhoita bettet seine Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein. 855
Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall zum Präsidentschaftsurteil ..Bush-Gore" in den Vereinigten Staaten (1998/99) oder in Deutschland auf den „Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93,1) des BVerfG gezeigt. Soweit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt. ist sie verständlich und meist auch bald vergessen, (vgl. zur ..Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978. S. 665 ff.). In
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
295
Als weiterer Aspekt ist die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit von Verfassungsgerichten hervorzuheben, womit die Möglichkeit von Institutionen gemeint ist, sich an Veränderungen ihres Kontextes, Adressatenkreises und institutionellen Umfeldes anzupassen und diesen (aktiv oder lediglich durch vorbildhaftes Wirken) zu beeinflussen. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass die Verfassungsgerichte im U m g a n g mit den Kompetenzkatalogen der jeweiligen Verfassungen einen eher restriktiven, gelegentlich dem Bild der Stagnation nicht fernen Kurs verfolgen, der im deutschsprachigen Raum in der sog. „Versteinerungstheorie" gipfelt. Auch die Selbstorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Strukturen herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzugehen. gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier ist auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Verfassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde (integrierende) Tätigkeit u n d / o d e r aktivistische bzw. zurückhaltende Spruchpraxis umgesetzt wird. 8 5 6 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben, ihr eigenes Arbeitsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwickeln sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen. s 5 7 Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz soll der Grad gefasst werden, in d e m intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen abbilden, die sie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksichtigen haben: Z u m einen richtersoziologische Aspekte, die sich darauf beziehen, inwieweit sich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbestimmung bei der Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken. Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in
jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder seiner Kammern grundsätzlicher. E. IV. Böckenförde etwa hat die Gefahr des Übergangs zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" bzw. „Verfassungs-Areopag" beschworen (siehe ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff., 25), B. Großfeld von „Götterdämmerung" geschrieben (ders., Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995. S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsverlust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und Demonstrationen reagierten nach den sog. ..Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE 86. 1 ff.: BVerfG. NJW 1994. 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats noch viel schärfer. Frühere Kritiken sprachen vom ..govemment of judges", von ..richterlicher Zensur", von „richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisierungen (siehe m.w.N. die Zusammenstellung bei K.Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik. 1980. S. 17). 856 857
So auch R. Lhotta (2001).
Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assistenten. der Vorselektionsverfahren für Annahme/Ablehnung sowie Geschäftsordnungen, mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.
296
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
den USA noch in den mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten europäischen Staaten erschöpfend nachweisbar. Z u m anderen, inwieweit es nicht gerade die hochgradig konsensual und parteipolitisch sowie konkordanzdemokratisch geprägten Richterwahlverfahren sind, aus denen Verfassungsgerichte durchaus ihre Autorität und A k z e p t a n z ableiten können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Durchbrechungen des Konsensprinzips bei der Richterbestellung auch zu signifikanten Autoritätseinbußen sowie zu legitimitätsschwächenden Diskussionen um die Politisierung der Richter führen können - ein sowohl in Deutschland als auch in Österreich wohlbekanntes Phänomen. Der Supreme Court ist im Gegensatz etwa zum deutschen Bundesverfassungsgericht kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der nur über Verfassungsrecht zu entscheiden hätte. Angelegt und von den Verfassungsvätern angedacht war er zunächst als reines Rechtsmittelgericht, sowohl gegenüber Rechtsstreitigkeiten, die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber bestimmten Streitsachen, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen. 8 5 8 Die bereits benannte, in der Bundesverfassung vorgesehene erstinstanzliche Z u ständigkeit fällt dagegen kaum nennenswert ins Gewicht. Wollte man nun eine Gewichtung der oben aufgezählten verfassungsgerichtlichen Kompetenzen vornehmen, so müßte die Befugnis zur inzidenten Normenkonrolle schon eine herausgehobene Stellung erhalten. Allein diese bedeutsame verfassungsgerichtliche Komponente gestattet es, den Supreme Court seit Marbury v. Madison primär als Verfassungsgericht anzusehen. Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die institutionellen M e r k m a l e und Variablen zur Ermittlung des Einflusses von Verfassungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Entscheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Verfassungsgerichte als maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen Wandel zu erfahren.
858
Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden N o r m e n von 28 U . S . C . Section 1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein. Nach einer erheblichen Beschränkung des als ..appeal" bezeichneten Rechtsbehelfs durch den 1988 erlassenen Judicial Improvemems and Access to Justice Act. biden die sogenannten „certiorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der z u m S u p r e m e Court k o m m e n d e n Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer ..petition for certiorari", den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts. 1996. S. 17 f.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
297
bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit Darüber hinaus steht der amerikanische Supreme Court exemplarisch und pionierhaft für eine Anzahl charakteristischer Komponenten selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit. S S 9 Dazu zählt zum einen die Verfassungsorganqualität mit ihrer notwendigen textlichen Verankerung in der Verfassung (Art. III der amerikanischen Bundesverfassung, wo eine Auflistung entscheidender Kompetenzen des S u p r e m e Courts zu finden ist). Die unabdingbare Garantie richterlicher Unabhängigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung. 8 6 0 Sie wird u m s o wichtiger, je weniger die beiden anderen Staatsgewalten, die Gesetzgebung und die Verwaltung, voneinander getrennt sind: Die politischen Parteien beherrschen Parlament und Regierung. „Beherrschen" sie auch (ganz oder teilweise) die Medien, zeigt es sich noch deutlicher: Die Richter haben einen (relativ) staatsfreien Lebensbereich im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips zu sichern. 8 6 1 Es geht um Freiheitssicherung durch einen von der politischen Macht (möglichst) abgeschirmten Richter, um Schutz vor der staatlichen Willkür. Das erfordert nicht nur eine formelle (kein Gericht darf zugleich Verwaltungsbehörde sein), sondern vor allem auch eine materielle, sachliche Gewaltenteilung: so sollte ein ausreichender Kernbereich des Privat- und Strafrechts den Richtern zur Entscheidung zugewiesen sein. Es wird naturgemäß vereinzelt Fehlurteile geben. Die Entscheidungsqualität richterlicher Urteile ist aber durch die Unabhängigkeitsgarantie strukturell eine andere als jene der Verwaltungsbehörden. 8 6 2
859
Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - angelehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch P. Huberte, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 465 ff. Ob sich wenigstens einige dieser Elemente zu ..Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit" erheben ließen, sei als (noch) offene Frage nur angedeutet. 860
Vgl. ausführlich zum Themenkreis der richterlichen Unabhängigkeit in den Vereinigten Staaten J. Zätzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA und Deutschland. 2000. 861 Im Kontext mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit Marbury v. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. November 1925 (vgl. RGZ 111. 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht (zur Geschichte G. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufl. 1919. S. 736 ff.). 862
Siehe auch J. Herrmann. Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richterzeitung 1982, S . 2 8 6 f f . Kürzlich H.J.Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, in: NJW 2001. S. 1089 ff. Bereits früh in rechtsvergleichender Perspektive F. Decker. Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht über den Internationalen RichterKongress in Rouen. in: Deutsche Richterzeitung 1953. Seite 158 ff. Da die richterliche Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-
298
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Der Forderung nach einer unabhängigen Rechtsprechungstätigkeit steht die nach einer rationalen Entscheidungsfindung nahe. P. Häberle betont zu Recht, Verfassungsrechtsprechung sei nicht ..Politik". 863 Sie zeichne sich vielmehr durch in ihren Methoden rational nachprüfbare, oft schöpferische „ A n w e n d u n g " von „Gesetz und Recht" aus. Allerdings ist Verfassungsrecht nach seinem Gegenstand und seiner Zielsetzung nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf die Materie des „Politischen" bezogen und wird auch in gewisser Hinsicht von daher bestimmt. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten können durch ihre Nähe zum Spannungsfeld, das den Begriff der „politischen M a c h t " umgibt, nicht von diesem abgetrennt werden. Hieraus ergibt sich auch kein Konflikt zu der Aussage Häberles, da diese Streitfragen ja nicht deswegen weniger oder keine „rechtliche Streitigkeiten" sind. Vielmehr bleibt der Grundsatz bestehen, diese einzig und allein nach rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden. Es ist daher umso eher ein Wesensmerkmal von Verfassungsgerichtsbarkeit, gerade nicht ein von politischen Aspekten abgetrennter Komplex zu sein. Durch Anwendung und Interpretation des Verfassungsrechts wenden Verfassungsgerichte ein Rechtsgebiet an, das Politik und deren immanenten Prozess näher zu bestimmen, nötigenfalls zu gestalten, aber eben auch zu begrenzen weiß. Verfassungsgerichtsbarkeit hat damit notwendig eine politische Dimension, wenn sie ihre Aufgabe sachlich und ihrer Verantwortung entsprechend wahrnehmen will. Demzufolge sei als weiteres - der rationalen Rechtsprechungstätigkeit entwicklungslogisch folgendes - Merkmal selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit das Spannungsfeldbewußtsein der höchsten Gerichte hervorgehoben. Ebenso ein Charakteristikum selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit ist die demokratische Legitimation des Verfassungsgerichts. Grundsätzlich darf bei aller Richtigkeit gewisser „Legitimationsketten vom Volk zu den Staatsorganen" (U. Scheuner, P. Häberle) nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass in der Regel ein vom Volk nicht direkt legitimiertes G r e m i u m von Richtern eine Parlamentsentscheidung der gewählten Volksvertreter außer Kraft zu setzen vermag. Vernünftige Einwände hinsichtlich dieses „undemokratischen" Vorgehens werden schon gerne mit dem Beschwörung des Verfassungsdokuments und der Bezugnahme auf die darin enthaltenen Grundsätze der Staatlichkeit weggewischt. 8 6 4 Der Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist im Hinblick auf seine tatsächliche Befolgung seit den Anfängen heftig umstritten, jedoch nicht zu verwechseln mit der ebenso hitzig geführten Debatte, inwieweit Verfassungsgerückter Richter dieses gegen die Demokratie missbrauchcn kann, gibt es in vielen Staaten die Möglichkeit der Richteranklage. 863 864
P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6, S . 4 6 6 .
Vgl. W.J. Witteveen. T h e Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Constitutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: Theoretical and Comparative Perspectives. 1993. S . 7 9 f f . , 79.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
299
richtsbarkeit per se „demokratisch" ist. Bei der Legitimationsfrage geht es darum, ob sich Verfassungsgerichtsbarkeit in einer logischen, im „crescendo" einander bedingenden Abfolge legitimierender Elemente vom Volk zu sich selbst als Staatsorgan wiederfindet. In den Vereinigten Staaten ist dies klarer gewährleistet als etwa in Deutschland (Ernennung durch Wahlmänner aus den Fraktionen des Bundestags, § 6 BVerfGG ). Die neun Richter des Supreme Court werden vom Präsidenten der Vereinigten Staaten nominiert (Art. II §2 par. 2 der Bundesverfassung), der Senat muss sie bestätigen, wobei regelmäßig eine öffentliche Anhörung der Kandidaten stattfindet. 8 6 5 Der Chief Justice wird vom Präsidenten alleine ernannt. Weshalb also ist die „Legitimationskette" in den Vereinigten Staaten klarer? Die Bundesverfassung sieht für die Wahl des Präsidenten eigentlich eine indirekte Wahl durch ein vom Volk gewähltes Wahlpersonenkollegium (electoral College) vor (vgl. das 12. A m e n d m e n t ) . In der politischen Realität ist die Stimmabgabe durch dieses Kollegium jedoch zur reinen Formsache geworden, da nach der Volkswahl der Wahlpersonen die zukünftigen Amtsinhaber praktisch bereits feststehen, obwohl die Wahlpersonen in ihrer Stimmabgabe durch das gliedstaatliche Recht nur selten gebunden werden. Aber auch ein anderer Ausgangspunkt, ein gedankliches „decrescendo", lässt sich für die Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit finden. Sucht man nämlich nach der Rechtfertigung für den Verfassungsgericht!ich geprägten Verfassungsstaat, so ist sie zunächst darin zu erblicken, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird. d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs. 8 6 6 Ist keine Verfassungsgerichtsbarkeit vorhanden, so entscheidet zwangsläufig allein der Gesetzgeber, ob er sich im Rahmen der Verfassung hält oder nicht, weil es kein Organ über ihm gibt, das Verfassungsschranken überwacht. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung würde allein bei ihm selbst ruhen. Dies aber ist solange bedenklich, als alle parlamentarischen Kontrollmechanismen durch Mehrheitsbeschlüsse überwindbar sind. Verfassungsgerichtsbarkeit soll dabei helfen, Verfassungsstabilität zu sichern, 8 6 7 aber auch wie bereits mehrfach angedeutet Wege zur Verfassungsentwicklung 8 6 8 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.
865
Vgl. auch W.H. Rehnquist, The Supreme Court. How It Was - How It Is. 1987. S. 235 ff. 866 Siehe auch K. Stern. Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung in Bund und Ländern, in: H.H. Klein/H. Sendler/K. Stern (Hrsg.). Justiz und Politik im demokratischen Rechtsstaat. Interne Studien der Konrad Adenauer Stiftung Nr. 119/1996. 1996. 867 Vgl. W. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. S. 319 ff.
300
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Das Prinzip Öffentlichkeit nennt P. Häberle zu Recht „tragendes Organisationsprinzip für Status und Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit" 8 6 9 . Hierzu tragen etwa neben der zu fordernden öffentlichen Entscheidungsverkündung gerade in den Vereinigten Staaten auch die o f t m a l s mitveröffentlichten - und die Diskussion in der Wissenschaft wie in der Bevölkerung bereichernden - Sondervoten einzelner Richter bei. 87 " Lediglich die Verkündung eines Urteils mit einer knappen B e m e r k u n g zu den Mehrheitsverhältnissen innerhalb eines G r e m i u m s kann nicht genügen, um insbesondere bei höchstrichterlichen Entscheidungen das Öffentlichkeitserfordernis zu wahren. Die Tragweite einer solchen Entscheidung reicht gewöhnlich über die unmittelbar am Verfahren Beteiligten hinaus, der Gerichtssaal kann selbst bei „öffentlicher Verhandlung" nicht als notwendiger Multiplikator einer kontroversen Entscheidungsfindung dienen, die nur allzu oft die Befindlichkeiten unterschiedlicher Rechtsverständnisse auch in der Bevölkerung wiederspiegelt. Die der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende, einzigartige Interpretationsmacht, ergibt sich - soviel an dieser Stelle - insbesondere aus der Verknüpfung von drei Eigentümlichkeiten: nämlich dem Prinzip des „Vorrangs der Verfassung", der letztverbindlichen Interpretationszuständigkeit und dem Fehlen eines allgemein akzeptierten Kanons der Interpretationsmethoden. Die Frage des „Letztentscheidungsrechts". wurde bereits im Vorfeld von 1787 in den Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten diskutiert und soll im Zuge einer Betrachtung ausgewählter spezifischer Eigenheiten der amerikanischen Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Ausstrahlungswirkung nicht unerwähnt bleiben. Diese Fragestellung hängt eng mit der Problematik z u s a m m e n , wie sich die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat überhaupt begründen lässt. W i e kann man also ein Letztentscheidungsrecht der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen, die zumindestens auf dem Papier die Staatsgewalt dem „Volke" oder den „people" überlassen, rechtfertigen? Die Verfassung, die das Volk (als die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Landes) in der Regel über Kom-
868
Siehe B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und D y n a m i k im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1982, S. 162 ff. 869 s
Siehe P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 317.
" Heute ergehen nur noch wenige Entscheidungen des S u p r e m e C o u r t s einstimmig. Stimmt ein Richter zwar mit d e m Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung, nicht aber mit deren B e g r ü n d u n g oder Herleitung überein. so verfasst er im Allgemeinen eine ..concurring opinion", in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsächlichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine „dissenting o p i n i o n " o d e r / u n d schließt sich der eines Kollegen an. C o n c u r r e n c e s und Dissents können sich auch nur auf Teile einer Entscheidung beziehen. Beide stehen in der Tradition der aus der englischen Gerichtspraxis s t a m m e n d e n „seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und Geschichte der Sondervoten beim S u p r e m e C o u r t . K.-H. Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des S u p r e m e Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985. S . 5 9 f f .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
301
petenzen, Verfahren und Begrenzungen staatlicher Gewaltausübung (jedenfalls m i t e n t s c h e i d e n lässt, erfährt ihren besonderen Rang und Vorrang s 1 aus der Vorgabe als normative Grundlage und verbindlicher Rahmen eben durch das Volk. Eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demzufolge zunächst die des unabhängigen Moderators, aber insbesondere Bewahrers des Ranges und der Funktionen der Verfassung mit dem Auftrag den in ihr verbrieften Rechten und Verfahren Geltung zu verschaffen. 8 7 2 Darin geht schlussendlich auch ein Wesensmerkmal der Gewaltenteilung a u f . D e r „Vorabend" der Bundesverfassung in den Vereinigten Staaten bot dabei bereits eine beachtliche Begründungsarbeit: im Jahre 1783 weist der Jurist J. Iredell aus North-Carolina auf eine Republik hin. „where the law is superior to any or all individuals, and the Constitution superior even to the Legislature, and of which the judges are the guardians and protectors.' <s74 Und A. Hamilton rechtfertigt im bereits benannten Federalist-Artikel Nr. 78 die weite Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem demokratischen Ansatz: „Wenn man leugne, dass Gesetze, die der Verfassung widersprechen, nichtig seien, behaupte man. dass die Repräsentanten des Volkes über dem Volk selber, das die Verfassung beschlossen hat, stünden."
d)
Der EuGH als
Verfassungsgericht.
Verfassungsrechtsprechung
Die Verfassungsrechtsprechung wird gelegentlich als eine „offene Gesellschaft" dargestellt" 75 , die sich nicht wie die anderer Rechtsbereiche z u m rechtsdogmatischen Interpretationsmonopol eigne. „Lapidarformeln" hat Böckenförde - wohl im Bewusstsein, sich selbst dem Vorwurf des lapidaren Vorgehens auszusetzen - die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes wie auch anderer rechtstaatlicher Verfassungen genannt, „die aus sich selbst heraus inhaltlicher Eindeutigkeiten weitgehend entbehren" 8 7 6 . Daher prägen oft erst die Interpretationen der Gerichte ihre (immanent stets gegebene) Bedeutung. In neu gebildeten Staaten weisen sie der Institutionalisierung von Recht und Politik die Richtung, wie man an der 871 Z u m Vorrang der Verfassung u. a. allgemein R. Wald. Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 4 8 5 ff. 872 Dazu auch E. W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit. Strukturfragen. Organisation. Legitimation, in: N J W 1999. S . 9 f f . , 11 f. 873 Auf der Grundlage der Unterscheidung von ..pouvoir constituant" und ..pouvoirs constitues". 874 Das Zitat findet sich bei G. Stonrzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Z u m Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: ders.. Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates. 1989. S. 55 ff.. 64. 875
So P. Hiiberle. Die o f f e n e Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung 1975. S. 297 ff. 876
E. IV. Böckenförde. Grundrcchtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: N J W 27 (1974). S. 1529 f.
302
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Priorität e r k e n n e n k a n n , d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n i n d e n n a c h 1990 g l ü c k l i c h „ g e w e n d e t e n " Staaten r u n d u m das z e r f a l l e n e S o w j e t r e i c h o d e r auch i n S ü d a f r i k a z u e r k a n n t wird. 8 7 7 D e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n k o m m t hierbei e i n e b e s o n d e r e Rolle zu, n a c h d e m ihre E n t s c h e i d u n g e n , g e w i s s nicht o h n e Z u t u n einer veränderten M e d i e n l a n d s c h a f t , z u n e h m e n d zu p o l a r i s i e r e n , die a l l g e m e i n e D i s k u s s i o n s b e r e i t s c h a f t zu b e r e i c h e r n wissen* 7 8 . D a b e i v e r u r s a c h t d e r E u G H , a u ß e r bei d e n u n m i t t e l b a r a m V e r f a h r e n Beteiligten, n o c h w e i t a u s g e r i n g e r e E m p f i n d u n g e n als d i e h ö c h s t e n G e r i c h t e e i n i g e r S t a a t e n , w a s auch mit einer d o r t g e w a c h s e n e n V e r f a s s u n g s - I d e n t i f i k a t i o n und - S e n s i b i l i t ä t z u s a m m e n h ä n g e n m a g . S o sehr sich W i s s e n s c h a f t und Politik u m e i n e n e u r o p ä i s c h e n V e r f a s s u n g s b e g r i f f m ü h ( t ) e n 8 7 9 , s o b e t r ä c h t l i c h ist d e r B e d a r f e i n e r w e i t e r g e h e n d e n , w a h r n e h m b a r e n K o n t u r i e r u n g des E u G H ( a u c h ) als V e r f a s s u n g s g e r i c h t 8 8 0 , u m seine B e s t i m m u n g als V e r s i c h e r u n g und T r i e b f e d e r E u r o p a s zu a k z e n t u i e r e n . Ein erster, stabilisierender B a u s t e i n d e r B r ü c k e z w i s c h e n e u r o p ä i s c h e m Bürger u n d e u r o p ä i s c h e n Institutionen w ä r e mit einer B e t o n u n g d e r Verfassungsgericht!ichen E l e m e n t e d e r e u r o p ä i s c h e n G e r i c h t s b a r k e i t gesetzt.
877
In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher politischen Institutionen (einschließlich dem ..politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad van State) überlassen. Vgl. auch E. Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches Instrument und Klagemauer von Bürgern. 1997. der darauf verweist, dass ,.|e|ine an sich selbst gewöhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können |glaubt|: sie muss sich dann gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtsverwirklichung entsprechen", siehe auch Benthem vs Staat der Nederlande, EGMR 23 Oktober 1985. Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken Widerhall in der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Back, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998), S. 58 ff.. 101 ff.. I43ff: P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. JB1 2000. S. 691 ff.. 694 f. Obgleich diese anfänglich eher historisch ausgerichtet und klar vom Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon, beeinflusst waren. 878
Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes geweckt wurde, vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht: H.J. Vogel. Videant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht. DÖV 1978. S.665ff: R. Lamprecht. Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996: H.P. Schneider. Acht an die Macht! Das BVerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?, in: NJW 1999. S. 1303 ff. 879 Dazu oben B.II.2.f)nn). 880
Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten „europäischen Verfassungsgerichts", dem EGMR. wird an dieser Stelle verzichtet, vgl. aber K. W Weidmann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof. 1985: R. Bernhardt. Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth (Hrsg.). Die Praxis des Richterberufs. 1999. S. 119 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
303
Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität sowie die z u n e h m e n d e Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in staatlichen Herrschaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den EuGH S ! i l sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. D e m Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen eine starke Rolle als „Hüter des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausführung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat der Gerichtshof über Jahrzehnte eine bestimmende Rolle im Integrationprozess innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der G e m e i n s c h a f t als „Rechtsgemeinschaft" beigetragen.
aa) Das Rollengeflecht des E u G H Trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Funktionen der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen und in der Europäischen Union ist die Rolle des E u G H jedoch auch von vielen Besonderheiten gekennzeichnet. Diese ergeben sich insbesondere aus der besonderen Fragilität des föderalen Gleichgewichts in der Europäischen Union, das stets besonders im Blickfeld des Gerichtshofs steht. Der Gerichtshof muss hier die Rolle eines Schiedsrichters zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten einnehmen. Dieser Funktion kommt nach wie vor eine hohe Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des föderalen G e f ü g e s der Europäischen Union zu. Das Erfordernis föderaler Unparteilichkeit kann allerdings auch in Widerspruch zur Rolle des EuGH bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts treten. Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung !,sl
Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; G.G. Saner, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration. 1988; O. Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000). S. 386 ff.; P. Häherle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.; \V. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas. 1998; P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestaltenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997; G.Hirsch. Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000. S. 1817 ff.; M.P. Maduro, We the Court. The European Court of Justice and the European economic Constitution. 1998.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefördert. Gerade dieses System ist allerdings stets in seinen Funktionsvoraussetzungen durch die gleichzeitigen Prozesse von Vertiefung und Erweiterung gefährdet. Durch etwaige (weitere) Reformen darf jedoch der Grundsatz der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Vertragsgebiet nicht gefährdet werden. Dem E u G H obliegt zudem die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts in der Europäischen Union. Das institutionelle Gleichgewicht ist mit dem Prozess der Demokratisierung der Union und der damit verbundenen Bedeutungszunahme des Europäischen Parlaments noch komplexer geworden. Der EuGH hat auf diesen Wandel mit seiner Rechtsprechung sensibel reagiert. Es ist zu erwarten, dass die Wahrung der institutionellen Balance als Aufgabe des Gerichtshofs in Z u k u n f t noch an Bedeutung gewinnen wird. Dem Gerichtshof ist der Schutz der Rechte des Einzelnen gegenüber den Organen der G e m e i n s c h a f t anvertraut. Diese Aufgabe wird mit der z u n e h m e n d e n Vertiefung der Integration und ihrem Vordringen in grundrechtsrelevante Bereiche noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausarbeitung eines eigenständigen Grundrechtskatalogs könnte auch eine Stärkung des EuGH bedeuten. Fraglich ist allerdings, ob auch die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten für Individualrechtssschutz ausreichend sind. Dies ist insbesondere außerhalb des Anwendungsbereichs der G e m e i n s c h a f t s Verträge problematisch. Lange Zeit wurde die Förderung des Integrationsprozesses als eine wesentliche vom EuGH wahrgenommene Funktion angesehen. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob der Gerichtshof heute noch vorrangig als ..Motor der Integration" angesehen werden kann. Zwar gehört die Fortentwicklung der Rechtsordnung seit jeher zur Aufgabe der Rechtsprechung in gewaltenteiligen Systemen. Diese Aufgabe steht jedoch unter d e m Vorbehalt der Wahrung der Verantwortungsspielräume der anderen Gewalten. Mit der zunehmenden Demokratisierung und Politisierung des Europäischen Integrationsprozesses haben sich hier auch die Spielräume für den Gerichtshof verengt. Vom Motor der Integration wird der EuGH vorrangig z u m Hüter der Rechtsgemeinschaft. Einige Verfassungsgerichte in Mitgliedstaaten der Europäischen Union könnten bereits für sich in Anspruch nehmen, „Europäische Verfassungsgerichte" zu sein - den Vertragszielen und dem großen Ziel einer tatsächlich europäischen G e m e i n s c h a f t verpflichtet und damit gelegentlich einem europäischen Verfassungsrecht näher als vielleicht der EuGH selbst erscheint. Nun geht der Aufgabenbereich des E u G H über den allgemeinen Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indem er - wie erwähnt - verwaltungsgerichtliche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkeiten 8 " 852 Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des E u G H nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen ( E u G V Ü ) von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausführlich von T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl 1999. Rdnrn. 709 ff.. 372 ff. m. w. N. geschildert.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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auf sich vereint. M a n c h e s p r e c h e n a n g e s i c h t s d i e s e r M u l t i f u n k t i o n a l i t ä t b e r e i t s v o m E u G H a l s „ S u p r e m e C o u r t " E u r o p a s 8 8 3 . Freilich w u r d e d i e s e r B e g r i f f i m e u r o p ä i s c h e n Z u s a m m e n h a n g bereits sehr f r ü h g e p r ä g t : W. Hallstein hat 1970 im R ü c k b l i c k auf d i e G r u n d l e g u n g des E u G H s s 4 illustriert: ..Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke vor: die Verfassungsstruktur der Gemeinschaft mit einem obersten Gericht zu krönen, das im vollen Sinn des Wortes Verfassungsorgan war. einem Gericht wie der amerikanische Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann."" 5 Lässt sich Hallsteins E h r g e i z in h e u t i g e r B e t r a c h t u n g n a c h a r i s t o t e l i s c h e r U n t e r s c h e i d u n g als u n m ä ß i g o d e r m a ß v o l l u n d v e r n ü n f t i g e i n o r d n e n ? G a b o d e r gibt es tatsächlich übergreifende Entwicklungstendenzen des E u G H z u m „Supreme C o u r t " E u r o p a s o d e r verlässt d e r E u G H bereits a b g e t r e t e n e P f a d e hin z u e i n e m „ V e r f a s s u n g s g e r i c h t e i g e n e r N a t u r " ? A u f h e l l u n g k ö n n t e ein aktueller Vergleich mit g e n a n n t e m U S - a m e r i k a n i s c h e n S u p r e m e C o u r t b r i n g e n , i n s b e s o n d e r e und g e r a d e i m H i n b l i c k auf e i n e v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e M e t h o d i k d e s E u G H . Die Fragestellung, welche Elemente einer europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt innewohnen (müssten) und worauf diese weniger theoretisch-dogmatisch als institutionell b e r u h e n (sollten), w a r bereits im u n t e r s c h i e d l i c h e n Kontext G e g e n s t a n d m a n c h e r r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n U n t e r s u c h u n g 8 " 6 . J e d o c h sind i m g e m e i n s c h a f t s r e c h t l i c h e n Z u s a m m e n h a n g b i s l a n g k a u m A n s ä t z e e r k e n n b a r , in-
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So etwa T. Oppermann (1999). Rdnr. 382; II. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssystems der EU. in: ZRP 2000. S . 5 2 f f „ 56; U.Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker. 1993. S. 293 ff., 294. nennt den EuGH „Universalgericht". 884
Von 1 9 5 2 - 1 9 5 7 war der EuGH zunächst Gerichtshof der EGKS. seit 1958 ist er laut Art. 3 f. des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 2 5 . 3 . 1 9 5 7 i.V.m. Art. 220 ff. EGV. 136 ff. EAGV. 31 ff. EGKSV gemeinsamer Gerichtshof der drei Gemeinschaften. 885
W. Hallstein. Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 110. Siehe hierzu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. Einführung und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983. S. 20 f.; J. Coppel/A. O'Neill. The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1992), S. 669 ff.; F. Jacobs. Is the Court of Justice of the European Communities a Constitutional Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Community and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously" Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, in: 32 CMLRev. (1995). S. 51 ff. 59 ff.; J. Rinze. The Role of the European Court of Justice as Federal Constitutional Court, in: Eur. Public Law 1999. S. 426 ff.: J. Schwarze, The Procedural Guarantees in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.), Institutional Dynamics of European Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers. Vol. II. Dordrecht 1994. S.487 ff. 886
306
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
wieweit gerade die amerikanische Verfassungstheorie im Rahmen struktureller Gemeinsamkeiten und trotz bestehender Unterschiede Anhaltspunkte für ein stabiles Modell europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit bieten könnte oder bereits geboten hat. Die amerikanische Fasson der Verfassungsgerichtsbarkeit kann einem fruchtbaren Rechtsvergleich dienen, soweit sich die Erfahrungen einer konstruktiven Rezeption zuführen lassen. Angesichts des Vorbildcharakters der amerikanischen Verfassung für eine Vielzahl europäischer Verfassungen liegt für die Europäische Union neben einem Vergleich des jeweiligen Verfassungsverständnisses eben auch eine Gegenüberstellung der höchsten Gerichte nahe. 8 8 7 Eine Gegenüberstellung beider Gerichtshöfe sollte aber den oben angeführten Grundgedanken der Verflechtung von „Konservative", im Sinne des lateinischen conservare, und „ M o d e r n e " z u m Inhalt und zur Leitlinie haben. Verfassungsgerichte können über die allgemeinen, offensichtlichen Funktionen hinaus zwei Bestimmungen erfahren, deren Existenz unbestritten, deren Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit hingegen begrenzt ist: die Verknüpfung des Schöpferischen mit d e m Element des Bewahrens, nur vordergründig ein Paradoxon, tatsächlich aber verschmolzen durch das belastungsfähige Band der inneren Bedingtheit. Auch hier treffen sich Konservative und Moderne. Eine diesbezügliche Betrachtung der Methodik hat folglich den Blickwinkel methodischer Instrumente einzubeziehen, die diesen gedanklichen „Treffpunkt" mit Leben erfüllen. Hallstein selbst deutet mit besagtem Zitat bereits Sockel und Artefakt im Gesamtkunstwerk gelungener Verfassungsgerichtsbarkeit an: Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung. Die erhaltenden und innovativen Komponenten höchstrichterlichen Handelns finden gerade hierin ihren Niederschlag. Die zunehmend energischer vorgebrachte Feststellung, der E u G H sei (auch) ein europäisches Verfassungsgericht, kann eben bereits mittels einer Analyse seiner verfassungsgerichtlichen Methodik bekräftigt werden. Im Übrigen ergeben sich aus dem Verfassungsvertrag unmittelbar k a u m Veränderungen f ü r die Rolle des EuGH als (einem der) Hüter der europäischen Verfassung. s s s Dies gilt auch f ü r das von der Debatte um eine Grundrechtsbess7 Mit Hilfe „transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen werden, methodische Ansatzpunkte für eine „europäische" T h e o r i e der Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils originären Merkmalen auch die Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische Wirklichkeit zu untersuchen w äre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit zur Adaption zukunftsfähiger institutioneller Charakteristika analysieren. Der E u G H selbst hat 1999 ein Reflexionspapier veröffentlicht (www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm), das die Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch. Dezentralisierung des Gerichtssystems der Europäischen Union?, in: Z R P 2 0 0 0 . S. 57 ff., H. Rösler (2000). S. 53 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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s c h w e r d e übrig g e b l i e b e n e M e h r an I n d i v i d u a l r e c h t s s c h u t z in A r t . III-365 VerfV. Positiv d ü r f t e n sich d i e A u f h e b u n g d e r S ä u l e n s t r u k t u r u n d die A n g l e i c h u n g d e r R e c h t s f o r m e n a u s w i r k e n , die j u s t i z f r e i e R ä u m e i n s g e s a m t v e r r i n g e r n w e r d e n . O f f e n ist i n d e s s e n , w i e V e r ä n d e r u n g e n im institutionellen G e f ü g e , d i e die Rolle d e r K o m m i s s i o n s c h w ä c h e n , auf d e n E u G H r ü c k w i r k e n . D i e V e r s c h i e b u n g e n i m institutionellen G e f ü g e sind in ihren F o l g e n d e r z e i t n o c h nicht p r o g n o s t i z i e r b a r . D i e s h ä n g t nicht nur d a m i t z u s a m m e n , d a s s die E n t s c h e i d u n g e n d e r R e g i e r u n g s k o n f e r e n z ü b e r d a s institutionelle S y s t e m i n ihren F o l g e n nicht o h n e w e i t e r e s ü b e r s c h a u b a r sind. Die e u r o p ä i s c h e w i e die a m e r i k a n i s c h e V e r f a s s u n g s l e h r e b e r u f t sich g e m e i n h i n auf P r i n z i p i e n i n n e r h a l b m e t h o d i s c h e r u n d d o g m a t i s c h e r U n t e r s u c h u n g e n , seien es Verfassungsprinzipien, Prinzipien der Verfassungsinterpretation"9 oder möglic h e r w e i s e e i n m a l solche d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t . P r i n z i p i e n d i e n e n dabei d e r U m m a n t e l u n g e i n e s G e d a n k e n g e r ü s t e s , z u w e i l e n auch d e s s e n Statik. D e n g e n a n n t e n P r o b l e m k r e i s e n liegt d a b e i e i n e g e m e i n s a m e F r a g e s t e l l u n g z u g r u n d e , die w i e d e r u m s p i e g e l b i l d l i c h m o d e r n e u n d k o n s e r v a t i v e A n s a t z p u n k t e z u reflektieren w e i ß : W i e w i r k t sich d e r E n t w i c k l u n g s g r a d e i n e r V e r f a s s u n g auf d a s ( S e l b s t - ) V e r s t ä n d n i s von V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t a u s ? Höchstrichterliches *** Ausführlich etwa F. C. Mayen Wer soll Hüter der Europäischen Verfassung sein?, in: AöR 129 ( 2004). S. 411 ff. In diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemessene Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G.C. Rodriguez Iglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders.. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht. 1992): ..Die Rolle des Gerichtshofes als sogenannter .Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als .Hüter der Gemeinschaftsverfassung* gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte sogenannte ..Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils des Gerichtshofes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die auch in der Gemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit aller gebotenen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art. L d e s Unionsvertrages vermuten: In dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez Iglesias seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der Grundrechtsschutzartikel - zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestätigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F. die Rodriguez Iglesias damals als notwendig und systemgerecht beschrieben hatte. 889
P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage 1995 (Neudr. 1999). S. 19 ff.: R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.
308
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Auftreten kann durchaus unterschiedliche Ausprägungen zur Folge haben Je nachdem ob es sich aktiv an einer Entwicklung oder einer Fort-Entwicklung beteiligt. Der U S - S u p r e m e Court hat mit zahlreichen Entscheidungen die Möglichkeit vor Augen geführt. Schaffenskraft mit Erhaltungswillen in Einklang gebracht zu haben. 8 9 " Im europäischen Kontext ist diesbezüglich auch dem Entwicklungsstand einer europäischen Verfassung Rechnung zu tragen. Fernerhin hat in diese Überlegungen der G e d a n k e einzufließen, ob Verfassungsgerichtsbarkeit selbst gänzlich ohne Verfassung im hergebrachten Sinne existieren könnte, was angesichts der Vertragsstruktur der Europäischen Union bzw. Gemeinschaften (aber auch aufgrund eines „Ensembles von Teilverfassungen* 4 (P. Häberle)]) nahe liegen könnte. Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von A m e r i k a und in Europa. Während allein eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung der obersten Gerichte bereits tragendes Fundament abendländischer und amerikanischer Rechtskultur ist, befindet sich die Europäische Union also noch scheinbar im verfassungsgerichtlichen Konsolidierungsprozess. Wenigstens unter d e m Blickwinkel eines gewohnten, einzelstaatlich geprägten Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Legt aber nicht gerade die Einzigartigkeit gemeineuropäischer Rechts- und Verfassungskultur wie auch ihre praktische Umsetzung eine differenzierte, optimistischere Betrachtung nahe? bb) Der E u G H als „Motor der europäischen Integration"? Die Rechtsprechung des E u G H erwies sich letztlich als „ m o r e powerful than intended". 8 9 1 Aufgrund seiner „expansiven" Rolle geriet er zunehmend unter den Zwang der Rechtfertigung. Für viele (gleichwohl nicht unumstritten) ist der EuGH ein „Motor der europäischen Integration" (U. Everling), der antreibt, nicht aber seine Richtung bestimmt. 8 9 2 Wird vor diesem Hintergrund die „ever closer union"
890
Dieser Zusammenhang wird unten in B.II, und V. illustriert. Vgl. schon A. W. Green. Political Integration by Jurisprudence. The Work of the Court of Justice of the European Communities in European Political Integration. 1969. Kap. VII: ..The court builds a system of Community law.'*. Zum Satz ..More Pow erful Than Intended" vgl. den gleichlautenden Aufsatz in der Financial Times vom 22. August 1974. Siehe auch K.J.Alter Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence. A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughter/A. StoneS w e e t / J . H . H . Weiler (Hrsg.). The European Court and National Courts. Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998. S. 227 ff.. 227: W. Dänzer-Vanotti. Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due/ M . L u t t e r / J . Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band 1, 1995, S.205ff; K. Lenaerls, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the European Community, in: Yearbook of European Law 12 (1992), S. 1 ff. 891
892
Vgl. J.H.H. Weiler Journey to an Unknown Destination. A Retrospective and Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal of Common Market Studies 31 (1993), S . 4 1 7 f f . Zum Begriff ..Motor . . . " U. Everling,
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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a l s b e g r ü ß e n s w e r t e r a c h t e t , fällt die B e u r t e i l u n g d e r richterlichen T ä t i g k e i t e n t s p r e c h e n d g ü n s t i g aus. In d i e s e m Fall gilt d i e n o r m s c h ö p f e n d e R e c h t s p r e c h u n g nicht lediglich a l s U s u r p a t i o n p o l i t i s c h e r V o r r e c h t e , s o n d e r n als „ b e s o n d e r e s Verdienst" 8 9 3 u n d als A u s g a n g s p u n k t f ü r e i n e n „ n o r m a t i v e s u p r a n a t i o n a l i s m "
894
D i e Kritik a m E u G H n a h m i n d e n n e u n z i g e r J a h r e n zu. 8 9 5 D i e f r a n z ö s i s c h e N a tionalversammlung beklagte in einer Erklärung wortreich die ausgedehnte Komp e t e n z a n m a ß u n g des E u G H . 8 9 6 N a h e z u zeitgleich legte d i e b r i t i s c h e R e g i e r u n g ihr M e m o r a n d u m z u r s o g e n a n n t e n „ k o r r i g i e r e n d e n K o d i f i k a t i o n " e u r o p ä i s c h e n
Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, in: Europarecht 32 (1997). S. 398 ff., 398 f. Zur Bedeutung des EuGH als Motor der Integration C.-D. Ehlermann, The European Communities, its Law and Lawyers. in: Common Market Law Review 29 (1992). S. 213 ff., 218; G.F.Mancini. The Making of a Constitution for Europe. in: Common Market Law Review 26 (1989), S. 595 ff.; M.LVolcansek. The European Court of Justice. Supranational Policy-Making. in: West-European Politics 15 (1992). S. 109 ff.. 109. 893 So K. Bahlmann, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Börner u. a. (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag. 1984. S. 17 ff., 19. 894 J.H.H. Weiler. The Community System. The Dual Character of Supranationalism. in: Yearbook of European Law (1981). S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff. Demgegenüber hat H.Rasmussen dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten ignoriert. ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH zurückzugewinnen. 895
Aus der Lit. K.J.Alter. The European Court's Political Power. The Emergence of an Authoritative International Court in the European Union, in: West European Politics 19 (1996), S. 458 ff., 462; dies.. Who Are the ..Masters of the Treaty"? European Governments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998), S. 121 ff., 132 f.; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 1997. S. 1; U.Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randclzhofer/R. Scholz/ D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995. S. 57 ff.. 73 f.; G. Roller. Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entscheidungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpolitik, in: AöR 123 (1998), S. 21 ff., 24; H.H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998). S. 213 ff.. 215: E. Schultz. Die Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtshofes und die Auswirkungen auf seine institutionelle Autonomie, in: S. Pfahl/E. Schultz/C. Matthes/K. Seil (Hrsg.), Institutionelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, Wirkung und Anpassung, 1998. S. 57 ff.; J.H.H. Weiler. The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff.; B. de Witte. Community Law and National Constitutional Values. in: Legal Issues of European Integration (1991/92), S. Iff. 3. 896 Assemblee Nationale, Quelles reformes pour 1'Europe de demain?, Rapport d'information no 1939, Paris 1996. S. 24.
310
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
R e c h t s vor. D a s V e r e i n i g t e K ö n i g r e i c h strebte an. U r t e i l e d e s E u G H d u r c h die h e i m i s c h e G e s e t z g e b u n g z u k o r r i g i e r e n , w e n n sie z u w e i t r e i c h e n d e r s c h i e n e n . * " 7 D e r E u G H zog das Misstrauen der Mitgliedstaaten vor allem d e s w e g e n auf sich , weil er nicht als Hüter d e r nach d e m Prinzip der begrenzten E i n z e l e r m ä c h t i g u n g k o n s t r u i e r t e n K o m p e t e n z o r d n u n g d e r G e m e i n s c h a f t e r s c h i e n , n i c h t als . . n e u t r a l e r Richter", sondern als das „Integrationsorgan der Europäischen Union".89* Die Z u s i c h e r u n g d e s G e r i c h t s h o f s , er sei sein eigener W ä c h t e r 8 9 9 , f a n d in der Rechts p r e c h u n g k e i n e B e s t ä t i g u n g . S e l b s t J. H. H.
Weiler, b e i l e i b e k e i n K r i t i k e r d e r
europäischen Integration (wenngleich auch selten das Florett diplomatischer Differenzierung führend), merkte kritisch an: „ D e r Gerichtshof n i m m t seine Rolle a l s S c h u t z m a n n i n E u r o p a n i c h t w a h r . E r sagt n i c h t n e i n z u r U n i o n , w e n n sie i h r e Kompetenzen überschreitet."900 Nicht zuletzt durch diese Kritik in seiner Selbstgewissheit erschüttert, urteilte d e r E u G H a m 5 . O k t o b e r 2 0 0 0 erstmals, d a s s die G e m e i n s c h a f t jenseits ihrer Ermächtigung agiert habe.901
897 M e m o r a n d u m des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom 23. Juli 1996. C O N F 3 8 8 3 / 9 6 . Anlage. Vgl. auch W. Hummer/W. Obwexer, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische M e m o r a n d u m über der E u G H vom 23. 7. 1996 zur Frage der ..korrigierenden Kodifikation" von Richterrecht des E u G H , in: E Z W (1997) 10, S. 2 9 5 ff.. 301 ff. 898 So etwa W. Schäuble, damal. Vorsitzender der C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n , am 3. D e z e m b e r 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Helsinki (vgl. das Amtl. Protokoll des Tages). 899
Dazu etwa die Editorial Comments. Qiiis Custodiet the European Court of Justice?, in: C o m m o n Market Law Review 30 (1993), S. 8 9 9 ff. 900
Interview in DIE Z E I T vom 22. Oktober 1998. ..In der Unterwelt der Ausschüsse",
S.9. 901
Vgl. Rs. C - 3 7 8 / 9 8 Deutschland v. Europäisches Parlament (2000). Urteil vom 5. Oktober 2 0 0 0 über die RL 9 8 / 4 3 / E G (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere A u f m e r k s a m k e i t verdient die unter Rdnr. 83 ausgeführte Begründung: ..Diesen Artikel Ii. e. Art. 100a EGV] dahin auszulegen, dass er d e m Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch unvereinbar mit d e m in Artikel 3b EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz, dass die Befugnisse der G e m e i n s c h a f t auf Einzelermächtigungen b e r u h e n . " Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten Einzelermächtigung die Nichtzuständigkeit der G e m e i n s c h a f t festzustellen, als sei diese erst mit diesem Artikel normiert worden. Dabei war diese seit j e h e r das vorwaltende Organisationsprinzip der G e m e i n s c h a f t , vgl. auch BVerfGE 89. 155 (Maastricht-Entscheidung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesichts der Spruchpraxis des E u G H unkenntlich geworden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich einen Zustand erreicht, dass „ { s p ä t e s t e n s mit Maastricht [ . . . ] die der Kompetenzstruktur der G e m e i n s c h a f t schon bislang nicht gerecht werdende Postulierung eines ,Prinzips der (begrenzten) Einzelermächtigung' der Vergangenheit a n g e h ö r e n " sollte (vgl. T. C. W. Beyer. Die E r m ä c h t i g u n g der Europäischen Union und ihrer G e m e i n s c h a f t e n , in: Der Staat 35 (1996). S. 189 ff.), obwohl diese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
311
Insgesamt bediente sich der EuGH zur Funktionssicherung der Gemeinschaft einer Rechtsprechung, die homogenisierend auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wirkte. Dabei ließ er Nützlichkeits- den Vorrang vor Legitimitätserwägungen. Nach Einschätzung des früheren Richters am EuGH, G. Hirsch, hatte der EuGH in der Zwischenzeit „auf berechtigte Kritik an einzelnen Urteilen reagiert"* 12 und eine kooperativere Haltung eingenommen. Dass der Gleichklang zwischen den Organen der Europäischen Union wegen des Mangels an harmonisierten Regelungen verloren gehen könnte, erachtet der EuGH zunehmend als ein politisches Problem, auf das er hinweist, das er aber nicht mehr korrigiert. cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH eine eigene Jurisdiktion, in den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisionsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat. ist jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die inzwischen unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich, dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden, häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die sie anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union. Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen, national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann, sind mithin vergangen. In einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat sich auch die Rolle der Richter in Europa gewandelt: die nationale Gerichtsbarkeit wurde „europäisiert" und in ein Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise 903 -, dann n o m m e n worden war. Es war also nicht allgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in der Auffassung des E u G H abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag gestärkt wurde (vgl. auch BVerfGE 89, 155 (181)). Denn der E u G H könnte mit seiner B e g r ü n d u n g deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum Anlass n i m m t , dem impliziten Wunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritätsprinzip z u m neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom „Prinzip der Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert hatte. 902
G. Hirsch. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 49 (2001), S. 79 ff.. 88. 903
Zur Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J.J. Rousseau
312
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfahrungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen, unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia. e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung Die Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit heutiger Prägung und der unmittelbare Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auslegung legen den Schluss nahe. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung seien unauflöslich miteinander verbunden. Bedarf es also eines „Mindestmaßes" an Verfassung, um überhaupt verfassungsgerichtlich tätig zu werden oder kann eine Verfassung auch erst durch eine verfassungsgerichtliche Tätigkeit an einem Text oder Rechtsgebilde, das den Anforderungen an eine „Verfassung" noch nicht gerecht zu werden vermag, erwachsen? In anderen Worten: Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Verfassung oder ist letztere zwingende Voraussetzung für verfassungsgerichtliches Tätigwerden? Das amerikanische Beispiel steht zweifellos für den Ausgangsfall: einer bestehenden Verfassung mit einer darin (erstmals) festgelegten Verfassungsgerichtsbarkeit. Im europäischen Kontext darf festgestellt werde, das ein „Verfassungsgericht" im weiteren Sinne (EuGH) zunächst „lediglich" einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) „diente" und erst künftig einem Verfassungsvertrag unterworfen wäre. Zwangsläufige Parallelität zwischen Verfassungsgericht und Verfassung ist demzufolge nicht zu konstatieren, gleichwohl ein notwendiges Maß an gleichzeitig auftretenden „Kernelementen" einer Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit.
(1762) ..Der Gesellschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des volonte general. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän zu effektuieren und d e m leblosen Buchstaben des Gesetzes W i r k u n g in der Fülle der Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsforlbildung zum Erfolg. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in d e m der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser Leitstern kann nicht kurzschlüssig die „vox p o p u l i " sein. Nicht Populismus ist Sache der Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft, verfaßt etwa in ..Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. In diesem Sinne hat die Rechtsprechung Spiegel d e r Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft, wie sie sein soll, nicht unbedingt der Gesellschaft, w i e sie ist. vgl. im weiteren Sinne auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkei. Demokratie und Misstrauen. 1998.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates f)
Vergleichende
Verfassungsgerichtsbarkeit
-
Aspekte Kongruenz
313
der der
Aufgaben
Der G e d a n k e einer vergleichenden Lehre von der Verfassungsgerichtsbarkeit fand bislang n u r recht z a g h a f t e A n n ä h e r u n g . 9 0 1 R e c h t s v e r g l e i c h e n d w i e r e c h t s g e s c h i c h t l i c h ist z w i s c h e n e i n e r f o r m e l l w i e i n s t i t u t i o n e l l e i g e n s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t , w i e sie d a s B u n d e s v e r f a s sungsgericht heute darstellt, und einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu unterscheiden. die im R a h m e n der allgemeinen bzw. sonstigen Gerichtsbarkeiten angesiedelt ist ( „ i m p l i z i t e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t " ) . I n l e t z t e r e r H i n s i c h t ist b e i s p i e l s w e i s e der Supreme Court der USA, aber auch etwa das Schweizerische Bundesgericht zu nennen. Die deutsche Rechtsentwicklung tendierte dagegen schon früh zu einer auch formell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, deren erste Wurzeln man schon in der Rechtsprechung etwa des Reichskammergerichts entdecken kann.905 In einer komparativen Betrachtung lassen sich auch unterschiedliche Archetypen etablierter Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Einfiuss auf die Rechtsprec h u n g u n d S t r u k t u r d e s E u G H f e s t s t e l l e n . A u s g e p r ä g t ist d a b e i d e r W i d e r h a l l französischer Gerichtsbarkeit.
904 Siehe aber P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 312 ff.: H.J. Faller. Zur Entwicklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, in: E u G R Z 1986. S . 4 2 ff.; A. Weber. Verfassungsgerichte in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik. 1995. S. 61 ff.; M. Fromont, La justice constitutionnelle dans le m o n d e . 1996. 905
Vgl. etwa U. Scheuner. Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976. S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849. die dem damals vorgesehenen ..Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den Organstreit, bundesstaatliche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Verfassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser Schritt gelang erst mit d e m BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche Verfassungsgeber n u n m e h r zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren Sinne), sondern auch und namentlich f ü r den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz des Bürgers (Verfassungsbeschwerde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungshistorisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von 1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.
314
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Anders als das Bundesverfassungsgericht Deutschlands, das durch seine institutionelle Verselbständigung gekennzeichnet ist, sind dem EuGH ähnlich wie dem US-Supreme Court Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit neben anderen Zuständigkeiten zugewiesen. Der EuGH und der Supreme Court der Vereinigten Staaten sind damit Beispiele für die in die Gerichtsbarkeit eingeordnete Verfassungsgerichtsbarkeit. 91)6 Während in der kontinentaleuropäischen Wissenschaft Arbeiten über die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit vielfach auf die Abgrenzung gegenüber dem parlamentarischen Körperschaften und den jeweiligen Regierungen beschränkt werden 91 " - eine Beobachtung, die sich hinsichtlich einer entsprechenden Einordnung des EuGH überwiegend bestätigt - geht der amerikanische Verfassungsdiskurs gänzlich andere Wege 908 , indem er nicht der Gefahr einer Überschätzung des Politischen ausgesetzt ist. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der anglo-amerikanischen Verfassungstradition der Staat als Gegenstand, ja Zentrum gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung vorübergehend annähernd verloren gegangen war. Heute zahlt sich dieser Umstand insoweit aus. als in der amerikanischen Verfassungswirklichkeit und Wahrnehmung derselben der Beitrag anderer sozialer Systeme sowie die Rolle des Individuums einen vergleichbar höheren Stellenwert einnehmen. 9 0 9 Freilich: Mit gutem Grund sind Einwände gegen eine allzu freimütige Übernahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch augenscheinlich um zwei Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich vonein906 Siehe d a / u auch R. Wahl. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001. S. 1041 ff., 1046. 907 Siehe etwa K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske u . a . (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift für Martin Kriele, 1997. S. 411 ff.: Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. 1985: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer F ü h r u n g . 1994: dazu kritisch U.R. Haltern. Book Review of Richard Häußler. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, in: 7 EJIL (1996), S. 137 f. 908
Siehe nur das richtungsweisende Werk von B. Ackennan, We T h e People 1: Foundations, 1991: vgl. auch P. W. Kahn. Legitimacy and History: Self-Government in A m e r i c a n Constitutional Theory. 1992. 1X19
So auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit. D e m o k r a t i e und Mißtrauen. 1997. S. 112 f.. der mit Verweis auf die Gedanken von H. Willke („Systemtheorie III: Steuerungstheorie", 1995 sowie „Ironie des Staates - Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft", 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäischen Gesellschaftstheorie darin sieht, dass diese seit Machiavelli durch eine außerordentliche Staatszentriertheit geprägt sei. worin der Politik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur Folge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert habe.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
315
ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, „in beiden Fällen soll eine im einzelnen sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen." 910 Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertrag angesichts seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen Gültigkeit durchaus gegeben ist. Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt in ihrer historischen Bedeutung derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwischen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar.'" : In einer kursorischen Aufzählung und in Ergänzung zu den obigen Feststellungen lassen sich auch bei den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit auf beiden Seiten des Atlantiks (und auch auf EU-Ebene mit Ausnahme des „VolksBezuges") durchaus einige Parallelen erkennen. So bei der - Wahrung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes (C. Schmitt) - Wahrung der Offenheit und Verfahrensgerechtigkeit des politischen Prozesses (J.H.Ely) - Aufrechterhaltung des diskursiven Prozesses von demokratischer Selbstherrschaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der - Anerkennung der Personen als Freie und Gleiche und in der Währung der Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Michelman)
910 Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht: dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerikanische Rcchtstheorie. 2000. S. 23. 411
Gelegentlich rekurriert der S u p r e m e Court vergleichend auf g e m e i n s a m e angloamerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 7 4 Fn. 677: allgemeine rechtsvergleichende Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich ebenda sowie bei M. Tushnet, T h e Possibilities of Comparative Constitutional Law, in: Yale Law Journal. 108 (1999). S. I 2 2 5 f f , 1230 ff.; siehe auch W.H. Rehnquist, Verfassungsgerichte - vergleichende Bemerkungen, in: P. K i r c h h o f / D . P . K o m m e r s (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz. 1993, S . 4 5 4 . Kritisch gegenüber der ..Einbahnstraßenpraxis" des S u p r e m e C o u r t s M.A. Glendon, Rights Talk. T h e Impoverishment of Political Discourse. 1 9 9 1 . S . 151.
316
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
- Ermöglichung „deliberativer Politik" (J. Habermas?12 - Bezugnahme auf einen „Reparaturmechanismus einer deliberativen Verfassungspraxis" (O. Gerstenberg)91* Gerichte als Hüter der Verfassung sind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Arbeitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie bereits erwähnt darf Verfassungsgerichtsbarkeit dabei helfen. Verfassungsstabilität zu sichern'' 1 4 . Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwicklung 915 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten. Eine solche Verteilung der Funktionen folgt klaren Prinzipien, da sie d e m Gewaltenteilungsprinzip als einem organisatorischen Grundprinzip des modernen freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsstaates wie einer Supranationalen Union, die diesen Maximen verpflichtet ist, entspricht. 9 1 6 Fragt man nach der Rechtfertigung für den verfassungsgerichtlich geprägten Verfassungsstaat, so ist sie - nach weitgehend „transatlantischem Verständnis" - darin zu sehen, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller („Über"-)Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird, d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs. Es darf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies
912 Vgl.J. Habermas. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 1992. S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion der „verschiedenartigen Argumente, die in den Rechtsetzungsprozess eingegangen sind und den Legitimationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale G r u n d l a g e verschafft haben. In juristischen Diskursen k o m m e n neben den rechtsimmanenten Gründen auch moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge". 9,3 Vgl. O. Gerstenberg. Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997. S. 107: „ D a s Gericht stellt [ . . . 1 in Form von Verfahrensordnungen eine Diskussionstruktur bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in d e m M a ß e möglich, wie es d e m Gericht gelingt, im M o d u s der Verfassungsauslegung den Hintergrund eines übergreifenden demokratischen Konsenses als gemeinsamen substanziellen Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie zu lösen". 914 IV. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. ST3I9 ff.
915 916
B.-O. Bryde. Verfassungsentwicklung. 1982. S. 162 ff. Vgl. nur die Grundsatzreferate von K. Korinek/J. P. Müller/K. Schiaich zur Verfas-
sungsgerichtsbarkeit in: V V D S t R L Heft 39 (1981), S. 7 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
317
belegt die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit der Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison (1803) über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht in Deutschland, der nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. November 1925917 begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht 918 , bis zur fest etablierten Normenkontrolle bei zahlreichen Verfassungsgerichten in der Gegenwart. Dieser Entwicklungsprozess kann hier nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei betont: Seit die Verfassungsgerichte Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen dürfen und müssen, gibt es keinen Parlamentsabsolutismus mehr. Der Gesetzgeber hat vielmehr größte Aufmerksamkeit auf die Beachtung der Verfassungsmäßigkeit seines Handelns zu legen. 919 3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft 920 (Europäische Union) Obgleich die beiden Verfassungsdebatten mittlerweile mehr als 215 Jahre trennen, fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die meisten wichtigen Fragen nicht völlig neu sind, sondern sich im Laufe der Geschichte wiederholt gestellt haben. Die Vereinigten Staaten fanden sich in der frühesten Phase ihrer Geschichte vielen Problemstellungen bezüglich Verfassungstheorie und -praxis gegenüber, die Parallelen mit der heutigen Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufweisen. Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Konvent von Philadelphia und dem europäischen Verfassungskonvent ist in der Unzufriedenheit mit der jeweiligen Ausgangslage zu sehen: die Unzulänglichkeit der Konföderationsartikel von 1776 dort, die mangelnde Tragfähigkeit der im Vertrag von Nizza im Dezember 2000 erzielten Kompromisse hier. Der geschilderte Unmut widerspiegelte sich in manchen ungelösten Fragenkomplexen. die einige interessante, zeitlich ungebundene transatlantische Parallelen - wenigstens in der Ausgangskonstellation - aufzuweisen vermögen 921 :
917
RGZ 111,320.
918
Zur Geschichte G. Mever-Anschütz. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufage 1919. S. 7 3 6 ff. 919 Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. 1 Abs. 3 GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben. 920
Z u m Begriff vgl. nur P Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.
S. 645. 921 Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m Blickwinkel der U S A , Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002, abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext. 2004, S . 4 1 ff.. 45 f.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährleistet werden? Kann eine Balance in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatlichen Verwaltung Ubertragen werden und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist „Identität"? Gibt es ein europäisches Pendant zu „life. liberty and the pursuit of happiness"? Es kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die zu Recht als tragende Säulen eines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsgemeinschaft gelten mögen. Die folgende Auswahl soll deutliche Unterschiede und klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen. 9 2 2
a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten Einer der umstrittensten Punkte sowohl bei den Beratungen über die amerikanische Verfassung wie auch während und nach „Nizza" war die Frage nach der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute nicht ohne Pathos der „Great Compromise" 9 2 3 genannt und bedeutet eine „aurea mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten - wie im „New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der „Virginia-Plan" vorsah. Durch die gleich starke Vertretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Senatoren durch die Legislativen der Einzel Staaten 924 konnte die Zustimmung der bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden. b)
Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus
Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das überrascht zunächst angesichts der herausragenden Bedeutung der Beziehung zwischen 922
So etwa f ü r einen gebotenen, aber angesichts der notwendigen Einbeziehung einzelstaatlicher E l e m e n t e hier zu weitgehenden Vergleich zwischen ..europäischer Rechtsstaatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwickelten) ..Rule of L a w " (vgl. auch P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff.). 923 j ^ , . p r a g e > inwieweit Kompromissfähigkeit die amerikanische Verfassungswirklichkeit beeinflusst, wird unter B.1.9 nachgegangen. 924
Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre 1913 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte Wahlen abgelöst.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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dem Bund und den Staaten. Die amerikanischen Verfassungsväter dürfen als Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhängigkeitskrieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische Entscheidungen fällen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische Lösung sollte sich schon deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben. In kontroversen Diskussionen und hart umkämpften Kompromissen entstand auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia ein neuer zukunftsweisender Föderalismus, den die Verfassung so umriß: - Die Einzelstaaten sollten sich wenigstens partiell zur „vollkommeneren Union" (more perfect union) integrieren, das heißt, der Zentralgewalt eine Anzahl genau festgelegter Aufgaben und Kompetenzen zuerkennen, - alle weiteren Befugnisse und Funktionen würden pauschal bei den Ländern verbleiben, - die unmittelbare Ausübung staatlicher Gewalt auf beiden Ebenen sollte durch voneinander unabhängige, jeweils in sich durchorganisierte exekutive, legislative und judikative Instanzen gesichert werden, - der Vorrang der Bundes- vor der Einzelstaatshoheit war innerhalb der definierten Zuständigkeiten - Verteidigung. Regelung des Binnen- und Außenhandels - zu gewährleisten. 926 Alles in allem ist der endgültige Verfassungsentwurf des Konvents von Philadelphia von Kompromissen geprägt, die für die Vereinigten Staaten eine neue Form der politischen Organisation vorsahen: weder eine nationale, noch eine staatenbündische Verfassung war geschaffen worden, sondern eine Verbindung beider Formen. Die Verfassungsväter erkannten darin vor allem die Möglichkeit, die staatliche Gewalt zu verteilen, um somit einer willkürlichen Herrschaft entgegenzutreten. Wegweisend war die verfassungsrechtliche Neuheit einer doppelten Souveränität, welcher der Staatsbürger unterstellt wurde - der des Einzelstaates, in dem Z u m organisatorischen Grundmodell ausführlich J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. Siehe auch T. Lundmark, Die Bedeutung der Gliedstaaten im amerikanischen Verfassungssystem, in: D Ö V 1992. S. 4 1 7 ff. 926 Die Federalist Papers lieferten die ideologische Begründung für das neue politische System: nicht bloß sollte es den Erhalt der frisch errungenen nationalen Einheit nach innen und außen sichern: vielmehr w ü r d e d e r Föderalismus eine wichtige Rolle bei d e m Bemühen spielen, das Prinzip der ..checks and balances" zu verwirklichen. Eine Verfassung, so J. Madison (siehe insbesondere die Artikel 18 ff. sowie 41 ff.), welche die Ausübung öffentlicher Gewalt z w i s c h e n Bund und Einzelstaaten teile, banne die G e f a h r staatlicher Allmacht, sichere die Vielgestaltigkeit des politischen und gesellschaftlichen L e b e n s in den USA.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes. 927 Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I § 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch interstate commerce), Schaffung und Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Landesverteidigung. Artikel III sieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz des Landes sind (supremacy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche police power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln. Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der vertikalen Gewaltenteilung, dem System der checks and balances, sondern sie ist ein Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für sie war gerade die „Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung für den Schutz von Minderheiten und dem Recht Einzelner: So war die in einem großen Staat auftretende Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem eine Gewähr gegen die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark sein, dass sie nicht überhört werden konnten. Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaffung einer „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik Deutschland - spielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur'' 2 * nicht
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Dass im Grundsatz der „zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts drastisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union habe die Souveränität der Einzelstaaten keinesfalls beseitigt und eben jetzt, im Jahre 1860/ 61. demonstrierten die ..Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom bisherigen Staatsverband. Mit d e m Sieg des Nordens wurde künftigen Sezessionsbestrebungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des S u p r e m e Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz, dass kein Einzelstaat das Recht hat. aus der Union auszutreten. 928 Wird auch das politische System der USA als „ B u n d e s s t a a t " bezeichnet, beanspruchen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, also eine umfassendere Kompetenzfülle als etwa die Länder der Bundesrepublik Deutschland (auch nach einer ..Föderalismusreform" im Jahre 2006). Der Begriff „Bundesstaat" beschreibt ein politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der Weise zugeordnet sind, dass sie z u m einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, z u m andern sich wechselseitig beeinflussen, um das ..Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. In der Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht stärker beim Bund o d e r den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaaten der U S A ein höheres M a ß an Eigenständigkeit, eine umfassendere Kompetenzfülle als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, weshalb die Übertragung der Begrifflichkeit „ L a n d " auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich ist.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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explizit beschreibt. Sie ergibt sich eher indirekt aus den oben erwähnten schriftlich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen wurden. 9 2 9 (1)
Charakter eines Bundesstaates
Den bundesstaatlichen Charakter des amerikanischen Gemeinwesens veranschaulichen auch der Name und die Flagge der USA. Verfassungswirklichkeit, die sich in kulturellen Errungenschaften, in Bildern und Sprache niederschlägt. Fünfzig Gliedstaaten mit jeweils eigenen Verfassungen und der das Gebiet der Bundeshauptstadt Washington umgreifende District of Columbia bilden derzeit den amerikanischen Bundesstaat. Fünfzig Verfassungen kanalisieren den Herrschaftsprozess in diesen Staaten, darunter die freilich vielfach ergänzte von Massachusetts aus dem Jahre 1780. Sie bekennen sich durchweg zu den „amerikanischen" Grundüberzeugungen des „limited government", der Volkssouveränität und individueller Bürger- bzw. Menschenrechte, was aber die bunte Vielfalt der jeweiligen Institutionenordnungen und Rechtsgestaltungen nicht ausschließt. Zusätzlich erhält die amerikanische Verfassung ihren föderalen Charakter durch das Wahlverfahren der nationalen Ämter, das die Repräsentation der Einzelstaaten auf nationaler Ebene gewährleistet und ihnen hinsichtlich des Verfahrens eine fundamentale Autonomie überlässt. 930 Der Modus für die Präsidentschafts wählen enthält ebenfalls föderale Elemente, „indem erstens jeder Staat so viele Elektorenstimmen erhält wie er Mitglieder im Kongress hat und zweitens", wenn ein Präsidentschaftskandidat nicht die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, fällt die Entscheidung in die Zuständigkeit des Repräsentantenhauses, wo eine Abstimmung in einzelstaatlichen Blöcken zu erfolgen hat. Mit diesem Wahlsystem versuchten die Verfassungsväter die Repräsentation und den Einfiuss der Gliedstaaten zu sichern.
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Allerdings hat sich mit der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court das Verhältnis von Bund und Einzelstaaten an die jeweiligen Gegebenheiten ü b e r die Jahre angepasst. vgl. bereits unter B . I . 7 und B.IV.2.b). 930 Die Repräsentation der Gliedstaaten ist durch die Vertretungsschlüssel für die beiden gesetzgebenden K a m m e r n festgelegt: Im Senat hat j e d e r Gliedstaat das gleiche Gewicht, d. h. unabhängig von der Einwohnerzahl ist dort j e d e r Staat mit zwei Senatoren vertreten. Diese insgesamt 100 Senatoren werden seit 1913 nach dem relativen Mehrheitswahlsystem direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Im Gegensatz dazu werden die Abgeordneten des Repräsentantenhauses zwar auch in Form der Direktwahl, aber abhängig von dem Bevölkerungsanteil j e d e s Einzelstaates gewählt. Dabei ist j e d e r Bundesstaat in so viele Wahlkreise unterteilt, wie er g e m ä ß seiner Bevölkerungszahl Abgeordnete in das Repräsentantenhaus entsenden darf. Die beiden K a m m e r n des Kongresses, der die gesetzgebende Gewalt im politischen System der Vereinigten Staaten verkörpert, sind verfassungsrechtlich gleichberechtigt und ..demokratisch" strukturiert, d. h. die Vertreter sind in den jeweiligen Häusern gleichberechtigt und zu gleichen Teilen am Gesetzgebungsprozess beteiligt.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Im Gegensatz zu dem streng repräsentativen Charakter der Bundesverfassung kennen 24 Staaten eine Form der Volksinitiative, und mit Ausnahme Alabamas haben alle Staaten die Möglichkeit von Referenden in ihrer Verfassung verankert. (2)
Funktionsweise des
US-Föderalismus
Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaaten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert. Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel I § 8 katalogartig aufgelistet. 931 Zudem hält das 10. Amendment ausdrücklich fest, dass alle Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Einzelstaaten oder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die Gliedstaaten zwar eine „unbestrittene Domäne eigener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite der Bundeskompetenzen nicht eindeutig. 932 Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Aufgabe zu. Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund der vielfach veränderten Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Geschichte Amerikas und vor allem in Folge des „New Deals", entwickelte sich, der noch im 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale Föderalismus, der die Regelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der „police power", die fast alle sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ, zu einem kooperativen Föderalismus, der ein neues Verhältnis beider Ebenen zu e i n a n d e r - d i e Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für die Ausführung nationaler Politik - umschreibt. Der kooperative Föderalismus setzt auf Koordination und Zusammenarbeit statt auf strikte Trennung und Rivalität. Schwächen der Leistungsfähigkeit von Einzelstaaten und Kommunen im Zeitalter des Sozialstaates haben diese Entwicklung stärker befördert als das Machtstreben des Bundesstaates in Washington. Ohne finanzielle Bundeszuschüsse („grants in aid") können heute die Einzelstaaten und Kommunen weder das ihrer Souveränität unterstehende Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, noch das breite Feld von Erziehung und Ausbildung sinnvoll bewältigen (Analogien etwa zum deutschen System sind unübersehbar). Damit 931
Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern. Zöllen und Abgaben zur Erhaltung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung sowie für das Allgemeinwohl: Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staaten: S c h a f f u n g eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes: das Militärwesen. 932
So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach
Politikfeldern unteranderem die general welfare clause (Präambel und Art. 1 § 8) und die necessarx and proper clause (Art. I §8 par 18) die den Bund bemächtigte ..alle zur A u s ü b u n g der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung der Vereinigten Staaten, einem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf G r u n d dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen", entgegen.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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aber haben Rahmenvorschriften des Bundes zur Vereinheitlichung der einzelstaatlichen Gesetzgebung, Aufsichtsrechte der Bundesbehörden über die Verwendung der Subventionen, Amts-, Personal-, Sach- und Informationshilfen zwischen Verwaltungsorganen der verschiedenen Ebenen Eingang in die verfassungspolitische Wirklichkeit der USA gefunden. 9 3 3 (3)
Inkurs:
Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebene
Nach wie vor spielen die Einzelstaaten eine gewichtige Rolle im politischen Prozess Amerikas. 9 3 4 Die genannten Deregulierungen haben ihren Entscheidungsspielraum erweitert; sie haben sich darüber hinaus durch Steuererhöhungen neue Mittel verschafft, um eigenständige Politik betreiben zu können. Antiquierte Verfassungen sind in vielen Staaten ergänzt oder ersetzt worden, um die Institutionen und politischen Verfahrensweisen zu modernisieren und zu verbessern. Ihre Autonomie und politische Individualität gelten als feste Bestandteile der politischen Kultur des Landes. Und wo das „vertikale Gewaltenteilungsprinzip", die strikte Trennung also der Kompetenzen des Bundesstaates und der Einzelstaaten, im Zeichen der Kooperation an Bedeutung verliert, gewinnt die Mitwirkung am Entscheidungsprozess der Bundesgewalt durch die Einzelstaaten zusätzliches Gewicht. Ihr kommt die oben beschriebene Art der Willensbildung im US-Kongress ebenso entgegen wie die spezifische Zuordnung von Exekutive und Legislative oder die dezentralisierte Struktur des amerikanischen Parteiwesens. Letztlich kanalisieren fünfzig Verfassungen, die den Grundprinzipien der checks and balances und der Separation of powers Theorien folgen, den politischen Machtprozess der Gliedstaaten. Man kann grundsätzlich von einem Abbild der Bundesinstitutionen auf der einzelstaatlichen Ebene sprechen, was aber eine gewisse Variantenvielfalt im Detail der Rechtsgestaltung und Institutionenordnung nicht ausschließt. An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Governors, die von der jeweiligen Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse 933 In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Administration im Zeichen des „new federalism" noch mit d e m ideologischen Ziel, die Abhängigkeit der Einzelstaaten von Washington zu verringern. Als die Republikaner in den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlangt hatten, setzen sie die Reagan-Politik der Ü b e r t r a g u n g von Bundeszuständigkeiten (vor allem im Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man müsse das Washingtoner ..big g o v e r n m e n t " reduzieren und S o z i a l p r o g r a m m e näher bei den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräumen. die ihnen bei der D u r c h f ü h r u n g neu übertragener Aufgaben einen relativ großen Verwendungsspielraum zubilligen. In der deutschen Debatte über eine Verankerung des Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der „Föderalismusreform" sind durchaus Parallelen zu sehen. 934
Vgl. auch F. Greß. Wiedererstarken der Einzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. September 1993.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider. 935 Sie verfügen in den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staatskongresses führt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die Regierungsgewalt zu teilen. Sowohl der Bund als auch die Staaten verfügen über ein eigenes Verwaltungssystem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat sich heute eine Art „Mischverwaltung", ein personelles Zusammenwirken als förmliche Beauftragung der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, herausgebildet. So betraut der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen. Vom Sonderfall Nebraska abgesehen, sind die Legislativen der Staaten wie auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Repräsentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Grenze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren die Möglichkeiten der Staatsparlamente, eine kontinuierliche Politik zu betreiben, stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Parlamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkten, leiden sie genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung - der Aufsplittung in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschüsse. Insgesamt ist der „amerikanische Bürger" eingebettet in eine ausgeprägte gesellschaftliche Dimension des Föderalismus und Lokalismus, die im Laufe der weiteren Entwicklung durch die flächenmäßige Ausdehnung und den hohen Grad an gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragmentierung verstärkt wurde. Bis heute ist die politische Kultur der USA geprägt durch regionale und einzelstaatliche Besonderheiten, die trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen das amerikanische kulturelle, wirtschaftliche und politische Mosaik auszeichnen. bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte 936 Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa935 Als Leiter der Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der Gesetze: das K o m m a n d o über die Nationalgarde: die E r n e n n u n g der Beamten des Landes (wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf), und sie stehen der Staatsverwaltung vor. 936
U m f a s s e n d mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich beispielsweise A. von Bogdandy. Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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ren für den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales Gebilde für die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigsten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) sich in Herrenchiemsee nicht auf einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild verständigen. Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz von Macht- und Einflussteilung anstelle der US-amerikanischen -trennung. 937 In der Theoriegeschichte des Föderalismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass man sich in der Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bereits erreicht hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des Föderalismus attestieren 938 , sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation 939 . Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten ist. mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich während des 19. Jahrhunderts eine Verengung auf die Form der Bundesstaatlichkeit vollzogen hat. Wer sich dieser Begriffstradition verpflichtet fühlt, wird sich jedenfalls dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismusbegriff Zurückhaltung a u f e r l e g e n . Z w i n g e n d ist diese Verengung aber nicht; sie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders
neuen Herrschaftsform. 1999: P.M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: V V D S t R L 60 (2001), S. 194 ff.. 240. 937 Der deutsche Bundesrat wird von den Landesregierungen bestückt und zwingt die Länder damit zur Z u s a m m e n a r b e i t und zur Z u s t i m m u n g bei bundesstaatlichen Aufgaben (..kooperativer Föderalismus"). Der ..unitarische Bundesstaat" (K. Hesse, vgl. ders., Der unitarische Bundesstaat. 1962) unterscheidet nach Kompetenzarten: er hat es aber dennoch geschafft, das Paradoxon der sogenannten „ G e m e i n s c h a f t s a u f g a b e n " in die Verfassung zu integrieren. Allerdings befanden sich auch die deutschen Länder in der ..Stunde Null" auf einer g e m e i n s a m e n Ausgangsbasis, wodurch eine einheitliche Einteilung der Länder in der Verfassung erleichtert wurde. Insofern war die Einteilung der Stimmrechte pro Bundesstaat und die Einordnung der Staatsaufgaben in Bundes- und Landeskompetenzen nur in der Sache umstritten. Vgl. auch H. BiÜcklP. Lerche. Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, in: V V D S t R L 21 (1964). S. I ff.. 83. Z u m Bundesstaat als Rechtsbegriff siehe bereits H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff. 1928: vgl. auch jVf. Usreri. Theorie des Bundesstaates, 1964 sowie U. Scheuner. Struktur und A u f g a b e des Bundesstaates in der Gegenwart, in: D Ö V 1962, S . 6 4 1 ff. Zu einer „gemischten" Bundesstaatstheorie bereits P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 4 2 8 m. w. N.
938
Vgl. etwa M. Cappelletri/M. Seccombe/J.H.H.
Weiler. General Introduction. in:
dies. (Hrsg.), Integration through Law, Vol 1. Book 1 S . 4 ; K. Heckel. Der Föderalismus als Prinzip überstaatlicher G e m e i n s c h a f t b i l d u n g . 1998: W.Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999:/\. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. 1999. 939
So etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. 23 integration 2000. S. 149.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
wichtige - Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschichtlichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondern um Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusammenwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein höheres Ganzes zu verbinden. Die europäische Einigungsbewegung und die damit entstandene Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaften hat durchaus mitbewirkt, dass auch andere europäische Staaten zu einer Diversifizierung ihrer territorialen Gliederung gefunden haben. So entwickelte Spanien 1978 nach der Franco-Diktatur eine Staatsordnung, die auf ganz besondere „Sensibilitäten" in bestimmten Regionen Rücksicht nehmen musste. Die zweite Kammer, der „Senado" ist sowohl Parlamentskammer als auch „ K a m m e r der territorialen Repräsentation". Auch die spanische Verfassung unterscheidet nach Kompetenzarten, allerdings werden den autonomen Regionen keine Kompetenztitel zugesprochen. 942 Die Zuständigkeiten der Regionen reichen daher nur soweit, wie es die Autonomiestatute der jeweiligen Region zuerkennen. Damit wird ein spezifisches Merkmal des spanischen Regionalstaates deutlich: Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und den einzelnen Regionen ist asymmetrisch. Manche Regionen verfügen über deutlich mehr Kompetenzen als andere. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der spanische Staat nach der Ablösung von Franco sich zwar in einer
940 So auch jVf. Netfesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: Z E u S 5 (2002), S. 507 ff. 941
Gleichlautend Af. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten. in: Z E u S 5 ( 2002). S. 507 ff., der ebenda weiter konstatiert: ..Föderalistische Ordnungen sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderalismus ist damit Bildung eines G a n z e n unter gleichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und personellen G e m e i n s c h a f t e n . Er dient der Selbstbehauptung d e r Eigenart und der Anerkennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen Unterschieden zum Trotze - im Wertverständnis und in der Formulierung der Interessen auf einen Grundkonsens aufbauen kann." Vgl. auch W. Kägi. in: Die Juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht. Festgabe zur 100-Jahr-Feier der Bundesverfassung, 1948. S. 53.: „Freiheit ist dort, wo diese Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentralismus negiert, sondern durch Selbstgesetzgebung (Autonomie) und Selbstverwaltung der engeren G e m e i n s c h a f t e n respektiert und beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die G r u n d b e d i n g u n g für die Einheit eines vielgestaltigen Staatswesens." 942
Im „Vortitel" der spanischen Verfassung (1978) sind in Art. 2 die Unteilbarkeit („unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie „das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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grundlegenden Umbruchsphase, nicht aber in einer der Bundesrepublik ähnlichen „Stunde Null" befand. Die Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung war demzufolge differierend. Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der „Devolution" den Nationen (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht verholfen. 9 4 3 Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die historischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland. Wales und Nordirland eigene Regionalparlamente und -regierungen erhalten haben, blieben die englischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: während Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden sind, wurde für die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar eine eigene „Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution als „Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird 944 , ist mehr als fraglich, ob die englischen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig von der asymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich der „europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die zweite Kammer könnte sich zu einem Regionen-Gremium entwickeln, das dem deutschen Bundesrat ähnlich ist. Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten „Lois Deferre" eigene Erfahrungen mit dem Regionalismus* 15 gemacht. Hier wurde indes ein symmetrisches Modell angelegt, das den Regionen aber keine den beschriebenen Modellen vergleichbaren Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle behalten. In der Europäischen Union hingegen stellt sich die Frage der horizontalen Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: eine klare, funktionale Rollenzuweisung für die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von 943
Dazu M. Mey, Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet.
2003. 944
Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie allgemein zur ..Devolution" im Vereinigten Königreich Economic&Soeial Research Council (Hrsg.). Devolution Briefings, Devolution is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. 18, February 2005. 945 Z u m Rcgionalismus bereits F. Esterhauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa. 1990; A. Weber. Die Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen u . a . (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995. S . 6 8 1 ff.; M. Kot zur. Föderalisierung. Regionalisierung und Kommunalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Verfassungsraums. in: JöR 50 (2002), S. 257 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen: siehe auch ders., Kulturföderalismus in Deutschland - Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003, S. 61 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Legislative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt, ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente, nämlich über den Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der Kodezision ist nur unzureichend entwickelt und erstreckt sich nicht einmal auf alle Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Der Ministerrat teilt sich in eine legislative und eine exekutive Funktion zugleich, was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und implementiert die Ratsentscheidungen, übt aber im Wesentlichen keine exekutive Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie sie historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Montesquieu sehe Prinzip der Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits der Europäischen Union ergibt sich aus dieser Tatsache. Worin liegt nun die Konsequenz dieser kurzen Betrachtungen? Dass eine föderale Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt, dürfte sicher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompetenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten „europäischen Zentralismus" am ehesten vor. Allerdings wird gerade nach unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine „europäische"und wohl auch „asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Betracht kommen. Begriffsschöpfungen wie „differenzierte Integration" 946 , „variable Geometrie" 9 1 7 oder „Europa ä la carte" 918 deuten darauf seit längerem hin. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen sich allerdings auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den Typ föderalistischer Verbundenheit, der Europäische Union und Mitgliedstaaten ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die in Deutschland vorherrschende Auffassung ist in diesem Zusammenhang geneigt, den Integrationsverbund weiterhin als Ausprägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen. Europäischer Föderalismus lässt sich insofern mit Nettesheim als „konsoziativer Föderalismus" treffend kennzeichnen 919 („Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht 946
Dazu m.w. N. H. Schneider, Die Z u k u n f t der differenzierten Integration in der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4 / 2 0 0 4 . S. 259 ff. 947
Vgl. etwa U. Rüge. Europa variable Geometrie. Die erweiterte Union braucht eine Avantgarde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3 / 2 0 0 3 , S . 3 I 4 f f . 948
Vgl. etwa F. Breuss/S. Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder .Europa a la c a r t e ' ? , 1998. W9
Vgl. M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: Z E u S 5 (2002), S . 5 0 7 f f . ; H.Schneider. Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - oder was sonst?, in: 23 integration 2000. S. 171 ff. Anders als im
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
329
mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren, muss seine Form als ..Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Umschlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die überwiegende Auffassung, gegenwärtig zu verhindern. 950 cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht Das Wort „Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin. Frankreich wolle kein „föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor große Vorteile in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte. Die Trennschärfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich oftmals schwer herzustellen. Die Vereinigten Staaten standen 1787 vor der Frage, die die Europäer heute bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die für die einzelnen Staaten ausreichend Raum für „nationale" Politik bestehen, gleichzeitig aber ein nach außen handlungsfähiges Gebilde entstehen lässt? Die Philadelphia Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat f ü r die Entwicklung einer Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte. Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. „Staatenverbund" im weiteren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren Anliegen ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war. Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion aber hilfreich sein: In der US-amerikanischen Verfassung ist festgelegt, dass nur ausdrücklich genannte Kompetenzen dem Bund zustehen, alle anderen den Gliedstaaten. So heißt es im 10. Amendment: „The powers not delegated to ..bundesstaatlichen Föderalismus" fließt die verfassunggebende Gewalt der Glieder in der konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der Europäischen Union); anders als im ..bundesstaatlichen F ö d e r a l i s m u s " haben die Glieder auch ihre Souveränität bewahrt. 950
Siehe nur die Beiträge von: I. Pernice/ P.M. Huber IG. Lübbe-Wolff IC. G raben war-
te r. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: 60 V V D S t R L 2001, S. 1 4 8 / 1 9 4 / 246/290 m.w.N.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter Vertrag festgeschriebene „Subsidiaritätsprinzip" 951 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts anderes als die (mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und A. Hamilton hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahre später bei der Verabschiedung des „Alien and Sedition Act" (1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos. Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit — und ein Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung finden dürfte. In einer weiteren Frage offenbaren sich Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem heutigen Europa, nämlich im (nur auf den ersten Blick paradoxen) Grundsatz nach außen mit einer Stimme zu sprechen, im Innern aber von seiner Vielfältigkeit zu leben. Der Begriff des „Föderalismus" taugt im Rahmen dieser Debatte nur begrenzt, da sich die begrifflichen Gegensätze bis heute erhalten haben. 952 Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage nicht verloren. Der sogenannte „duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen Ebenen noch immer nach Politikfeldern. Er hat die Trennung auf der Legislativebene durch die Volkswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats, durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Verabschiedung der USamerikanischen Verfassung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten sich in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die Vertreter in der Convention eine gemeinsame Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung.
951
Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; P. Hiiberle. Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 119(1994). S. 169 ff.: MZuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: Melanges en h o m m a g e ä F. Schockweiler, 1999. S. 6 3 5 ff. Im Entwurf des VerfV wurde die Legaldefinition des Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3). 952 Die A n w e n d u n g der deutschen Bedeutung des „ F ö d e r a l i s m u s " - B e g r i f f s auf das politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch, obwohl die amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als „Federalists", die neu geschaffene Herrschaftsordnung als „federal s y s t e m " und die Zentralgewalt in Washington als „federal government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit ..Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen A m e r i k a n e r Zentralisierungstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Z u s a m m e n s c h l u ß im gesellschaftlichen, staatlichen o d e r internationalen R a u m mit sehr verschiedenen Ordnungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe „Bundesstaat" und „Föderalismus" fast identisch.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
331
Schließlich: Die wichtigste Konsequenz der Amerikaner aus der Ineffizienz der Unionsorgane unter den Konföderationsartikeln war die deutliche Stärkung der bundesstaatlichen Ebene. Eine Beobachtung, die für die Europäische Union lediglich dünne, wenn nicht marginale Parallelen eröffnet. c)
Das Prinzip der Gew altenteilung aa) Vorbemerkung
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtverteilung. die Hemmung und Mäßigung der Macht 9 5 3 , aber auch für die sachgerechte Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das entscheidende Organ, für die Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten 9 5 4 . In ihrem menschenrechtlichen Ursprung 9 5 5 handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat 956 : Die tatsächlichen Mächtigkeiten werden auf eine freiheitsberechtigte Gesellschaft und einen freiheitsverpfiichteten Staat aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger der Staatsgewalt gegenüber Waffengleichheit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsgebundene. unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung. Regierung und Verwaltung durchsetzt. In konkreteren Verfassungsgedanken findet das Prinzip der Gewaltenteilung jeweils seine Ausprägung 9 5 7 : Die Gewaltenteilung zum Schutz der Menschenrechte mäßigt und begrenzt Staatsgewalt im Dienst der Individualrechte und nimmt dabei die Entwicklung der Grundrechte von der bloßen Abwehr der Staatsall macht hin zum positiven Leistungsrecht auf. 95s Das Bundesstaatsprinzip, das den Rechtsstaat weniger von der Staatsgewalt und mehr vom Staatsgebiet her organisiert, stellt 953
Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 3. 225 (247); 34. 52 (59); 49. 89 (124). Z u m amerikanischen Verständnis aus der deutschsprachigen Lit.: P.E. Quint. Gewaltenteilung und Verfassungsauslegung in den U S A . in: D Ö V 1987. S. 568 ff.: D. P. Currie, Die Gewaltenteilung in den U S A . in: JA 1991. S. 261 ff. Vgl. allgemein bereits D. Tsatsos. Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung. 1968. 954
Vgl. allgemein K. Hesse, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995. R n . 4 7 5 f f . , 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. I. 1987. § 24 Rn. 50. 955 Vgl. auch Art. 16 d e r Erklärung der M e n s c h e n - und Bürgerrechte (1789); Titel III Art. 1 -5 der Französischen Verfassung von 1791. 956
Vgl. bereits R. Thoma. Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. 1925, S. 183 ff., 187 Fn.4. 957 Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), G r u n d f r a g e n d e r europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht. Band 4. Forum Constitution is Europae - Band 1. 2000. S. 37 ff.
332
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demokratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliederung mäßigend und ordnend insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen „Gewaltenmonismus" beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt - ein Kernbereich der Aufgaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung und seinem Verfahren am besten erfüllen kann. 9 5 9 Hat die Verfassung vor allem eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat. 960 Steht die Verfassung hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebundenen Verfassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Entscheidungen „möglichst richtig" getroffen werden, so wird die Gewaltenteilung zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip. 961
bb) Die Ausgestaltung in den USA In der amerikanischen Verfassung ist das Prinzip der Gewaltenteilung („Separation of powers") als zentrales Element hervorzuheben. 9 6 2 Artikel I der Verfassung gewährt dem Kongress die Gesetzgebungskompetenz. Artikel II beschreibt eher diffus die Exekutivgewalt des gewählten Präsidenten und Artikel III legt wie bereits geschildert die Judikativfunktion des Supreme Court, der Einzelstaatsgerichte und der unteren Bundesgerichte, die im einzelnen vom Kongress bestimmt werden, fest. Schließlich normiert Artikel IV das gewaltenteilige Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten. Ebenso wichtig wie die grundlegende Teilung der Staatsgewalten in Legislative. Exekutive und Judikative ist aber in der Theorie auch die gegenseitige Kontrolle dieser drei Kräfte („checks and balances"). So wird die Gesetzgebung durch zwei Häuser des Kongresses vollzogen, da die Verfassungsväter die erheblichste Gefahr im potentiellen Gewaltmissbrauch sahen. 963
958 K. Stern. Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992. § 108 Rn. 38. 959 Vgl. P. Bodura, Die parlamentarische Demokratie, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. 1. 1987, § 2 3 R n . 6 ; das Prinzip deutlicher dem Demokratieprinzip unterordnend £ . \V. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, daselbst. § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch BVerfGE 68. I (86).
960
E. Schmidt-Assmann (1987), § 24 Rn. 47.
961
Vgl. w i e d e r u m BVerfGE 68. I (86).
> 1 * Vgl. etwa D. Currie. Die Gewaltenteilung in den U S A , in: Juristische Arbeitsblätter 1991. S. 261 ff. 963
Dazu etwa G. Gunther. Constitutional Law. 11 * ed. 1985. S. 336.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
333
Die amerikanische Herrschaftsordnung zeichnet sich folglich nach Meinung vieler Beobachter auf den ersten Blick durch die strikte Verwirklichung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips von Exekutive und Legislative aus. Die politischen Theorien eines J. Locke und C. de Montesquieu scheinen auf dem Boden der Neuen Welt stärker beherzigt worden zu sein als in Europa, oder, wie dies E. Fraenkel beschrieben hat, die Amerikaner haben die „wesentlichen Merkmale der englischen Verfassung, wie sie aus der .Glorreichen Revolution von 1688/89' hervorgegangen waren, reiner erhalten." 9 6 4 Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, allein schon wegen Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten. 9 6 5 Den Vätern der USVerfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig teilnehmender Gewaltenausübung gegangen. 9 6 6 Das politische System der USA beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits. Repräsentantenhaus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wechselseitig teilhaben und gemeinsam an deren Erfüllung mitwirken. Sichtbarsten Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Stellung des Präsidenten gegenüber beiden Häusern des Kongresses. 967 Sie tritt zum anderen in der gleichfalls verfassungsmäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamentarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt, die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde. 9 6 s
964 E. Fraenkel hier/u umfassend in seinem mittlerweile klassischen Werk ..Das amerikanische Regierungssystem", 3. Aufl. 1976. 965 Als Stellvertreter (bei Amtsunfähigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei Stimmengleichheit den Ausschlag zugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten gewiß nicht reden. 966
So in der Konsequenz auch R. Neustadl. Presidential Power & T h e Modern Presidents,
1990. '*'7 Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand also, dass unter allen Wahlbeamten A m e r i k a s allein der Chef des Weißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung d e m Präsidenten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten im Kongress nicht beschnitten werden kann. 968
Mit d e m Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von e n o r m e r Bedeutung ist und eine wichtige Ergänzung d e r präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Z u s t i m m u n g s bedürftigkeit durch den Senat bei der E r n e n n u n g von Mitgliedern und hohen Beamten
334
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
In einem bemerkenswert scharfen Bruch mit überkommenen Vorstellungen formulierten die Verfasser der „Federalist Papers" die Einsicht, dass - im Gegensatz zu einer Monarchie - in der Republik nicht die Exekutive der dominierende Machtarm sein müsse, sondern die Legislative. Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht für die Handelsgesetzgebung. 969 Die amerikanischen Verfassungsväter haben die Gefahren erkannt, die einer strikten Anwendung der Gewaltentrennungslehre innewohnen. So kann die exklusive Betrauung jeweils eines Staatsorgans mit bestimmten Aufgaben die Ausübung unkontrollierter Herrschaft fördern, die strikte Isolierung der Gewalten voneinander die Lähmung des politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozesses befördern. Die Montesquieusche Lehre ist deshalb von den Gründervätern so interpretiert und in Verfassungsvorschriften umgewandelt worden, dass Blockierungen des politischen Prozesses bzw. überzogene Machtansprüche einer Gewalt zwar immer wieder auftauchten, aber stets wieder gezügelt werden konnten. J. Madison bemerkte dazu: „Wenn Montesquieu sagt, es kann keine Freiheit geben, wo gesetzgebende und vollziehende Gewalt in ein und derselben Person oder in ein und derselben Körperschaft vereinigt sind, oder, wo die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und von der vollziehenden Gewalt getrennt ist, so meint er damit keineswegs, dass die drei Zweige der Regierung untereinander auf ihre spezifische Tätigkeit nicht ein gewisses Maß von Einfluss ausüben oder einander nicht wechselseitig kontrollieren sollten." 970 Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen verfassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeichnet. der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar. Die Verfassung der USA gebietet g e m ä ß Artikel I, § 6. par 2 auch strikte Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat. 969
Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle beansprucht. 970
Siehe Federalist, Artikel 47
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
335
Bereits in den Gründerjahren entzündeten sich Konflikte zwischen den Gewalten bei der Umsetzung außenpolitisch relevanter Verfassungsnormen in die Regierungspraxis. Sie haben sich bis in die Gegenwart im Kompetenzstreit um Rechte im Bereich der Kriegführung (war power) und Befugnisse hinsichtlich des Eingehens internationaler Vertrags Verpflichtungen (treaty power) fortgesetzt." T| cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union 9 7 2 Der europarechtliche Gedanke einer Duldung verwobener. nebeneinander geltender Rechtsordnungen scheint dem Verfassungsrecht zunächst fremd. Eine Verfassung sucht die verschiedenen Rechtsquellen in einem Geltungssystem derart zu ordnen, dass regelmäßig nur einer der - potentiell kollidierenden - Rechtssätze gilt. Sie unterscheidet zwischen der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt, um jede Revolution durch staatliche Organe als Verfassungsbruch zu entlarven. Sie hebt die verfassunggebende von der verfassungsändernden Gewalt ausdrücklich ab, um die Kontinuität der Verfassungsentwicklung in Inhalt und Verfahren zu gewährleisten. Sie ordnet die verschiedenen Gesetze in einem Rangverhältnis und deren Aussagen nach Spezialität und Priorität. Die Verfassung duldet traditionell keine gleichrangigen, konkurrierenden Normen. „Schonender Ausgleich" und „praktische Konkordanz" harmonieren innerhalb des Verfassungsrechts, nicht zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht oder Verfassung und Vertragsrecht. Gleichwohl: das moderne Verfassungsrecht anerkennt mittlerweile eine „offene Staatlichkeit" 973 , die den Staat zur Völkerrechtsfreundlichkeit und zur Mitwirkung 971
Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im U m feld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Z u s t i m m u n g s r e c h t des Senats zu internationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert i m m e r wieder versucht, den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen (executive agreements) geschlossen hat, die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst so folgenträchtige A b k o m m e n wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind d e m Senat nicht zur A b s t i m m u n g vorgelegt worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben die Regierungen der USA zahlreiche militärische G e h e i m a b k o m m e n mit anderen Staaten getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat. 972
Vgl. statt vieler R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderalismus, Rechtsbindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), G e m e i n s a m e s Verfassungsrecht in der Europäischen Union. 1998, S . 9 9 f f . : H.-D. Horn. Über den G r u n d s a t z der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: J ö R 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. 2. Aufl. 1962. S. 106. Siehe des weiteren M. Sinwi. Der Gerichtshof der Europäischen G e m e i n s c h a f t e n im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Z u m „institutionellen Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003. S. 217. 973
So etwa bereits K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes f ü r die internationale Z u s a m m e n a r b e i t . 1964. S. 33 f.. 42 f. Siehe im europäischen Kontext auch
336
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
an der Europäischen Union verpflichtet 974 . In Deutschland beauftragt Art. 23 GG die staatlichen Organe, diese offene Staatlichkeit des Grundgesetzes in Richtung auf die europäische Integration nachhaltig fortzuentwickeln. 9 7 5 Diese Offenheit für die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt in Deutschland durch europäische Organe hat zur Folge, dass neben die staatliche Gewalt eine europäische Gewalt tritt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und Mäßigung nicht nur im Binnenbereich des deutschen Verfassungsrechts findet. Vielmehr entsteht eine zur Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen berechtigte europäische Gewalt, deren Ziele und Handlungsweisen konträr zu denen des einzelnen Mitgliedstaates stehen können. Dementsprechend gehören Rechtskonflikte zwischen der Gemeinschaft und einem Mitgliedstaat zum europäischen Rechtsalltag. Nicht zuletzt deshalb steht die europäische Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, diese Gewalten einander zuzuordnen, aufeinander abzustimmen und auf ein gemeinsames Maß auszurichten. Der klassische Gedanke der Gewaltenteilung findet einen neuen Anwendungsbereich. Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird innerhalb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvorbehalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische Legitimationsgrundlage geschwächt. Allerdings sind die Gemeinschaftsorgane ihrerseits funktionenteilend organisiert und haben im EuGH ein Gericht, das allen Maßstäben eines Rechtsprechungsorgans genügt. 976 Dieses Gericht ist funktionell mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten verschränkt und teilweise funktional in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit eingegliedert. 977 Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung stehen ebenso wie die mitgliedstaatliche und die gemeinschaftsrechtliche Gerichtsbarkeit „nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander", sondern sind „in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander
P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), G r u n d f r a g e n der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht, Band 4. Forum Constitutionis Europae - Band I, 2000. S. 37 ff. 974 Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze. Handbuch des Staatsrechts VII. 1992. § 160 Rn. 16. 9 5 Vgl. dazu K.-P. Sommermann, Staatsziel ..Europäische Union", in: D Ö V 1994. S. 5 9 6 ff.; C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: E u G R Z 1993, S. 4 8 9 ff.. 4 9 3 . 976
Vgl. nur BVerfGE 73, 339 ( 3 6 7 ff.) - Solange II.
977
Vgl. insbesondere Art. 234 EGV. sowie BVerfGE 73, 339 (368).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
337
verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet" 9 7 8 . Damit ist der Auftrag der Gewaltenzuordnung, Gewaltenbalancierung und Gewaltenkooperation definiert. 979 In der vertikalen Gewaltenteilung steht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union von denjenigen der Mitgliedstaaten bzw. subnationalen Einheiten im Vordergrund: bei der horizontalen Gewaltenteilung handelt es sich um die funktionale Rollen der EU-Institutionen, d. h. um die Frage, welche Institution ist das legislative, welche das exekutive Organ und wie stehen die Organe zueinander. Grob gesagt geht es um den „politischen Überbau", dessen klare Ausgestaltung den latenten und immer heftiger werdenden Vorwurf des Legitimationsdefizits der Europäischen Union entkräften soll. Ein erster Schritt hierzu war sicherlich die Verabschiedung der „Europäischen Grundrechtscharta", der jedoch nicht als ausreichend erachtet werden kann. 980 Aus unionsrechtlicher Sicht ruht die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV, aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem allgemeinen Rechtsgrundsatz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, als dessen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem „institutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltenteilung verwandtes Prinzip im Gemeinschaftsrecht entwickelt. Während das „institutionelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwischen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefundenen gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG) verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitlichen Rechtssatz aufzufassen. der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschaftsrechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der einen und um ein mitgliedstaatliches
978
BVerfGE ebenda.
979
Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation weist d e m Europäischen Gerichtshof die abschließende E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s über die Auslegung des Vertrages zu und sichert durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Auslegung und A n w e n d u n g des G e meinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. B V e r f G E ebenda. während die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung für ihr Europaverfassungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsanw e n d u n g s b e f e h l s tragen. So wird für das Verhältnis von Europäischer G e m e i n s c h a f t und Mitgliedstaat ein G e w a l t e n m o n i s m u s auf der einen oder anderen Seite vermieden. 980
Vgl. U. Guerot, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2 / 2 0 0 1 . S. 28 ff.
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite, sondern um einen übergreifenden gemeineuropäischen Rechtssatz. Die Trennung zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und „autonomer" Gemeinschaftsrechtsordnung wird damit zumindest partiell überwunden. Die auf Gewalten- und Funktionentrennung zielenden Regelungen des Gemeinschaftsrechts und des innerstaatlichen Rechts sind Ausdruck eines rechtsordnungsübergreifenden Grundsatzes der Gewaltenteilung. 9 8 1 d)
Identität und der Begriff der Nation
Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die „Federalists" mit einem inhaltlichen wie nahezu literarischen Paukenschlag: Es sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Territorium eine Menschheitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob „ [ . . . ) menschliche Gemeinschaften wirklich dazu fähig [sindj, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten", oder ob sie „für immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein." 9 s : In Amerika stand erstmals das Experiment einer großräumigen Republik an. die sich noch dazu nicht dem Zufall, sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.
' , s l Die rechtsordnungsübergreifende Natur insbesondere des Grundsatzes der Gewaltenteilung erweist sich nicht zuletzt im vertikal gewaltenteilenden Subsidiaritätsprinzip. das auch eine Gewaltenbalance zwischen europäischen und staatlichen Organen schaffen will. Es weist über die jeweilige Rechtsordnung hinaus und setzt notwendigerweise die Existenz einer vorrangig und einer subsidiär zur Rechtsetzung berufenen Ebene voraus. Neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der den Grundsatz der Gewaltenteilung einschließt, findet m a n bei einem Abgleich von Art. 6 Abs. 1 E U V und etwa Art. 23 Abs. 1 Satz I GG das Demokratieprinzip und die G r u n d - und Menschenrechte, deren Beachtung wechselseitig von der jeweils anderen Rechtsordnung eingefordert wird. Das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie die G r u n d - und Menschenrechte sind ebenfalls rechtsordnungsübergreifende Rechtssätze, vgl. zum Rechtsstaatsprinzip auf dessen vergleichende Darstellung etwa mit der US-amerikanischen ..Rule of L a w " in dieser Arbeit verzichtet werden muss, insb. P. Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff. m. w. N.; vgl. allgemein aus der Lit. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. 1986; ders., Der Rechtsstaat, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II. 2001. S. 379 ff.; K.Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997; E.Sarcevic, Der Rechtsstaat. 1996. Zur europäischen Ebene bereits E.-W. Fuss. Z u r Rechtsstaatlichkeit der Europäischen G e meinschaften. in: D Ö V 1964. S. 577 ff.: vgl. auch D. Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, in: Der Staat 37 (1998). S. 189 ff.; J. Schwarze. Rechtsstaatliche Grundätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Festschrift für G . C . Rodriguez Iglesias, 2003. S. 147 ff. 982
Vgl. T h e Federalist, I. Artikel (Hamilton).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
339
Indem die „Federalists" auf diesen Sachverhalt hinwiesen, appellierten sie an den amerikanischen Bürgerstolz. Damit hatten sie der Diskussion von vornherein eine Richtung gegeben, die kleinliches Kalkül geradezu verbot. Es ging nicht nur um das vordergründige Selbsterhaltungsinteresse, sondern darüber hinaus um eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Dimension. Wie immer das Ergebnis dieser Entscheidung zu beurteilen ist - wer sich an einem Geschehen beteiligt weiß, mit dem ein Meilenstein in der Geschichte gesetzt wird, dem ist damit ein Motiv gegeben, über den bloßen Augenblick, über das eigene kleine Leben hinaus zu denken. Mag man auch solchen Stolz auf das Mitwirken im Weltgeschehen als eine nur etwas subtilere Form der Befriedigung des Eigeninteresses deuten - auf jeden Fall verkörpert sich darin ein wenig mehr als die Sorge um das bloße Alltagsgeschäft, und dieses „Mehr" ist es wohl auch, das Begeisterung zu wecken vermag. 1 "' Große Ideen mobilisieren gelegentlich auch große Emotionen, und auf diese ist man bei der Durchsetzung von über den Tag hinausweisenden Zielvorstellungen nicht weniger angewiesen als auf einen klaren, nüchternen Verstand. Doch die „Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee, sie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermenschlichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem sie versprachen, dass sich gerade durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen ein neues Mittel für einen alten Zweck. So sind die Vorteile, die die Autoren einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von der Art, wie sie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik.''" 4
983
Vgl. auch A und W.P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.). Hamilton. Alexander. Die Federalist-Artikel. 1994. S. x x v i i f f . , x l i v f . sowie B. Zehnpfennig. Das Experiment einer großräumigen Politik, in FAZ vom 27. 11.1997. S. 11. ,yS4
Zu den ö k o n o m i s c h e n Vorteilen zählt der Wegfall der Zollschranken, eine bessere Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot, das a u f g r u n d der freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ auch für andere Nationen attraktiv wird. W a s die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die ..Federalists"in einer engen Union den Garanten für Frieden zwischen den Staaten wie auch zwischen der Union und anderen Nationen: schon die g e m e i n s a m e Stärke sollte andere davon abschrecken, nach d e m bewährten Prinzip des ..divide et i m p e r a " zu verfahren und die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftritt, hat vorher vielleicht politische Fakten geschaffen, die dann ein g e m e i n s a m e s militärisches Vorgehen unmöglich machen, vgl. hierzu A. und W. P Adams. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton. Alexander. Die Federalist-Artikel. 1994. S. xxvii ff. sowie M. Diamond. Democracy and T h e Federalist: A Reconsideration of the Framers' Intent. in: A m e r i c a n Political Science Review 53 (1959). S. 52 ff. In weiterem Kontext E.F. Miller, What Publius Says about Interests. in: Political Science Reviewer 19 (1990). S. 11 ff.
340
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Das amerikanische Nationalgefühl ist zweifelsohne - und nicht erst seit dem 11. September 2001 („United we stand." „We are all Americans.") - eines der stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der Verfassunggebung eine bedeutende Rolle. Schließlich hatten die Siedlerden Unabhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes Element für das Identitätsgefühl war sprachlicher Natur, da sich trotz der Vielsprachigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die „lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chancen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es ein Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer Identität und Souveränitätsbewusstsein „geboren". 985 Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die „finalite politique", das Ziel einer Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der „föderierten Nation" der USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der „Einheit in Vielfalt". Trotzdem darf von einer „europäischen Identität" 986 gesprochen werden. Letztere zu definieren ist zum ersten Mal in dem Dokument des Europäischen Rates in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses in Fontainebleau 1984 versucht worden. Die Zielsetzung war freilich nicht, nationalstaatliche Identitäten in einem europäischen „melting pot" zu verschmelzen. Aber ebenso wie „life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declaration of Independence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, sind die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand. Solidarität, Freiheit, und der Absicht. Europa eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben, ins Leben gerufen worden. 987 985 Siehe auch G. Burghordt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2 0 0 2 . sowie J. Ellis. Founding Brothers. T h e Revolutionär^ Generation. 2 0 0 2 . Ch. „Generations: .Sovereignty did not reside with the federal government or the individual states; it resided with T h e People. W h a t that meant was a n y o n e ' s guess, since there w a s no such thing at this formative stage as an American .people 4 ; indeed. the primary purpose of the Constitution w a s to provide the f r a m e w o r k to gather together the scattered strands of the population into a more coherent collective worthy o f t h a t designation." Dem großen ..amerikanischen" Europäer A. Einstein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: „America is not a State, it is a continent. T h e A m e r i c a n s are not a people but the result of permanent immigration which has not yet c o m e to an e n d . " 986
Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, 1995; M.Schauer, Europäische Identität und demokratische Tradition. 1996: D.Scholz, Europa - vom M y t h o s zur Union. G e d a n k e n über die europäische Identität und die Aufgaben Europas nach Maastricht II. 1 9 % . Vgl. auch E. Pache. Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVB1.2002. S. 1154ff: XV. Graf Vitzthum. Die Identität Europas, in: EuR 2002. S. I ff. 987
Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor der Aufgabe. Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
341
Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung atmet das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas™* Man orientiert sich allerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und unverhohlener Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Den alten Kontinent als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet sich Europa wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im „Alles-nur-nichtAmerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle der Karikatur eines „Neoliberalismus" nach Wildwestmanier - in seiner gegenwärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv genug, um identitätsstiftend sein zu können? Wrie stark ist denn eine europäische „Hochkultur", die gegen den Angriff des amerikanischen „Primitivismus" durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den Holocaust wirklich mehr „sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als 200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitätssuche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutschfranzösisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen. Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbereichen belebt und sie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird für Frankreich schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen, die mit Amerika „auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, finden im Konventsentwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär. mit dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum „stakeholder" der g e m e i n s a m e n Z u k u n f t zu machen. Ein symbolträchtiger A n f a n g war mit europäischer H y m n e . Flagge und dem Euro gelungen. 988
Vgl. J. Habermas (mit J. Derrula), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: F A Z vom 31. Mai 2003. auch in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff.
342
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Mitgliedstaaten sind in ihren Verfassungswerten, den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und der jeweiligen nationalen Identität 989 zuweilen ausgeprägter typisch europäisch als die Europäische Union, die sich unter dem mehr oder weniger sanften Diktat der Wirtschaftsgemeinschaft eher am Globalen ausrichtet. P. Häberle sieht in „Europa i. e. S. der Europäischen Union bzw. der Römischen Verträge (1957) sowie der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), f . . . 1 durchaus schon ein Ensemble von Teilverfassungen" verwirklicht, wobei eine „VollVerfassung" im Sinne des klassischen Verfassungsstaates schon daran scheitere, dass Europa kein „Staat" sei. 990 Gleichwohl ist im gemeinschaftsrechtlichen Kontext der Verfassungsbegriff - wie oben dargestellt - von seinem traditionellen Staatsbezug zu lösen'" 1 und einer neuen Wirklichkeiten gewachsenen Definition zuzuführen. Ein Erwachsen in eine erneute „Verfassungsmoderne" auf den Fundamenten, unter der „Elternschaft" europäischer Verfassungsleitbilder, aber insbesondere auch im Bewusstsein amerikanischer Verfassungsgestaltung. Ein identitätsstiftendes Moment erscheint diesbezüglich nicht ausgeschlossen. Eine weitere Frage (die aufgrund ihrer vordergründigen Loslösung vom gemeinschaftsrechtlichen Ansatz eher als Inkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der „Nation". Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die Stelle der Religion getreten ist. Die - wie bereits erwähnt - im 17. Jahrhundert der Staatlichkeit unterworfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element gebannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen, sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen waren durchaus vergleichbar. Die „Nation" war durch die Romantik ursprünglich als ein eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die als zu intellektuell empfundene Aufklärung. 9 9 2 Die romantischen Gegenwerte zur Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die fran-
''s,< Aus der Lit. zur ..nationalen Identität": A. Bleckmann. Die Wahrung der nationalen Identität im Unionsvertrag, in: JZ 1997, S. 2 6 5 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: A. R a n d e l z h o f e r / R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.). Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995, S. 1 5 7 f f : U.Haltern. Europäischer Kulturkampf. Zur Wahrung „nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (1998), S. 591 ff.; K. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der EU. in: O. Duc u. a. (Hrsg.), Festschrift f ü r U. Everling. 1995, Band I. S. 2 6 3 ff. 990
Siehe P. Häberle, Verfassung als Kultur, in: JöR 49 (2001), S. 125 ff., 132.
991
So auch P. Häberle, ebenda.
992
Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus. von der Vernunft, vom Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft w u r d e in der Romantik die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die G r u p p e .
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
343
zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der als staatliche Identifikationsfigur („L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in ein politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von „Nationalstaaten*' beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England, Frankreich. Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser Form. Etwas gänzlich konträres ereignete sich in Amerika: formal wurde freilich ein Nationalstaat gegründet. Angesichts des umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle allerdings nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unterschied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor allem in moralischen Kategorien manifestieren. Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich weitgehend religiös und moralisch. Im Verständnis der Vereinigten Staaten spielte das „Gute", für das diese Nation steht, von allem Anfang an eine zentrale und religiös begründete Rolle. In diesem Zusammenhang erweist es sich als banale Konsequenz: Wenn es das „Gute" gibt, muss es aber auch das „Böse" geben. Nach außen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die „Achse des Bösen" erfunden worden ist. Nach innen werden „böse" Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum „Guten". Hier liegt ein weiterer Grund für die Inkompatibilität von „existentieller Zugehörigkeit" nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität. e)
Das Demokratieprinzip - Anmerkungen
Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort „demokratisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus einer unterschiedlichen Nutzung der Terminologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist/">x Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem Wort „demokratisch" lediglich eine unmittelbare Demokratie, wie sie in antiken w Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokratischen G e d a n k e n s ist neben aller wissenschaftlicher Ansätze bis heute die Lyrik W. Whitmans. Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk „Leaves of G r a s s " (erste Ausgabe 1855. Ausgabe letzter Hand 1891 - 9 2 ) feiert ausdrucksstark den freien Menschen und das Ideal der amerikanischen Demokratie. W h i t m a n s Werk beeinflusste überdies die Lyrik Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln w i e d e r u m dort, unter a n d e r e m bei Homer. Shakespeare und Goethe und im Pathos der italienischen Oper. Hierzu D. Reynolds. Walt W h i t m a n s America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.
344
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Stadtstaaten bestanden hatte und in einzelnen Schweizer Kantonen existierte. 994 Eine auf dem Repräsentativsystem aufgebaute, das Prinzip der Volkssouveränität zum Mindesten theoretisch respektierende Verfassungsform nannte man ..Republik". Nur unter Berücksichtigung dieses Sprachgebrauchs ist es voll verständlich, warum bei der Beratung und Ratifizierung der Verfassung mit solchem Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass die USA zwar ein „republikanisches", aber kein „demokratisches" Staatswesen darstellen sollten. 995 Das demokratische Element im Prozess der politischen Willensbildung der USA wird durch die Tatsache gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu Kontinentaleuropa die demokratischen Kräfte sich nicht gegen monarchische, aristokratische, bürokratische und militärische Kräfte durchzusetzen, sondern ausschließlich mit der Opposition einer sich in ihren Eigentumsrechten bedroht fühlenden wirtschaftlichen Elite zu rechnen hatten. Zudem war der letztliche Sieg der demokratischen Kräfte nicht durch theoretisch abgeleitete Vorstellungen eines „Gesamtwillens" beeinfiusst, der die Geltendmachung von Partikularinteressen grundsätzlich ausschließt. sondern als eine Erscheinungsform der Wahrnehmung der individuellen Interessen der sozial nicht differenzierten Siedler des neuerschlossenen Grenzraums („frontier") in Erscheinung trat. Die schrittweise Demokratisierung des amerikanischen Regierungssystems hat dessen rechtsstaatlichen und pluralistischen Charakter nicht beeinträchtigt (- eine Erkenntnis, die im Lichte aktueller amerikanischer Außenpolitik und darin strategisch verankerter „Demokratisierungs-Missionen" auch spiegelbildlich Aktualität beanspruchen könnte). Ebensowenig wie die Doktrinen Rousseaus den ursprünglichen Verfassungstext bestimmt haben, konnten die Theorien der Französischen Revolution die Fortentwicklung der Verfassungsordnung maßgeblich leiten. Allerdings verbergen sich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demokratie zuweilen widerstreitende politische (und in der Demokratietheorie inflationär behandelte) Haltungen: Eine plebiszitäre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines einheitlichen nationalen „Gemeinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und eine pluralistische Vorstellung der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit die Resultate aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen994
E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S . 3 9 f f . sowie //. Wasser; Die Vereinigten Staaten von A m e r i k a . Porträt einer Weltmacht. 2. Auflage 1982 unter häufiger B e z u g n a h m e auf Fraenkel. 995
Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das G e m e i n w o h l nur durch das freie Z u s a m m e n s p i e l der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spielregeln erforderlich, die - z u m Mindesten in der ersten Periode der amerikanischen Verfassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralistische als durch demokratische Gedankengänge bestimmt waren.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
345
willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die „Federalist Papers" verfaßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses Ringen zu einer Art „Arbeitsteilung" geführt und bewirkt, dass die Ideologie der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war. 996 Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demokratische ist. beantwortet R.A. Dahl wie folgt: „Madison meint Demokratie, wenn er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische Regierung sagt." 997 In Europa besteht „demokratische Identität" in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität weniger in diesem Bereich als darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne zu berufen vermag, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. Demzufolge erhalten Recht und Justiz in den Vereinigten Staaten eine gänzlich andere Funktion als in Europa, nämlich letztlich eine in weiten Teilen politische. 998 In Europa bedeutet übrigens „Politik" unter anderem, dass in den politischen Instanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird: die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staaten wird um Rechte gestritten: der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt - horizontal - in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern dieser Nation die Vorstellung eines „vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die „founding fathers" wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken. Die Frage nach den Erscheinungsformen des Demokratieprinzips in der Europäischen Union wird oftmals mittels der Benennung der Defizite beantwortet.
996
Vgl. zu alledem E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem, i 9 6 0 . S. 39 ff.
997
Vgl. R.A. Dahl. How Democratic Is the A m e r i c a n Constitution. 2002. S. 5. 161.
998 Vgl. auch G. Haller. Recht - D e m o k r a t i e - Politik. Z u m unterschiedlichen Verständnis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat anlässlich der Tagung ..Die USA - Innenansichten einer W e l t m a c h t " , 7 . / 8 . Februar 2 0 0 3 an der Katholischen A k a d e m i e in Bayern. M ü n c h e n , http://www.grethaller.ch/kaih-ak-muenchen.html.
346
B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar 9 9 9 , weshalb lediglich einige Schlaglichter geworfen werden sollen. Zum einen: Der Inhalt einer Verfassung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich auch nach der Intensität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umgebenden oder schaffenden Organe K l 0 0 , insbesondere aber einer sie einfassenden „demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit" 10 " 1 . Die nationalstaatlichen Regierungen, die auch die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union unter ihrer Kontrolle haben, sträuben sich weitgehend gegen eine Verminderung ihres Einflusses. 1002 Solange der Union jedoch eine eigenständige demokratische Legitimation fehlt, könnte der Einfluss der Regierungen auch aus normativen Gründen nicht rasch zurückgedrängt werden. Ohne europäische Medien, europäische Parteien und eine europäische öffentliche Meinung lässt sich das europäische Demokratiedefizit auch nicht durch bloße Verfassungsreformen abbauen. Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten „europäischen Demokratiedefizits" indes darin, dass - bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die nationalstaatliche Ebene d u r c h g r e i f t - d i e in den Mitgliedstaaten geltenden Partizipationschancen tendenziell entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürgerdann unterworfen sind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu ziehen; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unter den Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber „europäischem Z u g r i f f ' noch gegenüber der jeweils eigenen Bundesebene gesichert.
999
Vgl. etwa A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip. in: JZ 2001, S. 53 ff.. 57: D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion. in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl tt. a. (Hrsg.). Europäische Demokratie, 1999: D. Thürer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: O. Due u. a. (Hrsg.). Festschrift für U. Everling. 1995. Band 2. S. 1561 ff.: M. Kaufmann. Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 3 4 9 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 29 (1993). S . 4 4 9 ff.; H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.; D. Murswiek. Maastricht und der pouvoir constituant. in: Der Staat 32 (1993), S. 191 ff. 1000
Es stellt sich allerdings die Frage, welchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen sind, die eine Verfassung erst schaffen: Verfassungsorganc werden selbst in der Regel erst durch eine Verfassung gebildet. 1001 p Hüberle sieht diese demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit als Beteiligte an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissenschaft. 2. Aufl. 1998. S. 2 3 5 ff. und in: Verfassung als öffentlicher Prozess. 2. Aufl. 1996. S. 198 ff.). 1002
Vgl. F. Scharpf. Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift. 1985. S. 323 ff.
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
347
Zur Evaluation"" 3 : auf europäischer Ebene sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger vom Umfang betrachtet mager und angesichts ihrer Relevanz dürftig. Auf Sachentscheidungen ist den Bürgern keinerlei Einfluss eingeräumt; unter personellen Gesichtspunkten entsprechen die gewährten Möglichkeiten kaum dem Kriterium der „meaningful elections". Auch der Differenzierungsgrad der Beteiligungsmöglichkeiten ist gering. Es findet keine Differenzierung nach Stadien des Entscheidungsprozesses statt; hinsichtlich der Entscheidungsebenen ist eher ein Minus zu konstatieren, da die europäische Ebene die Chancen effektiver Beteiligung auf mitgliedstaatlicher Ebene verringert. Nur nach Sektoren gibt es eine gewisse Differenzierung, wenn auch nur informell: Über Anhörungen und den Zugang zu europäischen Politiknetzwerken gelingt es sektoralen Eliten, aber auch NGOs durchaus, den europäischen Entscheidungsprozess - ggf. sogar im Stadium des agenda-setting - zu beeinflussen. Zudem ist das Kriterium der Kontestierbarkeit nur marginal erfüllt. Der EuGH kann zwar gegen die Mitgliedstaaten angerufen werden, kaum jedoch gegen europäische Entscheidungen. 1(104 Die Mitgliedstaaten bleiben abseits der EU-Regelungsbereiche weitgehend autonom. Mangels vertraglicher Kompetenzabgrenzung sind ihre Autonomiebereiche indessen nicht „gesichert"; auch verringert sich die Schutzwirkung mitgliedstaatlicher Autonomiegarantien gegenüber ihren Untereinheiten. Dagegen werden individuelle Autonomieansprüche gegenüber mitgliedstaatlicher Politik durch Deregulierung sowie dank des Wirkens des EuGH tendenziell gestärkt. Über das nationalstaatliche Veto sowie das Bemühen der Kommission um Einbeziehung organisierter Interessen ist die Inklusivität des europäischen Entscheidungssystems vergleichsweise hoch. Allerdings verfügen Bürger(-gruppen) und Interessenten über keine zuverlässige (einklagbare) Möglichkeit, Inklusion zu erlangen. Das Kriterium der „politischen Gleichheit" (ob nun wünschenswert oder nicht) ist definitiv nicht erfüllt. Weder im Europäischen Parlament noch (vermittelt) im Rat sind die europäischen „Völker" mit gleichem Stimmrecht vertreten. Auch hinsichtlich der Angemessenheit des Entscheidungssystems für die Gesellschaftsstruktur sind Defizite zu vermelden: Das System berücksichtigt die große Heterogenität und mehrdimensionale Segmentierung nur unzureichend. 1 0 0 5
1003 Vgl. auch H. Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. M ä r z 2001, 2001. lom
Siehe aber Art. 2 3 0 EGV.
loos pQ,- // Abromeit, Ein M a ß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2 0 0 1 . 2 0 0 1 . gilt das in zweierlei Hinsicht: „(1) Tiefe S e g m e n t i e r u n g der Gesellschaft legt .konsoziative' Entscheidungsstrukturen an der Spitze nahe. In der Tat verfügt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU über alle wesentlichen M e r k m a l e einer konsoziationalen Politie. vom .power-sharing at the t o p ' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei
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B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung
Die bisherigen Demokratisierungsversuche laufen weitgehend auf Parlamentarisierung (und damit den Abbau der konsoziativen Elemente hinaus, setzen sie doch majoritäre an die Stelle von Konsenspolitik). Mehrheitsentscheidungen im Entscheidungszentrum werden aber weder der Heterogenität der Gesellschaft noch der Mehrdimensionalität der Segmentierung noch gar der „variablen Geometrie" europäischer Politik gerecht. Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlichkeit - von Fachleuten. Wirtschaft und Verbänden abgesehen - gibt es bisher in breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie als lediglich formale Zurechnung erreichen. Die Charakterisierung des Demokratiedilemmas der Europäischen Union als Demokratiedefizit legt es nahe, das Defizit durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu reduzieren. Weniger formal erscheint es, weiterhin darauf abzustellen, dass in den Öffentlichkeiten der Mitgliedsstaaten und in ihren Parlamenten europäische Probleme und Fragen immer und transparent auf der Tagesordnung stehen, um die „Rückkoppelung" europäischer Politik an die Volksvertretungen der Mitgliedsstaaten zu gewähren. Das wohltuende Bestehen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf „lebendiger Demokratie" 1 0 0 6 in den Mitgliedsstaaten ist wahrscheinlich noch auf lange Zeit wichtiger für Europa als Straßburg oder rechtliche Dispute über Kompetenzvorschriften in Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele Demokratien pluralistischer, offener, sachlicher, weniger hierarchisch, fairer geworden. Von der Fortdauer dieser nationalstaatlichen Veränderungen hängt unsere Zukunft ab. Am Ende des Verfassungskonvents von Philadelphia im Jahne 1787 wurde laut einer inflationär zitierten Anekdote B. Franklin von einer Mrs. Pawel gefragt: „Was haben wir denn nun, Doktor, eine Republik oder eine Monarchie?" Franklins g e n a u e r e m Hinsehen hapert es aber nicht nur an der Proportionalität; es fehlt vielmehr ein entscheidender Aspekt des Konsoziationaüsmus. nämlich die systematische Einbeziehung auch, wenn nicht gar vor allem der mc/iMerritorialen Gesellschaftssegmente. Das europäische Elitenkartell ist eindimensional territorial und damit . f ö d e r a t i v ' : Machtteilung. Proportionalität und Autonomie gelten nur f ü r die Mitglied.v/««/en: Eliten aus den übrigen S e g m e n t e n sind nicht einbezogen, verfügen über keine Einspruchsrechte, setzen ihre Ansprüche am besten durch Liaison mit der einen oder anderen Regierung durch. (2) Der europäische K o n s o z i a t i o n a ü s m u s ist einseitig .bürokratisch' und gilt vor allem angelsächsischen Beobachtern als größtes Demokratisierungshindernis." 1006
..Maastricht-Entscheidung" ( B V e r f G E 89. 155).
IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates
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Antwort war: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" („A republic if you can keep it"). Diese Aufgabe ist eine dauernde - auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen. f)
Inkurs:
Verbreitung direkt demokratischer Elemente
Als prominentes Beispiel mit weit zurückreichender Tradition der Direktdemokratie dürfen die amerikanischen Bundesstaaten angesehen werden, in denen teilweise seit der Gründungszeit direktdemokratische Mitbestimmungsformen praktiziert werden. Sie gelten daher wie die Schweiz als Pioniere der Direkten Demokratie."® 7 Geografisch zeigt sich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und Mittleren Westen. 1008 Nationale Referenden sind in der amerikanischen Verfassung nicht vorgesehen. Auf der Ebene der Bundesstaaten hat sich dagegen das Instrumentarium der Direkten Demokratie, bis hinab auf die lokale Ebene, weitgehend durchgesetzt. In allen Bundesstaaten sind darüberhinaus auch Anordnungen von Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich („legislative referendum"). In einer aktuellen Bewertung europäischer Staaten rangiert die Schweiz an oberster Stelle, Liechtenstein folgt gemeinsam mit Italien. Slowenien und Lettland in der zweiten Kategorie. 10119 Eine weitere Gruppe bilden Irland. Dänemark und Litauen, bevor in einer nächsten, niedrigeren Stufe die Slowakei, die Niederlande, loog j k t zahlreiche Studien und Untersuchungen zur Direkten Demokratie in den amerikanischen Bundesstaaten, vgl. etwa R.J. Ellis, Democratic Delusions. T h e Initiative Process in A m e r i c a , 2002; L LeDuc, T h e Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003: L. LeDuc!R.G. Nieini!R Norris (Hrsg.), C o m p a r i n g Democracies. Elections and Voting in Global Perspective. 1996: S.L. Piott. Giving Voters a Voice. The Origins of the Initiative and Referendum in America. 2003: J. F. Zimmerman, T h e Referendum. T h e People Decide Public Policy, 2001: C. Stelzenmüller, Direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1994: LJ. Sabato!H.R. Ernst!B.A. Larson (Hrsg.), Dangerous D e m o c r a c y ? T h e battle over ballot initiative in A m e r i c a . 2001; vgl auch den Überblick zu direktdemokratischen Institutionen in den Gliedstaaten bei S. Xtöckli. Direkte Demokratie in den USA. in: JöR 44 (1996). S. 565 ff. loos z w j s c h c n 1904 und 2002 n a h m e n O r e g o n mit 3 2 5 A b s t i m m u n g e n . Californien (279). C o l o r a d o (183), North Dakota (168) und Arizona (154) die Spitzenposition nach Zahl an Volksabstimmungen auf Bundesstaatenebene ein. vgl. D.M. Waters, Initiative and Referendum A l m a n a c , 2003. ioo